Identität zwischen Dekonstruktion und (Re)Konstruktion im zeitgenössischen britischen Roman
Peter Ackroyd, Iain Banks und A. S. Byatt
0723
2008
978-3-8233-7427-5
978-3-8233-6427-6
Gunter Narr Verlag
Folkert Degenring
Die Auseinandersetzung mit der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit von Identität vor dem Hintergrund postmoderner Auflösungs- und Entgrenzungserscheinungen ist prägend für den zeitgenössischen britischen Roman: Das individuelle Subjekt durchlebt in der Konsequenz von Unbestimmtheit, Fragmentarisierung und Enthierarchisierung eine existentielle Krise. Dies lässt sich negativ gewendet als Ratlosigkeit angesichts des Verlusts von sinnhafter Tiefe und tradierten Sicherheiten lesen - oder aber als positive
Eröffnung neuer Manifestationsräume von Sinn und Ermöglichung produktiver Vielstimmigkeit. Ausgehend von Überlegungen zur narrativen Verfasstheit von Identität setzt sich der vorliegende Band in Detailinterpretationen von Romanen Peter Ackroyds, Iain Banks' und A.S. Byatts exemplarisch mit der Frage auseinander, inwiefern im jüngeren britischen Roman eine Entwicklungslinie weg von einer 'diffusen' hin zu einer 'präzisen' Postmoderne nachgezeichnet werden kann.
<?page no="0"?> Gunter Narr Verlag Tübingen M a n n h e i m e r B e i t r ä g e z u r S p r a c h u n d L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t Folkert Degenring Identität zwischen Dekonstruktion und (Re-)Konstruktion im zeitgenössischen britischen Roman Peter Ackroyd, Iain Banks und A. S.Byatt <?page no="1"?> M A NNH E IM E R B E IT R Ä G E Z U R S P R AC H - U ND L IT E R AT U RW I S S E N S C H A F T herausgegeben von CHRISTINE BIERBACH · HANS-PETER ECKER · WERNER KALLMEYER SUSANNE KLEINERT · WILHELM KÜHLMANN · JOCHEN MECKE ULFRIED REICHARDT · MEINHARD WINKGENS Band 73 <?page no="2"?> Umschlagabbildung: Alexandra Scheu Signet: Motiv vom Hals der Oinochoe des ,Mannheimer Malers‘ (Reissmuseum Mannheim, Mitte des 5. Jh. v. Chr.) <?page no="3"?> Folkert Degenring Identität zwischen Dekonstruktion und (Re-)Konstruktion im zeitgenössischen britischen Roman Peter Ackroyd, Iain Banks und A.S.Byatt Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Herausgeberfonds. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0175-3169 ISBN 978-3-8233-6427-6 <?page no="5"?> Für meinen Vater <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort.......................................................................................................xi 1 Einleitung.................................................................................................... 1 2 Postmoderne und Literatur...................................................................... 7 3 Identität als narrativer Prozess ............................................................. 18 3.1 Kontinuität..................................................................................... 25 3.2 Kohärenz und Konsistenz ........................................................... 36 4 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor ........... 39 4.1 Chronologie als Metathema ........................................................ 41 4.2 DisKontinuität............................................................................... 50 4.3 Chronologie und individuelle Subjektivität............................. 58 4.4 Die komplexe Verflechtung der Zeitebenen ............................ 60 4.5 Die Überwindung der Zeit.......................................................... 64 4.6 Hawksmoor und das postmoderne Experiment ........................ 68 5 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton ....... 73 5.1 Strategien der Wirklichkeitssicherung ...................................... 77 5.2 Kopie als Original......................................................................... 85 5.3 Mimesis, Originalität und Intertext ........................................... 90 5.4 Tiefe als Palimpsest ...................................................................... 95 5.5 Die Verankerung des floating signifier ................................... 100 5.6 Chatterton und der postmoderne Zerfall................................. 104 6 Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America ...... 109 6.1 Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit ................. 110 6.2 John Milton: Auktorialer Erzähler der Welt........................... 113 6.3 Goosequill: Dynamik und Dialog ............................................ 118 6.4 Mechanismen der Relativierung .............................................. 121 6.5 Das verlorene Paradies .............................................................. 123 6.6 Milton in America und postmoderne blinde Flecken ............. 125 <?page no="8"?> viii Inhaltsverzeichnis 7 Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers ....................................................................................................... 129 7.1 Zerfall und (Re)Konstruktion ................................................... 132 7.2 Materialität und Spiritualität .................................................... 138 7.3 Wahrheit und Wahrheiten ........................................................ 143 7.4 The Plato Papers und postmoderne Pluralität ......................... 148 8 Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory ......... 150 8.1 Mythos und Aufklärung ........................................................... 153 8.2 Selbst(re)konstruktionen ........................................................... 160 8.3 Fragmentierung und Prozessualität ........................................ 167 8.4 The Wasp Factory und die Kohärenz des Inkohärenten......... 170 9 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale ........................................................................................................... 173 9.1 Identitätsverlust und Unzuverlässigkeit ................................ 177 9.2 Identität und narrative Strukturiertheit.................................. 182 9.3 Interpretation und Überdeterminiertheit ............................... 187 9.4 Zeigen und Erzählen.................................................................. 190 9.4.1 Oberflächen- und Tiefenmetaphern ............................ 192 9.4.2 Muster- und Strukturmetaphern ................................. 198 9.4.3 Hybrid- und Kompositmetaphern............................... 202 9.5 „True and Full of Life”: Die Frauenfiguren............................ 206 9.6 Fragment und Ganzes................................................................ 214 9.7 The Biographer’s Tale und die ‘Dritten Wege’ .......................... 217 10 Zwischen Dekonstruktion und (Re)Konstruktion ......................... 225 11 Bibliographie.......................................................................................... 228 <?page no="11"?> Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Frühjahr 2007 von der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim als Dissertation angenommen und für die Publikation leicht überarbeitet. Mein Dank gilt an erster Stelle Prof. Dr. Meinhard Winkgens, der nicht nur die Arbeit begleitet und gefördert, sondern auch meine eigene akademische Weiterentwicklung maßgeblich mitbestimmt hat. Seiner klugen und kenntnisreichen Kritik verdanke ich letztendlich das Gelingen der Arbeit. Der von ihm am Lehrstuhl Anglistik II der Universität Mannheim geschaffenen Atmosphäre des offenen intellektuellen Austauschs, der kollegialen Zusammenarbeit und der freundschaftlichen Förderung, die auch insbesondere in den von ihm geleiteten Oberseminaren deutlich wurde, verdanke ich meine Begeisterung für die Literaturwissenschaft. Prof. Dr. Susanne Bach, Universität Kassel, danke ich nicht nur als Zweitgutachterin; ihrem Interesse und ihrer kompetenten Unterstützung ist ein wesentlicher Teil des Gelingens der Arbeit geschuldet. Danken möchte ich darüber hinaus allen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl Anglistik II, von denen viele mittlerweile an anderen Universitäten tätig sind. Dazu gehören ganz besonders Dr. Stefan Glomb, dessen Engagement und Begeisterung für die Literaturwissenschaft ein Vorbild für mich sind, und Prof. Dr. Stefan Horlacher, der mein Interesse für die Literaturtheorie geweckt hat. Ausdrücklich danken möchte ich für ihre fachliche wie freundschaftliche Unterstützung Prof. Dr. Sarah Heinz, Dr. Lars Heiler, Christiane Koch, M.A., Peter Stear, M.A. sowie Barbara Magin. Neben Prof. Dr. Winkgens und Prof. Dr. Bach danke ich für ihre Bereitschaft sich als Mitglieder der Prüfungskommission zur Verfügung zu stellen apl. Prof. Christa Grewe-Volpp, Prof. Dr. Erich Pelzer und Prof. Dr. Reiner Wild, von dessen Oberseminaren und Kolloquien ich profitieren durfte. Schließlich bedanke ich mich bei meiner Familie und meinen Freunden für ihre Unterstützung. Ich danke vor allem meiner Mutter, Lieselotte Degenring. Ganz besonders danke ich Alexandra Scheu. Kassel, im April 2008 <?page no="13"?> 1 Einleitung The space in which we live, which draws us out of ourselves, in which the erosion of our lives, our time and our history occurs, the space that claws and knaws [sic! ] at us, is also, in itself, a heterogenous space. In other words we do not live in a kind of void, inside of which we could place individuals and things. We do not live inside a void that could be coloured with diverse shades of light, we live inside a set of relations that delineates sites which are irreducible to one another and absolutely not superimposable on one another. [...] But among all these sites, I am interested in certain ones that have the curious property of being in relation with all the other sites, but in such a way as to suspect, neutralize, or invert the set of relations they happen to designate, mirror, or reflect. 1 Bei der Analyse jüngerer britischer Literatur und der Frage nach ihren Besonderheiten scheinen schon bei kursorischer Betrachtung Strukturen auf, die nicht wenige zeitgenössische Autoren bei aller individuellen biographischen, stilistischen und thematischen Vielfalt miteinander verbinden. Betrachtet man die Werke von Autoren wie Peter Ackroyd, Martin Amis, Iain Banks, Julian Barnes, A. S. Byatt, Angela Carter, Kazuo Ishiguro, Michael Moorcock oder Iain Sinclair, werden die Gemeinsamkeiten schnell deutlich. Die wohl einfachste und am häufigsten gewählte Kategorisierung ist, bei all ihrer Problematik, wohl die der Zuordnung zur Postmoderne. Spielerischer Umgang mit der eigenen Literarizität und Fiktionalität und auch der eigenen literaturhistorischen Verortung ist ein dominantes Phänomen, wenn auch nicht immer so auf die Spitze getrieben wie in Iain Sinclairs Downriver, als eine der Erzählinstanzen den Roman selbst als „dreary post-modernist fraud“ geißelt und die Frage stellt: „Is Sinclair completely gonzo? “ 2 Dennoch ist ein hohes Reflexionsniveau kennzeichnend und die kritische Auseinandersetzung mit nicht nur literaturtheoretischen Fragestellungen, sei es auf der Figuren- oder einer Metaebene, implizit oder explizit stets präsent. Bedenkt man, dass nicht wenige der Autoren schon im Studium in Kontakt mit der literaturwissenschaftlichen Disziplin ka- 1 Michel Foucault, „Of Other Spaces“, in: Diacritics 16: 1 1986, 23. 2 Iain Sinclair, Downriver (London: 1995), 380. <?page no="14"?> 2 Einleitung men, oder im Falle A. S. Byatts gar Teil des philologischen akademischen Betriebs sind, ist dies vielleicht nicht verwunderlich. Aus dieser Perspektive mag der vergleichsweise oft nicht unerhebliche kommerzielle Erfolg vieler Romane zunächst erstaunen, ist doch kritische Metareflexion nicht unbedingt zwingendes Charakteristikum eines Bestsellers. Augenscheinlich gelingt es dem jüngeren britischen Roman jedoch häufig, hohes Reflexionsniveau unprätentiös zu transportieren und mit narrativer Spannung zu kombinieren und teilweise schon als überholt geltende Genres und Sujets mit neuer Vitalität zu versehen. Diesem Umstand scheint selbst Hollywood Rechnung zu tragen, das mit den filmischen Adaptionen von Ishiguros The Remains of the Day und Byatts Possession die Popularität der Texte noch gesteigert hat. Einer der zentralen Problembereiche in der Diskussion um die literarische Postmoderne ist die Frage nach der Erfassbarkeit und Darstellbarkeit von Realität. In der Tradition von Nietzsche und im Rahmen des linguistic turn tritt in den philosophischen Ansätzen der Theoretiker der Postmoderne Sprache als präfigurierendes Element vor die Realität: Sprache verliert ihren Status als transparentes Medium zur Kommunikation und Erfassung von Wirklichkeit. Die Existenz einer außersprachlichen Wirklichkeit wird dabei nicht zwangsläufig negiert, vielmehr herrscht eine tiefe Skepsis gegenüber der Möglichkeit, diese ‘existentielle’ Realität über Sprache erkennen zu können. Der Mensch erscheint in der Postmoderne vielmehr unentrinnbar in ein sprachliches Universum eingebunden, das, bedingt durch seine Absolutheit, in einer unreflektierten Betrachtung als die unverstellte Realität erscheinen muss. Bei näherer Betrachtung jedoch stellt sich dieser vermeintlich leere Raum, der einen direkten Blick auf die Realität erlauben würde, als mit „an ensemble of relations [...] set off against one another, implicated by each other“ 3 gefüllt heraus: Was uns zunächst als unhintergehbare Realität erscheint, ist nichts anderes als ein Geflecht aus Prämissen, Vorbedingungen und Annahmen, „a sort of configuration“, 4 die zwar punktuell bewusst gemacht werden können, im Regelfall aber verborgen bleiben. Die Metapher eines leer anmutenden, den Menschen stets umgebenden Raumes, der tatsächlich aber mit einem Geflecht sich gegenseitig beeinflussender Strukturen gefüllt ist, illustriert dabei anschaulich zwei wesentliche Aspekte dieses Ansatzes. Erstens kann, bedingt durch die perspektivische Eingebundenheit des Menschen und den Umstand, dass ein ‘Verlassen’ des metaphorischen Raumes unmöglich ist, auch die Gesamtheit des ihn umgebenden Beziehungsgeflechts nie vollständig erfasst werden. Und zwei- 3 Foucault (1986), 22. 4 Foucault (1986), 22. <?page no="15"?> Einleitung 3 tens wird über die Metapher des komplexen Geflechts oder Netzes verdeutlicht, dass eine Reduktion von Wirklichkeit auf bipolare Oppositionsmuster eine unzulässige Verkürzung darstellt. Zwar ermöglicht also auch ein Bewusstsein für die sprachliche Verfasstheit der Realität bzw. für deren unhintergehbare sprachliche Vermittlung keinen Zugang zu einer unverstellten, ‘wirklichen Wirklichkeit’. Dennoch scheint die Bewusstmachung und Hinterfragung von internalisierten Strukturen ein zentrales Anliegen der jüngeren britischen Literatur zu sein. Dabei wird über die Schaffung von literarischen Vorstellungsbzw. Imaginationsräumen, innerhalb derer die Grenzen von Fakt und Fiktion durchbrochen werden, auch „the set of relations that they happen to designate“, 5 also auch die Trennbarkeit von Fakt und Fiktion in der ‘Realität’, in Frage gestellt; sie konstruieren und zur gleichen Zeit dekonstruieren vielfältige ‘nebeneinandergestellte’, ‘eingefügte’, sich ‘überlagernde’, räumlich versetzte und/ oder intratextualisierte Räume oder Stätten, die ‘wirklich und unwirklich zugleich’, utopisch und nicht utopisch, geschlossen und offen, alternativ und nicht alternativ daherkommen können und die Grenzlinien zwischen Fakt und Fiktion, dem Realen und Fiktiven verschwommen erscheinen lassen. 6 Legt man eben diese textuelle Strategie für die Definition des Untersuchungsgegenstandes zugrunde, so ergibt sich ein extrem breites Spektrum lohnenswerter Analysen. Aus der Vielzahl der britischen Autorinnen und Autoren wurden für die vorliegende Untersuchung exemplarisch Romane von Peter Ackroyd, Iain Banks und A. S. Byatt ausgewählt. Für dieses Vorgehen sprechen neben Gründen der Praktikabilität und dem Interesse an einer Detailuntersuchung statt eines Überblicks mehrere Gründe. Trotz aller formalen und stilistischen Differenzen zeichnen sich die ausgewählten Texte durch eine Ähnlichkeit des eingesetzten dekonstruktivistischen Instrumentariums aus: Durch die Heraus- und Überarbeitung von Schlüsselkonzepten der okzidentalen Episteme, wie etwa der Tragweite des Verständnisses von Geschichte für Weltbilder im Allgemeinen, werden vermeintliche epistemologische und ontologische Sicherheiten kritisch hinterfragt und zugleich literarische und literaturtheoretische Entwicklungen mitreflektiert. Für Peter Ackroyd lässt sich dabei festhalten, […] that Ackroyd’s postmodernist turn began in 1971, when he was awarded a Mellon fellowship to study at Yale University. He certainly met members of the New York School, including the poet John Ashbery who later published several of Ackroyd’s poems in a collection. But it would be wrong to attribute too much influence to American postmodernism. Ackroyd’s main influences for his po- 5 Foucault (1986), 24. 6 Hartmut Hirsch, Von Orwell zu Ackroyd (Hamburg: 1998), S. 123f. <?page no="16"?> 4 Einleitung lemical essay were the French post-structuralists, particularly Jacques Lacan, Roland Barthes and Jacques Derrida. He believed that French theory had „enriched the quality of French culture“, and English culture suffered in comparison by insulating itself against this. 7 Ein weiteres verbindendes Element der Romane erwächst aus dem Umstand, dass mit der Auflösung tradierter (und konstruierter) Sicherheiten eine Identitätskrise der Protagonisten einhergeht. Geht man mit Luckmann von der Individualisierung von Identität als Ergebnis oder zumindest Konsequenz des Modernisierungsprozesses aus, 8 ist dies zunächst wenig überraschend: Auch die Vorstellung von Identität und Individualität ist eines jener Schlüsselkonzepte der abendländischen Episteme. Interessant ist weniger der Umstand, dass das Individuum in der Konsequenz allgemeiner Auflösungstendenzen eine Krise durchlebt, sondern vielmehr, dass es den Protagonisten zu gelingen scheint, angesichts dieser existentiellen Krise dennoch in ihrer individuell verantworteten Wahlfreiheit bestärkt aus dem Spannungsfeld von Dekonstruktion und (Re)Konstruktion hervorzugehen. Die paradoxe Verknüpfung von Identität, Dekonstruktion und (Re)Konstruktion, wie sie in den Romanen von Ackroyd, Banks und Byatt propagiert wird, ließe sich knapp folgendermaßen zusammenfassen: Die Bewusstwerdung des individuellen Subjekts als diskursiv produzierter Effekt ermöglicht es eben jenem Individuum, und sei es nur im Idealfall, sich selbst neu zu (re)konstruieren, sich im Bewusstsein seiner eigenen Konstruiertheit zu konstituieren. Verortet man also die zu besprechenden Romane, bei allem daraus zunächst resultierenden Verlust von definitorischer Trennschärfe, im Bereich der postmodernen Literatur und unterstellt zudem ein ähnliches Anliegen der Texte, so erstaunt es nicht, dass sich weitere Konvergenzen ergeben. So ist in allen Romanen die Auseinandersetzung mit Geschichte, Geschichtsschreibung und persönlicher Vergangenheit ein rekurrentes Thema; ein Befund, welcher der vielfach diagnostizierten allgemeinen Hinwendung zum historischen Roman in der Ausprägung der historiographic metafiction entspricht, 9 und zuweilen auch in der Form der alternate bzw. non-factual history zum Ausdruck kommt. Neben der Auseinandersetzung mit der historischen Dimension findet sich auch eine zweite einflussreiche Strömung der britischen postmoder- 7 Paul Smethurst, „Peter Ackroyd“, in: The Literary Encyclopedia 20 Sep. 2002. http: / / www.litencyc.com/ php/ speople.php? rec=true&UID=15. 8 Vgl. Thomas Luckmann, „Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz“, in: Odo Marquardt und Karlheinz Stierle (Hrsg.), Identität (München: 1979), 295. 9 Vgl. auch Ansgar Nünning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion (Trier: 1994b). <?page no="17"?> Einleitung 5 nen Literatur in den ausgewählten Textbeispielen wieder. Ähnlich wie die historiographische Metafiktion erfreut sich das Genre des New bzw. Modern Gothic im zeitgenössischen britischen Roman größter Beliebtheit. Als Rückzugsraum für das Andere und das „Verborgene, Abwesende, das sich nur im Kopf abspielt, [...] ein Paradigma für das Fiktionalisieren als solches“ 10 geht es mit der Thematisierung von Geschichte und Geschichtsschreibung eine Verbindung ein, die nur auf den ersten Blick eine paradoxe zu sein scheint, denn The gothic is not merely a literary convention or a set of motifs: it is a language, often an anti-historicising language, which provides writers with the critical means of transferring an idea of the otherness of the past into the present. 11 Obwohl man allen besprochenen Romanen ein ähnliches thematisches Anliegen unterstellen und sie auch genretheoretisch durchaus als sowohl untereinander verwandt als auch weitergreifenden literarischen Strömungen verpflichtet verorten kann, bleibt diese grobe Kategorisierung den einzelnen Texten notwendigerweise unangemessen. So steht Peter Ackroyds Hawksmoor neben der historiographisch-metafiktionalen Dimension in der Tradition des Detektivromans und der gothic novel, A. S. Byatts The Biographer’s Tale und Iain Banks’ The Wasp Factory rufen neben den Mustern der fiktionalen (Auto-)Biographie Konventionen des Initiationsromans auf, und in Ackroyds The Plato Papers mischen sich Elemente des Romans und des Dramas vor dem Hintergrund der Science Fiction mit nicht-fiktionalen Textsorten. Der Diagnose einer als fragmentiert und pluralisiert wahrgenommenen Lebenswirklichkeit, die sich nicht auf bipolare Oppositionen reduzieren lässt, tragen die Romane auch dadurch Rechnung, dass sie einen ähnlich gelagerten Themenkomplex multiperspektivisch mit einer Vielzahl von Gattungs- und Genreverweisen betrachten. Im besten Fall beschreiten die Texte dabei einen Weg, der sich weder auf die unkritische Affirmation eines ‘universellen Relativismus’ auf der einen, noch eine ebenso unkritische Ablehnung jeglicher Pluralisierung auf der anderen Seite reduzieren lässt, sondern eine andere Konzeption nahe legt. Dieser dritte Weg sucht aus den aus Fragmentierung und Pluralisierung resultierenden Krisen die ihnen eingeschriebenen neuen Möglichkeitsspielräume, die gleichwohl immer auch die Möglichkeit des Scheiterns beinhalten, 12 auszuloten und zugleich die aus dem Verlust etablierter Sinn- 10 Oliver Schoenbeck, Their Versions of the Facts (Trier: 2000), 4. 11 Allan Lloyd Smith, „Postmodernism/ Gothicism“, in: Victor Sage und Allan Lloyd Smith (Hrsg.), Modern Gothic: A Reader (Manchester, New York: 1996), 1. 12 Vgl. Stefan Glomb, „Jenseits von Einheit und Vielheit, Autonomie und Heteronomie - Die fiktionale Erkundung ‘dritter Wege’ der Repräsentation und Reflexion von Modernisierungsprozessen“, in: Stefan Glomb und Stefan Horlacher (Hrsg.), Beyond <?page no="18"?> 6 Einleitung strukturen erwachsenden Gefahren zu thematisieren. Und hierin liegt vielleicht auch einer der Gründe für die Entwicklung des Romans zum dominanten literarischen Genre nicht nur in der britischen Gegenwartsliteratur, eignet sich doch gerade diese Gattung „vorzüglich als Forum für die literarische Inszenierung konkurrierender Perspektiven, Diskurse und Ansichten.“ 13 Im Rahmen dieser Arbeit soll nach einigen grundlegenden Überlegungen zum Verhältnis von Postmoderne und Literatur auf die Frage nach der Unmöglichkeit bzw. Möglichkeit personaler Identität als ein Problemfeld reflektiert werden, das nicht nur im Zuge der Postmodernedebatte wiederholt kontrovers diskutiert, sondern auch insbesondere im jüngeren britischen Roman immer wieder thematisiert worden ist. Ausgehend von Überlegungen zur narrativen Verfasstheit von Identität soll dabei eine Beschreibung von Identität entwickelt werden, welche den dynamischen und veränderlichen Aspekt von Identität hervorhebt, ohne jedoch in Beliebigkeit und Auflösung zu münden. Im Anschluss soll in einer Detailanalyse von ausgewählten Texten Peter Ackroyds, Iain Banks’ und A. S. Byatts die literarische Verhandlung der sich aus postmodernen Auflösungs- und Entgrenzungserscheinungen ergebenden Konsequenzen exemplarisch untersucht werden. Extremes. Repräsentation und Reflexion von Modernisierungsprozessen im zeitgenössischen britischen Roman (Tübingen: 2004), 9-52. 13 Vera und Ansgar Nünning, „Von ‘der’ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte: Überlegungen zur Definition, Konzeptualisierung und Untersuchbarkeit von Multiperspektivität“, in: Vera und Ansgar Nünning, Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts (Trier: 2000), 23. <?page no="19"?> 2 Postmoderne und Literatur Postmodernism once more - that breach has begun to yawn! I return to it by way of pluralism, which itself has become the irritable condition of postmodern discourse, consuming many pages of both critical and uncritical inquiry. 14 Pluralismus, bemerkt Ihab Hassan in seiner einflussreichen Aufsatzsammlung The Postmodern Turn im Jahr 1987, ist die herausragende Eigenschaft der Postmoderne. Damit bezieht er sich nicht nur auf das Nebeneinander der zahlreichen Beschreibungskriterien wie Fragmentarisierung, Dekanonisierung, Tiefenlosigkeit und Hybridisierung, 15 sondern auch auf die Vielzahl unterschiedlicher Deutungen und Begriffsexplikationen - eine Diagnose, die ihre Gültigkeit bis heute bewahrt hat. Die Diskussion um den Begriff Postmoderne und die Frage nach seinem Gegenstand ist, „wenn sich auch eine gewisse Ermüdung in der literaturwissenschaftlichen Diskussion andeutet“, 16 keineswegs abgeschlossen. 17 Wenn auch Brian McHale bereits 1992 überzeugend dargelegt hat, dass der Begriff der Postmoderne „eine Konstruktion ist; eine Konstruktion, könnte man hinzufügen, die für den Zustand der zeitgenössischen europäischen und nordamerikanischen Gesellschaft symptomatisch zu sein scheint“, 18 scheint er doch weiterhin als Sammelbegriff für die unterschiedlichsten Autoren und theoretischen Strömungen unverzichtbar. 19 An dieser Stelle soll nicht der Versuch unternommen werden, den zahlreichen Begriffsexplikationen und Deutungen des Postmoderne-Begriffs in den Literaturwissenschaften einen weiteren Versuch einer abschließenden Positionierung und Definition hinzuzufügen. Vielmehr sollen einzelne 14 Ihab Hassan, The Postmodern Turn (Columbus, OH: 1987), 167. 15 Vgl. Hassan (1987), 168f. 16 Christin Galster, Hybrides Erzählen und hybride Identität im britischen Roman der Gegenwart (Frankfurt am Main: 2001), 43. 17 Die Zahl der relevanten Studien ist mittlerweile fast unüberschaubar. Verwiesen sei hier exemplarisch auf David Lodge, Modernism, Antimodernism and Postmodernism (Birmingham: 1977), Brian McHale, Constructing Postmodernism (London, New York: (1992), Hans Bertens, The Idea of the Postmodern: a History (London, New York: 1995) und Peter V. Zima, Moderne/ Postmoderne (Tübingen, Basel: 1997). 18 Zima (1997), 1. 19 Vgl. beispielsweise Zima (1997), 3, Galster (2001), 43f, Glomb (2004), 16f sowie Martin Horstkotte, The Postmodern Fantastic in Contemporary British Fiction (Trier: 2004), 53f. <?page no="20"?> 8 Postmoderne und Literatur Schlüsselaspekte exemplarisch aufgegriffen und kontextualisiert werden, um sie für die anschließende Deutung der literarischen Texte und den Versuch, eine Entwicklungstendenz im britischen Gegenwartsroman nachzuzeichnen, fruchtbar zu machen. Stefan Glomb weist in seinem einleitenden Beitrag zur Aufsatzsammlung Beyond Extremes unter Bezugnahme auf Wolfgang Welsch darauf hin, dass zur Erhaltung der Nützlichkeit des Postmoderne-Begriffs zwischen zwei unterschiedlichen Ausprägungsformen zu unterscheiden ist: dem ‘diffusen’ Postmodernismus der Beliebigkeit und dem ‘präzisen’ Postmodernismus mit Beschreibungs- und Erkenntnispotential: 20 Ersterer bezeichnet die weitverbreitete Neigung zum epigonenhaften Jonglieren mit verflachten und griffigen Provokationsformeln und eignet sich daher besonders gut als Zielscheibe von Invektiven, besonders dann, wenn der Grad affektgeleiteter Ablehnung den Grad der ernsthaften, um Dialog bemühten Auseinandersetzung übersteigt. 21 Der zweite, „veritable“ 22 Postmoderne-Begriff dagegen versteht sich nicht als bloßer Auflösungsvorgang und Kontinuität mit der Moderne lediglich suggerierendes Etikett, hinter dem sich das berüchtigte anything goes verbirgt; 23 dieser Postmodernismus ist in Wahrheit weder irrational (wenn schon, wäre er als hyper-rational zu bezeichnen) noch huldigt er einem „anything goes“, sondern betrachtet die Unterschiede des Gutgehens, Danebengehens und Zugrundegehens sehr genau. Auch ist er kein Agent von Beliebigkeit, sondern schätzt spezifische und benennt allgemeine Verbindlichkeiten, und er plädiert nicht für Orientierungslosigkeit, sondern tritt für präzise Maßgaben ein. 24 Die von Welsch konstatierten ‘präzisen Maßgaben’ sollen allerdings nicht suggerieren, dass der ‘präzise’ Postmodernismus in Theorie und Praxis ein geschlossenes Gebilde ist. Im Gegenteil: Welsch versteht die Postmoderne „als Verfassung radikaler Pluralität“, 25 und die Vielstimmigkeit und zum Teil auch Widersprüchlichkeit steht für ihn nicht notwendigerweise einer fruchtbaren Funktionalisierung entgegen. Gleichwohl bleibt einem pluralistischen Ansatz die Gefahr der Beliebigkeit fest eingeschrieben: Wer zwar gemerkt hat, daß Differenzen das Wirklichkeitsbild prägen, auf Dauer aber differenzierungsunfähig ist, der nimmt gerne zum gleichmacherischen 20 Vgl. Glomb (2004), 16 sowie Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne (Berlin: 1997), 2f. 21 Glomb (2004), 17. 22 Welsch (1997), 3. 23 Vgl. Glomb (2004), 17 und Zima (1997), 23ff. 24 Welsch (1997), 3. 25 Welsch (1997), 4. <?page no="21"?> Postmoderne und Literatur 9 „anything goes“ Zuflucht. Derlei Indifferentismus hebt aber nicht nur das, worauf er sich beruft, gedankenlos auf, sondern beruht schon auf Gedankenlosigkeit. Denn in Wahrheit verhält es sich nicht so, daß alles ginge, sondern nur einiges geht im Sinn des Gelingens, während anderes bloß ein Stück weit geht und wieder anderes schlicht daneben geht oder zugrunde geht. Es ist lächerlich, sich solcher Unterschiede durch die Proklamation eines generellen „es geht“ zu begeben [sic! ]. 26 Präzise ist für Welsch die Postmoderne in Theorie und Praxis 27 also dann zu nennen, wenn nicht das „weiße Rauschen der Indifferenz“ sondern ein „plurales Kode-Bewußtsein“, und zwar auch für die eigenen Codes, „das Telos der Postmoderne“ 28 ist. Poststrukturalismus, Dekonstruktion und Postmoderne können ihr Erkenntnispotential nur dann ausschöpfen, wenn sie sich nicht auf die Auflösung tradierter Wahrnehmungsmuster von Wirklichkeit beschränken, sondern auch die lebensweltlichen Konsequenzen mitreflektieren. 29 Trotz der Vielfältigkeit und der unterschiedlichen Erscheinungsformen, trotz Pluralität und Heterogenität, soll im Folgenden, ohne jedoch den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, der Versuch unternommen werden, einige grundlegende Prämissen postmoderner Theoriebildung 30 und literarischer Praxis kurz darzulegen. 1. Grundlegend für das postmoderne Realitätsverständnis ist die (post)strukturalistische Diagnose von der Vorgängigkeit der Sprache vor Wirklichkeit. Sprache bildet Wirklichkeit nicht mimetisch ab, sondern Wirklichkeit wird durch Sprache konstruiert. 31 2. Da alle Welterklärungsmodelle sprachlich vermittelt sind, wohnt beispielsweise naturwissenschaftlichen Diskursen prinzipiell kein größeres epistemologisches Potential als literarischen Diskursen inne. Vielmehr bedienen sich alle Diskurse narrativer Techniken und in der Konsequenz wird die dichotomische Trennung von Fakt und Fiktion problematisiert. 32 26 Welsch (1997), 322. 27 Vgl. Welsch (1997), 319ff. 28 Welsch (1997), 323. 29 Vgl. u.a. Glomb (2004), 31f, Zima (1997), 195ff sowie Christina Kotte, Ethical Dimensions in British Historiographic Metafiction (Trier: 2001), 61ff. 30 Vgl. hierzu Galster (2002), 47. 31 Vgl. Galster (2001), 47, Zima (1997), 3f sowie Bertens (1995), 11. Vgl. auch Klaus Stierstorfer, „Linguistic turn“, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (Stuttgart: 2001), 371 und Manfred Frank, „Was ist Neostrukturalismus? Derridas sprachphilosophische Grundoperation im Ausgang vom klassischen Strukturalismus“, in: Friedrich Jaeger und Jürgen Straub, Handbuch der Kulturwissenschaften: Paradigmen und Disziplinen (Stuttgart: 2004), 364-376. 32 Vgl. Galster (2002), 47, Kotte (2001), 15f, Horstkotte (2004), 53f und Frank (2004), 364ff. <?page no="22"?> 10 Postmoderne und Literatur Aus der sprachlichen Verfasstheit der Wirklichkeit gibt es kein Ausbrechen. Es gibt kein zugängliches Außerhalb des Texts. 33 3. Umfassende Metaerzählungen mit Absolutheitsanspruch sind delegitimiert. Damit einhergehend verschiebt sich der Fokus vom Denken absoluter, allgemein gültiger Wahrheit in Richtung lokal produzierter Wahrheiten, die „nur innerhalb eines bestimmten Diskurssystems und Machtgefüges Wahrheitsanspruch erheben“ 34 können. 4. Wahrheit sowie die Produktion von Bedeutung und Sinnhaftigkeit sind stets kontextgebunden und unterliegen, wie die Sprache selbst, historischen Wandlungs- und Verschiebungsprozessen. 35 5. Die Auseinandersetzung mit Geschichte und Geschichtsschreibung und die Thematisierung des Verhältnisses von Historiographie und Literatur sind, als historiographische Metafiktionen, ein Schlüsselelement postmoderner Literatur. Die Verquickung von Selbstreflexivität und historischer Dimension scheint in besonderem Maße geeignet, die sprachliche Verfasstheit von Wirklichkeit und die Produktion von Wahrheit durch naturalisierende, also ihren Gegenstand als mimetische Abbildung konstruierende, Diskurse zu beleuchten. 36 6. An die Stelle eines autonomen und stabilen Selbst tritt in der postmodernen Literatur „ein provisorisches Selbst, dessen Identität durch äußere und innere Faktoren bestimmt wird und sich fortwährend verändert“, 37 durch Fluidität und Fragmentarität geprägt ist. 38 Mit diesen Thesen soll keine abschließende Definition versucht werden, sondern vielmehr das im Rahmen der vorliegenden Arbeit relevante Problemfeld umrissen werden. Bevor nun eine weitere These, die diesen Umriss zu komplettieren sucht, vorgestellt wird, soll an dieser Stelle kurz auf Ihab Hassans einflussreiche und griffige, in vielerlei Hinsicht aber auch problematische 39 Merkmalsreihe zur Beschreibung des ‘kulturellen Feldes’ Postmoderne eingegangen werden. 40 33 Vgl. Horstkotte (2004), 55, Frank (2004), 364ff, sowie Zima (1997), 167ff. 34 Galster (2002), 47. Vgl. auch Horstkotte (2004), 54, Welsch (1997), 31ff, sowie Zima (1997), 124ff. 35 Vgl. Galster (2004), 47 und Horstkotte (2004), 54. 36 Vgl. Schoenbeck (2000), 160f, Kotte (2001), 38ff, Horstkotte (2004) 116ff, Nünning (1995), 129ff sowie Heike Hartung, Die dezentrale Geschichte: Historisches Erzählen und literarische Geschichte(n) bei Peter Ackroyd, Graham Swift und Salman Rushdie (Trier: 2002), 5ff. 37 Galster (2002), 47. 38 Vgl. Schoenbeck (2000), 120ff, Glomb (2004), 20ff sowie Karin Gerig, Fragmentarität: Identität und Textualität bei Margaret Atwood, Iris Murdoch und Doris Lessing (Tübingen: 2000), 9ff. 39 Vgl. hierzu Zima (1997), 7f und 228ff, der Hassan vorwirft, Postmoderne fälschlicherweise als homogene Ästhetik zu konstruieren und durchweg zu positiv zu beset- <?page no="23"?> Postmoderne und Literatur 11 Indeterminancy, Unbestimmtheit, ist für Hassan die grundlegende Eigenschaft der Postmoderne und postmoderner Literatur. Gemeint sind „all manners of ambiguities, ruptures and displacements affecting knowledge and society.“ Unbestimmtheiten „pervade our actions, ideas, interpretations; they constitute our world.“ Fragmentation, Fragmentarisierung, ist sowohl Folge als auch Effekt der Unbestimmtheit. „The postmodernist only disconnects; fragments are all he pretends to trust.“ Fragmentarisierung zeigt sich im Ende der Metaerzählungen und der Gültigkeit lokal begrenzter petits récits und spielt als künstlerische und literarische Technik eine wesentliche Rolle. Decanonization, Entkanonisierung, bezieht sich nicht nur auf literarische, sondern auf alle hierarchischen Ordnungssysteme. Statt totalisierender Metaerzählungen stehen unterschiedlichste ‘kleine Erzählungen’ nebeneinander. Self-less-ness, Depth-less-ness, Verlust des Selbst, Verlust von Tiefe. Identität eines ‘Selbst’ in all seinen ‘essentialisierenden’ Varianten ist eine der totalisierenden Metaerzählungen, die in der Postmoderne in höchstem Maße suspekt sind. Die Erzählung vom Selbst als Einheit ist entprivilegiert; das Selbst ist unbestimmt und fragmentiert. The Unpresentable, Unrepresentable, das Nicht-Zeigbare, Nicht- Darstellbare, meint einerseits die Abwendung vom mimetischen Gedanken der Kunst und ihr Reflexivwerden in Form der Hinterfragung der eigenen Darstellungsfähigkeit. „Postmodern literature, in particular, often seeks its limits, entertains its ‘exhaustion,’ subverts itself in forms of articulate ‘silence.’„ Zum anderen ist die Neigung zur Transgression von Tabus gemeint, die (Re)Präsentation des vormals Unaussprechlichen und Unzeigbaren: „the Abject, for instance, rather than the Sublime, or Death itself.“ Irony, Ironie, markiert für Hassan in seinem Merkmalskatalog den Übergang vom dominant dekonstruktivistischen Element der Postmoderne zum rekonstruktiven Element, das in einer Denkfigur der ‘Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen’ oder der ‘Kohärenz des Inkohärenten’ der Postmoderne ebenfalls eingeschrieben ist. Postmoderne Ironie ist das Resultat von Unbestimmtheit, Fragmentierung und Entkanonisierung: „[i]n absence of a zen. Darüber hinaus greife Hassans Merkmalskatalog insofern zu kurz, als beispielsweise Ironie als charakteristisches Element der Romantik und Fragmentierung als typische Erscheinung der Moderne gewertet werden könne. Dem ersten Vorwurf ist entgegenzuhalten, dass es Hassan gerade nicht um die Konstruktion einer Ästhetik geht, um die ausdrücklich herausgestellte Vielgestaltigkeit zu homogenisieren. Zum zweiten Punkt sei auf die von Hassan diagnostizierte Eigenschaft der Hybridisierung verwiesen. 40 Auch Hassan erhebt keinen Anspruch auf eine vollständige und abschließende Definition. Vgl. zu den folgenden Überlegungen Hassan (1987), 168f. <?page no="24"?> 12 Postmoderne und Literatur cardinal principle or paradigm, we turn to play, interplay, dialogue, polylogue, allegory, self-reflection.“ Ironie und Reflexivität ist postmodernen Sprachspielen als ein Element der Nostalgie mit eingeschrieben, sind sie doch „recreations of the mind in search of a truth that continually eludes it, leaving it with only an ironic access or excess of self-consciousness.“ Hybridization, Hybridisierung, meint einerseits die Überschreitung von Genregrenzen und Techniken der Parodie, der Travestie und des Pastiche. Zum anderen meint Hybridisierung „a different concept of tradition, one in which continuity and discontinuity, high culture and low culture, mingle not to imitate but to expand the past into the present.“ In diesem Sinne sind Gegenwärtiges und Vergangenes nicht hierarchisch voneinander getrennt. Die Postmoderne ist für Hassan nicht ahistorisch, sondern ein Manifestationsraum, der das kreative Wechselspiel zwischen dem „Now and the Not Now“ erst ermöglicht. Carnivalization, Karnevalisierung, ist als Begriff Bachtin entlehnt und umfasst Aspekte aller bisher vorgestellten Eigenschaften der Postmoderne. Die Umkehr hierarchischer Strukturen, die spielerischen und subversiven Elemente versprechen für Bachtin wie für Hassan Erneuerung - im Fall des postmodernen Karnevals eine beständige Erneuerung, da sich hinter der Karnevalsmaske kein Selbst und keine Tiefe verbirgt. Karnevalisierung verweist auch auf die komische und absurde Dimension der Postmoderne, „‘the gay relativity’ of things, [...] the immanence of laughter.“ Performance, Participation, Performanz, Teilnahme, zielt auf die durch die Unbestimmtheit notwendige Partizipation ab. Die lückenhaften Fragmente des postmodernen Texts - und in der Postmoderne ist alles Text - müssen immer wieder aufs Neue ergänzt, verändert, arrangiert werden. Constructionism, Konstruktivismus. Postmodernismus konstruiert Realität nach narrativen Regeln; Realität wird wie eine literarische Fiktion konstruiert. Realität ist eine Hilfskonstruktion, „the growing intervention of mind in nature and culture“, die immer auch ganz anders erzählt werden kann: „Thus postmodernism sustains the movement ‘from unique truth and a world fixed and found’„ hin zur Pluralität alternativer und widersprüchlicher Realitäten. Immanence, Immanenz, bezieht sich, „without religious echo“, auf die „growing capacity of mind to generalize itself through symbols“ und ist eng verbunden mit der Vorstellung der sprachlichen Verfasstheit von Realität. In einer Art Doppelfigur der Kreativität und Erkenntnis überträgt der Mensch als „language animal“ eine „patina of thought, of signifiers, of ‘connections’„ auf die Welt und erkennt sich selbst als fragmentiert. Im Folgenden soll nun zunächst eine siebte These zur weiteren Absteckung des Problemfeldes Postmoderne und Literatur formuliert und anschließend näher erläutert werden. <?page no="25"?> Postmoderne und Literatur 13 7. In der postmodernen Literatur sind literarische Metaebene und kulturelle Objektebene in besonderer Weise miteinander verschränkt. 41 Literatur ist als interdiskursiver Reflexionsraum und Experimentierfeld 42 gegenüber anderen Diskursen privilegiert, allerdings ohne eine Leitfunktion für sich in Anspruch zu nehmen. 43 Fiktionen scheinen vor dem Hintergrund der Postmoderne allein schon deshalb privilegiert, da sie doch, unabhängig von ihrer Funktion - sei diese referentiell, pragmatisch oder ästhetisch/ selbstreferentiell 44 - immer eine Konstruktion sind. Folgt man der postmodernen Prämisse, dass auch Realität stets eine nach narrativen Regeln konstruierte Fiktion ist, dann liegt die Schlussfolgerung nahe, dass literarischer Fiktion und der konstruierten Realität anderer Diskurse das gleiche Erkenntnispotential eingeschrieben sei. Wolfgang Iser fasst diese Position mit den Worten zusammen: Die jeweils erzeugten Welten sind keine möglichen Alternativen zu der einen Welt; vielmehr haben alle den gleichen Status und sind weder mögliche noch unmögliche, im Blick auf eine als real vorausgesetzte Welt. 45 Literatur als Fiktion käme damit eine paradoxe Doppelrolle zu. Zum einen wäre sie als Wirklichkeiten konstruierender Diskurs nur einer unter vielen solchen Diskursen. Zum anderen wäre sie insofern ein Sonderfall, als ihr aufgrund ihrer funktionsgeschichtlichen Entwicklung im Gegensatz zu anderen Diskursen ein Bewusstsein für den eigenen Status eingeschrieben ist. Allein dieses Bewusstsein für die eigene Fiktionalität und die zugrunde liegenden narrativen Regeln würde Literatur in gewisser Hinsicht ein leichter zugängliches, nicht aber prinzipiell größeres epistemologisches Potential verleihen. Freilich zieht die Vorstellung, dass in der Postmoderne jede der vielen konkurrierenden Wirklichkeitskonstruktionen den gleichen Wahrheitsgehalt habe, nicht unerhebliche Probleme nach sich. Nicht das Geringste dieser Probleme bezieht sich auf die lebensweltliche Praxis, wie Oliver Schoenbeck anmerkt: 41 Vgl. Glomb (2004), 51. 42 Vgl. Winfried Fluck, Das kulturelle Imaginäre: Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans 1790-1900 (Frankfurt am Main: 1997), 20. 43 Vgl. Glomb (2004), 52. 44 Vgl. Heinz Ickstadt, Der amerikanische Roman des 20. Jahrhunderts. Transformationen des Mimetischen (Darmstadt: 1998), 11. Zur Funktion von Literatur vergleiche auch Christoph Reinfandt, der ein dreigliedriges Modell aus ‘objektiver’, ‘subjektiver’ und ‘selbstreflexiver’ Ausrichtung entwickelt. Christoph Reinfandt, Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten. Ein systemtheoretischer Entwurf zur Ausdifferenzierung des englischen Romans vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Heidelberg: 1997). 45 Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie (Frankfurt am Main: 1993), 263. <?page no="26"?> 14 Postmoderne und Literatur Will man sich nicht grundsätzlich gegen dieses postmoderne Weltverständnis sträuben, müssen Kriterien gefunden werden, die ein neues ‘Anderes’ beschreiben können. Damit begibt man sich auf einen im Grunde bekannten Weg, denn man folgt jener intuitiven Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Fiktion, die nur ungern aufgegeben wird; dem, was Wolfgang Iser das „stumme Wissen von Fiktion und Wirklichkeit“ nennt, ohne jedoch zurückzufallen auf nur noch traditionelle Bestimmung der Fiktion als Dichtung. 46 Die ‘intuitive Unterscheidung’ von Wirklichkeit und Fiktion widerspricht dabei nur auf den ersten Blick der These von der Nicht-Repräsentierbarkeit der Welt außerhalb einer symbolischen Ordnung; genauso wenig wie letztere zwangsläufig die Existenz einer außersprachlichen, nichtsemiotisierbaren Wirklichkeit leugnet: [Sie] läßt den Standpunkt gelten, daß Welt tatsächlich nur in sprachlichen Erscheinungsformen, Fiktionen also, existiert, oder zumindest greifbar ist. Doch nicht allen Fiktionen ist Fiktionscharakter als Haltung eingeschrieben, viele sind sogar daran gebunden, daß dieser nicht offenbar wird. Somit ist ein Standpunkt wie „Alles ist Fiktion“ in mancher Hinsicht zwar legitim, doch muß ihm entgegengehalten werden: „Nicht alles will Fiktion sein.“ 47 Ohne auf die komplexe Verknüpfung des Fiktiven und des Imaginären und die Akte des Fingierens 48 an dieser Stelle systematisch reflektieren zu wollen, sei doch die These formuliert, dass die hier relevante Unterscheidung zwischen literarischer und lebenspraktischer Weltfiktion in der Struktur des „Als-Ob“ zu sehen ist: „Im Kenntlichmachen des Fingierens wird alle Welt, die im literarischen Text organisiert ist, zu einem Als-Ob.“ 49 Literarische Fiktion fordert demnach, anders als andere Wirklichkeitskonstruktionen, keine unmittelbaren lebensweltlichen Handlungskonsequenzen ein; vielmehr stellt der literarische Text nach Iser einen Spielraum im Wortsinne dar, dessen ludische Qualitäten in mancherlei Hinsicht an die von Hassan beschriebenen Merkmale der Ironie, der Karnevalisierung und der Partizipation erinnern. Literatur ist „gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie als eine Kommunikationsform fungiert, die es dem Menschen gestattet, probeweise und in praktisch entlasteter Form über seine jeweilige Lebenssituation hinauszugehen.“ 50 Insbesondere in einer Lebensumwelt, die durch Unbestimmtheit, Fragmentierung, Enthierarchisierung und Pluralisierung gekennzeichnet ist, ist dieser Eigenschaft als 46 Schoenbeck (2000), 7. 47 Schoenbeck (2000), 14. 48 Vgl. Iser (1993). 49 Iser (1993), 37. 50 Fluck (1997), 13. <?page no="27"?> Postmoderne und Literatur 15 ‘entpragmatisiertes’ „Experimentierfeld zur Exploration eines so noch nicht Gegebenen“ 51 ein besonderer Stellenwert beizumessen. 52 In Anlehnung an Derridas Textmetapher gesprochen, und um Schoenbecks Aussage, „Nicht alles will Fiktion sein“, wieder aufzugreifen: Wenn auch alles Text ist, wenn der literarische, historiographische oder naturwissenschaftliche Diskurs und seine Objekte als Texte gedeutet werden müssen, so bleiben doch unterschiedliche Textgattungen und -sorten bestehen. Neben ihrer entpragmatisierten Dimension wohnt der Literatur dabei noch eine weitere besondere Eigenschaft inne, die Stefan Glomb in Anlehnung an Jürgen Links Interdiskursivitätskonzept folgendermaßen fasst: So verstanden bietet die Literatur also nicht lediglich ein Abbild der Realität, das es uns in Analogie zur Subjekt-Objekt-Relation einer naturwissenschaftlichen Theorie ermöglicht, ‘die Realität’ besser zu verstehen, sondern sie ist als integraler Bestandteil in das kulturelle Apriori verwoben, im Rahmen dessen [sie] allein spezifische [...] Formen annehmen kann. Die Literatur bietet aber nicht nur die Möglichkeit, das kulturelle Relationierungspotential in Bewegung zu halten, sondern sie ermöglicht zugleich den reflexiven Blick auf dieses Geschehen, so daß sich hier ein „Raum der Reflexion“ eröffnet, der sich in Wesen und Funktion von anderen Diskursen unterscheidet. Dies resultiert nicht zuletzt aus dem Umstand, daß die Literatur [...] zutiefst interdiskursiv geprägt ist. 53 Indem Literatur einen Raum zur Verfügung stellt, innerhalb dessen sich verschiedenste Diskurse deshalb gegenseitig durchdringen können 54 statt sich zu verdrängen, weil sie ihrer Objektebene enthoben sind, kann sie in gewisser Weise als Metapher für den ‘postmodernen Meta-Raum’ und die Postmoderne überhaupt dienen - und zwar einerseits positiv gewendet, als Ort des ständigen Neuentwurfs 55 und des Verhandelns alternativer Möglichkeiten, 56 als auch im Sinne der ‘diffusen’ Postmoderne als Raum des stetig nur um sich selbst kreisenden Sprachspiels ohne lebensweltliche Konsequenz. Als Resultat der bisherigen Überlegungen ließe sich also festhalten, dass in der Literatur der Postmoderne Meta- und (selbst immer sprachlich verfasste) Objektebene eng miteinander verschränkt sind. Postmoderne Literatur reflektiert auf und ist zugleich selbst geprägt von Unbestimmtheit, Fragmentiertheit, Hybridität, Tiefenlosigkeit, Karnevalisierung, Konstruiertheit; die Objektebene ist der Metaebene immanent. 51 Fluck (1997), 15. 52 Vgl. Glomb (2004), 26f. 53 Glomb (2004), 49. 54 Vgl. Glomb (2004), 46. 55 Vgl. Fluck (1997), 21. 56 Vgl. Fluck (1997), 23. <?page no="28"?> 16 Postmoderne und Literatur So wie vor dem Hintergrund postmoderner Prämissen die Literatur als privilegierter Diskurs erscheint, scheint dem Roman als literarischer Gattung eine besondere Rolle zuzustehen: Mehr als andere literarische Gattungen ist der Roman [...] auf der Suche nach sich selbst und den eigenen Möglichkeiten, entfaltet sich [doch] seine Geschichte in der Interaktion mit anderen Diskursen, zu denen die Grenzen oft fließend bleiben. Daß sie eine Vielzahl von Diskursen aufzunehmen mochte, ist sicherlich eine Erklärung für die Resonanz, die die neue Gattung fand. Dabei, wie auch in der Konkurrenz mit anderen literarischen Gattungen, kommt dem Roman seine „Formlosigkeit“ und die damit verbundene Elastizität in der Assimilation fremden Materials zugute. 57 Winfried Flucks Ausführungen beziehen sich zwar nicht auf den postmodernen Roman, sondern suchen vielmehr eine Funktionsgeschichte des Romans nachzuzeichnen, sind im Kontext der vorliegenden Arbeit aber ebenso gültig. Dies umso mehr, wenn man die Entwicklung des „zunächst misstrauisch beäugten ‘Bastard’“ 58 Roman zur dominanten Gattung der zeitgenössischen Literatur als mentalitätsgeschichtlich eng mit Modernisierungsprozessen verknüpft begreift 59 und darüber hinaus Postmoderne nicht als Gegenbegriff oder radikalen Bruch zur Moderne versteht, sondern zugleich als von Moderne different und mit ihr kontinuierlich sieht. 60 Fluck beschreibt die im Zuge der Modernisierung zunehmende Individualisierung 61 und die wachsende Bedeutung des Romans als literarischer Gattung als miteinander verwoben und schreibt dem „Massenmedium Roman“ eine vorher so noch nicht existente Möglichkeit „gedanklicher und emotionaler Ich-Expansion, des gedanklichen Rollenspiels und des probeweisen Selbstentwurfs“ 62 des Individuums zu: Denn die imaginäre Anreicherung der Realität erfolgt aus der Perspektive des Individuums, für das das, was bisher nur als diffuser Strom von Bildern, Stimmungen und Sehnsüchten existierte, artikulierbar wird. Das Imaginäre enthält eine intentionale Struktur und wird Teil eines fortlaufenden Prozesses kultureller Selbstverständigung, durch den eine Aufwertung (empowerment) des Individuums erfolgt, weil dessen ‘insgeheime’ Vorstellungs- und Gefühlswelt Gestalt gewinnt und damit ausdrucksfähig wird.“ 63 57 Fluck (1997), 18. 58 Fluck (1997), 18. Vgl. dazu Michail Bachtin, Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans (Berlin: 1986). 59 Vgl. Fluck (1997), 21ff sowie Glomb (2004), 51f. 60 Vgl.hierzu Zima (1997), 18ff sowie Welsch (1997), 45ff. 61 Vgl. auch Glomb (2004), 9ff. 62 Vgl. Fluck (1997), 27. 63 Fluck (1997), 20. <?page no="29"?> Postmoderne und Literatur 17 Die Aufwertung des Individuums im Zuge von Modernisierungsprozessen wertet Fluck demnach als in einer an hermeneutische Strukturen erinnernden Verbindung zur (literarischen) Fiktion stehend. Veränderungen im sozialen Gefüge, in der Lebenswirklichkeit, erfordern demnach eine Neuinterpretation der Wirklichkeit, und Literatur ist ein Raum, um solche Neuinterpretationen zu ermöglichen: Fiktion wird zum „Motor kultureller Grenzüberschreitungen und Enthierarchisierung“: 64 Aus dem individuellen Imaginären wird ein kulturelles Imaginäres und der Roman, der vom Potential der Fiktion zu ständiger Grenzüberschreitung lebt, wird nicht nur zum Experimentierfeld immer neuer Versuche, das Imaginäre zur Geltung zu bringen, sondern zugleich auch zu einem exemplarischen Ort der je verschiedenen Manifestationen eines kulturellen Imaginären. 65 Wenn sich nun der Roman im Verlauf von Modernisierungsprozessen entsprechend der ihm im spezifischen kulturellen Kontext zukommenden Funktion organisiert, dann kann davon ausgegangen werden, dass dies auch für den postmodernen Roman und ‘die Postmoderne’ zutrifft. Der Roman als literarische Gattung wäre dann in seiner ‘Formlosigkeit’ und mit der ihm eigenen Mehrfachcodierung nicht nur in besonderer Weise mit seinem postmodernen Bezugsrahmen verschränkt, sondern würde sich auch mehr als andere Gattungen als Analyseobjekt anbieten. 64 Fluck (1997), 20. Vgl. auch ebd., 27: „Es ist der Beitrag des Romans zur imaginären ‘Stärkung’ und Selbstwertbildung des Individuums, der sich mit der Beschäftigung mit der Geschichte des amerikanischen Romans aufdrängt. Dessen Entwicklung wäre somit Teil eines Individualisierungsprozesses, in dem sich das Individuum […] mit Hilfe der Fiktion selbst ermächtigt und auf diese Weise zu einer Geschichte kultureller Enthierachisierung beiträgt, die in jenem kulturellen Radikalismus ihre vorläufig letzte Stufe erreicht hat, der seine eigene Befreiungsgeschichte zur Basis seiner literargeschichtlichen Urteile macht.“ 65 Fluck (1997), 20. <?page no="30"?> 3 Identität als narrativer Prozess Ein sinnhafter Systemprozeß erlaubt wahlfreien Zugriff auf den Sinn von vergangenen bzw. künftigen Ereignissen, also ein Überspringen der Sequenz. [...] Ein Ereignis innerhalb einer Geschichte - also ein narratives Ereignis - läßt sich nicht allein durch seine Position in einer irreversiblen Zeitpunktkette bestimmen, sondern dadurch, welche Sinnbezüge es zu ganz verschiedenen Ereignissen des sich jeweils zu einer Geschichte schließenden Zusammenhangs aufnimmt. 66 Wenn mit Winfried Fluck der Zusammenhang von der Bedeutungszunahme des Romans als literarischer Gattung und der Aufwertung des Individuums kurz angerissen wurde, dann wird mit der Rede vom Individuum eine komplexe Begriffstrias aufgerufen, die neben dem Individuum auch die Begriffe Subjekt und Identität umfasst. Während dabei begriffsgeschichtlich für ‘Individuum’ und ‘Individualität’, „dem Anspruch auf die unverwechselbare Einmaligkeit unserer Person“ 67 festzuhalten ist, dass der „Begriff des Individuums […] ein moderner Begriff“ 68 ist, steht hinter dem Subjektbegriff eine ungleich längere philosophische Traditionslinie. Die Fassung des Subjektbegriffs gestaltet sich dabei auch insofern als schwierig, als aufgrund der Ausdifferenzierung der Wissenschaftsdiskurse der „vieldeutige Signifikant“ Subjekt in höchst unterschiedlicher Weise gefüllt werden kann, sei es aus linguistischer, juristischer, narratologischer oder historischer Perspektive. 69 66 Norbert Meuter. „Geschichten erzählen, Geschichten analysieren. Das narrativistische Paradigma in den Kulturwissenschaften“, in: Friedrich Jaeger und Jürgen Straub, Handbuch der Kulturwissenschaften: Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart: Metzler (2004), 149. 67 Werner Becker, Das Dilemma der menschlichen Existenz: Die Evolution der Individualität und das Wissen um den Tod (Stuttgart: 2000), 35. Vgl. auch Peter Koslowski, Die postmoderne Kultur: Gesellschaftlich-kulturelle Konsequenzen der technischen Entwicklung (München: 1987), 55: „Das individuelle Selbst, die Aufgabe der Selbstfindung in einer sich immer schneller wandelnden sozialen und natürlichen Umwelt, ist das kulturelle Thema der Gegenwart.“ 68 Klaus-Jürgen Bruder, Subjektivität und Postmoderne (Frankfurt am Main: (1993), 38. 69 Vgl. Peter V. Zima, Theorie des Subjekts (Tübingen, Basel: 2000), 1. <?page no="31"?> Identität als narrativer Prozess 19 Das philosophische Subjekt der Neuzeit, das als „Subjekt in der klassischen Bewußtseinstheorie“, 70 als rationales, erkennendes ‘cogito’ seinen Anfang nimmt, und in zunehmendem Maße durch die strukturalistische Linguistik, die Psychoanalyse und schließlich poststrukturalistisch/ postmoderne Ansätze zunächst in Frage gestellt und - überspitzt formuliert - alternierend für tot, lebendig, wiederbelebt oder nie verstorben erklärt wird, 71 soll und kann an dieser Stelle nicht umfassend diskutiert werden. Grundlage für die weiterführenden Überlegungen soll stattdessen Peter V. Zimas Konzeption des individuellen Subjekts bzw. der dialogischen Subjektivität sein. Für Zima ist der Mensch als Subjekt stets nur in seiner Ausprägung als individuelles Subjekt zu denken, d.h. Subjektivität ist stets an das „Individuum“ als „biologische, aber gesellschaftlich stets vermittelte Grundlage“ 72 gebunden. Subjektivität ist dabei als sprachlich und kulturell formierte Eigenschaft zu begreifen, die sich erst in der Interaktion und Kommunikation mit anderen sprechenden und handelnden Instanzen (d.h. individuellen und ‘kollektiven Subjekten’) konstituiert. 73 Anders als die Individualität des Körpers, die zwar immer kulturell überschrieben, aber eben auch naturhaft vorgegeben ist, unterliegt Subjektivität damit in grundsätzlicher Weise Wandlungsprozessen. Das individuelle Subjekt ist als dynamische Einheit, als dynamisches Gleichgewicht darzustellen, das aus der Interaktion […] hervorgeht. Daß dieses Gleichgewicht stets prekär ist, braucht nicht eigens hervorgehoben werden, zumal auch kollektive Subjekte nur als dynamische, von Auflösung und Zerfall bedrohte Einheiten zu verstehen sind. 74 Individuelle wie kollektive Subjekte entstehen nach Zima immer in spezifischen kulturellen und sprachlichen Konstellationen. Das Subjekt konstituiert sich im Diskurs, indem es auf andere Diskurse reagiert „und sich im Verlauf dieser Kommunikation für oder gegen bestimmte semantische Relevanzkriterien, Klassifikationen entscheidet“; als handelndes und sprechendes Subjekt kommt es in einem narrativen Programm 75 zustande. 70 Hans Ebeling, Das Subjekt in der Moderne: Rekonstruktion der Philosophie im Zeitalter der Zerstörung (Reinbek: 1993), 22. 71 Vgl. hierzu exemplarisch Ebeling (1993), Zima (2000) sowie Manfred Frank, Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis: Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität (Stuttgart: 1991), Barbara Mauersberg, Der lange Abschied von der Bewußtseinsphilosophie: Theorie der Subjektivität bei Habermas und Tugenthat nach dem Paradigmenwechsel zur Sprache (Frankfurt am Main: 1999) sowie Thomas Dörfler, Das Subjekt zwischen Identität und Differenz: Zur Begründungslogik bei Habermas, Lacan, Foucault (Neuried: 2001). 72 Zima (2000), 8. 73 Vgl. Zima (2000), 10f sowie Becker (2000), 34ff. 74 Zima (2000), 14. 75 Vgl. Zima (2000), 15. <?page no="32"?> 20 Identität als narrativer Prozess Identität ist dabei als das „Objekt des fühlenden, denkenden, sprechenden und handelnden Subjekt-Aktanten“ 76 zu denken, als Objekt des sich als Subjekt konstituierenden Individuums.“ 77 Ähnlich wie Individualität und Subjektivität zum Teil synonym verwendet werden, ist auch der Identitätsbegriff dabei durch inhaltliche Überschneidungen mit und wandelbare Positionierung zu den beiden anderen Teilen der Begriffstrias Individualität, Subjektivität und Identität charakterisiert. 78 Die Rede von der Identität wird dabei zum Teil insofern als problematisch empfunden, als dem Begriff ein ‘herrschaftlicher Aspekt’ 79 eingeschrieben zu sein scheint, der das Subjekt erst zum sub-iectum im Wortsinne zu machen scheint. So weist Wilhelm Schmid darauf hin, dass für ihn das Subjekt „entgegen einer modernen Überzeugung, nicht nach den Maßstäben der Identität verfasst sein“ 80 darf: Das ‘mit sich identische’ Subjekt, das sich in der sozialen Interaktion als beständig und zuverlässig generieren muss, unterwirft sich gleichsam freiwillig dem Diktat seiner sozialen Identität 81 und ist zugleich zum Scheitern an seinen eigenen Ansprüchen verurteilt. 82 Schmids Identitätsbegriff ist eine statische Komponente fest eingeschrieben, welche das Ziel des ‘mit-sich-identisch-sein’ im Sinne von ‘unverändert bleiben’ uneinholbar erscheinen lässt. Die Moderne als „Kultur der Zeit“ 83 macht Identität unmöglich, denn „die Zeit durchkreuzt jede Identität.“ 84 Anders als bei Schmid ist Identität für Peter V. Zima keine unerreichbare Hoffnung, welche die Möglichkeit der gelungenen Subjektwerdung verstellt, sondern „das Objekt des fühlenden, denkenden, sprechenden und handelnden Subjekt-Aktanten“, das sich „Subjekte aneignen wollen oder sollen.“ 85 Zwar ist Identität auch hier dem Subjekt nicht naturhaft als Eigenes mitgegeben und muss mittels einer „sehr kreativen Eigenleistung der Subjekte bei der Arbeit an ihrer Identität“ 86 erst gewonnen werden, wird 76 Zima (2000), 24. 77 Zima (2000), 377. 78 Vgl. hierzu Zima (2000), 24: „Identitätstheoretiker [...] neigen dazu, Subjektivität und Identität als Synonyme zu verwenden“, oder Schoenbeck (2000), 120: „Identität. Ob man sie als Eigenschaft des Subjekts, als Konstrukt zur Bestimmung des Selbst oder über ihre Funktionen bestimmt: [...] hier soll zunächst von einem sehr weiten Begriff der Identität ausgegangen werden, der seine Nähe zu Begriffen wie ‘Selbst’, ‘Subjekt’ und ‘Individualität’ nicht verleugnet.“ 79 Vgl. Zima (2000), 378. 80 Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst (Frankfurt am Main: 1998), 91. 81 Vgl. hierzu Schmid (1998), 250f und Straub (2004), 277f. 82 Vgl. Schmid (1998), 95f. 83 Schmid (1998), 98. 84 Schmid (1998), 98. 85 Zima (2000), 24. 86 Keupp (1988), 150f, zit. nach Zima (2000). <?page no="33"?> Identität als narrativer Prozess 21 aber nicht zur ungewollten Verhinderung, sondern vielmehr zur Ermöglichungsbedingung von Subjektivität: In diesem Zusammenhang könnte man Subjektivität als Synthese von Individualität und Identität auffassen, weil erst derjenige, der eine psychische, soziale und sprachliche Identität erworben hat, als fühlendes, sprechendes und handelndes Subjekt erkannt wird. 87 Auch Jürgen Straub nimmt trotz des kritischen Bewusstseins für die Probleme des Identitätsbegriffs davon Abstand, ihn als untauglich für die geistes- und kulturwissenschaftliche Debatte abzulehnen. Vielmehr plädiert er für eine Begriffsexplikation, die nicht einen universellen Identitätsbegriff letztgültig zu klären sucht, sondern vielmehr „gewisse Familienähnlichkeiten [...] und dadurch Konturen eines mehrere theoretische Strömungen umfassenden [...] Grundbegriffs“ 88 herausarbeitet und Identität als Konzept multidisziplinär anschlussfähig halten möchte. Die zentrale Grundannahme Straubs beschreibt dabei Identität als Aspiration. Damit geht er über „jene allgemein anerkannten theoretischen Präzisierungen, welche Identität als Konstrukt und stets nur als vorläufiges Resultat einer lebenslangen Entwicklung“ 89 deuten, hinaus. Identität, bzw. ihre Aspiration, wird für „leiblich handelnde Subjekte“ 90 zur Motivation des Handelns gegenüber sich selbst und anderen. Identität als Hoffnung und Anspruch, der prinzipiell und strukturbedingt unerfüllbar bleibt, macht das Empfinden des Identitätsmangels zur Motivation des handelnden, individuellen Subjekts. Kontingenz und Prozessualität von Identität werden hier nicht, anders als im „postmoderne[n] Abgesang auf die personale Identität“, 91 als Freiheit von jeglichen Zwängen und Beliebigkeitslegitimation begriffen, sondern vielmehr als Freiheit, dem uneinholbaren Ziel der Identität im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten auf je unterschiedliche Weise zu folgen. 92 Identität in diesem Sinne ist also in hohem Maße reflexiv, denn sie ist zum einen die Ermöglichungsbedingung des handelnden 87 Zima (2000), 25. 88 Jürgen Straub, „Identität“, in: Jaeger und Straub (2004), 278. 89 Straub (2004), 279. 90 Straub (2004), 280. 91 Straub (2004), 282. 92 Zur Unterscheidung der Freiheit von etwas und der Freiheit zu etwas sowie zu Fragen der Praxis der Freiheit, vgl. Schmid (1998), 114f. Wolfgang Welsch spricht mit Richard Rorty von einem „offenen Netz von Möglichkeiten“ und vom „immer unvollständigen [...] Neuweben eines solchen Netzes.“ Wolfgang Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft (Frankfurt am Main: 1996), 835. <?page no="34"?> 22 Identität als narrativer Prozess individuellen Subjekts, als auch Resultat aus dessen Handlungen: 93 Wenn „Identität der Objekt-Aktant des sich als Subjekt konstituierenden Individuums ist, dann kann individuelle Subjektivität reflexiv als Selbstanalyse und Selbstkonstruktion aufgefasst werden.“ 94 Diese Vorstellung ist dabei insofern nicht unproblematisch, als sie eine vollständige Selbsttransparenz zu implizieren scheint. Dieser Anspruch ist jedoch schon strukturell nicht einlösbar. Dem Reflexionsparadigma, d.h. der Spaltung in ein betrachtendes Subjekt-Selbst und ein betrachtetes Objekt-Selbst, ist ein unhintergehbares Element des Selbstentzuges im Sinne der differenz- und mangeltheoretischen Prämissen fest eingeschrieben: 95 Das betrachtende Selbst kann sich stets nur in seiner Manifestation im betrachteten Objekt erkennen. Die reflexive Betrachtung des Selbst, und damit auch Identität, ist ein grundsätzlich nie zu einem abschließenden Ende kommender Prozess: Es gibt keine Identität ohne Selbstentzug. Letzterer ist für erstere konstitutiv und nicht ein bloßes Störelement auf einem Entwicklungs- oder Bildungsweg, der teleologisch im Sinne einer morphologischen Entelechie auf einen fest umrissenen Endpunkt zuläuft und schließlich ein abgeschlossenes und geschlossenes Sinngefüge umfassen könnte. 96 Wenn also Selbstreflexion impliziert, dass das Selbst gleichsam nie vollständig bei sich sein kann, dann macht dies Identität nur in demjenigen Sinne unmöglich, als Subjekt-Selbst und Objekt-Selbst nie völlig gleich sein können. Identität ist also nicht als Zustand und Endpunkt eines Prozesses, sondern vielmehr als der durch Aspiration angetriebene Prozess selbst zu betrachten. 97 Auch das Element der Selbstkonstruktion ist insofern kritisch zu betrachten, als es nicht als erneute Einführung der vollständigen Autonomie 93 Die hier beschriebenen Elemente einer hermeneutischen Struktur sind trotz aller unterschiedlichen Begrifflichkeit ein Grundbestandteil der betrachteten subjektphilosophischen Texte. So spricht Schmid z.B. von Selbstbewusstsein und Selbstgestaltung als Grundvoraussetzungen einer erfolgreichen Subjektkonstitution. Vgl. Schmid (1998), 239f, Straub (2004), 281f, Welsch (1996), 849 sowie Frank (1991), 10f. 94 Zima (2000), 377. 95 Zur Diskussion um das Reflexionsparadigma vgl. Frank (1991), 7ff. G. H. Mead greift die Kantsche Trennung des Selbstbewusstseins in zwei Pole in seinem Identitätsmodell auf und unterscheidet zwischen dem Subjekt-I und dem Objekt-me. Der Subjektpol ist dabei immer nur in der gleichsam historischen Manifestation im Objekt-me qua Implikation zugänglich. Vgl. hierzu Stefan Glomb, Erinnerung und Identität im britischen Gegenwartsdrama (Tübingen: 1997), 11f. 96 Straub (2004), 280. Vgl. hierzu auch Dieter Thomä, Erzähle dich selbst (München: 1998), 11: „Der gegenwärtige Moment, der doch zum Leben gehört, läßt sich nicht einholen. Man entwischt sich immer schon selbst.“ 97 Vgl. Glomb (1997), 12 und Schoenbeck (2000), 120f. <?page no="35"?> Identität als narrativer Prozess 23 und Selbstständigkeit des individuellen Subjekts in der Konstruktion von Identität verstanden werden darf. Totale Autonomie ist insofern schon unmöglich, als der in Identität strukturell immer schon eingeschriebene Selbstentzug als unhintergehbares heteronomes Element gedeutet werden kann. Darüber hinaus gilt, dass Identität niemals in einem kontextfreien Raum, sondern vielmehr in der Interaktion mit anderen in einem sozial und kulturell vorgeprägten Raum stattfindet, 98 der zudem wesentlich auch von Kontingenzerfahrungen geprägt ist. 99 Gleichwohl ist Identität aber auch nicht totaler Heteronomie unterworfen. Jürgen Straub formuliert: Es besteht kein überzeugender Grund für die [...] pauschale Annahme einer „Inkompatibilität zwischen Autonomie und Sozialisation.“ Der Mensch ist als (biologisch und sozial) faktisch abhängiges Wesen zur Autonomie fähig [...] Die avisierte Autonomie einer Person ist freilich stets partiell, umfaßt also niemals jeden Wunsch und Willen oder gar die gesamte Handlungs- und Lebenspraxis eines Menschen. 100 Das Selbstgestaltungsbzw. Identitätsformungspotential wird durch die Eingebundenheit in einen sozialen Raum nicht negiert, sondern vielmehr in wesentlichen Teilen erst durch sie ermöglicht. So gründet sich die Dynamik des Identitätsprozesses nicht zuletzt darauf, dass die wahrgenommenen Unterschiede zwischen der Selbstdarstellung nach außen und den von außen zurückfließenden Informationen bezüglich der Fremdwahrnehmung Teil eines dreischrittigen dialektischen Kreisprozesses bilden: Appropriation - der Übergang von der Außenzur Innenperspektive, d.h. die Aufnahme von Informationen über sich selbst [...] Transformation - die Verarbeitung dieser Informationen [...] schließlich Publication - der Schritt zurück in die Außenperspektive, die Selbstdarstellung in einer ‘neuen Runde’ gesellschaftlicher Interaktion. 101 Reflexivität bestimmt also auch die gesellschaftliche Dimension von Identität, der darüber hinaus, analog zur strukturellen Bedingtheit des Selbstentzugs in der Selbstreflexion, ein Element der Uneinholbarkeit eingeschrie- 98 Vgl. hierzu Thomas Luckmann: „Mit anderen Worten: das Kind wird in eine schon bestehende Sozialstruktur und in eine gesellschaftlich verfestigte, vermittelte und als selbstverständlich angesehene Weltauffassung ‘hineingeboren’. Diese Sozialstruktur und diese Weltauffassung bestimmen formal und inhaltlich die unmittelbaren sozialen Beziehungen, in die das Kind von Anfang an gestellt ist. Sie prägen in historisch je spezifischer Weise die frühesten, unmittelbaren Sozialbeziehungen des Kindes [...], die in der sogenannten Primärsozialisation eine entscheidende Rolle spielen.“ Luckmann (1979), 298. Vgl. auch Straub (2004), 288f. 99 Vgl. Straub (2004), 280 sowie Schmid (1998), 87 und 366f. 100 Straub (2004), 288. 101 Glomb (1997), 15. <?page no="36"?> 24 Identität als narrativer Prozess ben ist, denn auch in der sozialen Interaktion gerät immer nur ein gleichsam ‘historisches’ Bild des Selbst in den Blick: Den Objektpol besetzt nicht der fremde Blick auf den aktuellen, sondern auf den schon vergangenen Subjektpol. Identität entwickelt sich also, mit Thomas Luckmann gesprochen, in der gesellschaftlichen Interaktion, und zwar „nicht von ‘Innen nach Außen’, sondern von ‘Außen nach Innen’. Der Mensch erlebt sich selbst nicht unvermittelt.“ 102 Identität ist damit immer auch als „Dialogizität, als Auseinandersetzung mit dem Anderen, dem Fremden“ 103 zu denken, wobei das Andere nicht nur für das gesellschaftliche ‘Außen’, sondern auch für denjenigen Teil des ‘Innen’ steht, der strukturell bedingt unzugänglich bleibt. Die Vorstellung von Identität als Ergebnis eines Kommunikationsprozesses aber lenkt den Blick auf die sprachliche Verfasstheit von Identität, bzw. auf die ‘Sprache der Identität’. Sprache ist für den Identitätsprozess insofern von grundlegender Bedeutung, als sie Kommunikation und dynamische, dialogisch gedachte Identität überhaupt erst ermöglicht und zugleich vorstrukturierend ist: Sprache verkörpert eine spezifische Weltauffassung: die innere Form der Sprache stimmt mit den kulturell grundlegenden Wahrnehmungs- und Deutungsmustern für die Wirklichkeit überein. [...] Die Sprache enthält selbstverständliche Vorentscheidungen darüber, welche Motive und Handlungsentwürfe allgemein verbindlich sind, welche nur unter besonderen Umständen oder nur für besondere Leute gebilligt oder geduldet werden. Eine bestimmte Sprache ist also immer ein Bestandteil des gesellschaftlichen a priori, das die Entwicklung der persönlichen Identität unausweichlich mitbestimmt und begrenzt. 104 Sprache gibt demnach ein Spektrum an gesellschaftlich sanktionierten Realisierungsmöglichkeiten von Identität vor. Die konkrete Realisierung von Identität muss dabei nicht notwendigerweise an diese gebunden sein, stellt sich aber in der Durchbrechung von Erwartungen immer auch in Bezug zu diesen. Bisher ist Identität als reflexiver Prozess beschrieben worden, dessen Ergebnis stets nur ein vorläufiges ist und der durch ein grundlegendes Mangelempfinden motiviert ist, der am Schnittpunkt zwischen Innen und Außen, und zwischen dem Selbst und dem Anderen, stattfindet, und der sprachlich vorstrukturiert ist. In einem nächsten Schritt sollen nun die Strukturmerkmale dieses Prozesses näher beschrieben werden. 105 102 Luckmann (1979), 299. 103 Zima (2000), 376. 104 Luckmann (1979), 302. 105 Struktur und Prozess sind hier nicht getrennt, sondern stets als Teilaspekte zu denken. Vgl. hierzu Meuter (2004), 128: „Prozesse und Strukturen werden häufig gegen- <?page no="37"?> Identität als narrativer Prozess 25 3.1 Kontinuität Auch wenn an anderer Stelle schon mehrfach darauf hingewiesen wurde, dass Identität hier nicht als Ergebnis eines Prozesses, sondern vielmehr als der Prozess selbst verstanden werden will und sich somit als inhärent dynamisch und veränderlich darstellt, ist dennoch die Aspiration von Kontinuität eines der zentralen Merkmale von Identität. Kontinuität bezieht sich in diesem Kontext auf die temporale Dimension von Identität, 106 wobei nicht unterstellt werden soll, dass etwa unveränderliche Wesensanteile von einem Zeitpunkt zum nächsten weitergereicht würden und gleichsam den Kern oder die Essenz von Identität bildeten. Vielmehr ist Kontinuität das Ergebnis einer aktiven, aber nicht notwendigerweise bewussten Kontinuierungsleistung „eines um sich selbst sorgenden Subjekts, das sich trotz der in der Zeit erfolgten [...] Veränderungen und Entwicklungen als nämliches versteht, zu verstehen gibt und praktisch präsentiert“, 107 d.h. nicht nur in Bezug auf die Selbstsicht oder das Innen, sondern auch auf das soziale Außen. Die Herstellung von Kontinuität kann als der Versuch beschrieben werden, Differenz- und Kontingenzerfahrungen über die Zeit in einen übergeordneten autobiographischen Kontext zu fassen, und den Zerfall des Selbst in voneinander unabhängige und temporal abgegrenzte ‘Selbste’, in die Fragmentierung, zu verhindern. 108 Die aus der Erfahrung von biographischer Differenz und Kontingenz erwachsende Verunsicherung über reflexive und kommunikative Kontinuierungsleistungen wird in einen übergeordneten Kontext eingebettet, bzw. in Identität überführt: 109 „irreeinander gesetzt, etwa indem man Strukturen als zeitlos und Prozesse als zeitlich auffasst. Man erhält so einen Gegensatz von Statik und Dynamik oder auch von Konstanz und Wandel. Ein solcher Ansatz ist jedoch, wie man leicht einsehen kann, falsch: Prozesse und Strukturen setzen sich wechselseitig voraus. Strukturen sind Ergebnis einer Strukturierung, also eines Prozesses, und Prozesse haben Strukturen. Begreift man Prozeß und Struktur lediglich als Gegensatz, versteht man weder die Änderbarkeit von Strukturen noch die Strukturiertheit der Prozesse.“ 106 Von anderen Autoren wird diese diachrone Komponente von Identität auch als Konstanz bezeichnet; vgl. beispielsweise Glomb (1997), 12f. 107 Straub (2004), 285. 108 Vgl. Straub (2004), 285. 109 Vgl. Straub (2004), 285f. Straub wendet berechtigterweise ein, dass nicht alle Erfahrungen von Kontingenz und Differenz narrativ in eine schlüssige Lebensgeschichte integriert werden können; als wichtigstes Beispiel nennt er traumatische Erfahrungen, die hier als vermeintlich unüberwindbarer Bruch in einer Lebensgeschichte beschrieben werden können. Allerdings ist anzumerken, dass die ‘narrative Psychologie’ bei der Therapierung von aus traumatischen Erlebnissen resultierenden <?page no="38"?> 26 Identität als narrativer Prozess duzibel heterogene, sich widersprechende Erfahrungen, Erwartungen, Widerfahrnisse, Handlungen, Motive, Intentionen und Orientierungen“ 110 werden zueinander in Bezug gesetzt. Diese Integrationsleistung ist immer wieder aufs Neue zu erbringen, da Kontinuität und damit Identität beständig an der Erfahrung temporaler Differenz und kontingenter Veränderung zu scheitern drohen. Damit scheint es zunächst so, als ob die erfolgreiche Herausbildung von Identität strukturbedingt eher die Ausnahme als die Regel darstellen müsse. 111 Wenn aber die Alltagserfahrung zeigt, dass dies nicht notwendigerweise der Fall ist, so lässt sich dies aus der besonderen Struktur des wichtigsten Modus der Integration von Differenz und Kontingenz, des Erzählens von „(Selbst-)Geschichten“, 112 erklären. Hierzu ist es zunächst notwendig, auf die Bedeutung von Kontingenz und temporaler Differenz für Erzählungen im Allgemeinen einzugehen. Norbert Meuter schlägt in seiner systemtheoretischen Analyse von Narrativität vor, Geschichten als „sich selbstorganisierende systemische Zusammenhänge von Sinn und Zeit“ 113 zu definieren. Aller Erfahrung von Sinn liegt für Meuter eine Differenzstruktur von Aktualität und Potentialität zugrunde, die sich nicht auf den einen oder den anderen Aspekt reduzieren lässt, sondern vielmehr stets zusammen gedacht werden muss. Sinn entsteht weder allein in der aktualisierten Möglichkeit noch aus der Summe der potentiell aktualisierbaren Möglichkeiten heraus, sondern vielmehr an deren Schnittstelle. Sinn generiert sich daher aus der einen, aktualisierten Möglichkeit und dem gleichzeitigen Verweis auf die Vielzahl der nicht realisierten Möglichkeiten heraus: Sinn erscheint [...] in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf andere Möglichkeiten. Aus dieser Asymmetrie ergibt sich die Funktion von Sinn als besondere Form der Reduktion von Komplexität. Jede tatsächliche Aktualisierung bedeutet eine Auswahl aus der Überfülle des Möglichen. Unter dieser Bedingung wird Sinn notwendigerweise als Selektionszwang erfahren. 114 Gerade weil sich Sinn aber an der Schnittstelle von Aktualität und Potentialität generiert, kommt Sinnsystemen dabei eine Eigenschaft zu, die anderen Systemen fehlt: Krankheiten, beispielsweise in der Form der Narrativen Expositionstherapie (NET), durchaus erfolgreich ist. Vgl. auch Meuter (2004), 141. 110 Straub (2004), 285. 111 Vgl. hierzu Schmid (1998), 91. 112 Straub (2004), 286. Vgl. hierzu auch Schmid (1998), 255. 113 Meuter (2004), 152. 114 Meuter (2004), 146. Vgl. hierzu auch Thomä (1998), 11. <?page no="39"?> Identität als narrativer Prozess 27 Was also bei Sinnsystemen im Unterschied zu anderen Systemarten auftaucht, ist die ‘Einsicht’, daß sie überhaupt vor der Möglichkeit stehen, zwischen Möglichkeiten wählen zu können. Sinn ist daher notwendig verbunden mit Kontingenzerfahrung (auch wenn diese in vielen Fällen gerade nicht mitthematisiert wird). 115 Sinn stellt sich hier also nicht als Gegenteil von Kontingenz oder als Instrument zu deren Verhinderung dar, sondern vielmehr ist die Erfahrung von Sinn strukturell mit der Erfahrung von Kontingenz verbunden. Vor diesem Hintergrund wird einsichtig, warum Straub im Zusammenhang von Identität und Kontinuität vom „Paradigma einer narrativen Integration“ spricht, „die Kontingenzerfahrungen in einzigartiger Weise bearbeitet, bewahrt und zugleich verwandelt.“ 116 Auch in Bezug auf das Erleben von zeitlicher Differenz zeigt sich eine strukturelle Parallele zwischen aspirierter Identität und Narrativität: Systeme, die mit Sinn operieren, bringen Änderungen zunächst in die erfahrbare Differenz vorher/ nachher, und nur solche Systeme können ihre Elemente als Ereignisse erfahren, das heißt als etwas, das die Einheit dieser Differenz markiert, also als das, was ‘zwischen’ vorher und nachher liegt. 117 Differenzerfahrungen sind somit nicht nur für die aktive Konstruktion von Identität konstitutiv, 118 sondern auch für Sinnsysteme im Allgemeinen; der Aspekt der beständigen Veränderung ist ihnen fest eingeschrieben. Denkt man nun Zeit als „dasjenige, was Ereignisse unwiederholbar“, also irreversibel, „verschwinden läßt“, 119 dann ist dies aus identitätstheoretischer Perspektive insofern problematisch, als damit die Herstellung von Kontinuität zunächst unmöglich scheint: Die Integration von Differenz in das Selbst wäre unmöglich. Meuter weist jedoch darauf hin, dass eine Reduktion von Zeit auf Irreversibilität im Rahmen von Sinnprozessen eine unzulässige Verkürzung darstellt: Sinnsysteme müssen nicht unbedingt an einmal aktualisierten Möglichkeiten festhalten, da sie immer wieder auf sie zurückkommen können. Dadurch verringert sich das Risiko, daß mit jeder selektiven Aktualisierung eingegangen wird: Man kann zum Ausgangspunkt zurückkehren und einen anderen Weg wählen. Jeder spezifische Sinn ist also grundsätzlich offen für Reversibilität. 120 Dies ist keinesfalls so zu verstehen, als dass hier ein faktisches Ungeschehenmachen einmal aktualisierter Möglichkeiten suggeriert würde; Zeit und 115 Meuter (2004), 147. 116 Straub (2004), 286. 117 Meuter (2004), 147. 118 Vgl. Straub (2004), 284. 119 Meuter (2004), 147. 120 Meuter (2004), 147. <?page no="40"?> 28 Identität als narrativer Prozess Prozesse laufen nicht rückwärts. Vielmehr wird hier zum Ausdruck gebracht, dass sich der Sinn eines Ereignisses, die Wechselwirkung von Aktualität und Potentialität, ändern kann: Etwas ist noch da, wo man es verlassen hatte, der endgültige Abschluß einer Handlung kann hinausgezögert werden, die Geschichte ist noch nicht ganz zuende, eine Situation kann noch ganz anders werden - d.h. einen anderen Sinn annehmen. 121 In Sinnsystemen ist Zeit also stets sowohl unter dem Aspekt der Irreversibilität, also Veränderung im Sinne der stetig ablaufenden und unumkehrbaren Aneinanderreihung von Differenz, und Reversibilität, der Veränderung als der Veränderlichkeit der Aktualisierung von Sinnbezügen, zu denken. 122 Paradoxerweise ist es aber gerade das Element des stetigen Wandels, aus dem sich in sinnhaften Systemprozessen Stabilität und Kontinuität ergeben kann. Hierzu ist es notwendig, den ablaufenden Prozess zunächst nicht als bloße Abfolge von Ereignissen, die nach den immer gleichen Regeln aneinander gereiht werden, zu begreifen, sondern vielmehr als wachsende Selektivität: Ein Prozeß beginnt mit einem kontingenten Ereignis (systemtheoretisch eigentlich: einer Beobachtung); dieses Ereignis wird zur Ausgangslage jedes nächsten Ereignisses, welches an die Selektivität des vorhergehenden anschließt und diese Selektivität in seine eigene (wiederum selektive) Realisation mit aufnimmt. Anders formuliert: [...] Jedes Prozeßereignis ‘vererbt’ seine Selektivität an das jeweils folgende, und dadurch reichert sich im Verlauf des Prozesses rekursiv immer größere Unwahrscheinlichkeit an. 123 Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf den Kontingenzbegriff. Kontingenz wird von der bloßen Zufälligkeit der faktisch realisierten Möglichkeit in eine sinnhafte, d.h. das kontingente Ereignis zu anderen kontingenten Ereignissen in Bezug setzende Struktur überführt: 121 Meuter (2004), 148. 122 In der Konsequenz operieren Sinnsysteme für Meuter mit zwei Arten von Gegenwart. In Gegenwart-I schlägt das Vorher unaufhörlich in das Nachher um; sie verändert sich ständig irreversibel. In Gegenwart-II hingegen wird die Zeit gleichsam ins Unendliche gedehnt. Das in Gegenwart-I bereits unwiederholbar Vergangene bleibt in Gegenwart-II präsent und kann im Sinne der Aktualisierung von anderen Möglichkeiten in einen neuen Sinnzusammenhang eingeordnet werden. Vgl. Meuter (2004), 147f. Einer ähnlichen Denkfigur bedient sich Elizabeth Ermath, wenn sie Identität als sowohl Sequenz als auch Palimpsest beschreibt. Vgl. Elizabeth Deeds Ermath, „Beyond ‘The Subject’: Individuality and the Discoursive Condition“, in: New Literary History 31: 3 (2000), 413. 123 Meuter (2004), 148. <?page no="41"?> Identität als narrativer Prozess 29 Indem Sinnprozesse das, was faktisch auftaucht, in eine Selektionsgeschichte integrieren, transformieren sie bloße Kontingenz in eine sinnhafte. Systemische Sinnprozesse lassen sich daher mit dem Begriff der Narrativität charakterisieren, denn eines der basalen Merkmale jeder Form von Geschichten ist es ja, daß ihre einzelnen Ereignisse einen inneren Bezug unter- oder durcheinander (dia) entwickeln und nicht einfach nacheinander (meta) folgen. Mit anderen Worten: ein sinnhafter Prozeß bzw. das Sinnsystem selbst ist eine Geschichte. 124 Die Selektivität von Prozessereignissen ermöglicht den Anschluss von kontingenten Ereignissen an andere Ereignisse, also die Überführung in eine sinnhafte Struktur. Die hieraus resultierende, mit jedem neuen Ereignis wachsende Zahl von Selektionsmöglichkeiten, also der potentiellen Anschlusspunkte, wird durch eine weitere Eigenschaft sinnhafter Systemprozesse noch vergrößert: Ein sinnhafter Systemprozeß erlaubt wahlfreien Zugriff auf den Sinn von vergangenen bzw. künftigen Ereignissen, also ein Überspringen der Sequenz. [...] Ein Ereignis innerhalb einer Geschichte - also ein narratives Ereignis - läßt sich nicht allein durch seine Position in einer irreversiblen Zeitpunktkette bestimmen, sondern dadurch, welche Sinnbezüge es zu ganz verschiedenen Ereignissen des sich jeweils zu einer Geschichte schließenden Zusammenhangs aufnimmt. Die Möglichkeit eines solchen sprunghaften Zugriffs auf alles Vergangene und Zukünftige bedeutet [...] eine enorme Steigerung der Selektionsmöglichkeiten. 125 Aus der resultierenden enormen Anzahl von Selektionsmöglichkeiten, die narrativen bzw. Sinnprozessen damit zur Verfügung stehen, ergibt sich die Notwendigkeit, die Zahl der Wahlmöglichkeiten auf ein gleichsam überschaubares Maß zu reduzieren, denn ansonsten droht der Anschluss der Ereignisse untereinander zufällig zu werden. Mit anderen Worten: Die sinnhafte Geschichte droht in eine kontingente Ereignissequenz zu zerfallen. Die Reduktion der Selektionsmöglichkeiten ist aber eine Eigenschaft, die Sinnprozessen aufgrund der wachsenden Selektivität inhärent ist: Diese Reduktion organisiert der Prozeß selbst, und zwar dadurch, daß die Steigerung der Wahlmöglichkeiten in Folge der Organisation als Prozeßgeschichte durch diese Geschichte zugleich wieder reduziert wird. Die Selektionsgeschichte eines Prozesses/ Systems spielt sich so ein, daß völlig unerwartete Aktualisierungen kaum noch zugelassen werden. Radikale Brüche und Diskontinuitäten (sowohl in der Zeitals auch in der Sachdimension von Sinn) werden, was die Organisation ihrer Anschlußfähigkeit betrifft, gewissermaßen als ‘Unzumutbarkeiten’ empfunden und müssen eigens ‘begründet’ werden. Prozesse konden- 124 Meuter (2004), 149. 125 Meuter (2004), 149. <?page no="42"?> 30 Identität als narrativer Prozess sieren so zwangsläufig eine Geschichte und können dann nach relativ kurzer Zeit nur noch unter Einbeziehung dieser Geschichte beschrieben werden. 126 Dies hat weitreichende Konsequenzen für das Denken von Identität und für die Konstruktion von Identität. Von entscheidender Bedeutung ist dabei weniger der Umstand, dass eine Geschichte des Selbst erzählt wird, sondern vielmehr, dass eine Geschichte erzählt wird. Kontinuität stellt sich aus dieser Perspektive nicht in einem dichotomischen Oppositionsverhältnis zu Veränderung dar, sondern ist gemeinsam mit Veränderung strukturell bedingter Teil eines einzigen Prozesses. Die Herstellung von Kontinuität ist damit nicht die gegen alle Erwartungen eintretende Ausnahme im Identitätsprozess, sondern vielmehr die Regel: Die „scheinbare Paradoxie von Stabilität und Wandel“ 127 ist tatsächlich nur eine scheinbare. Der Umstand, dass Identität im Sinne eines letztgültigen Schlusspunktes nicht erreicht werden kann, ist, wie gezeigt, aus ihrer Anlage als Prozess heraus zu erklären. Identität als „ein Denken eines als Werden gedachten Seins“ 128 kommt erst im Moment des Todes zum Stillstand; bis dahin ist beständig die Erfahrung von Differenz und Kontingenz narrativ zu integrieren. Dass im Rahmen der Vorstellung von Identität als Aspiration dennoch an einem strukturell bedingt unmöglich zu erreichenden Ziel festgehalten wird, lässt sich aus der teleologischen Dimension von als Prozessen begriffenen Geschichten ableiten: Das Verfolgen einer Geschichte ist dementsprechend das Verstehen der sukzessiven Handlungen, Gedanken und Gefühle, um die es geht, insofern sie eine gewisse Gerichtetheit darstellen. Damit meine ich, daß wir durch diese Entwicklungen vorangetrieben werden und daß wir auf deren Schwung mit Erwartungen bezüglich des Resultats und des Abschlusses des gesamten Vorgangs antworten. In diesem Sinne ist der Schluß der Geschichte der Anziehungspol der gesamten Entwicklung. Der erzählerische Schluß kann aber weder deduziert noch vorhergesagt werden, denn es gibt keine Geschichte, wenn unsere Aufmerksamkeit nicht von tausend Kontingenzen mitgezogen wird. Daher muß die Geschichte auch bis zu ihrem Schluß verfolgt werden. Im Rückblick vom Schluß zu den vorhergegangenen Episoden müssen wir in der Lage sein zu sagen, dieses Ende habe dieser Arten von Ereignissen und dieser Kette von Handlungen bedurft. Dieser Rückblick wird jedoch durch die teleologische Bewegung unserer Erfahrungen während des Verfolgens der Geschichte ermöglicht. 129 Die teleologische Dimension von Narrativität, und damit in diesem Kontext auch von Identität, meint also nicht, dass das Ende der Geschichte 126 Meuter (2004), 149. 127 Glomb (1998), 15. 128 Leitner (1990), zit. nach Straub (2004), 285. 129 Ricoeur (2000), 162. <?page no="43"?> Identität als narrativer Prozess 31 schon zu Beginn der Erzählung feststünde. Vielmehr ist hier gemeint, dass Erzählungen grundsätzlich vom Anfang auf das Ende der Geschichte hin gerichtet sind, das ein retrospektives Deutungsmuster für die zwischen Anfang und Ende liegenden Handlungen und Ereignisse liefert: Ein narrativ-teleologisch strukturierter Prozeß ist somit ein in besonderer Weise rekursiver Prozeß, der sich nicht nur am laufend produzierten eigenen Output orientiert, sondern auch an seinem eigenen (in Aussicht gestellten) Ende. 130 Im Grundsatz beschreibt dies einen hermeneutischen Prozess, in dem zwischen den einzelnen narrativen Teilschritten und dem unbestimmten Ende der Geschichte ein wechselseitiges reflexives Verhältnis besteht. Für Identität als narrativen Prozess bedeutet dies, dass Identität als Ziel gar nicht aufgegeben werden kann, da sie als noch nicht erreichtes Ende der Erzählung unhintergehbarer Teil des Prozesses ist. Dabei ist nochmals zu bekräftigen, dass mit der Feststellung der teleologischen Dimension von Identität weder eine qualitative oder inhaltliche Bestimmung, noch eine Beständigkeit oder gar Unveränderlichkeit suggeriert werden sollen, 131 sondern vielmehr ein Erklärungsmuster für die strukturelle Anlage von Identität beschrieben wird. Beschreibt man nun Identität, wie bereits geschehen, als Ergebnis des Dialogs des Eigenen mit dem inneren und äußeren Anderen, also als Wechselspiel von Selbstreflexion und Außenkommunikation, dann ist das der narrativen Integration von Kontingenz und Differenz eingeschriebene Element der Kontinuität nicht nur Ergebnis des Prozesses, sondern in gewisser Hinsicht auch seine Voraussetzung. In Analogie zu Zimas Konzeption des theoretischen Dialogs 132 ließe sich dies wie folgt formulieren: Im Dialog mit dem Anderen gewinnt man die Einsicht in die ‘nicht explizierten Relevanzkriterien’ der eigenen und der anderen Identität; das Gespräch mit dem Anderen macht mir eine neue Identität zugänglich: Identität als Konstrukt des Anderen. 133 Identität lässt 130 Meuter (2004), 151. 131 Vgl. hierzu Meuter (2004), 151: „Dies heißt jedoch nicht, daß mit jedem Anfang schon ein bestimmtes Ende feststeht; in der Regel ist es vielmehr so, daß etwas anfängt und es noch offen ist, wann und wie es endet. Gleichwohl kann ein mögliches Ende (formal) schon recht früh in Aussicht gestellt, ja sogar schon mit dem Anfang selbst markiert werden, um so anzuzeigen, daß es sich um eine narrative Struktur handeln wird, die nun folgt. [...] Narrativ-teleologisch bedeutet nicht, daß das Ende oder das Ziel zu Beginn schon näher charakterisiert sein muß, es kann und wird sich in den meisten Fällen erst im Verlauf [...] selbst ausbilden und stabilisieren.“ 132 Zima (1997), 391f, sowie Zima (2000), 375ff. 133 Vgl. Zima (1997), 391. Vgl. hierzu auch Castoriadis (1975): „Wenn das Problem der Autonomie darin besteht, dass das Subjekt in sich selbst einen Sinn antrifft, der nicht ihm gehört und den es umgestalten muß, indem es sich seiner bedient; wenn Auto- <?page no="44"?> 32 Identität als narrativer Prozess sich so als kommunikativer Prozess beschreiben, in dem die eigene Identität abwechselnd bestätigt, modifiziert, erweitert und widerlegt wird. 134 Für eine funktionierende Interaktion ist ein gewisses Maß an Stabilität bzw. Kontinuität unverzichtbar: 135 Meine Vorstellung von der Vorstellung der anderen von mir - wie ich glaube, von anderen gesehen zu werden - hat entscheidenden Einfluß auf mein Selbstkonzept. Dieses Spiegel-Selbst hat genaugenommen drei Aspekte: meine Vorstellung von der Sicht der anderen; meine Vorstellung von ihrer Bewertung dieser Sicht; und mein hieraus resultierendes Selbstwertgefühl. 136 Dass sich Kommunikation in diesem Sinne immer auf schon Vergangenes, und damit Differentes, bezieht, ist strukturell zwar vorgegeben. Wird aber die wahrgenommene Abweichung zwischen selbstbezogener Information und Selbstsicht zu groß, dominiert also Heterogenität und nicht Homogenität, dann muss diese, „was die Organisation ihrer Anschlussfähigkeit betrifft, […] eigens ‘begründet’ werden.“ 137 Mit anderen Worten: Eine zu große Differenz bedingt einen aus Systemperspektive unerwünschten Mehraufwand an Organisation. Daraus leitet sich ab, dass sowohl selbstreflexive als auch sozial-kommunikative Anteile von Identität nicht sporadisch, sondern vielmehr regelmäßig stattfinden sollten, um Differenz gleichsam nicht als großen Sprung, sondern als kleine Schritte erlebbar zu machen und anschlussfähig zu gestalten. Der sozial-kommunikative Aspekt macht darüber hinaus die stetige Publikation von Identität nach Außen insofern wünschenswert, als nicht nur der Rückfluss selbstbezogener Informationen bedacht werden muss, sondern darüber hinaus der Kommunikationsprozess als solcher eine gewisse Stabilität und Verlässlichkeit der wahrgenommenen Identität verlangt: eine konsistente [und kontinuierliche] Selbstpräsentation [dürfte] im sozialen Kontext von dem jeweiligen Sozialpartner als Indikator für Stabilität und Vorhersagbarkeit seines Gegenübers gewertet und somit positiv verstärkt werden. nomie die Beziehung meint, in der die anderen schon immer als Alterität und Selbstheit des Subjekts gegenwärtig sind - dann ist Autonomie, schon im philosophischen Sinne, nur als soziales Problem und soziale Beziehung denkbar.“ Zit. nach Zima (2000), 376. 134 Vgl. Zima (1997), 368ff. 135 Vgl. Glomb (1998), 15. 136 Glomb (1998), 14. 137 Meuter (2004), 149. Dies kann unter anderem entweder durch die Anpassung, sprich Umdeutung, von selbstbezogenen Informationen erfolgen, oder aber durch die Modifikation des Selbstbildes. Vgl. Glomb (1998), 12. <?page no="45"?> Identität als narrativer Prozess 33 Dies wiederum bekräftigt die Beibehaltung eines konsistenten Selbstkonzeptes. 138 Kommunikation im Sinne eines Dialogs erfordert die Bereitschaft des Anderen, an diesem Dialog auch teilzunehmen, und allzu große Diskontinuitäten bergen die Gefahr, dass der Dialog abgebrochen wird. Kontinuität als Prozess ist damit also nicht nur ein retrospektives Element im Sinne der Herstellung von Sinnzusammenhängen und der Integration von Differenz und Kontingenz zu Eigen, sondern auch ein auf die Zukunft gerichteter, prospektiver und kommunikativer Aspekt. Dabei ist für Kontinuität als narrativem Prozess weniger ein Mangel an Anschlussmöglichkeiten charakteristisch, sondern vielmehr ein Zuviel von möglichen Anschlüssen. Sinnprozesse reagieren auf diesen Selektionsdruck mit der Ausbildung von Strukturen, die mittels Selektionsreduktionsmechanismen die Wahrscheinlichkeit von Anschlüssen steuern; 139 dies geschieht durch die Herausbildung von Episoden. Der erste Schritt von narrativer Episodenbildung besteht in der Produktion lokaler Sicherheiten. […] Eine erste interne Regulierung der Selektion ist nur dann gegeben, wenn als nächstes Ereignis dasjenige gewählt wird, was schon erkennen läßt, was als übernächstes in Betracht kommen könnte. 140 Die Produktion lokaler Sicherheiten meint also die Herstellung von vergleichsweise kurzen, in die Zukunft gerichteten wahrscheinlichen Verknüpfungen. Im zweiten Schritt von Episodenbildung werden diese lokalen Sicherheiten weiter in die Zukunft ausgedehnt, d.h. nicht mehr nur diejenigen Anschlussmöglichkeiten, die den übernächsten Schritt vorselektieren, werden mit höherer Wahrscheinlichkeit selektiert, sondern diejenigen, die bereits den darauf folgenden Anschluss vorstrukturieren usw.: Wenn sich solche Ereignisfolgen einschleifen, entsteht eine Struktur. Strukturen nehmen also die prozeßinterne Tendenz auf, lokale Sicherheiten zu produzieren, stabilisieren sie, und entwickeln längerfristige Engführungen über größere Zeiträume. Strukturen führen so zu extrem unwahrscheinlichen Einzelselektionen, das heißt zu Selektion, deren Vorkommen nur noch erklärt werden kann, wenn man sie als Ergebnis von strukturierten Prozessen begreift. 141 138 Haußer (1983), zit. nach Glomb (1998), 15. 139 Vgl. Meuter (2004), 149f. Wichtig ist es hierbei zu beachten, dass mit der Begrenzung von Anschlussmöglichkeiten immer die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Anschlusses gemeint ist. Unwahrscheinlichkeit bedeutet nicht gleich Unmöglichkeit, und es kann durchaus zu unwahrscheinlichen Anschlüssen kommen, die in der Folge dann als Diskontinuität wahrgenommen werden. 140 Meuter (2004), 150. 141 Meuter (2004), 150. <?page no="46"?> 34 Identität als narrativer Prozess Für das Denken von persönlicher Identität und Kontinuität bedeutet dies, dass sich Kontinuität im Sinne der Produktion von lokalen Sicherheiten verstehen lässt. Kontinuität meint ja gerade, wie schon ausgeführt, nicht die Weitergabe eines unveränderlichen Wesenskerns oder einer Essenz über die Zeit hinweg, sondern vielmehr die „aktiven Kontinuierungsleistungen eines um sich selbst sorgenden Subjekts.“ 142 Ziel dieser Kontinuierungsleistungen ist die Herstellung von Kontinuität nicht primär in Bezug auf den gesamten „Lebens-Zusammenhang“, 143 sondern vielmehr die Erklärung von Veränderung von Moment zu Moment; der Zeithorizont von Kontinuität ist somit ein vergleichsweise beschränkter. Persönliche Identität hingegen lässt sich, in Analogie zum zweiten Schritt von Episodenbildung, als längerfristig angelegte, weiter in die Zukunft gerichtete Struktur verstehen, deren unverzichtbare Komponente Kontinuität ist. Wie bei der verstetigten und verfestigten Produktion lokaler Sicherheiten im Allgemeinen, gilt auch für persönliche Identität, dass das Ergebnis nicht voraussehbar ist, der Prozess aber dennoch narrativ-teleologisch auf das Ergebnis zuläuft. Von persönlicher Identität ist dabei insofern die Rede, als hier der konkrete Ablauf von Selektionen gemeint ist, sozusagen eine konkrete Episode einer Lebensgeschichte. Um die Episode als Konzept für eine überindividuelle Betrachtung von Identität fruchtbar machen zu können, ist ein dritter gedanklicher Schritt vonnöten. Mit dem dritten Schritt [der Bildung von Episoden] erreicht die Strukturbildung sozusagen die Phänomenebene. Strukturen zeichnen sich durch eine gewisse […] Unabhängigkeit von den konkreten Elementen, Relationen oder Ereignisbereichen aus, an denen sie ablesbar sind. Sie besitzen eine relative Invarianz. 144 Mit der Loslösung von konkreten inhaltlichen Füllungen wird das Konzept der narrativen Episode anschlussfähig für die Vorstellung von Identität als am Schnittpunkt von Selbstreflexion und gesellschaftlicher Interaktion angesiedelter Prozess. Episoden können in diesem Zusammenhang beschrieben werden als entpersonalisierte und nicht konkret gefüllte Struktu- 142 Straub (2004), 285. Zum Begriff des um sich selbst sorgenden Subjekts vgl. auch Schmid (1998), 244ff. 143 Straub (2004), 285. 144 Meuter (2004), 150. <?page no="47"?> Identität als narrativer Prozess 35 ren, die als Formenrepertoire 145 zur Verfügung stehen und die dialogische Komponente von Identität wesentlich vereinfachen. 146 Episoden im Sinne eines Formenrepertoires sind beispielsweise „typische narrative Muster oder Genres, die dann in den konkreten Prozessgeschichten aufgegriffen und mehr oder weniger stark variiert werden können.“ 147 In Bezug auf Identität heißt das, dass beim Erzählen von selbstbezogenen Geschichten auf bestimmte etablierte Muster zurückgegriffen werden kann, die mit der je individuellen Lebensgeschichte gefüllt werden können. 148 Diese Muster sind als kulturell vermittelt, als Teile des kulturellen Gedächtnisses, 149 zu verstehen. Wilhelm Schmid, dessen Konzept der Lebensformen als Beschreibung des gleichen Sachverhaltes gelesen werden kann, merkt hierzu an: Der Kosmos der Formen mag im Grunde unbegrenzt sein, aber es kann nur auf die Formen zurückgegriffen werden, die unmittelbar verfügbar und vertraut sind. Das Individuum bedient sich dabei zunächst der in einer Kultur gegebenen Formen, in die es hineingewachsen ist oder die es aufgrund einer Konvention übernommen hat, ohne sie weiter zu befragen. 150 Episoden bieten als vorgegebene Formen also die Möglichkeit der Komplexitätsreduktion und der Herstellung von Sicherheiten, ohne dass Selektionsstrukturen erst erarbeitet werden müssen. Sie geben dabei aber lediglich eine Struktur vor, die je individuell inhaltlich zu füllen ist. Episoden erleichtern darüber hinaus insofern den dialogischen Kommunikationsprozess, als sie als kulturell Vorgegebenes auch dem Anderen auf der Basis eines geteilten kulturellen Systems mitgegeben sind. Bei der Präsentation der Geschichte des eigenen Selbst nach Außen entfällt damit teilweise die Notwendigkeit, neben den Inhalten und ihren Verknüpfun- 145 Vgl. hierzu auch Schmid (1998), 120: „Form ist grundsätzlich die Strukturiertheit von etwas, die Regelmäßigkeit eines Verhaltens, die Umgrenztheit von Verhältnissen, der Zusammenhang innerhalb bestimmter Grenzen, das von Andersgestaltetem oder Nichtgestaltetem unterschieden werden kann.“ 146 Vgl. auch Glomb (1997), 27. 147 Meuter (2004), 151. 148 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Episoden, wenn man davon absieht, dass sie sich über einen längeren Zeithorizont als lediglich lokale Sicherheiten erstrecken, als Relationsmuster nicht von bestimmter Länge sind. Sie können sich somit in der Form ganzer Geschichten oder aber auch als Spuren von Geschichten bzw. deren ‘narrative Abbreviaturen’ manifestieren. Vgl. hierzu Straub (2004), 286. 149 Zum Begriff des kulturellen Gedächtnisses vgl. Aleida Assmann, „Vier Formen des Gedächtnisses“, in: Erwägen-Wissen-Ethik, 13: 2 (2002), 183-190 und Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (München: 2002). 150 Schmid (1998), 122. <?page no="48"?> 36 Identität als narrativer Prozess gen immer auch die relevanten Selektionsstrukturen mitkommunizieren zu müssen. 3.2 Kohärenz und Konsistenz Während sich Kontinuität als Teilaspekt von Identität auf die diachrone Ebene bezieht, meint Kohärenz die synchrone Dimension. 151 Ähnlich wie auch Kontinuität ist Kohärenz dabei nicht als konkret inhaltlich gefüllt zu begreifen, sondern als Struktur innerhalb eines Prozesses. Jürgen Straub formuliert dies so: Grundsätzlich meint Kohärenz im vorliegenden Zusammenhang, daß unter Identität auf synchroner Ebene ein stimmiger Zusammenhang zu verstehen ist, eine Struktur, die aus miteinander verträglichen, zueinander passenden Elementen gebildet wird und insgesamt, ganz im gestaltpsychologischen Sinne, mehr oder anderes darstellt als die bloße Summe ihrer Teile. 152 Ohne die Frage, was beispielsweise unter der Verträglichkeit von kohärenten Elementen zu verstehen ist, zunächst zu beantworten, grenzt Straub in der Folge Kohärenz vom Begriff der Konsistenz ab. Konsistenz ist demnach als enger gefasstes, formal bestimmtes Kriterium zu deuten, das auf die logische Widerspruchsfreiheit verschiedener Elemente bezogen ist. Straub schlägt dagegen vor, Kohärenz damit in Zusammenhang zu bringen, daß Handlungssubjekte sich bestimmten Regeln verpflichtet fühlen und ihnen folgen, wobei sich diesbezüglich relevante Regelsysteme als moralische Maximesysteme oder ästhetische Orientierungssysteme rekonstruieren lassen. 153 Kohärenz ist damit stets nur vor einem bestimmten historischen und kulturellen Hintergrund zu denken. Was als kohärentes Element begriffen wird bzw. welche Teile des Selbst als kohärent empfunden werden, unterliegt, 151 Auch in Bezug auf diese Ebene ist die Terminologie uneinheitlich. So bezeichnet beispielsweise Stefan Glomb die synchrone Dimension von Identität als ‘Konsistenz’. Konsistenz ist für Jürgen Straub aber lediglich die formale, logische Widerspruchsfreiheit synchroner Identität. Wilhelm Schmid wiederum lehnt den Identitätsbegriff als Fehlentwicklung der Moderne vollständig ab und schlägt stattdessen Kohärenz als begriffliche Alternative vor. Hierbei handelt es sich aber vornehmlich um eine rein begriffliche Differenz, da die beschriebenen zugrunde liegenden Prozesse und Strukturen weitestgehend auf ein ähnliches Ziel abheben. Vgl. Glomb (1997), 2-28, Schmid (1998), 250-258, sowie Straub (2004), 276-303. 152 Straub (2004), 287. 153 Straub (2004), 287. <?page no="49"?> Identität als narrativer Prozess 37 ebenso wie die theoretische Konzeption von Identität selbst, 154 einer historischen Varianz. Mit anderen Worten: Welche Elemente als Teil einer kohärenten Identität selbstreflexiv empfunden werden bzw. plausibel nach außen vermittelt werden können, hängt in entscheidendem Maße vom jeweiligen Kontext ab. Hierbei ist anzumerken, dass auch Kohärenz vor diesem Hintergrund als narrative Struktur und Prozess beschrieben werden kann, und zwar insofern, als narrativen Sinnbildungsprozessen auch eine wertende Komponente eigen ist: Erzählungen erzeugen aber nicht nur emotionale, sondern auch moralische Bedeutung. […] Geschichten thematisieren und vermitteln, u.a. indem sie moralisch exemplarisches Handeln (im positiven wie im negativen Sinne) thematisieren, Regeln, Werte, Orientierungen und Normen. […] Allgemein kann man sagen, daß in Mustergeschichten, die biographisch und kulturell bedeutsame Formen typisierend präsentieren, zugleich moralische und werthafte Sichtweisen symbolisiert werden, die für ein Individuum oder eine soziale Gemeinschaft konstitutiv sind oder sein können. 155 Die Basis für die Bewertung von Kohärenz, ein zugrunde liegendes Wertesystem, ist demnach als ein durch Erzählungen vermitteltes System von Wertbezügen zu begreifen. Narration an sich wird damit zur Basis von Kohärenz, denn ohne narrativen Prozess, so die These, auch kein Wertesystem. Dies aber ist allenfalls als hypothetische Annahme zu denken, denn da narrative Prozesse konstitutiver Bestandteil der Ordnung von Wirklichkeit sind, also permanent in der einen oder anderen Form ablaufen, ist das völlige Fehlen jeglicher Wertesystematik strukturell bedingt gar nicht möglich: Jede symbolische Bezugnahme auf Wirklichkeit ist, wenn man so will, moralisierend, weil sie (systemtheoretisch formuliert) Umweltkomplexität kontingent selegiert und reduziert. [...] Wir können […] keine Geschichten erzählen, ohne zu moralisieren - aber dies gilt für die kulturelle Existenz des Menschen insgesamt: Wir sind moralisch, weil mir [sic! ] mit Sinn operieren, Symbole verwenden und Geschichten erzählen (müssen). 156 154 Vgl. hierzu Straub (2004), 282: "Keine Frage, […] daß es sich bei der hier skizzierten Theorie personaler Identität nicht um ein Stück allgemeine Anthropologie handelt, sondern um ein kulturell verwurzeltes und situiertes Denken in (spät- oder hoch-) modernen Gesellschaften. Das begrenzt selbstverständlich die Reichweite der (Anwendbarkeit der) sozial- und kulturwissenschaftlichen Theorien personaler Identität, unterstreicht aber zugleich deren historisierte und lokalisierte, empirische und normative Geltungsansprüche." 155 Meuter (2004), 153. 156 Meuter (2004), 154. <?page no="50"?> 38 Identität als narrativer Prozess Wenn nun aber in diesem Sinne jede Erzählung auch eine werthaltige Erzählung ist, und die Basis für die Bewertung von Kohärenz ein aus solchen Erzählungen abgeleitetes Wertesystem ist, dann hat dies potentiell Auswirkungen auf die angenommene Stabilität von Kohärenzkriterien: Das narrativ generierte moralische Wertesystem wird potentiell durch jede neue Erzählung verändert - und sei es nur in begrenztem Ausmaß und von lokaler Reichweite. Weil die Anlage von Identität als Narrativität bedingt, dass wir ständig Geschichten erzählen müssen, ändert sich auch beständig die Grundlage für Kohärenz, und damit für einen der Aspekte von Identität. Kohärenz ist damit nicht nur in historischen Dimensionen gedacht als variabel zu charakterisieren; vielmehr variiert sie ständig und muss somit immer wieder einer erneuten Überprüfung unterzogen werden. Somit kann neben Identität und Kontinuität auch Kohärenz als nie zum Ende kommender, narrativer Prozess und als Aspiration beschrieben werden. Ausgehend von den vorangegangenen Überlegungen zum prozessualen Charakter sowie zur narrativen Verfasstheit von Identität, soll nun im Folgenden in einer Detailanalyse von Romanen Peter Ackroyds, Iain Banks’ und A. S. Byatts die Verhandlung postmoderner Auflösungs- und Entgrenzungserscheinungen exemplarisch untersucht werden. Die ausgewählten Romane zeichnen sich dabei durch die Hinterfragung von internalisierten Strukturen und Vorannahmen sowie die Thematisierung der epistemologischen und ontologischen Implikationen aus und bedienen sich ähnlicher Dekonstruktionsstrategien. Insbesondere in den Romanen Ackroyds werden dabei einem als allgemeingültig konstruierten Wirklichkeitsentwurf ein oder mehrere Gegenentwürfe kontrastiv gegenübergestellt. <?page no="51"?> 4 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor There is no doubting the importance of time, temporal structures, and relations in understanding the identity conditions of different beings (events, things, processes). The temporal dimension of such beings is crucial to their being the beings they are. 157 I cannot change that Thing call’d Time, but I can alter its Posture and, as Boys do turn a looking-glass against the Sunne, so I will dazzle you all. 158 Der aus verschiedenen Modernisierungsprozessen resultierende „Strukturwandel unserer Gesellschaft“ 159 schlägt sich nicht zuletzt in einer veränderten Wahrnehmung und Darstellung von Zeit und Zeitlichkeit sowie des Verhältnisses von Gegenwart und Vergangenheit nieder. Folgt man Linda Hutcheons einflussreicher Studie, in der das Genre der historiographischen Metafiktion, „those well-known and popular novels which are both intensely self-reflexive and yet paradoxically lay claim to historical events and personages“ 160 , als in besonderem Maße den Prämissen der Postmoderne angemessen identifiziert wird, dann kommt diesem Themenbereich allein schon durch die Popularität des Genres in der englischsprachigen Literatur seit den 1980er Jahren 161 ein besonderer Stellenwert zu. Das Interesse an Narrativität und Konstruktivität, das sich sowohl in der gesteigerten Produktion von historiographischen Metafiktionen als auch in ihrer Beachtung durch die Literaturwissenschaften niederschlägt, ist dabei, zumindest in Bezug auf den britischen Raum, auch Resultat einer gegenseitigen Befruchtung literarischer Produktion und Rezeption. Susana Onega merkt dazu an, dass 157 David Wood, The Deconstruction of Time (Atlantic Highlands, NJ: 1989), 320. 158 Peter Ackroyd, Hawksmoor (London: 1993b), 11. Im Folgenden durch Seitenangaben im Text zitiert. 159 Zima (1997), 2. 160 Linda Hutcheon, A Poetics of Postmodernism: History, Theory, Fiction (New York, London: 1988), 5. 161 Susana Onega spricht von einer „explosion of historiographic metafiction in Britain“ als Teil eines weltweiten Trends. Vgl. Susana Onega, „British Historiographic Metafiction in the 1980s“, in: Theo D’haen und Hans Bertens (Hrsg.), British Postmodern Fiction (Amsterdam, Atlanta, GA: 1993), 59. Vgl. auch Nünning (1995). <?page no="52"?> 40 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor the British writers of historiographic metafiction of the 1980s combine in themselves artistic creativity with the critical awareness provided by University training in Oxford or Cambridge and [...] by their experience as literary critics or teachers. They have, therefore, a thorough, specialist knowledge of both literary tradition to which they belong and of literary theory. 162 Das kritische Potential der „Kombination von historischer Referenz mit metatextueller und metahistorischer Selbstbespiegelung“ 163 äußert sich nicht zuletzt im Aufzeigen und Hinterfragen narrativer Strukturen, also der Selektion, Bearbeitung und Reihung von Ereignissen, Handlungen und Erfahrungen, die erst in ihrer spezifischen Verknüpfung Sinn generieren. Die Reflexion auf Entstehungs- und Produktionsbedingungen und die dem Genre inhärente Verknüpfung von Geschichte und Literatur implizieren die Betonung des konstruktiven gegenüber dem rekonstruktiven Charakter aller Erzählungen, und zwar unabhängig davon, ob sie primär als literarisch oder historiographisch angesehen werden. In der Tat kommt der Untersuchung narrativer Strukturen in anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen mittlerweile ebenfalls eine - wenn auch nicht immer zentrale, so doch zumindest gesteigerte - Bedeutung zu. Insbesondere die Geschichtswissenschaften stellen die Frage nach der narrativen Vermitteltheit ihres Gegenstandes und der Trennbarkeit von ‘faktischen’ und fiktionalen Erzählungen. 164 Auch in der Philosophie, Anthropologie und Psychologie gilt die Auseinandersetzung mit narrativen Strukturen mittlerweile als unverzichtbarer Teil der Erforschung von Wirklichkeitskonstruktionen. 165 Das Genre der historiographischen Metafiktion scheint aufgrund der ihm eigenen Verknüpfung von Vergangenheits- und Gegenwartsebene in besonderem Maße geeignet, Strukturen hervorzuheben, die nach Ricoeur jeglicher narrativer Praxis im Rahmen eines hermeneutischen Zirkelprozesses eingeschrieben sind: Danach ist die Komposition einer expliziten Geschichte (mimesis-II) zwar immer eine schöpferische Leistung, die eine neue und eigenständige Perspektive auf die Wirklichkeit erzeugt, die dabei jedoch stets auch an etwas, was diesem Pro- 162 Susana Onega, Metafiction and Myth in the Novels of Peter Ackroyd (Columbia, SC: 1999), 3. 163 Ansgar Nünning (1995), 362. 164 Verknüpft sind diese Impulse insbesondere mit Hayden White, dessen radikale These von der Gleichsetzung historiographischer emplotment-Strategien mit Literarizität sowohl von geschichtswie literaturwissenschaftlicher Seite zum Teil vehement kritisiert wurde. Vgl. Hayden White, The Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism (Baltimore: 1994). Siehe auch Nünning (1995), 129-144. 165 Vgl. hierzu Ansgar Nünning, „Narrativität“, in: Nünning (2001), 464f sowie Meuter (2004), 140-145. <?page no="53"?> Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor 41 zess voraus liegt, anschließen muß. Jede Geschichte verweist auf ein Vorher. Diese Verweisung (mimesis-I) zielt auf die öffentliche Lebenswelt des Handelns - und diese ist bereits in Ansätzen narrativ organisiert. Aufgrund seiner symbolischen und zeitlichen Aspekte besitzt lebensweltliches Handeln eine pränarrative Struktur. Auf der anderen Seite findet die explizite Geschichte auch erst in ihrer Aufnahme durch einen Rezipienten ihr eigentliches Ziel (mimesis-III). 166 Die doppelte Verweisstruktur der Erzählung auf Vorgängiges und Nachfolgendes wird in der historiographischen Metafiktion im Zuge der Reflexion auf die Produktion von literarischen und historiographischen Erzählungen per definitionem zum expliziten Thema, und die „verschiedenen Grade der zeitlichen Organisation“ 167 von Narrativität werden in den Vordergrund gerückt. 4.1 Chronologie als Metathema Peter Ackroyds 1985 veröffentlichtem Roman Hawksmoor ist als historiographischer Metafiktion die Auseinandersetzung mit Chronologie und temporaler Ordnung auf zwei Ebenen inhärent, nämlich durch die Einschreibung von Zeitlichkeit in der Narrativität sowie durch die thematischen Besonderheiten des Genres. Der Roman nähert sich der Diskussion um Zeitlichkeit zusätzlich auf einer dritten Ebene, indem der Konflikt zweier Chronologiekonzeptionen, die in enger Verbindung mit einem an die Aufklärung angelehnten Rationalismus respektive einer fiktiven, durch schwarze Magie geprägten mythologischen Weltkonzeption stehen, zu einem zentralen Element des plots gemacht wird. In einander gegenübergestellten Kapiteln, die alternierend jeweils im 18. und im 20. Jahrhundert angesiedelt sind, werden im Spiel mit zeitlicher Differenz und Kontinuität Grundkategorien der Wahrnehmung von Vergangenheit, Geschichte und des Selbst hinterfragt. Die beiden Protagonisten, der Architekt Nicholas Dyer im 18. Jahrhundert und Inspektor Nicholas Hawksmoor im 20. Jahrhundert, erscheinen als eng miteinander verbundene Charaktere, die am Ende des Romans in einer Art Persönlichkeitssynthese ineinander aufgehen, und deren Namensgebung in zweierlei Hinsicht telling ist. Für Nicholas Dyer, dessen Name auf seinen sich rapide beschleunigenden körperlichen Zerfallszustand verweist, ist die magische Synthese mit seinem Alter Ego Hawksmoor der Triumph über die Fesseln des Körpers und die Überwindung des Seins-zum-Tode; ein Triumph, auf 166 Meuter (2004), 143. 167 Paul Ricoeur, „Erzählte Zeit“, in: Dietmar Köveker und Andreas Niederberger (Hrsg.), ChronoLogie: Texte zur französischen Zeitphilosophie des 20. Jahrhunderts (Darmstadt: 2000), 157. <?page no="54"?> 42 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor den er als Führer einer obskuren Sekte und erklärter Antagonist zu den Maximen der Aufklärung stetig hingearbeitet und gemordet hat. Für die ihm gegenübergestellten Rationalisten um Sir Christopher Wren im 18. Jahrhundert und die Londoner Polizei im 20. Jahrhundert ergibt sich eine andere Bewertung. So führt die zunehmende Persönlichkeitsveränderung Nicholas Hawksmoors zu seiner Suspendierung vom Dienst und wird als Abdriften in den Wahnsinn gedeutet. Der Umstand, dass der für die historischen Vorbilder der für den plot des Romans zentralen Londoner Kirchen verantwortliche Architekt wiederum den Namen Nicholas Hawksmoor trägt, 168 lässt sich dabei sowohl als deutlicher Hinweis auf die Nähe von literarischen zu historiographischen Erzählungen im Sinne Hayden Whites, als auch als postmodernist play, als postmodernes Sprachspiel lesen: Peter Ackroyd has said that when he writes a novel he is primarily interested „in the formal shape of it, [and] the way things are balanced against each other“ […], and that writing Hawksmoor, his third novel, was „a sort of linguistic exercise“ […], with the principal task to construct a complex web that connects the past and the present. 169 Die komplexe Verflechtung der zwei Zeitebenen des Romans, wie sie auf der Figurenebene von Dyer und in eingeschränktem Maße auch von Hawksmoor wahrgenommen wird, unterminiert ein lineares Chronologieverständnis. Der Verlauf von Zeit stellt sich in Hawksmoor als nichtlinear, als „of no certain course“ (16) dar; sie gleicht einem Labyrinth (vgl. 16), das zwar durchquert werden kann, aber dennoch in seiner Komplexität für das Individuum unverständlich bleibt. Und mehr noch: Im Wortspiel mit den beinahe-Homophonen course und cause wird deutlich, dass damit auch die Vorstellung einer eindeutigen Kausalität durchbrochen wird. Ebenso wie die Abfolge von Ereignissen erscheint deren Verknüpfung untereinander für den Menschen im Regelfall unvorhersehbar; eine klare Gegenvorstellung zur im Roman in der Royal Society plakativ inszenierten Aufklärung, in der das Universum als von einem „Rationall God“ (134) in Gang gesetztes und dann sich selbst überlassenes, ehernes Uhrwerk gesehen wird, das nur durch „Rationall Experiment[s]“ (140) vollständig zu begreifen ist. 168 Die Sakralbauten Nicholas Hawksmoors bilden einen wichtigen Teil von Iain Sinclairs gattungsdurchbrechendem Text Lud Heat (1975), der von Ackroyd in seinem kurzen Nachwort zu Hawksmoor als Quelle seines Interesses für die Thematik ausgewiesen wird. 169 Paul Smethurst und Julia Kuehn, Hong Kong University. „Hawksmoor“, in: The Literary Encyclopedia 22 Apr. 2005. http: / / www.litencyc.com/ php/ printer_format_works.php? UID=4868. <?page no="55"?> Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor 43 Chronologie im Sinne eines linearen Verlaufs von Zeit ist damit von grundlegender Bedeutung für eine dominant von der Aufklärung geprägt scheinenden Gesellschaft, deren intellektuelle Elite Zeit als stets gleichförmig ablaufende, objektivierte, physikalische Größe begreift. In der Konsequenz muss jedes Denken von Zeitlichkeit, das fundamental von der gesellschaftlich sanktionierten Auffassung ihres Verlaufs abweicht, als gefährlicher und krankhafter Irrglaube klassifiziert werden. Konsequenterweise sind dann auch alle Charaktere des Romans, die einen direkten Zugang zu Vergangenheit oder Zukunft zu haben scheinen und somit das Linearitätsparadigma zu durchbrechen drohen, Repressalien ausgesetzt, die bis hin zur Zwangseinweisung in die Irrenanstalt reichen. 170 Die als alleinige Zugangsmöglichkeit zu (natur)wissenschaftlichen Erkenntnissen konstruierte Zeitvorstellung der Royal Society ist dabei weitgehend deckungsgleich mit einem unkritischen, ‘vulgären’ Zeitverständnis, das den Verlauf von Zeit als eine Reihe von Jetztpunkten begreift. 171 Die zeitliche Struktur der stets konstanten Abfolge von Augenblicken ist gleichsam das Ticken des kosmischen Uhrwerks, dessen Takt die Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorgibt. Durch die Parallelisierung von naturwissenschaftlichem Diskurs und Alltagsvorstellungen wird eine lineare zeitliche ‘Rahmenvorstellung’ als Fundament aller hiervon abgeleiteten Erkenntnis gesetzt und somit eine Angriffsfläche konstruiert, die in besonderem Maße dazu geeignet ist, in der Gegenüberstellung mit einer radikalen temporalen Gegenkonzeption den paradigmatischen Anspruch dieser „Illusion der Abfolge“ 172 zu unterminieren. Bereits in der Eröffnungspassage von Hawksmoor wird deutlich, dass Nicholas Dyers Welt eine Welt mehrfach ineinander verschachtelter Konstruktionen ist. Die zwischen der Architektur, gleichzeitig das Metier seines bürgerlichen Berufs und zentrales Element seines okkulten Machtstrebens, und der Literatur, der Passion seiner Kindheit und Jugend, gezogene Parallele impliziert einen metafiktionalen Kommentar, der durch seine exponierte Stellung im Roman in seiner Bedeutung noch hervorgehoben wird; Literatur ist wie Architektur das Ergebnis eines Konstruktionsprozesses: 170 Zur Bedeutung psychiatrischer Institutionen als Schutzmechanismus und Form bürgerlicher Selbstvergewisserung vgl. Volker Roelcke, Krankheit und Kulturkritik: Psychiatrische Gesellschaftsdeutung im bürgerlichen Zeitalter 1790-1914 (Frankfurt am Main: 1999). 171 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (Tübingen: 1963), 326 sowie Ricoeur (2000), 157f. 172 Ricoeur (2000), 156. <?page no="56"?> 44 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor And so let us beginne; and, as the Fabrick takes its Shape in front of you, alwaies keep the Structure intirely in Mind as you inscribe it. First, you must measure out or cast the Area in as exact a Manner as can be, and then you must draw the Plot and make the Scale. [...] This you must distinguish from the Profile, which is signifyed by edging Stroaks and Contours without any of the solid finishing: thus a book begins with a frontispiece, then its Dedication, and then its Preface or Advertisement. (5) Der so gezogene Vergleich verdeutlicht, dass Dyers Selbstverständnis im Wesentlichen nicht auf dem Beruf des Architekten oder der Berufung des Literaturgelehrten fußt, sondern vom Bild eines universellen Konstrukteurs geprägt ist. 173 Damit werden auch der Konstruktcharakter seiner Reflexionen über die Natur der Dinge und „the true face of the Great and Dreadfull God“ (14; meine Hervorhebung) nahe gelegt, die er über das Medium der Literatur zu vermitteln sucht. 174 In der Kontrastierung mit der zweiten Handlungsebene, den Erlebnissen des Detective Chief Superintendent Nicholas Hawksmoor im späten 20. Jahrhundert, erfährt ein weiterer Aspekt der Ausführungen Dyers besondere Gewichtung: die historische Dimension. Nachdem zunächst die Aufmerksamkeit auf die Konstruiertheit von Literatur im Allgemeinen gelenkt worden ist, tritt nun der historiographische Aspekt im Besonderen in den Vordergrund. Die im 18. Jahrhundert angesiedelte Erzählung suggeriert durch ihre Ausgestaltung als ein in archaisierender Orthographie gefasstes Tagebuch oder journal, das teilweise sogar im Moment des geschilderten Geschehens zu entstehen scheint, eine unmittelbare Nähe von erzählendem und erlebendem Ich und damit vermeintliche Authentizität; eine Rekonstruktion der Vergangenheit, wie sie ‘tatsächlich’ war: 175 And as I write this Walter Pyne takes an exact Account, from my Direction, of my Historical Pillar beside Limehouse Church: you may hear his pen scratch. In Kircher, also I discover’d planns of the Pyramiddes, which gave Demonstration of how the Shaddow is thrown by the Obelisk across the Desart land, and now Walter drops Inke across his Paper. (56) Diese Suggestion wird zum einen jedoch intratextuell durch die metafiktionalen Kommentare relativiert und zum anderen formal durch die „tightly controlled symmetrical structure“ 176 der einander gegenübergestellten 173 Vgl. auch Horstkotte (2004), 144. 174 In mehreren Passagen wendet sich Dyer direkt an eine implizite Leserschaft: „The Reader may wonder how I, who make no mention of my being there, should be able to relate this as of my own Knowledge; but if he pleases to have patience, he will have intire Satisfaction in that Point.“ Ackroyd (1993b), 95. 175 Vgl. Onega (1999), 45. 176 Adriaan M. de Lange, „The Complex Architectonics of Postmodern Fiction: Hawksmoor - A Case Study,“ in: D’haen und Bertens (1993), 150. <?page no="57"?> Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor 45 Kapitel als Illusion, als Effekt von Erzählkonventionen und -techniken, deutlich herausgestellt. Die von Dyer gezeichnete Version der Geschichte ist Teil eines in höchstem Maße idiosynkratischen Erinnerungsprozesses und darf somit „nicht als die Vergegenwärtigung oder Rekonstruktion, sondern als Konstruktion von Vergangenheit, also als kreativer Vorgang verstanden werden.“ 177 Das Konzept einer konstruierten, kreativen Historiographie aber läuft einer Auffassung von Geschichte als Repräsentation zuwider, in der es zwar sehr wohl unterschiedliche Versionen in der Darstellung, aber nur eine einzige, wohl definierte Fassung der Vergangenheit geben kann und muss und alle Repräsentationsversuche letztendlich an den tatsächlichen Geschehnissen auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfbar sind. 178 Um einem solchen Postulat gerecht werden zu können, wird ein außersprachlicher archimedischer Punkt benötigt, ein absolutum, welches „stetig und völlig unabhängig von äußeren Einflüssen ist“, 179 eine fixe Relation zum Geschehenen hat, Überprüfbarkeit garantiert und somit eine Differenzierungsmöglichkeit in faktische Geschichte und fiktive Geschichten garantiert: der chronologisch-lineare und stets gleichförmige Verlauf der Zeit, 180 wie er von der Royal Society als unabänderliches Naturgesetz postuliert wird. Die Vorstellung vom Verlauf der Zeit ist also gleichsam das epistemologische Fundament, auf der die aus Beobachtung und Experiment gewonnenen Erkenntnisse der Rationalisten in Hawksmoor ruhen. Nicholas Dyers alternative Chronologiekonzeptionen stellen also eine im Wortsinne fundamentale Bedrohung dar: Hat er mit seinem Ansinnen, seine Gegenspieler durch sein Spiel mit der Zeit zu blenden 181 (vgl. 11) Erfolg, so fällt deren gesamte Wissens- und Erkenntnisstruktur in sich zusammen. Dieses zerstörerische Potential ist dabei nicht nur im Hinblick auf die Erzeugung narrativer Spannung interessant, sondern auch aus einer Metaperspektive heraus: Der Anti-Rationalist Dyer bedient sich einer aus rationalen und rationellen Gesichtspunkten höchst einleuchtenden Strategie. 177 Glomb (1997), 19. 178 Vgl. Kotte (2001), 6ff. 179 G. J. Whitrow, Die Erfindung der Zeit (Hamburg: 1991), 17. 180 Vgl. auch Kotte (2001), 10: „The writing of history ostensibly mirrored past actuality accurately and authentically since the historian was seen to assume a standpoint that was regarded as truly neutral.“ 181 Das Motiv der Blendung ist dabei insofern in zweifacher Hinsicht interessant, als zum einen auf die Bedeutung der Visualität innerhalb der abendländischen Episteme Bezug genommen wird, und zum anderen mit einer Paradoxie gespielt wird: Dyer will seine Antagonisten blenden, um ihnen die ‘wahre Natur’ der Dinge zu zeigen. <?page no="58"?> 46 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor Sein diskurskritisches bzw. -zerstörendes Vorgehen spiegelt in gewisser Hinsicht die Infragestellung tradierter Vorstellungen über den Zusammenhang von Wirklichkeit und deren Repräsentation durch den Poststrukturalismus wider. Auf historiographische Fragestellungen bezogen ließe sich sagen, dass nach dem „linguistic turn“, critics emphasize that historiography, like literature, constructs its objects, and that these objects are ultimately objects of language and do not correspond to any reality outside the text. It is not possible to establish a fixed point outside of discourse and beyond the play of the signifier that could guarantee objective reality. The traditional idea of representation according to which historiography mirrors past actuality and shows „wie es eigentlich gewesen ist“ has thus come under severe attack. 182 Der Roman stellt also der aufgeklärt-rationalistischen Position der Royal Society eine anti-aufklärerische, anti-rationalistische Position entgegen, die zugleich eine radikal konstruktivistische ist. 183 Deren Reichweite lässt sich nicht zuletzt an dem Umstand ablesen, dass in den Ausführungen und in der Person Dyers Architektur als Gestaltung der Welt und Literatur als ihre Repräsentation untrennbar miteinander verwoben sind. Lässt man sich ganz auf diese Perspektive ein, so wird jegliche objektive Repräsentation eine „impossibility, because of its ontological nullity.“ 184 In seinen metafiktionalen Reflexionen, wie der Gleichsetzung des Entstehungsprozesses eines Textes mit dem Errichten eines Gebäudes, wird der Konstruktcharakter der Perspektive Nicholas Dyers überdeutlich. Dyer ist in der Lage, seinen Blick zu lenken, mit seinem Weltbild in Konflikt Stehendes auszublenden und so einen in sich konsistenten ideologischen Rahmen zu erhalten: „And then, as I stand looking upon the River and the Fields, I Blot them out with my Hand and see only the Lines upon my Palm“ (6). Dass dies ein bewusster, gesteuerter Prozess ist, wird schnell deutlich. Dyer sieht sich nicht nur als ausführender Konstrukteur, sondern als „Tyrant of my own Land“ (10), also als denjenigen, der bestimmt, was konstruiert wird. Das Fundament für sein Ideologiegebäude ist dabei, wie auch für die im Roman konstruierte Gegenposition, das Verständnis von Chronologie. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheinen für ihn miteinander verwoben; und mehr noch: Vergangenheit nimmt den Platz von Gegenwart ein. 185 So ist sein Blick aus dem Kutschenfenster nicht einfach eine 182 Kotte (2001), 19. 183 Vgl. Horstkotte (2004), 144. 184 Allen Thiher, „Postmodern Fiction and History“, in: Theo D’haen und Hans Bertens (Hrsg.), History and Post-war Writing, Amsterdam: Rodopi (1990), 19. 185 Vgl. Horstkotte (2004), 109f. <?page no="59"?> Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor 47 Betrachtung Londons durch ein transparent window, sondern ein gelenkter Blick gleichsam durch die Brille der „Antique [...] Tin Sashes“ (10); ein Blick also, der die Stadt „into Peeces“ (10) zerfallen lässt und so eine Neuordnung zu einem für Dyer harmonischen Ganzen ermöglicht. Nur in der Betrachtung der Gegenwart als Vergangenheit kann er sich wirklich als Herrscher seiner eigenen Welt verstehen, denn „in the glass of Recollection“ kann er „every thing“ (15) deutlich erkennen. Wird er jedoch in die Gegenwart zurückgerissen, so verliert er seine Omniszienz und kann die Geschehnisse um sich herum nicht mehr deuten; so interpretiert er fälschlicherweise die Briefe seines Gehilfen Walter Pyne als Drohungen seines Kollegen Vanbrugghe. Nicht nur Wissen, sondern auch Wahrheit liegt für Nicholas Dyer in der Vergangenheit. Als er auf seiner Pilgerfahrt durch „the wastes of Time“ (48) von seinem Diener Nat abrupt in die Gegenwart zurückgeholt wird, stürzt ihn dies in eine Orientierungslosigkeit, aus der er nur über die Macht der Erinnerung zur Wahrheit zurückzufinden vermag: He put me in such Confusion that I would have dismist him with a kick in the Arse, and yet the Particles of Memory gather around me and I am my self again. And so I may return from this Digression to the Narrative of my trew History. (48f) Wirklichkeit konstituiert sich für Dyer also aus der Erinnerung und nicht aus unmittelbaren Beobachtungen: Nicht die Gegenwart, sondern Vergangenheit birgt den Zugang zu Realität. Die im herkömmlichen Zeitverständnis getrennten Zeitstufen fallen zusammen und bilden als Synthese eine ‘historische Gegenwart’, eine „presentness of the past“, 186 in der sich Dyer bewegt. Da jedoch Erinnerung keinen objektiven Zugriff auf die Vergangenheit bieten kann, sondern stets Ergebnis eines subjektiven Konstruktionsprozesses ist, 187 erweist sich Dyers Perspektive auf Chronologie ebenfalls als Konstrukt. Der Spiegel, den er für die „Art of Perspecktive“ (92) nutzt, ist ein „convex Mirror“ (92); ein Zerrspiegel also, der Wirklichkeit nicht ungebrochen darstellen kann. Die Metapher des Spiegels verdeutlicht aber nicht nur die konstruierte Natur seiner Vorstellung vom Ablauf der Zeit, sondern weist auch darauf hin, dass diese für Dyer den unbedingten Status von Realität hat. Beim Blick in den Spiegel eröffnet sich für den Betrachter ein virtueller Raum; er sieht sich selbst, wo er nicht ist, und auch nicht sein kann: Um sich hinter der Oberfläche des Spiegels erblicken zu können, muss er sich vor dieser befinden. Paradoxerweise sichert 186 Luc Herman, „The Relevance of History: Peter Sloterdijk and Peter Ackroyd“, in: D’haen und Bertens (1990), 110. 187 Vgl. Glomb (1997), 16ff. <?page no="60"?> 48 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor der Blick in den Spiegel jedoch über die Zurücklenkung des Blickes auf sich selbst zugleich die absolute Wirklichkeit des Betrachters; wenn er dort im Spiegel erscheint, muss er zwangsläufig gleichzeitig hier sein: Starting from this gaze that is, as it were, directed towards me, from the ground of this virtual space that is on the other side of the glass, I come back to myself; I begin again to direct my eyes toward myself and to reconstitute myself there where I am. The mirror [...] makes this place that I occupy at the moment when I look at myself in the glass at once absolutely real, connected with all the space that surrounds it, and absolutely unreal, since in order to be perceived it has to pass through the virtual point which is over there. 188 Ähnliches gilt auch für das andere im Roman implizierte Verständnis von Zeit, für die ‘aufgeklärte’ Chronologie: die stetige und lineare Abfolge von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Diese Vorstellung ist ebenso Konstrukt 189 wie Dyers ‘historische Gegenwart’, aber gleichzeitig konventionell und im Konsens als allgemeingültig akzeptiert, und damit nicht unmittelbar als Konstrukt zu erkennen. Erst im Umgang mit Fakten im Sinne von Ereignissen, die in der Vergangenheit liegen und somit eigentlich unveränderlich sein müssten, offenbart sich auch dieses Zeitverständnis als willkürlich und arbiträr. So weiß die Touristenführerin, dass die vermeintlich historischen facts, falls nötig, frei erfunden werden können: „if I can’t remember any, she thought, I’ll just have to invent them“ (27). Und auch der Polizeiapparat, der vermeintlich jedes Verbrechen aufklären kann, solange nur sein zeitlicher Ablauf bekannt ist, ist sich durchaus bewusst, dass die vermeintlichen Fakten kein Absolutum darstellen, sondern vielmehr in der Zeit veränderlich sind: „And these were the facts, as far as anybody understood them at this time.“ (124) Und für Nicholas Hawksmoor steht fest, that if he held a reconstruction of the crime by the church, yet more people would come forward with their own versions of time and event; the actual killing then became blurred and even inconsequential, a flat field against which others painted their own fantasies of murder and victim. (165) Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass der Konstruktionsaspekt auf mehreren Ebenen von Bedeutung ist. Beiden alternativen Konstruktionen von Zeit ist gemein, dass sie für den Rezipienten als Konstruktionen kenntlich gemacht werden: Dyers mythisch-zyklisches Zeitverständnis vor dem Hintergrund der Verbundenheit des impliziten Lesers mit dem ‘vulgären’ bzw. common sense-Modell von Zeit, welches demjenigen der Royal 188 Foucault (1986), 24. 189 Nach der Allgemeinen Relativitätstheorie gelten Raum und Zeit nicht mehr als statische, sondern als dynamische Größen. Vgl. Stephen Hawking, Die illustrierte kurze Geschichte der Zeit (Reinbek: 1997), 22-45. <?page no="61"?> Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor 49 Society entspricht, und analog eben dieses lineare Chronologieverständnis, das vor dem Hintergrund der Schilderungen Dyers und der komplexen Verflechtung der beiden Handlungsstränge ins Wanken gerät. Damit lassen sich zwei Schwerpunkte im Umgang mit Zeitlichkeit auf der Figurenebene des Romans identifizieren: zum einen die Konstrukthaftigkeit von Chronologie und zum anderen deren grundlegende Bedeutung für die Weltanschauung der Charaktere. Die Perspektive auf den Verlauf von Zeit determiniert die generelle Perspektive, und in diesem Sinne gewinnt Chronologie den Status eines grand récit, innerhalb dessen alle Geschehnisse zu einem konsistenten Ganzen geordnet werden. Die aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive betrachtete plakative Verkürzung der beiden im Roman konstruierten antagonistischen Positionen, die nur aufgebaut zu werden scheinen, um sich sofort wieder gegenseitig zum Einsturz zu bringen, enthält sicherlich ein für den postmodernen Roman typisches Element der carnivalization, d.h. „indetermancy, fragmentation, decanonization, selflessness, irony, hybridization, [...] the ‘gay relativity of things’.“ 190 Und auch die intensive, teils spielerische 191 Auseinandersetzung mit dem Thema Zeit, Zeitlichkeit und Geschichte lässt sich mit Linda Hutcheon als für den postmodernen Roman typisches Element begreifen. 192 Von einer Metaebene aus betrachtet sind darüber hinaus auch die gegenübergestellten Grundpositionen als solche ebenfalls als literarische Konstruktionen, und nicht etwa als umfassende Repräsentationen historischer Zeitvorstellungen zu werten. So werden die Auffassungen Sir Christopher Wrens und der Royal Society stets nur durch die Figurenperspektive Dyers gebrochen wiedergegeben. Ihre in weiten Teilen erfolgende Gleichsetzung mit einem einfachen, vor dem Hintergrund der Erzählung sich als unzulänglich erweisenden common sense kann dabei höchst unterschiedlich bewertet werden: als unzulässige Verkürzung, 193 als durch die Erzählperspektive bedingte Vereinfachung oder als Versuch, einen argumentativen Strohmann zu konstruieren, welcher der durch Dyer repräsentierten Alternativkonzeption wenig entgegenzusetzen hat. Und auch des- 190 Ihab Hassan, The Postmodern Turn (Columbus, OH: 1987), 171. Hassan bezieht sich auf Bachtins Konzept der Karnevalisierung, vgl. hierzu Michael M. Bachtin, Literatur und Karneval: Zur Romantheorie und Lachkultur (Frankfurt am Main: 1990). 191 Das Element des Spiels, das trotz der düsteren Atmosphäre des Romans vorhanden ist, zeigt sich beispielsweise dann, wenn Nicholas Dyer sich mit einem spielenden Jungen vergleicht, der mittels eines Spiegels andere blendet. Vgl. Ackroyd (1993b), 11. 192 Vgl. Hutcheon (1989), 5f. 193 Vgl. Herman (1990), 14: „Next to falsification there is simplification: Ackroyd only gives a very schematic presentation of the two protagonists, Dyer and Wren, who appear as the typical representatives of two incompatible ideologies.“ <?page no="62"?> 50 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor sen Weltbild erscheint in seiner Rekurrenz auf mythologische und satanistische, aber auch auf diskurskritische und poststrukturalistische Elemente als Konstrukt. 4.2 DisKontinuität Die Identitätskrise, mit der Inspektor Hawksmoor im Verlauf des Romans konfrontiert ist, erwächst aus Ereignissen, denen eine temporale Struktur zugrunde zu liegen scheint, die sich zum einen kontraintuitiv zur gewöhnlichen Zeitvorstellung verhält und die im Rahmen einer rationalistischobjektivierten Weltsicht eigentlich nicht existieren darf. Diese Struktur zeichnet sich durch die Verknüpfung zweier Elemente aus, die zunächst unvereinbar erscheinen: Kontinuität und Diskontinuität. 194 Kontinuität bedeutet in diesem Kontext, dass die lineare Kausalitätsverkettung, die alle Ereignisse miteinander verbindet, undurchbrochen bleibt; dass jedem Geschehen ein anderes unmittelbar vorausgeht, welches das darauf folgende erst ermöglicht. Kontinuität bedeutet aber auch, dass Ereignisse sich scheinbar wiederholen können. Ist die Verkettung der jeweiligen Vorbedingungen weitgehend ähnlich, so muss sich auch das Resultat nach dem cause and effect Prinzip ähneln: gleiche Ursache, gleiche Wirkung. Diesem kausalgesetzlichen Zusammenhang steht das Konzept der Diskontinuität gegenüber. Zum einen bezeichnet es hier einen zeitlichen Bruch, was im Rahmen eines kontinuierlich-linearen Chronologieparadigmas schlechterdings unmöglich ist. Zum anderen wird der Vorstellung Rechnung getragen, dass zwei Ereignisse im Kontext eines fortlaufenden Flusses der Zeit einander zwar kausalgesetzlich ähneln, aber nie formal-logisch identisch sein können. 195 Die in Hawksmoor dominante, alternative Zeitkonzeption ist charakterisiert durch die Durchbrechung und Verflechtung beider Prinzipien. Durch die symmetrische Gegenüberstellung und Verknüpfung der im 18. beziehungsweise 20. Jahrhundert angesiedelten Kapitel, in der Schlüsselworte des letzten Satzes des vorangegangenen Kapitels am Anfang des nächsten Kapitels wieder aufgegriffen werden, 196 wird dies besonders deutlich. So scheint sich Dyers Schatten am Ende von Kapitel 11 nicht nur über die Welt seiner Zeitgenossen zu erstrecken, sondern auch auf Inspektor Hawksmoor zu fallen. Damit aber entsteht in der Kausalitätskette eine sich über mehr als ein Jahrhundert erstre- 194 Vgl. de Lange (1993), 150ff sowie Horstkotte (2004), 104ff. 195 Vgl. Peter Prechtel und Franz-Peter Burkhardt (Hrsg.). Metzler Philosophie Lexikon (Stuttgart: 1999), 215, 250, 280, 301. 196 Prechtel und Burkhardt (1999), 150. <?page no="63"?> Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor 51 ckende Lücke, die paradoxerweise sowohl Kontinuität (Dyer wirft einen Schatten; dieser fällt auf Hawksmoor), als auch Diskontinuität ausdrückt (Dyer wirft diesen Schatten in einer anderen Zeit). In der Synthese entsteht eine neue temporale Logik, die beide Aspekte in sich vereint: DisKontinuität. Sie lässt die Zusammenhänge zwischen Personen und Objekten, zwischen Raum und Zeit von einem konventionellen Standpunkt aus als zugleich arbiträr und mit einer tieferen Sinnhaftigkeit erfüllt erscheinen. Die Abkehr von tradierten Vorstellungen zeitlicher Abfolge hat nicht zuletzt für das Denken von Individualität und Identität weit reichende Konsequenzen. So sind traditionellen, auf der Vorstellung eines complete oder universal self basierenden Modellen bestimmte Strukturen eingeschrieben, die eine lineare Zeitkonzeption implizit voraussetzen. Insbesondere Kern- oder Keimmodelle, die zugleich auch als Wachstumsmodelle konzipiert sind, bedingen eine lineare, unidirektionale Chronologiekonzeption, denn nur so lässt sich die stetige Entwicklung eines individuellen psychischen Systems als eine kausal mit dem Prozess der Identitätsformung verknüpfte Weiterentwicklung garantieren. Die damit einhergehende Grundannahme, dass der psychische Entwicklungsprozess analog zum physischen Wachstum strukturiert ist, 197 impliziert dabei zweierlei. Zum einen gewinnt die sich entwickelnde Innerlichkeit eine teleologische Komponente. Setzt man zudem voraus, dass „der Körper als Oberfläche [...] die Möglichkeit [bietet], eine Innerlichkeit in einer durch die Abschirmung des Körpers nicht einsehbaren Tiefendimension zu etablieren“ 198 , gestattet eben diese Verknüpfung von Oberfläche und Tiefe zum anderen in scheinbar paradoxer Weise über die körperliche Projektionsfläche Rückschlüsse auf den Wesenskern. Ein derart ausgeformtes Modell erfüllt somit zwei der zentralen Grundannahmen, die der Royal Society im Roman zugeschrieben werden. Erstens werden im Verborgenen liegende Strukturen durch Beobachtung und Deduktion dem rational denkenden Menschen zugänglich gemacht. So erschließt sich auch das Interesse Sir Christophers an der Obduktion einer jungen Frau, im Zuge derer nicht nur kriminalistische Rückschlüsse auf die Todesursache gezogen werden, sondern auch auf die moralische Integrität des Opfers. Und zweitens fügt sich dieses Bild in die Vorstellung des göttlichen Uhrmachers, der als Erschaffer des stets gleichförmigen Regeln gehorchenden Universums sowohl dessen rationale Erfassbarkeit als auch seine teleologische Ausrichtung garantiert. Ein linearer Chronologieverlauf fungiert also gleichsam als Regulativ, das alle zukünftigen und vergangenen Ausprägungen des sich entwi- 197 Vgl. Gerig (1999), 22ff. 198 Gerig (1999), 26. <?page no="64"?> 52 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor ckelnden Individuums miteinander verknüpft und damit sowohl die Forderung nach Konsistenz und Konstanz des Individuums 199 zu erfüllen vermag als auch zur Luhmannschen „systeminternen Zeit“ wird, die „interne Reaktionen auf noch gar nicht eingetroffene Umweltereignisse vorbereiten“ hilft. 200 Ein als linear gedachter Zeitverlauf erfüllt nicht nur die einem zentrierten Subjektivitätsmodell eingeschriebenen Grundprämissen in besonders effektiver Weise, er bietet auch die Möglichkeit, Veränderungen, die den Konsistenz- und Konstanzforderungen eigentlich zuwiderlaufen, über die Unterstellung einer linear-kausalen Verknüpfung zu akkommodieren. Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlich sanktionierten und in der Royal Society und der Polizei institutionalisierten Grundannahme der „enlightened Generation“ (140) erscheint jedes andere Denken von Zeitlichkeit als potentielle Bedrohung des gesamten Diskurssystems: Durch die Hinterfragung des rational-linearen Prinzips von cause and effect wird nicht nur die Erklärung der Welt „by Rationall Experiment“ (140) gefährdet, sondern implizit auch die Vorstellung eines „Rationall God“ (134) als final signifier und Garant einer rational fassbaren Weltordnung unterminiert. Eine vom dominanten Diskurssystem fundamental abweichende individuelle Zeitkonzeption und Zeiterfahrung wird damit synonym mit einer radikalen Bedrohung der Gesellschaft, die jedes Abfallen von dieser so grundlegenden Vorstellung mit Entmündigung und Entrechtung ahnden muss: Die Konfrontation mit einer vom Linearitätsparadigma abweichenden temporalen Logik bedeutet potentiell die kritische Hinterfragung der für die eigene Verortung innerhalb der geltenden symbolischen Ordnung notwendigen und als naturhaft-vorgegeben gedachten Prämissen, und damit die Zerstörung der Fähigkeit des Individuums, sich innerhalb des herrschenden Diskurses als Subjekt zu konstituieren. In die Konstruktion der Royal Society als Projektionsfläche für tradierte, einheitliche Erklärungsmodelle, die durch ebenso konstruierte Gegenkonzeptionen unterminiert werden, fließen also Zeitkonzeptionen ein, die trotz ihrer unterschiedlichen diskursiven Verankerung und Ausrichtung die stetige und gleichmäßige Abfolge von Augenblicken als grundlegendes Merkmal von Zeitlichkeit begreifen. Neben einem unkritischen, alltägliche Abläufe strukturierenden Modell, ist dies eine physikalische Konzeption, die eng an die Vorstellung einer absoluten Zeit Isaac Newtons angelehnt ist. Zeit als feststehende, unveränderliche Größe im Rahmen eines kosmischen Uhrwerks wird hier als klarer Hinweis auf die Existenz eines Schöp- 199 Vgl. Glomb (1997), 12f. 200 Niklas Luhmann, Soziale Systeme (Frankfurt am Main: 1994), 418. <?page no="65"?> Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor 53 fergottes gedeutet, dessen Schöpfung in wohlgeordneten Bahnen verläuft und der sich nur durch die zugrunde liegenden Regeln manifestiert. Wie bereits dargestellt, weicht das Weltbild Dyers deutlich von der linear-teleologischen 201 Perspektive seiner Antagonisten ab; seine Welt ist nach anderen Maßstäben geordnet. Diese fundamentalen Strukturunterschiede äußern sich deutlich in Dyers Ästhetikverständnis. Dyer ist im Gegensatz zu Sir Christopher kein „slave of Geometricall Beauty“ (7), also einer auf Proportionen und der Mathematik basierenden Ästhetik, sondern definiert Schönheit als etwas, das „most Sollemn and Awefull“ (7) ist. Alle elementaren Wahrheiten sind für Dyer notwendigerweise erhaben und ehrfurchteinflößend, und nicht durch rationale Erfassbarkeit geprägt. 202 So stellt sich auch Zeit, und die in sie eingebettete menschliche Existenz (vgl. 21), für ihn als keineswegs transparent, nachvollziehbar oder gar linear dar. Das „Labyrinth“ (16) kann zwar durchschritten werden, „the Dead can once more give Voice“ (16), bleibt aber dennoch in seiner Komplexität für den Menschen als Ganzes unverständlich: Thus was I taught by many Signes that Humane life was of no certain course: we are governed by One who like a Boy wags his Finger in the inmost part of the Spider’s web and breaks it down without a Thought. (16) Der Verlauf von Zeit, der Leben als dynamischen Prozess erst ermöglicht, wird hier in mehrfacher Weise kommentiert. Er stellt sich als nichtlinear, als „of no certain course“ (16) dar, und das Sprachspiel mit course und cause macht, wie bereits angedeutet, deutlich, dass damit auch die Vorstellung von Kausalität durchbrochen wird. In Dyers Vorstellung greifen metaphysische Kräfte in das „Spider’s Web“ (16) der Zeitstränge ein, manchmal zerstörerisch, manchmal aber auch Verbindungen enthüllend. So erweist sich der „Demoniack“ (98), den Nicholas Dyer und Sir Christopher in Bedlam besichtigen, als tatsächlich mit prophetischen Fähigkeiten ausgestattet. Er scheint nicht nur von der Existenz Hawksmoors zu wissen, sondern erkennt auch die Verknüpfung zwischen ihm und Dyer. Andere Insassen „were [...] raving of ships that may fly and silvered creatures upon the moon“ (99), fantasieren also möglicherweise von Flugzeugen und Astronauten, und machen einen weiteren Teil der Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart über die Analogie zur Differenz von Wahn und Kreativität als diskursive Überschreibungen deutlich: Was den Zeitgenossen der Insassen von Bedlam als Wahnsinn erscheint, ist aus der Perspektive des impliziten Lesers kreative Extrapolation. 201 Vgl. Horstkotte (2004), 104f. 202 Vgl. Hartung (2002), 88. <?page no="66"?> 54 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor Die scheinbar antithetischen Vorstellungen einer Unbegreifbarkeit von Zeitlichkeit auf der einen und eines vorhersehbaren Schicksals auf der anderen Seite stellen für Dyer kein tatsächliches Paradoxon dar. Vielmehr sind für ihn beide Konzepte untrennbar miteinander verbunden. So sieht er, als er mit seiner Hand den Blick auf seine Umgebung ausblendet, „only the lines on my Palm“ (6). Die Linien auf seiner Handfläche können in der Wahrsagerei zwar zu allgemeinen Aussagen über die Zukunft herangezogen werden, sind aber gleichzeitig zu komplex, um vollständig erfasst werden zu können und Tiefergehendes zu enthüllen. Dyers Ideologie ist somit eine mythische Konzeption, in der zwar „alle auf der Oberfläche wahrgenommenen Phänomene in ein Netz von Korrespondenzen, Ähnlichkeits- und Kontrastbeziehungen“ 203 eingeordnet werden, die hinter diesen Phänomenen stehenden Mächte aber nicht ergründet werden können. Mit diesem Verständnis öffnet sich aus der Perspektive des Mythos jedoch die Möglichkeit, über Rituale Einfluss zu nehmen: „Jedes Ritual schließt eine Vorstellung des Geschehens wie des bestimmten Prozesses ein, der durch den Zauber beeinflusst werden soll.“ 204 Als Empfänger der „ancient Teachings“ (21) und Eingeweihter in „the trew Musick of Time“ (21) sieht sich Dyer dazu in der Lage, und folglich verliert Zeit für ihn den Schrecken und Einfluss, den sie auf die Rationalisten hat. Während diese von ihrem Zeitverständnis immer wieder zu der Erkenntnis genötigt werden, dass Zeit „not on our side“ (112) ist, ihnen gleichsam durch die Finger zu gleiten droht und deshalb akribisch festgehalten und dokumentiert werden muss, wird für den mystisch Initiierten Zeit zu einem machtlosen Objekt, das zu ruhiger Kontemplation einlädt: There was before me a stone Pedestal on which was fix’d an old rusty Horizontal Dial, with the Gnomon broke short off, and it was with an inexpressible Peacefulnesse that I gazed upon this Instrument of Time. (13) Nicholas Dyer sieht sich also in einer „mundus tenebrosus“ (101) verhaftet, in der größere Zusammenhänge bestenfalls schemenhaft erahnt werden können. Seine Schattenwelt wird jedoch immer wieder partiell erhellt, und diese Einblicke reichen aus, um aktiv Einfluss nehmen zu können. Diese Möglichkeit der Einflussnahme macht deutlich, dass sein Verständnis von Chronologie nicht einfach ein zyklisches, dem Linearitätskonzept der Rationalisten diametral entgegengesetztes ist. 205 Zwar wird Zirkularität durch 203 Jürgen Habermas, „Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung: Bemerkungen zur Dialektik der Aufklärung nach einer erneuten Lektüre“, in: Karl Heinz Bohrer (Hrsg.), Mythos und Moderne (Frankfurt am Main: 1983), 413. 204 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente (Frankfurt am Main: 1989), 14. 205 Vgl. Horstkotte (2004), 111. <?page no="67"?> Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor 55 das immer wiederkehrende Bild des sich drehenden Rades impliziert; 206 eine immer wiederkehrende Struktur würde aber bedeuten, dass „no progress, only repetition, a perpetuation of the obscurity and openness of the ending“ 207 möglich ist. Eine simple Repetition kann jedoch als Erklärungsmodell den komplexen Verbindungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht gerecht werden, und so wird auch das Rad als Metapher für Dyers Zeitvorstellung relativiert. Das Rad kann Zeit nicht hinreichend beschreiben, und auch „wheels within wheels“ (74) verbildlicht sie nur unzureichend. Chronologie stellt sich mehr als gleichzeitig denn als zyklisch dar, 208 als ein bis ins Unendliche gefaltetes Band, so dass schließlich jeder Punkt neben jedem anderen liegt: Now, now is the Hour, every part of an hour, every Moment, which in its end does begin again and never ceases to end: a beginning continuing, always ending. (62) Damit wird dem Einzelnen qua imaginativem Perspektivenwechsel ein ungeahntes Manipulations- und Bedrohungspotential gegenüber den Vertretern eines Weltbildes zugeschrieben, in dem Zeitlichkeit, Realität und Rationalität untrennbar miteinander verwoben sind: „I cannot change that Thing call’d Time, but I can alter its Posture and, as Boys do turn a lookingglass against the Sunne, so I will dazzle you all“ (11). Mindestens ebenso bedrohlich wie die romanimmanente Fähigkeit Dyers, den Verlauf der Zeit tatsächlich zu manipulieren, erscheint dabei auf einer Metaebene die abweichende Konstruktion der grundlegenden Prämissen, auf denen das Gedankengerüst von Dyers Antagonisten ruht. Dieser Umstand ist es, der die Advokaten eines aufgeklärten Zeitbildes ängstigt und sie der Konfrontation mit dem Konstruktcharakter ihrer Chronologie aus dem Weg gehen lässt, obwohl er ihnen, wie oben gezeigt, paradoxerweise durchaus bewusst ist. In der Folge ist Nicholas Hawksmoor vom Blick in einen konvexen Spiegel - einer Metapher, die bereits die paradoxe, sowohl als aktiv konstruiert als auch naturhaft vorgegeben gedachte Struktur von Nicholas Dyers Vorstellung von Zeitlichkeit beleuchtet hat − und der Erkenntnis, dass Wirklichkeit hier nur verzerrt abgebildet werden kann, zutiefst beunruhigt: „although he tried to gaze calmly at the reflection, his calmness was broken by the sight of his face staring distended out of the frame with the world curved around it“ (119f). Weniger schwer zu erfassen ist das Modell von Zeit, das den Betrachtungen der Rationalisten um Sir Christopher und New Scotland Yard 206 Vgl. de Lange (1993), 153. 207 de Lange (1993), 146. 208 Vgl. Aleid Fokkema, „Abandoning the Postmodern? The Case of Peter Ackroyd“, in: D’haen und Bertens (1993), 175 sowie Horstkotte (2004), 110. <?page no="68"?> 56 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor zugrunde liegt. Während für Nicholas Dyer immer nur Teilbereiche seiner Schattenwelt einer erkennbaren Teleologie unterliegen und das Gesamtbild unergründlich bleibt, versinnbildlicht für sie das „Moving Picture“ (141), von einem „clockwork“ (141) angetrieben, den Verlauf von Zeit. Metaphysische Mächte spielen zwar auch in dieser Vorstellung eine wichtige Rolle, allerdings nie als willkürlich eingreifende Kräfte, sondern lediglich in Form eines deistischen „Rationall God“ (134), der die Dinge in Bewegung gesetzt hat, um sie ohne weiteres Eingreifen ihrem vorbestimmten Ende entgegenlaufen zu lassen. Damit ist dieses Universum ein vollständig teleologisches; alle Ereignisse auf der Vorderseite des bewegten Bildes werden durch das dahinter verborgene Uhrwerk bestimmt. Das zentrale Charakteristikum dieser Weltordnung ist also das Prinzip von Ursache und Wirkung, und durch „Rationall Experiment and the Observation of Cause and Effect“ (140) lassen sich die zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten vollständig aufdecken. Damit jedoch „the course of Things [...] quietly along its own true Channel of Cause and Effect“ (141) gehen kann, muss Zeit unveränderlichen, linearen Bahnen, eben ihrem „own true Channel“ folgen. Nur wenn die Reihe Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch nichts durchbrochen werden kann, ist garantiert, dass cause stets vor effect liegt, und nicht umgekehrt. Folglich muss alles, was dieses Prinzip gefährden könnte, aus dieser Weltsicht verbannt werden. So stellt der rationale Gott den Schöpfungsakt außerhalb der Zeit und versagt sich selbst weiteres Eingreifen. Alle anderen, auf älteren Glaubensvorstellungen beruhenden metaphysischen Kräfte müssen als „Bugbears [...] produced by Speculation“ (141) diskreditiert werden. Deshalb zerstört der Mythoclast Sir Christopher alle Hinweise auf die „ancient Ruine“ (55), die bei Arbeiten an den Fundamenten der St. Paul’s Cathedral freigelegt werden, denn „[t]his is our Time, said he, and we must lay its Foundacions with our own Hands“ (55). Für ihn sind alle mythischen „antient Things“ lediglich „sad and wretched Stuff“ (55), und auf ein solches, irrationales Fundament gebaut wäre sein rationales Gedankengebäude vom Einsturz bedroht. In der Tat ist die Notwendigkeit der Verdrängung von metaphysischen Einflüssen so groß, dass jegliche Form von „spiritual Raptures“ (134) abgelehnt werden muss, selbst solche, die mit dem christlichen Ethos konform gehen; für Sir Christopher ist Spiritualität „Darknesse“ (134), ein Teil der Schattenwelt, die vom Licht der Aufklärung erhellt und damit vernichtet werden muss. So kann er keine Begräbnisse auf dem Gelände seiner Kirchen erlauben: I know Sir Chris. is flat against Burialls, that he is all for Light and Easinesse and will sink into Dismay if ever Mortality or Darknesse should touch his edifices. It is not reasonable, he will say, it is not natural. (7) <?page no="69"?> Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor 57 Seine Kirchen sind Denkmäler für ein gleichförmiges, stets in geordneten Bahnen verlaufendes Universum. Damit aber wird das Potential seiner Sakralbauten, im Gegensatz zu Dyers Konzeption von Architektur als Manifestationsräume für Wunder und Offenbarungen omnipräsenter metaphysischer Instanzen, drastisch verkürzt: Sie bieten nicht nur metaphysischer Präsenz einen im Vergleich eingeschränkten Raum, liegt ihnen doch die Konzeption des nicht mehr in seine Schöpfung eingreifenden Großen Uhrmachers zugrunde, sondern weichen auch der Auseinandersetzung mit Sterblichkeit fast zwangsläufig aus. Die ontologische, epistemologische und logische Grundlage für das Verständnis des Kosmos als Großes Uhrwerk ist eine lineare Abfolge von Zeit. Diese Form der Chronologie ist eine inhärent dichotomische; Vergangenheit und Zukunft stehen sich aus der Perspektive der Gegenwart stets diametral gegenüber. Eine dichotomische Struktur ist dem rationalistischdeistischen Diskurs also fest eingeschrieben. Und für Sir Christopher wird damit eine Verbindung seiner Sakralbauten, als Symbol für Unvergänglichkeit, und Friedhöfen, als Symbol für Vergänglichkeit, undenkbar. Die in Hawksmoor konstruierte Version eines rationalen Denkens lässt sich also auf das ihm zugrunde liegende Chronologieverständnis, eine linear-dichotomische metanarrative, zurückführen. Dies impliziert zweierlei: Zum einen führt das Prinzip von cause and effect zu einem inhärent teleologischen Universum, welches bei genügender Kenntnis der Ursachen jede Wirkung vorhersehbar, und somit kontrollierbar, macht. So ist die Vorstellung Walter Paynes, Nicholas Hawksmoors Assistenten, von einem in die Zukunft blickenden Polizeicomputer keineswegs abwegig: ‘You know, you could put the whole of London in the charge of one computer and the crime would go right down. The computer would know where it was going to happen! ’‘Well, that’s news to me, Walter. And how does this computer know what to do? ’ ‘It’s got a memory bank.’ [...] ‘What kind of memory? ’ ‘The memory of everything.’ (123) Andererseits jedoch wird der Umgang mit Phänomenen, die dem Linearitätsparadigma nicht entsprechen, so gut wie unmöglich gemacht. Und dennoch besteht der Zwang, gerade auch das rationale Denken transzendierende Geschehnisse in eine mit dem Kausalitätsprinzip konforme Struktur zu bringen. Nicht zuletzt daher rührt Hawksmoors obsessive Auseinandersetzung mit Zeit in Verbindung mit den mysteriösen Mordfällen. Er meint „the seasons and the rules of death“ (117) zu kennen: stabbings and strangulations were popular in the late eighteenth century, for example, slashed throats and clubbings in the early nineteenth, poison and mutilation in the latter part of the last century. This was one of the reasons why the re- <?page no="70"?> 58 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor cent cases of strangling [...] seemed to him to be quite unusual - to be taking place at the wrong time. (117) Die Art und Weise der Ausführung, und nicht die Morde an sich, fügt sich nicht in das erwartete Schema ein, denn er wird hier, um das Bild fortzuführen, mit der richtigen „season“ (117) zur falschen Jahreszeit konfrontiert, was Inspektor Hawksmoor zu Recht beunruhigt. Denn hier zeichnet sich ab, dass ein rationales, lineares Verständnis von Zeit kein Erklärungsmuster bieten kann, „that this case transcends the laws of cause and effect [...] that intellect would fall short in this particular case.“ 209 Hawksmoor muss sein Verständnis von Realität und Rationalität hinterfragen, um sich „a grip on events“ erhalten zu können, „no matter how subjective and illusory that grip may be.“ 210 4.3 Chronologie und individuelle Subjektivität Die Durchbrechung der von Inspektor Hawksmoor als naturgesetzhaftabsolut wahrgenommenen temporalen Schemata, auf die später noch detaillierter eingegangen werden soll, unterminiert dabei jedoch nicht nur seine bisher immer erfolgreichen kriminalistischen Interpretationsstrategien. Sie äußert sich auch in zunehmendem Maße in einer radikalen Persönlichkeitsveränderung, einer „oddity of Hawksmoor’s behaviour“ mit „sudden rages and no less abrupt retreats into silence“ (168), die in direktem Verhältnis zu der immer komplexeren Verflechtung der beiden Zeitlinien steht: „And he could not escape these images, as the time passed and the disorder spread“ (198). Dieser Krise des Selbst ist sich Hawksmoor dabei durchaus bewusst. Sieht er sich zu Beginn des Falles als im wesentlichen „the same person he had always been - the character which does not age but which remains cautious and watchful“ (120), wandelt sich sein Selbstbild zusehends, bis er nur noch „the unspeakable misery of his own self“ (199) wahrnehmen kann. Zu Recht zeigt er sich von dieser Entwicklung im Gespräch mit seinem Assistenten Walter beunruhigt: „[...] it’s not the facts I’m worried about. It’s me“ (200). Mit der Zerrüttung der etablierten Interpretationsmuster sowohl seiner Umwelt als auch seines Selbst geht eine zunehmende Handlungsunfähigkeit einher, die Hawksmoor schließlich vollständig zu paralysieren droht: [...] and during the course of the afternoon he tried to look at himself as if he were a stranger, so that he might be able to predict his next step. Time passes, and he looks down at his own hands and wonders if he would recognize them if 209 Herman (1990), 117. Vgl. hierzu auch Horstkotte (2004), 98. 210 Fokkema (1993), 172. <?page no="71"?> Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor 59 they lay severed up a table. Time passes, and he listens to the sound of his own breathing, in its rise and its fall. Time passes, and he takes a coin from his pocket to observe how it has been worn down by the passage from hand to hand. When he closes his eyes at last, he finds himself slipping forwards and wakes at the moment of his fall. But he still goes on falling; and the afternoon changes to evening, and the shadows around Hawksmoor change. (202) Die Verflechtung der Konfrontation Hawksmoors mit für seine internalisierten Wahrnehmungsstrukturen nicht fassbaren Phänomenen, der Veränderung seiner Fremd- und Selbstwahrnehmung und seiner zunehmenden Handlungsunfähigkeit beleuchtet die enge Verbindung zwischen der strukturbildenden Eigenschaft der Wahrnehmung von Zeit, Identität und individueller Subjektivität. Geht man in Anlehnung an Greimas’ Aktantenmodell von Identität als „Objekt des fühlenden, denkenden, sprechenden und handelnden Subjekt-Aktanten“ 211 aus, wird deutlich, warum Hawksmoors Bemühen, die Geschehnisse unvoreingenommen und angemessen zu interpretieren, zunächst in einer massiven Krise münden muss. So fußt die Konstruktion von Identität „als der vom Einzelnen immer wieder zu bewerkstelligende, am Schnittpunkt von gesellschaftlicher Interaktion und individueller Biographie stattfindende Prozess der Konstruktion und Revision von Selbstkonzepten“ 212 in maßgeblicher Weise auf einer kreativen Konstruktion erinnerter, also vergangener, Zustände des Selbst: G.H. Mead, in dessen Identitätskonzeption sich das Reflexionsmodell des Bewußtseins als Zusammenspiel der I und me genannten „Phasen“ des Selbst wiederfindet, zieht hieraus den Schluß, daß das I als der Subjektpol immer nur indirekt, d.h. vom Objektpol her erschlossen werden kann. Hier kommt es insofern zu einer Phasenverschiebung, als das I immer nur auf eine bereits vergangene Manifestation seiner selbst im me reagieren kann [...] Der Weg des I zu sich selbst verläuft also zwangsläufig über die Erinnerung. 213 Berücksichtigt man nun die soziale Komponente des me als die Summe der wahrgenommenen Reaktionen der anderen zum I, 214 gerät die paradoxe temporale Struktur in Hawksmoor zum zweifachen Kommentar auf die grundlegende Bedeutung von Chronologie für die Konstruktion von Identität. Zum einen wird auf einer intratextuellen Ebene das Fundament des Konstruktions- und Revisionsprozesses von Identität, nämlich die Uneinholbarkeit des I durch das me, zumindest potentiell unterminiert. Zum anderen rückt hier neben dem Bemühen um Konsistenz und Konstanz 215 211 Zima (2000), 24. 212 Glomb (1997), 27. 213 Glomb (1997), 11. 214 Zima, (2000), 12. 215 Vgl. Glomb (1997), 12. <?page no="72"?> 60 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor ein dritter Aspekt in das Zentrum des Begehrens des Subjekt-Aktanten: Konformität. Weicht das I als Subjektpol trotz der ihm aufgrund seiner prozessualen Struktur inhärent eingeschriebenen Fähigkeit zur Assimilation und Akkommodation in radikaler Weise von den im me manifesten Erwartungen der sozialen Umwelt ab, wird der dialektische Prozess der Identitätskonstruktion unterbrochen: So reagiert der Londoner Polizeiapparat auf Hawksmoors zunehmendes Abweichen von sanktionierten Verhaltensmustern mit seiner Suspendierung vom Dienst (vgl. 201f) und verwehrt ihm damit den Zugang zu seinem primären sozialen Bezugsrahmen. Damit aber wird Hawksmoor die Basis für seine im Rahmen eines dynamischen Konstruktionsprozesses ständig neu zu verhandelnde Identität entzogen; der hermeneutische Akt der Selbstbespiegelung und Selbstkonstruktion gerät ins Stocken. Die Lähmungserscheinungen, die den Inspektor unmittelbar nach seiner Suspendierung befallen, resultieren also aus seiner Unfähigkeit, sich seiner Identität, dem zentralen Begehren des individuellen Subjekts, 216 zu vergewissern. 4.4 Die komplexe Verflechtung der Zeitebenen Hawksmoor betreibt die Durchbrechung und Verflechtung der Prinzipien von Kontinuität und Diskontinuität sowohl auf der formalen als auch auf der inhaltlichen Ebene. Die symmetrische Gegenüberstellung und Verknüpfung der im 18. beziehungsweise 20. Jahrhundert angesiedelten Kapitel macht dies deutlich. Vor dem Hintergrund der aus der Synthese von Kontinuität und Diskontinuität hervorgehenden temporalen Logik gewinnen die vielen Kongruenzen zwischen beiden Zeitebenen eine zusätzliche Qualität, statt lediglich Symptome eines „complete overlap between the two centuries“ 217 zu sein. Eine völlige Deckungsgleichheit würde eine reine Parallelentwicklung suggerieren; tatsächlich aber stehen 18. und 20. Jahrhundert in einer Kommunikationsbeziehung zueinander. Besonders deutlich wird dies am Tod der beiden Thomas Hills. Beim tödlichen Sturz seines Zeitgenossen ist Nicholas Dyer Zuschauer und hat den Fall kurz zuvor noch mit dem Ausruf „Go on! Go on! “ (25) herbeigesehnt. In diese Situation fühlt sich der zwei Jahrhunderte später lebende Thomas im Augenblick seines Todes hineinversetzt. Er sieht zunächst schemenhafte, singende Gestalten um sich herum und hat dann den Eindruck „he was falling from the tower as someone cried, Go on! Go on! “ (42), obwohl er sich in den labyrinthischen Gängen unter der Kirche in Spitalfields befindet. 216 Vgl. Zima (2000), 24f und 377. 217 de Lange (1993), 150. Vgl. auch Horstkotte (2004), 110f. <?page no="73"?> Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor 61 Doch diese frühe, bereits in den ersten beiden Kapiteln zu Tage tretende Verbindung ist nur ein Strang eines ganzen Netzwerkes von Beziehungen, welche die Figuren beider Epochen miteinander verbinden: Dyer wird ein Treffen mit Hawksmoor prophezeit, ihr Verhältnis zu ihren Assistenten Walter Payne/ Pyne wird zunehmend von Spannungen belastet, Gegenstände aus dem 18. Jahrhundert tauchen im Besitz von Charakteren im 20. Jahrhundert auf. Tatsächlich nimmt die Komplexität der Verflechtung beständig zu, bis nicht mehr vorhersehbar ist, welche Charaktere durch ein Objekt oder Ereignis verbunden werden. Dabei beschränkt sich die Verflechtung nicht nur auf die jeweiligen Namensvettern, sondern geht über das Motiv des Doppelgängers oder alter ego weit hinaus. Nicholas Dyer steht nicht nur zu Nicholas Hawksmoor in einer dynamischen Beziehung, sondern auch zu seinen Opfern. In einem Traum wird Dyer zu Thomas Hill und ahnt seinen Tod im 20. Jahrhundert voraus: „I dream’d my self to be lying in a small place under ground, like unto a Grave, and my body was all broken while others sung“ (45). An anderer Stelle zeigen sich Parallelen in der Biographie: Dyer reflektiert vor einer zerstörten Sonnenuhr über „past Ages and on Futurity“ (13), während Thomas ebenfalls gerne in der Nähe einer „sun-dial“ sitzt, „thinking of the past and of the future“ (38). Aber auch Sir Christopher Wren und der Bettler Ned sind über den Abgrund zweier Jahrhunderte hinweg verbunden, obwohl sie in der Konstellation der Figuren jeweils völlig unterschiedliche Positionen einnehmen: Sir Christopher hat im Schatten von Stonehenge „a Vision of my Son dead“ (61), während Ned am gleichen, mystisch überschriebenen Ort Stimmen hört, „among them his own father saying, ‘I had a vision of my son dead’“ (76). Hawksmoor zeichnet sich also durch eine temporale Struktur aus, die Kontinuität und Diskontinuität synthetisch zusammenführt, und so eine Kommunikation der Zeiten ermöglicht. „[T]he Dead call out to the living“ (24), wie Dyer anmerkt, und auch die Zukunft erhält eine Stimme. So kann Dyer das Gespräch zwischen Walter Payne und Hawksmoors Vermieterin (122) mit anhören, als sie sich räumlich zwar am gleichen Ort befinden, aber durch Jahrhunderte voneinander getrennt sind: „and there seemed to come the Voice of a Woman calling, Is it you againe? Like an eccho came the Reply, Is he not yet back? “ (131). DisKontinuität ist das prägende Phänomen: Sie lässt die Zusammenhänge zwischen Personen und Objekten, zwischen Raum und Zeit je nach Perspektive als zugleich arbiträr und mit einer tieferen Sinnhaftigkeit erfüllt erscheinen. Diese lässt sich durch eine rationale, dem Kausalitätsprinzip verpflichtete Betrachtungsweise jedoch <?page no="74"?> 62 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor nie greifen und bleibt bestenfalls erahnbar, denn „the (fictional) universe has no rational basis.“ 218 Wenn aber ein vollständiges Verständnis der Verflechtung der Zeitebenen aufgrund ihrer Komplexität sowohl auf der Figurenebene als auch auf einer Metaebene kaum zu erlangen ist, stellt sich die Frage, wie ein tatsächliches Interagieren der beiden Jahrhunderte von lediglich zufälligen Übereinstimmungen zu unterscheiden ist. Einen Ansatzpunkt hierzu bietet die nähere Betrachtung der Metaphern für Zeit in Hawksmoor. 219 Die wohl augenfälligste Verbildlichung von Zeit ist der omnipräsente Staub. Er vereinigt in sich dichotom gegenübergestellte Qualitäten wie Ewigkeit und Vergänglichkeit, Unsterblichkeit und Sterblichkeit; für Dyer entspricht er damit genau dem Wesen von Zeit. Gleichzeitig unzerstörbar und doch leicht manipulierbar wird Staub zum Sinnbild für Zeit als „Deliverance of Man“ (21), der Weg zur Unsterblichkeit durch Sterblichkeit: [...] for when the Dust is cleared away it returns again directly. [...] Is Dust immortal then, I ask’d him, so that we may see it blowing through the Centuries? But as Walter gave no answer I jested with him further to break his Melancholy humour: What is Dust, Master Pyne? And he reflected a little: It is particles of Matter, no doubt. Then we are all Dust indeed, are we not? [...] For Dust thou art and shalt to Dust return. (17) So ist die Präsenz von Staub Indikator dafür, dass das lineare Zeitgefüge durchbrochen wird: 220 Kaum hat sich die Touristenführerin zu Beginn der im 20. Jahrhundert angesiedelten Erzählung vom Staub auf ihrem Regenmantel befreit, erhascht einer der Führungsteilnehmer einen Blick auf den Tod Thomas Hills in der Vergangenheit: „She pointed vaguely at the steeple, before bending down to brush some dirt or dust off the edge of her white raincoat. ‘What was that falling there? ’, one of the group asked“ (26). An anderer Stelle versucht sich Sir Christopher nach einem Kutschenunfall durch einen Sprung in einen Fluss in Sicherheit zu bringen. Stattdessen landet er unsanft im Staub und verliert seinen „sphericall Compass“ (59). Genau dieser „old spherical compass“ (72) findet sich zwei Jahrhunderte später im Besitz von Ned, der sich ständig vom Geruch von „dust and death“ (71) umgeben sieht. Von analogen Strukturen geprägt ist im Roman Stein als Metapher. Auch er verbindet Ewigkeit - aufgrund seiner extremen Langlebigkeit im Vergleich zum Menschen: „O pigmy Man, how transient compared to Stone“ (51) - mit Vergänglichkeit, denn selbst Stein zerfällt schließlich zu Staub. Zudem ist Stein das klassische Medium von Architektur. Damit ist 218 Vgl. auch Fokkema (1993), 170. 219 Vgl. de Lange (1993), 152. 220 Vgl. Onega (1999), 47. <?page no="75"?> Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor 63 stone genau wie dust als metaphorische Umsetzung für Nicholas Dyers Zeitverständnis geradezu prädestiniert: Genau wie er als Architekt Stein für seine Konstruktionen verarbeitet, nutzt Dyer metaphorisch Zeit als Medium, um ein „Labyrinth [that] will endure 1000 yeares“ (24) zu konstruieren. The fictional characters of the two architects, Dyer and Wren, represent the two seemingly incompatible ideologies of mystical irrationality and Enlightenment rationality, respectively. These two competing ideologies are underlined in a visit to Stonehenge, where Wren describes the layout of the stones as presenting an underlying aesthetic of harmony and rational beauty, represented in pure geometrical forms, and this is in accord with his enlightened principles of architecture. Dyer counters this by considering the stones as representative of something far more sinister in human nature and history. Indeed, he claims that Stonehenge has been inspired by „the Architecture of the Devil“ (60). Dyer is not aloof and analytical like Wren, and for him, Stonehenge speaks of the past. He believes that, through a particular arrangement of stones, the druids created a means to communicate with their ancestors. The stones thus contain echoes of the past, and remnants of history present in the materiality of the rocks. 221 Gegen ein „peece of Ancient Stone“ (13) gelehnt, kann Dyer ruhig über Zukunft und Vergangenheit reflektieren. Und sogar der Rationalist Sir Christopher kann sich für einen kurzen Moment über die Zeit hinwegsetzen, als er mit den Megalithen von Stonehenge in direkten Kontakt kommt, und in einer Vision den Tod seines Sohnes vorausahnen. Gerade dort ist die Verbindung zwischen den Zeiten besonders stark; Stonehenge ist „the Banks where wild Time blows“ (62), im Gegensatz zur geordneten, ‘gezähmten’ Zeit der Rationalisten. In Dyers Betrachtung dieses magischen „sacred place“ (59) wird metaphorisch alles zu Stein, sogar der Lauf der Erde um die Sonne, also eines der elementaren Phänomene zur Messung von Zeit: I was struck by an exstatic Reverie in which all the surface of this Place seemed to me Stone, and the sky itself Stone, and I became Stone as I joined the Earth which flew like a Stone through the Firmament. (59) Stein, ebenso wie Zeit, hat für ihn metaphysische, verehrungswürdige Qualitäten. „Stones are the Image of God raised in Terrour“ (60), befindet er als Ikonolater, und folgt damit Mirabilis’ Lehrspruch „let Stone be your God and you will find God in the Stone“ (51). Anders dagegen die Bewertung von Stein durch Sir Christopher, für den Zeit zur bloßen Ware verkommen ist, von der man nie genug bekommen kann. 222 Analog ist sein Verhältnis zum Werkstoff Stein ein rein materielles, und dadurch ein im- 221 Smethurst und Kuehn (2005). 222 Vgl. Whitrow (1991), 38. <?page no="76"?> 64 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor pliziter Kommentar auf das mythoclastische Element seines rationalen Zeitverständnisses: „He pointed to some Stone saying, This is not in good condition, it is mere Ragg: do you see how the Demand has debased the Materialls? “ (52). Staub und Stein als Metaphern für Zeit vereinigen also diametral gegenübergestellte Eigenschaften in sich und weisen darauf hin, dass auch hier wieder ein dichotomisches Zeitbild durchbrochen wird. Nur auf den ersten Blick sind es statische Materialien; bei näherer Betrachtung erscheinen beide als veränderlich und formbar. Dagegen ist der dynamische Aspekt von Wind, der dritten großen Erscheinungsform bildgewordener Zeit, um vieles deutlicher zu erkennen. Findet eine Kommunikation zwischen den Zeitebenen statt, wie im Fall Thomas Hills, macht sich meist auch Wind, sei es als „Gust of Wind“ (24, 76), als „ill Wind“ (90), oder als plötzlich wahrgenommene Brise, als Verweis auf den Prozesscharakter dieser Interaktion bemerkbar. Treten dust, stone und wind gemeinsam auf, so ist dies ein Hinweis darauf, dass die Verflechtung zwischen den Zeiten besonders stark ausgeprägt ist. In Stonehenge, nach Dyers Auffassung eine Art Nexus der Zeit, ist ihre Präsenz fast überdeutlich. Aber auch an anderer Stelle tauchen die Motive gehäuft auf. Besonders in den letzten beiden Kapiteln sind sie die ständigen Wegbegleiter von Hawksmoor und Dyer und suggerieren, dass die Zeiten hier bis zur Untrennbarkeit verwoben sind. Nicholas Dyers triumphierende Bemerkung, „I have built an everlasting Order, which I may run through laughing: no one can catch me now“ (186), scheint zunächst darauf hinzuweisen, dass ihm tatsächlich eine Überwindung von Zeit gelungen ist. 4.5 Die Überwindung der Zeit Damit aber stellt sich die Frage, ob diese Selbsteinschätzung tatsächlich gerechtfertigt ist, oder ob sie nur das bloße Hirngespinst eines „murderer, a Satanist, a deranged paranoid“ 223 ist. Aus der Perspektive Sir Christopher Wrens muss die Antwort lauten, dass es sich hier nur um die Phantastereien eines kranken Verstandes handeln kann. Legt man jedoch Dyers Verständnis von Zeit zugrunde, gestaltet sich eine Beantwortung schwieriger. Der Schlüssel zur Überwindung der Zeit liegt für Dyer in der Form, und damit der räumlichen Dimension. 224 Um eine immerwährende Ordnung realisieren zu können, müssen „the Forms of our Temples [...] mysticall“ (9) sein, um so die „Eternal Powers“ (9) binden zu können, Zeit ge- 223 Fokkema (1993), 171. 224 Vgl. Horstkotte (2004), 108f sowie Hartung (2002), 74f. <?page no="77"?> Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor 65 wissermaßen zu ‘verräumlichen’. 225 Form bestimmt für ihn Inhalt, und wer in der Lage ist, in der Form den Inhalt auch wirklich zu erkennen, kann über die Manipulation des Äußeren das Innere verändern: „in each of my Churches I put a Signe so that he who sees the Fabrick may see also the Shaddowe of the Reality of which it is the Pattern or Figure“ (45). Dyer interpretiert die Untrennbarkeit von Raum und Zeit, also eine für die abendländische Zeitphilosophie grundlegende Vorstellung, zu seinen Gunsten um: Für ihn ist Zeit nicht nur an der Veränderung des Raumes ablesbar, sondern über die Gestaltung des Raumes wird Einfluss auf den Verlauf der Zeit genommen. 226 Die Anordnung seiner Kirchen im Stadtbild bildet eine „Septilateral Figure [...] and, in this Pattern, every Straight line is enrich’d with a point at Infinity and every Plane with a line at Infinity“ (186). Mit diesem mystischen Zeichen wird Ewigkeit, und damit Zeit, gleichsam gebunden und kann nun beeinflusst werden. Dies geschieht über die Integration von Toten in den pattern der Kirchen; der Körper bedeutet Verhaftetsein in der Zeit, und durch das rituelle Einfügen dieses „bond of Corrupcion“ (21) in das Muster der Ewigkeit sichert sich Dyer die Überwindung der Zeit. Durch das seinen Kirchen eingeschriebene Muster wird Dyer auch dann weiterleben „[w]hen my Name is no more than Dust“ (148), und über „the approaching Night“ (148) als Sinnbild für den Tod triumphieren. Konsequenterweise stellt dann auch er selbst das letzte Opfer dar, welches den pattern vervollständigt. Mit der Aufgabe seines Körpers in Little St. Hugh schreibt er dem Muster den letzten „bond of Corrupcion“ (21) ein und überwindet ihn zugleich. Aus seiner Perspektive hat er alle Voraussetzungen und Vorbedingungen für ein Durchschreiten der Jahrhunderte erfüllt, und das Ergebnis kann für ihn nur eine tatsächliche Überwindung der Zeit, eine Reinkarnation sein: „my own History is a Pattern which others [...] follow on the far side of Time“ (205). Tatsächlich scheint sich das Muster im 20. Jahrhundert zu wiederholen. Mit der sukzessiven Vervollständigung des pattern durch die mysteriösen Morde an den gleichen Schauplätzen wie zwei Jahrhunderte zuvor aktualisiert Dyers Darknesse ihre Macht gegenüber dem Licht der Aufklärung, dem „Rationall and mechanicall Age“ (22). Manifest wird dieser Zugriff der Vergangenheit auf die (subjektive) Gegenwart in der Person Nicholas Hawksmoors. Als Polizist ist er Mitglied einer Berufsgruppe, die Sir Christopher Wrens Rationalismus paradigmatisch illustriert; das Prinzip von Ursache und Wirkung ist Grundlage aller Ermittlungsarbeit. Mit der zunehmenden Komplettierung des pattern jedoch werden Eigenschaften an 225 Vgl. Horstkotte (2004), 111. 226 Vgl. Hartung (2002), 88. <?page no="78"?> 66 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor Hawksmoor sichtbar, die ihn immer enger mit Dyer verbunden erscheinen lassen. Zunächst äußert sich dies nur in seinem persönlichen Stil der polizeilichen Ermittlung, der eine Affinität zu Dyer erkennen lässt: „Hawksmoor liked to measure these discrete phases, which he considered as an architect might consider the plan of a building“ (113). Kaum jedoch ist der erste Mord geschehen, beginnt der Prozess der Annäherung beider Charaktere. So entwickelt Hawksmoor bei der Obduktion Thomas Hills plötzlich „a rapid tic in his left eye“ (113), und zeigt damit ein Verhalten, das deutlich an Dyers Abneigung gegenüber der Autopsie der Wasserleiche erinnert, obwohl er sich eigentlich eher der analytischen Vorgehensweise Sir Christophers verbunden fühlt: „above all rely on observation and rely on experience. Only legitimate deductions can give any direction to our enquiry“ (159). Zunehmend vertritt er diese Geisteshaltung nur noch nach außen hin. Das „police radio“ gibt für ihn, als er an einer Statue Sir Christophers vorbeifährt, nur noch „unintelligible sound“ (152) von sich, und obwohl er in scheinbarer Konformität zum Rationalitätsgedanken bemerkt, „[t]here are no ghosts“, kann er dies nur noch wenig überzeugend „with a sigh“ (158) tun. Immer deutlicher werden die Überschneidungen mit Nicholas Dyer, und es wird klar: „the pattern [...] was growing larger; and, as it expanded it seemed about to include him and his unsuccessful investigations“ (189). Hawksmoor ist sich dieser Veränderungen bewusst, die er zunächst noch als sich ausbreitende „disorder“ (198) einstuft. In dem Maße, wie Dyer und er sich immer weiter annähern, verliert er jedoch zunehmend den Glauben an facts, an einen festgefügten rationalen Bezugsrahmen, und sieht sich damit einer tiefen ontologischen Verunsicherung ausgesetzt: ‘You know about facts, do you, all these facts we don’t have? ’ Hawksmoor was very grim. ‘In your experience Walter, do any two people ever see the same thing? [...] And so it’s your job to interpret what they have seen, to interpret the facts. Am I right? [...] And so the facts don’t mean much until you have interpreted them? [...] And where does that interpretation come from? It comes from you and me. And who are we? ’ Hawksmoor raised his voice. (200) Gleichzeitig nimmt die Komplexität der Verflechtung der Zeitlinien immer weiter ab, je näher Dyer und Hawksmoor dem Ort kommen, an dem das Muster vervollständigt werden soll: Little St. Hugh. Beide haben Visionen einer seltsamen Gestalt in ihren Wohnräumen, bevor sie sich auf den Weg zu der von Dyer zuletzt erbauten Kirche machen. In Dyers Fall ist dies „such a Body as my own, but in a strange Habit cut like an Under-garment and the Creature had no wig“ (206). Die Herausstellung des „strange Habit“ (206) und die Tatsache, dass die Erscheinung im Gegensatz zu den Konventionen des 18. Jahrhunderts keine Perücke trägt, suggeriert, dass es sich hierbei um den Inspektor handelt. Auch Hawksmoor hat eine ähnliche <?page no="79"?> Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor 67 Vision eines „image of a man with his back turned towards him“ (213), und die Vermutung liegt nahe, dass es Dyer ist, den er sieht. Diese Vermutung wird durch immer detailliertere und offensichtlichere Überschneidungen erhärtet. Beide treffen kurz vor dem Betreten von Little St. Hugh einen „man in fur Cap“ (208) und „a young man in a fur cap“ (208), und reflektieren beim Anblick von Gesichtern in einer Menschenmenge über das Verhältnis von Original und Kopie: „their Faces, like mine own, descended from some unknown Original“ (208), „and as he stared down at their faces he wondered what a face was, and from what original it had sprung“ (211). Die Rufe der Marktschreier (208; 215) finden ihr Echo im jeweils anderen Jahrhundert. Und das Gedicht, das Dyer von seinem Diener Nat vorgetragen wird, wird von Hawksmoor vervollständigt: I saw a church Tower twelve yards deep I saw a Stone all in a Flame of Fire I saw a Stairway big as the Moon and higher I saw the Sunne red even at midnight, I saw the Man who saw this dreadful Sight. (207) I saw a door whiched opened on a fire I saw a pit which rose even higher I saw a child who danced round and round I saw a house which stood beneath the ground I saw a man who is not, nor ever could he be, Hold up your hand and look, for you are he. (213) Mittlerweile ist Hawksmoor so weit vom rationalen Weltbild abgekommen, so von „the knowledge of the pattern“ (214) durchdrungen, dass er fühlen kann „that the pattern was incomplete“ (214), und seiner Vervollständigung „almost joyfully“ (214) entgegensieht. Als er dann „Dyer’s ‘presence’„ schließlich „face to face“ 227 zu begegnen scheint, ist der Zeitpunkt der Vervollständigung des Musters im 20. Jahrhundert gekommen. Die Persönlichkeit Hawksmoors hört in ihrer bisherigen Form auf zu existieren, und an ihre Stelle tritt etwas, das in einer stilistischen Synthese Hawksmoor und Dyer „with one voice“ (217) sprechen lässt. Aus einer rationalen Perspektive ist diese Lesart notwendigerweise inakzeptabel. Die radikalen Veränderungen in Inspektor Hawksmoors Identität grenzen ihn aus einer aufgeklärten Gesellschaft aus, „da für funktionierende Interaktion ein gewisses Maß an Konstanz und Konsistenz notwendig ist.“ 228 Ist aber die Kommunikation gestört oder gar unmöglich 227 de Lange (1993), 159. 228 Glomb (1997), 15. <?page no="80"?> 68 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor geworden, so ist die Reaktion programmiert; der Betroffene erscheint als Psychotiker: To be normal, as opposed to schizophrenic, it is necessary to have a linear concept of time, not only because it is the basis of guilt and of moral action [...] but because the narrative of personal identity and the experience of selfhood are at stake. 229 Konsequenterweise sind dann auch alle Charaktere des Romans, die einen direkten Blick auf die Zukunft oder Vergangenheit zu haben scheinen, in staatlichen Institutionen weggesperrt. Aus der Perspektive des Lesers scheint Hawksmoors Vater seinen Sohn mit Dyer zu verwechseln und spricht ihn auf Walter Pynes anonymen Drohbrief an, von dem Dyer annimmt, sein Kollege Vanbrugghe hätte ihn verfasst: „‘Nick,’ he said, ‘Nick, is there still more to come? What happened to that letter? Did they find you out? ’ [...] ‘Walter wrote it. You know the one’“ (121). Einen Hinweis darauf, dass Hawksmoors Persönlichkeitsveränderung als Wahnvorstellung zu betrachten ist, liefert die Verbindung zu dem Besessenen in Bedlam. Um diesen vor Verletzungen zu schützen, sind „rushes“ (100) auf den Boden gestreut. Als sich nun Hawksmoor in Little St. Hugh Dyer gegenüber zu sehen scheint, wirkt das „half-light“ als „strewn across the floor like rushes“ (216f) und verweist auf das Bild des Geisteskranken. 4.6 Hawksmoor und das postmoderne Experiment In gewisser Hinsicht lässt Hawksmoor den Leser nach der Lektüre in einer zunächst unbefriedigenden Situation zurück: Thus, in accordance with the duality of myth and also in keeping with the contradictory nature of postmodernism, the novel simultaneously suggests and undermines [...]. Consequently, this is also the paradoxical situation in which the reader of Peter Ackroyd’s Hawksmoor is left. 230 Ein Teil dieser Unzufriedenheit ist aus dem Umstand zu erklären, dass auf der innerfiktionalen Ebene eine abschließende Wertung der Geschehnisse verweigert wird: Die Widersprüchlichkeit der Signale des Texts lässt sich nicht restlos auflösen; Nicholas Dyer interagiert nie eindeutig mit der Zukunft und ist nie eindeutig körperlich im zweiten Erzählstrang präsent. 231 Während zahlreiche Markierungen für die Überwindung der Zeit durch Nicholas Dyer sprechen und die Wirkmächtigkeit seiner Weltanschauung 229 Mark Currie, Postmodern Narrative Theory (London: 1998), 103. 230 Onega (1999), 58. Vgl. auch Horstkotte (2004), 116. 231 Vgl. Onega (1999), 45f und Horstkotte (2004), 98. <?page no="81"?> Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor 69 auf der Figurenebene stützen, wird er gleichzeitig, wie auch sein alter ego Hawksmoor, durch einige dieser Markierungen auch mit Wahnsinn und Geisteskrankheit assoziiert. Insbesondere das Ende des Romans entzieht sich dabei einer eindeutigen Bewertung. Eine mögliche Deutung stützt sich insbesondere auf den formalen Aufbau des Texts. So ist der letzte Absatz des Romans durch mehrere Leerzeilen vom Rest des Schlusskapitels abgesetzt und durchbricht damit die bisher akribisch eingehaltene Kapitelstruktur. Misst man diesem Umstand einige Aussagekraft bei, dann lässt er sich als implizite Affirmation einer tatsächlich stattfindenden Persönlichkeitssynthese bzw. der Projektion Dyers in Hawksmoor deuten: Die Durchbrechung der bis dahin eingehaltenen Struktur ließe sich als Metapher für die Durchbrechung der Zeit (und der Naturgesetze) deuten. Der letzte Absatz ist jedoch eindeutig Kapitel 12 zugeordnet und nicht etwa durch einen Seitenumbruch für sich alleine gestellt. Ebenso plausibel ließe sich daher argumentieren, dass die beschriebene Variation der Kapitelstruktur und Erzählperspektive als Indiz für das endgültige Abgleiten Inspektor Hawksmoors in den Wahnsinn zu deuten ist: Die offene Perspektivstruktur des Romans tritt hier deutlich hervor. Eine abschließende Bewertung wird auch insofern durch den Aufbau des Romans erschwert, als das erste der alternierenden Kapitel aus der Perspektive Dyers heraus erzählt ist und Erwartungen einer entsprechenden closure weckt: Der Rezipient des Texts erwartet, insbesondere auch durch das immer wieder thematisierte zyklische Element und die durch die unterschiedlichen Erzählmodi bedingte größere emotionale Bindung an die Figur Dyers, dass auch am Ende des Texts die Perspektive Dyers eingenommen wird. Diese Lesart, „one way to avoid being sucked into the maelstrom of confusion“, 232 bedingt jedoch die Bereitschaft, eine nichtrationale Auflösung zu akzeptieren: In this odd finale, Hawksmoor appears within the Dyer narrative as a vision that confirms, within the novel’s own logic, that Dyer’s metaphysical concept of time does endure. But if the ending is logical, does the novel not ultimately confirm causality and synchronicity? In the end, we have to wonder how a novel, essentially a linear and sequential form, can accommodate subversive ideas of non-linear time. The novel ends, and it takes a particular line of argument that appears to reach a conclusion - in this sense, it is modern causality and linearity that wins - and we might wonder how a novel that challenges this can ever „end.“ 233 232 Horstkotte (2004), 98. 233 Smethurst und Kuehn (2005). <?page no="82"?> 70 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor Wenn der Text sich einer vollständigen closure und rationalen Auflösung entzieht, dann kann dies kritisch als postmodern play gedeutet werden, das tieferer Aussagekraft entbehrt. Die durch die formale und inhaltliche Fragmentierung bedingte Unauflösbarkeit lässt sich allerdings auch anders interpretieren. Wenn sich in der Gegenüberstellung von rationaler und nicht-rationaler Weltanschauung sowie linearem und nicht-linearem Zeitverständnis die beiden im Roman konstruierten metanarratives gegenseitig relativieren und den Leser in einer „paradoxical situation“ 234 zurücklassen, dann kann gerade die Verweigerung einer eindeutigen Lösung als zentrale Metapher des Romans gelesen werden: Die Unauflösbarkeit des Endes steht dann für die jeder diskursiv eingebundenen Perspektive eingeschriebenen blind spots. Nimmt man eine der angebotenen diskursiv überformten Positionen ein, dann ist die daraus folgende Interpretation des Romanschlusses, Wahnsinn vs. Persönlichkeitswanderung, zwar klar vorgegeben; die jeweils verbleibenden, sich gegen eine harmonisierende Deutung sperrenden Elemente müssen dann aber zwangsläufig ignoriert oder als bedeutungslos gedacht werden. Zeit als Metathema durchkreuzt in Hawksmoor jedes Denken von individueller Subjektivität und Identität als statische Strukturen. 235 Ebensowenig stützt der Roman letztendlich auch ein dynamisches, am Prozessgedanken orientiertes Identitätskonzept. So wird Kontinuität als eine zentrale, wenn auch nie zu erreichende Aspiration des individuellen Subjekts durch die Anschlussfähigkeit der beiden Erzählstränge einerseits suggeriert, andererseits durch die Zeitsprünge und die Verknüpfung mit einer mystisch-gegenaufklärerischen Ideologie als Modell für lebensweltliche Praxis unmöglich gemacht. Und selbst wenn Dyer und Hawksmoor am Ende des Texts vielleicht in einer Synthese zusammenzudenken sind, so entbehrt das Resultat doch jeglicher Kohärenz und Konsistenz. Insbesondere der Aspekt der gesellschaftlichen Ächtung und des Wahnsinns, der immer wieder thematisiert wird, verweist darüber hinaus auf ein weiteres, kritisch zu hinterfragendes Element der in Hawksmoor implizit geführten Identitätsdiskussion. Die soziale Interaktion und gesellschaftliche Dimension nämlich, die als wesentlicher Bestandteil von gelungener Identitätsbildung zu betrachten ist, 236 spielt, im Fall Dyers, von Anfang an eine untergeordnete bis nicht-existente Rolle bzw. tritt, im Falle Hawksmoors, zunehmend in den Hintergrund. Wenn am Ende des Romans also eine neue Identität angeboten zu werden, zumindest aber ein 234 Onega (1999), 58. 235 Vgl. Schmid (1998), 98. 236 Vgl. u.a. Luckmann (1979), 298f, Glomb (1997), 15f, Zima (2000), 376f und Straub (2004), 288f. <?page no="83"?> Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor 71 neuer Identitätskonstruktionsprozess zu beginnen scheint, ist dies aus einer Metaperspektive heraus kritisch zu betrachten. Zu beachten ist in diesem Kontext ebenfalls, dass, anders als beispielsweise in Iain Banks’ The Wasp Factory und A. S. Byatts The Biographer’s Tale, keine einheitliche Erzählinstanz den scheinbar neu beginnenden Prozess narrativ stützt. Pessimistisch gewertet könnte Hawksmoor demnach als Sprachspiel ohne tiefergehende Aussagekraft, als karnivaleskes Ausspielen von Diskurskonstrukten gegeneinander und als Illustration eines postmodernen anything goes, das schließlich in Auflösung mündet, gedeutet werden. Trotz der postmodern-spielerischen und fantastischen Züge des Romans ist jedoch festzuhalten, dass Hawksmoor im Kontext der literarischen Postmoderne nicht notwendigerweise nur als radikales Experiment zu lesen ist: Although the contemporary British novel is clearly marked by postmodern traits […] [i]n comparison with American fiction, British novels indeed use a „lighter“ or muted form of postmodernism. […] Compared to an American novel such as Mark Z. Danielewski’s House of Leaves, Peter Ackroyd’s Hawksmoor seems positively realist. This different use of postmodern devices is quantitative, not qualitative, which means that all the elements of postmodernism listed above are used in British as well as American postmodern fiction, but less radically in the former. 237 Plausibler scheint eine Deutung als zwischen realistischem und experimentellem Erzählen 238 oszillierender, die Grenze zwischen Fakt und Fiktion kreativ ausleuchtender Text, der Sinnsysteme (re)konstruiert und gegenüberstellt: [T]here is nothing particularly new or postmodern about this notion of diachronicity as a model for the human experience of time. But it is the way in which this is presented as a challenge to the established post-enlightenment authority of linear time across science, social organisation and artistic representation that is postmodern. 239 Auch wenn nochmals betont werden muss, dass am Ende die Entgrenzungs- und Auflösungserscheinungen bestehen bleiben und keine gangbaren Alternativen angeboten werden, kann Hawksmoor als narrativ komplex gestalteter Ansatz zur kritischen Problematisierung des epistemologischen Potentials und der lebensweltlichen Konsequenzen poststrukturalistisch- 237 Horstkotte (2004), 56. Zum Vergleich der postmodernen britischen und amerikanischen Literatur siehe auch Ulrich Broich, „Muted Postmodernism: The Contemporary British Short Story“, in: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 41 (1993), 30-39, Annegret Maack und Rüdiger Imhof (Hrsg.), Radikalität und Mäßigung: Der englische Roman seit 1960 (Darmstadt: 1993) sowie Zerweck (2001). 238 Vgl. hierzu Zerweck (2004), 103ff. 239 Smethurst und Kuehn (2005). <?page no="84"?> 72 Chronologie als Konstrukt in Peter Ackroyds Hawksmoor dekonstruktivistischer Prämissen, als ein beginnendes ‘Reflexivwerden der Postmoderne’ gelesen werden. So gedeutet gewinnt Nicholas Dyers Kommentar gegen Ende des ersten Teils des Romans Aussagekraft nicht nur in Bezug auf die ihm verhasste Royal Society und, ohne dass ihm dies bewusst ist, auf den ihn prägenden gegenaufklärerischen Diskurs, sondern auch im Hinblick auf poststrukturalistische Theoriegebäude: 240 They build Edifices which they call Systems by laying their Foundacions in the Air and, when they think they are come to sollid Ground, the Building disappears and the Architects tumble down from the Clowds. Men that are fixed upon matter, experiment, secondary causes and the like have forgot there is such a thing in the World which they cannot see nor touch nor measure: it is the Praecipice into which they will surely fall. (101; Hervorhebungen im Original) Der Fragestellung, ob nun Hawksmoor und die Identitätsauflösung der beiden Protagonisten als gleichsam notwendiger, explorativer erster Schritt hin zur kritischen Reflexion und weg von der sich auftuenden postmodernen „Praecipice“ (101) darstellt, soll im weiteren Verlauf nun mit der Betrachtung von Ackroyds Chatterton weiter nachgegangen werden. 240 Smethurst und Kuehn (2005). <?page no="85"?> 5 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton The past really did exist, but we can only know it today through its textual traces, its often complex and indirect representations in the present. 241 If there were no truths, everything was true. 242 Der Themenkomplex um Zeit, ihre Wahrnehmung und ihren Verlauf fungiert in Hawksmoor als Leitmotiv; eine analoge leitmotivische Funktion kommt in Peter Ackroyds zwei Jahre nach Hawksmoor veröffentlichtem Roman Chatterton der Frage nach Authentizität zu. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht dabei nicht nur die Frage nach dem Verhältnis von Original und Kopie, von Original und Imitation und von Realität und Repräsentation, sondern auch zum Verhältnis von Authentizität und Identität und von Oberfläche und Tiefe. Eine der wichtigsten Strategien des Textes ist dabei die schon aus Hawksmoor bekannte Verflechtung unterschiedlicher Zeitebenen und die Verknüpfung fiktiver mit fiktionalisierten historischen Figuren; in diesem Fall des Dichters Thomas Chatterton, der nach seinem Freitod im Alter von nur 17 Jahren in der Romantik als emblematische Verkörperung des Geniegedankens gefeiert wurde, des viktorianischen Dichters und Romanautors George Meredith und seines Zeitgenossen, des Malers und Sammlers Henry Wallis. 243 Die Protagonisten der drei im 18., 19. und 20. Jahrhundert angesiedelten Handlungsstränge des Romans, Chatterton, Meredith und der erfolglose junge Poet Charles Wychwood, setzen sich intensiv mit der Frage nach der Fähigkeit von Kunst und Literatur zur mimesis auseinander. Mit der zunehmend komplexer werdenden Verflechtung von Authentizität und Inauthentizität in den von ihnen betrachteten Werken, müssen sie sich immer häufiger die Frage stellen „And what do you see? The real? The 241 Hutcheon (1989), 78. 242 Peter Ackroyd, Chatterton, (London: 1993a), 127. Im Folgenden durch Seitenangaben im Text zitiert. 243 Vgl. Hartung (2002), 65f sowie Ansgar Nünning, „An Intertextual Quest for Thomas Chatterton: The Deconstruction of the Romantic Cult of originality and the Paradoxes of Life-Writing in Peter Ackroyd’s Fictional Metabiography Chatterton“, 29f, in: Martin Middeke und Werner Huber, Biofiction: The Rewriting of Romantic Lives in Contemporary Fiction and Drama (Rochester, NY: 1999), 27-49. <?page no="86"?> 74 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton ideal? How do you know the difference? “ (133). Die Erkenntnis des Porträtisten Henry Wallis, „[n]othing is pure [...], everything is stained“ (164), steht stellvertretend für die Einsicht der drei Dichter, dass die Unterscheidung in authentisch und inauthentisch in der Kunst eine arbiträre ist: Kunst ist immer beides. Das dem Maler George Stead zugeschriebene Portrait of an Unknown Man (43), von dessen Authentizität Charles überzeugt ist, wird für ihn so zwangsläufig zur Basis einer Revision der gängigen Lyrikgeschichte: „our whole understanding of eighteenth century poetry will have to be revised“ (127). Allerdings ist der Status des Porträts keineswegs so eindeutig zu bestimmen, wie Charles zunächst annimmt. Charles’ Sohn Edward meint, das Gemälde schon nach einem oberflächlichen Blick als „fake“ (14) zu durchschauen, und nach eingehenderer Betrachtung stellt der Maler und Fälscher Stewart Merk fest, „that the painting contained the residue of several different images, painted at various times“ (205). Im Gespräch zwischen Charles’ Freund Philip und einem Nachfahren von Chattertons fiktionalem Verleger, Samuel Joynson, 244 stellt sich schließlich heraus, dass dessen Sohn das Porträt gefälscht hat (vgl. 222). Diese vermeintlich eindeutige Feststellung stellt sich jedoch als überaus fragwürdig heraus. Die Basis für Charles’ und Philips Annahme, bei dem Porträt handle es sich um die Darstellung Thomas Chattertons im mittleren Alter, ist die Ähnlichkeit zu Wallis’ Gemälde Chatterton, für das George Meredith Model gesessen hatte. Dieser ist dadurch untrennbar mit Chatterton verbunden: Auf Merediths Frage „is it Meredith or is it Chatterton“ ist Wallis’ Antwort „[t]here will come a time when even you will not know the difference“ (161). Die Vorstellung, dass Chattertons Tod nur vorgetäuscht gewesen sein könnte, erwächst also aus der Ähnlichkeit des „Unknown Man“ (43) zu einem gealterten Meredith, und nicht zu Chatterton. Genau diese Ähnlichkeit stellen aber schon der junge Meredith selbst und seine Ehefrau Mary fest, als sie auf einem Flohmarkt mit dem Porträt konfrontiert werden: ‘This face looks familiar, Mrs Meredith,’ he said. ‘Is it a poet, I wonder? ’ with trembling hands he held it up against the light which streamed from the open doorway, and for a moment Mary saw Meredith’s own face depicted there - 244 Die Namensgebung von Chattertons Verleger stellt einen in mehrfacher Hinsicht höchst interessanten Verweis dar. Im Zusammenspiel mit Samuel Johnson, dessen Dictionary of the English Language einen Meilenstein der Lexikographie der englischen Sprache darstellt, wird zugleich auf die historische Gewachsenheit von Sprache als auch auf den kreativen und (postmodern) spielerischen Umgang mit ihr verwiesen (join bzw. joy). Darüber hinaus wird Johnson die Aufdeckung des Ossian- Gedichtzyklus, einer angeblichen Übersetzung einer mittelalterlichen Vorlage, als originäres Werk Mcphersons zugeschrieben. <?page no="87"?> Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 75 lined and furrowed, in a desolate middle age. ‘What do you think, Mrs Meredith, is he the original or merely a model? [...] I suppose only the painter will know.’ (173) Die Klassifizierung des Porträts ist also keineswegs so unproblematisch, wie es der Instinkt von Charles und Edward, das Fachwissen von Stewart Merk und das Bekenntnis von Joynson suggerieren. Die geschichtete, palimpsestartige Struktur 245 des Bildes verdeutlicht, dass etwas scheinbar Authentisches auf Inauthentischem basieren kann, dass eine eindeutige Klassifizierung nicht immer möglich ist, dass das Authentizitätskonzept hinterfragt werden muss. Illustriert wird diese Infragestellung auch durch den Umstand, dass Charles das Porträt im Tausch gegen The Lost Art of Eighteenth Century Flute-Playing von James Macpherson erwirbt, einen fiktiven Text des historischen schottischen Dichters des 18. Jahrhunderts: Ohne sich dessen bewusst zu sein, bringt Charles eine Fälschung, die er für echt hält, in seinen Besitz, indem er sich von den Werken eines Fälschers trennt, dessen Nachahmungen eine Zeitlang als Originale galten. 246 Am Beispiel der Authentizitätsbewertungen des Porträts greift Chatterton die Vorstellung auf, dass auch vermeintlich absolute Kriterien wie ‘Originalität’, ‘Wahrhaftigkeit’ und ‘Wirklichkeit’ stets nur aus einer kontextabhängigen Perspektive 247 heraus beurteilt werden können und somit einer (historischen) Variabilität unterliegen. 248 Den Aspekt der Variabilität greift der Roman aber nicht nur insofern auf, als sich unterschiedliche Authentizitätsbewertungen fiktiver und fiktionalisierter Kunstwerke gegenseitig kommentieren und relativieren, sondern auch durch die implizite Thematisierung der historischen Wandlung des Authentizitätsbegriffes selbst. 245 Zum Palimpsestbegriff vgl. Meinhard Winkgens, „Palimpsest“, in: Nünning (2001), 488. 246 Ansgar Nünning, „‘Die Kopie ist das Original der Wirklichkeit’. Struktur, Intertextualität und Metafiktion als Mittel poetologischer Selbstreflektion in Peter Ackroyds Chatterton“, in: Orbis Litterarum 49 (1994a), 37. 247 Vgl. hierzu Jan Berg zum Thema literarischer Authentizitätsgenerierung: „Authentizität, das ist mit alledem implizit schon gesagt, ist ein Effekt, den der Rezipient mitgenerieren muß. Das gilt [...] ganz allgemein für das Verhältnis von literarischem Text und Leser [...], doch die Möglichkeit des Gelingens authentifizierender Darstellungen ist besonders eng daran geknüpft, dass der Leser die Sicherheit hat oder sich einreden können muß [...] einer naiven Selbstschilderung zu folgen - den ‘Dingen selbst’ ihre Bedeutung abzulesen.“ Jan Berg, „Formen szenischer Authentizität“, 161, in: Jan Berg et al. (Hrsg.), Authentizität als Darstellung (Hildesheim: 1997), 155-174 248 Vgl. Kotte (2001), 15ff. <?page no="88"?> 76 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton So verweist das Porträt des Unbekannten Mannes, neben anderen Gemälden, (fiktiven) literarischen Texten und Dokumenten, auf den Bezug zu materiellen Objekten: 249 Der Begriff „authentisch“ ist etymologisch nicht eindeutig bestimmbar. Umstritten ist bereits der griechische Ursprung „autós“, also „selbst, eigen“. Der Duden übersetzt „authentisch“ mit „glaubwürdig“, „zuverlässig“, „verbürgt“, „echt“ und verweist auf seinen spätlateinischen Ursprung, der angeblich in der Kanzleisprache des 16. Jahrhunderts liege. Demzufolge verweist authenticus auf „zuverlässig verbürgt“, „urschriftlich“, „eigenhändig (von Schriften)“, aber auch auf das griechische Wort „auth-éntes“, das „Urheber“ oder „Ausführer“ bedeutet. [...] Ursprünglich hatte „authentisch“ mit Urheberschaft, Selbsthandanlegen und Selbstverantwortung zu tun. [...] Grundtypen authentischer Äußerung zeigen sich in verschiedenen Dokumentformen wie Manuskripten, Schuldscheinen, Testamenten, Verträgen und Briefen. 250 Die materielle Dimension, die, wie später noch zu zeigen sein wird, durch die letztendliche Auflösung und den Zerfall des Porträts noch betont wird, stellt dabei eine Ausprägung des Authentizitätsbegriffs dar, die bis ins 19. Jahrhundert hinein gültig ist; erst später wird der Begriff um den Bezug auf Menschen, menschliches Verhalten und Identität erweitert. 251 Während sich der erste, materielle Aspekt also auf die Frage nach der Originalität im Sinne von Ursprünglichkeit bezieht, zielt die Frage nach Authentizität im Bezug auf menschliches Verhalten auf die Differenz bzw. die Übereinstimmung von Innen und Außen ab: To be sincere means that one’s outward demeanor or action corresponds to one’s inner feeling or intention. […] To display or demonstrate our feelings to others implies that we are overly conscious of the opinion of others; and this is inauthentic. […] When we act according to society’s opinion, we play roles and wear masks, we develop an inauthentic split between inner and outer, and we subject ourselves to the commonplace, which is, as Sartre says, ‘the presence of everybody in me’. 252 Das im Roman inszenierte Verwirrspiel um Echtheit und Authentizität, um „what is real and what is unreal“ (35), lässt sich als „comment on the false value that the world attaches to originality and authenticity“ 253 für den 249 Vgl. Susanne Bach, Theatralität und Authentizität zwischen Viktorianismus und Moderne (Tübingen: 2006), 12ff. 250 Vera Dreyer, „Selbstdarstellung und Authentizität im Spiegel medienwissenschaftlicher Konstruktionen am Beispiel Marshall McLuhans“, 10.01.2006, <http: / / opus.kobv.de/ udk/ volltexte/ 2006/ 23/ >, 183. 251 Vgl. Bach (2006), 16 sowie Dryer (2006), 186f. 252 Trilling zit. in Bach (2006), 69. 253 Vgl. Brian Finney, „Peter Ackroyd, Postmodernist Play and Chatterton“, in: Twentieth Century Literature 38: 2 (1992), 255f. <?page no="89"?> Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 77 Prozess der Wirklichkeitskonstruktion deuten: Ein Versteifen auf vermeintlich Authentisches macht Realität zur „invention of unimaginative people“ (39), die kein letztgültiges Erkenntnispotential mehr in sich birgt. Mit der Hinterfragung des Authentizitätskriteriums als Basis für die Konstruktion von Wirklichkeit und als epistemologisches Kardinalskriterium kommentiert Chatterton aber auch den Anspruch einer ‘essentialisierendauthentischen’ Identität an das Individuum. 254 Die Forderung nach einer konstanten, konsistenten Identität erscheint in demjenigen Maße zunehmend uneinholbar, wie das individuelle Subjekt als Mischung aus diskursiver Produktion und Selbstinszenierung gesehen wird. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, wie in Chatterton das Authentizitätskonzept thematisiert, in Frage gestellt und schließlich durchbrochen wird, und wie es dem Roman gelingt, durch die Verquickung von Literatur, Historiographie und bildender Kunst auch das Konzept eines sich aus einem Identitätskern entwickelnden individuellen Subjekts einer poststrukturalistisch-dekonstruktivistischen Konzeption gegenüberzustellen: An die Stelle eines ontologischen Authentizitätsbegriffs tritt die Vorstellung einer funktionalen, teleologischen Authentizität. 5.1 Strategien der Wirklichkeitssicherung Wenn Realität immer nur als Ergebnis einer Konstruktion, also eines kreativen Vorgangs, zugänglich ist, dann ist es von elementarer Bedeutung, welche Komponenten in diesen Prozess mit einbezogen werden, und welche nicht. Soll das Ergebnis des Konstruktionsprozesses dem Anspruch der Authentizität, des Übereinstimmens von Sein und Schein, genügen, dann ist es zwingend notwendig, nur solche Quellen einfließen zu lassen, die sich selbst als authentisch identifizieren lassen. Die Konstruktion der Wirklichkeit und das Fundament, auf dem sie ruht, müssen also mit Markierungen versehen sein, die eine Trennung in Fakt oder Fiktion ermöglichen, um nicht das gesamte Gebäude der Realität zum Einsturz zu bringen. 255 Chatterton kommentiert diesen Umstand durch die Voranstellung einer Textpassage über das Leben Thomas Chattertons vor den übrigen Text des Romans. Die Textsorte dieser Passage lässt sich anhand narrativer Markierungen wie Stil, Kontinuität und Kausalität als Lexikoneintrag identifizieren. Die Angabe von Name und Geburtssowie Sterbedatum lassen das Thema der Abhandlung als wohldefiniert, klar kategorisierbar und unmissverständlich erscheinen: „Thomas Chatterton (1752-1770)“ (1) ist der 254 Vgl. Bach (2006), 19 und 67ff. 255 Vgl. Kotte (2002), 8. <?page no="90"?> 78 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton Gegenstand der Betrachtung, und nicht Chatterton der Fälscher oder Chatterton der Poet. Die Fixierung auf Daten, Zahlen und Ziffern suggeriert, dass hier nur Messbares, Faktisches von Interesse ist; ein Deutungsspielraum ist in dieser Darstellung nicht gegeben. Der Rest des vermeintlichen Lexikoneintrages füllt den durch Chattertons Lebensdaten vorgegebenen Rahmen mit weiteren Stationen seines Lebens in chronologischer Reihenfolge: „He was seven years old [...] at the age of fifteen or sixteen [...] at the age of seventeen [...] May 1770 [...] 24 August 1770“ (1). Chattertons Leben wird also als kontinuierliche Aneinanderreihung von Ereignissen dargestellt; etwaige Brüche, wie der Umzug von Bristol nach London, werden durch die Einbettung in eine chronologische Abfolge geglättet. Neben dem Aspekt der Kontinuität suggeriert auch die eindeutige kausale Verknüpfung der einzelnen Stationen Faktizität: „certain scraps of manuscript“ wecken die „imagination“ des jungen Chatterton, und bedingen seine „love [...] with antiquity and with the past of Bristol itself“, was wiederum zur Entstehung der „‘Rowley’ sequence: [...] a unique conflation of his reading and his own invention“ (1) führt. Die klare Benennung von Namen, Daten und Orten sowie eine strikte chronologische Ordnung und das Prinzip von cause and effect lassen die knappe Darstellung von Thomas Chattertons Leben als nachvollziehbar, objektiv, faktisch, kurzum als authentisch erscheinen. Damit ist sie in idealtypischer Weise dazu geeignet, für den Prozess einer Wirklichkeitskonstruktion herangezogen zu werden: Ein ‘authentisches’ Fundament garantiert eine ‘authentische’ Wirklichkeit. 256 In der Tat geht der im 18. Jahrhundert angesiedelte Erzählstrang um Thomas Chatterton mit dem vermeintlichen Lexikoneintrag konform. Vor diesem Hintergrund betrachtet handelt es sich bei der Erzählung lediglich um eine narrative Umsetzung und Ausgestaltung auf der Basis eines authentischen Dokuments; ergo ist auch diese Darstellung von Chattertons Leben authentisch. Verstärkt wird dieser Eindruck durch ähnliche textuelle Authentifizierungsstrategien, die über die Nennung von überprüfbaren Daten und klare Bezeichnungen Objektivität vermitteln: „This was Dodd’s Gardens, London W14 8QT“ (7). Bei näherer Betrachtung wird jedoch schnell klar, dass diese Vorstellung eine Täuschung ist. Durch die Positionierung des Lexikoneintrags vor den übrigen Romankorpus wird sie zur Grundlage der Narration, und die „Kopie“ wird das „Original der Wirklichkeit“: 257 Die Kopie von Chattertons Leben, nämlich die abstrahierte und verkürzte Darstellung in einem Lexikon, authentifiziert die narrative Umsetzung, die Chattertons wirkli- 256 Vgl. Kotte (2001), 8. 257 Nünning (1994), 27. <?page no="91"?> Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 79 ches, authentisches Leben zu zeigen scheint. Insofern bietet Chatterton die gleiche „authentick evidence“ (86) für die Geschehnisse im 18. Jahrhundert wie die Rowley-Sequenz für die des Mittelalters. Die Tatsache, dass eine Vorstellung von Realität nicht auf das Original, sondern auf die Kopie zurückgreift, ist dabei nicht nur eine Ausnahme, sondern vielmehr symptomatisch für die Thematisierung von Wirklichkeitskonstruktion im Roman, wie das Gespräch Charles Wychwoods mit seinem Freund Philip Slack deutlich macht: ‘There has to be a copy,’ he said to Philip in the course of these gyrations. ‘How could you know that it was real without a copy? Everything is copied [...] all the other documents are copied, too.’ (93) Damit aber wird das Konzept der Wirklichkeitssicherung durch authentische Quellen problematisiert, denn wenn „die Kopie zum Maßstab des Wirklichkeitsbeweises wird, dann werden Nachbildung und Original ununterscheidbar“, 258 und somit die Grundlagen des Authentizitätsgedankes in Frage gestellt. Hiermit erklärt sich auch, warum Vivien Wychwood nach der Enthüllung des Portrait of an Unknown Man (43) als Fälschung erstaunt fragt „[h]ow could we have it for so long and not realise? “ (212). Das Porträt ist für Charles und Philip in Verbindung mit der ebenfalls gefälschten Autobiographie Chattertons zur Grundlage ihrer Wirklichkeitskonstruktion geworden, und wird daher von ihnen fast zwingenderweise als authentisch und „stupendously real“ (93) betrachtet. Einen ähnlichen Beitrag zur Authentizitätssicherung wie der fiktive Lexikoneintrag erfüllen die vier unmittelbar folgenden Fragmente, die ebenfalls dem ersten Teil des Romans vorangestellt sind. Die Fragmente Zwei bis Vier lassen sich als scheinbar nur leicht veränderte Passagen aus den Kapiteln Neun, Zwei und Drei identifizieren. 259 Das erste Fragment zeigt Chatterton als „poor boy“ (2) vor St. Mary Redcliffe in Bristol; eine Begebenheit, die im Roman nicht wieder aufgegriffen wird. Die Fragmente sind chronologisch geordnet und decken alle drei Handlungsstränge des Romans ab: „Chatterton“ (2) im 18. Jahrhundert, „Meredith“ (2) im 19. Jahrhundert sowie „Harriet Scrope“ (3) und „Charles Wychwood“ (3) im 20. Jahrhundert. Die hier noch klare Trennung und Ordnung der Zeitebenen, die einander im folgenden Teil durchdringen, erweckt den Eindruck, dass ihre Zusammenstellung in dieser Form die authentische oder aber zumindest die authentischere ist. Ihre Anordnung hält sich an den ‘natürlichen’ Fluss der Zeit und scheint so eher geeignet zu sein Realität abzubilden, als das „cyclical space-time continuum“ des übri- 258 Nünning (1994), 38. 259 Vgl. Onega (1999), 59f sowie Hartung (2000), 68. <?page no="92"?> 80 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton gen Romans, „that [...] simultaneously moves both forward and backward.“ 260 Allein durch ihre Anordnung und Platzierung gewinnen die Fragmente in Bezug auf den übrigen Roman einen Status, der analog zum Verhältnis von historischen Quellen und rekonstruierter Geschichte ist. Sie sind das ‘Original’, die Vorlage des übrigen Textes, also der ‘Kopie’ und Rekonstruktion der in den Fragmenten zugänglich gemachten Vergangenheit: „the excerpts prefigure the historical strata“ und Figuren „that interact in the novel.“ 261 Sie erscheinen als die Sinnbausteine, die, in Kombination mit der nicht-fiktionalen Textsorte des Lexikoneintrags, die Authentizität des Romans als Rekonstruktion von Geschichte garantieren. Fragment und Roman, Original und Kopie, sind auf paradoxe Weise und untrennbar miteinander verbunden; beide sind Elemente eines zirkulären Prozesses. „There has to be a copy“ (93) wird zur Ermöglichungsbedingung für die Existenz des Authentischen, des „[i]ncredibly real“ (93): Erst die Kopie authentifiziert das Original, welches wiederum die Authentifizierung der Kopie ermöglicht. Paradoxerweise wird hier die Kopie, und nicht das Original, zur Instanz, welche die authentische Rekonstruktion von Realität zu garantieren scheint. 262 Die dichotome Kategorisierung in Authentisches und Inauthentisches, die der Vorstellung von Realität als dem Echten, dem Original, zugrunde liegt, wird in Chatterton also formal bereits durch die Voranstellung der Fragmente subversiv thematisiert. Auch bei eingehender inhaltlicher Betrachtung der Fragmente sowie der korrespondierenden Textpassagen im weiteren Romanverlauf wird deutlich, dass der Authentizitätsgedanke als unhintergehbares Instrument der Wirklichkeitssicherung mit äußerster Skepsis zu betrachten ist. Die Fragmente sind keineswegs lediglich „slightly edited versions of episodes that appear later in the novel“, 263 sondern stehen vielmehr in scharfem Kontrast zu den später geschilderten Begebenheiten. Fragment Drei, das ein Gespräch zwischen Harriet Scrope und ihrer Freundin Sarah Tilt zum Inhalt hat, weicht zwar nur im letzten Satz deutlich von der entsprechenden Passage in Kapitel Zwei ab; dies aber mit weit reichenden Konsequenzen. 260 Onega (1999), 60. 261 Onega (1999), 60. 262 In diesem Sinne handelt es sich um „the generation by models of a real without origin or reality: a hyperreal.“ Vgl. Jean Baudrillard, Simulacra and Simulation (Ann Arbor, MI: 1994), 1. 263 Onega (1999), 59. <?page no="93"?> Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 81 ‘Of course I know it’s a quotation. I’ve given my life to English literature.’ Sarah was still very cool. ‘It’s a pity, then, that you didn’t get anything in return.’ And they both laughed. (3) ‘Of course I knew it was a quotation,’ she added. ‘I’ve given my life to English literature.’ Sarah was still very cool. ‘It’s a pity, then, that you didn’t get anything in return.’ Harriet tried, but failed to look ‘hurt’. ‘I am supposed to be famous, at least.’ (35) Nachdem Harriet Scrope auf ein fehlerhaftes Zitat aufmerksam gemacht worden ist und darauf wiederum mit einem fehlerhaften Zitat aus Wordsworths „Resolution and Independence“ geantwortet hat, 264 wird die potentiell peinliche Situation im Fragment durch das gemeinsame Lachen entspannt; Sarah Tilts eigentlich beleidigende Bemerkung gewinnt den Charakter eines Scherzes unter guten Freunden. Eine ganz andere Qualität gewinnt die gleiche Situation jedoch in Kapitel Zwei. Hier kontert die als Romanautorin erfolgreiche Harriet mit dem Verweis, dass sie doch wenigstens berühmt sei; Sarah hingegen, die „for the last six years“ an einem Projekt gearbeitet hat und „still seemed no nearer to completing it“ (33), ist alles andere als berühmt. Eine Tatsache, die Harriet schamlos ausnutzt, um sich für ihre Bloßstellung zu rächen: Fortan stellt sie Sarah ihren Bekannten nur noch als „the famous art critic“ (115) vor. Auch Fragment Vier scheint zunächst weitestgehend konform mit der Umsetzung in Kapitel Drei. Dort erwacht Charles Wychwood, nachdem er im Park von einer heftigen Kopfschmerzattacke übermannt worden war, und bemerkt that the leaves had been swept away, and a young man was standing beside him. He had red hair, brushed back. He was gazing intently at Charles, and he placed his hand upon his arm as if he were restraining him. One said, ‘And so you are sick? ’ The other replied, ‘I know that I am.’ He was about to rise. ‘Not now. Not now. I will come to see you again. Not now.’ Charles was uncertain what to say, and when he looked up again the young man was no longer there. (47) Wie sich unmittelbar darauf herausstellt, ist nicht ganz klar, ob der „young man“ (47), mit dem er sich unterhält, „real or unreal“ (47) ist, denn ein Parkwächter ermahnt Charles „[y]ou shouldn’t be talking to yourself“ (47). Ist der junge Mann aber lediglich ein Symptom von Charles’ „illness“ (47), so erklärt sich die Schwierigkeit, genau zu identifizieren, wer hier mit wessen Stimme spricht. Hier agieren „One“ und „The other“ (47); aber nicht Charles und ein fremder junger Mann halten Zwiesprache, sondern vielmehr Charles und seine anthropomorphisierte Krankheit, „the bulbous 264 Vgl. Onega (1999), 60. <?page no="94"?> 82 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton grey shape lodged in his brain“ (179): Aus der Perspektive des Parkwächters führt Charles ein Selbstgespräch. Für Charles jedoch ist die Manifestation seiner Krankheit durchaus real, und sogar die einzige Möglichkeit für eine Auseinandersetzung mit dieser, ohne „very angry“ (16) zu werden und abrupt das Thema zu wechseln. Sobald „the young man [...] no longer there“ (47) ist, fällt auch Charles’ „strangeness“ (47) von ihm ab: „it was as if the clay had fallen away from his limbs“ (47). Gleichzeitig entsteht der Eindruck, dass sein baldiger Tod unausweichlich ist. Charles ist im metaphorischen Sinne „about to rise“ (47), dem Leben nach dem Tode also nahe; zwar „[n]ot now“, aber nachdem er dem jungen Mann wieder begegnet ist: „I will come to see you again“ (47). Die Episode stellt sich also zum einen als „the first sign“ (47) von Charles’ Gehirntumor und seines bevorstehenden Todes dar, und thematisiert gleichzeitig die Frage nach der eindeutigen Kategorisierbarkeit von Ereignissen in „real or unreal“ (47). Stellt man dem nun kontrastiv Fragment Vier gegenüber, erscheint es bei kursorischer Betrachtung fast identisch: [...] it was only later that [Charles] noticed how the leaves had been swept away, the noises stopped. There was a young man standing beside him, gazing at him intently: he put his hand upon Charles’s arm as if he were restraining him. ‘And so you are sick,’ one said. And the other replied, ‘I know that I am.’ Charles looked down again in despair and, when he glanced up, the figure of Thomas Chatterton had disappeared. (3) Das hier dargestellte Gespräch bewegt sich zwar ebenfalls zwischen „one“ und „the other“ (3), und stellt so den Gedanken der eindeutigen Identifizierbarkeit in Frage; durch die explizite Benennung beider Gesprächspartner wird diese Infragestellung jedoch wieder relativiert. Es mag unklar erscheinen, ob Charles „one“ oder „the other“ ist, aber dass zwei verschiedene Subjekte agieren, scheint eindeutig. Das Fragment deutet also darauf hin, dass es sich bei dem jungen Mann am Ende des dritten Kapitels auch um Thomas Chatterton handelt, der ebenfalls „red hair“ (155) hat; das Fragment scheint die Begegnung mit dem jungen Mann als Begegnung mit Chatterton zu authentifizieren. Da der „young man“ aber auch einen verdrängten Aspekt von Charles’ Selbst, nämlich seiner Krankheit, repräsentiert, wird nahegelegt, dass auch das Zusammentreffen mit Thomas Chatterton die Manifestation eines innerpsychischen Prozesses ist. Chatterton wird in diesem Kontext zum archetypischen ‘Schatten’, 265 zur Manifestation seiner „positiven Seiten [...], die ein Schattendasein führen“: 266 Die Tatsache, dass er sich mit „the greatest poet in history“ (94) unterhält, reprä- 265 Vgl. Nünning (1994), 35. 266 Jolande Jacobi, Die Psychologie von C. G. Jung (Frankfurt am Main: 1996), 113. <?page no="95"?> Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 83 sentiert Charles’ Überzeugung, dass es auch für ihn „just a matter of time“ ist, „before he was recognised“ (14). Der im Fragment zunächst scheinbar eindeutig dargestellte Sachverhalt legt also die Interpretation nahe, dass auch in der Episode in Kapitel Drei die Begegnung von Charles und Chatterton geschildert wird. Da dort jedoch deutlich wird, dass sich in der Begegnung mit dem jungen Mann ein innerpsychischer Prozess manifestiert, wird wiederum die ursprüngliche Deutung der Ereignisse im Fragment relativiert. Beide Textpassagen sind Teil eines hermeneutischen Zirkelprozesses, und beide Teile sind für eine umfassende Auslegung unverzichtbar. Ob nun dieser Prozess beim vermeintlichen „Original“ oder dessen späterer Umsetzung und „Kopie“ ansetzt, ist für das Verständnis von sekundärer Bedeutung: Die Vorstellung, dass nur das Original ein adäquates Erfassen ermöglicht, wird als Illusion entlarvt. Noch problematischer erscheint das Verhältnis von Original und Kopie im Vergleich von Fragment Zwei und dessen Umsetzung in Kapitel Neun. Während die Abweichungen der bisher besprochenen Passagen vergleichsweise gering sind, entpuppt sich hier das Fragment als Collage aus einzelnen Sätzen, die dem Handlungsstrang um Henry Wallis und George Meredith entnommen sind. Dennoch erweckt das Fragment den Eindruck einer in sich schlüssigen Konversation; etwaige Brüche sind zunächst nicht zu erkennen: ‘Yes, I am a model poet,’ Meredith was saying. ‘I am pretending to be someone else.’ Wallis put up his hand and stopped him. [...] ‘No. You are still lying as if you were preparing to sleep. Allow yourself the luxury of death. Go on.’ Meredith closed his eyes and flung his head against the pillow. ‘I can endure death. It is the representation of death I cannot bear.’ ‘You will be immortalised.’ ‘No doubt. But will it be Meredith or will it be Chatterton? I merely want to know.’ (2f) Tatsächlich handelt es sich hier aber nicht nur um die verkürzte Darstellung eines sehr viel längeren Gesprächs zwischen dem Porträtisten und dem Dichter. Auch die Reihenfolge und Zuschreibung der Äußerungen weichen voneinander ab; so ist es Meredith, und nicht Wallis, der feststellt „I will be immortalised“ (161), und sein Wortspiel mit dem „model poet“ (141) folgt nach dem Ausdruck seiner Abneigung gegenüber Darstellungen des Todes. Die Struktur beider Textstellen weicht also trotz der auffälligen Kongruenz der Äußerungen so stark voneinander ab, dass sie nicht beide Schilderungen der gleichen Wirklichkeit, des ‘realen’ Gesprächs, sein können. Damit aber stellt sich die Frage: Welche Passage ist die authentische? Es bleibt unklar, ob das Fragment eine Collage, oder die längere Beschreibung in Kapitel Neun eine Ausschmückung der Ereignisse ist, und die <?page no="96"?> 84 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton Frage nach der Unterscheidung von Original und Kopie bleibt unbeantwortet. Zu Fragment Eins findet sich im Roman, wie eingangs erwähnt, kein offensichtliches Pendant. Nach genauerer Betrachtung der übrigen Fragmente wird jedoch klar, dass auch diese scheinbare Auslassung ein Teil der textuellen Strategie zur Dekonstruktion der Tauglichkeit des Authentizitätsprinzips zur Wirklichkeitssicherung ist. Das Gedicht, das der junge Thomas Chatterton vor Mary St. Redcliffe vor sich hinmurmelt, stellt einen deutlichen intratextuellen Bezug zum Rest des Romans her. Der „wanderer“ (2), dessen Ankunft das lyrische Ich erwartet, assoziiert Charles Wychwood, der als von einer „wandering nature“ (9) angetrieben charakterisiert wird. Die Verse His eye will search for me round every spot, And will, - and will not find me. (2) präfigurieren Charles’ Obsession mit Chatterton, dessen Präsenz er überall zu erkennen meint, und die er dennoch nicht vollständig fassen kann. So sieht er in einem Moment „the entire pattern of Chatterton’s life“ (127) vor sich, nur um im nächsten Augenblick feststellen zu müssen, dass „all his thought about Chatterton had disappeared“ (128). Das Fragment fasst also das zentrale Motiv des Handlungsstranges um Charles Wychwood zusammen: Die detektivische Rekonstruktion der tatsächlichen Ereignisse um Thomas Chatterton 267 und das Scheitern dieser Bemühungen, als sich die immer dichter werdenden Hinweise auf einen fingierten Selbstmord als Fälschung herausstellen. Dass trotz dieser offensichtlichen Bezugnahme das erste Fragment nicht wie die anderen Fragmente zur Umsetzung im übrigen Romankorpus herangezogen wird, lässt sich kaum erklären; Fragment Eins ist ebenso relevant für die spätere narrative Umsetzung wie die übrigen vorangestellten Textpassagen. Damit wird der Ausschluss eines Fragments, beziehungsweise das Heranziehen der anderen Fragmente zur Konstruktion einer detaillierten Geschichte, zu einer arbiträren Entscheidung. Genau diese willkürliche Ungleichbehandlung läuft aber dem Gedanken zuwider, Wirklichkeit durch die Beachtung einfacher Unterscheidungsregeln bezüglich der zu ihrer Konstruktion herangezogenen Quellen sichern zu können. 267 Vgl. auch Nünning (1994), 33. <?page no="97"?> Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 85 5.2 Kopie als Original Im Vergleich der Fragmente mit dem übrigen Roman zeigt sich, dass das Authentizitätsprinzip als vermeintliches Mittel zur Wirklichkeitssicherung versagt, weil es seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird. Durch die Positionierung der Fragmente und die nicht-fiktionale Textsorte des Lexikons, erfahren beide Textsorten eine implizite Gleichstellung. Auch ein Lexikoneintrag ist letztlich eine arbiträre Selektion und eine narrativ plausibilisierte, Diskursregeln entsprechende Umformung von fragmentarischen Quellen. Die Gleichsetzung der Fragmente mit dem Lexikoneintrag stellt sich so als Kommentar auf die Vorgehensweise eines Historikers dar. Genau wie Chatterton aus „some Fragments“ (84), die er in Mary St. Redcliffe findet, und „other Papers“ (84) willkürlich auslassend, seinen „own Great Ledger of the Past“ (85) verfasst, ist auch die vermeintlich wissenschaftlich exakte Darstellung der Vergangenheit immer nur die eigene Version des Wissenschaftlers: „In any case [...] each biography described a quite different poet: even the simplest observation by one was contradicted by another, so that nothing seemed certain“ (127). Im Verhältnis von den Fragmenten zum übrigen Teil des Romans wird also die Konzeption des Romans als Ganzes thematisiert. Der Umstand, dass „fiction, however inauthentic [...] is what gives us access to history“, 268 die sprachliche Erschließung historischer Wirklichkeit also nicht an den Authentizitätsgedanken gebunden ist, zieht sich leitmotivisch durch den gesamten Roman. Wenn die Unterscheidbarkeit von Original und Kopie als Fundament des Authentizitätsgedankens von elementarer Bedeutung für die Konstruktion von Wirklichkeit ist, dann ist auch die historische Verortung der zum Konstruktionsprozess herangezogenen Quellen von besonderer Relevanz. Die chronologische Anordnung von Kopie und Original ist die einfachste Möglichkeit zur Überprüfung und zugleich Ausschlusskriterium. Verkürzt gesagt: Das Original kann nur ein Original sein, wenn es der Kopie zeitlich vorausgeht; trifft dies nicht zu, so handelt es sich nicht um ein Original, und ergo eine Kopie. Wird aber die Möglichkeit einer eindeutigen zeitlichen Einordnung entzogen, wird die Unterscheidbarkeit von Original und Kopie grundlegend problematisiert. 269 268 Greg Clingham, „Chatterton, Ackroyd, and the Fiction of 18 th Century Historiographie“, in: Bucknell Review: A Scholarly Journal of Letters 42: 1 (1998), 39. Vgl. auch Kotte (2001), 35f. 269 Vgl. Hartung (2000), 71f. <?page no="98"?> 86 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton Ähnlich wie in Hawksmoor kommentiert die ihren eigenen Konstruktstatus stets deutlich machende „arabeskenhafte Verquickung“ 270 der drei Zeitebenen in Chatterton die Vorstellung von einer klar erkennbaren und eindeutigen Realität. Lassen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr apodiktisch voneinander trennen, dann ist auch der Status von Kopie und Original nicht mehr unmissverständlich zu bestimmen. Somit ist eine der fundamentalen Kategorien zur Wirklichkeitssicherung durchbrochen. Die Regel, nach der nur Authentisches Realität garantiert, wird gleichsam ausgehebelt und macht einer ontologischen Verunsicherung Platz: „There are no rules [...] Everything is possible“ (9). Diese Verunsicherung erweist sich auch als das Resultat der Wiederholung von Figurenkonstellationen, Ereignissen, Schauplätzen und Motiven 271 in den drei Handlungssträngen, die eine über die Jahrhunderte hinweg reichende Konsistenz und Konstanz vermitteln, gleichzeitig aber gerade so weit voneinander abweichen, dass nicht der Eindruck einer simplen Dopplung entsteht. Das augenscheinlichste verbindende Element ist die Berufung der drei zentralen Figuren: Charles Wychwood, George Meredith und Thomas Chatterton sind Poeten aus Passion. Charles, Meredith und Chatterton 272 sind rothaarig; Chatterton und Charles sterben in jungen Jahren. Alle drei sind „von einer Idee, einer Person und einer Vorstellung besessen.“ 273 Neben diesen Parallelen in der Person der Dichter tauchen einzelne Motive immer wieder auf. So entdeckt Meredith das Porträt, welches Charles für eine Darstellung eines gealterten Chatterton hält, auf einem Flohmarkt (vgl. 173). Der „idiot boy“ (209), der „in a different time“ und „in some other place“ (210) zu existieren scheint und täglich in einem verfallenen Gebäude nach Chatterton, „the red-headed stranger who had given him the bright coin“ (211) Ausschau hält, taucht als geisterhafte Erscheinung zwei Jahrhunderte später wieder auf: [Charles] looked up and found himself gazing through the ground-floor window into a bare room; the curtains were half-drawn but he could distinctly see a young child upright in the corner of the room. He was holding his arms stiffly against his sides and seemed to be staring back at Charles [...] Then a cloud passed across the sun, and the interior of the room grew dark. (13) Diese Begegnung mit der Vergangenheit bildet bereits Geschehenes jedoch nicht gleichsam als statische Momentaufnahme von Geschichte ab; vielmehr erscheint sie im Vergleich mit dem ersten Zusammentreffen Chatter- 270 Nünning (1994), 34. 271 Vgl. auch Nünning (1994), 34f. 272 Vgl. Onega (1999), 66. 273 Nünning (1994), 36. <?page no="99"?> Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 87 tons und des „idiot boy“ (209) als nicht festgeschrieben, sich verändernd, dynamisch: [Chatterton] stops, peers around the door half-torn from its hinges, and for a moment he thinks he sees a child, standing in one corner with its hand outstretched. But a cloud passes across the sun and, after the sudden change of light, there is nothing there. (207) Die Veränderung in der Körperhaltung des Kindes steht metaphorisch für die Uneinholbarkeit der Vergangenheit wie sie wirklich war. Der Blick auf die Vergangenheit, auf Geschichte, beinhaltet immer eine perspektivische Brechung durch den Betrachter und wird so zum „phantom of his imagination“ (207), das zwar Zusammenhänge und auch einzelne Details sehr wohl erfassen kann, aber dabei keineswegs einen vollständigen, unverfälschten Blick auf die Vergangenheit freigibt. Diesem Umstand trägt auch eines der letzten dem Maler Joseph Seymour zugeschriebenen, aber tatsächlich von seinem Assistenten Stewart Merk ausgeführten Bilder Rechnung, welches „a child standing in front of a ruined building“ (35) zeigt: Bristol Churchyard after the Lightning Flash (108). Das „torn wallpaper, the broken pipes, the abandoned furniture“ sind dabei alle „carefully painted“, während das eigentliche Zentrum des Bildes, das Gesicht des Kindes, in scharfem Kontrast hierzu „featureless“ und „abstract“ (35) erscheint. Das setting ist hier also vorgegeben, aber es obliegt dem Betrachter, die Gesichtszüge des Kindes zu ergänzen. Damit aber ist jede Ausformung der zentralen Komponente des Bildes durch den Rezipienten gleichwertig mit jeder anderen Ausformung; keine ist authentischer als die andere. Die Frage, ob es sich hier um das gleiche Kind handelt, dem schon Thomas Chatterton begegnet ist, führt zu der fundamentalen Frage „who’s to say what is real and what is unreal? “ (35). Was allegorisch mit den sorgsam dargestellten „realistischen“ Details am Rand von Seymours Bild geschieht - „[they] seemed to spiral towards a vanishing point in the middle of the painting“ (35), um schließlich zu verschwinden - wird vor diesem Hintergrund zur doppelten Metapher: Zum einen wird hier der Realismus als mimetische Kunstkonzeption, die eine klare Trennbarkeit von Vorlage und Imitation und von Authentischem und Inauthentischem suggeriert, in Frage gestellt, und zum anderen lässt sich die Beschreibung als Metapher für den Roman selbst deuten, die auf ein ironisches, postmodernes Sprachspiel und den Einsatz von Effekten um ihrer selbst willen verweist, aber zugleich das eigene Erkenntnispotential kritisch hinterfragt. Auch die beiden anderen im Roman näher beschriebenen Bilder stehen emblematisch für die Durchdringung der Handlungsstränge. Das palimpsestartige Portrait of an Unknown Man ist „the residue of several different images, painted at various times“ (205). Die überlappenden und übermalten Einzelbilder sind es, die dem Gemälde „depth but not brightness“ (205) <?page no="100"?> 88 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton verleihen, was Charles bei seiner ersten Konfrontation mit dem Bild als „sardonic and even unsettling power“ (11) empfindet. Dieser „unsettling effect“ (205) erwächst also aus der Tatsache, dass das Porträt über die Jahre hinweg gewachsen ist; die Überlagerung verschiedener Bilder aus unterschiedlichen Zeiten macht es darüber hinaus zu etwas Inauthentischem, einem „fake“ (200), dem nur durch die Bearbeitung durch einen meisterhaften Fälscher zum Status des Authentischen verholfen werden kann: „We must get an expert [...] to authenticate it properly“ (201). Damit wäre aber wiederum die Grundlage für Authentizität aus Inauthentizität erwachsen. Hier zeigt sich erneut, dass diese Unterscheidung eine arbiträre ist und dem „fake Chatterton portrait“ als „transhistorical palimpsest“ 274 nicht gerecht werden kann. George Wallis’ The Death of Chatterton verdeutlicht ebenfalls den transhistorischen Aspekt und die damit verbundene Infragestellung der Unterscheidbarkeit von Original und Fälschung. 275 Wallis’ Umsetzung von Chattertons Tod ist ebenso wenig eine authentische Darstellung wie das gefälschte Portrait of an Unknown Man. Ausgehend von einer Skizze des als Chatterton posierenden George Meredith fertigt Wallis zunächst „a small painting“ (139) an, um dieses einige Tage später auf eine „larger canvas“ (139) zu transferieren. Wie Meredith erkennt, wird so Wallis’ mimetisches Kunstverständnis, welches er epigrammatisch mit den Worten „There is no reality [...] except in visible things“ (139) zusammenfasst, ad absurdum geführt: „the greatest realism“ (139) entpuppt sich als „the greatest fakery“ (139). Hier zeigt sich erneut das zentrale Thema des Romans: Die Kopie wird zur Grundlage des ‘Originals’, welches konstituierend für die Vorstellung von Realität ist. Die Vorlage für Wallis’ Werk ist die durch Meredith nachgestellte Sterbeszene, also eine Kopie. Und obwohl es „no need to talk of reality“ (140) gibt, schließlich handelt es sich um nichts anderes als ein „costume drama“ (140), wird The Death of Chatterton von den darauf folgenden Generationen als „the true death of Chatterton“ (157) gesehen werden. Tatsächlich geht die im 19. Jahrhundert von Wallis sorgsam arrangierte Pose mit der Schilderung von Chattertons Todeskampf konform. Wallis weist Meredith an: „Let your right arm trail upon the floor. Thus. [...] Clench it. Clench it as if you were holding something“ (138). Fast identisch ist die Beschreibung innerhalb des im 18. Jahrhundert angesiedelten Handlungsstranges: 274 Onega (1999), 72. 275 Vgl. auch Nünning (1994), 44f. <?page no="101"?> Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 89 [Chatterton’s] left arm is pressed against his chest while his right arm slips from the bed, the hand clenching and unclenching as if trying to grasp the torn scraps of his writing which are scattered across the floor. (230) Aber auch Charles im 20. Jahrhundert sieht sich in diese Szene gleichsam hineinversetzt: Charles reached down with his right hand and touched the bare wooden floor [...] his knuckles brushed against something [...] it was a piece of the rough writing paper he had been using. There was another piece beside it, and another; these were the torn fragments of the poem he had been writing. (168f) Charles’ Obsession mit Chatterton, seinem alter ego und Schatten, geht so weit, dass er kurz vor seinem eigenen Tod ähnlich wie Meredith ein Jahrhundert zuvor versucht, sich in „that last darkness“ (139) Chattertons hineinzuversetzen. Als er jedoch erkennt „I have seen this before“ (169), dass er sich also gleichsam im Gemälde The Death of Chatterton befindet, welches er zuvor mit seinem Sohn Edward in der Tate Gallery betrachtet hatte, gewinnt die Situation für ihn den Charakter des Irrealen, des Inauthentischen: „This is not real [...] it is an illusion! “ (169). Derart aufgerüttelt findet er sich in seinem Krankenbett wieder, von seiner Frau Vivien und Edward aufmerksam beobachtet. Als ihn unmittelbar darauf der Tod tatsächlich ereilt, nimmt er wieder die gleiche Pose ein; diesmal aber ist sie keine Illusion mehr: „His right arm fell away and his hand trailed upon the ground, the fingers clenched tightly together“ (169). Chattertons Ende, Merediths Pose und Charles’ Tod sind, zumindest aus der Perspektive eines kognitivepistemologischen Denkspiels heraus, also zugleich Original und Kopie, authentisch und inauthentisch, real und irreal: Die komplexen und vielschichtigen Verweise der drei Handlungsstränge auf Seymours Bristol Churchyard after the Lightning Flash, ‘Geroge Steads’ Portrait of an Unknown Man und insbesondere Wallis’ The Death of Chatterton zeigen „die Suche nach Originalen und Ursprüngen als einen fruchtlosen Regress ad infinitum.“ 276 Die Absage an das Ursprünglichkeitskriterium als letztgültigen Garanten von Authentizität impliziert auch eine Absage an das Konzept eines statisch-eindeutigen Verhältnisses von Wirklichkeit und ihrer Darstellung. Vielmehr scheint in der komplexen Verflechtung der Zeitebenen des Romans ein dynamisch-prozessuales Verständnis auf: Original und Kopie, Wirklichkeit und ihre Darstellung fallen nicht nur zusammen, sondern durchdringen einander in einem hermeneutischen Zirkelprozess. 276 Nünning (1994), 42. <?page no="102"?> 90 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 5.3 Mimesis, Originalität und Intertext Die Unterscheidbarkeit von Original und Kopie ist von essentieller Bedeutung für die Fähigkeit von Kunst zur Mimesis: Die Realität liefert das Original, und die Kunst dessen mimetisches Abbild, also die Kopie. Ist aber die Dichotomie Original/ Kopie aufgelöst, kann nicht mehr eindeutig bestimmt werden, was Realität, und was lediglich deren Abbild ist. „How can a mask be unnatural? “ (132) fragt George Meredith und erhält von Henry Wallis zur Antwort: „I can only paint what I see“ (133), dass also eine Maske den Blick auf die Realität versperrt und so ihre mimetische Darstellung unmöglich macht. Wallis ist sich jedoch, anders als Meredith, nicht bewusst, dass Masken vom Betrachter unbemerkt den Blick auf den Betrachteten verstellen. Er bemerkt zwar „how Meredith lost his artificial manner when he was no longer in the presence of his wife“ (134), übersieht aber, dass auch das übrige Verhalten seines Freundes keineswegs natürlich ist. Vielmehr ist es geprägt von literarischen Stereotypen: „when Shakespeare invented Romeo and Juliet, the whole world“, also auch Meredith selbst, „discovered how to love“ (133). Der scheinbar unverstellte Blick auf die Realität entpuppt sich als „true fiction“ (133); eine Studie des menschlichen Verhaltens ist keine Studie der Realität, sondern von „Chaucer, Boccaccio, and Shakespeare“ (133), die metonymisch für ihre Werke stehen. In Übereinstimmung mit dem berühmten Wildeschen Diktum „Realism is a complete failure“, denn „Life imitates Art far more than Art imitates Life“ 277 wird George Merediths künstliche Todespose zur Vorlage für Charles Wychwoods tatsächlichen Tod. Dabei ist jedoch zu beachten, dass Meredith keinesfalls die Existenz von Realität im Sinne einer unhintergehbaren Wirklichkeit bestreitet; vielmehr erkennt er, dass sich diese nicht abbilden lässt: 278 ‘Of course there is a reality [...] But [...] it is not one that can be depicted. There are no words to stamp the indefinite thing. The horizon.’ (133) Wenn aber Kunst zur Mimesis nicht fähig ist, so drängt sich die Frage auf, was sie stattdessen zu leisten vermag. Eine mögliche alternative Kunstkonzeption deutet sich in der Begegnung Chattertons mit dem „idiot boy“ (209) an. Dieser verweist auf Thomas Chatterton selbst, der von Wordsworths „Resolution and Independence“ 279 als „marvellous Boy“ literarisch verewigt wurde, und dessen „life, work and tragic death [...] a powerful 277 Oscar Wilde, „The Decay of Lying“, in: Oscar Wilde, The Complete Works of Oscar Wilde, (Glasgow: 1994), 1091. 278 Vgl. Nünning (1994), 43f. 279 Vgl. Onega (1999), 60. <?page no="103"?> Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 91 effect on the Romantic imagination“ 280 hatte. In der Gegenüberstellung des „marvellous“ mit dem „idiot boy“ wird die romantische Vorstellung vom Genie, das etwas völlig Eigenständiges und Neues schafft, relativiert. Auch ein Genie muss auf bereits bestehende Formen zurückgreifen: „original genius consists in forming new and happy combinations, rather than searching after thoughts and ideas which had never occurred before“ (58). Die sich hier andeutende Relativierung kann sogar als eine „Absage an romantische Originalitäts- und Geniekonzeptionen“ 281 gedeutet werden, denn die Suche nach dem noch nie Gesagten und noch nie Gedachten birgt die Gefahr des Verlustes der Kommunikationsfähigkeit in sich. Fritz Dangerfield, einer der in der art brut Vernissage der Cumberland & Maitland Gallerie gezeigten Künstler, verdeutlicht diese Gefahr schon durch seinen telling name. Um etwas völlig Neues zu schaffen und „to start all over again“ (116), versucht er sich aller störenden, sprich konventionalisierten, Einflüsse zu entledigen: „He wanted to separate from everything“ (116). Konsequenterweise spricht und schreibt er nur noch „with an alphabet of his own invention“ (116), und ist als Resultat „unintelligible“ (116). Damit aber stellt sich die Erfüllung der Originalitätsforderung als Wahnsinn heraus; Dangerfield kann nur noch mit sich selbst kommunizieren, und „that really is madness“ (116). Um dies zu vermeiden gibt es nur eine Möglichkeit; bestehende Formen und Traditionen müssen aufgegriffen werden: „You have to carry it all around with you“ (116). Diese aber müssen zwingenderweise in ein Kommunikation erst ermöglichendes Sinnsystem eingebunden sein; der Rückgriff auf bestehende Formen alleine ist noch kein Garant für die Generierung von Bedeutung. Realität wird durch Sprache konstruiert, „without words [...] there is nothing“ (210), aber einzelne Wörter, wie sie der geistig behinderte Junge „in imitation“ (210) benutzt, eröffnen noch keinen Weg in die Kommunikation mit anderen, in eine Konsenswirklichkeit. Das romantisch verklärte Bild von Chatterton als „marvellous Boy“ lässt sich also nicht aufrechterhalten. Würde es zutreffen, hätte Chatterton nicht auf Konventionen zurückgegriffen, dann wäre im Gegenteil das Attribut idiot zutreffender; die Trennlinie zwischen madness und sanity ist hier der Konsens über die Anerkennung einer gemeinsamen künstlerischen Tradition. Wie der Galerist Cumberland bemerkt: Where there is no tradition, art simply becomes primitive. Artists without any proper language can only draw like children. It’s so - [...] - so empty. (110) 280 Margaret Drabble, The Oxford Companion to English Literature (Oxford: 1993), 188. 281 Nünning (1994), 45. Vgl. auch Nünning (1999), 37. <?page no="104"?> 92 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton Mit der doppelten Ablehnung einer mimetischen und romantischen Ästhetikkonzeption geht die Anerkennung der Bezüge und Verweise von Kunstwerken untereinander einher. Das Universum von Chatterton ist ein intertextuelles Universum, in dem Literatur, Bildende Kunst und Personen als Texte miteinander verwoben sind. Als Philip Slack den plot um Imitation und Plagiat von „The Last Testament by Harrison Bentley“ (68) näher betrachtet, entdeckt er demnach nicht nur „Harriet’s borrowing“ (70), sondern auch den plot von Chattertons Leben, Stewart Merks Fälschungen und Philips eigenen literarischen Ambitionen. Die intertextuelle Bezugnahme geht aber weit über die romanimmanente Ebene hinaus. Das Thema von „The Last Testament“ (68) ist auch das Thema von Chatterton, und der Titel verweist weiter auf Peter Ackroyds The Last Testament of Oscar Wilde. Ein weiterer Titel Bentleys, „Stage Fire“ (69), ist eine Referenz auf Ackroyds The Great Fire of London, das von einer Bühnenadaption von Charles Dickens Little Dorrit handelt. Dickens wiederum ist ebenfalls der Autor von Great Expectations, das von Charles Wychwood während der Reise nach Bristol, mit der er in der Tat große Hoffnungen verbindet, wortwörtlich verschlungen wird (vgl. 48). 282 Die öffentliche Bibliothek, in der Philip arbeitet, und wo er die Verbindung zwischen Harrison Bentley und Harriet Scrope erkennt, stellt sich als bibliothèque universale dar, die das Formenreservoir des gesamten intertextuellen Universums beinhaltet, und diesem wieder zur Verfügung stellt. Die Tatsache, dass das Magazin „in the basement of the library“ (68) untergebracht ist, ist dabei bezeichnend: Die dort gelagerten „forgotten or neglected volumes“ (68) sind gleichsam das Fundament, auf dem die Literatur als Ganzes ruht. Alles ist Intertext, ob man sich dessen nun bewusst ist oder nicht, und nie in seiner ganzen Komplexität zu erfassen. Als Philip das Licht einschaltet, erhellt er im metaphorischen Sinne die intertextuellen Bezüge zwischen Bentley und Scrope. Aber im Dunkeln, im für Philip nur schemenhaft erkennbaren Teil, geht die Verbindung zwischen Texten weiter, ist sogar noch intensiver: „And, beyond this circle of light in which he stood, the books cast intense shadows,“ (68) „[i]t was almost, he thought, as if they had been speaking to each other“ (71). Das Bewusstsein, dass auch er aus diesem Formenreservoir schöpfen muss, führt bei Philip zunächst zu einer Schreibblockade, einer „bad case of Bloomian anxiety of influence.“ 283 Seine Befürchtung, dass der Einfluss von „other voices and other styles“ (70) so groß sein könnte, dass er der „overwhelming difficulty of recognising his own voice“ (70) nicht mehr gewachsen sein könnte, manifestiert sich in einem Tagtraum im Magazin der Bibliothek: „He was aware that 282 Vgl. Finney (1992), 254. 283 Onega (1999), 66. <?page no="105"?> Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 93 someone was watching him. It was Harriet Scrope and behind her, his face in shadow, was Harrison Bentley“ (71). Ihrem Einfluss vermag er nicht zu entkommen, denn Philip believed that there were only a limited number of plots in the world (reality was finite, after all) and no doubt it was inevitable that they would be reproduced in a variety of contexts. (70) Solange Philip in seinem Originalitätsdenken verhaftet ist, muss ihm dies als unlösbares Dilemma erscheinen: 284 Neben seiner eigenen Stimme darf keine andere zu hören sein. Gleichzeitig ist hier aber schon der Weg aus der anxiety, an der er leidet, vorgegeben. In der Literatur werden zwar einzelne Elemente und Formen immer wieder reproduziert, aber, und dies ist entscheidend, „in a variety of contexts“ (70). Die einzelne Form, das einzelne Wort und ein einzelner plot gewinnen Bedeutung erst durch den Kontext, also über das Sinnsystem, in das sie eingebettet sind; ohne Kontext sind sie ohne Bedeutung: There were pools of light among the stacks, directly beneath the bulbs which Philip had switched on, but it was now with an unexpected fearfulness that he saw how the books stretched away into the darkness. They seemed to expand as soon as they reached the shadows, creating some dark world where there was no beginning and no end, no story, no meaning. (71) Die Anerkennung der Tatsache, dass der Rückgriff auf bestehende Formen ein integraler Bestandteil von Literatur ist und sein muss, ist also keineswegs eine Absage an die Kreativität des Schriftstellers. Nicht Originalität im Sinne der Schaffung von etwas vollständig Neuem, sondern „Style [...] is ultimately the writer’s principal contribution to the world. Intertextuality is not inimical to writing but an inextricable part of it.“ 285 Mit der Erkenntnis, dass auch die Kreativität eines „great poet“ (91) wie Thomas Chatterton nicht von Tradition und der Arbeit anderer Dichter zu trennen ist, geht auch Philips Überwindung seiner anxiety of influence einher; 286 am Ende des Romans gibt er sich als potentieller Autor von Chatterton zu erkennen: 287 ‘So I tried writing my own novel, but it didn’t work, you know. I kept on imitating other people. I had no real story, either, but now - [...] - I might be able to -’ 284 Vgl. Finney (1992), 254. 285 Finney (1992), 255. Vgl. auch Nünning (1999), 36. 286 Vgl. hierzu Smethurst (2002): „In Ackroyd’s novel, the fate of Chatterton becomes a kind of touchstone for two 20th century writers who suffer from writer’s block. They are eventually released from their search for originality after the discovery of (fake) papers by Chatterton, which include a defence of creative plagiarism. As one of the writers concludes ‘there is no real origin for anything. Everything just exists in order to exist.’“ 287 Vgl. Onega (1999), 67f. <?page no="106"?> 94 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton [...] ‘Of course,’ he added, grave again, ‘I must tell it in my own way. How Chatterton might have lived on. [...] I might discover that I had a style of my own, after all.’ (232) Analog zu Philips Einsicht in den intertextuellen Charakter von Literatur weitet Chatterton „die Funktion intertextueller Anspielungen [...] dadurch auf ästhetische Grundfragen aus,“ dass „auch andere Kunstformen“ 288 mit einbezogen und thematisiert werden. Originalität, Realismus und die mimetische Fähigkeit von Kunst werden in Chatterton auch in Bezug auf die Bildende Kunst kritisch kommentiert. Wallis’ vermeintlich realistisches The Death of Chatterton ist den Regeln der „composition“ (156) gemäß arrangiert und damit keineswegs ein Abbild des „true death of Chatterton“ (157), sondern vielmehr „just another game“ (135). Und auch der romantische Originalitätsgedanke wird durchbrochen. Der Lyrikerin Miss Slimmer, die sich selbst als „in the realm of the Ideal“ (160) verhaftet und damit als Verfechterin der Romantik definiert, erscheint das Gemälde als „pasticcio“ (160), als „the imitation of an imitation“ (160). Dem in Chatterton dominanten Ästhetikkonzept von Kunst als Intertext zufolge ist aber genau dieser Umstand konstituierend für Kunst. Eine pointierte Formulierung findet dies in Cumberland & Maitlands Ausstellungskatalog über Grandma Joel, „a prolific and versatile artist despite her mental instability“ (109): She wanted to explain the entire material and spiritual world in terms of imitation, and kept on repeating „The blind are the fathers of the blind“. (109f) Kunst ist hier die Imitation einer Imitation und insofern blind, als das Original, die Realität, nicht „depicted“ (133) werden kann. Kunst ist aber auch Grundlage für Wirklichkeitskonstruktion, wie im Falle des gefälschten Portrait of an Unknown Man, welches Grundlage für Charles’ revisionistische Thesen über den Tod Chattertons ist. Die durch den ‘blinden’, die ‘wirkliche Wirklichkeit’ weder sehenden noch darstellenden Künstler konstruierte Wirklichkeit wird zur Basis von Charles’ die Realität ebenfalls nicht erfassenden, ‘blindem’ hyperrealen Weltbild. Über die Metapher der Blindheit werden die Prämissen der eng mit dem Okkularzentrismus 289 verbundenen Vorstellung einer Erfassbarkeit und Darstellbarkeit von Rea- 288 Nünning (1994), 41. 289 Zur Dominanz der Visualitätsmetaphorik in der Epistemologie bemerkt Martin Jay: „vision has been accorded a special role in Western epistemology since the Greeks. Although at times more metaphorical than literal, the visual contribution to knowledge has been credited with far more importance than that of any other sense.“ Martin Jay, „In the Empire of the Gaze: Foucault and the Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought“, in: David Couzens Hoy (Hrsg.), Foucault: A Critical Reader (Oxford: 1986), 175-204. <?page no="107"?> Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 95 lität grundlegend in Frage gestellt. Auf Harriet Scropes Frage nach dem wirklichen Geisteszustand von Grandma Joel antwortet Sarah Tilt „Seeing is believing“ (116); aber „visible things are stage props, mere machinery,“ (140) wie George Meredith feststellt, und „hardly real at all“ (141). Genau dieses Ästhetikkonzept unterstellt Charles Wychwood, als er im Vorwort zu seiner Chatterton-Biographie schreibt: „Thomas Chatterton believed that he could explain the entire material and spiritual world in terms of imitation and forgery“ (126); gleichzeitig setzt er dieses in die Praxis um und illustriert so die Vorgehensweise von Chatterton selbst. Charles’ Rechtfertigung der Methode Chattertons „old Papers, Parchments, Accounts and Bills“ (84) zu plagiieren, um seine eigene Version des Mittelalters, „Chatterton’s Account“ (85), zu schaffen, ist selbst ein Plagiat; der erste Satz seiner Biographie ist eine beinahe wörtliche Übernahme aus Cumberland & Maitlands Ausstellungskatalog. 290 Chatterton selbst ist somit ein intertextuelles Universum en miniature, in dem das propagierte Ästhetikverständnis konsequent und bis ins Detail umgesetzt ist. Struktur, Figurenkonstellationen, Motive und Handlungselemente fügen sich zu einem intertextuellen Reigen zusammen, der nicht nur ein metafiktionaler, sondern auch epistemologischer Kommentar ist: „Thus do we see in every Line an Echo, for the truest Plagiarism is the truest Poetry“ (87). 5.4 Tiefe als Palimpsest Durch die Ausweitung des Intertextualitätskonzepts auf andere Kunstformen erweist sich der Glaube an die Unterscheidbarkeit von Original und Fälschung, von Authentischem und Inauthentischem, als Illusion. In einem intertextuellen Universum verweist die Darstellung von Realität nicht mehr auf die Realität selbst, sondern lediglich auf andere Darstellungen: „The real world is just a series of interpretations. Everything that is written down immediately becomes a kind of fiction“ (40). Hinter der Oberfläche verbirgt sich keine Tiefenschicht mehr; wenn dies dennoch so scheint, handelt es sich lediglich um eine Illusion. Besonders deutlich wird dies in der Topographie der Bibliothek, in der Philip arbeitet. Die im Keller eingelagerten Werke sind als Prätexte zwar das Fundament, auf dem die im öffentlichen Teil zugänglichen Werke ruhen. Gleichzeitig sind sie selbst aber auch Teile des intertextuellen Universums, die ebenfalls auf Prätexte verweisen: In der vermeintlichen Tiefe findet sich nur wieder eine Oberfläche. Weder über fiktionale noch nicht-fiktionale Texte erschließt sich eine vermeintlich 290 Vgl. Finney (1992), 253. <?page no="108"?> 96 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton in der Tiefe verborgene Realität. Die an die Tramps in Hawksmoor erinnernden Obdachlosen 291 in der Bibliothek demonstrieren, dass beide Textsorten auf nichts über sich selbst hinaus verweisen können. Ein „vagrant“ (71) befindet sich in der „‘Reference’ section, quickly turning the pages of a dictionary“ (71); eine Handlung, die an das oft zur Erläuterung des floating-signifier-Konzepts herangezogene Bild vom immer in sich selbst weiterverweisenden Wörterbuch erinnert. Und eine Frau versucht in der „‘Fiction’ section“ (71) zwei Bücher gleichzeitig zu lesen, wird aber diese Sisyphosarbeit nie bewältigen können: „her tangled hair kept falling across her eyes and she moaned as she swept it back“ (71). Die Hinterfragung von Wahrnehmungskategorien, die mit der in Chatterton thematisierten Ästhetik einhergeht, beschränkt sich aber nicht nur auf die Ausweitung der Regeln der Narrativik auf andere Kunstformen. Vielmehr wird die gesamte Vorstellung einer außersprachlichen Wirklichkeit, die sich hinter der Oberfläche verbirgt und an dieser ablesbar ist, ad absurdum geführt; auch hinter der Oberfläche persönlicher Identität liegt keine Tiefe mehr: „There were no souls, only faces“ (49). Insbesondere in der Figur Harriet Scropes wird deutlich, dass ihre Identitätsbildung auf narrative Regeln zurückfällt. 292 Als sie Charles bittet, ihre Memoiren zu verfassen und dabei ausruft „I need you to interpret me! “ (40) zeigt sich schon durch ihre Begriffswahl die Nähe ihres Selbstbildes zur Narrativik. Sie ist sich durchaus bewusst, dass ihre Persönlichkeit eine Collage aus den verschiedensten Rollen ist, die es ihr unmöglich machen „[to] put them together“ (40), also ein einheitliches Selbstbild zu konstruieren: „I am not myself“ (39). Charles hingegen, dem gegenüber sie immer nur eine ihrer Rollen präsentiert, ist in der Lage, wie sie meint, „one step further“ (40) zu gehen und für sie in den Memoiren eine einheitliche Persönlichkeit und ‘Realität’ zu konstruieren: „always call me Harriet. So you won’t just think of me as just a book“ (148). In paradoxer Weise verweist Harriet so zugleich auf sich selbst als Ergebnis einer Persönlichkeitspastiche und den Konstruktcharakter ihrer Identität, ihren Wunsch nach Anerkennung als individuelles Subjekt und, als Metakommentar, auf ihren Status als Figur des Romans Chatterton. Ihre Einsicht, dass unter der Oberfläche ihrer jeweiligen Rolle nur weitere Rollen, aber kein Identitätskern verborgen ist, verwirrt und verängstigt Harriet zutiefst. Notwendigerweise muss ihr die Suche nach etwas in der Tiefe misslingen, und dieser Umstand erklärt ihre Unfähigkeit, ihre eigenen Memoiren zu schreiben: 291 Vgl. Onega (1999), 66. 292 Vgl. Onega (1999), 64. <?page no="109"?> Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 97 Harriet irritably tried to recall what she had been thinking. But she could not remain introspective for long: something kept her back, making her attention swerve away from herself and accelerate in a different direction. She could penetrate a little way into herself but then the procedure went into reverse and she was forced upwards again into the world: the experience was like that of falling. (29) Als sich im Gespräch mit Charles herausstellt, dass dieser über die „resemblances“ (101) zwischen ihren eigenen Büchern und denen Harrison Bentleys informiert ist, befürchtet sie, er könne erkennen, dass sie selbst gleichsam eine ‘Fiktion’ ist und sich selbst nach den gleichen Regeln konstruiert. Noch kurz zuvor hatte sie in „her customary way of conceiving her fiction“ (100) über biographische Details aus ihrem Leben berichtet und wird so mit der Konstrukthaftigkeit ihres Selbst konfrontiert; eine Konfrontation mit einer verdrängten Angst also, die in ihr Panik auslöst. Mit den Worten „I’ve lost something! “ flüchtet sie „straight into her bedroom, stopping before the full-length mirror on her wardrobe,“ (101) um sich dort mit dem Blick in den Spiegel ihrer eigenen, authentischen Identität zu versichern. Aber auch ihr eigenes Spiegelbild zeigt ihr nur eine Oberfläche, und Harriet sieht sich genötigt, zu demjenigen Mittel zu greifen um sich ihrer Authentizität zu versichern, das zugleich Auslöser ihrer Identitätskrise ist: ‘Mother’s in trouble,’ she said to her reflection. ‘Mother’s in big trouble.’ Then she unzipped her red dress, flung it onto the bed with a cry of derision, and took out from the wardrobe an old brown skirt and sweater which she hastily put on. ‘You’re adorable,’ she said. (101) Um sich ihres Identitätskerns zu versichern, nimmt sie paradoxerweise eine andere Rolle ein, verändert lediglich ihre Oberfläche; sie kann nicht in die Tiefe ihrer Persönlichkeit vordringen, weil sie diese Tiefe nicht hat. Ihr permanentes Rollenspiel lässt sie sich selbst und anderen gegenüber als grotesk überzeichnete Person erscheinen: „You think I’m grotesque, don’t you? But I’m not. I’m all too real. I might even bite“ (101). Die offensichtliche Fiktion verbirgt nur eine weitere Fiktion, und nimmt ihr dennoch nicht ihre ‘Realität’. 293 Die Konstruktion ihres Selbstbildes unterliegt den gleichen Regeln wie ihre Theorie literarischer Produktion, in der sie „plots themselves“ als „of little consequence“ (102) betrachtet und lediglich „as a plain, admittedly inferior, vessel for her own style“ (102) benutzt. Die von anderen Autoren entliehenen narrativen Strukturen liefern ihren eigenen Arbeiten ein Interpretationsmuster, das ihre eigenen collagenhaften Arbeiten mit einem tie- 293 Vgl. Onega (1999), 64 sowie Nünning (1999), 40. <?page no="110"?> 98 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton feren Sinn erfüllt erscheinen lässt; folgerichtig nennt sie ihre Adaption von Harrison Bentleys Roman „A Finer Art“ (102): And, with the story of The Last Testament to support her, she found that the words came more easily than before. Where phrases and even syllables had once emerged as fragments of a larger structure which she could neither see nor understand, now she could make her own connections; she went on from sentence to sentence, as if she were carrying a lamp and moving from room to room in a large mansion. (102) Dabei übersieht sie jedoch, dass das Sinnsystem, welches ihrem Werk die Illusion einer sinnhaften, in der Tiefe verborgenen Struktur verleiht, aufgrund ihrer eigenen Theorie literarischer Produktion selbst nur eine Collage ist, die wiederum ihre scheinbare Sinnhaftigkeit aus ihren Prätexten heraus generiert, et cetera. Text folgt auf Text folgt auf Text folgt auf Text ad infinitum: Tiefe ist ein Palimpsest aus Oberflächen. Aber auch dort, wo unter der Oberfläche kein Sinn, keine Tiefe mehr, sondern nur noch eine weitere Oberfläche zu finden ist, sei es in ihrer Literatur, ihrer Identität oder ihrem täglichen Leben, unterliegt Harriet dennoch dem Zwang, eine Sinnhaftigkeit zu konstruieren, Kontingentes miteinander in Bezug zu setzen: she picked up her remote-control device and changed programmes. She moved quickly, glimpsing a face, an action, a phrase, an explosion as she switched from channel to channel; but the resulting combination seemed to her to be making perfect sense and, for a while, she was happy to watch the screen. (107) Das Paradoxon, das sie mit Chatterton, Meredith, Charles und auch Philip teilt, liegt darin begründet, dass die aufeinander aufbauenden Schichten von „new and happy combinations“ (58), die konstituierend für ihr Ästhetikverständnis sind, selbst keine Bedeutung tragen; dennoch kann Harriet nicht anders, als unter der Oberfläche einen Inhalt zu vermuten. Wie Merediths Frau Mary beim Betrachten einer noch nicht bemalten, aber bereits mit Grundierung versehenen, und damit auch schon palimpsesthaften Leinwand bemerkt: „No one can perceive blankness; [...] the eye is forced to create shapes as the mouth forms words“ (154). Sinn und Bedeutung sind nicht in einer imaginären Tiefe verborgen, sondern werden durch den Rezipienten selbst generiert. Emblematisch zusammengefasst ist diese Problematik in The Portrait of an Unknown Man, das „insofern metonymisch die intertextuelle Struktur von Chatterton“ repräsentiert, „als sich auch der Roman als komplexes Palimpsest von einander überlagernden Texten entpuppt.“ 294 Auch hier ist es nicht das Porträt selbst, sondern Charles Wychwood, der ihm durch die 294 Nünning (1994), 42. <?page no="111"?> Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 99 Einordnung in größere Zusammenhänge und ein sinnstiftendes System Bedeutung verleiht; erst durch ihn gewinnt das Porträt seine „unsettling power“ (11): „These fresh colours seemed to issue from Charles’s hand, and it was as if he had become the painter - as if the painting was only now being completed“ (22). Als Stewart Merk bei dem Versuch das Porträt zu ‘authentifizieren’ die „succesive layers of paint“ (228) mittels eines Lösungsmittels freilegen möchte, setzt er einen Prozess in Gang, der in der Zerstörung des Bildes die Dekonstruktion des Tiefengehalts von Kunst widerspiegelt: The face of the sitter dissolved, becoming two faces, one old and one young; as the paint decayed before Merk’s eyes, the flakes becoming clots of colour which dropped onto the floor, these two faces recurred in a series of smaller and smaller images until after a few moments they had entirely disappeared. [...] Within a few minutes nothing remained: except, curiously enough, certain letters of the titles of the books which now hovered in an indeterminate space. (228) Die „series of smaller and smaller images“ (228), die hier zum Vorschein kommt, erweckt den Eindruck einer Bewegung; so wie ein Gegenstand mit wachsender Entfernung zum Betrachter zu schrumpfen scheint, suggerieren die immer kleiner werdenden Bilder eine räumliche Dimension. Die Veränderung des Raumes ist aber auch eine Metapher für das Fortschreiten der Zeit, 295 und in der Folge erweist sich Tiefe als das Resultat einer Überlagerung von zeitlich aufeinander folgenden Schichten, als Konglomerat früherer Formen. 296 Der Umstand, dass mit der sukzessiven Auflösung der Farbschichten immer wieder die beiden selben Gesichter auftauchen, „one old and one young“ (228), weist darauf hin, dass trotz der Suggestion einer räumlichen und temporalen Tiefe keine echte Veränderung stattfindet; in der Tiefe befindet sich lediglich eine weitere Oberfläche. Die Konzentration auf „the sitter’s face“ (227) macht deutlich, dass hier nicht nur die These von Oberfläche und Tiefe in der Kunst, sondern auch eine Kernhypothese des Individuums 297 angegriffen wird. Das Gesicht, dem mentalitätsgeschichtlich Bedeutung als äußerer Indikator für die innere Befindlichkeit zukommt, 298 stellt sich ebenfalls als ein Palimpsest von Oberflächen dar: Als der Auflösungsprozess abgeschlossen, die letzte Oberfläche entfernt worden ist, bleibt kein Kern zurück. Charles Wychwoods Bemerkung vom Beginn des Romans, „There are no souls, only faces“ (7), wird hier gleichsam experimentell bestätigt und umspannt Chat- 295 Vgl. Whitrow (1991), 34f. 296 Vgl. hierzu auch Ermath (2000), 411f. 297 Vgl. Bach (2006), 19f. 298 Vgl. hierzu Bach (2006), 23 und 284f. <?page no="112"?> 100 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton terton wie eine thematische Klammer. Individualität, wie sie hier gezeichnet wird, ist die zeitliche Überlagerung verschiedener Schichten: Sie mag zwar, wie Harriet Scrope verzweifelt beteuert „all too real“ (101) sein, aber authentisch im klassischen Sinne ist sie nicht. Allerdings bleibt als Resultat der Auflösung nicht „nothing“ (228) übrig, sondern „curiously enough, certain letters“ (228) der einstmals abgebildeten Buchtitel. Nach dem Übergang von Bildlichkeit zu Schriftlichkeit, im vorliegenden Kontext also dem Wechsel auf eine abstraktere Darstellungsebene, bleiben nur Details zurück, die zunächst sinnlos erscheinen. Die Minimalbausteine für Intertextualität sind zwar vorhanden, aber es fehlt ihnen das ordnende und sinnstiftende System: Sie schweben in einem „indeterminate space“ (228). In einer Welt ohne Ordnung ist Sinn nicht möglich, und die aus ihrem Kontext gerissenen Buchstaben tragen keinerlei Bedeutung mehr. Und was hier auf Details zutrifft, gilt auch für das Porträt selbst: Isoliert betrachtet trägt es selbst noch keine Bedeutung in sich. Der Antiquitätenladen, in dem Charles das Bildnis entdeckt, beherbergt ein chaotisches Sammelsurium von aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissenen Gegenständen. Erst als es von Charles und Philip in ein größeres Bezugssystem eingeordnet wird, gewinnt das Bild einen Sinngehalt, und die „eyes of a middle-aged man“ (11) werden zu „the eyes of Thomas Chatterton“ (23). 5.5 Die Verankerung des floating signifier Wenn man der dem Text eingeschriebenen Prämisse der Dekonstruktion folgt, dann ist die damit verbundene Auflösung der Vorstellung von Tiefe und festgeschriebener Bedeutung, einmal begonnen, nicht mehr aufzuhalten. Die „dissolution“ hat „its own momentum“ (228) und löst in Stewart Merk, ähnlich wie bei Harriet Scrope ihre Einsicht in die eigene Pastichehaftigkeit, „horror“ (228) aus. Das Wissen um den Verlust von Tiefe führt zunächst zu „a sudden furious burst of anger and resentment“ (228), um schließlich in einer ontologischen Verunsicherung angesichts der Auflösung aller Gewissheiten zu enden: [Philip] was bewildered by a world in which no significant pattern could be found. Everything just seems to take place, he had said, and there’s not even any momentum. It’s just, well, it’s just velocity. And if you trace anything backwards, trying to figure out cause and effect, or motive, or meaning, there is no real origin for anything. Everything just exists. (232) Die Welt stellt sich auch für Charles als ohne Fixpunkte, als rastlos dar: „Nothing was still. Everything was touching everything else“ (46). Das Prinzip des floating signifier, des endlosen Weiterverweisens eines Zeichens auf das nächste, zeigt zwar Verbindungen auf, aber dieses Verknüpfungs- <?page no="113"?> Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 101 geflecht ist so allumfassend, dass es als „too bright“ (46), als blendend hell erscheint. Eine unhintergehbare Realität mag zwar existieren, aber der Blick auf sie ist verstellt. Hieraus leiten sich zwei Konsequenzen ab. Zum einen birgt der Verlust von festen Bezugspunkten die Gefahr der Beliebigkeit und des Legitimationsverlustes in sich, wie an der Amoralität von Harriet Scrope deutlich wird. Folgt man diesem Ansatz, dann bietet sich die Möglichkeit zum ungehinderten Ausleben persönlicher Freiheit, deren emblematische Zusammenfassung vom Beginn des Romans nicht von ungefähr an den Beliebigkeitsvorwurf „Anything goes“ erinnert: „There are no rules [...] Everything is possible“ (9). Das Resultat der thematisierten Paradigmen ist zugleich Einschränkung und Befreiung, wie auch Charles bewusst wird: „I am in prison, he thought, and the brightness is guarding me until I am led out singing“ (46). Mit seiner Feststellung der paradoxen Situation, gleichzeitig bestraft und beschützt zu sein, verbindet Charles zunehmend die Aussicht auf die Beendigung dieses Dilemmas; es dauert nur so lange an „until I am led out singing“ (46). Wenn sein Gefängnis und Schutz aber die Abwesenheit jeglicher Fixpunkte, also die Herrschaft des floating signifier, ist, dann muss sich die Befreiung in der Durchbrechung der „endlosen Kette des Weiterverweisens“ 299 manifestieren: in der Fixierung des floating als final signifier. Charles’ Versuch, sich aktiv aus dem omnipräsenten Verweisgeflecht zu befreien, indem er auf der Basis des Porträts und Manuskripts die ‘authentische’ Chatterton-Biographie, „the entire pattern of Chatterton’s life“ (127), verfasst, scheitert. Das Porträt, dem er eine einzige ‘wahre’ Bedeutung zuschreiben möchte, nämlich dass es Chattertons Suizid als Vortäuschung zeigt, entzieht sich seinen Bemühungen, es sprichwörtlich auf diesen Sinngehalt festzunageln: He was attempting to fix the portrait to the wall, but it would not stay still. Either the nail was to small or the edge of the stretcher too narrow: the canvas slipped in one direction or slid off the nail altogether, and it was only with difficulty that he managed to prevent it falling to the floor. (41) Harriet Scrope verfolgt ebenso erfolglos das gleiche Ziel, aber aus weit egoistischeren Gründen: um Charles anschließend den Ruhm der Entdeckung streitig zu machen und sich für „the marginal attention which academic critics paid to her“ (98) rächen zu können. Sie versucht „unsuccessfully to hang [it] in her living room“ (187), und als das Bild beim Herunterfallen den ausgestopften Kanarienvogel mit sich reißt, stürzt sich 299 Glomb (1997), 252. <?page no="114"?> 102 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton ihre Katze sofort auf diese „imitation“ (188): „art spills over into life, usurps it or becomes indistinguishable from it.“ 300 Wenn aber diese Versuche einer Bedeutungsfixierung Fehlschläge sind und sich nicht eindeutig etablieren lässt, „what is true and what is false“ (26), worin liegt dann die Möglichkeit der Befreiung aus dem „prison“ (46), die Charles erahnt? Die Antwort findet er auf seinem Sterbebett: „There is no past and no future, only this moment when I see them together“ (166). Nur in der unmittelbaren körperlichen und sinnlichen Erfahrung lässt sich eine existentielle Realität erfassen, aber sie lässt sich nicht kommunizieren: That is what I mean by its reality [...] It can only be experienced. It cannot be spoken of. [...] And yet the words for it still haunt us, pluck at us, fret us. (162) Auch Charles’ Sohn Edward vergewissert sich der Realität über seine Körperlichkeit. 301 Über die Echtheit von Philips Bart im Zweifel, bittet er ihn „Can I touch your beard“ (17), um dann eindeutig feststellen zu können „It is real“ (17). Körperliche Erfahrung als Zugang zur existentiellen Realität beschränkt sich aber nicht nur auf die Erfahrbarkeit von physischen Objekten; anders als Henry Wallis meint, gibt es eine Realität über die „visible things“ (139) hinaus: die Realität der Gefühle. Diese Realität entsteht aus dem Gefühl einer Gemeinschaftlichkeit heraus. Obwohl „the papers [...] imitations and the painting a forgery“ (231) waren, sind doch „the feelings they evoked in Charles [...] more important than any reality“ (231f) im Sinne einer objektiven Realität. Vivien, Edward und ihr „protector“ (225) Philip „keep the belief alive“ (232); die Mitglieder der Gemeinschaft werden zu Fixpunkten und zum Korrektiv, das den Weg aus dem postmodernen Dilemma der Beliebigkeit weist. Nicht zu verwechseln ist dies mit der romantischen Verklärung der Emotion und der Imagination als unmittelbar authentisch im ontologischen Sinne; die emotionale Konsensrealität der Gemeinschaft ist ein willkürlich gesetztes Sinnsystem und bietet somit per se keinen Zugang zur ‘wirklichen Wirklichkeit’. Und dennoch: „What matters more than the substance of truth is the process of truth seeking“ 302 , und das von Chatteron als am besten hierfür geeignet präsentierte Modell ist die Kombination von unmittelbarer körperlicher Erfahrung mit Setzungen der Gemeinschaft: ein permanentes Oszillieren zwischen einer existential reality auf der einen und cultural production auf 300 Finney (1992), 255. 301 Dieser Umstand, der ihn im Gegensatz zu seinem Vater befähigt das Porträt Chattertons sofort als Fälschung zu erkennen, lässt ihn weniger als „Charles altkluger Sohn Edward“ (Nünning (1994), 37) erscheinen, sondern vielmehr als von profunder Einsicht in die Problematik um die Erkennbarkeit von Realität. 302 Dana Shiller, „The Redemptive Past in the Neo-Victorian Novel“, in: Studies in the Novel 29: 4 (1997), 556. <?page no="115"?> Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 103 der anderen Seite. Wenn also Vivien, Edward und Philip gemeinschaftlich Charles’ emotionale Verbindung mit den gefälschten Chatterton- Manuskripten gleichsam authentifizieren, dann geschieht dies nicht aus dem Verlangen nach einer letztgültigen Wahrheit heraus, sondern kann als Produktion einer gleichsam nur lokal gültigen Wahrheit gewertet werden. Die angedeuteten Möglichkeiten der Vernetzung als Korrektiv zu den Gefahren der im Roman allgegenwärtigen Zerstörung vermeintlicher Sicherheiten stehen dabei prinzipiell jeder der Figuren offen; ihnen bleibt jedoch stets ein Element des potentiellen Scheiterns eingeschrieben. So bleibt Harriet Scrope in Beliebigkeit und Vereinzelung verhaftet. Körperliche Erfahrungen sind ihr ein Gräuel, „even though she enjoyed the prospect of eating, she detested the actual physical process“ (37), und ihr Egozentrismus verhindert ihr Teilhaben an einer Gemeinschaft. Selbst als sie sich kurz bemüht, sich in ihre Katze hineinzuversetzen, bleibt sie selbst doch das Zentrum ihrer Weltsicht: She closed her eyes for a moment and tried to imagine the cat world: there were walking shadows everywhere, and she saw the dark outline of one of her own shoes. (37) Der Ausweg aus den durch konsequentes Verfolgen dekonstruktivistischer Denkansätze resultierenden Auflösungs- und Entgrenzungserscheinungen, 303 den Chatterton anbietet, besteht also aus zwei Komponenten: einer solipsistischen Realität „[that] cannot be spoken of“ (162), und einer Konsensrealität, die erst durch die Kommunikation in der Gemeinschaft entsteht. Dieses Paradoxon findet seinen wohl deutlichsten Ausdruck in einem der Leitmotive des Romans, durch die „auf allen Zeitebenen thematisierte und dargestellte“ 304 letzte körperliche Erfahrung: dem Tod. Die existentielle Realität des Todes wird dabei nicht geleugnet. „There is death on every face“ (12), wie der Antiquitätenhändler Leno bemerkt, und auch Henry Wallis erkennt an, dass erst Merediths tatsächlicher Tod der arrangierten Sterbeszene eine unhinterfragbare Realität verleihen würde: „When you are lying dead upon the bed. Only then will it be real“ (138). Gleichzeitig kann die Darstellung des Todes jedoch nie seine existentielle Wirklichkeit erfassen; die Repräsentation verstellt den Blick auf das Repräsentierte. Sarah Tilts „The Art of Death“ (33), eine Untersuchung über „the imagery of death in all its manifestations“ (33) in der Kunst, ist damit symptomatisch für einen Verdrängungsprozess, um der Konfrontation mit der existentiellen Realität des Todes aus dem Weg zu gehen. Sie macht den Tod zu einem „spectacle“ (34), also zu einem Element der Kunst, denn alles 303 Vgl. Hartung (2000), 73. 304 Nünning (1994), 35 sowie Nünning (1999), 27. <?page no="116"?> 104 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton „that is written down immediately becomes a kind of fiction“ (40) und wird damit zum Teil der Kette des unendlichen Weiterverweisens; der Tod als Signifikat des Zeichens für den Tod tritt seinen Platz an ein anderes Zeichen ab. Durch den selbstreferentiellen Charakter des Zeichens verweist es nur noch auf sich selbst, und schützt so vor der Auseinandersetzung mit dem ‘echten’ Tod: „the final exposition of the subject resisted her. It would not stay still“ (34). Die Mauer der Repräsentation ist aber Schutz und Gefängnis zugleich, denn wenn sie nur durch eigene körperliche Erfahrung durchbrochen werden kann, also in diesem Falle durch das Ende der eigenen physischen Existenz, dann bedeutet paradoxerweise die Möglichkeit, diese Erfahrung zu machen, gleichzeitig ihr eigenes Ende und ist damit für die Lebenden nie zu ergründen: With a sudden sense of oppression he realised that this may have been the last thing Chatterton saw on earth, like a prisoner looking at the walls of his dungeon before he is led away . . . he closed his eyes and tried to imagine that last darkness. But he could not. He was George Meredith. He knew only the things George Meredith knew. There could be no escape for him yet. (139) Auch Chatterton selbst kann dies nicht leisten. Kunst erscheint hier als etwas, das existentielle Realität ausklammert, weil sie nicht repräsentiert werden kann. Was sie dagegen zu leisten vermag, ist, in einem selbstreflexiven Kommentar ihre eigenen Grenzen aufzuzeigen und gleichzeitig deutlich zu machen, dass diese Grenzen auch für vermeintlich nicht-fiktionale Gattungen gelten; Fiktion und Nicht-Fiktion gehen eine unentwirrbare Einheit ein. Mit der Einsicht, dass auch jeglicher Versuch der Darstellung von Realität den gleichen narrativen Regeln folgt, wird aber nicht die faktische, tatsächliche Existenz und Bedeutung von Vergangenheit, Tod und Realität geleugnet; vielmehr wird aufgezeigt, dass wir sie nicht erfassen können. Der potentielle Verdienst von Kunst und Literatur ist es also, grundlegende Kategorien der Wahrnehmung zu hinterfragen, alte Wahrnehmungsmuster zu durchbrechen und damit neue Perspektiven zu eröffnen. 305 5.6 Chatterton und der postmoderne Zerfall Chatterton kann insofern als ein typischer Roman der britischen literarischen Postmoderne 306 gewertet werden, als Struktur und Thematik von einem dichten Geflecht von inter- und intratextuellen Verweisen, dem 305 Vgl. Nünning (1999), 41. 306 Vgl. Nünning (1994), 29 sowie Nünning (1999), 43. <?page no="117"?> Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 105 ständigen Wechsel zwischen verschiedenen Handlungssträngen, Fragmentierung und der Auflösung von herkömmlich als feststehend empfundenen Kategorien durchzogen sind. Die ontologische Verunsicherung und die postmoderne „crisis of representation“, 307 die im Roman zum Ausdruck kommt, manifestiert sich auf allen Ebenen des Texts, und lässt seine Einordnung in ein starres Klassifikationsschema schwierig erscheinen. Chatterton vereint in sich Elemente der detective novel, des historiographischen Romans, der Metafiktion und der fiktiven Biographie und Autobiographie. 308 Und trotz der Repräsentationskrise und Indeterminiertheit, trotz der Formlosigkeit und des Verlusts von Tiefe und Selbst, scheint hier im Zeitalter der Beliebigkeit gleichsam ein Hoffnungsschimmer am Horizont zu stehen. Im suggerierten atemporalen Zusammentreffen von Charles Wychwood, George Meredith und Thomas Chatterton zeichnet sich die Chance ab, die postmoderne Leere doch noch füllen zu können, und setzt ein vorsichtig optimistisches Schlusszeichen unter die skeptischen Reflexionen über Möglichkeit und Unmöglichkeit von Sinn und Bedeutung: The silence that follows is never broken and now, when he looks up, he sees ahead of him an image edged with rose-coloured light. It is still forming, and for centuries he watches himself upon an attic bed, the rose plant lingering on the sill, the smoke rising from the candle, as it will always do. I will not wholly die, then. Two others have joined him - the young man who passes him on the stairs and the young man who sits with a bowed head by the fountain - and they stand silently beside him. I will live forever, he tells them. They link hands, and bow towards the sun. And, when his body is found the next morning, Chatterton is still smiling. (234) Die Schlussszene des Romans erinnert dabei stark an Hawksmoor; 309 sie ist im einen wie im anderen Fall von einem abrupten Perspektivenwechsel geprägt und der angedeuteten Präsenz von Figuren aus den diversen, auf verschiedenen Zeitebenen angeordneten Handlungssträngen. Im Gegensatz zu Hawksmoor wird jedoch der Realitätsstatus des Romanendes in Chatterton explizit relativiert: Chatterton träumt, kurz vor dem Tode stehend, einen „opium dream“ (233). Jedem der im Roman thematisierten Texte ist ein Element der Fälschung, des Plagiats oder der Pastiche eingeschrieben, 310 und auch die im Roman angelegte Autorenfiktion, die Philip 307 Hans Bertens, The Idea of the Postmodern: A History (London, New York: 1995), 11. 308 Vgl. Nünning (1994), 48 sowie Nünning (1999), 33. 309 Vgl. Onega (1999), 72. 310 Gleiches gilt für Chatterton als Roman des Autors Peter Ackroyd: „characters appear to merge into each other, and to mimic other characters, real and fictional. Fictions and histories are, to be polite, recycled, in Ackroyd’s novels. The more pejorative terms for much of what he does are pastiche and plagiarism, although he might ar- <?page no="118"?> 106 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton Slack als Urheber des Texts nahe legt, signalisiert den fiktionalen Status. Und anders als im Falle Nicholas Dyers, dessen Fortleben im 20. Jahrhundert nur als Wahnvorstellung Inspektor Hawksmoors plausibel erscheint, kann Chatterons Hoffnung nach Unsterblichkeit insofern als tatsächlich erfüllt gedeutet werden, als er innerfiktional als Inspirationsquelle für George Meredith und Charles Wychwood dient, und außerfiktional nicht zuletzt als Inspiration für Ackroyd. Chatteron stellt, wie Hawksmoor, in der Verquickung von fiktiven und fiktionalisierten historischen Figuren, Texten und Kunstwerken eine literarische Exploration der Grenze zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Geschichte und Geschichten dar. 311 Während in Hawksmoor aber zwei in radikaler Opposition zueinander stehende Diskurse konstruiert und bis zur völligen Auflösung gegeneinander ausgespielt werden, beantwortet Chatterton die Frage nach Originalität, Authentizität und Identität weniger radikal. Zwar wird die Unterscheidbarkeit von Originalen und Kopien, von Fakt und Fiktion und von authentischer Identität und konstruierter Biographie in Frage gestellt, 312 aber die Möglichkeit, den Auflösungsprozessen durch das Setzen von Fixpunkten - die gleichwohl arbiträr sind - Einhalt zu gebieten, bleibt zumindest grundsätzlich erhalten. Die Notwendigkeit dieses Einhaltgebietens verdeutlicht der Text mittels der Metapher des zerfallenden Porträts: Die physische Existenz des Individuums bleibt auch angesichts der Postmoderne eine endliche Existenz. Kontinuität und Kohärenz des individuellen Subjekts haben im Roman den Status von Fiktionen; sie sind nur durch narrative Konstruktionsprozesse nachträglich zu erreichen. Die Wirkmächtigkeit dieser Konstruktionen wird jedoch nicht in Abrede gestellt. Im Gegenteil: Die Aufmerksamkeit, die Chatterton, anders als Hawksmoor, der sozialen Komponente widmet, verweist auf den Einfluss von Identitätskonstruktion über den Einzelnen hinaus. So scheitert Harriet Scropes Identitätsbegehren letztendlich auch daran, dass es ihr nicht gelingt, in einen echten Dialog mit ihrer Umwelt zu treten. Das Diktum des anything goes wäre im Falle von Chatterton also vielleicht um den Zusatz „- but it might not be fun in the end“ zu ergänzen: Die Endlichkeit der individuellen Existenz nimmt dem Entlanggleiten an der Kette der Signifikanten das Element des immerwährenden Spiels. Trotz dieser Relativierung und der angedeuteten Möglichkeit, den Auflösungsprozess mittels arbiträrer Setzungen zumindest potentiell aufzuhalten, ist gue that he is rescuing or breathing new life into (literally resuscitating) the lines of others.“ Paul Smethurst (2002). 311 Vgl. Horstkotte (2004), 118. 312 Vgl. Nünning (1999), 45. <?page no="119"?> Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton 107 die Sicht des Textes auf das individuelle Subjekt und Identität eine radikale Dekonstruktion von Identität, die durch die Verknüpfung mit der Tiefenmetaphorik des sich auflösenden Porträts in gewisser Hinsicht noch deutlicher als in Hawksmoor ausfällt. Zur Verknüpfung von Identitätswahrnehmung und Tiefenmetaphorik merkt Homi K. Bhabha an: What is profoundly unresolved, even erased, [...] is that perspective of depth through which the authenticity of identity comes to be reflected in the glassy metaphorics of the mirror and its mimetic or realist narratives. Shifting the frame of identity from the field of vision to the space of writing interrogates the third dimension that gives profundity to the representation of Self and Other […]. From our point of view, this verticality is significant for the light it sheds on that dimension of depth that provides the language of Identity with its sense of reality - a measure of the ‘me’, which emerges from an acknowledgement of my inwardness, the depth of my character, the profundity of my person, to mention only a few of those qualities through which we commonly articulate our selfconsciousness. My argument about the importance of depth in the representation of a unified image of the self is borne out by the most decisive and influential formulation on personal identity in the English empiricist tradition. 313 [Hervorhebungen im Original] Der konvexe Spiegel, den Nicholas Dyer für seine „Art of Perspecktive“ (Hawksmoor, 92) nutzt und der als Metapher zum einen den Konstruktstatus seiner Vorstellung vom Verlauf der Zeit verdeutlicht und zum anderen die Spiegelung seiner Persönlichkeit auf Inspektor Hawksmoor kommentiert, verweist in seiner Eigenschaft als Spiegel auf das den beiden antagonistischen Diskursen eingeschriebene Element der mimetischen Abbildung von Realität; als Zerrspiegel kritisiert und unterläuft er genau diesen Anspruch. Diese Metapher ist also insofern für Hawksmoor eine zentrale, als ein Anliegen des Textes eine grundsätzliche Infragestellung des epistemologischen Potentials von Metaerzählungen ist. Wenn sich Chatterton im Gegensatz zu Hawksmoor insofern verstärkt den Implikationen poststrukturalistisch-postmoderner Denkansätze zuwendet, als der Text nicht zwei dichotom gegenübergestellte Sinnsysteme dekonstruiert, sondern die Auswirkungen dekonstruktivistischer Modelle selbst exploriert, dann erscheint die Metapher des Porträts als Palimpsest und die verbundene Oberflächen- und Tiefenmetaphorik als besonders geeignete Visualisierung der Problematik. Peter Ackroyds Chatterton bleiben die typischen Elemente des Karnevalesken, des Fragmentierten, des Indeterminierten und des postmodernen Sprachspiels eingeschrieben, die emblematisch beispielsweise in der Figur der Harriet Scrope angelegt sind. Im Kontext der ausgewählten Texte die- 313 Homi K. Bhabha, The Location of Culture (London, New York: 2002), 48. <?page no="120"?> 108 Originalität und Authentizität in Peter Ackroyds Chatterton ser Arbeit kann er jedoch als ein weiterer Schritt in Richtung der kritischen Selbstreflexion gedeutet werden, der sich nicht mehr allein mit dem ‘Vergnügen’ der Dekonstruktion zufrieden gibt, sondern die Tragweite der eigenen Prämissen deutlich werden lässt. Die Tendenz, dem solipsistischen Individualismus eines Nicholas Dyers oder einer Harriet Scrope eine dezidierte Absage zu erteilen und der postmodernen Isolation zumindest die Möglichkeit einer gangbaren Alternative gegenüberzustellen, setzt sich, wie im Folgenden gezeigt werden soll, in Milton in America weiter fort. <?page no="121"?> 6 Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America [...] thought processes do not grow out of simply natural powers but out of these powers as structured, directly or indirectly, by the technology of writing. Without writing, the literate mind would not and could not think as it does, not only when engaged in writing, but normally even when it is composing thoughts in oral form. More than any other single invention, writing has transformed human consciousness. 314 ‘Your name. You have a quill upon you head, and you can use one in your hand. You mentioned that you could write, did you not? ’ ‘I can wield a pen like a sword, sir.’ 315 In welchem Verhältnis stehen Sprachgebrauch und die Ausübung politischer Macht zueinander? Trifft die Prämisse des linguistic turn zu, dass „alle menschliche Erkenntnis durch Sprache strukturiert“ 316 ist, Sprache also die Sicht auf die Welt prägt und nicht umgekehrt, präformiert Sprache dann nicht auch die Strukturen sozialer Interaktion? Peter Ackroyds 1996 erschienener Roman Milton in America geht der Fragestellung nach, inwiefern die Technik und der Stil des Sprechens und Schreibens ein bestimmtes Weltbild und damit von vornherein bestimmte politische Optionen nahe legt oder gar bedingt. Auch Milton in America lässt sich, wie Hawksmoor und Chatterton, als dem von der literarischen Postmoderne bevorzugten Genre der historiographic metafiction zugehörig definieren, wendet sich aber von Ackroyds bevorzugtem Schauplatz London ab. Die Nutzung von und Auseinandersetzung mit fiktionalisierten historischen Persönlichkeiten und Ereignissen setzt jedoch einen Trend fort, den die beiden zuvor besprochenen Romane aufgezeigt haben. Protagonist von Milton in America ist mit John Milton einer der dominierenden Autoren im Kanon der englischen Literatur. Der Roman ist die 314 Walter Jackson Ong, Orality and Literacy (London, New York: 2004), 77. 315 Peter Ackroyd, Milton in America (London: 1997), 25. Im Folgenden durch Seitenangaben im Text zitiert. 316 Nünning (1998), 312. <?page no="122"?> 110 Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America narrative Exploration der Ereignisse, die nach Miltons fiktiver Flucht aus dem England der Restauration ins puritanische Neu-England stattfinden, wo Milton von Siedlern zum Gesetzgeber und de facto absolutistischen Herrscher eines neuen Gemeinwesens gemacht wird. Begleitet wird der blinde Dichter dabei von Goosequill, der ihm als Ersatz für sein Augenlicht und vor allem als Schreiber dient. Die Zweiteilung des Romans in „Eden“ (4) und „Fall“ (256) weist bereits darauf hin, dass mit Miltons Ankunft in Amerika eine zweite Vertreibung aus dem Paradies einhergeht: 317 Am Ende des Romans hat sich Miltons utopische Vision eines „glorious rising commonwealth“ (87) in den Kolonien in eine puritanische Schreckensherrschaft mit Milton selbst als autokratischem Herrscher verwandelt, 318 in der Eingeborene und Andersgläubige ohne Erbarmen verfolgt werden. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, wie in Milton in America Oralität und Literalität kontrastiv gegenübergestellt werden und welche Prämissen und Konsequenzen mit ihrem Gebrauch verbunden sind. Dabei wird deutlich werden, inwiefern die Konstruktion von Autoritätsverhältnissen diskursiv geprägt sind. Hierzu ist es jedoch zunächst einmal sinnvoll, einige Grundkonzepte der Mündlichkeits-/ Schriftlichkeitsproblematik näher zu beleuchten. 6.1 Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit Mündlichkeit und Schriftlichkeit können als Komponenten einer bipolaren Systematik beschrieben werden, die beiden Ausprägungen des Umgangs mit Sprache bestimmte, Bewusstseinsprozesse vorstrukturierende Merkmale und Eigenschaften zuschreibt. 319 Die resultierenden Mentalitätsunterschiede und Spannungen zwischen dominant oral und dominant literat geprägten Kulturen sind vor dem Hintegrund der so genannten neuen Medien im Rahmen einer Intermedialitätsdebatte kontrovers diskutiert worden und haben, nicht zuletzt durch die häufig auch über eben jene neuen Medien transportierten Stellungnahmen von Protagonisten wie Marshall McLuhan und Neil Postman, Eingang in die öffentliche Diskussion gefunden. Das Spannungsverhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist dabei nicht nur „durch ein konfliktträchtiges Nebeneinander und oft auch Gegeneinander mündlicher und schriftlicher Kulturpraktiken“ 320 in zeitgenössischen Schriftkulturen in synchroner Hinsicht von Interesse, 317 Vgl. Onega (1999), 150 sowie Hartung (2000), 99f. 318 Vgl. Hirsch (1998), 159. 319 Vgl. Nünning (1998), 406 und Ong (2004), 77ff. 320 Meinhard Winkgens, Die kulturelle Symbolik von Rede und Schrift in den Romanen von George Eliot (Tübingen: 1997), 3. <?page no="123"?> Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America 111 sondern auch im Hinblick auf die Mentalitätsgeschichte und historische Umbruch- und Übergangsphasen. 321 Obwohl Walter J. Ong in seinem Standardwerk Orality and Literacy die Bildung von Begriffen wie oral literature, die der grundsätzlich dichotomen Systematik von Schriftlichkeit und Mündlichkeit zuwiderlaufen, als „monstrous concepts“ und „preposterous terms“ 322 verurteilt, da sie primäre mit sekundären Phänomenen erklären und Differenzen potentiell einebnen, 323 scheint es dennoch nötig, im Hinblick auf die Untersuchung von Milton in America eine hybride Kategorisierung zu nutzen: konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Wenn sich Literatur der Thematisierung und Exploration von Mündlichkeit und Schriftlichkeit widmet, so bedient sie sich zwangsläufig immer eines schriftlichen Mediums. Mündlichkeit wird im Roman nachgeahmt, simuliert oder fingiert, Dialoge in schriftlichen Erzähltexten, und mögen sie im Einzelfall noch so realitätsanalog etwa durch dialektale, soziolektale oder idiolektale Markierungen wirken, sind niemals im eigentlichen Sinne ‘spontan’, ‘expressiv’, ‘prozeßhaft’, ‘vorläufig’, sondern grundsätzlich als ‘verdinglicht’, ‘endgültig’ und ‘festgelegt’ anzusehen. 324 Die Thematisierung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in Milton in America erfolgt über das Medium des Romans; konzeptionelle Oralität und Literalität ist eingebettet in mediale Schriftlichkeit. Miltons Sprechen ist tendenziell kein dialogisches Sprechen, sondern durch Monologe geprägt, deren Länge zum Teil mit einem „hourglass“ (87) gemessen werden muss. Seine Ansprachen sind wie Briefe konzipiert, grammatikalisch komplex, verfolgen kulturkonservatorische Ziele und beanspruchen Allgemeingültigkeit, und können so als von konzeptioneller Schriftlichkeit geprägt klassifiziert werden. 325 Im Gegensatz hierzu zeichnet sich Goosequills Sprachgebrauch auch in schriftlicher Form durch seine dialogische Struktur aus. In seinen Ausführungen lässt er dem Gesprächspartner Raum für Anmerkungen, um auf diese dann sofort einzugehen. Anders als im Falle Miltons sind Goosequills Äußerungen tendenziell situationsgebunden und meist an einen spezifischen Adressaten gerichtet, und darüber hinaus graphisch als Niederschrift eines Gesprächs gekennzeichnet: ⎯ I was not merry then, Kate, I can assure you of that. [...] All we have there are ditches. And whores. 321 Vgl. Winkgens (1997), 2f. 322 Ong (2004), 11. 323 Vgl. Ong (2004), 13. 324 Winkgens (1997), 33. 325 Vgl. hierzu Winkgens (1997), 49f. <?page no="124"?> 112 Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America ⎯ Goose! ⎯ I never touched them. (60) Dem Umstand, dass gesprochene und geschriebene Sprache „als Ableitungen des gleichen zugrunde liegenden Sprachsystems nicht durch absolute Differenzkriterien voneinander getrennt sind“ 326 und konzeptionell sowohl in medial mündlichen wie schriftlichen Äußerungen Niederschlag finden können, trägt Milton in America insofern Rechnung, als sich die für Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit stehenden Figuren innerfiktional gerade des jeweils anderen Mediums bedienen müssen. So kann sich John Milton, zum Zeitpunkt seines Aufbruchs in die Neue Welt „blind these past eight years“ (24), nur mit Hilfe von Goosequill, dessen telling name darauf hinweist, dass er von Milton als Instrument zum Niederschreiben seines „journal“ (37) und seiner „epistle[s]“ (39) benutzt wird, seinem bevorzugten Medium, also der Schrift, nähern. Ähnliches gilt für Goosequill. Zwar beansprucht er für sich, seine Gedanken ohne weitere Ausschmückungen und ohne die „elaborate and fixed grammar“, 327 die eines der zentralen Merkmale von Schriftlichkeit ist, niederzuschreiben, aber dennoch ist er nicht nur Miltons, sondern auch sein eigener Chronist. Die Unterschiedlichkeit der beiden Diskurse wird bereits im ersten Eintrag in den „maritime chronicle“ (37), den Goosequill im Auftrag Miltons führt und ohne dessen Wissen mit seinen eigenen Kommentaren versieht, 328 deutlich: ‘We must expect, said my reverend master, ‘a perpetual disturbance on this our dark voyage. Pass me that green ginger. [...] Recall to your mind that we are crossing fathomless and unquiet deeps.’ The ship was in such a roll that we were being tossed all around our quarters, and he clung to me to save himself from sprawling upon his arse. ‘But then we must concede, Goosequill, that in this fallen world all mixed and elemental things must struggle in contraries.’ At that he retched, and I quickly brought a pot for him to vomit up his bowels. (38; meine Hervorhebungen) John Miltons Reflexionen über die gemeinsame Reise in die Kolonien sind abstrakt, und stellen aus der konkreten Situation heraus ein allgemein gültiges Diktum auf. Seine Äußerungen lassen sich vom situativen Kontext lösen und setzen keine räumliche und zeitliche Einheit zwischen Sender und Empfänger der Nachricht voraus. Goosequills Anmerkungen dagegen sind in „situational, operational frames of reference“ 329 eingebunden: Seine 326 Winkgens (1997), 31. 327 Ong (2004), 38. 328 Goosequill ist also keineswegs lediglich „the blind man’s faithful scribe“ (Onega (1999), 148), sondern eine sehr viel komplexere Figur. 329 Ong (2004), 49. <?page no="125"?> Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America 113 Schilderung ist zwar ebenfalls über temporale und spatiale Distanz hinweg vermittelbar, bleibt aber nur unter gleichzeitiger Vermittlung des Kontexts verständlich. Im Gegensatz zu Milton haben Goosequills Ausführungen dabei kaum Anspruch auf Allgemeingültigkeit; sie sind an eine konkrete Körperlichkeit, „arse [...] vomit [...] bowels“ (38), gebunden und damit nur „minimally abstract in the sense that they remain close to the living human lifeworld.“ 330 6.2 John Milton: Auktorialer Erzähler der Welt Der Diskurs der medialen wie der konzeptionellen Schriftlichkeit erscheint, wie bereits angedeutet, als „‘context-free’ language“ und „‘autonomous’ discourse“, 331 der wegen der zeitlichen und räumlichen Distanz zu seinem Autor nicht in gleichem Maße direkt hinterfragt und angegriffen werden kann: The author might be challenged if only he or she could be reached, but the author cannot be reached in any book. There is no way to directly refute a text. After absolute and direct refutation, it says exactly the same things as before. This is one reason why ‘the book says’ is popularly tantamount to ‘it is true’. It is also one reason why books have been burnt. A text stating what the whole world knows is false will state falsehood forever, so long as the text stands. Texts are inherently contumacious. 332 John Milton überträgt diese Position der Unangreifbarkeit auf sein Sprechen, indem er dieses analog zu seinen Schriftstücken konzipiert: „I have heard him talk in chapters, Goose. In whole books. He is a library all to himself“ (103). Wird er einmal unterbrochen, so setzt er alles daran, dem Gesprächspartner sofort das Wort zu entziehen, um weiter monologisieren zu können. Dabei schreckt er vor physischer Gewaltanwendung nicht zurück: ‘Universal reproach, Goosequill, is far worse to bear than violence. Mechanics, citizens, apprentices-’ ‘I was one! ’ He put out his hand to stop me. ‘All will be corrupted by those blaspheming king’s men into an inconstant and imagedoting rabble. The honest liberty of free speech will become once more as dumb as any beast.’ ‘Beasts are never dumb, sir. They make enough noise in Smithfield to wake up your dead grandmother.’ He reached out to strike me. (48) 330 Ong (2004), 49. 331 Ong (2004), 77. 332 Ong (2004), 78. <?page no="126"?> 114 Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America Schlägt diese Strategie einmal fehl, weigert er sich schlichtweg, das Gespräch fortzusetzen, wie auch Ralph Kempis, der Anführer der Siedlung Mary Mount, in der Katholiken und Indianer friedlich zusammenleben, erfahren muss. Als er im Streitgespräch mit Milton die Oberhand zu gewinnen droht, entzieht ihm dieser mit der Bemerkung „Enough, I cannot dispute philosophy with a clown such as you“ (231) das Wort. Auf diese Weise ist Milton in der Lage, die Position analog zu einem allwissenden auktorialen Erzähler in seiner narrative einzunehmen, der zu scheinbar objektiven Schilderungen und Urteilen fähig ist und so die Interpretation durch den Rezipienten in entscheidendem Maße lenken kann. 333 In seiner Darstellung der Welt über den Diskurs der konzeptionellen Schriftlichkeit hält er somit eine gottgleiche Machtposition, die ihn in der Rolle des höchsten Richters erscheinen lässt, „I shall be judge of what is to be free“ (49, meine Hervorhebung), und von allen anderen unabhängig macht: „For all his democratic protestations, Milton in fact never listens to any of his followers or to Goosequill’s frequent criticisms.“ 334 Mit dem Diskurs der konzeptionellen Schriftlichkeit ist somit eine implizite Hierarchisierung verbunden. Milton bedient sich dieses Diskurses und wird zum Herrscher über das durch ihn vermittelte Universum aus Worten, das sein „full shape and volume“ erst „in his mind“ (10) gewinnt. Hier zeigt sich „the most generalizable effect of writing [...]: separation.“ 335 Mit der klaren Trennung von Subjekt und Objekt, die ihr Verhältnis zueinander anders als in einem Dialog nie umkehren können, ist der Schriftlichkeit eine Struktur inhärent, die sich besonders gut zur Konstruktion einer unumstößlichen master narrative eignet. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass Milton sich nach seiner Ankunft in der puritanischen Siedlung New Tiverton zuerst administrativen, 336 also ordnenden Aufgaben widmet: ‘Nothing in this world is more urgent and important for the life of man than rigour and control. Have you and your brethren considered my proposal for a general assembly? [...] Then we must settle matters of wages and of hire, of revenue and taxes. [...] A little English ordering, and we will tame all the wild things.’ (106) Die Ordnung, die Milton hier vorschwebt, ist insofern „English“ (106), als dass sie das englische Herrschaftsprinzip kopiert. Trotz seiner Forderung 333 Vgl. Franz K. Stanzel, Typische Formen des Romans (Göttingen: 1987), 18ff. 334 Onega (1999), 155. 335 Walter Jackson Ong, „Writing is a Technology that Restructures Thought“, in: Gerd Baumann (Hrsg.), The Written Word (Oxford: 1986), 36. 336 „Writing seperates ‘administration’ - civil, religious, commercial and other - from other types of social activities. ‘Administration’ is unknown in oral cultures.“ Ong (1986), 40. <?page no="127"?> Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America 115 nach „clear suffrage, vote and election“ (110) ist es Miltons erklärte Absicht „[to] leave England in order to be England“ (29) - eine Formulierung, die deutliche Assoziationen zum l’état c’est moi Gedanken der absolutistischen Monarchie weckt. In Neu-England gibt es zwar keine „false charters and tenures, [...] no lordships or privy counsels“ (102), und die Kolonien bieten somit die Hoffnung auf ein Land, das vollständig neu „invented“ (102) werden kann, aber der ‘Erfinder’ dieses neuen Eden ist John Milton und das Denken, das ‘durch ihn spricht’, und Milton verleiht ihm sogar seinen eigenen Namen: „New Milton“ (86). Seine Rechtfertigung der Unterdrückung der Ureinwohner gerät so zur Prophezeiung des Scheiterns seiner scheinbar „God-inspired task to create a replica of the Commonwealth in New England“; 337 der Diskurs, dessen sich Milton bedient, wird potentiell die Verhältnisse in England reproduzieren: ‘Can the Ethiopian change his skin, or the leopard his spots? Then ye may also do good, that are accustomed to do evil. Chapter thirteen, I believe, verse twenty-three.’ (94) John Miltons Umgang mit Sprache stellt sich so als self-fulfilling prophecy dar. Die implizite Hierarchisierung und Ordnung seines Sprachgebrauchs ist normativ 338 für sein Denken und Handeln und durch ihn als Sendboten der „Providence“ (29) in die Welt zu tragen. Findet er bereits bestehende Strukturen vor, die dem diskursiv eingeschriebenen Weltbild zuwiderlaufen, werden diese zerstört und durch die ‘richtige’ Ordnung ersetzt. Die erste Aufgabe bei der Gründung von New Milton ist folgerichtig die Schaffung von Ordnung in einer als ungeordnet erscheinenden Natur: die „brethren [...] began to erect fences and stake out boundaries“ (110). In Miltons Kräutergarten müssen die „herbs alphabetically“ (161) gepflanzt werden: In seinem obsessiven Ordnungs- und Kontrolltrieb überträgt er die Paradigmen der Schriftlichkeit auf die Natur. Die Unterscheidung von Richtig und Falsch ist dabei insofern unproblematisch, als dem Diskurs unumstößliche Dichotomien eingeschrieben sind: Subjekt ist stets Subjekt, und Objekt ist stets Objekt. In diesem Bild der Welt steht das Recht notwendigerweise immer auf der Seite des Subjekts, des center, und wird durch die beschützende „hand of God“ (36) garantiert. Damit ist der Diskurs der konzeptionellen Schriftlichkeit hier ein typisch kolonialistischer Diskurs, in dem die ‘Anderen’, Katholiken und Indianer, als inhärent schlecht, als „hellish crew“ (242) erscheinen. Die von Milton gebrauchte Terminologie, die dem „vile vermin“ (242) die „chosen race“ (242) gegenüberstellt, lässt dabei jeden, der außerhalb der „Particular 337 Onega (1999), 150. 338 Vgl. Ong (1986), 23. <?page no="128"?> 116 Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America Seperatist Elect“ (144) steht, als unmenschliches Wesen erscheinen. Damit erklärt sich auch, warum seine Reaktion auf die Nachricht, dass „the Indian women of Mary Mount [...] had married Englishmen and had borne them children“ (187), an Hysterie grenzt: Die Verbindung der „chosen race“ (242) mit der „wild race“ (133) hat für ihn den Stellenwert einer Vereinigung von Mensch und Tier und ist damit nicht nur „not right“ und „not wholesome“ (187), sondern erscheint als ein Verstoß gegen die Gesetze von Gott und Natur. Die Abklassifizierung der ‘Anderen’ und der biologische Determinismus, der hier zum Ausdruck kommt, ist dabei aufgrund der dichotomischen Ordnung der Welt notwendigerweise unumstößlich; eine Änderung am einen Pol der Struktur hätte in einem bipolaren System zwangsläufig eine Änderung am anderen Pol zur Folge. So muss Milton die Schilderung der Schöpfungsmythen der Indianer als Aberglaube abtun, obwohl sie frappierende Ähnlichkeiten zu seiner eigenen „true religion“ (231) aufweisen: ‘But they have also many strange relations of one Wetucks, a man who prophesied truly.’ ‘No doubt some devil’s pastime.’ ‘He walked upon the waters. He was said to have descended from heaven.’ ‘Another gaudy superstition.[...].’ (136) Der Bewertung der Gegner Miltons als „vermin“ (242), „[w]orms“ (31) und „slugs“ (31) kommt dabei in dreifacher Hinsicht Bedeutung zu. Zum einen werden, wie bereits angesprochen, seine Gegner metaphorisch auf die Ebene von niederen Tieren gestellt; sie erscheinen über die Assoziation mit der Gattung der Invertebrae als rückgratlos und besonders niedrige Stufe des Lebens. Zum anderen legt die Bezeichnung als worms und slugs die biblische snake oder serpent nahe, also die Manifestation Satans im Garten Eden. Von dieser Assoziationskette ausgehend wird auf einer dritten Ebene die mögliche Motivation für Miltons Handlungen angedeutet. Die Metaphorik von worm und snake schreibt über ihre phallische Komponente den Bereich der Sexualität den ‘Anderen’ zu. Damit muss John Milton seine eigene Sexualität unterdrücken, um die klaren Dichotomien seines Weltbildes aufrechterhalten zu können. Miltons Blindheit stellt sich so als Metapher für die Verdrängung des sexuellen Aspekts seiner Persönlichkeit dar; was nicht sein darf, wird von ihm nicht wahrgenommen. Als er sich, „set in an Indian trap“ (158) und in Todesangst, auf die unmittelbare körperliche Erfahrung der Welt einlässt, dem unterdrückten Teil seiner Psyche also mehr Freiraum lässt, wird er geheilt: I took a piece of bark and I ate it. I licked the moisture from the leaves and I drank it. [...] The world is still a wilderness of words and sighs, like the sighing of the trees. Such heat. Such cries. Here is copulation. [...] If I fall, I will be com- <?page no="129"?> Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America 117 forted by the slug and the spider. [...] Something is happening. My head was broken, and is now streaming with light. [...] I can see. (158f) Damit eröffnet sich, wenn auch nur scheinbar, ein „climactic moment when a great awakening is possible, when he can choose to kill and purge the false self.“ 339 Als er, von Indianern aus der Falle gerettet, an einer religiösen Zeremonie, dem „feast of dreams“ (274) teilnimmt, kommt es zur Katastrophe. Im Geschlechtsverkehr mit einer Indianerin, „[a] fair defect of nature“ (274), wiederholt sich für Milton die Vertreibung aus dem Paradies: Er kostet von der Frucht, die er sich selbst immer versagt hat, „the fruit that is the cause of all his woe“ (275) und die für ihn untrennbar mit den „hellish arts“ (276) der ‘Anderen’ verbunden ist. In der Konsequenz erscheint er sich selbst gegenüber als „tainted thing“ (276) und „[f]allen“ (277) und muss so sein persönliches „Eden“ (275) verlassen. Die erneute Ablehnung und Abkehr von seiner Körperlichkeit markiert die Wiederkehr seiner physischen und spirituellen Blindheit und gleichzeitig den Beginn seines Unterfangens „to raise an army of the Lord“ (242), um alles, was ihn an den paradoxen Moment seiner Schwäche und Erleuchtung erinnern könnte, restlos zu zerstören: I am plunged in night and darkness. God in heaven, what is this? Eleazar, I am stark blind again. I cannot see. Oh God, sir, please, no. [...] Dark. Dark. Dark. Dark still. This is the end. This is the beginning of all our woe. (277) Der persönliche Sündenfall Miltons wird so zur Grundlage der Zerstörung des „land of Canaan“ (69), das die Neue Welt für ihn zu Beginn darstellte. Die solipsistische Qualität des Schriftlichkeitsdiskurses, die den Autor gleichsam auf sich selbst zurückwirft, bedingt, dass der von ihm konstruierten Meistererzählung seine eigenen Ängste fest eingeschrieben sind: Extratextual context is missing not only for the reader but also for the writer. Lack of verifiable context is what makes writing normally so much more agonizing an activity than oral presentation to a real audience. […] Even in a personal diary addressed to myself I must fictionalize the addressee. Indeed, the diary demands, in a way, the maximum factionalizing of the utterer and addressee. […] The kind of verbalized solipsistic reveries it implies are a product of consciousness as shaped by print culture. 340 Milton selbst ist „the serpent“ (213) und für den Sündenfall, „the conversion of the Holy Land into the Bloody Land“, 341 verantwortlich. 339 Onega (1999), 168. 340 Ong (2004), 100f. 341 Onega (1999), 163. <?page no="130"?> 118 Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America 6.3 Goosequill: Dynamik und Dialog Anders als Milton, dessen Weltbild ein statisches ist, und dem im Zweifelsfall die ‘Realität’ angepasst wird und nicht umgekehrt, erscheint Goosequills Sicht der Dinge dynamisch und veränderbar, und hat doch gleichzeitig ein konservatives Element. 342 Im Dialog mit seiner Frau Kate reminiszieren beide immer wieder über die alte Heimat: ⎯ Not as large as our Devon hills, then? They are beautifully made, Goose. I miss them. ⎯ We have only a few hills in London, Kate, but we have Cornhill. (69) Dennoch ist er durchaus bereit, sich auf die Neue Welt einzulassen und nicht einfach traditionelle Paradigmen auf sie zu übertragen. Das unbekannte ‘Andere’, wie der Katholizismus, ist für ihn nicht subversiv: „there is no harm in it“ (189). Für Goosequill und Kate ist derjenige Glaube der richtige, welcher der konkreten Situation am ehesten gerecht wird und den größtmöglichen Nutzen verspricht. Als ihr Kind erkrankt und ein indianischer „powwow“ (189) Hilfe verspricht, bemerkt Kate: „If they can cure this pain [...] I will worship sticks or stones or anything.“ (189) Dabei verleugnen sie jedoch nicht, dass ihre Wurzeln in England liegen, und das wird ihnen im Dialog auch gar nicht abverlangt: Der indianische Heiler begrüßt sie „in English“ (189) und versteckt durch den Gebrauch der englischen Sprache seine Herkunft ebenso wenig, denn anders als Miltons „Praying Indians“ (92) benutzt er immer noch „Indian words“ (189). Goosequill und der „powwow“ (189) sind also bereit, im Dialog aufeinander zuzugehen und Elemente aus der Lebenswelt des anderen zu übernehmen; eine unumstößliche dichotome Differenzierung existiert hier nicht. Goosequills konzeptionell mündlicher Diskurs führt also weniger zu einem dogmatischen Weltbild; vielmehr ist er in der Lage, neue Elemente additiv in seine Anschauungen zu integrieren. 343 Er ist weniger dazu geneigt, einzelne Erfahrungen und Bereiche auszugrenzen, wie sich in der Kontrastierung seines und Miltons Umgang mit Körperlichkeit und Sexualität besonders deutlich zeigt. Körperliches Verlangen ist für Goosequill integraler Bestandteil seines Wesens und durchaus gleichberechtigt zur ratio. Auf der einen Seite geraten die Schilderungen seiner Reise bei näherer Betrachtung zu einem akkuraten Psychogramm John Miltons; Goosequill erkennt, dass Milton seine innerpsychischen Konflikte in sein Weltbild einschreibt: 342 Vgl. Ong (2004), 41. 343 Vgl. Ong (2004), 37f. <?page no="131"?> Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America 119 Oh, the world is his wilderness. He is a disappointed man. [...] You know, Kate, there are times when I find him by the window, looking towards the sky. I could swear then that he sees something. [...] And sometimes he makes a motion with his hand, as if he were writing something down. (140) Zum anderen werden diese Reflexionen jedoch immer wieder von sexuellen Anspielungen unterbrochen. Im unmittelbaren Anschluss an die Einsicht in Miltons Solipsismus erinnert er Kate an eine ihrer ersten gemeinsamen sexuellen Begegnungen: ‘Can you do me the pleasure of singing a little, Kate? [...] What about that old favourite, „Comfort Me with Apples? “ So you warbled, while I closed my eyes and lay back upon the ground. I had never heard a lovelier song in all my life. You know what happened next? ’ ⎯ Goose. Say nothing more. ⎯ Why put your fingers up to your ears? It was all perfectly natural. I took you by the waist, and lowered you very gently. (141) Goosequills Ausführungen sind weniger von Linearität und einer klaren analytischen Vorgehensweise bestimmt, 344 sondern immer wieder durch thematisch abweichende Einschübe unterbrochen. Der Titel des Liedes, um das Goosequill Kate bittet, ist dabei bezeichnend: Das Kosten des metaphorischen Apfels, der verbotenen Frucht und hier Symbol für den Geschlechtsakt, bedeutet für Goosequill „Comfort“ (141), also gleichsam das Paradies, für Milton jedoch die Vertreibung aus demselben; die Passage verweist so auf semantische Offenheit und die perspektivische Abhängigkeit von Interpretation. Trotz seiner profunden Einsichten in die Psyche anderer Figuren und seiner Bereitschaft, neue Elemente in sein Weltbild zu integrieren, tritt in Goosequills Ausführungen und Verhalten immer wieder seine Konfliktbereitschaft zu Tage. Dies überrascht insofern, als die Fähigkeit und vor allem Bereitschaft zur Adaption auch auf eine Strategie zur Konfliktvermeidung schließen lassen könnte. Tatsächlich aber ist Goosequills agonistische Grundtendenz eines der konstitutiven Merkmale des Mündlichkeitsdiskurses. 345 Nur im Dialog zwischen zwei Gleichberechtigten kann ein echtes Streitgespräch zustande kommen; im Diskurs der Schriftlichkeit dagegen ist das scheinbare Wechselspiel von Argument und Gegenargument „a kind of imitation talking“, 346 das den Autor stets auf sich selbst zurückwirft und die apodiktische und dichotome Trennung von Subjekt und Objekt prinzipiell unmöglich macht. 344 Vgl. Ong (2004), 40. 345 Vgl. Ong (2004), 43f. 346 Ong (2004), 101. <?page no="132"?> 120 Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America Als Goosequill Milton gegenüber sein Recht auf „free speech“ (48) einfordert und dieser mit der Bemerkung „I shall be the judge of what is to be free“ (48) antwortet, zeigt sich also nicht nur eine Meinungsverschiedenheit, sondern die fundamentale Differenz der beiden Diskurse. Für Goosequill ist Freiheit die Möglichkeit zum Dissens; für Milton dagegen die Akzeptanz einer Hierarchie, in der er selbst an der Spitze steht. Die Metapher des Richters, der er sich hierbei bedient, weist darauf hin, dass Freiheit nur dasjenige sein kann, was auch gerecht ist. Gerechtigkeit aber bedeutet für ihn „the sweet rule of Aristotle“ (252): „equality for equals, and inequality for unequals.“ 347 Da er aber allein die Position im Zentrum seines solipsistischen Weltbildes einnimmt, ihm also niemand gleichwertig sein kann, erscheint das von ihm propagierte repressive hierarchische System als moralisch gerechtfertigt und gegen Einsprüche immunisiert, und damit paradoxerweise als frei. Ebenso paradox ist Goosequills Position, die alle lebensweltlichen Erfahrungen unter agonistischen Gesichtspunkten bewertet, wie im Dialog mit Kate immer wieder deutlich wird: ⎯ Like the body of a girl. But not so soft and pleasing to touch as yours, Kate. ⎯ Do stop stroking me. And pass me the thread, if you please. I must occupy myself while you talk. ⎯ I know how I could occupy you, Kate. ⎯ Goose! Stop it. (76; meine Hervorhebung) Neben dem offensichtlichen Wortspiel und der deutlichen sexuellen Komponente weist die militärische Metaphorik auf die Bewertung des Lebens als ständigen Kampf hin. Damit aber geht im Gegensatz zu Miltons Denken, das alles, was außerhalb der hierarchischen Ordnung steht, ignoriert, eine implizite Anerkennung der Tatsache einher, dass andere Positionen und Vorstellungen als die eigenen möglich sind. Diese anderen Positionen gilt es zu besetzen und für sich einzunehmen, und nicht etwa zu vernichten. Goosequills Weltbild bedeutet eine von Dynamik geprägte Perspektive auf die Welt, die sich, indem Goosequill die Position des Dialogpartners zu seiner eigenen machen kann, an die Erfordernisse der Situation anpassen lässt: ⎯ Goose, you never said anything of this. You are inventing it. We never spoke so. You asked me my name and then you just stood there whistling and shuffling your feet. Do you remember that patchwork coloured coat you wore then? You had pinned a flower to it and you kept your hat pushed back upon your head. ⎯ That was so I might twirl my hair. It was ever so flourishing in those days. ⎯ Do you mind that I cut it and make it neat? 347 Onega (1999), 160. <?page no="133"?> Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America 121 ⎯ No. Not at all. Especially when I can lay my head upon your lap, just so, and you can stroke it for me. (91) Was für ihn im Privaten gilt, bestimmt auch sein Handeln in größeren sozialen Zusammenhängen. Während Milton „the subversive nature of the carnivalesque spirit reigning in the neighbouring settlement“ (159), Mary Mount, als Bedrohung empfinden muss, die notfalls mit physischer Gewalt zu bannen ist, eröffnet sie für Goosequill über die Konfrontation mit dem Unbekannten die Möglichkeit, neue Elemente in sein Weltbild zu integrieren; er ist bereit, Fremdes als Vertrautes aufzunehmen und so seinen Horizont zu erweitern. So birgt die Neue Welt für ihn tatsächlich die Hoffnung auf das Wiedererlangen des Paradieses: „‘Well, Kate,’ he said, after kissing her many times, ‘there is a new world after all. [...] Oh, Kate, it was wondrous! ’“ (179). 6.4 Mechanismen der Relativierung Sowohl Goosequill als auch Milton erfahren also durch den Diskurs der konzeptionellen Oralität beziehungsweise Literalität Prägungen, die richtungweisend für ihr jeweiliges Weltbild und die ihnen zur Verfügung stehenden politischen Optionen sind. In der Bewertung der beiden Paradigmensysteme auf der Figurenebene ist Milton in America eindeutig. Die „Particular Seperatist Elect“ (144) erscheinen als „sickly pale“ (84), und Milton ist stets in einer „black gown“ (130) gekleidet, die über ihre Farbe Ernsthaftigkeit, aber auch Trauer und Tod symbolisiert: „there was so little gaiety and so little colour in New Milton that sometimes it seemed [...] to be no more than a patch of shaddow upon the flourishing green land“ (170). Häufig wird er mit Begriffen wie „woe“ (5) und „darkness“ (277) assoziiert, und seine strikte Ablehnung von Lebenslust erscheint im Lichte seiner Erlebnisse im Rahmen des indianischen „feast of dreams“ (274) bestenfalls als hypokritisch. Und obwohl er den Monarchiegedanken vehement ablehnt, ist er doch de facto ein absolutistischer Tyrann. Die Tatsache, dass er von Goosequill als „grand as a sultan“ (115) und „His Majesty“ (90) bezeichnet wird, legt neben dem Verweis auf die autokratischen Züge seiner Herrschaft ein satanisches Element nahe; great sultan und monarch sind Synonyme für den Teufel in Paradise Lost. 348 Dem kontrastiv gegenübergestellt sind die Bewohner Mary Mounts, denen sich Goosequill, von Milton zutiefst enttäuscht, anschließt. Sie sind farbenfroh gekleidet, „in the strangest mixture of striped breeches, wide shirts and feathered caps“ (183) und erwecken bei den Puritanern den Ein- 348 Vgl. Onega (1999), 164. <?page no="134"?> 122 Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America druck eines „walking maypole“ (205); eine Assoziation, die Fröhlichkeit, Ausgelassenheit und Tanz nahe legt. Ihr Anführer, Ralph Kempis, ist die Antithese John Miltons: Er ist „of sanguine humour“ (165) und „very large and ruddy like a bowl of cherries“ (165), während Milton als blässlich „white“ (76) und mit „the body of a girl“ (76) als körperlich klein und zart charakterisiert wird. Während Milton im Verlauf des Romans immer diabolischere Züge annimmt, bis er schließlich die Abschlachtung seiner Gegner als „sweet sacrifice“ (271), als Menschenopfer, zelebriert, verweist Ralph Kempis’ telling name auf seine angelic origins. His name simultaneously evokes Raphael (the archangel God sent to warn Adam and Eve of the impeding arrival of Satan), and Thomas à Kempis (1380-1471), the supposed author of De Imitatione Christi. 349 Während also auf der Figurenebene die Sympathielenkung eindeutig zugunsten von Goosequill und der mit ihm verbundenen konzeptionellen Mündlichkeit verläuft, betont Milton in America als Ganzes dennoch, dass beide Weltanschauungen nur Konstrukte sind und damit, wenn man von einer moralisch-ethischen Bewertung absieht, zunächst prinzipiell gleichwertig sind. John Miltons und Goosequills Weltbilder sind, wie gezeigt, grundlegend vom Diskurs der Mündlichkeit und Schriftlichkeit geprägt; die damit verbundenen Prämissen, die das Fundament ihrer jeweiligen ideologischen Prägung sind, sind aber nicht a priori moralisch gut oder schlecht. Konsequenterweise erfolgt deswegen die Relativierung und Entlarvung der Diskurse als Konstrukte nicht nur auf der thematischen, moralisch wertenden Ebene des Romans, sondern auch auf struktureller Ebene. 350 So weist die Erzählsituation der auf die Erlebnisse John Miltons konzentrierten Kapitel über die Kontrastierung mit der Meistererzählung, die er seinem Handeln zugrunde legt, auf deren Fiktionsstatus hin. Während die Meistererzählung normativen Anspruch hat, dem Milton über die Einnahme der Position eines auktorialen Erzählers die Illusion von Objektivität verleiht, tritt Milton hier als Ich-Erzähler auf. Die mit dieser Erzählsituation verbundene Perspektivierung und der Distanzverlust zum geschilderten Geschehen 351 reproduzieren die Struktur von Miltons Weltbild; er selbst steht im Mittelpunkt des Geschehens und „verifiziert hier also nicht die Objekt-Existenz der Welt, [...] sondern ihre Subjektivität.“ 352 349 Onega (1999), 164. 350 Vgl. Onega (1999), 153f. 351 Vgl. Stanzel (1987), 30f. 352 Stanzel (1987), 30. <?page no="135"?> Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America 123 Die von ihm propagierte metanarrative zeigt sich so als seine persönliche Interpretation der Welt und verliert dadurch ihren Absolutheitsanspruch. Die narrative Umsetzung von Goosequills Gesprächen mit Kate, in denen seine Verbundenheit mit dem Diskurs der konzeptionellen Mündlichkeit besonders deutlich wird, fungieren in ganz ähnlicher Weise, um auch seine Position graphisch abzusetzen und als Teil eines fiktionalen Texts zu markieren. Hier tritt der Erzähler vollständig in den Hintergrund; die „‘familiar conversation’ [...] in the tradition established by Utopia“, 353 Thomas Mores für die Gattung der Utopie namensgebendem Roman, erinnert vielmehr an einen dramatischen Haupttext. 354 Durch die Ausblendung des Erzählers wird hier im Kontext des Romans völlige Objektivität insofern suggeriert, als zwischen Rezipienten und Figurendialog keine vermittelnde Instanz mehr zu stehen scheint. 355 Auf der Figurenebene ist das krasse Gegenteil der Fall; Goosequill betont immer wieder insbesondere die Subjektivität seiner Position, die situativ in den Dialog eingebunden ist. 6.5 Das verlorene Paradies Trotz der strukturellen Relativierung, die beide Diskurse in ihrer Konstrukthaftigkeit als grundsätzlich gleichwertig erscheinen lässt, bezieht Milton in America bezüglich der beiden thematisierten alternativen Weltbilder dennoch eine moralisch-wertende Position. Während die Figur der Harriet Scrope in Chatterton vor den Gefahren einer postmodernen Beliebigkeit warnt, führt die Figur John Miltons die Gefährlichkeit der antithetischen Geisteshaltung vor. Sein Denken in strikten Dichotomien und Absoluta stürzt das potentiell paradiesische Neu-England ins Chaos und ist damit ursächlich für Repression und Verfolgung. Milton in America reproduziert damit den plot von Paradise Lost, das in der Welt des fiktiven Milton nie geschrieben wurde: 356 Milton/ Satan, nach einem Kampf aus England/ dem Himmel vertrieben, reist nach Neu- England/ Eden, um dieses zu korrumpieren und zu zerstören. 357 Die Tatsache, dass die diskursive Prägung Miltons, die ihn selbst ins Zentrum der Welt rückt und alles ‘Andere’ marginalisiert, untrennbar mit seinem ethisch verwerflichen und grausamen Handeln verbunden ist, verleiht dem Roman die Anmutung einer düsteren, dystopischen Warnung vor allen Ausprägungen totalisierender Diskurse. Insbesondere der biblische My- 353 Onega (1999), 154. Vgl. auch Hartung (2002), 100. 354 Vgl. Manfred Pfister, Das Drama (München: 1988), 30f. 355 Vgl. Pfister (1988), 19ff. 356 Vgl. Hirsch (1998), 159f. 357 Vgl. Onega (1999), 150. <?page no="136"?> 124 Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America thos des Sündenfalls und das ihm eingeschriebene phal(logo)zentrische Element wird dekonstruiert: Der Sündenfall liegt jetzt nicht mehr bei der Frau, sondern in der Umkehrung der biblischen Geschichte und ihrer literarischen Deutung durch den historischen Milton bei dem Mann. Es ist der fiktionale Milton, der den Einflüsterungen „Satans“ nicht widerstehen kann und dadurch an sich selbst schuldig zu werden glaubt und mit diesem Glauben tatsächlich schuldig wird an der Nichteinlösung des eutopischen Traums. 358 Dennoch deutet sich in Milton in America eine Perspektive der Hoffnung an: Der junge Gelehrte Thornton verfasst in Harvard ein episches Gedicht, dessen Titel „Paradise Regained“ (252) in Aussicht stellt, dass auf den metaphorischen Verlust des Paradieses unter der Herrschaft Miltons letztendlich die Rückeroberung Edens folgen wird. 359 Bezeichnenderweise ist „Paradise Regained“ (252) dabei in „heroic verse without any rhyme“ (252), also in „the measure of Homer and Vergil“ (252) gehalten: Die Reimlosigkeit weist über ihre größere Nähe zum alltäglichen Sprechen als beispielsweise „rhyming iambics“ (252) auf den Diskurs der konzeptionellen Mündlichkeit hin, und der Verweis auf Homer und Vergil weckt Assoziationen von Mythos und Heidentum, also von Gegenentwürfen zu Miltons Puritanismus. John Miltons Rede vor dem Kollegium in Harvard, von ihm als Hinweis auf „the occassion of my journey to them“ (252) intendiert, gerät so zur hoffnungsvollen Prophezeiung über das Ende seiner eigenen Schreckensherrschaft: „Populum nostrum tyrannicide pressum, miserati (quod humanitas gratia faciunt), suis viribus Tyranni iugo et servitute liberent“ (252). 360 Milton in America zeigt die fundamentale Bedeutung von internalisierten Diskurssystemen für weltanschauliche Konzeptionen und die daraus erwachsenden Implikationen für soziale Ordnung und politisches Handeln auf. Über die Schaffung eines Raumes, „wo unverträgliche Zeiten, Stätten, Ideologien, Kulturen, literarische Strategien und Genres, Parodie und exemplarisches Schreiben eine Verbindung eingehen können“, 361 wird der Konstruktcharakter dieser grundlegenden Wahrnehmungsraster beleuchtet und thematisiert. Die Zulassung und Anerkennung von Gegenpositionen, die Goosequill prägt, ist dabei ebenso wenig eine ‘natürliche’ Haltung wie Miltons christlich-eurozentrisch-koloniale metanarrative, sondern wird 358 Hirsch (1998), 160. 359 Vgl. Onega (1999), 173. 360 Etwa: Unser Volk, von den Elenden zum Tyrannenmord gedrängt (weshalb die Menschheit ihnen Dank erweist), hat seine Bürger aus dem Joch und der Sklaverei des Tyrannen befreit. 361 Hirsch (1998), 125. <?page no="137"?> Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America 125 vielmehr als im Diskurs der konzeptionellen Mündlichkeit angelegt dargestellt. 6.6 Milton in America und postmoderne blinde Flecken Im direkten Vergleich mit den beiden früheren historiographischen Metafiktionen Hawksmoor und Chatterton ist festzuhalten, dass Milton in America weitestgehend auf die für die beiden anderen Texte prägende Verflechtung der Zeit- und Raumebenen verzichtet; Raum und Zeit dienen im jüngeren Roman nicht primär als Mittel zur Dekonstruktion rationalistischer und mimetischer Diskurse, sondern vor allem zur Verankerung des alternativhistorischen plots. 362 Dennoch stellt sich Milton in America mit der Darstellung von und Auseinandersetzung mit grundlegenden epistemologischen Fragestellungen in die im Rahmen dieser Arbeit zu zeichnenden Entwicklungslinie, bedient er sich doch literarischer Techniken wie der metafiktionalen Reflexion, der Fragmentierung des Texts, der Darstellung von Intermedialität und der multiperspektivischen Erzählung, 363 die für die literarische Postmoderne im Allgemeinen und Ackroyds Romane im Besonderen als prägend gelten können. Thematik und plot von Milton in America muten zunächst bei weitem nicht so experimentell an wie in Chatterton und insbesondere Hawksmoor, deren fantastisches Element bestimmend für ihre explorativen Transgressionen der Grenze literarischer Genres, von Fakten und Fiktionen, Geschichte und Geschichten sowie Rationalität und Irrationalität ist. 364 In der Thematisierung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und von mit dem Sprachgebrauch eng verbundenen diskursiven Effekten ist Milton in America aber insofern nicht weniger radikal als seine Vorgängertexte, als sich der Roman mit der thematischen Hinwendung zu Fragen von Sprache und deren Gebrauch dem zentralen Thema der poststrukturalistischpostmodernen Debatte zuwendet. Folgt man der Prämisse, dass der Mensch unentrinnbar in die Sprache eingebunden ist, und nicht der Mensch den Diskurs, sondern gleichsam der Diskurs den Menschen spricht, dann ist die Auseinandersetzung mit Sprache die grundlegende Fragestellung, und die Diskussion des ontologischen und epistemologi- 362 Vgl. Hartung (2002), 100. 363 Vgl. hierzu Vera und Ansgar Nünning, „Von ‘der’ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte: Überlegungen zur Definition, Konzeptualisierung und Untersuchbarkeit von Multiperspektivität“, in: dieselb. (Hrsg.), Multiperspektivisches Erzählen: Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts (Trier: 2000), 3-38. 364 Vgl. Horstkotte (2004), 124ff. <?page no="138"?> 126 Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America schen Stellenwerts beispielsweise des in Hawksmoor konstruierten Rationalismusdiskurses gleichsam eine sekundäre. Zwar werden auch in Milton in America wie in Hawksmoor zwei antagonistische Weltanschauungen in Form eines puritanisch-restriktiven Protestantismus und eines liberalen Katholizismus gegenübergestellt und [i]n der Gegenüberstellung von protestantischer und katholischer Weltsicht in Milton in America zugunsten letzterer werden die positiven Aspekte, die Ackroyd in einer Auflösung eines individualistischen Identitätsbegriffs sieht, mit der größeren Wandelbarkeit, Integrationsfähigkeit und Assimilierbarkeit der Tradition der katholischen Siedler bezüglich des neuen Landes und Lebensraums assoziiert. 365 Diese beiden Weltanschauungen stehen aber insofern nicht im Mittelpunkt des Interesses, als Restriktivität bzw. Liberalität nicht als die Folge religiöser Weltanschauungen, sondern als Effekt des grundlegenden Mündlichkeitsbzw. Schriftlichkeitsdiskurses dargestellt werden. Allerdings ist an dieser Stelle nochmals zu betonen, dass beide Diskurse nicht etwa als trennscharf, sondern als ineinander übergehend konstruiert werden; sie sind „als Ableitungen des gleichen zugrunde liegenden Sprachsystems nicht durch absolute Differenzkriterien voneinander getrennt.“ 366 Eben diese Anerkennung eines grundlegenden Systems markiert die Differenz zwischen Milton in America einerseits, und Hawksmoor und Chatterton andererseits. Während letztere über die argumentative Anknüpfung an traditionelle Dichotomien Gefahr laufen, selbst wieder neue Dichotomien zu produzieren und letztlich in einem undifferenzierten Verallgemeinerungsdenken zu münden, kann Milton in America als programmatisches Plädoyer für eine Abkehr vom Denken in binären Oppositionen gewertet werden. So gedeutet ließe sich Milton in America in den Kontext einer „medien- und kulturhistorischen“ Perspektive auf Mündlichkeits- und Schriftlichkeitsphänomene einordnen, und stellt zugleich einen impliziten, kritischen Kommentar auf die im Rahmen dieser Arbeit vorgestellten Romane Ackroyds dar: Einem mit binären Oppositionen und idealtypischen Kontrastierungen arbeitendem Denken begegnen die Protagonisten dieser Richtung mit grundsätzlicher Skepsis, da aufgrund solcher die Erkenntnis leitenden Vorannahmen sowohl die historische Wirklichkeit verfehlt als auch eine illusorische, oft von ideologischen und ethnozentrischen blind spots zeugende Ordnung vorgetäuscht werden. 367 365 Hartung (2002), 103. 366 Winkgens (1997), 31. 367 Winkgens (1997), 54. <?page no="139"?> Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America 127 Bezogen auf den Versuch, eine Entwicklungsreihe vom postmodernen Auflösungsexperiment zur „Rückkehr zu Sinnbildungsprozessen“ und der „Hinterfragung und Neukonstitution von Werten und Moralvorstellungen nach dem Ende der Metaerzählungen“ 368 in den Romanen Ackroyds nachzuzeichnen, stellt Milton in America also einen entscheidenden Schritt dar, zeigt der Roman doch metakritisches Potential und impliziert ein Bewusstsein für die eigenen blind spots. Miltons Blindheit als Metapher für die jedem totalisierenden, also auch dem dekonstruktivistischen, Diskurs eingeschriebenen blinden Flecken steht die Vielstimmigkeit und Polyperspektivität des Romans selbst als Gegenentwurf gegenüber. Wenn am Ende des Romans statt eines „glorious commonwealth“ (87) für Milton nur Isolation und Einsamkeit übrig bleiben („The blind man wandered ahead and, weeping, through the dark wood took his solitary way“ (277)), dann resultiert dies nicht zuletzt aus seiner (metaphorischen) „single vision“, 369 die neben sich keine Gegenkonzeption duldet und dulden kann; es „gibt hier keine Assimilation, keine inspirierte und imaginative Annäherung.“ 370 Die Einnahme nur einer unveränderlichen Perspektive wird vom Roman als epistemologisch völlig unzureichend dargestellt. Obwohl sich der Roman auf die Figur Miltons und seine Entwicklung konzentriert, zeichnen nicht etwa Miltons Briefe und Tagebucheinträge allein ein angemessenes Bild der Ereignisse, sondern nur der Text als Ganzes, mit seinen ständigen Wechseln von Erzählperspektiven und der Transgression von Genre- und Gattungskonventionen. 371 In der Reihe der im Rahmen dieser Arbeit vorgestellten Texte markiert Milton in America einen allmählichen Übergang vom ‘diffusen’ zum ‘präzisen’ Postmodernismus. 372 Während in Hawksmoor zunächst zwei Diskurse dekonstruktivistisch gegeneinander ausgespielt werden, um letztendlich doch dichotomische Strukturen zu reproduzieren und den rationalistischen Diskurs dadurch implizit zu stützen, dass das Gegenmodell kein befriedigendes Deutungspotential anbietet, kann hier die Darstellung als differenzierter gewertet werden. Das Anliegen des Texts ist weniger ein Ausspie- 368 Hartung (2002), 118. 369 Onega (1998), 76. 370 Hartung (2002), 101. 371 Also von postmoderner Hybridisierung im Sinne Ihab Hassans: „Hybridization, or the mutant replication of genres, including parody, travesty, pastiche. The ‘dedefinition,’ deformation, of cultural genres engenders equivocal modes: […] a promiscuous category of ‘para-literature’ or ‘threshold literature,’ at once very young and very old. Cliché and plagiarism (‘playgiarism,’ Raymond Federman punned), parody and pastiche, pop and kitsch enrich re-presentation.“ Hassan (1987), 170. 372 Vgl. Welsch (1997), 3f. <?page no="140"?> 128 Oralität und Literalität in Peter Ackroyds Milton in America len von Protestantismus puritanischer Prägung und Katholizismus gegeneinander, sondern vielmehr von Monogegen Polyperspektivität. Milton in America wendet sich im Aufgreifen der Mündlichkeits- und Schriftlichkeitsdebatte und in der Thematisierung traditionell mit der Unterscheidung zwischen schriftlichen und mündlichen Kulturen verknüpfter Oppositionspaare, wie beispielsweise „prälogisch/ logisch, konkret/ abstrakt und primitiv/ modern“, 373 aber auch natürlich/ kulturell, gegen das totalisierende Potential dichotomischen Denkens und der ihm eingeschriebenen Verführungskraft. Denn auch bei aller Bereitschaft zur Pluralisierung, Dialogizität, Hybridisierung und beständigen Neuerfindung des alternativen, utopischen Gesellschaftsentwurfs, der im Roman durch die heterogene ‘Gemeinschaft’ von Goosequill, „einer alternativen ‘katholischen’ Tradition“ 374 und die amerikanischen Ureinwohner repräsentiert ist, bleibt die Wirkmächtigkeit logozentristischer Ausgrenzungseffekte letztendlich vom Text unbestritten. Wenn am Ende des Romans Goosequill an den Folgen seiner bei der Schlacht um Mary Mount zugezogenen Verletzungen stirbt, dann ist dies als Kommentar auf allzu optimistische Deutungen des Potentials pluralistisch ausgerichteter Lebensentwürfe zu lesen. 373 Winkgens (1997), 54. 374 Vgl. Hartung (2002), 103. <?page no="141"?> 7 Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers 375 Eine ‘Epoche’ geht weder den Aussagen voraus, die sie ausdrücken, noch den Sichtbarkeiten, die sie erfüllen. Dies sind die beiden wesentlichen Aspekte: einerseits impliziert jede Schicht, jede historische Formation eine Verteilung des Sichtbaren und des Sagbaren auf sich selbst; andererseits gibt es von einer Schicht zur anderen Variationen dieser Verteilungen, da die Sichtbarkeiten selbst ihre Modalität und die Aussagen ihre Ordnung wechseln. 376 Sidonia: It was all very interesting. There was a period when our ancestors believed that they inhabited a world which revolved around a sun. […] That was their delusion. But it was the Age of Mouldwarp. According to Plato, the whole earth seemed to have been reduced and rolled into a ball until it was small enough to fit their theories. 377 Hawksmoor, Chatterton und Milton in America zeichnen sich in besonderem Maße durch die Hinterfragung von internalisierten Strukturen und Vorannahmen über Zeit, Ursprung und diskursive Prägung sowie die Thematisierung der epistemologischen und ontologischen Implikationen aus. Die drei Romane bedienen sich dabei ähnlicher Dekonstruktionsstrategien. Als historiographic metafictions zeigen sie zunächst auf, dass Fiktion und Geschichtsschreibung per se den gleichen ontologischen Status haben; beide sind Konstrukte und nehmen ihren unterschiedlichen Stellenwert in einer common sense Betrachtung nur aufgrund unreflektierter Zuschreibungen bezüglich ihrer Fähigkeit zur Realitätsabbildung ein. Von der Auflösung dieser Opposition ausgehend werden analog weitere Grundkategorien menschlicher Wahrnehmung kritisch beleuchtet. In 375 Grundlage dieses Kapitels ist der Beitrag „‘The Merits of Two Realities Existing Simultaneously’: Postmoderne und Transzendenz in Peter Ackroyds The Plato Papers“, in: Susanne Bach, Spiritualität und Transzendenz in der modernen englischsprachigen Literatur (Paderborn: 2001), 71-90. 376 Gilles Deleuze, Foucault (Frankfurt am Main: 1987), 70. 377 Peter Ackroyd, The Plato Papers (London: 1999), 3. Im Folgenden durch Seitenangaben im Text zitiert. <?page no="142"?> 130 Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers der Auseinandersetzung mit der Gültigkeit herkömmlicher Prämissen bezüglich Chronologie, Authentizität und dem Einfluss von Diskurssystemen auf politische Handlungsfreiheit wird dabei jeweils einem als allgemein gültig angesehenen Wirklichkeitsentwurf zumindest ein Gegenentwurf kontrastiv gegenübergestellt. Damit geht eine implizite Relativierung aller jeweils aufgezeigten Alternativen einher. Kann der common sense Ansatz schon allein deshalb keine Absolutheit beanspruchen, weil ein anderes Erklärungsmodell zumindest denkbar ist, so trifft der Umkehrschluss ebenfalls zu: Die Alternative erscheint bereits dadurch relativiert, dass sie ‘nur’ eine Alternative ist. Gleichzeitig beschränken sich Hawksmoor, Chatterton und Milton in America aber nicht auf die gegenseitige Relativierung der thematisierten Konstrukte; vielmehr erscheint auch deren absolute Unvereinbarkeit als bloßes Konstrukt. So denkt Nicholas Dyer trotz der Betonung der dynamischen und prozessualen Natur seines Weltbildes in unveränderlichen Dichotomien, während sein Antagonist und alter ego, Nicholas Hawksmoor, als Vertreter eines an unumstößlichen Naturgesetzen orientierten Rationalismus, als einzige Figur des Romans eine erkennbare Entwicklung durchläuft. Philip Slack erkennt, dass mimesis und Originalität Illusionen sind, und ist doch in der Lage, in der Gemeinschaft mit anderen Authentisches und Eigenständiges zu schaffen. John Milton beansprucht für sich, Hüter einer universellen Wahrheit zu sein, und ist doch gleichsam in einem auf seinen eigenen Ängsten basierenden, solipsistischen Gefängnis eingesperrt. Und Goosequill, für den die Welt grundsätzlich eine agonistische, vom permanenten Kampf geprägte ist, kann dennoch das ‘Andere’ als gleichberechtigt akzeptieren. In einem sprachlich verfassten Universum der Postmoderne, in das der Mensch unentrinnbar eingebunden ist, scheint für Transzendenz und Metaphysik kein Freiraum mehr zu existieren: Für Lyotard, Baudrillard, Jameson und andere gilt die Welt als gänzlich säkularisiert. 378 Dennoch sind Religiosität und Spiritualität Motive, die immer wieder aufgegriffen und thematisiert werden. Peter L. Berger vermutet gar, daß die Säkularisierung gar nicht so umfassend ist, wie manche Leute glauben, und daß das Übernatürliche zwar zur Zeit offiziell nicht gefragt ist, in verborgenen Schlupfwinkeln der Kultur jedoch überlebt und sich ins Fäustchen lacht. Manche Schlupfwinkel sind übrigens gar nicht so verborgen. 379 378 John A. McClure, „Postmodern/ Post-Secular: Contemporary Fiction and Spirituality“, in: Modern Fiction Studies 41: 1 (1995), 142. 379 Peter L. Berger, Auf den Spuren der Engel, Freiburg: Herder (1991), 49. <?page no="143"?> Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers 131 Einen dieser Schlupfwinkel stellt die zeitgenössische Literatur dar. Das im Laufe der Zeit dramatisch veränderte Verständnis von Sprache und literarischer Produktion hat aus theologischer Sicht nicht nur weit reichende Konsequenzen für die Bibelexegese, sondern eröffnet auch Literatur als Manifestationsraum von Spiritualität. 380 Einen solchen literarischen Raum schafft auch der Roman The Plato Papers: Wiederum werden in für die literarische Postmoderne charakteristischer Weise internalisierte Wahrnehmungsstrategien und Bewertungskategorien bewusst gemacht und problematisiert und die Trennbarkeit von Fakt und Fiktion sowohl innerhalb der fiktionalen Welt als auch in der ‘Realität’ in Frage gestellt. The Plato Papers beschränkt sich aber nicht nur auf die Dekonstruktion kulturell und ideologisch vorgegebener epistemologischer und ontologischer Prämissen in einer säkularisierten Welt, sondern thematisiert explizit eine in der Postmoderne auf den ersten Blick nicht mehr denkbare fundamentale Kategorie der Religion: nämlich die Überzeugung oder den Glauben, daß es eine andere Wirklichkeit, und zwar eine von absoluter Bedeutung für den Menschen gibt, welche die Wirklichkeit unseres Alltags transzendiert. 381 Im Kontext der vorliegenden Arbeit lässt sich der Roman als Abschluss einer Entwicklungslinie deuten, die mit der kritisch-spielerischen Dekonstruktion rationalistischer und anti-rationalistischer Diskurse in Hawksmoor beginnt. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die viel beschworene Beliebigkeit und Fragmentierung postmodernen Denkens in The Plato Papers weder als Verlust von Sinnhaftigkeit bedauert, noch als Anlass solipsistischer Sprachspiele begrüßt, sondern vielmehr als Möglichkeit zur Eröffnung neuer Horizonte verstanden wird: Die Umwertung der epistemologischen und ontologischen Krise als Chance zur Polyperspektivität. Zunächst soll dazu die Art und Weise, wie insbesondere das Verhältnis von Spiritualität und Moderne als Grundlage zur Konstruktion einer alternativen Ontologie instrumentalisiert wird, näher beleuchtet werden. 382 380 David S. Pacini, „Das Lesen der heiligen Schrift: der theologische Ort moderner Spiritualität“, in Louis Dupré et al. (Hrsg.), Geschichte der christlichen Spiritualität, Bd. III (Würzburg: 1997), 199ff. 381 Berger (1991), 20. 382 Vgl. hierzu John A. McClure (1995), 143: „And in order to understand postmodern fiction, we need to attend to the ways in which it maintains and revises a modernist tradition of spirituality inflected resistance to conventionally secular constructions of reality.“ <?page no="144"?> 132 Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers 7.1 Zerfall und (Re)Konstruktion Wie schon zuvor Hawksmoor, Chatterton und Milton in America lässt sich auch The Plato Papers als postmoderner Roman beschreiben. Schon in den telling names der Figuren lassen sich für die literarische Postmoderne typische Züge identifizieren. Die Bewohner Londons - Ackroyd kehrt hier nach dem ‘Exkurs’ in Milton in America zu seinem bevorzugten Romanschauplatz zurück - tragen Namen wie Plato, Myander und Ornatus, aber auch Popcorn, Sparkler und Sidonia. Neben Verweisen auf Philosophie und Antike bestimmen damit Anlehnungen an kommerzielle Produkte des 20. Jahrhunderts das Bild und greifen so die Diskussion um den Zusammenfall von high und pop culture und um postmoderne Entgrenzungs- und Hybridisierungserscheinungen auf. Der Textkorpus zerfällt in 55 kurze bis kürzeste Kapitel, die in vier Teile gegliedert sind und denen mehrere Fragmente fiktiver Texte des 21. bis 38. Jahrhunderts vorangestellt sind. Die einzelnen Kapitel sind dabei wechselnden Textsorten zuzurechnen: Monologe des Protagonisten Plato wechseln sich ab mit Einträgen in das von ihm erstellte „glossary of ancient terms“ (12) und kurzen Gesprächen zwischen Plato und anderen Figuren, die formal eher der Gattung Drama zuzurechnen wären. Trotz der extremen formalen Fragmentierung aber fungiert die Figur Platos als verbindendes Element zwischen allen Kapiteln; nicht von ungefähr, denn der anonyme Autor gibt zu, sich der „art of selection“ (v) bedient zu haben, um „a likeness of Plato“ (v) zu evozieren. Der Eindruck von Fragmentierung und die Absage an die Vorstellung von mimesis zugunsten der Betonung der konstruierten Natur jeder Darstellung von Wirklichkeit dominieren den Roman bereits früh. Obwohl die zeitliche Verortung von The Plato Papers im Jahr 3705 nach Christus 383 zunächst unwillkürlich an Science Fiction denken lässt, ist diese Einschätzung auf den zweiten Blick zumindest problematisch. Zum einen ist der Gattungsbegriff der Science Fiction meist so weit gefasst, dass sich sowohl der Schwesterbegriff der Fantasy, als auch ein Großteil von Literatur im Allgemeinen darunter subsumieren ließe. 384 Zum anderen erscheint 383 Die Geburt Christi spielt, wie später noch deutlich werden wird, für Plato nur als Grundlage der Zeitrechnung eine Rolle; die religiöse und spirituelle Bedeutung des Datums ist verloren gegangen. 384 Suerbaum definiert Science Fiction als „die Gesamtheit jener fiktiven Geschichten, in denen Zustände und Handlungen geschildert werden, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht möglich und daher nicht glaubhaft darstellbar wären, weil sie Veränderungen und Entwicklungen der Wissenschaft, der Technik, der politischen und gesellschaftlichen Strukturen oder gar des Menschen selbst voraussetzen. Die <?page no="145"?> Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers 133 diese Klassifizierung im Hinblick auf die Relevanz für die Themenstellung wenig hilfreich. Vielversprechender, wenn auf den ersten Blick auch paradox, ist dagegen die Interpretation des Textes als historiographische Metafiktion mit deutlichen Referenzen auf unsere Gegenwart. Sein Protagonist ist „orator“ (38) im London der fernen Zukunft und Mitglied einer „Academy [established] for the sole purpose of studying the beliefs of [...] past ages“ (122). In seinen Reden thematisiert er verschiedene Aspekte vergangener Epochen, welche die Zeitspanne von 3500 vor Christus bis 3700 nach Christus, der fiktionalen Gegenwart, abdecken: c. 3500 BC ⎯ c. 300 BC: The Age of Orpheus c. 300 BC ⎯ c. AD 1500: The Age of the Apostles c. AD 1500 ⎯ c. AD 2300: The Age of Mouldwarp c. AD 2300 ⎯ c. AD 3400: The Age of Witspell (i) Nicht nur, weil unsere eigene Gegenwart in die als Mouldwarp bezeichnete Epoche zu fallen scheint, verdient diese Periode besondere Aufmerksamkeit. Ihr kommt eine zentrale Bedeutung in den Reden Platos zu, und sie wird im Laufe des Romans die Basis einer Epiphanie, welche den Protagonisten seine bisherigen Überzeugungen hinterfragen lässt und ihm den Weg in eine alternative Form von Spiritualität eröffnet. Wie später noch deutlich werden wird, lassen sich dabei die vier Zeitalter als Allegorien auf Entwicklungsstadien der okzidentalen Geistesgeschichte lesen, wobei ein besonderer Schwerpunkt der Betrachtung auf die Mentalitätsgeschichte und die Entwicklung von Religiosität und Spiritualität gelegt wird. Das Zeitalter des Orpheus wäre dann als das Zeitalter des Mythos und der Immanenz zu deuten, gefolgt vom ‘apostolischen’ Zeitalter des Christentums und der Transzendenz; ‘Mouldwarp’ ließe sich als Metapher für die mit den Entwicklungen der Moderne verbundenen „Veränderungen im gesamtkulturellen Spektrum westlicher Gesellschaften“ 385 lesen, während ‘Witspell’ auf die Faszination von Sprach- und Denkspielen in der Postmoderne zielt. Die Vorgehensweise, der sich Plato zur Rekonstruktion der Vergangenheit bedient, ist dabei die eines Historikers: (Re)Konstruktion von Vergangenheit und Wirklichkeitssicherung erfolgen durch das Heranziehen von vermeintlich authentischen Quellen und Fragmenten. 386 Anhand eines „fragment of prose“ (78), welches von ihm als „authentic“ (78) bewertet wird, zieht Plato seine Folgerungen bezüglich der „long tradition of ruin Geschichten spielen in der Regel, aber nicht mit Notwendigkeit, in der Zukunft.“ Ulrich Suerbaum, Science Fiction (Stuttgart: 1982),10. 385 Glomb (2004), 10. 386 Vgl. Kotte (2001), 8. <?page no="146"?> 134 Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers literature“ (80) des Zeitalters von Mouldwarp; dabei benutzt er „square brackets in order to signify a tentative conjectural meaning, and asterisks to denote a tear or burn in the manuscript itself“ (78): fragments [they] have * ruins *ieronymo ** again ** Eliot (78) Dieses Fragment lässt sich schnell als Teil von T. S. Eliots „The Waste Land“ 387 identifizieren. Aufgrund der „available evidence“ (79) kommt Plato jedoch zu dem Schluss, „that these lines are the work of an African singer named George Eliot“ (79). Der Roman instrumentalisiert hier die Vorkenntnisse des Rezipienten, um den fragwürdigen referentiellen Wahrheitsanspruch von Platos Wirklichkeitsverständnis zu entlarven. Diese Vereinnahmung durch den Text impliziert zweierlei. Erstens bedingt sie eine gegenseitige Relativierung beider Wirklichkeitsentwürfe: Plato bedient sich zwar einer scheinbar adäquaten Methodik zur Rekonstruktion von Geschichte, vermag aber dennoch die Vergangenheit nicht ‘korrekt’ zu erfassen. Zudem wird die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass auch das Vorwissen des Rezipienten selbst bloß Konstruktstatus hat, denn „[d]as meiste, was wir ‘wissen’, haben wir von anderen, die für uns glaubwürdig sind, übernommen. Und nur weil es uns andere ständig bestätigen, bleibt ‘Wissen’ für uns ständig plausibel.“ 388 Zweitens wird eine Problematik umgangen, die aus der expliziten und antithetischen Gegenüberstellung zweier Wirklichkeitsentwürfe zur Hinterfragung der Realitätskonzeption des common sense, wie beispielsweise in Ackroyds Hawksmoor, resultiert. Eben diese Vorstellung eines common sense, eines allgemein verbindlichen Wahrnehmungsrasters, wird in Platos „glossary of ancient terms“ (12) selbst explizit als Konstrukt ausgewiesen: common sense: a theory that all human beings might be able to share one another’s thoughts, so there would be in reality only one person upon earth. (13) Die Verdeutlichung der konstruierten Natur von Wirklichkeitskonzeptionen über die Kontrastierung des common sense, der auch dem Rezipienten unterstellt wird, mit einem Gegenentwurf ist also insofern problematisch, als der Rezipient nicht notwendigerweise dem common sense Entwurf verbunden ist. Dieses Problem umgeht The Plato Papers geschickt durch die Instrumentalisierung der Kenntnisse und Vorannahmen des impliziten Lesers als Kontrastposition zu Platos Ausführungen. Gemeinsam mit weiteren, oft überraschenden Verschiebungen und Verzerrungen von Zentrismen - „the reader did not approve of the fiction! 387 Vgl. T. S. Eliot, The Wasteland and Other Poems (London: 2003). 388 Berger (1991), 26. <?page no="147"?> Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers 135 Clearly it was too melodramatic, or romantic, for her refined taste! “ (5) - und einer manchmal fast überdeutlich zutage tretenden intratextuellen Selbstironie, wie im Falle der Definition von „literature: a word of unknown provenance, usually attributed to ‘litter’ or waste“ (19), wird The Plato Papers zu dem, was John A. McClure als postmodernes kosmisches Comic bezeichnet: „[w]ild and defiantly unrealistic exercises in irreverent citation, genre-splicing, excess, caricature, and the grotesque.“ 389 Anders als im eher düsteren Roman Hawksmoor ist aufgrund des Sprachwitzes, mit Hassan gesprochen, das Lachen gleichsam im Text immanent, der Roman beschränkt sich aber keineswegs auf humoristische De(kon)struktion. Nicht erst auf den zweiten Blick wird deutlich, dass trotz des respektlosen Umgangs mit Größen wie Darwin und Freud, Poe und Eliot Themenbereiche angeschnitten werden, die zur Reflexion und Kontemplation über Alternativen zu den die Moderne und Postmoderne scheinbar bestimmenden säkularisierten Wirklichkeitskonstruktionen einladen. 390 Noch bevor Plato im ersten Teil des Romans, „The Lectures and Remarks of Plato on the Condition of Past Ages“ (1), mittels seiner Vorträge die spirituelle Verfasstheit der verschiedenen Zeitalter in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt, wird klar, dass sich der Text mit einer Vielzahl von solchen Alternativen auseinander setzt und, wie später noch deutlich werden wird, eine konzise Analyse der Entwicklung des Transzendenzgedankens in der westlichen Geistesgeschichte anbietet. Die Welt der fiktionalen Gegenwart ist dabei augenscheinlich eine zutiefst spirituelle, in der mythologische, christliche, und New Age Vorstellungen im Wortsinn mit Leben erfüllt sind. Zentauren bevölkern Griechenland, Phönix erhebt sich in Nordfrankreich aus der Asche, und Atlantis ist aus dem Ozean aufgetaucht (vgl. 53f). Die Existenz des Olymps und des Hades sind archäologisch nachgewiesen (vgl. 43f), und „a slough of Despond [is] located on the border of Wales“ (54). Die „guardians“ (113) der „divine city“ (56) London sind veritable geflügelte Engel, unter ihnen auch der Erzengel Gabriel. Dieser scheint, abgesehen von seiner Erscheinung und seinem Namen, jedoch wenig mit dem himmlischen Botschafter der Bibel gemein zu haben und ist insbesondere auf das Christentum schlecht zu sprechen: Während des Zeitalters der Apostel „the angels rarely visited the earth; if they alighted here they stayed only for a moment since, as Gabriel himself has told us, there was no chance of intelligent conversation“ (45). Die Bewohner Londons selbst sind ebenfalls engelsgleiche Gestalten, die sich durch ihre immense Größe und das von ihnen verströmte Licht auszeichnen (vgl. 9). 389 McClure (1995), 149. 390 McClure (1995), 149. <?page no="148"?> 136 Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers Die Vorstellung von einem höchsten Wesen scheint jedoch keinen Teil des spirituellen Reservoirs zu bilden. Das Wörterbuch, in dem Plato archaische Begriffe zusammenstellt und erläutert, ist dabei nicht nur eine Illustration des arbiträren Verhältnisses von Signifikant und Signifikat, sondern verweist auch die Vorstellung von Gott in die untergegangene Welt vergangener Epochen. Danach ist Gott, in the Age of the Apostles, considered to be the supreme ruler of the universe. In the Age of Mouldwarp, a mechanical and scientific genius. In the Age of Witspell, the Principle of Life reaching beyond its own limits. (15) Die Konstruktion von Geschichte, die Plato in seinen Ausführungen anbietet, ist dabei immer eine, die sich durch Abgrenzung von und Rekurs auf seine eigene metaphysisch anmutende Wirklichkeit definiert: Sie ist eine postmodern-eklektizistische Geschichte der Entwicklung von Spiritualität. Das Age of Orpheus, „truly the springtime of this world“ (41), ist das Zeitalter des Mythos, in dem Zweckrationalität den Zauber der Welt noch nicht zur bloßen Kunst hat verkommen lassen: 391 „[t]he gods themselves took the shapes of swans or bulls from the simple delight in transformation“ (41). Genau wie im Mythos Subjekt und Objekt noch nicht getrennt, „alle auf der Oberfläche wahrgenommenen Phänomene in ein Netz von Korrespondenzen, Ähnlichkeits- und Kontrastbeziehungen“ 392 eingeordnet und Physik und Metaphysik noch nicht ausdifferenziert sind, zeigt Platos Rede, dass auch seine eigene Lebenswirklichkeit dem Prinzip des Mythos folgt. Die von ihm beschriebenen Ereignisse, insbesondere Orpheus’ Abstieg in die Unterwelt, sind für ihn historische Fakten. Wenn Plato berichtet, „[that] we have found the nests of nymphs even here, by the Tyburn and the Lea“ (41), oder dass die Knochen des Cerberus in einer unterirdischen Ruinenstadt gefunden wurden (vgl. 42), dann illustriert er, wie eng das Zeitalter von Orpheus mit seinem eigenen verbunden ist. Nicht das Prinzip der Transzendenz, sondern das der Immanenz ist für beide Epochen bestimmend. Anders dagegen im Age of the Apostles: „natural world“ und „spiritual world“ (45) sind zu zwei voneinander getrennten Einheiten zerfallen. Im Gegensatz zum Mythos ist hier echte Transzendenz im Sinne des Bezugs auf eine übergeordnete Realitätsebene möglich, denn das Metaphysische ist nicht mehr untrennbar mit dem Physischen verbunden. Das tran- 391 Vgl. hierzu Horkheimers und Adornos Analyse zum zwölften Gesang der Odyssee: „Solange Kunst darauf verzichtet, als Erkenntnis zu gelten, und sich dadurch von der Praxis abschließt, wird sie von der gesellschaftlichen Praxis toleriert wie die Lust. Der Gesang der Sirenen aber ist noch nicht zur Kunst entmächtigt.“ In: Horkheimer und Adorno (1989), 39. 392 Habermas (1983), 413. <?page no="149"?> Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers 137 szendente Subjekt herrscht über das mundane Objekt: 393 „This god, according to the testimony of the apostles, had already consigned some of its creatures to everlasting torment. [...] the religion of the apostles was indeed one of blood and sorrow“ (45). Mit der Ausdifferenzierung der natürlichen und der spirituellen Welt geht auch die Erkennbarkeit des Transzendenten im Alltag ein Stück weit verloren: Zwar bestimmen „prayer and penance“ (45) als Referenz auf eine hierarchisch höhergestellte, transzendente Ordnung das tägliche Handeln, aber die Manifestationen dieser übergeordneten Ebene, die Engel, besuchen die Erde nur noch „rarely“ (45). Diese Trennung, die letztendlich die Ermöglichungsbedingung der Dominanz rationaler, also diesseitsbezogener, Vernunft ist, mündet zwangsläufig in „the eventual collapse of the religion“ (45). Die dem Age of Apostles eingeschriebenen Widersprüche, Mitleid mit dem Nächsten und Verfolgung Andersgläubiger, Allmächtigkeit Gottes und freier Wille des Individuums (vgl. 45f), lassen sich nur durch den Verweis auf eine höhere als die menschliche Ordnung rechtfertigen. Genau diese Ordnung aber ist es, die mit den „apparently more plausible explanations of Mouldwarp“ (46) verloren geht. Im Gegensatz zum mythologisch geprägten Zeitalter von Orpheus ist die Ära der Apostel in Platos Gegenwart weniger deutlich präsent. Zwar wird auch in diesem Fall die historische Faktizität metaphysischer Vorstellungen von Plato nicht angezweifelt, aber der letzte archäologische Beweis fehlt noch. So berichtet er, dass „the region known as hell“ (45) zwar noch nicht eindeutig geographisch, aber auf einer spirituellen Landkarte bereits korrekt platziert werden kann, aber auch ersteres scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein: „[W]e believe it to lie in a territory adjacent to Hades“ (45). Im Gespräch zwischen Sidonia und Ornatus, den zwei Kindheitsgefährten Platos, wird jedoch deutlich, dass die christliche Glaubenswirklichkeit, wie beispielsweise die biblische Pfingstgeschichte, ebenso fester Bestandteil ihrer Realität ist: Sidonia berichtet von the occasion when one great light left the people of this region dazed and bewildered. Some were reported to have spoken in strange languages and to have laughed or cried for no reason. Neighbours no longer recognized one another and members of the same family seemed strangers. But the anxiety passed. It was part of the process. (21f) 393 Das Christentum, wie es hier interpretiert wird, ist somit eine Übergangsstufe zwischen Mythos und Aufklärung im Sinne der Dialektik der Aufklärung. In der Trennung von transzendentem Subjekt und mundanem Objekt ist die Selbstermächtigung des „ordnenden Geistes“ (Horkheimer und Adorno (1989), 15) angelegt. Die fehlende Kapitalisierung und die Abweichung vom maskulinen Genus liefern im Folgenden gleichzeitig einen frühen Hinweis darauf, dass die später von Plato propagierte Spiritualitätskonzeption deutlich von christlicher Doktrin abweicht. <?page no="150"?> 138 Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers Dem Zeitalter von Mouldwarp kommt quantitativ wie qualitativ ein besonderer Platz in den Ausführungen Platos zu. In mehreren Reden thematisiert er verschiedene Aspekte dieser untergegangenen Kultur, von Naturwissenschaft über Ökonomie bis hin zu Kunst und Literatur. Eine zentrale Stellung nimmt jedoch immer die epistemologische und ontologische Verunsicherung sowie der Verlust jeglicher Teleologie ein. Zwar ist es in diesem Zeitalter gelungen, die Welt scheinbar umfassend zu erklären, aber diese Erklärungsmodelle werden der Wirklichkeit, wie Plato sie wahrnimmt, nicht gerecht: „the whole earth seemed to have been reduced and rolled into a ball until it was small enough to fit their theories“ (3). Die Bewohner von Mouldwarp, „beings who had little concept of divinity or truth, but who instead worshipped order and control“ (93), sind durch ihr vollständig säkularisiertes Bewusstsein nicht mehr in der Lage, ihr Leben durch den Zugriff auf ein transzendentes Bezugssystem mit Sinnhaftigkeit zu erfüllen. In der Konsequenz haben sie „no notion of what, if anything, they were progressing towards“ (48) und sind „never content, never fulfilled. Even as they were engaged in their ceaseless activity, they knew it was futile“ (17). Der Zerfall von Sinnsystemen und der damit einhergehende „melancholy tone“ (79), den Plato in seiner Analyse des Fragments von T. S. Eliots „The Waste Land“ erkennt, machen deutlich, dass das Age of Mouldwarp trotz seiner zeitlichen Verortung von 1500 bis 2300 nach Christus mit Entwicklungen korrespondiert, die mit der Aufklärung beginnen und in der Moderne kulminieren. So haben die ‘Priester’ dieses Zeitalters jegliche „visionary powers“ (48), also die Verbindung zum Metaphysischen, verloren: „so restricted was the range of their knowledge that their principal activity lay in the computation of figures and numbers within the material world“ (48). 7.2 Materialität und Spiritualität Die Fixierung auf die materielle Welt bedingt ein spirituelles Vakuum, das schließlich zum Untergang der Ära von Mouldwarp führen wird. Die Sinnhaftigkeit der Ordnung, nach der Wirklichkeit strukturiert wird, lässt sich nun nicht mehr durch ein übergeordnetes Sinnsystem garantieren. Peter L. Berger bemerkt zu dieser Problematik, dass der Ordnungsimpuls des Menschen immer mit dem Bedürfnis nach einer Legitimation dieser Ordnung durch den Menschen einhergeht: [...] die ganz offensichtliche Neigung des Menschen, Wirklichkeit zu ordnen, geht zusammen mit dem Impuls, die Reichweite seines Ordnens ins Kosmische zu erstrecken. Dieser Impuls impliziert nicht nur, daß menschliche Ordnung in irgendeiner Weise einer anderen, welche über sie hinausgeht, sie transzendiert, entspricht, sondern auch, daß diese transzendente Ordnung so beschaffen sein <?page no="151"?> Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers 139 muß, daß der Mensch sich selbst und seiner Bestimmung für diese Ordnung vertrauen kann. 394 Die Leere, die aus dem Verlust der sakralen Ordnung erwächst, wird nun von einer säkularen Ordnung gefüllt. Die Bewohner des Mouldwarp- London folgen zwar immer noch „the roles alloted to them“ (49), aber diese ermöglichen ihnen kein echtes „understanding of themselves“ (49): Die neue Ordnung ist das Produkt der „city itself“ (49), also zum einen das der materiellen Metropole, als auch zum anderen, über die Metapher der Londoner City als Finanzplatz, das der materialistischen Gesellschaft. Eben diese Wertung wird auch den Werken von Darwin, Marx und Freud zuteil, die nicht nur eine Abwertung ihres inhärenten Erklärungspotentials erfahren, sondern Plato gerade wegen dieses Anspruches als nicht ganz ernst gemeinte fiktionale Texte erscheinen. Damit werden die Thesen dreier Denker thematisiert, deren Lehren trotz aller Unterschiede ein fundamental antimetaphysischer Impuls gemein ist, und die als prototypisch für ein gänzlich säkularisiertes Bild des Menschen gelten können. 395 Darwins On the Origins of Species by Means of Natural Selection gilt Plato als „comic masterpiece“ (8), das er dem „novelist, Charles Dickens,“ (5) zuschreibt und damit implizit auf die problematische Beziehung von Fakt und Fiktion hinweist. Die Bewertung von On the Origins als „a wonderfully succinct if brutal summary of the society from which he [Darwin/ Dickens] came“ (7) impliziert dabei eine doppelte Relativierung: Darwin konstruiert in seinen Ausführungen eine in menschliche Maßstäbe gezwängte Natur, die ebenso wenig den Status einer absoluten Wahrheit beanspruchen kann wie die Analyse durch Plato selbst. Platos apologetischer Hinweis, dass erst im Age of Witspell erkannt worden sei, „that each portion of the earth produces its own creatures spontaneously“ (8), und dass auch Fossilien solche spontanen Produkte einer höheren Macht sind, Darwin also folglich falsche Theorien aufstellen musste, ist dabei ein erneuter Hinweis auf den zirkulären Charakter der Zeitalter. 396 Im Kontext der Übertragung ökonomischer Aspekte auf die Natur als Erklärungsmodell für die Wirklichkeit erwähnt Plato die „anecdotes of a comedian, Brother Marx“ (6). Auf dessen Thesen geht er zwar nicht näher 394 Berger (1991), 88. 395 Guntram Knapp, Der antimetaphysische Mensch (Stuttgart: 1973), 261ff. 396 Eben diese These entspricht nämlich Gosses ‘Omphalos’-Lehrsatz, den der viktorianische Gelehrte den Forschungen Lyells und Darwins gegenüberstellte. Die Instrumentalisierung an dieser Stelle legt einen intertextuellen Verweis auf John Fowles Roman The French Lieutenant’s Woman nahe, in dem die Identitäts- und Wirklichkeitskonstruktion von Sarah Woodruff ebenso von gängigen viktorianischen Vorstellungen abweicht wie die Platos von seiner eigenen Zeit. Gosses Thesen dienen auch dort als Kontrapunkt. Vgl. John Fowles, The French Lietenant’s Woman (London: 1987), 141. <?page no="152"?> 140 Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers ein, jedoch bildet sein Unverständnis für eine nach ökonomischen Gesichtspunkten strukturierte Welt den Ausgangspunkt für weitere Analysen der Verhältnisse der Ära von Mouldwarp. Ähnlich wie das Erklärungspotential der Evolutionstheorie durch die Gleichsetzung des Wissenschaftlers Darwin mit dem Romancier Dickens problematisiert wird, erfährt Marx über den Verweis auf die Marx Brothers eine Relativierung. Gleichzeitig ist der Verzicht auf eine nähere Darstellung durch Plato ein impliziter Hinweis darauf, wie weit die Beschränkung des Menschen auf Kapital und Arbeit von der Glaubenswelt der Zeitgenossen Platos entfernt ist. Auch die Thesen des „clown or buffoon“ Freud, „no doubt pronounced ‘Fraud’ to add piquancy to his stage character“ (59), erfahren eine dramatische Umwertung. Für Plato erscheint die Reduktion menschlicher Verhaltensweisen auf das Unbewusste als Schmierentheater und die Dominanz von „sexual activity at the expense of all other principles of life“ (60) als Perversion. Die Einsetzung des Psychoanalytikers als letzte Instanz durch sich selbst schließlich - „I think I should be the judge of that! “ (59) - erscheint so absurd, dass sie nur als Satire gewertet werden kann und Plato zu einer Würdigung Freuds als „a great comic genius of his age“ (61) veranlasst. Die Thesen der drei großen antimetaphysischen Philosophen, die auf je unterschiedliche Weise für sich die absolute Erklärung der Welt in Anspruch nehmen und doch in ihrem Absolutheitsanspruch durch die Kontrastierung mit den Reden Platos als illusionär entlarvt werden, nehmen als quasi-religiöse Erzählungen denjenigen Platz ein, der im säkularisierten Age of Mouldwarp mit dem Verlust der Vorstellung von Transzendenz abhanden gekommen ist. Wie die Religion befriedigen sie „die ganz offenbare Neigung des Menschen, Wirklichkeit zu ordnen.“ 397 Anders als diese können sie aber nicht den „Impuls, die Reichweite seines Ordnens ins Kosmische zu erstrecken“, 398 befriedigen. In der Konsequenz sind die Bewohner dieses „age of anxiety“ 399 (53) dann auch „never content, never fulfilled. Even as they were engaged in their ceaseless activity, they knew it was futile“ (17). 397 Berger (1988), 88. 398 Berger (1991), 88. 399 Dies lässt sich als Verweis auf die Bloomsche anxiety of influence deuten. <?page no="153"?> Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers 141 Mit dieser Entwicklung entsteht ein religionsfreier Raum, 400 innerhalb dessen alles, was über die materielle Lebenswirklichkeit hinausgeht, diese also wiederum transzendiert, als bedrohlich erscheinen muss. Dem Tod als Endpunkt der physischen Existenz kommt damit eine qualitativ andere Bedeutung zu; er erscheint als finaler Schlusspunkt, dessen Absolutheit nicht mehr von einem transzendenten Bezugssystem relativiert werden kann. In der Konsequenz sind die Bewohner Mouldwarps durch „a great horror of death“ charakterisiert und haben „no use for the present except as an avenue to the future“ (94): Das Leben selbst impliziert seine endgültige Auslöschung. Plato hält in seinem Wörterbuch fest, welche Konsequenzen die Auslöschung der Transzendenz mit sich bringt: transcendence or trans-end-dance: the ability to move beyond the end, otherwise called the dance of death. The fear of death, in the Mouldwarp period, was part of a greater fear of life. (25) Die absolute Bezogenheit auf das Diesseitige geht einher mit der Gleichsetzung des schaffenden Prinzips mit dem ordnenden Prinzip: „die Scheidung von Gott und Mensch“ 401 wird irrelevant. Damit aber setzt sich der Mensch selbst als transzendentales Subjekt ein, das seine Wirklichkeit aus sich selbst heraus erschafft und legitimiert. Die Wissenschaftler, die die Welt beschreiben und erklären, sind somit „engaged in acts of magic“ (50). Die Erkenntnis, dass ihr Universum nur „an emanation of the human mind“ (50) ist, markiert den Übergang zum Age of Witspell. Wenn das Zeitalter von Mouldwarp, dessen telling name sowohl Zerfall als auch Veränderung assoziiert, als Allegorie auf die Moderne gelesen werden kann, so liegt die Vermutung nahe, dass die folgende Epoche Entwicklungen der Postmoderne thematisiert. Für diese Interpretation spricht unter anderem, dass sich die Glaubenswelt von Mouldwarp und Witspell nicht absolut trennscharf differenzieren lässt, sondern vielmehr eng miteinander verbunden scheint. 402 Insbesondere die Übergangsphase zwischen beiden Zeitaltern ist dabei interessant. Die letzten Tage von Mouldwarp sind durch eine extreme on- 400 Wenn das Hauptmerkmal aller Religion von „der Beziehung gebildet [wird], die einzelne oder Gruppen zu transzendenten Mächten oder höchsten Werten einnehmen“ (Karl Hoheisel „Das Wiedererwachen von Religion in der Postmoderne und ihre Distanz zum Christentum“, in: Kochanek (1996), 14), dann ist in einer Gesellschaft, die das Materielle absolut setzt, keine Religion mehr möglich, bzw. es wird eine Ersatzreligion generiert, die das Religiöse mit einer partikularen Ordnung des Erkennens und Erlebens kurzschließt. 401 Horkheimer und Adorno (1989), 14. 402 Zur Problematik der Begriffsdifferenzierung von Postmoderne und Moderne vgl. Zima (1997), 3ff. <?page no="154"?> 142 Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers tologische und epistemologische Krise charakterisiert: Mit dem „common belief that the night sky and all of its properties had been created by human perception“ (49) beginnen die Sterne am Nachthimmel zu schwinden. Hier zeigt sich die Schwäche einer säkularisierten gegenüber einer in ein lebendiges Glaubenssystem eingebundenen Gesellschaft, denn die Möglichkeit zur Affirmation durch das Transzendente ist verloren: „Pray? To what? Long ago they had forsaken any idea of divinity within, or beyond, themselves“ (49). Die Vorstellung einer „divinity within“ ist es, welche die beiden Zeitalter voneinander unterscheidet. Zwar ist das Age of Witspell in Analogie zur Postmoderne ebenso durch den Verlust von Ontologie und Teleologie geprägt wie die vorangegangene Epoche, die Setzung des menschlichen Geistes als Absolutum wird jedoch nicht mehr als der Verlust einer transzendenten sinnstiftenden Instanz verstanden, sondern als Befreiung. Wenn sich die Bewohner des Witspell-London als Götter sehen (vgl. 56), dann betrachten sie sich nicht als ‘klassische’ metaphysische Subjekte, als Instanzen einer letzten Wahrheit, sondern zelebrieren die Erkenntnis, dass nur Wahrheiten existieren: „the fabric of the old reality had dissolved or, rather, it had become interwoven with so many others that it could only rarely be glimpsed“ (53). Mit dieser Entwicklung beginnen nun mythische und christliche Elemente, die im Age of Mouldwarp völlig verschwunden schienen, wieder präsent, wieder ‘real’ zu werden. Aber dennoch: Echte Spiritualität im Sinne eines Glaubens an ein transzendentes Sinnsystem ist auch hier nicht möglich. Eden, Avalon, El Dorado und Utopia können nur gleichberechtigt nebeneinander existieren, weil ihnen der gleiche ontologische Status zukommt: Sie verweisen nicht mehr auf eine übergeordnete Wirklichkeit, sondern nur noch auf sich selbst. Das Bild der untergegangenen Epochen, welches Plato in seinen Reden zeichnet, lässt sich somit als Allegorie auf die Entwicklung der Spiritualität in der okzidentalen Geistesgeschichte lesen. Unter Einbezug von Platos Gegenwart, die dem mythischen Age of Orpheus noch am ehesten verbunden zu sein scheint, spiegelt diese Entwicklung einen Prozess, wie er in der Dialektik der Aufklärung beschrieben ist. Die Aufklärung ist im Mythos bereits angelegt und befreit sich aus ihm durch dessen Zerschlagung. Damit aber wird ein spiralförmiger, sich immer weiter zuspitzender Prozess ausgelöst: Jede säkularisierte Erklärung der Welt, jede Theorie läuft Gefahr, als Glaube, als Mythos gebrandmarkt und letztendlich zerschlagen zu werden, „bis selbst noch die Begriffe des Geistes, der Wahrheit, ja der Aufklärung zum animistischen Zauber geworden sind.“ 403 Wenn auch im ersten Teil des Romans also ein scheinbar klares Bild diametral gegenübergestellter Wirklichkeitsentwürfe gezeichnet wird, so 403 Horkheimer und Adorno (1989), 17. <?page no="155"?> Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers 143 relativiert sich diese Vorstellung zusehends. Die vermeintlich eindeutige Trennung der säkularen, antimetaphysischen Welt von Mouldwarp und der scheinbar sakralen und metaphysischen Welt Platos löst sich im weiteren Verlauf in dem Maße auf, wie sich Plato als Keimzelle einer kognitiven Minderheit zu erkennen gibt. 404 Mit „The Journey of Plato to the Underworld“ (85) wird ein Prozess in Gang gesetzt, der letztendlich die vermeintlich spirituelle und harmonische Glaubenswelt der Bewohner Londons, wie bereits in den dem Roman vorangestellten Fragmenten, als „cruel superstition“ entlarvt, die „boundless dominion over the most elevated and benevolent minds“ (v) ausübt. Platos anfängliche Verwirrung, die sich daraus ergibt, dass er seine Reise in die Unterwelt zunächst für einen Traum hält, macht dabei rasch der Überzeugung Platz, dass ihm eine „revelation“ (103) zuteil geworden ist. Sein Abstieg in eine gewaltige, unterhalb Londons gelegene Höhle, in der das Zeitalter von Mouldwarp weiterhin existiert, gerät zur Epiphanie, die in einem komplexen Geflecht intra- und intertextueller Bezüge erkennen lässt, dass Platos vermeintlich transzendente Lebenswirklichkeit lediglich eine sich selbst absolut setzende säkulare Ordnung ist. Der wichtigste und wohl auch offensichtlichste intertextuelle Verweis erfolgt auf Platons berühmtes und einflussreiches Höhlengleichnis. Die Implikationen durch die Instrumentalisierung dieses Prätextes sind vielschichtig. Zunächst ist auffällig, dass sich der Weg der Erkenntnis, den Plato beschreitet, in umgekehrter Reihenfolge zum Gleichnis seines antiken Namensvetters vollzieht. Führt dort der Weg „aus dem Dunkel des unterirdischen Schoßes ans Licht der Realitäten“, 405 erfolgt für Plato die Annäherung an die Realität auf umgekehrtem Wege. Verstärkt durch die Charakterisierung dieses Weges als „circular path“ (87) entsteht der Eindruck, dass der Erkenntnisprozess ebenfalls ein zirkulärer ist, der allerdings nicht unbedingt Stillstand, sondern vielmehr den Rückgriff auf ältere, gemeinhin als veraltet erachtete Wirklichkeitskonzeptionen impliziert. 7.3 Wahrheit und Wahrheiten Die Manifestation dieses ‘alternativen Wissensstandes’ erfolgt in den beiden letzten Teilen des Romans, der Anklage gegen und das Urteil über Plato, „charged with corrupting the youth by spinning lies and fables“ (95). 404 Vgl. Berger (1991), 25f: Hier definiert sich eine kognitive Minderheit als „eine Gruppe, die sich um einen vom Üblichen abweichenden ‘Wissensbestand’ gebildet hat bzw. bildet.“ 405 Hans Blumenberg, Höhlenausgänge (Frankfurt am Main: 1989), 25. <?page no="156"?> 144 Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers Im Blasphemievorwurf der Engel wird deutlich, dass sich diese, in Analogie zur Wissenschaftsgläubigkeit Mouldwarps, selbst ins Zentrum eines totalitären Wirklichkeitsentwurfes stellen. Der Verstoß gegen den Leitsatz der Engel, „we can have no separate visions“ (117), muss deswegen zwangsläufig zur Stigmatisierung Platos als „a dreamer or mistaken visionary [...] not worthy of attention“ (134) führen, weil er damit ihren Absolutheitsanspruch - „we are the meaning“ (112) - zu unterminieren droht. Dieser Absolutheitsanspruch erwächst, trotz der zunächst nahe liegenden gegenteiligen Vermutung, nicht aus einer transzendenten, sakralen Ordnung, sondern aus einer gänzlich säkularen Hierarchie. Die Engel sind fester Bestandteil der Lebenswelt im London der fernen Zukunft, deren physische Existenz für die Bewohner außer Frage steht; die Engel verlieren sogar, ähnlich wie ganz und gar mundane Vögel, ihre Federn, die von Ornatus und Sidonia wie Souvenirs gesammelt werden (vgl. 84). Mit ihrer eigenen Einsetzung als vermeintlich spirituelles Zentrum verkommt auch die Gläubigkeit der Bewohner Londons zum bloßen Ritual, das wegen des mangelnden Bezugs auf eine transzendente, sinnstiftende Ebene für die um Plato als Keimzelle entstehende kognitive Minderheit als sinn- und bedeutungslos erscheinen muss. Platos subversive These, „[t]o wait, and to do nothing, is a form of worship. Is that what you were taught? [...] Waiting for what? “ (108), stellt über den intertextuellen Verweis auf Samuel Becketts Waiting for Godot die von den Engeln sanktionierte Form des Gebets als absurdes Theaterstück dar, worauf das herrschende diskursive System nicht etwa unter Rückgriff auf eine transzendente letzte Wahrheit, sondern mit juristischen Mitteln antwortet. Damit ist aber die Welt von Plato selbst, und nicht, wie zunächst in seinen Reden propagiert, das Age of Mouldwarp das Zeitalter der „dark ceremonies and slavish priests“ (18) als Manifestation einer „decaying or diseased civilisation“ (18). Im Gegenteil: Nach seiner Reise in die Unterwelt stellt er fest: „Mouldwarp had not ended in chaos“ (99), und konstatiert damit, dass die Zeitalter von Mouldwarp und Witspell vielmehr zwei Aspekte ein und derselben Epoche, zumindest aber nicht eindeutig voneinander zu trennen sind. Zwar erkennen die ‘Höhlenbewohner’ die Existenz ihrer Seelen, die selbst als „tiny chattering spirits“ ohne „beliefs“ (93) in einer Assoziationen an die Moderne weckenden ontologischen Krise verhaftet sind, aber zugleich sind sie von postmodernem, spielerischem Denken geprägt: Of course they could not escape the tyranny of their dimensions, or the restrictions of their life within the cave, but this afforded them extra delight in contrast and discontinuity. Within the precincts of government and of business, of living and of working, they derived great pleasure from reversals and oppositions. (90) Was die nichts ahnenden Bewohner der Höhle den Bürgern des London der Zukunft voraushaben, ist also die Bereitschaft, den Gegensatz, das <?page no="157"?> Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers 145 Andere, zuzulassen. Platos Gegenentwurf zur Wirklichkeitskonzeption der Engel, nämlich die Vorstellung „of two realities existing simultaneously“ (100), ist damit also eher der fragmentierten Perspektive der Unterwelt verwandt als den dogmatischen Lehren seiner eigenen Zeit. In der Tat wird sein Ausbrechen aus dem mittels Strafandrohung aufrechterhaltenen Wertesystem erst durch seine Epiphanie in der Form der unmittelbaren Konfrontation mit der untergegangen geglaubten Vergangenheit ermöglicht. Der Glaube an das Transzendente, der Plato fortan prägt, ist paradoxerweise das Resultat des fragmentierten, säkularisierten, (post)modernen Zeitalters. 406 Platos „revelation“ (103) ist dabei eine echte (Wieder-) Entdeckung von Transzendenz und Spiritualität, wenngleich auch einer geradezu paradox anmutenden Form von Spiritualität. Das übergeordnete Bezugssystem, dessen Realität für ihn unhinterfragbar ist und dessen Richtigkeit nicht in Frage gestellt wird, ist das (post)moderne Mouldwarp; die sprichwörtliche Lichtgestalt Plato lernt den Glauben an die kompakten und ganz und gar nicht übernatürlichen Bürger von Mouldwarp. Der fundamentale Unterschied zu den Wertehierarchien sowohl dieser als auch seiner eigenen Epoche ist aber, dass Mouldwarp kein physisch-mundaner Bestandteil seiner Lebenswirklichkeit ist: I do not know how far I travelled. It is possible that I did not move at all. Perhaps I stood still. [...] I realised later, of course, what had happened. I was changing dimensions in order to enter the world of Mouldwarp. (87) Der Roman vermittelt hier eben jenes „delight in contrast and discontinuity“ (90), das zur Grundlage von Platos neuer Glaubenswelt geworden ist. Das Transzendente ist, von außen betrachtet, nicht mehr das Metaphysische, sondern das Physische; nicht mehr Oben ist Metapher für das Jenseitige, sondern Unten; die Sphäre der Engel ist die Verblendung, und die Erleuchtung das Privileg der Menschen. 407 Die Wiederentdeckung von Spiritualität scheint nur deshalb möglich, weil Plato zum einen bereit ist, bedingungslos seinem Glauben zu folgen, sich andererseits aber zugleich bewusst ist, dass es sich eben nur um 406 Dieser Umstand entspricht der These des Religionssoziologen Gabriel, „daß der Umbruch zur entfaltet-modernen Gesellschaft mit postmodernen Zügen ein religionsproduktives Potential enthält, das einen Bruch zum bisher dominanten Pfad religionsdestruierender Modernisierung anzeigt.“ Karl Gabriel, „Christentum im Umbruch zur ‘Post’- Moderne“, in: Kochanek (1996), 56. 407 Die Verkehrung der Metaphysik vom Übernatürlichen in die Welt des Alltags geht konform mit Derridas Analyse der différance als grundlegendem Element der Metaphysik. Die qualitative Veränderung der Metaphysik liegt in der Absage an das durch sie implizierte Präsenzdenken. Ihre grundlegende Organisationsstruktur, eben die différance, bleibt jedoch bestehen. Vgl. hierzu Welsch (1996), 264f. <?page no="158"?> 146 Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers „faith“ (38), nicht aber um absolute Gewissheit im positivistischen Sinne handelt. So gesteht er dann auch bereitwillig ein, dass die Richtigkeit seiner Überzeugungen für ihn aus der Bereitschaft erwächst, anderes zuzulassen: Während sich die Lehren der Engel im Standpunkt manifestieren, dass „ignorance [...] better than doubt“ (125) ist, kann Plato von sich sagen: „I am clever because I know nothing“ (123). Die grundsätzliche Forderung nach Toleranz geht also einher mit der Ablehnung aller sich selbst absolut setzenden Sinnsysteme. Auch die Instrumentalisierung des Höhlengleichnisses als Metapher für die Wiederentdeckung von Transzendenz unterstützt diese These. Die dialektische Beziehung gegenseitiger Relativierung macht deutlich, dass die epistemologische Reichweite der Bewohner der Höhle und Platos grundsätzlich die gleiche ist. Die Sonne, in Platons Prätext Metapher für die Erfüllung des Erkenntnispotentials des Menschen, ist hier in die Höhle selbst eingebettet, die für ihre Bewohner aber nicht als solche zu erkennen ist. Ausgehend von dieser Betrachtung muss sich Plato fragen, ob nicht wiederum eine „world of brightness beyond our own“ (104) existiert, die aber für ihn nicht erkennbar ist. Ein Bild von unendlich ineinander geschachtelten Höhlen entsteht, sodass ein letzter Erkenntnisraum im Freien niemals tatsächlich erreicht werden kann. Dieser Umstand ist ein fundamentaler Bestandteil der Epiphanie Platos: Die Sonne als Symbol der Erkenntnis wird für ihn zum ersten Mal sichtbar, als er in der Höhle die Begrenztheit der Reichweite ihrer erhellenden Strahlen begreift. Die alternative Wirklichkeitskonzeption, die Plato öffentlich anbietet, als er von den Engeln wegen seiner subversiven Thesen angeklagt wird, steht am Ende einer Entwicklung, die über Zweifel an der dominanten Ontologie zu einer epistemologischen und ontologischen Krise und schließlich durch die Umwertung dieser Krise als Chance zur Polyperspektivität zu einer neuen, postmodernen Form der Spiritualität führt. Das „mace of glass [...] made from the tears of angels“ (22) als Metapher für die Restriktivität des dominanten gesellschaftlichen Sinnsystems muss von Plato, der alle Absolutheitsansprüche, auch die seiner eigenen Thesen, als gefährliche Totalitarismen erkennt, abgelehnt werden. In der Neuentdeckung einer polyperspektivischen Transzendenz bietet sich für ihn der einzige Schutz vor dem Terror des Absoluten, das letztendlich immer in seiner eigenen Zerschlagung mündet: I am not telling you that all is wrong, or all is well. I am simply asking you to question and, perhaps, see the world in different ways. I have done so, upon my journey. I was stripped of all certainties and felt physically afraid. [...] I want you to consider other possibilities. In that respect, at least, we are more fortunate than those who came before us. [...] I know that other ages, like that of Mouldwarp, refused to countenance or understand any reality other than their own. That is why they perished. If we do not learn to doubt, then perhaps our own age will die. (133) <?page no="159"?> Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers 147 Im Gegensatz zu einer orthodox-institutionalisierten Form von Spiritualität tritt Plato hier nicht als Vermittlerfigur zwischen seiner und einer übergeordneten Realität vor seine Mitmenschen. Wahrheit ist für ihn immer „truth that was true for me alone“ (107) und die Erleuchtung immer ein höchst individuelles Erlebnis (vgl. 103). Er versteht sich als Lehrer, der insbesondere den Kindern die Fähigkeit „to doubt and to question“ (106) vermitteln möchte, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich selbst, statt „the lessons others wished to teach“ (107), zu studieren. Eben dieses ‘Selbststudium’ ist es, das Plato die Existenz seiner eigenen Seele nicht nur erkennen lässt, sondern ihm darüber hinaus das Gespräch mit ihr ermöglicht. Die Existenz einer unsterblichen, ewigen Seele (vgl. 38) aber scheint zunächst der postmodernen Fragmentierung und Dezentrierung, die, wie gezeigt, die paradoxe Basis für die alternative Spiritualität Platos ist, diametral entgegengesetzt zu sein. Bei näherer Betrachtung wird hier jedoch weniger die Vorstellung eines unveränderlichen Wesenskerns wieder eingeführt, sondern vielmehr die Forderung nach Polyperspektivität bzw. vielstimmiger Heterogenität erneut bekräftigt. So ist Platos Seele weiblich (vgl. 119) und wird als solche mit im traditionellen Diskurs feminin besetzten Werten wie „love and intuition“ (64) assoziiert. 408 Sie komplementiert Plato, der durch seinen telling name und die Thematik seiner Ausführungen mit dem okzidentalen, patriarchalen Wissensdiskurs verbunden ist, und ermöglicht erst durch ihre Manifestation den Erkenntnisprozess, der schließlich in der Ausformulierung einer alternativen, polyperspektivischen Spiritualitätskonzeption mündet. Die Subversivität dieser Forderung für das herrschende System kann kaum überschätzt werden. Der Ausspruch der Engel, der das Ende ihres Prozesses gegen Plato anzeigt, „We are dissolved“ (135), gerät so zur Prophezeiung über das Ende ihrer Herrschaft; der Diskurs des Absoluten hat seine Gültigkeit verloren. Der unaufhaltsame Auflösungsprozess, der durch Plato ausgelöst wurde, fungiert dabei einerseits als Befreiung vom Terror des Absoluten, andererseits beraubt er aber auch die Engel als spiritueller Institution ihrer Schutzfunktion, denn mit dieser gehen alle alten Deutungssicherheiten verloren. Das Exil, das Plato am Ende des Romans wählt, macht deutlich, dass die von ihm propagierte Spiritualität letztendlich den Verlust aller Sicherheiten mit sich bringt: Des Schutzes des ‘alten’ 408 Die Instrumentalisierung eines weiblich besetzten Anderen ist dabei nicht unproblematisch. Wenn Platos Seele von sich selbst sagt, dass sie keine bestimmte Aufgabe erfüllt, einfach existiert und erst über Platos Vorstellungen ihrer selbst definiert wird (vgl. 76 und 64), dann verfällt sie in einen entmündigenden traditionell-patriarchalen Diskurs zurück. Dieser Umstand weist darauf hin, dass natürlich auch seine Forderung zur Polyperspektivität und Toleranz in Verbindung mit Intoleranz gegenüber allem, was nicht selbst tolerant ist, ein sich selbst absolut setzender Zentrismus ist. <?page no="160"?> 148 Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers London beraubt, wird Plato zum Wanderer, dessen „continual search after truth“ (v) zwar „in triumph“ (138), aber auch in Heimatlosigkeit als Metapher für Flexibilität und zugleich Schutzlosigkeit endet. 409 7.4 The Plato Papers und postmoderne Pluralität Als Bilanz lässt sich festhalten, dass die Auseinandersetzung mit Spiritualität und Transzendenz in The Plato Papers überaus vielschichtig ist und, in für die literarische Postmoderne typischer Weise, die thematisierte Fragmentierung formal und inhaltlich illustriert wird. Die verschiedenen Zeitalter evozieren in ihrer Abfolge dabei einerseits einen spiralförmigen Prozess, der an das von Horkheimer und Adorno diagnostizierte Rückschlagen von Aufklärung in den Mythos erinnert. Gleichzeitig lassen sie sich als konzise Analyse der Entwicklung von Spiritualität in der okzidentalen Geistesgeschichte interpretieren, mit besonderem Augenmerk auf die Perioden von Mouldwarp und Witspell als Allegorien auf ineinander verschlungene, post/ moderne Entwicklungen und Strömungen in der zeitgenössischen Gesellschaft. Insbesondere hier wird deutlich, „dass das säkularisierte Bewusstsein“, das oft als konstitutiv für die Postmoderne gilt, „eben nicht das Absolute ist, als das es sich präsentiert.“ 410 Platos Neuentdeckung einer paradoxen Transzendenz, die zwar auf eine übergeordnete Realitätsebene rekurriert, aber alle Absolutismen dezidiert ablehnt, steht am Ende eines Prozesses „religiöser Individualisierung“, der „auf komplexe Weise befreiende Ablösungen aus zwanghaft aufrechterhaltenen Symbolsystemen mit Verlusterfahrungen orientierender Welt- und Selbstdeutungen“ 411 mischt. Fragmentierung, Enthierarchisierung und Pluralisierung werden hier nicht als Verlust von Sinnhaftigkeit bedauert, sondern vielmehr im Sinne einer ‘präzisen’ Postmoderne als Möglichkeit „to produce a richly polyontological cosmology“ 412 gedeutet. Die Umwertung der epistemologischen und ontologischen Krise als Schutz 409 Paul Smethurst (2002) bewertet das Ende des Romans gänzlich anders: „When Plato returns to his universe, he is accused of corrupting the young with his tales of this ‘real’ London beneath their own. He is put on trial and banishes himself from the city, perhaps to return to the cave unseen by the people of Mouldwarp (i.e. us), or perhaps to simply enter ‘another dream’. As with earlier novels, this is not a good ending. Ackroyd admits that he is not very good at endings. The problem, he claims, lies in the cyclical and parallel nature of his fictions, which sometimes just have to end, like a point on a circle. The alternative is to try to bring them to a close in a ‘mystical climax’.“ 410 Berger (1991), 157. 411 Gabriel (1996), 49. 412 McClure (1995), 149. <?page no="161"?> Spiritualität und Polyperspektivität in Peter Ackroyds The Plato Papers 149 vor dem Terror des Absoluten und Chance zur Generierung eines gleichermaßen flexiblen wie transzendenten sinnstiftenden Bezugssystems vereint als ‘postmoderne Spiritualität’ also zwei Konzepte in sich, die einander zunächst auszuschließen scheinen. Die Möglichkeit der Erkundung der einen letzten, transzendentalen Wahrheit ist hier nicht mehr gegeben, wohl aber die Möglichkeit zur immer neuen kreativen Sinnstiftung in einer enthierarchisierten und fragmentierten Welt. So gedeutet steht Ackroyds The Plato Papers am Ende einer Entwicklungslinie, die mit der radikalen Infragestellung und Dekonstruktion diskursiv produzierter Welterklärung ohne Angebot eines Ersatzmodells in Hawksmoor begonnen hat. Einfache, ohne weiteres in lebensweltliche Praxis umzusetzende Angebote macht freilich auch The Plato Papers nicht, und vielleicht ist die Verlagerung der Handlung in die fantastische Welt Platos zum Teil dem Umstand geschuldet, dass ein solches Angebot gar nicht gemacht werden soll. Vielmehr kann der Roman als Aufforderung gedeutet werden, Werte und vermeintliche Sicherheiten nicht nur zu hinterfragen, sondern auch neu zu konstituieren. Ohne zugrunde liegendes Wertesystem, das machen Hawksmoor und Chatterton deutlich, ist letztendlich auch keine Identität im Sinne narrativ erzeugter Kontinuität und Kohärenz mehr denkbar. Dies kann aber auch nicht den Rückfall auf totalisierende Diskurse als vermeintliche Garanten von Stabilität bedeuten, wie an der Figur John Miltons und seinem Scheitern an einer sich verändernden Welt in Milton in America illustriert wird. Obwohl The Plato Papers in seiner extremen Fragmentierung, seinem ironischen Ton, dem irrationalen und fantastischen Element, und schließlich auch mit seinem spielerischen Umgang mit Sprache und intertextuellen Bezügen als der ‘postmodernste’ der vorgestellten Romane erscheint, kann er doch zugleich als die ernsthafteste Auseinandersetzung mit der Problematik um die Auflösung von Identität und Sinn gewertet werden. <?page no="162"?> 8 Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory 413 The attempt to straitjacket these designated spaces into the texts seems an essentially defensive maneuver, safeguarding against their escape beyond the confines of écriture into wider social praxis by limiting the dissemination of these forms of knowledge to the consumers of avant-garde culture. 414 Poor Eric came home to see his brother, only to find (Zap! Pow! Dams burst! Bombs go off! Wasps fry: ttssss! ) he’s got a sister. 415 Iain Banks’ Debütroman The Wasp Factory, der 1984 - ein Jahr vor Peter Ackroyds Hawksmoor - erscheint, fügt sich einerseits in die Reihe der bisher besprochenen Texte, markiert gleichzeitig aber in gewisser Weise einen Bruch. Anders als die Romane Ackroyds, die sich generell, wenn auch im Falle von The Plato Papers auf problematische Weise, als historiographische Metafiktionen beschreiben lassen, trifft diese Kategorisierung auf The Wasp Factory nicht zu. Vielmehr lässt sich der Text als fiktionale Autobiographie, als modern gothic, oder, feuilletonistisch und kulturpessimistisch gewendet, als literarisches Äquivalent zu den so genannten video nasties lesen, die zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung des Romans die Diskussion um Öffentlichkeit und Gewalt in Großbritannien bestimmen: 416 413 Grundlage dieses Kapitels ist der Beitrag „Identität und Identitätskonstruktionen in Iain Banks’ The Wasp Factory“, in: Stefan Glomb und Stefan Horlacher (Hrsg.), Beyond Extremes. Repräsentation und Reflexion von Modernisierungsprozessen im zeitgenössischen britischen Roman (Tübingen: 2004), 101-117. 414 Laura Kipnis, „Feminism: the Political Conscience of Postmodernism? “, in: Andrew Ross (Hrsg.), Universal Abandon? The Politics of Postmodernism (Edinburgh: 1989), 159. 415 Iain Banks, The Wasp Factory (London: 1997), 184. Im Folgenden durch Seitenangaben im Text zitiert. 416 Zur Rezeption des Romans vgl. auch Oliver Schoenbeck (2000), 91 sowie Thom Nairn, „Iain Banks and the Fiction Factory“, in: Gavin Wallace und Randall Stevenson (Hrsg.), The Scottish Novel since the Seventies (Edinburgh: 1993), 128. Thom Nairn macht für die überwiegend kritische Reaktion der englischen Presse Unterschiede der schottischen und englischen Gesellschaft aus, „suggesting the presence in the former of a darker, more complex, perhaps not altogether creditable sense of humor“. <?page no="163"?> Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory 151 Iain Banks is a writer whose work embraces darkness: the darkness of the gothic, of the postmodern, of the body in all its abject excesses. The Wasp Factory, his first novel, is characteristically dark and sets itself up as a hybrid form straddling the literary modes of the postmodern and the gothic. 417 The Wasp Factory kann als der Versuch des Protagonisten Francis Leslie Cauldhame, genannt Frank, beschrieben werden, seine von Gewaltexzessen bestimmte Jugend autobiographisch aufzuarbeiten: Nach einer Hundeattacke in frühester Kindheit sind seine Genitalien verstümmelt, und Frank bemüht sich, den sprichwörtlichen Verlust seiner Männlichkeit durch die Übererfüllung tradierter Männlichkeitsmuster auszugleichen. Diese Selbstkonstruktion als ‘ganzer Kerl’ ist dabei so erfolgreich, dass sie erst dann wirklich ins Wanken gerät, als sich herausstellt, dass Frank das Resultat eines sozio-biologischen Experiments seines Vaters ist: Die Hundeattacke ist lediglich Teil einer elaborierten Fiktion, und Francis Leslie eigentlich Frances Lesley. Insbesondere mit Hawksmoor, Chatterton und Milton in America hat The Wasp Factory gemein, dass sich der Roman weniger durch eine radikalexperimentelle Form auszeichnet, sondern vielfach Erzählkonventionen des realistischen Romans folgt. Die thematische Annäherung an und Auseinandersetzungen mit den Fragestellungen einer ‘präzisen’ Postmoderne zeigt sich vielmehr auf anderer Ebene. Der Zusammenhang von Konstruktion, Fiktion und Identität, den The Wasp Factory thematisiert, rückt bereits auf den ersten Seiten des Romans in den Vordergrund. Franks Versicherung, „I’m me and I’m here and that’s all there is to it“ (13), die in Variationen den ganzen Roman durchzieht, verkehrt sich in ihrer Aussage durch die Häufigkeit in das Gegenteil und wirft schnell die Frage nach der Zuverlässigkeit des Erzählers auf - nicht nur im Hinblick auf die geschilderten Ereignisse, sondern auch in Bezug auf sein Selbstkonzept. Und in der Tat macht das Schlusskapitel ‘What Happened to Me’ deutlich, dass eben jene Selbstversicherungen Ausdruck des Verlustes der eigenen Identität und zugleich der Versuch sind, über das Erzählen Konsistenz und Konstanz des Selbstkonzeptes zu sichern: „Frank’s voice is not the voice of the text.“ 418 Die mit der Enthüllung der vermeintlichen Kastration als Fiktion einhergehende Zerstörung von Franks Selbstbild und die Infragestellung seiner Identität ist dabei der Beginn eines Prozesses, der am Ende des Romans erst seinen Anfang nimmt: Das Vakuum, welches mit der Zerschlagung von Franks idiosynkratischem Weltbild entsteht, muss erst neu gefüllt 417 Lucie Armitt, „The Wasp Factory“, in: The Literary Encyclopedia 25 Mar. 2002. http: / / www.litencyc.com/ php/ sworks.php? rec=true&UID=8095. 418 Victor Sage, „The Politics of Petrification: Culture, Religion, History in the Fction of Iain Banks and John Banville“, in: ders. (Hrsg.), Modern Gothic (Manchester: 1996), 25. <?page no="164"?> 152 Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory werden. So markiert die beinahe panisch anmutende, erneute Selbstversicherung im Schlusskapitel den Unwillen, sich von der alten Identität zu lösen, aber auch die Unfähigkeit, im Licht der Ereignisse an eben jener Identität festzuhalten: But I am still me; I am the same person, with the same memories and the same deeds done, the same (small) achievements, the same (appalling) crimes to my name. Why? How could I have done those things? (182) Die ‘(abstoßenden) Verbrechen’, von denen hier die Rede ist, umfassen dabei nicht nur das gezielte Foltern und Töten von Tieren im Rahmen magischer Rituale, sondern auch drei Morde: Cousin Blyth, Brüderchen Paul und Cousine Esmeralda fallen im Abstand von wenigen Jahren Frank zum Opfer. Gemeinsam ist allen Taten der rituelle Hintergrund: Das regelmäßige Töten von Insekten, Hasen, Möwen sowie von diversen Haustieren, um ‘Rohmaterial’ für magische Rituale zu erhalten, dient für Frank ebenso dem Schutz und der Kontrolle der kleinen Halbinsel, auf der er gemeinsam mit seinem Vater lebt, wie die Morde an seinen drei Verwandten. Das mythische Weltbild, das all seine Handlungen motiviert, verlangt immer wieder nach neuen Opfern. Nur selten sieht sich Frank dabei von „personal illwill“ (87) gegenüber seinen Opfern motiviert, sondern vielmehr von der Notwendigkeit, für die ‘richtige’ Ordnung der Welt durch aktives Eingreifen zu sorgen: I killed little Esmeralda because I felt I owed it to myself and the world in general. I had, after all, accounted for two male children and thus done womankind something of a statistical favour. If I really had the courage of my convictions, I reasoned, I ought to redress the balance at least slightly. (87) Neben dem Versuch der Steuerung seiner Umwelt dienen Franks Gewalt- und Tötungsorgien aber noch einem weiteren Ziel, dessen fundamentale Bedeutung für seine Selbstkonstruktion für ihn selbst erst mit der Enthüllung seines tatsächlichen Geschlechts am Ende des Romans reflektierbar wird. Die „Unausgesprochenheit des Besonderen“, 419 mit welcher der Roman den Protagonisten einführt, verweist dabei bereits auf die Besonderheiten von Franks Weltsicht: „I had been making the rounds of the Sacrifice Poles the day we heard my brother had escaped. I already knew something was going to happen; the Factory had told me“ (7). Wenn der Leser hier mit den zentralen Elementen von Franks „personal mythology, with the Factory behind it“ (128) konfrontiert wird, ohne diese jedoch näher einordnen zu können, wird damit eine Leerstelle geschaffen, die das eigentliche ‘Geheimnis’, nämlich das I des Erzählers, verdeckt und 419 Schoenbeck (2000), 92. <?page no="165"?> Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory 153 somit einen „Großteil der Lesersteuerung des Romans“ 420 übernimmt: Ähnlich wie die titelgebende und im Zentrum von Franks Privatmythologie stehende Wespenfabrik - eine um das Ziffernblatt einer alten Turmuhr konstruierte Maschine, welche die in sie eingesetzten Wespen unweigerlich, aber in immer neuen Variationen tötet - von Anfang an präsent ist, aber in ihrer Bedeutung erst gegen Ende von Franks Erzählung gefasst werden kann, bleibt auch die Identität des Erzählers zunächst verborgen; die Struktur der Dopplung und Parallelisierung, wie sie sich hier bereits andeutet, zieht sich dabei durch alle Ebenen des Romans. Die hier beschriebene Technik des Ausspielens antagonistisch konstruierter Diskurse erinnert dabei nicht von ungefähr an Peter Ackroyds Hawksmoor. Hier wie dort stehen sich ein antirational-mystisch aufgeladenes und ein rationalistisches Weltbild kontrastiv gegenüber. Anders als bei Ackroyd beschränkt sich Banks’ Roman jedoch nicht auf die bloße Infragestellung und Dekonstruktion, sondern macht auch (re)konstruktive Sinnangebote. Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern es The Wasp Factory gelingt, die Problematik statisch gedachter Diskurse für die Konstruktion von Identität aufzuzeigen und stattdessen eine dynamischprozessuale Identitätskonzeption anzubieten, ohne dabei jedoch in eine euphorisch-blinde Bejahung postmoderner Pluralisierung zu verfallen. 8.1 Mythos und Aufklärung Von Beginn des Romans an werden zwei Welterklärungsmodelle in signifikanter Weise gegenübergestellt, deren jeweiliger Absolutheitsanspruch und der daraus resultierende Konflikt nicht nur den Verlauf des Plots präfigurieren, sondern, wie sich später noch zeigen wird, auch „gleichsam die Entwicklung der westlichen Geistesgeschichte“ 421 nachvollziehen. Wenn Frank sein Glaubens- und Ordnungssystem als „personal mythology“ (128) beschreibt, so liefert er damit in der Tat eine adäquate Selbsteinschätzung: Die von ihm beschriebenen Fetische, Rituale und Visionen entsprechen nicht nur in klischeehafter Weise den mit der Welt des Mythos assoziierten populärwissenschaftlich anmutenden Vorstellungen, sondern auch dem in der Dialektik der Aufklärung angebotenen Mythos-Begriff. So sieht Frank seine Welt von einem Netz aus Ähnlichkeits- und Symbolbeziehungen geprägt, das in Analogie zur Technik als angewandtem Wissen der Aufklärung das Ritual als Instrumentarium zur Manipulation der Umwelt nutzt: 420 Schoenbeck (2000), 92. 421 Schoenbeck (2000), 101. <?page no="166"?> 154 Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory From the smaller to the greater, the patterns always hold true, and the Factory has taught me to watch out for them and respect them. (37) All of our lives are symbols. Everything we do is part of a pattern we have at least some say in. […] The Wasp Factory is part of the pattern because it is part of life and even more so part of death. (117) Dies allerdings setzt die Initiierung in das System des Mythos voraus, denn das „Ritual schließt eine Vorstellung des Geschehens wie des bestimmten Prozesses ein, der durch den Zauber beeinflusst werden soll.“ 422 Für Frank, der als Erschaffer seiner eigenen Privatmythologie und als Erbauer des wichtigsten Orakels, der Wespenfabrik, alle vermeintlichen Wechselbeziehungen kennt, bedeutet dies innerhalb eines geschlossenen Systems die absolute Manipulations- und Definitionsmacht, ähnlich wie von Milton in Ackroyds Milton in America angestrebt. So ist er in der Lage, seinen eigenen, als mangelhaft empfundenen Körper, der zugleich im Zentrum seiner Aufmerksamkeit steht, aber in allem, was an die vermeintliche Kastration erinnert, fast vollständig ausgeblendet und schamhaft versteckt wird (vgl. 79f), in eine Quelle der Macht umzudeuten. Wenn Frank während seiner rituellen Waschungen, „the only time in any twenty-four-hour period I take my underpants right off“, stets einem „definite and predetermined pattern“ (44) folgt, erfüllt dies zunächst eine gewisse Schutzfunktion: Der stets gleiche, automatisierte Ablauf setzt keine bewusste und damit potentiell das Selbstbild gefährdende Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper voraus. Gleichzeitig jedoch liefert eben dieser mangelhafte Körper im Rahmen des Waschrituals die „precious substances“ (44), welche den Totempfählen, die ihm sowohl als eine Art magisches Frühwarnsystem dienen als auch das von ihm beanspruchte Territorium kennzeichnen, gemeinsam mit verschiedenen Tierschädeln erst ihre Macht verleihen. Nicht nur die „Sacrifice Poles“ können demnach als „symbolische Phalli gelesen werden, die als solche männliche Gewalt konnotieren.“ 423 Vielmehr wird Franks gesamter Körper durch das Ritual zum Instrument der Erfüllung seiner Männlichkeitsstereotype, zum symbolischen Phallus gemacht: In order to make amends for his failure to embody the ideal, he must inscribe the phallic principle in whatever he does, assertively expanding his self by assimilating the world in acts of autistic identification. 424 Dem Prinzip der narzisstischen Selbsteinschreibung in seine Umwelt liegt dabei ein Sprachverständnis zugrunde, welches das Netz aus Wechselbe- 422 Vgl. Horkheimer und Adorno (1989), 14. 423 Schoenbeck (2000), 92. 424 Berthold Schoene-Harwood, „Dams Burst: Devolving Gender in Iain Banks’s The Wasp Factory“, in: ARIEL 30: 1 (1999), 140. <?page no="167"?> Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory 155 ziehungen, aus Ritual und Einfluss, das Franks Weltbild bestimmt, widerspiegelt. Namen und das durch sie Bezeichnete stehen hier in eben jenem heterotopischen Ähnlichkeitsverhältnis, in dem auch die Wespenfabrik und Franks eigenes Leben stehen. Als Spiegel kommt ihr eine Funktion zu, die in einer paradoxen Doppelbewegung den Unterschied zwischen Realität und Spiegelung aufhebt: Ob Franks eigenes Leben nur eine Spiegelung der Wespenfabrik ist oder umgekehrt, wird damit irrelevant. Auf diese Weise gelingt es ihm, wie Ackroyds Milton, bei jedem Blick nach Außen das Konstrukt seines Inneren als Realität bestätigt zu sehen: I am over there, there where I am not, a sort of shadow that gives my own visibility to myself, that enables me to see myself there where I am absent: such is the utopia of the mirror. […] The mirror functions as a heterotopia in this respect: it makes this place that I occupy at the moment when I look at myself in the glass at once absolutely real, connected with all the space that surrounds it, and absolutely unreal, since in order to be perceived it has to pass through the virtual point which is over there. 425 Um nun das absolute Zentrum und die uneingeschränkte Macht innerhalb seiner „personal mythology“ halten zu können, ist es demnach notwendig, die in seiner Lebensumwelt besonders wichtigen Dinge, Plätze und Ereignisse in einer „naming ceremony“ (63) mit ihren ‘eigentlichen’, nur Frank selbst bekannten Namen zu belegen. Die Benennung der Schauplätze der Morde an seinem Cousin Blyth und seinem Bruder Paul erfüllt damit eine Doppelfunktion. Zum einen gelingt es ihm auf diese Weise, das durch die Namen „Snake Park“ und „Bomb Circle“ Bezeichnete, also sowohl die beiden Orte als auch die Morde selbst, noch enger an sich zu binden. Zum anderen werden die Ereignisse auf diese Weise vor der Entdeckung durch andere geschützt: Nur wer Kenntnis der geheimen Namen hat, kann auf die wahren Ereignisse schließen. Dies gilt auch für die scheinbar harmlosen Alltagsgegenstände, die Frank bei seinen Feldzügen gegen die belebte und unbelebte Materie auf der Insel mit sich führt. Steinschleuder, Spaten und Umhängetasche und die mit ihnen verbundenen Gewalttaten erscheinen ihm als sicher, solange niemand durch Kenntnis ihrer wahren Namen „Black Destroyer“, „Stoutstroke“ und „War Bag“ ihre Signifikanz erkennt. Besonders deutlich zeigt sich die seiner Definitionsmacht innewohnende manipulative Kraft, als er Paul, der seinem älteren Bruder Frank bedingungslos vertraut, dazu verleitet, am Strand auf eine freigespülte Fliegerbombe einzuschlagen: 425 Foucault (1986), 24. <?page no="168"?> 156 Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory ‘See this? ’ I said. It was a rhetorical question. Paul nodded, big eyes staring. ‘This,’ I told him, ‘is a bell. Like the ones in the church in the town. The noise we hear on a Sunday, you know? ’ (68) Der Umstand, dass die okkulten Namen der Dinge dabei in so augenscheinlicher Verbindung mit den tatsächlichen Ereignissen stehen, ist dabei in mehrfacher Weise signifikant. Zum einen wird hier deutlich, dass für Frank eine Trennung von Bezeichnendem und Bezeichnetem, aber auch dem Bezeichnenden selbst, eigentlich undenkbar ist, ist doch deren unmittelbare Verknüpfung gerade einer der definierenden Aspekte des magischen Systems: Magisches Denken erlaubt keine grundlegende Unterscheidung zwischen Dingen und Personen, Unbeseeltem und Beseeltem, zwischen Gegenständen, die manipuliert werden können, und Agenten, denen wir Handlungen und sprachliche Äußerungen zuschreiben. 426 Zum anderen wird bei genauerer Betrachtung der vermeintlich eindeutig auf die Verbrechen hinweisenden Ortsnamen schnell klar, dass hier auch ein metasprachlicher Kommentar vorliegt. Auch wenn Angus oder Diggs jemals Kenntnis von Franks idiosynkratischer Landkarte erhalten sollten, so bliebe ihnen ihre ‘geheime’ Bedeutung dennoch verborgen: Der Signifikant ‘Snake Park’ verweist gerade nicht eindeutig auf das Signifikat ‘Schauplatz eines Verbrechens’, sondern ebenso auf ‘Schauplatz eines tragischen Unfalls’. Nur durch das Kontextwissen wird die eine oder die andere Verknüpfung wahrscheinlicher; Franks Konstrukt einer allein durch Kenntnis geheimer Namen und magischer Rituale beherrschbaren Welt wird so als Selbsttäuschung beleuchtet. Seine Strategie der Machtsicherung durch Benennung, und damit auch Ordnung der Dinge, doppelt dabei, ohne dass dies Frank zunächst bewusst sein kann, das Experiment des Vaters: Die Umbenennung von Francis in Frances ist zwar nicht der alleinige, aber dennoch ein wesentlicher Faktor bei dem Versuch, die Geschlechtsidentität Franks zu manipulieren. 427 Franks zentrale Stellung innerhalb des Ordnungs- und Sprachsystems macht seine Privatmythologie besonders flexibel und anpassungsfähig. Dadurch ist er in der Lage, nicht nur seinen (vermeintlichen) körperlichen Mangel, sondern auch fast alle seinen Überzeugungen eigentlich widersprechenden Ereignisse erfolgreich in einen Machtgewinn umzudeuten - und dies wohl regelmäßig, denn anders als in Ackroyds Hawksmoor finden 426 Habermas (1983), 414. 427 Vgl. hierzu auch Schoenbeck (2000), 97: „So scheint auch ein neues, ironischsarkastisches Licht auf Franks frühe Feststellung, daß sein Vater keinen großen Wert darauf lege, seine Dinge zu benennen; denn Frank war nur, wer er war, weil sein Vater ihn mit einer fingierten Geschichte benannt hat.“ <?page no="169"?> Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory 157 sich keine Signale im Text, welche die Wirkmächtigkeit der magischen Handlungen aus einer Metaperspektive zumindest nahe legen würden. So zeigt Frank sich auch nicht weiter erstaunt, als der „Black Destroyer“ trotz seiner Schutzrituale zerstört wird: That didn’t help the Black Destroyer, certainly, but it died because I made a mistake, and my power is so strong that when it goes wrong, which is seldom but not never, even those things I have invested with great protective power become vulnerable. (64) Gelingt ihm dies einmal nicht, so ist er in der Lage, kurzfristig das gesamte Ordnungssystem neu zu arrangieren und damit die Kontrolle über die Ereignisse scheinbar wiederzuerlangen. Wenn Frank bekundet „it was my Factory, after all“ (115), so bekräftigt er nicht nur seinen Platz als Konstrukteur, 428 sondern auch als metaphysische Instanz, deren Deutungshoheit ihm die Assimilation seiner Weltanschauung zuwiderlaufender Beobachtungen beziehungsweise die Akkommodation an solche Ereignisse besonders einfach macht: I know who I am and I know my limitations. I restrict my horizons for my own good reasons; fear - oh, yes, I admit it - and a need for reassurance and safety in a world which just so happened to treat me very cruelly at an age before I had any real chance of affecting it. (136) Der Umstand, dass die geheime Ordnung der Dinge durch den Text aufgedeckt und Franks Machtposition damit genichtet wird, ist dabei in hohem Maße signifikant und verweist auf einen doppelten Konstruktionsprozess, denn der Erzähler steht bereits außerhalb dieser Ordnung und versucht durch seine (Re)Konstruktion ein idiosynkratisches Weltbild zu erschließen, dessen eigener konstruierter Charakter damit noch deutlicher hervorgehoben wird. Darüber hinaus wird die enge Verknüpfung von Wissens- und Machteffekten herausgestellt, die nicht nur den Prämissen des magischen Rituals der Dialektik der Aufklärung entspricht, sondern auch das Beziehungsgeflecht von Epistemen, Wissen und Macht im Sinne Foucaults assoziiert. 429 Franks Privatmythologie kontrastiv gegenübergestellt ist das zwar überspitzt gezeichnete, aber dennoch klar als rationalistischwissenschaftlich geprägt erkennbare Weltbild seines Vaters, Angus Cauldhame. Die Darstellung von Angus’ Wert- und Ordnungssystem unterliegt 428 Auch hier zeigt sich eine Parallele zu Hawksmoor bzw. Nicholas Dyer. 429 Freilich mit unterschiedlichen Konsequenzen für Franks Stellung innerhalb des Ordnungssystems. Nimmt er innerhalb der Welt des Mythos eine allmächtige Letztbegründungsposition ein, so ist diese Position in einer epistemisch strukturierten Welt nicht mehr denkbar und sind Machteffekte allenfalls lokal reproduzierbar. Vgl. Rudi Visker, Michel Foucault: Genealogie als Kritik (München: 1991), 60ff. <?page no="170"?> 158 Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory dabei einer doppelten konstruktiven Brechung: Zum einen ist die Schilderung wiederum der Versuch einer Rekonstruktion aus der Rückschau der Erzählinstanz heraus, und zum anderen ist das Verhältnis von Angus und Frank durch gezielte Desinformationen geprägt, die Frank erst als Teenager zu durchschauen lernt: I probably know more about conventional school subjects than most people of my age. I could complain about the truth of some of the bits of information my father passed on to me, mind you. Ever since I was able to go into Porteneil alone and check things up in the library my father has had to be pretty straight with me, but when I was younger he used to fool me time after time, answering my honest naïve questions with utter rubbish. For years I believed that Pathos was one of the Three Musketeers, Fellatio was a character in Hamlet, Vitreous a town in China, and that the Irish peasants had to tread the peat to make Guinness. (14) Auch in Bezug auf die Biographie seines Vaters sind Franks Informationen eher dürftig: Weder sein Beruf, „a doctor of chemistry or perhaps biochemistry - I’m not sure“ (14), noch seine Einkommensquellen, noch sein genaues Alter sind Frank bekannt. In der Konsequenz fällt es ihm schwer, die tatsächlichen von den vorgeblichen Ansichten seines Vaters zu unterscheiden, „he still maintains he believes this [...] but I know he’s just mischiefmaking again“ (12), und so beschränkt sich die Kontrastierung auf zentrale Elemente von Franks Privatmythologie. Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei das jeweilige Sprachverständnis, das, wie oben gezeigt, zumindest für Frank von zentraler Bedeutung ist. Anders als sich selbst attestiert er dem Vater kein gesteigertes Gespür für die Bedeutung der Bezeichnung der Dinge: I stroked the long handle of the trowel, wondering if my father had a name for that stick of his. I doubted it. He doesn’t attach the same importance to them as I do. I know they are important. (15f) Statt die okkulte Signifikanz der Dinge zu erkennen, beschränkt sich Angus’ Blick auf die empirisch fassbaren Eigenschaften aller ihn umgebenden Objekte: Episteme der Ähnlichkeit werden durch Episteme der Repräsentation ersetzt - ein Schritt, der den in Foucaults Ordnung der Dinge diagnostizierten Bruch zwischen vor-modernen und modernen Diskurssystemen spiegelt. Im Gegensatz zur mythischen Welt Franks, in der Signifikant und Signifikat untrennbar miteinander verbunden und über Rituale manipulierbar sind, sind hier Bezeichnendes und Bezeichnetes vollständig auseinander gefallen. In der Konsequenz muss die eindeutige Zuordnung durch besondere Strategien gesichert werden: Ever since I can remember there have been little stickers of white paper all over the house with neat black-biro writing on them. Attached to the legs of chairs, the bottoms of jugs, the aerials of radios, the doors of drawers, the headboards of beds, the screens of televisions, the handles of pots and pans, they give the <?page no="171"?> Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory 159 appropriate measurements for the part of the object they’re stuck to. There are even ones in pencil stuck to the leaves of plants. (11) Die Pedanterie, mit der Angus die Ergebnisse seiner Messungen im so genannten „Measurement Book“ festhält, erscheint insbesondere vor dem Hintergrund seiner wissenschaftlichen Ausbildung als kritischer Kommentar: Die gesammelten Daten sind nichts weiter als Informationsmüll, der nicht nur keine Erklärungen birgt, sondern auch eine eigenständige, unmittelbare Erfahrung der Umwelt unmöglich zu machen scheint - ein Umstand, der von Frank instrumentalisiert wird, um sich durch die Herausstellung der unterschiedlichen Prioritäten weiter von seinem Vater abzugrenzen: Later my father decided it would be useful and character-forming for me to know all the measurements as well as he did, so I had to sit for hours with the Measurement Book […]. It didn’t leave much time for going out to play, and I resented it a great deal. (12) Angus’ Festhalten an den „damn silly Imperial measurements“ (12) bietet für Frank eine weitere Möglichkeit zur Distanzierung. Darüber hinaus wird jedoch auch, vor dem Hintergrund der Masse von gezielten Desinformationen, erneut ein Schlaglicht auf die konstruiert-fiktionale Dimension des durch Angus repräsentierten Ordnungssystems geworfen: Angus gibt vor, die wahre Gestalt der Welt als Möbiusband 430 erkannt zu haben und lehnt deshalb das metrische System, „based on the measurement of the globe“ (12), ab. Was hier zunächst noch als Parodie erscheint und Angus weniger als Wissenschaftler denn als verrückten Eigenbrötler erscheinen lässt, gewinnt im Zuge der Auflösung des Plots eine andere Qualität: Die abstrusen Vorstellungen, die Angus Frank gegenüber propagiert, erweisen sich als Teil seines perfiden sozio-biologischen Experiments und sind als solche durchaus mit einer, wenn auch idiosynkratisch ausgeformten, empirisch-rationalen Grundhaltung vereinbar. Trotz aller Abgrenzungsversuche durch Frank fallen jedoch immer wieder die Parallelen beider Weltordnungen und ihrer Bewertung durch den Erzähler ins Auge. Im Zentrum beider Diskurse stehen ihre jeweiligen Schöpfer in einer gedachten absoluten Machtposition, deren Verteidigung 430 Dieser intertextuelle Verweis auf John Barths „Frame-Tale“ - Teil der häufig als Klassiker der postmodernen Literatur gewerteten Textsammlung Lost in the Funhouse - entpuppt sich bei näherer Betrachtung auch als Metakommentar. „Frame-Tale“ fordert den Leser auf, den Text („Once upon a time there was a story that began“) auszuschneiden und zu einem Möbiusband zu drehen; die resultierende Schleife bildet damit einen endlosen Text. In Analogie hierzu verweist das Ende des Plots, also das Ende von Franks Geschichte, auf den Beginn der Geschichte von Frances: Die Welt erscheint als endlose Abfolge von Erzählungen. <?page no="172"?> 160 Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory alle anderen Erwägungen verdrängt. Dies zeigt sich insbesondere in der ähnlichen Haltung gegenüber vermeintlich ‘niederen’ Lebensformen (vgl. 108) und auch durch den Umstand, dass Franks „Defence Manual“, gleichsam der Katechismus seiner Privatmythologie, seine Entsprechung im „Measurement Book“ des Vaters hat: As a teenager Frank believes he has totally emancipated himself from his father’s „little bits of bogus power“ [that] enable him to think he is in control of what he sees as the correct father-son relationship (WF, 16). Yet, […] his supposedly alternative existence replicates in minutest detail the symbolic order he aims to replace. 431 Die strukturelle Analogie beider Diskurssysteme spiegelt dabei nicht nur die zentrale These der Dialektik der Aufklärung von der gegenseitigen Durchdringung von Mythos und Aufklärung wider, die emanzipatorisches Potential wieder in bloße Verstrickung zurückfallen lässt. Vielmehr birgt die explizite Kritik an der Fiktionalität, Inkonsistenz und Machtillusion des väterlichen Ordnungssystems implizit die Hinterfragung von Franks eigener Privatmythologie in sich und präfiguriert so die Ereignisse im Schlusskapitel des Romans. Beide Diskurse sind in ihren monokausalen Erklärungsansätzen - magische Ähnlichkeitsbeziehungen auf der einen und völlige rationale Fassbarkeit und Planbarkeit auf der anderen Seite - inhärent statisch, und somit verwundbar; nur in der geographischen wie sozialen Abgeschiedenheit können sich die Idiosynkrasien als vermeintliche Universalien behaupten. Mit der gewaltsamen Konfrontation mit der Außenwelt in Gestalt von Franks Bruder Eric und den daraus resultierenden Ereignissen aber wird eben jenen Erklärungsansätzen die Basis entzogen: Vater und Sohn werden ihrer zentralen Stellung innerhalb der von ihnen geschaffenen Systeme und der damit verbundenen Definitionsmacht beraubt. 8.2 Selbst(re)konstruktionen The Wasp Factory beschränkt sich dabei aber nicht auf die bloße Demontage beider Diskurssysteme; vielmehr bietet der Text ein alternatives Modell an, in dem statische Erklärungsmuster durch das Angebot dynamischer Strukturen ersetzt werden. Wenn sich am Ende des Romans aus der Auflösung des Plots und der Erkenntnis des Erzählers „I’m not Francis Leslie Cauldhame. I’m Frances Lesley Cauldhame“ (181) heraus die Frage ergibt, inwiefern beide „the same person“ (182) und doch nicht identisch sein können, hat der Text bereits die Antwort geliefert: Nur ein Denken von Identität als 431 Schoene-Harwood (1999), 142. <?page no="173"?> Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory 161 Prozess, als „both sequence and palimpsest“ 432 bietet hier ein adäquates Erklärungsmodell. Geht man von Identität als einem „Prozeß der Konstruktion und Revision von Selbstkonzepten“ 433 aus, so gewinnt bereits die scheinbar statischtautologische Selbstversicherung „I’m me and I’m here and that’s all there is to it“ (13) eine Dimension, welche auf die Bedeutung der Erzählung für Frances als konstitutiver Bestandteil ihres Identitätsformungsprozesses über die bloße autobiographische Schilderung ihres Lebens hinaus verweist. So kann die Bekundung „I am me“ als Referenz auf George Herbert Meads Phasenmodell des Selbst gelesen werden, in dem der Subjektpol des I zwangsläufig immer nur auf erinnerte Manifestationen seiner selbst im me als Objektpol zurückgreifen kann; 434 damit aber wird Frances’ (Re)Konstruktion Franks zum notwendigen Bestandteil der Erschließung ihrer eigenen Identität. Entsprechend viel Raum nimmt in der Konsequenz die Beschreibung von Franks Selbstbild ein. Dabei weicht bereits die erste Selbstbeschreibung in signifikanter Weise von seinem Idealbild ab und wird von einem Gefühl des körperlichen Mangels geprägt: I don’t look the way I’d like to look. Chubby, that’s me. Strong and fit, but still too plump. I want to look dark and menacing: the way I ought to look, the way I should look, the way I might have looked if I hadn’t had my little accident. (20) I saw myself, Frank L. Cauldhame, and I saw myself as I might have been: a tall slim man, strong and determined and making his way in the world, assured and purposeful. (48) Diesem aus der vermeintlichen Kastration erwachsenen Mangelgefühl versucht Frank dadurch zu begegnen, dass er sich gleichsam in seine Umwelt einschreibt. Dies geschieht zum einen über die magischen Rituale, zum anderen lassen sich seine Gewaltexzesse als Versuch lesen, über die Übererfüllung tradierter Geschlechterrollen die stete Rückversicherung der eigenen Männlichkeit zu leisten. Angesichts der Absenz des Genitals versucht sich Frank durch die von ihm selbst geschaffene Omnipräsenz des Todes in eine von ihm gedachte männliche Gemeinschaft zu initiieren: 435 The boy she becomes, on the other hand, appears as [...] obsessively overcompensating for a patriarchally inflicted lack of natural manliness by pursuing an extremist ideal of violent masculine perfection. 436 432 Ermarth (2000), 411. 433 Glomb (1997), 12. 434 George Herbert Mead, Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviourist (Chicago: 1967), 174. 435 Vgl. hierzu auch Schoenbeck (2000), 95. 436 Schoene-Harwood (1999), 133. <?page no="174"?> 162 Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory Wenn Frank versichert, seine Gewalttaten seien aus „defence rather than offence“ (57) heraus motiviert und verliehen ihm ein Gefühl der Sicherheit, folgt diese Aussage also tatsächlich der aus seinem Bemühen um die Erfüllung des Selbstbildes erwachsenden Logik: It occured to me then, as it has before, that that is what men are really for. Both sexes can do one thing especially well; women can give birth and men can kill. We - I consider myself an honorary man - are the harder sex. We strike out, push through, thrust and take. The fact that this is only an analogue of all this sexual terminology I am capable of does not discourage me. I can feel it in my bones, in my uncastrated genes. (118) In signifikanter Weise verweist dabei die Rede von den ‘unkastrierten Genen’ in diesem Kontext auf die Konstrukthaftigkeit der von Frank als naturgegeben gedachten Rollenverteilung der Geschlechter. So ist bereits die Zuweisung seines biologischen Geschlechts durch den Vater eine Fiktion, die letztendlich die Restriktivität und totalitäre Willkür des Law of the Father subversiv illustriert. Die patriarchal konstruierte Kastration erfüllt dabei eine zweifache Funktion. Wenn Angus Frank immer wieder vorhält „I’ve seen better men than you“ (56), geschieht dies nicht nur, um durch die beständige Benennung des Mangels die Basis seines Experiments aufrechtzuerhalten, denn zugleich versichert sich der Vater, von Franks Mutter Agnes selbst zum Krüppel gemacht, seiner eigenen, überlegenen Männlichkeit: Frank’s father assures himself of his own superior able-bodiedness, badly damaged by his wife’s rebellious onslaught on his authority, by projecting his fear of impotence and fallibility on his daughter. 437 Der Umstand, dass Franks Selbstbild nicht gleichsam aus sich selbst heraus generiert wird, sondern als Basis des Identitätskonstruktionsprozesses in maßgeblicher Weise von seinem Vater determiniert wird, verweist über den hegemonialen Anspruch einer patriarchalen Weltordnung hinaus auf die Bedeutung sozialer Interaktion für das Denken von Identität als Prozess, denn Selbstkonzepte sind zunächst insofern immer schon gesellschaftlich geprägt, als sich die jeweilige Sozialisation innerhalb einer „in historisch je spezifischer Weise vorinterpretiert[en]“ Wirklichkeit, eines „historisch besondere[n] gesellschaftliche[n] Apriori“ vollzieht, das die Welt- und Selbstsicht des Individuums an bestimmte sprachlich vermittelte Werte, Normen und Institutionen bindet. 438 Der geographischen und sozialen Isolation, in der Frank aufwächst, kommt demnach eine besondere Bedeutung zu: Die Möglichkeit, sein auf väterli- 437 Schoene-Harwood (1999), 141. 438 Glomb (1997), 13. Vgl. auch Zima (2000), 374f. <?page no="175"?> Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory 163 cher Indoktrination beruhendes Selbstbild in einem Interaktionsprozess zu revidieren, wird ihm so weitestgehend verwehrt. Vor diesem Hintergrund muss Franks Bekenntnis „I represent a crime“ (13) vom Beginn der Erzählung neu interpretiert werden: Scheint sich die Äußerung zunächst nur auf die Weigerung des Vaters zu beziehen, Franks Geburt den Behörden mitzuteilen, zeigt sich hier die wahre Dimension dieses „literal cutting off from society’s mainland“ (183). Insbesondere der Umstand, dass ihm mit dem Verbot des Schulbesuchs implizit auch der Kontakt zu einer peer group untersagt ist, scheint hierbei signifikant, 439 denn in Verbindung mit dem gegenüber dem Vater empfundenen Misstrauen und Emanzipationsbedürfnis (vgl. 9) wendet sich Frank zur Überprüfung seiner Selbst- und Weltsicht zwangsläufig einer anderen Quelle zu: Women, I know from watching hundreds - maybe thousands - of films and television programmes, cannot withstand really major things happening to them; they get raped, or their loved one dies, and they go to pieces, go crazy or commit suicide, or just pine away until they die. (147f) Auch hier findet sich wieder das Motiv der Dopplung, das den gesamten Roman durchzieht: Die durch den Vater konstruierte Geschlechtsidentität wird anhand von Kriterien überprüft, die selbst nur Teil einer Fiktion sind. Identität als dynamischer „dialektischer Kreisprozess“, der als Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft „die Aufnahme von Informationen über sich selbst, [...] die Verarbeitung dieser Informationen“ und schließlich „die Selbstdarstellung in einer neuen Runde gesellschaftlicher Interaktion“ 440 einschließt, wird hier unmöglich: Jede versuchte Revision des Selbstbildes muss Frank innerhalb dieses geschlossenen Systems auf die immer gleichen Kriterien zurückwerfen. Grundlage von Franks Selbstkonstruktion ist damit ein eng begrenzter Wirklichkeitsausschnitt, der ihm die positive Umdeutung seiner eigenen körperlichen und sozialen Beschränktheit erst ermöglicht. 441 Ebenso, wie sich Frank in seiner Existenz durch den 439 Schoene-Harwood (1999), 136, parallelisiert diesen Umstand mit William Goldings Lord of the Flies. In beiden Fällen ist weniger die geographische als die soziale Isolation ausschlaggebend; mit ihr geht der Verlust der Korrektivfunktion gesellschaftlicher Interaktion einher. 440 Glomb (1997), 15. 441 Vgl. hierzu Gerig (2000), 30: „Die Reduktion auf ein bestimmtes Fragment, das dann als das universale Ganze ausgegeben wird, führt zur Ausgrenzung bestimmter Bereiche im Menschen selbst und zur Ausgrenzung bestimmter Gruppen der Gesellschaft, die als das Andere und Fremde negativ bewertet werden, so daß die als Eigenes ausgegebenen Bereiche in der Abgrenzung vom Fremden als die positive Norm gesetzt werden können. Durch diese Ausgrenzungen werden zweitens auch die Konstruktionsmechanismen der eigenen Identität verdrängt, da der ontologische Status einer nicht veränderbaren Wesensessenz wesentlich größere Sicherheiten bietet als die <?page no="176"?> 164 Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory Mangel definiert sieht, wird dabei der Prozess der Selbstversicherung, dem die aus einem selektiven Medienkonsum gewonnene, streng dichotomische Geschlechterrollenverteilung zugrunde liegt, durch eine Struktur der Negation des Anderen geprägt: Seinen Status als „honorary man“, als „the ruthless soldier-hero almost all I’ve ever seen or read pays strict homage to“ (183), kann er nur durch den radikalen Ausschluss alles weiblich Assoziierten sichern: Women... well, women are a bit too close for comfort as far as I’m concerned. I don’t even like having them on the Island, not even Mrs Clamp, who comes every week on a Saturday to clean the house and deliver our supplies. She’s ancient, and sexless the way the very old and the very young are, but she’s still been a woman, and I resent that, for my own good reason. (43f) Damit wird auch klar, warum Frank seinen Bruder Eric, ungeachtet der Tatsache, dass er diesen während seiner Kindheit stets bewundert hatte, immer wieder mit für ihn eindeutig weiblichen Attributen belegt: Erics männlich besetzter „outward urge [...] to the outside world, with all its fabulous opportunities and awful dangers“ (138) ist mit seinem persönlichen Scheitern unvereinbar. Sein Zusammenbruch und das darauf folgende Abdriften in den Wahnsinn drohen die eindeutige Unterteilung der Welt in weiblich/ schwach und männlich/ stark zu unterminieren, und der ehemals als „brave soldier“ (137) wahrgenommene Bruder muss in der Rückschau von Frank zwangsläufig als immer schon vom Weiblichen kontaminiert (re)konstruiert werden: „I suspect that Eric was the victim of a self with just a little too much of the woman in it“ (148). Die Umdeutungen, die Frank eigentlich mit seinem Selbst- und Weltbild Unvereinbares assimilieren lassen, beschränken sich dabei aber nicht nur auf das ‘eigentliche Wesen’ des Bruders: Die Reduktion von Erics Medizinstudium auf traditionell Frauen zugeschriebene Tätigkeitsfelder, „changing nappies and quieting mewling babies and changing dressings and drips or whatever“ (140), und die Verharmlosung des traumatischen Erlebnisses im Krankenhaus als „unpleasant experience“ (139) sind die konsequente Fortschreibung seiner Selbstversicherungsstrategie. Dies macht auch einsichtig, warum Frank die Gewalttaten seines Bruders als Zeichen des Wahnsinns missbilligen, seine eigenen Morde aber mit der Bemerkung „It was just a stage I was going through“ (21) verharmlosen kann. Erics Taten resultieren für ihn letztlich aus dessen Unfähigkeit heraus, die männlichen Rollenstereotype adäquat zu erfüllen. Die eigenen Verbrechen dagegen stellen für Frank die einzige Möglichkeit dar, seinen Vorstellung eines Konstrukts, das sich kritisch dekonstruieren läßt und von dem zudem Anpassungen gefordert werden können.“ <?page no="177"?> Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory 165 vom patriarchalen System scheinbar gestützten Männlichkeitsvorstellungen gerecht zu werden. 442 Die Umwertung augenscheinlich gleicher Sachverhalte nach Kriterien ihrer Systemkonformität ermöglicht es Frank so, die in Eric gedoppelten Paradoxien seiner Selbst- und Weltsicht zu ignorieren. Selbst als sich Eric Franks mantrahafte Selbstversicherungstautologie „I’m not anybody else! I’m me! Me! “ (131) zu eigen macht, sieht Frank darin keinen Anlass zur Hinterfragung der eigenen Prämissen, sondern lediglich die wirren Aussagen eines „bloody madman“ (132). Als sich Frances, und nicht Frank, am Ende des Romans als Erzählinstanz zu erkennen gibt, ist sie bereits aus der statisch-geschlossenen Identität ihres alter ego herausgetreten. Die Erzählung selbst fungiert hier im Rahmen eines interaktionistischen und dynamischen Identitätsmodells gewissermaßen als Publikationsschritt, als Beginn einer Interaktion, und deutet so den Beginn eines Prozesses an, der mit dem Ende des Romans erst seinen Anfang nimmt: „Now the door closes, and my journey begins“ (184). Der Umstand, dass Franks Denkstrukturen tatsächlich durchbrochen werden, wird dabei besonders bei näherer Untersuchung der Meeresmetaphorik deutlich. Wenn Frank neben Frauen die See als seinen größten Feind bezeichnet, reproduziert er damit einen klassischen literarischen topos, verwiesen sei hier nur kurz auf Shakespeares Tempest, der das Meer mit Weiblichkeit, Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit assoziiert: My greatest enemies are Women and the Sea. These things I hate. Women because they are weak and stupid and live in the shadow of men and are nothing compared to them, and the Sea because it has always frustrated me, destroying what I have built, washing away what I have left, wiping clean the marks I have made. (43) Durch die auffällige Großschreibung, die eigentlich nur metaphysischen Instanzen zusteht, werden „Women and the Sea“ dabei zu einem „mythological enemy“ (43) stilisiert und zugleich eng miteinander verknüpft: Die zerstörerische Kraft, die dem Meer zugeschrieben wird und Frank eine Art zerknirschten Respekt abnötigt, wird hier trotz gegenteiliger Bekundungen unbewusst und qua Assoziation auch Frauen zugesprochen. Und in der Tat bestätigt sich die Gefahr, die für Frank von Frauen ausgeht, am Ende des Romans: Mit der Erkenntnis, selbst eine Frau zu sein, wird die Identität Franks zerstört. Vor diesem Hintergrund erscheinen auch seine Ausführungen über den Bau von Dämmen am Strand, seinem Hauptvergnügen und Zeitvertreib, 442 Vgl. Schoene-Harwood (1999), 139. <?page no="178"?> 166 Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory nicht mehr als Äußerung kindlichen Spieltriebs, sondern als doppelte Metapher für den Plot und seine Selbstkonstruktion als Mann: 443 I have a far more sophisticated, even metaphysical, approach to dam-building now. I realise that you can never really win against the water; it will always triumph in the end, seeping and soaking and building up and undermining and overflowing. All you can really do is construct something that will divert it or block its way for a while […]. (25) Die Konstruktion von Dämmen steht hier metaphorisch für Franks letztlich zum Scheitern verurteilten Versuch, sich im Rahmen seiner idiosynkratischen Weltsicht über die Ausgrenzung alles Weiblichen als männliches Ideal zu konstruieren. Der Metaphernkomplex um Wasser und Sand legt dabei aber noch weitere Deutungen nahe. So kann die zitierte Passage nicht nur als Verweis auf die eigene ideologische Verblendung, die als auf den Täuschungen des Vaters basierendes Konstrukt gleichsam ‘auf Sand gebaut’ ist, sondern auch als Verweis auf die kathartische Funktion Erics gelesen werden: Mit der von Eric ausgelösten Entdeckung des Experiments, welche Frank die Arbitrarität seines Männlichkeitsbildes vor Augen führt, wird auch die systemstützende Konstruktion Erics als vom Weiblichen kontaminiert gleichsam weggespült. Der zunächst paradox erscheinende Befund, dass das Bild des Dammes hier sowohl als Metapher für Männlichkeitsals auch Weiblichkeitskonstruktionen gelesen werden kann, lenkt die Interpretation als Metakommentar auf die inhärenten Schwachpunkte aller dichotomisch-statischen Konstrukte: Mit der Unterminierung eines Teilaspekts fällt zwangsläufig das ganze System in sich zusammen. Demnach erstaunt es nicht, dass sich die Metaphorik bezüglich Franks „mythological enemy“ in signifikanter Weise wandelt. Die See erscheint im Schlusskapitel des Romans nicht mehr als unberechenbar, gefährlich und destruktiv, sondern als Teil eines größeren Ganzen, von dem keine unmittelbare Bedrohung mehr ausgeht: „There was no line between the sea and the sky [...]. The sea was flat“ (179). Die damit angedeutete Akzeptanz des als weiblich Besetzten als Teilaspekt der Umwelt setzt sich, trotz des von Frances bekundeten Unbehagens bei dem Gedanken an die eigene Geschlechtlichkeit (vgl. 181), auch in Bezug auf ihre eigene Identität fort. Wenn sie sich bei der Schilderung ihres Traumes nach den dramatischen Ereignissen der Sturmnacht, „I stood in a rock pool, water round my wellingtons, and I cast a watery shadow“ (179), mit dem einstigen mythischen Feind arrangiert zu haben scheint, weist dies auf einen bereits begonnenen, wenn auch nicht abgeschlossenen Prozess hin. Die Metaphernkomplexe 443 Vgl. auch Schoene-Harwood (1999), 141. <?page no="179"?> Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory 167 Meer/ weiblich/ dynamisch und Land/ männlich/ statisch werden hier neu bewertet und überlagern einander: I watched the small waves from the beach for a while. On the sea, on that lens of water, twice-bulged and wobbling and rolling around the earth, I am looking at a rippled desert, and I have seen it as flat as a salt lake. Elsewhere the geography is different; the sea undulates, sways and swells, folds into rolling downs under freshening breezes, piles into foothills beneath the stiffening trades, and finally rears white-topped and blizzard-streaked in circling mountain ranges rammed by the storm-forced winds. (182) The Wasp Factory erscheint also als Reflexion eines Identitätskonstruktionsprozesses, der sich sowohl als Sequenz als auch als Palimpsest darstellt: 444 Frances erkennt Frank durch den Akt des Erzählens als integralen Bestandteil ihres Selbst an; gleichwohl bleibt das frühere Selbst der Erzählung notwendigerweise immer eine durch die Erzählinstanz überlagerte Konstruktion. Die Wespenfabrik, für Frank noch Ausdruck eines in sich geschlossenen, immer wieder die gleichen Resultate hervorbringenden Systems, wird so für Frances zum Symbol eines offenen, sich dynamisch weiterentwickelnden Prozesses: Each of us, in our own personal Factory, may believe we have stumbled down one corridor, and that our fate is sealed and certain (dream or nightmare, humdrum or bizarre, good or bad), but a word, a glance, a slip - anything can change that, alter it entirely, and our marble hall becomes a gutter, or our ratmaze a golden path. Our destination is the same in the end, but our journey - part chosen, part determined - is different for us all, and changes even as we live and grow. I thought one door had snicked shut behind me years ago; in fact I was still crawling about the face. (184) 8.3 Fragmentierung und Prozessualität Die Struktur des Romans selbst spiegelt somit die hermeneutischen Prozesse, die einem dynamischen Identitätsmodell zugrunde liegen. In eben jenem Maß, wie die Entdeckung der Differenz zwischen erzähltem und erzählendem Ich die Rezeption des Lesers steuert und die Bereitschaft zu steten Neubewertungen einfordert, muss sich auch Frances von früheren, vermeintlich unumstößlichen Prämissen lösen und lernen, neue zu akzep- 444 Vgl. hierzu Ermarth (2000), 111f: „Identity is both sequence and palimpsest. Its singularity exists in the unique and unrepeatable sequence of a life, but not in some essential ‘subject’. And its palimpsestuousness derives from the multiplied discoursive condition in which each moment involves a complex subjective specification of multiple codes.“ <?page no="180"?> 168 Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory tieren. Diesem Verlust von Sicherheit trägt die Erzählung auch durch den Umstand Rechnung, dass Frances’ „quest for self-identification“ 445 am Ende der Erzählung erst am Anfang steht. Die Einsicht in die Fragmentarität und Prozessualität ihrer Identität mag zwar angemessener als die statische Perspektive Franks sein, aber ein Garant für ein ‘besseres’, ‘authentischeres’ oder nur ‘sozialverträglicheres’ Selbst ist sie nicht: Ein Ende, geschweige denn ein happy ending dieses Prozesses zeichnet sich hier noch nicht ab. Darüber hinaus gilt es zu beachten, dass die Entwicklung von Frank zu Frances, wie sie von der Erzählinstanz präsentiert wird, eine aus der Rückschau heraus konstruierte ist und dass somit [...] die Vermittlerinstanz des erzählenden Ichs immer als subjektive Stimme gelesen werden muß, deren Berichte von der eigenen Vergangenheit gar nichts anderes sein können als Fiktion und deren gegenwärtige Erzählsituation mitberücksichtigt werden muß, da diese entscheidenden Einfluß auf die jeweilige Erinnerungsleistung ausübt. 446 Das von Frances angesichts der Gräueltaten geäußerte Unverständnis suggeriert damit einen Bruch mit, zumindest aber eine Distanzierung von der monströsen Persönlichkeit Franks. Da aber eben jene Distanzierung nach der Enthüllung ihres eigentlichen biologischen Geschlechts eines der Hauptziele ihrer Selbstkonstruktion und des Erzählprojekts sein muss, ist die Darstellung stets kritisch zu hinterfragen. Die Darstellung von Franks psychischer Deformation durch die Erzählinstanz mag eine akkurate Beschreibung sein, aber sie erleichtert ihr auch erheblich die Konstruktion eines der neuen Lebenssituation angepassten Selbstbildes. Kann man also das abrupte Ende des Romans als Metapher für die Unvorhersehbarkeit des Ergebnisses einer sich aufgrund ihrer strukturellen Anlage beständig wiederholenden Identitätskonstruktion 447 lesen, so bietet sich darüber hinaus eine weitere Deutungsebene an. Ähnlich wie die beiden einander kontrastiv gegenübergestellten, Mythos und Aufklärung evozierenden Diskurssysteme Franks und seines Vaters jeweils in Verbindung mit einem spezifischen Sprach- und Zeichenbegriff gedacht werden, zeichnet sich das Schlusskapitel durch eine enge Verknüpfung von thematischer Fokussierung und formaler Umsetzung aus. So oszilliert Frances in ihren Ausführungen zwischen metaphorisch aufgeladenen Naturbeschreibungen und einer terminologisch einschlägigen, präzisen Selbstanalyse: 445 Schoene-Harwood (1999), 145. 446 Gerig (2000), 39. 447 Vgl. Glomb (1997), 27f. <?page no="181"?> Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory 169 On the sea, on that lens of water, twice-bulged and wobbling and rolling around the earth, I am looking at a rippled desert, and I have seen it as flat as a salt lake. (182) Lacking, as one might say, one will, I forged another; to lick my own wound, I cut them off, reciprocating in my angry innocence the emasculation I could not then fully appreciate […] and so found a negative and negation of the fecundity only others could lay claim to. (183) Frances hat hier anscheinend noch keine eigene Stimme gefunden und reproduziert die in ihrem teleologischen Absolutheitsanspruch bereits demontierten Episteme der Ähnlichkeit und Repräsentation. Der Umstand, dass beide Diskurse hier gleichberechtigt nebeneinander aufscheinen, bietet jedoch zumindest den Ausblick auf einen echten strukturellen Wandel. Die vormals als Singularitäten gedachten Ordnungssysteme brechen mit dem Eindringen einer komplexen Lebenswirklichkeit, repräsentiert durch die Figur Erics, in die isolierte Welt der Protagonisten zusammen und können nur als gleichberechtigte Teile einer pluralisierten, transversalen 448 Struktur adäquate Erklärungsmuster bieten. An die Stelle der durch Frank und Angus repräsentierten Diskurssysteme, die sich, in Analogie zur zentralen Denkfigur der Dialektik der Aufklärung von der „heimlichen Komplizenschaft“ 449 von Mythos und Aufklärung, gegenseitig ausschließen und einander doch durchdringen, tritt also ein Konzept, auf dessen theoretische Verortung der Schlusssatz des Romans einen Hinweis liefert: „Poor Eric came home to see his brother, only to find (Zap! Pow! Dams burst! Bombs go off! Wasps fry: ttssss! ) he’s got a sister“ (184). Der Kontrast zu den vorangegangenen metaphorisch bzw. analytisch geprägten Passagen hebt in besonderem Maße Stilelemente hervor, die in ihrer Anlehnung an Comics und an die pop art auf die Entdifferenzierung der Stile in der literarischen Postmoderne verweisen und, angesichts des thematischen Hintergrundes, mit ihrem ironisierenden Tonfall den oft geäußerten Indifferenz-Vorwurf aufrufen. 450 Gerade diesen Vorwurf aber entkräftet The Wasp Factory, denn der Text schaltet sich immer wieder in 448 Vgl. hierzu Welsch (1996), 831: „Das Leben der Subjekte wird daher heute im zweifachen Sinn zu einem ‘Leben im Plural’. Erstens im Außenbezug: Man lebt innerhalb eines durch Pluralität geprägten Feldes sozialer und kultureller Möglichkeiten und muß sich in dieser Pluralität bewegen und zurechtfinden. Zweitens im Innenbezug: Das Subjekt verfügt in sich über mehrere Entwürfe, die es gleichzeitig realisieren oder nacheinander durchlaufen kann. Sowohl jene äußere wie diese innere Pluralität erfordern einen hohen Grad an Übergangsfähigkeit. Das ist der Grund, warum Transversalität heute zu einer Elementarbedingung nicht bloß äußerer Handlungsfähigkeit, sondern auch innerer Identität wird.“ 449 Habermas (1983), 406. 450 Vgl. Zima (2000), 242ff. <?page no="182"?> 170 Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory Debatten ein, die nicht lediglich als zweckfreies akademisches Spiel zu verstehen, sondern von konkreter lebensweltlicher Relevanz sind. So kommentiert der Umstand, dass die Festlegung der Geschlechtsidentität Franks durch seinen Vater - „part chosen, part determined“ (184) - als Wechselwirkung zwischen sprachlicher Konstruktion und medizinischer Manipulation dargestellt wird, die nature/ nurture-Diskussion. 451 So erweist sich das „tiny, torn set of male genitalia“ (171), das Frank beim Betreten des ihm verbotenen Arbeitszimmers seines Vaters in einem Probenglas vorfindet, als ein Wachsmodell - eine Fiktion also, welche die Fiktion der Hundeattacke und damit die arbiträre Konstruktion von Franks Geschlechtsidentität stützen soll. Zugleich findet Frank jedoch mehrere Schachteln mit männlichen Hormonen und diversen Chemikalien; ein Umstand, der zum einen auf die nicht zu vernachlässigende Bedeutung des Körpers verweist und zugleich erklärt, warum die Zubereitung der Mahlzeiten stets von Angus übernommen wurde: Die übel schmeckenden Eintöpfe enthielten stets chemische Zusätze. Obwohl Identität hier also als diskursives, narrativ generiertes Produkt dargestellt wird, verweigert sich der Text dennoch einem radikalen Konstruktivismus, steht doch die eigene, konkrete Körperlichkeit nicht nur im Zentrum von Franks, sondern auch Frances’ Denken. Ebenso dezidiert ist jedoch die Absage an die Wiedereinführung biologisch-deterministischer Modelle: Auch der eigene Körper und seine Funktionen sind letztendlich manipulierbar. 8.4 The Wasp Factory und die Kohärenz des Inkohärenten Das Zulassen von pluralistisch-dynamischen Konzepten bietet auch einen Ausblick auf die Eröffnung neuer Interaktionsspielräume und die Befreiung von aus singulär-statischen Modellen erwachsenden Zwängen. So steht Franks systemstützende Konstruktion und Ablehnung des weiblich besetzten Anderen nicht nur für die Beschränkungen eines patriarchal dominierten Diskurses, sondern auch für die deformierende Wirkung monolithischer Ordnungssysteme im Allgemeinen. Nur wenn, wie im Schlusskapitel des Romans deutlich wird, vormals unvereinbar Scheinendes ein dialogisches Miteinander eingeht, bietet sich die Chance einer sinnvollen, einer komplexen und ausdifferenzierten Lebenswirklichkeit angemessenen Identitätskonstruktion: 452 451 Vgl. hierzu Karin Fraake, „Psychoanalyse“, in: Christina von Braun u. Inge Stephan (Hrsg.), Gender Studien (Stuttgart: 2000), 171ff. 452 Vgl. hierzu Zima (2000), 368f. <?page no="183"?> Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory 171 Auf befremdliche Weise ist der Fremde in uns selbst: Er ist die verborgene Seite unserer Identität. [...] Wenn wir uns erkennen, verhindern wir, daß wir uns selbst verabscheuen. 453 Als Fazit lässt sich festhalten, dass es The Wasp Factory gelingt, über die Kontrastierung vermeintlich inkommensurabler, in mythischem bzw. aufgeklärtem Denken verorteter Diskurse den Entwicklungsbogen von Vor- Moderne zur Postmoderne nachzuzeichnen und gleichzeitig die Unangemessenheit statisch gedachter Paradigmen zu beleuchten. Die Möglichkeit eines angemessenen Umgangs mit einer komplexen Lebenswirklichkeit, die sich angesichts einer pluralistischen und dialogischen Konzeption eröffnet, stellt sich allerdings als Chance und nicht als zwangsläufige Folge dar. Statt einer bloßen, unhinterfragten Affirmation prozessualen Denkens bietet der Roman eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit den Folgen der Pluralisierung: Mit dem Ende der Erzählung hat Frances’ Projekt der Selbstkonstitution einen Anfang genommen - der Ausgang allerdings bleibt ungewiss. Freilich sind auch weit weniger optimistische Deutungen des Texts möglich. So konstatiert Lucie Armitt, die The Wasp Factory im Hinblick auf das new oder modern gothic-Element deutet und interpretatorisch in Bezug zu Frankenstein setzt: Perhaps its darkest element derives from its postmodern denial of the power of the metanarrative, for at least in Shelley’s version there has been a Paradise now Lost. Here we have an island of no particular value and, instead of the fire, brimstone and lightning of Hell, mere „strange apparitions“ of distant oil rigs: those „utterly silent towers of flickering flame“ [WF, 86]. Famously, Franco Moretti reread Frankenstein as a fearful fascination with the newly nascent proletariat, the monster that threatened to flourish as the Industrial Revolution took hold […]. Here, as the distance of Banks’s oil rigs suggests, production has come adrift from the environment on which it preys. The Wasp „Factory“, far from producing or generating anything, simply wipes out existence. Frank/ Frances, cut adrift from his/ her ability to produce or reproduce anything of worth, retreats into the nullity of non-existence. 454 Dieser Deutung ist insofern zu widersprechen, als am Ende des Romans eben gerade nicht die völlige Auflösung eines zuvor stabilen Selbst, sondern eine neue Iteration eines Identitätskonstruktionsprozesses steht; Identität als Aspiration scheint keineswegs aufgegeben. Und auch die Bedeutung der körperlichen Existenz von Frank/ Frances wird nicht etwa in Frage gestellt oder gar negiert, wie es im Falle von Nicholas Dyer ge- 453 Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst (Frankfurt am Main: 1990), 11. 454 Lucie Armitt, „The Wasp Factory“, in: The Literary Encyclopedia 25 Mar. 2002. http: / / www.litencyc.com/ php/ sworks.php? rec=true&UID=8095. <?page no="184"?> 172 Identität und Geschlecht in Iain Banks’ The Wasp Factory schieht, sondern vielmehr als stets diskursiv überschrieben und insofern in seiner Bedeutung als ebenso wandelbar wie eben jede sprachlich gefasste Realität herausgestellt. Wenn mit Ackroyds Romanen eine Entwicklung von einer rein dekonstruktiven, ‘diffusen’ hin zu einer ‘präzisen’ Postmoderne mit rekonstruktivem Sinnangebot nachgezeichnet werden kann, dann ist The Wasp Factory, trotz der zeitlichen Nähe der Erstveröffentlichung des Romans zu Hawksmoor und der Überschneidungen auf der Ebene der Motive und der dekonstruktivistischen Strategien, wohl eher in der Nähe des 15 Jahre später erschienen Romans The Plato Papers denn in der Nähe von Hawksmoor anzusiedeln. Gemein ist Banks’ Romandebüt und Ackroyds frühem Roman die Einbindung eines dunklen, mystischen und anti-rationalistischen Elements in die literarische Postmoderne, nicht aber ihr Verhältnis zu konkreten, lebensweltlichen Fragestellungen und ihr Umgang mit der Frage nach einer angemessenen Vorstellung von Identität in einer von Fragmentierung, Entgrenzung und Enthierarchisierung geprägten Zeit. Während in Hawksmoor durch die angedeutete Synthese von Nicholas Dyer und Nicholas Hawksmoor am Ende des Romans eine Vorstellung von Individuum und Identität insofern untergraben wird, als sich gleichsam eine ‘Identität’ auf zwei ‘Individuen’ verteilt, wird in The Wasp Factory Identität keineswegs negiert, sondern vielmehr als prozessual und veränderlich gedacht. In einer körperlichen Existenz überlagern und durchdringen sich zwei heterogene und inkohärente Aspekte eines Selbst: Die narrative (Re)Konstruktion von Identität, die Herstellung von Kohärenz aus Inkohärenz, hat als Aspiration am Ende von The Wasp Factory trotz der übermächtig erscheinenden Gefahr des Scheiterns Bestand. <?page no="185"?> 9 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale The relations between biography and the novel have thus grown closer, and they have evolved within that area where there is common ground: the search for the ‘true’ self or identity of a real or fictional person. 455 I seemed to understand that the imaginary narrative had sprung out of the scholarly one, and that the compulsion to invent was in some way related to my own sense that in constructing this narrative I have had to insert facts about myself, and not only dry facts, but my feelings, and now my interpretations. I have somehow been made to write my own story, to write in very different ways. 456 Auch A. S. Byatts The Biographer’s Tale, im Jahr 2000 und damit ein Jahr nach Ackroyds The Plato Papers erschienen, lässt sich in die Reihe jüngerer britischer Literatur einordnen, die poststrukturalistische Theoriegebäude und postmoderne Strukturen in einem fiktionalen Rahmen thematisiert. 457 Wie schon in Byatts früheren Romanen, Kurzgeschichten und Essays setzt sich The Biographer’s Tale mit einem Themenkomplex auseinander, dessen Konturen schlagwortartig mit Oppositionen wie Fakt vs. Fiktion, Struktur vs. Strukturlosigkeit und Sicherheit vs. Unsicherheit umrissen werden können und der sich - wie gezeigt - durch alle der besprochenen Romane zieht. Darüber hinaus spürt der Text implizit und explizit Fragestellungen nach, die nicht nur in der Literatur des ausklingenden 20. Jahrhunderts und beginnenden 21. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung sind, sondern auch in der akademischen Diskussion eine dominante Position einnehmen: der Suche nach neuen literarischen Ausdrucksformen unter Beibehaltung etablierter Traditionslinien 458 bzw. der Fruchtbarmachung und Revitalisie- 455 Celia Wallhead, „Metaphors of the Self in A. S. Byatt’s The Biographer’s Tale“, in: Language and Literature: Journal of the Poetics and Linguistics Association 12: 4 (2003), 291. 456 A. S. Byatt, (2001a), 236. Im Folgenden durch Seitenangaben im Text zitiert. 457 Vgl. Sarah Heinz, „Die romance als Ausweg aus der postmodern condition: Liebe und Identität in A. S. Byatts Possession. A Romance“, in: Stefan Glomb und Stefan Horlacher (2004), 53. 458 Vgl. Zerweck (2001), 1. <?page no="186"?> 174 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale rung von als überkommen gedachten Genres und Epochenbezügen, 459 der Frage nach personaler und kollektiver Identität 460 sowie der Auseinandersetzung mit individuellen und kollektiven Gedächtnisformaten. 461 Phineas Gilbert Nanson, der Protagonist des Romans, ist ein junger Doktorand der Literaturwissenschaft, der sich, von den immer gleichen Befunden der poststrukturalistischen Interpretationspraxis ermüdet und von einer geistigen Leere umfangen, abrupt von seinem Dissertationsprojekt abwendet, um in Zukunft den Unbestimmtheiten, die aus dem Zusammenspiel von „postmodernist uncertainty, or play, one or the other or both“ (2) resultieren, entgehen zu können. Er sehnt sich stattdessen nach „the shining solidity of a world full of facts“ (4), und die Zuwendung zum Genre der Biographie scheint ihm dabei das probate Mittel zu sein, denn sie stellt einen zweifachen Bruch mit seinem bisherigen Werdegang dar. Zum einen wird die Biographie von Phineas’ akademischem Umfeld als „a bastard form, a dilettante pursuit“ (5) betrachtet, und zum anderen bietet sich für ihn die Möglichkeit, vom Dekonstrukteur, vom Zerstörer von Oberflächen, zum Konstrukteur, zum Erschaffer ganzer Welten zu werden. Die Biographie, so hofft Phineas, bietet ihm „the capacity to make up a world in every corner of which his reader would wish to linger, to look, to learn“ (8). Sowohl zum stilistischen Vorbild als auch zum Objekt seines Biographieprojekts macht Phineas den Biographen Scholes Destry-Scholes, dessen Arbeit zum Leben des viktorianischen Universalgelehrten und Forschers Sir Elmer Bole von Phineas’ neuem akademischen Tutor Ormerod Goode nicht nur als „the greatest work of scholarship in my time“ (5), sondern auch als erhabenes Kunstwerk gepriesen wird. Phineas’ frühes Bekenntnis, „in this, as in everything I say, of course, I follow Destry-Scholes“ (10), präfiguriert dabei die im Verlauf des Romans immer deutlicher werdende Metamorphose seines ursprünglichen Ansatzes: In dem Maße, wie Phineas erkennen muss, dass Destry-Scholes’ Arbeiten nicht die ‘puren Fakten’ darstellen, sondern vielmehr eine sorgfältige Komposition aus Daten, Überlieferungen, fiktionalisierten historischen Begebenheiten, Spekulation und Fiktion sind, wandelt sich sein eigenes Vorhaben von der ‘Exploration und Offenlegung’ (vgl. 5) Destry-Scholes’ zur schriftstellerischen Exploration seiner eigenen Identität. 459 Vgl. Hans Bertens und Joseph Natoli (Hrsg.), Postmodernism: The Key Figures (Oxford: 2002), 148, 300. 460 Vgl. Straub (2004), 277. 461 Vgl. Jan Assmann (2002), 11, Aleida Assmann (2002), 183 und Mara Cambiaghi, „The Invention of Truth in A. S. Byatt’s ‘Sugar’ and The Biographer’s Tale“, in: Nancy Pedri (Hrsg.), Travelling Concepts III: Memory, Narrative, Image (Amsterdam: 2003), 74. <?page no="187"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 175 In der thematischen Ausrichtung und der Verknüpfung der Genres Roman und (Auto-)Biographie greift The Biographer’s Tale damit einen Trend der „biography with a difference“ auf: If the imaginative has now entered biography through conjecture, extrapolation and informed speculation, the reverse has also occurred as a tendency within the novel [...], inviting the reader to join in the play of juxtaposing fact and fiction. The relations between biography and the novel have thus grown closer, and they have evolved within that area where there is common ground: the search for the ‘true’ self or identity of a real or fictional person. 462 Vor diesem Hintergrund wird bereits der Titel des Romans in mehrfacher Hinsicht zu einem den Text vorstrukturierenden und seine Strategie illustrierenden Element. Denn zum einen bleibt unklar, ob der Titel auf Phineas selbst oder auf Destry-Scholes Bezug nimmt. 463 Und zum anderen beinhaltet der Titel ein gedachtes Oppositionspaar, das grundlegend für Phineas’ Ausbruchsversuch aus dem von ihm als Gefängnis empfundenen poststrukturalistischen Theoriegebäude ist: Der dominant als faktenbasierten Gattung gedachten biography wird die Fiktion, die tale gegenübergestellt. Die Synthese, die beide Gattungen im Titel eingehen, präfiguriert seine widerwillige Einsicht, dass sich die versuchte Biographie über den Zwischenschritt einer „first-person story“ in eine Autobiographie gewandelt hat: „[s]lippery, unreliable, and worse, imprecise“ (250). Diese Charakterisierung ist wiederum in mehrfacher Hinsicht signifikant. Phineas’ Abscheu vor der Gattung Autobiographie resultiert nicht zuletzt aus seinem „farewell to Literature“ (255), dem von ihm ersehnten Primat des Faktischen über das Fiktive. Die Autobiographie aber führt, trotz der gegenteiligen Oberflächensuggestion, die Dominanz des Fiktiven und die Brüchigkeit des Subjektstatus vor Augen: Ironically, however, the subjectivity on which this form [i. e. autobiography, F. D.] rests is itself subject to the [...] dissolution process. Thus, his text ultimately becomes a „story“ (247, 250), a fictional work. Byatt thereby far surpasses contemporary biography’s wariness of constructing too linear and too unequivocal narratives, finally affirming the all-pervasive predominance of fiction over any kind of truth value. 464 Die Hinwendung zur Autobiographie stellt für Phineas also einerseits eine Form der Kapitulation dar, denn die Autobiographie ist in ihrer slipperiness 462 Wallhead (2003), 291. Vgl. auch Phineas’ eigenen Kommentar: „Autobiography, as I write, is fashionable. The ‘flavour of the moment’“ (250). 463 Vgl. Merle Tönnies, „A New Self-Conscious Turn at the End of the Century? Postmodernist Metafiction in Recent Works by ‘Established’ British Writers“, in: Anglistik und Englischunterricht 66 (2005), 74. 464 Tönnies (2005), 76. <?page no="188"?> 176 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale den ungeliebten Theorieseminaren verwandt, in denen eine totalisierende Meistererzählung unaufhaltsam über die Oberfläche eines rein textuellen Universums zu gleiten scheint. Zum anderen aber bietet sie paradoxerweise als Autobiographie im Wortsinn, als ‘Niederschrift des Lebens’, 465 gerade a means of resisting appropriation by the homogenisation tendency of theoretical intent, [because, F. D.] autobiography as self narrative offers some possibilities for radical reconstruction [...] - [...] one which connects the past with the present and projects both towards a different future“. 466 Phineas sieht sich also, wenn auch nicht notwendigerweise bewusst, durch sein autobiographisches Schreiben in die Lage versetzt, die ungeliebte poststrukturalistische Meistererzählung zumindest vermeintlich durch eine eigene Ordnungsstruktur zu ersetzen. Hiermit bietet sich ein Erklärungsmuster für seine „new-found addiction to writing“ (255) bzw. für seine augenscheinliche Unfähigkeit, trotz entsprechender Vorsätze mit dem Schreiben aufzuhören: Solange die Erzählung noch nicht beendet ist, kann sich Phineas stets erneut als Autor, als sinnstiftende Instanz generieren. Wenn er also sein ursprüngliches Projekt nach „so much work“ (245) als gescheitert betrachtet und konstatiert, er habe „nothing to show for any of it except this manuscript“ (245), übersieht Phineas die zentrale Bedeutung, die der Schreibprozess und damit die erzählerische Umstrukturierung seines Lebens für ihn hat. Dabei ist jedoch zu beachten, dass The Biographer’s Tale eine simple Dichotomisierung von ‘falscher’, im akademischen Diskurs verankerter Existenz und vermeintlich ‘echtem’, in der selbstgestalteten Erzählung wurzelndem Leben verweigert. Phineas bleibt bei aller bekundeten Abscheu gegenüber dem Ungegenständlichen und der Selbsteinschätzung „I was a failure as a semiotician“ (143) dennoch immer wesentlich von einer poststrukturalistisch ausgerichteten Literaturwissenschaft geprägt. Sein Schreiben ist in hohem Maße von Reflexivität und dem Bewusstsein für den Zeichencharakter von Sprache gekennzeichnet; in der Tat ergeht sich Phineas häufig in unmittelbarem Anschluss an seine autobiographischen Schilderungen in deren Interpretation und Dekonstruktion. Damit erteilt der Text einerseits eine Absage an ein unhinterfragtes Primat der Theorie, das letztendlich die zu Tage geförderten „clefts and crevices, transgressions and disintegrations, lures and deceptions“ (1) dadurch nivelliert, dass diese überall und jederzeit gefunden werden; eben 465 Vgl. Gerig (2000), 33. 466 Anita Rupprecht, „Making the Difference: Postcolonial Theory and the Politics of Memory“, in: Jan Campbell und Janet Harbord (Hrsg.), Temporalities, Autobiography and Everyday Life (Manchester: 2002), 35f. <?page no="189"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 177 jene „fatal family likeness“ (1) also, die Phineas beklagt. 467 Andererseits bietet aber auch die vollständige Abkehr von jeglicher Theoretisierung keine Alternative. Phineas ist es, wie die Dekonstruktion des eigenen autobiographischen Schreibens illustriert, unmöglich, vollständig hinter einmal angenommene epistemologische Prämissen zurückzufallen, 468 und sein zeitweiser Versuch, die Polyvalenz von Zeichen zu ignorieren und die Dinge at their face value zu nehmen, erweist sich in Bezug auf den „Strange Customer“ Maurice Bossey als höchst gefährlich und resultiert in körperlicher Gewalt. Stattdessen zeigt The Biographer’s Tale einen dritten Weg auf, dessen Anliegen es ist to open out [sic! ] the connection between forms of writing, to cross-thread the fictionality of theory with the facticity of everyday life, to push the definitions of critical discourse beyond its own perceived limits [...] [T]he interfacing of experience and theory splits open the different statuses of knowledge, providing a dialectic that returns to, and potentially undoes, the naturalised category of each term. 469 9.1 Identitätsverlust und Unzuverlässigkeit The Biographer’s Tale verknüpft also die Handlung auf der Figurenebene auf das Engste mit einer Metaebene der theoretischen Reflexion. 470 Phineas Nansons wiederholtes, fast zwanghaft anmutendes Bekenntnis „I must 467 A. S. Byatt selbst sieht hierin einen der Gründe für die Dominanz des historischen Bezugs in der zeitgenössischen britischen Literatur. Durch das ‘Entdecken’ der immer gleichen Brüche wird die Beschäftigung mit der Vergangenheit, so ihre Argumentation, vom institutionalisierten Bildungswesen als überflüssig erachtet, denn schließlich bieten neuere Quellen vor diesem Hintergrund das vermeintlich gleiche Erkenntnispotential. Da die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit (nicht der Geschichte) aber einem anthropologischen Grundbedürfnis gleichkomme, muss die entstandene Lücke gefüllt werden und die Literatur übernimmt die entsprechende Funktion: „This brings up the question of why the past is the subject of so much modern fiction? [...] There are all sorts of possible reasons for this. One, I think, which certainly affects me, is the vanishing of the past from the curriculum of much modern education in schools and increasingly in colleges and universities. A-Level courses are increasingly preoccupied with contemporary texts to which students can hypothetically ‘relate.’ And yet my sense of my own identity is bound up with the past, with what I read and with the way my ancestors, genetic and literary, read, in the worlds in which they lived. A preoccupation with ancestors has always been part of human make-up and still, I think, comes naturally.“ Byatt (2001b), 176f. 468 Vgl. Boccardi (2001), 151. 469 Campbell und Harbord (2002), 8. 470 Vgl. hierzu Campbell (2004), 5: „Byatt has said that she needs to be writing a ‘theoretical book at the same time as a novel’“. <?page no="190"?> 178 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale have things“ (2) 471 bringt seine Unzufriedenheit mit einer akademischen Praxis zum Ausdruck, deren Interesse sich auf ein vertextlichtes Universum, „with no necessary connection to any part of the world other than our bodies which form it“, 472 beschränkt. Seine Aussage verweist aber nicht nur auf ein gefühltes Zuviel des akademischen Diskurses, sondern auch auf ein Zuwenig an Kontakt mit der „concrete world“ (18), die voller „glittery fullness“ (18) ist: Ebenso wie vom Gefühl des Überdrusses ist Phineas von einem Gefühl des Mangels motiviert. Der resultierenden Krise versucht Phineas durch die thematische Neuausrichtung zu begegnen. Und obwohl ihm sein Biographieprojekt zunächst tatsächlich den Weg in eine Sicherheit, Vergnügen und Eindeutigkeit vermittelnde, konkrete Welt zu weisen scheint, bleibt die zugrunde liegende Krisensituation bestehen: Im gleichen Maße, wie sich Scholes Destry-Scholes der biographischen Vereinnahmung durch Phineas entzieht, wird deutlich, dass das grundlegende Mangelgefühl und die resultierende Verunsicherung des Protagonisten nicht auf der Sehnsucht nach facts und things allein beruhen, sondern auf Phineas’ Verhältnis zu sich selbst: It seems likely to me that if I had been born into an earlier generation I might have had to have some idea of my Self, might have had a go at the Nanson onion, or the Nanson king of infinite space bounded in a nutshell. […] I am not very good at finding out who Scholes Destry-Scholes was because I am not very interested in finding out who I am. (100) Phineas’ Krise ist also eine Identitätskrise. Der mehrschichtige Verweis auf die historisch-kontextuelle Gebundenheit von Identitäts- und Subjektivitätsmodellen 473 - seien es organizistische Wachstumsmodelle oder psychoanalytische Ansätze, das universal subject oder das cartesische cogito - legt dabei nahe, warum Phineas ‘kein Interesse an sich selbst’ (vgl. 99) zu haben scheint bzw. der Frage nach der eigenen Identität mit scheinbarer Indifferenz begegnet. Auch er ist in einen historisch bedingten Kontext eingebunden, „I do exist on the earth“ (100), und poststrukturalistisch/ -modern geschult. 474 Und so muss er, auch wenn dieser Umstand von ihm nicht 471 Vgl. auch 4, 15, 104, 130, 133, 167. 472 Byatt (2001b), 197. 473 Vgl. hierzu u.a. Zima (2000), 97f, Zima (1997), 114f, Ebeling (1993), 20f, Rudolph (1991), 7f. 474 Phineas’ Anmerkung, „always eschew the word ‘real’ is an imperative I have carried over from the past“ (18), ist ein weiteres frühes Indiz, dass sein Bruch mit dem Poststrukturalismus nicht so radikal ist, wie er vorgibt. Vgl. auch Campbell (2004), 5: „The Biographer’s Tale paradoxically presents Byatt’s most explicit critique of postmodernism within a structure that is itself heavily postmodernist“. <?page no="191"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 179 explizit reflektiert wird, befürchten, in der Selbstbetrachtung nur Zerfallenes, Verschwundenes oder diskursive Sinneffekte zu erkennen. 475 Phineas’ erzählendem Ich, das sich der Auseinandersetzung mit seinem Selbst zunächst zu entziehen sucht und schließlich doch widerwillig die eigene „presence“ (214) im Text kommentiert, ist dabei ein Selbst gegenübergestellt, das zeitlich vor der erzählten Handlung anzusiedeln ist und zumindest qua Implikation eine in sich geschlossenere Einheit gebildet hat. Die Aussage, „I began this piece of writing when I decided to stop being a post-structuralist literary critic“ (214), ist dabei in mehrfacher Hinsicht signifikant. Zunächst einmal wird deutlich, dass Phineas’ frühere Identität als poststructuralist literary critic für ihn keine Gültigkeit mehr hat, und dass das I des autobiographischen Manuskripts ein anderes als sein früheres ist, oder zumindest seiner Ansicht nach sein sollte. Aber eben diese Selbstbetrachtung, die das Motiv des radikalen Bruchs in den Vordergrund stellt, wird durch den Text immer wieder unterminiert. Denn trotz gegenteiliger Bekundungen - „I was a failure as a semiotician, [...] I did not read the signs“ (143) - hält Phineas an zentralen Prämissen und Methoden einer poststrukturalistischen Literaturwissenschaft fest: Er untersucht Destry-Scholes’ Texte aus erzähltheoretischer Perspektive (16), bedient sich der entsprechenden Terminologie (18), dekonstruiert Texte (97) und bedient sich in seinen Kommentaren der bewährten Gewährsleute von Lacan bis Derrida (114). Vor diesem Hintergrund ist auch denjenigen Elementen der Erzählung zu misstrauen, welche den Eindruck des Bruchs oder der Abkehr von der alten Identität verstärken bzw. inszenieren. So zum Beispiel die Beschreibung der Phase zwischen der Abwendung von seiner bisherigen akademischen Ausrichtung und der Aufnahme des Biographieprojekts: It is difficult to recall the state of febrile excitement I was in over my own release from a life of theoretical pedagogy. I did nothing about my future. I sat in my little flat, or walked about in bare feet, and occasionally completely naked, to mark my new state, but this brought me no nearer to any sort of future. Perhaps because my own life was a fluid vacuum, I became obsessed with the glittery fullness of the life of Elmer Bole. (18) Signifikant sind hier weniger Phineas’ Erregung oder seine Zukunftsängste, als vielmehr das Element der Nacktheit, das seine neue Verfassung markieren soll. Aufgrund seines geschulten Verständnisses für Symbole und Metaphern (vgl. 2) ist es zwar nicht erstaunlich, dass sich Phineas hier des Bildes der Nacktheit bedient, um Assoziationen an Geburt, Unschuld, 475 Vgl. hierzu Zima (2000), 193f und Zima (1997), 83f. <?page no="192"?> 180 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale Neubeginn oder das Paradies vor dem Sündenfall zu wecken. Aber eben diese metaphorische Aufladung lässt vor dem Hintergrund der mantrahaften Absage an das Nicht-Faktische und Nicht-Dingliche die Frage nach der Glaubwürdigkeit der selbstbekundeten neuen Identität aufkommen. Ähnlich ist auch die Passage zu deuten, in der Phineas endgültig den Entschluss fasst, sich einer Biographie von Destry-Scholes zuzuwenden: The project may have come to me in a dream. I am not being fanciful, simply precise. I woke one morning and thought, ‘It would be interesting to find out about Scholes Destry-Scholes.’ I had a vague memory of a dream of pursuit through dappled green and gold underwater caverns. Of rising to the surface and of seeing a pattern of glass balls, fishermen’s floats, on the surface of the sea, blue, green, transparent. ‘I could write a biography’, I said to myself, possibly even aloud, ‘of Scholes Destry-Scholes.’ (20) Der Traum, bzw. die im gleichen Kontext angesprochene „vision“ (20), steht dabei als Metapher für das Irrationale und das Unbewusste ebenso in Opposition zur Literaturwissenschaft wie die simple precision der Erzählung gegenüber der gefühlten slipperiness poststrukturalistischer Deutungsmuster. Im Zusammenhang mit der ebenfalls höchst signifikanten Oberflächenbzw. Tiefenmetaphorik sowie der Meeres-, Ordnungs- und Glaskugelmotive, auf die später noch näher eingegangen werden soll, erscheint die Passage in einem solchen Maße mit Bedeutung aufgeladen, dass eine Deutung als stützende Inszenierung seitens eines unzuverlässigen Erzählers naheliegt. 476 Unter Berücksichtigung sowohl der erzählerischen Unzuverlässigkeit als auch des professionell geschulten Umgangs mit Literatur durch den Erzählerprotagonisten muss in diesem Kontext auch die strukturelle Anlage der Erzählung beachtet werden. Bereits der erste Satz des Textes erweckt den Eindruck eines bewussten und radikalen Bruchs, also mithin eines Neuanfangs, und der Umstand, dass der Text in medias res mit der Erzählung beginnt, stützt und stärkt diesen Eindruck: „I made my decision, abruptly, in the middle of one of Gareth Butcher’s famous theoretical seminars“ (1). In signifikanter Weise ist hier das thematische Leitmotiv mit dem strukturellen Aufbau zur Deckung gebracht; damit verweisen bereits die ersten Passagen des Textes auf die konstruierte Verfasstheit von Erzählungen bzw. die angewandten Konstruktionsverfahren. 477 476 Zum Konzept des unzuverlässigen Erzählens vgl. Nünning (1998). Vgl. auch Tönnies (2005), 75. 477 Damit kommt hier eine Technik zur Anwendung, die als ein wesentliches Element postmoderner Literatur gedeutet wird. Vgl. hierzu Zima (1997), 336f und Hassan (1988), 53f. <?page no="193"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 181 In den Kontext des programmatischen Neubeginns lässt sich auch der fast beiläufig wirkende Hinweis auf den Tod von Phineas’ Mutter deuten: […] I thought, I’m not going to go on with this anymore. Just like that. It was May 8th 1994. I know that, because my mother had been buried the week before, and I’d missed the seminar on Frankenstein. I don’t think my mother’s death had anything to do with my decision, though as I set it down, I see it might be construed that way. (1) Der Tod der Mutter stellt sich hier, insbesondere in Kombination mit dem Verweis auf das Verschwinden des Vaters (vgl. 3), auf mehrschichtige Weise als Bruchpunkt dar. Zunächst ist dabei auf der Handlungsebene des Textes zu berücksichtigen, dass Phineas, der keine Geschwister hat, nach dem Tod der Mutter in keinerlei familiäres System mehr eingebunden zu sein scheint; tatsächlich erfolgt im Text über den Verweis zu Beginn der Erzählung hinaus keine weitere Bezugnahme auf Mutter oder Vater. Darüber hinaus evoziert Phineas’ familiäre Situation, d.h. die Abwesenheit des Vaters und der Tod der Mutter, in der unmittelbaren erzählerischen Nähe zu Gareth Butchers Theorieseminar nicht nur das Lacansche (dezentrierte) Subjektkonstitutionsmodell, 478 sondern auch entsprechende (post)feministische Ansätze, in denen Vaterbzw. Mutterfiguren im Rahmen der symbolischen Ordnung je unterschiedliche Gewichtungen zukommen. 479 Dies wird umso deutlicher, als sich Phineas der Eingebundenheit in Systemzusammenhänge und symbolische Ordnungsstrukturen bewusst ist: The family name is Nanson; my full name Phineas Gilbert Nanson - I sign myself always Phineas G. Nanson. When I discovered - in Latin class when I was thirteen - that nanus was the Latin for dwarf, cognate with the French nain, I felt a frisson of excited recognition. I was a little person, the child of a little person, I had a name in a system, Nanson. (3) Zu beachten ist dabei der Umstand, dass hier nicht auf ein spezifisches Subjektivitätsmodell verwiesen wird, denn aufgrund der im Text vergebenen Information ließe sich wohl ebenso plausibel für eine Anlehnung an Lacan wie an Kristeva, Butler oder andere argumentieren. Stattdessen wird auf eine ganze Gruppe von Subjektivitätsmodellen verwiesen, die in ihrem tiefenstrukturellen Ansatz eng miteinander verwandt sind und die Verknüpfung semantischer Gegensatzpaare wie Natur/ Kultur oder Mut- 478 Dies um so mehr, als „Lacan’s theory of morcellement“ (1) nicht nur explizit im Text erwähnt wird, sondern auch Gegenstand der nach dem Begräbnis seiner Mutter stattfindenden Sitzung ist. Die gleiche Funktion erfüllt auch der Verweis auf Frankenstein, ist doch die Kreatur aus den Teilen verschiedener Leichen zusammengesetzt. 479 Vgl. hierzu auch O’Brien (1991), 123ff, Marcus (1994) 217ff, Gerig (2000), 22ff sowie Zima (2000), 258ff und 278ff. <?page no="194"?> 182 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale ter/ Vater mit imaginären bzw. symbolischen Ordnungssystemen korrelieren. 480 Phineas zeigt sich hier also zum einen in hohem Maße theoretisch reflektiert und liefert qua Implikation ein mögliches psychoanalytisches Erklärungsmuster für den Drang, mit seinem alten Leben zu brechen. Zum anderen verweigert er aber explizit die Anerkennung eben jenes Erklärungsmusters. Deuten lässt sich dieser Umstand als Indiz für ein Oszillieren zwischen der alten, abgelehnten, seine Wahrnehmung aber immer noch strukturierenden Identität als Poststrukturalist und der neuen, noch nicht gefestigten Identität als Biograph. Phineas’ erzählerische Unzuverlässigkeit resultiert demnach aus dem Bedürfnis, die angestrebte neue Identität durch Inszenierungen zu stützen, die aber immer wieder durch entsprechende theoretische Reflektionen konterkariert bzw. unterminiert werden. 9.2 Identität und narrative Strukturiertheit Seine Verunsicherung ist demnach zumindest zum Teil das Ergebnis einer mangelnden Kontinuität bzw. Konstanz 481 der eigenen Identität, wie durch den massiven Einsatz von Bruchbzw. Neuanfangsmotiven zu Beginn der Erzählung noch hervorgehoben wird. Dabei werden mehrere Ebenen miteinander verknüpft und Kontingenzerfahrungen wie der Tod der Mutter mit von Phineas selbst zu verantwortenden Entscheidungen in Bezug gesetzt, und Spontaneität wird mit analytischer Entscheidungsfindung kontrastiert. Ebenso werden bewusste Selbstbetrachtung und das Erkennen der eigenen Eingebundenheit in eine symbolische Ordnung mit dem Motiv des strukturell bedingten Selbstentzugs 482 korreliert, denn Phineas sieht sich trotz der beständigen Analyse der eigenen Motivation nicht in der Lage, eine befriedigende Begründung für seine neu entdeckte Schreibleidenschaft zu finden. Seine wiederholte Bekundung, „I am not very interested in finding out who I am“ (100), ist vor diesem Hintergrund als ein Ausweichen vor der ipse-Frage 483 zu deuten. Diese ist für ihn insofern nicht befrie- 480 Vgl. Zima (2000), 259. 481 Beide Begriffe beziehen sich auf die diachrone Dimension von Identität und sind insofern grundlegend für dynamisch-prozessuale Identitätsmodelle. Straub zieht den Begriff der Kontinuität dem der Konstanz vor, da ihm letzterer eine irreführende Unveränderlichkeit in der Zeit zu implizieren scheint. Vgl. Straub (2004), 284f und Glomb (1997), 12f. 482 Vgl. hierzu Straub (2004), 281. 483 D.h. im Sinne der Ricoeurschen Selbstheit/ ipséité: „Die Identitätsfrage im Sinne der ipse-Identität ist eine ‘persönliche’, von der praktischen Selbstsorge eines Menschen <?page no="195"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 183 digend zu beantworten, als in diesem Stadium sowohl Selbstzuschreibungen wie poststructuralist literary critic oder biographer, als auch „Identitätszuschreibungen von außen“, die „alles andere als unwichtig für die Konstitution und Transformation“ 484 von personaler Identität sind, nicht mehr oder nur eingeschränkt gültig sind. Das „fluid vacuum“ (18), von dem sich Phineas umgeben sieht, beschreibt demnach nicht nur die inhaltliche Differenz zur „glittery fullness of the life of Elmer Bole“ (18), sondern markiert auch das Oszillieren zwischen zwei Identitätspolen, die von ihm (noch) als kategorial und paradigmatisch different, und daher nicht zusammen gedacht werden können. Ist Konstanz bzw. Kontinuität von Identität aber ein zwar kulturell verankertes und situiertes Aspirationsideal, 485 das aber gerade in durch Pluralisierung und Wandelbarkeit geprägten Gesellschaften eine besonders wichtige Funktion innehat, 486 muss Phineas die Wiederherstellung bzw. Generierung von Kontinuität anstreben, auch wenn diese Zielsetzung aufgrund des strukturellen Selbstentzugs nicht notwendigerweise eine bewusste ist. Als eine mögliche Ausprägung einer solchen Kontinuierungsleistung wäre eine massive Umdeutung früherer Ausprägungen der eigenen Identität 487 denkbar, deren Ziel die Glättung von Brüchen und Veränderungen ist. Stattdessen zeigt The Biographer’s Tale einen anderen Modus der Kontinuierung von Identität auf, der statt auf Negation auf die Integration von biographischen Brüchen zielt: „das Erzählen von Geschichten [als] der wohl wichtigste [...] Modus einer auf Kontinuität und Identität zielenden Synthese temporaler Differenz.“ 488 Phineas’ Abwendung von seiner poststrukturalistisch ausgerichteten Dissertation und seine Hinwendung zur (Auto-)Biographie lässt sich als Illustration des Übergangs von einem paradigmatischen zu einem narrativen Modus des Denkens deuten: getragene Wer-Frage - ‘wer bin ich (geworden) und wer möchte ich (eigentlich) sein’“. Straub (2004), 283. Vgl. hierzu auch Meuter (1995), 245ff und Zima (2000), 22ff. 484 Straub (2004), 283. 485 Vgl. Straub (2004), 282. 486 Vgl. Glomb (1997), 22f und auch Zima (2000), 369. 487 Beispielsweise mittels des Zusammenspiels von Assimilation, also dem Anpassen von selbstbezogenen Informationen an das Selbstbild, und Akkommodation, der Anpassung des Selbstbildes an selbstbezogene Informationen; vgl. hierzu Glomb, 10ff. Allerdings scheinen beide Prozesse hier in deutlich geringerem Umfang zu greifen als in anderen literarischen Bearbeitungen des Identitätsthemas, wie beispielsweise Iris Murdochs The Sea, The Sea oder Kazuo Ishiguros The Unconsoled. Vgl. auch Gerig (2000), 105ff und Schoenbeck (2000), 143ff. 488 Straub (2004), 286. <?page no="196"?> 184 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale Im paradigmatischen Modus ordnet das Denken einzelne Ereignisse oder Objekte begrifflichen Kategorien zu; im narrativen Modus werden Ereignisse als Elemente einer Geschichte erfasst, zu deren Entwicklung sie beitragen. Es geht also um die kognitive Fähigkeit, verschiedenste Ereignisse und Handlungen zu übergeordneten zeitlichen und sinnhaften Einheiten zu konfigurieren. Diese Fähigkeit zur narrativen Strukturierung (emplotment) ist offenbar eine unserer fundamentalen Bewusstseinsleistungen. 489 Diese Deutung stimmt zum einen mit der von Phineas geäußerten Kritik an der Ausrichtung der poststrukturalistischen Literaturwissenschaft überein, deren paradigmatische Ausrichtung und vorgegebenes Kategorieninventar zwangsläufig „the same structures, the same velleities, the same evasions“ in „the most disparate texts“ (144, vgl. auch 1f) findet. Und zum anderen deckt sie sich mit seiner Faszination für die „art of biography“ (5), deren (aus poststrukturalistischer Sicht naive bzw.) „primitive virtue“ in der „capacity to make up a world“ (8), also der Fähigkeit, in sich geschlossene und sinnhafte Geschichten zu erzählen, liegt. Mit dieser Unterscheidung löst sich der Widerspruch auf, der in Phineas’ Sehnsucht nach things und facts und seinem Bewusstsein für den Konstruktcharakter von Biographien, dem „resourceful marshalling and arranging of facts“ (15), zu liegen scheint. Die im paradigmatischen Modus übermächtige Dichotomie subjektiv/ objektiv, die von den „arranged facts“ (5) impliziert wird, wird vor dem Hintergrund des narrativen Modus zur Illustration für grundlegende narrative Kompetenz: Erst durch ihre Einbettung in eine übergeordnete Struktur gewinnen ‘Dinge’ Bedeutung und werden zu ‘Fakten’. Phineas’ persönlicher narrative turn lässt sich demnach auch als ein Erklärungsansatz für die Transformation des Biographieprojekts in eine autobiographische Erzählung heranziehen. Die mehrfach wiederholte Abscheu vor dem Genre, „the last thing I have any interest in writing - I mean this - is an autobiography“ (99), 490 verliert angesichts der Notwendigkeit einer identitätsstabilisierenden bzw. -generierenden selbstbezogenen Erzählung an Gewicht: Um die verschiedenen Brüche in ein dem Kontinuitätsbedürfnis gerecht werdendes Gesamtbild einzuordnen, ist die Generierung einer in sich schlüssigen Kausalkette, also einer Erklärung der Brüche, notwendig. Eben diese Erklärungsleistung ist der Erzählung aber schon inhärent. Das Konzept der ‘narrativen Erklärung’ geht von einer lebensweltlichen bzw. pragmatischen Überlegung aus, nämlich, daß in gewissen Zusammenhängen dasjenige, was Menschen wollen und erwarten, wenn das Bedürfnis nach Erklärung empfunden wird, eine wahre Geschichte 489 Meuter (2004), 140. 490 Vgl. auch 100, 214, 237, 250. <?page no="197"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 185 ist. [...] Die rein nomologische Wissenschaftstheorie verkenne [nach Auffassung des Philosophen Arthur C. Danto, F. D.], daß das explanandum nicht einfach ein Ereignis, sondern eine Veränderung darstelle. Es sei demnach falsch, den früheren Zustand in Form von Anfangsbedingungen als Teil des explanans anzusehen [...], vielmehr seien sowohl der Anfang wie das Ende einer Veränderung Teil des explanandums. Damit wird das Grundschema einer narrativen Erklärung formulierbar: Eine narrative Erklärung besteht darin, die Mitte zwischen den zeitlichen Endpunkten einer Veränderung aufzufüllen. Eine Geschichte ist die Erklärung dessen, wie die Veränderung stattgefunden hat. 491 Damit ergibt sich für die spezifische Situation, in der sich Phineas zu Beginn der Handlung befindet, eine Notwendigkeit für eine ‘Geschichte des Selbst’, 492 die aufgrund ihrer strukturellen Bedingtheit schwerer wiegt als sowohl traditionelle, stabilitäts- und authentizitätssuggerierende Zuschreibungen des autobiographischen Diskurses 493 als auch Phineas’ entgegengesetzte, kritische Auffassung von Autobiographie als „slippery, unreliable, and worse, imprecise“ (250). Aus dieser Perspektive betrachtet kann Phineas gar nicht anders, als in einem „miracle of metamorphosis“ (19) statt einer Biographie Destry-Scholes’ eine autobiographische Erzählung zu verfassen: 494 I seemed to understand that the imaginary narrative had sprung out of the scholarly one, and that the compulsion to invent was in some way related to my own sense that in constructing this narrative I have had to insert facts about myself, and not only dry facts, but my feelings, and now my interpretations. I have somehow been made to write my own story, to write in very different ways. They slipped in and out of focus, on a multiplicity of scales, from the minute to the vast. […] Was the composite Destry-Scholes? Was it, since I had had to arrange and rearrange, Phineas G. Nanson? (236f) Die Validität einer narrativ gestützten Identitätskonzeption als Interpretationsmuster wird dabei durch den Umstand, dass für Phineas trotz des hohen Niveaus seiner reflexiven Betrachtungen seine „new-found addiction to writing“ (255), genauer gesagt des autobiographischen Schreibens, nicht erklärbar ist, keineswegs unterminiert, sondern vielmehr plausibilisiert. Denn bei aller „Fähigkeit zur Selbstdistanzierung (z.B. in der Form 491 Meuter (2004), 144f. 492 Vgl. Campbell und Harbord (2002), 1. 493 Vgl. hierzu Marcus (1994), 179ff, Gerig (2000), 33ff und Zima (2000), 377ff. 494 Ein Element der Selbstreflexion ist dabei jedem biographischen Projekt eingeschrieben: „After all, on the one hand, the perspective of the biographer determines to a great extent the theory of personality encountered in the book and the readers’ experience. And, on the other, many biographers have come to the unsettling truth that writing a biography is more than a discovery of a person. It is a matter of selfdiscovery“. Sinclair (1990), 123. <?page no="198"?> 186 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale von Selbstironie), der Selbstreflexion und der Selbstkritik“, 495 die auch Phineas zeigt, bleibt dynamischen, hermeneutisch orientierten Identitätsmodellen stets das Element des systembedingten Selbstentzuges eingeschrieben: Selbstreflexion impliziert eine Differenzstruktur, in der ein reflektierendes Subjekt-Selbst stets einem diachron versetzten ‘Anderen’, einem Objekt-Selbst gegenübersteht. 496 In dieses Deutungsmuster fügen sich auch die wiederholte implizite („Anyone? Who is going to read this? “ (36)) und explizite Adressierung eines „imaginary reader“ (100) bzw. eines „non-existent reader“ (175) und die Frage nach der eigentlichen Funktion des Texts: I notice that my writing is perhaps becoming too impassioned. But then, what sort of a piece of writing is it, for what purpose, for which reader? I may be passionate or dispassionate as I choose, since this document has no importance anyway. (141) Identität ist stets in einen sozialen Kontext eingebunden 497 bzw. sozial vermittelt, ebenso wie der Erzählung stets der Kommunikationsaspekt eingeschrieben ist. Die Frage nach Textsorte und Funktion wäre demnach folgendermaßen zu beantworten: Es handelt sich um eine autobiographische Erzählung, die Kontingenzerfahrungen gemeinsam mit Selbstmächtigkeitsvorstellungen in einen narrativen Kontext einbetten soll, der eine Erklärungsstruktur für als Brüche empfundene lebensweltliche Veränderungen liefert und damit als Kontinuierungsleistung in Bezug auf Phineas’ Identität zu deuten ist. Adressat des Textes ist zum einen Phineas selbst und zum anderen eine nicht näher definierte soziale Umwelt, da sowohl Identität als auch Narration stets als in einen sozialen Kontext eingebettet zu denken sind und ihnen eine Präsentationsfunktion 498 zukommt; hieraus erklärt sich auch Phineas’ Bedürfnis, seine Entscheidung jemandem mitzuteilen, also gleichsam zu veröffentlichen: „I felt a need to confirm my decision by telling someone about it“ (3). Die soziale Dimension bzw. die Präsentationsfunktion wird dabei insofern durch den Gesamttext hervorgehoben, als dieser, entgegen Phineas’ Aussage gegen Ende seiner 495 Straub (2004), 282. 496 Vgl. hierzu Glomb (1997), 10ff, Zima (2000) 20ff, und Straub (2004), 281f. 497 Vgl. hierzu Fullas Anmerkung zur sozialen Eingebundenheit der menschlichen Existenz: „We are held together by threads of dependence as much as the ants. Mechanics and pilots, air traffic controllers and clerks, lift-operators and restaurant managers, police and passengers, electricians and painters and escalator-attendants and terrorist scanner - we’re all part of each other“ (240). 498 Vgl. hierzu Glomb (1998), 157f, Straub (2004), 280 sowie Meuter (2004), 142. <?page no="199"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 187 Aufzeichnungen, „this manuscript, [...] for obvious reasons, cannot be public property“ (245), die Publikationsfiktion aufrechterhält. 499 9.3 Interpretation und Überdeterminiertheit Obwohl Phineas’ Verlangen nach things und facts zunächst Gegenteiliges zu suggerieren scheint, bleibt die Auseinandersetzung mit dem Selbst stets eine sprachlich vermittelte, und der vermeintliche Rückzug in die Welt der physischen „shining solidity of a world full of facts“ (4) bleibt als programmatische Erklärung zwar plausibel, spiegelt durch die Beziehungen der things untereinander aber jenes poststrukturalistische Zeichenmodell 500 wider, dem Phineas eigentlich eine Absage erteilen möchte: No one could say these were not things. There were things in Puck’s Girdle, but most of these things were images of other things, photographs of glaciers, standardised descriptions of hotel rooms (TV, central heating, bath/ shower, large/ small/ queensize/ kingsize bed and so on). The chained books were things, and the screens of the computers, but things containing the codes to access thingier, denser things. (130) Hier wird also nicht die Substitution von immateriellen, ‘unwirklichen’ Worten durch materielle, ‘wirkliche’ Dinge impliziert, sondern vielmehr Phineas’ Neuausrichtung von akademischen Textwelten hin zu praktischen Lebenswirklichkeiten akzentuiert, ohne dass die zugrunde liegende Struktur negiert wird. 501 Wörter sind für Phineas zwar nicht Dinge, aber beide können das gleiche Gefühl von Sicherheit und Solidität vermitteln: „I said, ‘I felt an urgent need for a life full of things.’ I was pleased with the safe, 499 Phineas’ Gespräch mit Ormerod Goode verweist darauf, dass in der Publikation ein stabilisierendes Element liegt: „Public property, can’t move off, he said. Stay put. Interconnected. Satisfactory.“ (246) 500 Phineas’ Hinweis auf den Zuwachs an Dichte, auf das ‘dinglicher werden der Dinge’ lässt sich dabei als Verweis auf den durch das Durchlaufen einer potentiell unendlichen Zeichenkette bedingten Bedeutungszuwachs deuten: Denkt man die Metapher der zunehmenden Dichte weiter, so wird nicht ein Endpunkt (das Ding mit der größten Dichte), sondern die Implosion zu einem alles verschlingenden Schwarzen Loch impliziert. Zum Zeichenmodell vgl. Posner (1993), 219ff sowie Eco (1994), 76ff. 501 Boccardi deutet dies anders: Phineas scheitert ihrem Ansatz nach aufgrund der nicht abgelegten postmodernen Selbstreflexivität an dem Versuch, „a narrative made of things“ zu konstruieren, d.h. „the fictional realm of texts“ durch die „reality of the physical world“ zu ersetzen. Vgl. Boccardi (2001), 152. Dies unterstellt Phineas aber ein schon in Swifts Gulliver’s Travels kommentiertes Zeichen- und Realitätsmodell; dies erscheint im Hinblick auf Handlungs- und Metaebene von The Biographer’s Tale unplausibel. <?page no="200"?> 188 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale solid Anglo-Saxon word“ 502 (4). Things sind demnach in The Biographer’s Tale stets auch als Verweise, als Metaphern zu denken. In der Kombination mit Phineas’ metafiktionalen und metasprachlichen Reflexionen ergibt sich daraus eine Metapherndichte, die auf den ersten Blick kaum überschaubar ist und die in der Rezeption des Romans durch die Literaturkritik zum Teil überaus negativ gewertet worden ist. 503 In der Tat scheint der Text in verschiedener Hinsicht überdeterminiert. So stehen Gareth Butcher und Ormerod Goode, die beiden joint heads of department, metonymisch für eine ‘theoretische’ bzw. eine ‘praktische’ disziplinäre Ausrichtung. Ihre Namen verweisen darüber hinaus auf die Wertungen, die Phineas der jeweiligen Ausrichtung zuschreibt: In Butchers literaturtheoretischem Seminar werden Texte regelmäßig ‘verstümmelt’, und die theoretische Grundlage hierfür ist nicht zuletzt in „Lacan’s theory of morcellement, the dismemberment of the imagined body“ (1) zu sehen. Der rundliche Ormerod Goode, „orotund Ormerod Goode“, wie Phineas ihn stets denkt, „adding more Os to his plethora, and a nice complex synaesthetic metaphor“ (3), ist dagegen als Etymologe für Phineas eher mit der Welt des Sicheren, Soliden, ‘Guten’ assoziiert. Signifikant ist hierbei, dass der Text in Goodes Fall durch Phineas’ Kommentar explizit auf die metaphorische Bedeutungsebene (die in diesem Fall sogar eine synästhetische ist) verweist, Gareth Butchers geradezu ins Auge springenden telling name aber unkommentiert lässt. Durch die exemplarische Interpretation der komplexeren Metaphorik in Bezug auf Goode wird die analoge Interpretation der leichter zugänglichen metaphorischen Bedeutung Butchers nicht nur nahegelegt, sondern fast schon aufgezwungen. Damit wird in gewisser Hinsicht eine Parallele zwischen dem von Phineas als zwanghaft empfundenen Übergang vom biographischen zum autobiographischen Schreiben und der Rezeptionssteuerung durch den Text gezogen. Denn wie Phineas durch systemimmanente Zwänge zur Reflexion auf das eigene Selbst gedrängt wird, forciert der Text durch das Zusammenspiel von expliziten Musterdeutungen und impliziten Deutungsangeboten eben jene Rezeptionsstrategie, die Phineas als „overdetermism of Literary Theory“ (214), als Erkennen der immer gleichen Bruchstellen und Strukturen, ablehnt: Goode und Butcher werden nicht als eigenständig, sondern als Komplementärfiguren wahrgenommen. Diese Strategie des Textes erweist sich bei näherer Betrachtung als hochkomplexer und subtiler Metakommentar, der anhand einer genaueren 502 Der Verweis auf die ‘angelsächsische’ Etymologie des Wortes things lässt sich als Seitenhieb auf die aus dem Französischen übernommene Terminologie poststrukturalistischer/ -moderner Theoriegebäude deuten. 503 Vgl. hierzu beispielsweise Lee (2000), 21 und Jensen (2000), 23. <?page no="201"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 189 Betrachtung der Namensmetaphorik des Erzählers selbst exemplarisch zu illustrieren ist: I should perhaps say, now, that I am a very small man. ‘Small but perfectly formed’ my father would say, several times a day, before his disappearance. He himself was not much bigger. The family name is Nanson; my full name Phineas Gilbert Nanson - I sign myself always Phineas G. Nanson. When I discovered - in Latin class when I was thirteen - that nanus was the Latin for dwarf, cognate with the French nain, I felt a frisson of excited recognition. I was a little person, the child of a little person, I had a name in a system, Nanson. I have never felt anything other than pleasure in my small, delicate frame. (3) Phineas’ Reflexion auf seinen Familiennamen und dessen Eingebundenheit in ein symbolisches Ordnungssystem hebt zunächst den potentiellen Erkenntnisgewinn durch die exemplarische Deutung hervor. Zugleich wird durch die mehrfache Bezugnahme auf die metaphorische und körperliche Kleinheit in Kombination mit dem Motiv des Verschwindens eine Assoziationskette small - very small - disappearance aufgerufen, die, anders als die etymologische Herleitung des Familiennamens, aber nicht explizit ausformuliert wird; diese Leistung ist durch den Rezipienten zu erbringen. Ist dieser durch den Text angeleitete Interpretationsschritt erst einmal getan, so liegt es nahe, als nächstes die beiden Vornamen näher zu betrachten, denn diese sind durch die Mehrfachnennung ebenfalls hervorgehoben; allerdings gibt der Text hier kein Interpretationsmuster vor. Stattdessen wird eine Struktur nahegelegt, die nach expliziter Musterinterpretation und Vorgabe einer Assoziationskette in einem dritten Schritt die freie Assoziation bzw. Interpretation durch den Rezipienten einfordert; diese Forderung verspürt nach der Lektüre der biographischen Fragmente mit einigem Unbehagen auch Phineas selbst: „I felt a strange urge to follow up all the clues, but where would it end? “ (102). Je nach Vorverständnis ist dabei ein weites Spektrum an Anschlussmöglichkeiten offen. 504 Phineas legt den Bezug auf P(hineas) T(aylor) Barnum nahe, den amerikanischen Zirkusbegründer und freakshow-Betreiber (vgl. auch 135); dies scheint insofern plausibel, als beispielsweise Barnums Fälschungen von Fabelwesen durch Zusammensetzung von verschiedenen Tierkörpern durchaus als Metapher für narrative Konstruktionsprozesse gedeutet werden können. Aber auch die fast homophone Ähnlichkeit zu Phileas Fogg, dem Protagonisten von Jules Vernes Le tour du monde en 80 jours, bietet eine plausibilisierbare Anschlussmöglichkeit. Zentrales Motiv bei Verne ist die Reise um die Welt und das Ankommen am Ausgangsort; 504 Hermione Lee deutet dies in ihrer Rezension kritisch als literarischen Belesenheitswettbewerb, der den Roman letztendlich scheitern lässt. Vgl. Lee (2000), 21. <?page no="202"?> 190 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale Reisen und Zirkelbewegungen sind auch in The Biographer’s Tale wiederkehrende Motive. Gilbert ruft potentiell, vor allem vor dem Hintergrund des literaturwissenschaftlichen Kontexts des Romans, die Assoziation an Susan Gilbert und Sandra Gubar auf, die mit ihrer Studie The Madwoman in the Attic großen Einfluss auf die feministische Literaturtheorie genommen haben und eine kritische Haltung gegenüber dem Poststrukturalismus vertreten. Ebenfalls denkbar ist eine Bezugnahme auf das britische Künstlerpaar Gilbert & George, die als living sculptures entleerte, stereotype Identitäten kommentieren und die Grenze zwischen künstlerischem Subjekt und Objekt verwischen. Vor dem Hintergrund dieser potentiell unendlichen und sich vom Ausgangspunkt immer weiter entfernenden Assoziationsketten wird der Rezipient in eine Lage versetzt, die strukturell Phineas’ durch die wiederholte Selbstermahnung „I am doing too much writing now“ (153) zum Ausdruck gebrachten Dilemma entspricht. Ebenso wie Phineas’ narrativer Identitätsfindungsprozess nicht unbegrenzt auf der Ebene der Selbstreflexion verharren kann, sondern in der Publikation und der Interaktion mit der Umwelt einen vorläufigen Schlusspunkt bzw. Neubeginn des Prozesses erreichen muss, muss auch die Interpretation eines spezifischen narrativen Elements zu einem vorläufigen Schluss kommen, um sich schrittweise einem Gesamtbild annähern zu können. Insofern lässt sich Phineas’ Selbstermahnung, „I shall write it down, for pleasure, cliché and all, and then stop writing. Or how shall I see what to do? “ (251), auch als Ermahnung an der Rezipienten umformulieren: ‘You shall interpret it, for pleasure, cliché and all, and then get on with the text. Or how shall you see what’s going on? ’ 9.4 Zeigen und Erzählen Während die telling names Butcher, Goode und auch Nanson als ironischer Metakommentar auf postmodern play und Überdeterminiertheit gelesen werden können, stellt sich dies in Bezug auf den Skandinavisten Thorold Jespersen anders dar: In terms of this story (for what else am I writing? ) Thorold Jespersen was overdetermined. I suppose if he had been young and brisk and surgical I should have been equally satisfied to have him in the story, because of the element of shock and wonder. […] Jespersen sat in the gloom, in a nest of ivory hair, his long white beard wound into his papers, his long white hair merging into it, his papery-white, wrinkled face and his pale cracked lips, revealing walrus-horn yellow teeth, peering between his locks with watery blue eyes […] under jutting headlands of white brows […]. It was all dry and dusty. (247) <?page no="203"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 191 Die von Phineas diagnostizierte Überdeterminierung bezieht sich nicht auf einen etwaigen telling name, denn Thorold Jespersen ist hier nur in dem trivialen Sinne telling, als auf eine skandinavische Herkunft verwiesen wird. Vielmehr bezieht er sich auf die Vielzahl der Jespersen zugeschriebenen Attribute, die ein Bild des leicht angestaubten, sein Arbeitszimmer nie verlassenden und daher bleichen, mit seiner Arbeit gar verwachsenen Professors zeichnen. Dies erstreckt sich bis auf die gewählte Farbmetaphorik: Jespersens Gesicht ist weiß wie seine Papiere, seine wässrig-blauen Augen verweisen auf die Einbettung Skandinaviens in das Meer und die walrosshorn-gelben Zähne verstärken zum einen den Meeresbezug und verweisen darüber hinaus auf die Nähe Skandinaviens zum Polarkreis. Anders als in Bezug auf die beiden anderen Professorenfiguren steht hier also statt des telling das showing im Vordergrund. Auch in ihrer Funktion für den Fortgang der Handlung sind Butcher, Goode und Jespersen unterschiedlich zu werten. Während die beiden ersten Phineas einen akademischen Weg vorgeben, der sich für ihn letztlich als nicht gangbar erweist, illustriert und stützt die Figur Jespersens Phineas’ Entscheidung, sich nach seinem ursprünglichen Dissertationsprojekt auch von der Biographie Destry-Scholes’ abzuwenden und sich stattdessen gänzlich seinem eigenen Leben zuzuwenden. Jespersens akribisch geordnetes Archiv, letzte Möglichkeit für Phineas, Destry-Scholes gleichsam von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, „to see the face of Destry-Scholes“ (248), suggeriert keineswegs mehr eine faktenbasierte shining solidity oder gar glittery fullness: Trockene Finger ordnen in einer staubbefrachteten, mausoleumsartigen Atmosphäre ebenso trockene Papiere und Dokumente (vgl. 248). Zum einen dient Jespersen also als Negativbeispiel, das den potentiellen Endpunkt einer faktenorientierten und -hortenden, den Bezug zur Außenwelt nur über das Archiv herstellenden Laufbahn illustriert. Zum anderen wird hier deutlich, dass metaphorische Zuschreibungen ein wichtiges Element narrativer Strukturierung sind: Das Aufgeben des Biographieprojekts zugunsten eines Lebens mit Vera und Fulla, das einen erneuten biographischen Bruch darstellt, wird mittels der Negativkonnotationen in einen die Entscheidung plausibilisierenden Gesamtzusammenhang eingebettet. Dass Phineas’ Schilderung der Begegnung mit Jespersen nicht ein bloßer Tatsachenbericht ist, sondern vielmehr eine wichtige Funktion im narrativen Konstruktionsprozess innehat, wird dabei nicht nur durch die metaphorische Überformung von Jespersens physischem Erscheinungsbild deutlich. Bei der Beschreibung des Dachzimmers, die wesentlich zum atmosphärischen Gesamteindruck beiträgt, verweist Phineas auf jene Eigenschaften des Raumes, die zwar dem Klischee entsprechen würden, aber gerade nicht gegeben sind, und konstruiert so genau dieses Klischee ex negativo: „There should have been spiderwebs, but there weren’t. [...] The <?page no="204"?> 192 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale room, and the man, looked as though there should have been a smell of rotting, but there wasn’t“ (247). In Kombination mit dem spielerisch-ironischen Umgang einerseits und der ernsthaften Auseinandersetzung anderseits impliziert der Text durch diesen signifikanten Unterschied in der Bedeutung von telling und showing für den strukturellen Aufbau eine Wertung beider narratologischer Methoden: Der Metaphernkomplex um Thorold Jespersen scheint ungleich ernsthafter behandelt und für Phineas von größerer Signifikanz als etwa derjenige um Ormerod Goode. In der Konsequenz scheint es angebracht, die zentralen Motiv- und Metaphernbereiche einer näheren Betrachtung auf ihre strukturbildende Funktion hin zu unterziehen. 9.4.1 Oberflächen- und Tiefenmetaphern Eines der ersten rekurrenten und metaphorisch überformten Motive des Romans zeigt sich bereits in der Schilderung der Situation, in der Phineas seine Entscheidung bezüglich der Abkehr von seinen bisherigen Studien fällt: „It was a sunny day, and the windows were very dirty. I was looking at the windows and I thought, I’m not going to go on with this anymore“ (1). Einen entsprechenden Interpretationsansatz liefert der Erzähler selbst einige Passagen später nach: „I know a dirty window is an ancient, wellworn trope for intellectual dissatisfaction and scholarly blindness. The thing is, that the thing was also there. A real, very dirty window, shutting out the sun“ (2). Der Verweis auf die metaphorische Bedeutung und deren anschließende Infragestellung durch die Heraushebung der Dinglichkeit des Gegenstandes illustriert hier die Gleichzeitigkeit des Festhaltens an erlernten Interpretationsstrategien und der programmatischen Hinwendung zur vermeintlich rein objektiven Betrachtung der Umwelt. Bei genauerer Betrachtung erweist sich der Einsatz der Fenstermetapher an dieser Stelle als vielschichtiger und strukturbildend. Das schmutzige Fenster steht nicht nur als wohl bekannte Metapher für „scholarly blindness“, sondern darüber hinaus als historisch variable Metapher 505 für das Verhältnis von Sprache und Realität. Gleichzeitig wird in der Kontrastierung mit der Sonne, der zwar als Verweis auf die platonische Ideenlehre ebenfalls epistemologisch-metaphorische Bedeutung zukommt, in diesem Kontext aber auch als Hervorhebung des sonnigen Tages zu 505 Aufgerufen wird hier sowohl die Vorstellung von Sprache als transparentem Medium, als auch die Vorstellung von der unhintergehbaren sprachlichen Vorstrukturierung der Umweltwahrnehmung. Als Visualitätsmetapher verweist das Sonnenlicht darüber hinaus auf entsprechende abendländische Denktraditionen. Vgl. hierzu Horlacher (1998), 6f. <?page no="205"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 193 deuten ist, die Richtigkeit der Entscheidung gestützt: Der von der Umwelt regelrecht hermetisch abgeschottete Seminarraum erscheint ungleich weniger attraktiv als die Vorstellung eines sonnigen Tages im Freien. Steht das schmutzige, blinde Fenster hier also für den Drang, sich der Versprachlichung bzw. Vertextlichung zu entziehen, die den Blick auf die Realität verstellen statt ihn freizugeben, und sich stattdessen unmittelbar mit den Dingen an sich zu befassen, lässt sich das wiederholte Auftauchen des Motivs als Kommentar auf den Erfolg dieses Vorhabens deuten. Denn nicht nur Gareth Butchers Seminarraum, sondern auch Ormerod Goodes Büro hat überaus schmutzige Fenster und Thorold Jespersens Dachfenster ist gar mit einem „rim of lively green slime, or moss, round its veiled dimness“ (247) versehen. 506 Damit kommt der Fenstermetapher eine die Erzählung strukturierende Funktion zu, denn Phineas hält sich, wenn er im universitären Kontext agiert, stets in Räumen mit undurchsichtigen Fenstern auf. Die Ratschläge Goodes werden so, noch bevor Phineas dies bewusst wird, als ebenso wenig direkt in die Welt der Solidität und Faktizität verweisend charakterisiert wie Butchers Theorieseminar oder Jespersens Archiv. Die Kontrastierung von schmutzigem Fenster und sonnigem Tag suggeriert darüber hinaus eine Oberflächenbzw. Tiefenstruktur. Gelänge es Phineas nur, so scheint es, die undurchsichtige Oberfläche zu durchdringen oder zu umgehen, läge gleichsam die Tiefe des Raumes vor ihm. Konterkariert wird diese Vorstellung, wenn man die schmutzigen Fenster der Universitätsgebäude mit dem Schaufenster von Puck’s Girdle, dem extravaganten Reisebüro, in Bezug setzt. It was in the window - narrow but deep - of a small shop which advertised itself, in sky-blue lettering on pine green, as Puck’s Girdle. The maelstrom was made of a kind of bravura and exaggerated origami, a funnel of scissored and foaming navy-blue paper […]. Balancing it on the other side of the window was a creamy paper replica of the Alhambra […]. In the middle was a small jungle, a paper forest with a parrot or two […]. They had scattered shadowy grey birdlike words over the top of the glass. GET AWAY. LOOK FORWARD TO. GO OUTWARD. CLIMB. DREAM. LOOK. LISTEN. SUN. RAIN. WIND. ICE. WA- TER. FLY. FLOAT. HURTLE. PERIPLUM. I liked hurtle. I liked periplum. The floor of the window was deep in small things. Pebbles, little lamps, glass bottles, feather butterflies, wax fruit, winding ribbons of sand, snowflake crystals in plastic. (105) Das Schaufenster, vor dem Phineas fasziniert verweilt, lenkt den Blick nicht auf die blinde Oberfläche, sondern lenkt den Blick in die Tiefe; tatsächlich legt die Betonung der Schmalheit und Tiefe einen Sogeffekt nahe, der dem 506 Vgl. auch Campbell (2004), 229. <?page no="206"?> 194 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale Trichter des Mahlstroms entspricht. Die things aber, auf die der Blick gelenkt wird, sind bei aller metaphorischen Tiefe und Detailliertheit bezeichnenderweise Papiermodelle, verweisen also über ihre eigene Materialität hinaus auf ihren Zeichenstatus und damit wiederum auf andere Zeichen: zum einen auf die verstreuten Objekte, die sich in Bezug zu den Papiermodellen setzen lassen und selbst auch symbolisch zu deuten sind, und zum anderen zu der kunstvoll ausgestalteten Beschriftung des Schaufensters. Diese scheint über dem Gesamtarrangement zu schweben und erweckt in der Ausgestaltung als freie Assoziationskette den Eindruck einer fast lehrbuchreifen Illustration des Konzepts des floating signifier. Bei aller Hinwendung zur „reality of the physical world and leaving behind what has become the fictional realm of texts“ 507 wird hier deutlich, dass die Versprachlichung eben jener physischer Welt auch durch Phineas nicht zu hintergehen ist. Das kunstvoll gefaltete Papiermodell des Mahlstroms gewinnt seine Bedeutung nicht durch seine eigene Materialität, sondern erst über seine Qualität als Zeichen und damit über die vielschichtige intra- und intertextuelle Vernetzung des Mahlstroms mit Destry- Scholes, den Textfragmenten, Edgar Allen Poe und nicht zuletzt Phineas’ Identitätssuche. 508 Erst als Phineas akzeptiert, dass sich - wie das schmutzige Fenster im Seminarraum illustriert, das gleichzeitig Oberfläche und Tiefe suggeriert und zugleich physisch real als auch metaphorisch bedeutend ist - die ‘Realität der physischen Welt’ nicht vom ‘fiktionalen Reich der Texte’ trennen lässt, zeichnet sich ein Ausweg aus der Identitätskrise ab. Zahlreiche Metaphernkomplexe in The Biographer’s Tale rufen eine Oberflächen- und Tiefenstruktur auf, um diese dann kritisch zu hinterfragen. Wie auch die Fenstermetapher steht dabei insbesondere die aus Henrik Ibsens Peer Gynt entlehnte Zwiebelmetapher in einer literarischen Tradition und erweist sich als strukturbildend für den Text. Peer Gynts sukzessives Abziehen der Zwiebelschichten (vgl. 234), in denen er jeweils ein früheres Selbst erkennt, endet schließlich mit der Erkenntnis, dass sich im Herz der metaphorischen Zwiebel kein Identitätskern befindet: Tiefe stellt sich hier als Illusion aus Oberflächen dar. Phineas bedient sich im unmittelbaren Anschluss an das Transkript der von Destry-Scholes verfassten Biographiefragmente des Bildes der „Nanson onion“ (100) und verweist so, unter gleichzeitiger Bezugnahme auf einen an Hamlet angelehnten „Nanson king of infinite space bounded in a nutshell“ (100), zum einen auf die historisch bedingte Verfasstheit von Identitätsmodellen und seine Verunsicherung bezüglich des eigenen Selbst. 507 Boccardi (2001), 152. 508 Vgl. Tönnies (2005), 77. <?page no="207"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 195 Zum anderen wird die Zwiebel hier aber auch als Metapher für Phineas’ Versuch deutbar, sich der Person Scholes Destry-Scholes’ durch das schichtweise interpretatorische ‘Abziehen’ seiner Texte zu nähern: Am Ende von Phineas’ Versuch steht statt Destry-Scholes nur noch dessen geisterhafte „absence“ (214). 509 Während die klassische Zwiebelmetapher als Muster für die biographische Annäherung ungeeignet erscheint, erschließt sich in der Variation des gleichen Motivs in Destry-Scholes’ fiktiver, in dramatischer Form präsentierter Schilderung der Begegnung zwischen Henrik Ibsen und dessen Sohn eine weitere Bedeutungsebene: HI [Ibsen] Nobody resembles a man’s secret self. Do you not know, you can walk the whole earth, and never find two identical faces? HENRIKSEN Or two identical onions? But you can peel them all, layer after layer, down to the centre, down to the juicy quick, and, just as you tear into that, and the last bit of onion-juice stains your fingers, they resemble each other - enough. (91) Weder ein in der Tiefe verborgenes, geheimes Selbst, noch dessen Abwesenheit ist hier im Mittelpunkt des Interesses, sondern vielmehr die strukturelle Ähnlichkeit, die es erlaubt, Unterschiedliches zueinander in Beziehung zu setzen. Das Innehalten vor dem vollständigen Zerfall, um Ähnlichkeiten erkennen zu können, gleicht damit der an anderer Stelle hervorgehobenen Notwendigkeit, das Entlanggleiten an der Signifikantenkette zu unterbrechen: Erst durch diesen in prozessuale Abläufe arbiträr eingreifenden und damit kreativen Akt wird Bedeutung erkennbar. Der Metapher wird damit zusätzlich zum Element der Subtraktion, dem Abschälen der Zwiebelschichten, ein Element der Addition, des Hinzufügens eines kreativen Mehrwerts, eingeschrieben. Die Variation der Zwiebelmetapher lässt sich damit als Illustration Destry-Scholes’ narrativer Methode lesen, die Phineas zunächst in höchstem Maße verwirrt und hypothetisch als „experiment in the nature of biographical narrative“ (165) gedeutet wird, und die später von ihm als Grundlage seines eigenen Schreibens anerkannt wird: „I knew that whatever had driven Destry-Scholes to write [...] was whatever was (is) now driving me to form this mass of material into my own story“ (237). Ähnliche metaphorische Bedeutung kommt auch dem Bild des Mahlstroms zu. Als Meeresphänomen ist ihm die Opposition Oberfläche/ Tiefe eingeschrieben, und das verborgene, mysteriös aufgeladene Zentrum des Wirbels ist, wie das Zentrum eines Sturmwirbels, leer. Die zunächst langsame, aber letztendlich unaufhaltsame Spiralbewegung von außen nach 509 Vgl. Wallhead (2003), 303 und Tönnies (2005), 75f. <?page no="208"?> 196 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale innen kommentiert als strukturelle Metapher Phineas’ Suche nach dem eigenen Selbst, 510 und vor diesem Muster lassen sich die einzelnen, arbiträr scheinenden Schritte von der Abwendung von seinem bisherigen Interessensschwerpunkt bis hin zur schriftstellerischen Exploration der eigenen Identität zueinander in Bezug setzen. Am Beginn der Erzählung steht die Faszination der mit dem Motiv des Außen assoziierten Welt der facts 511 und Phineas’ Nachforschungen zeichnen sich durch ein eher gemächliches Tempo aus. In der Folge sieht sich Phineas aber immer wieder auf die falsche Fährte geführt und abgelenkt, und in dem Maße, wie ihm Destry- Scholes’ Aufzeichnungen als „a tissue of truths and half-truths and untruths“ (118) bewusst werden, beschleunigt sich auch das Entdecken immer neuer fiktiver Elemente. Am Ende der Reise durch den Wirbel, dessen Sogwirkung sich in Phineas’ obsessiver Schreiblust 512 spiegelt, ist das vermeintlich im Zentrum befindliche Objekt der Suche verschwunden: Nicht Destry-Scholes findet sich im Zentrum, sondern Phineas selbst. Der Mahlstrom wird damit auch zur Illustration des autobiographischen Schreibprozesses, der „both to the self and to unique identity“ 513 führt: Wo auch immer der Ausgangspunkt am Rande des Strudels liegen mag, am Ende liegt immer das zunächst verborgene und leere Zentrum, das schließlich durch den Reisenden selbst gefüllt wird. Entscheidend ist bei dieser metaphorischen Deutung aber die Vorstellung, dass zum einen je nach Eintrittspunkt in den Mahlstrom ein anderer Weg ins Zentrum zu beschreiten ist, und zum anderen, dass der wirbelnde Strudel permanenter Veränderung unterliegt und sich so stets unterschiedlich präsentiert. Phineas’ Überlegungen zur den biographischen Fragmenten zugrunde liegenden Methode kann somit auch als Reflexion auf die eigene Erzählung gedeutet werden: It could be argued […] that Destry-Scholes himself, in evading the identification of his ‘characters’ for so long, was intending to show that identity, that the self, is a dubious matter, not of the first consequence. It could equally be argued that he made such a to-do about it because the identity of his people was of consequence, because the events he narrated only made sense if the narration concerned these people precisely, and no others. (97) 510 Vgl. Wallhead (2003), 303f. 511 Vgl. Campbell (2004), 216. 512 An anderer Stelle vergleicht Phineas diesen Effekt mit dem Fließen eines Flusses. Das Element Wasser hebt dabei die inhaltliche Nähe beider Metaphern hervor: „I now wonder [...] whether all writing has a tendency to flow like a river towards the writer’s body and the writer’s own experience? “ (214). 513 Wallhead (2003), 304. <?page no="209"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 197 Die beschriebenen Ereignisse und deren narrative Verknüpfung untereinander ergibt in ihrer einzigartigen Abfolge und Struktur nur dann einen Sinn, wenn sie in Bezug zu Phineas gesetzt werden, und umgekehrt wird Phineas’ Identität durch eben jene einzigartige und unwiederholbare Abfolge definiert: Identity consists in the unique and unrepeatable sequence of complex enunciation. […] Instead of a static singularity, this postmodern subjectivity is the moving nexus or intersection at which a unique and unrepeatable sequence is constantly being specified form the potentials of the discursive condition. Such a subjectivity is individual in its sequence, not in some irreducible core. 514 Der Mahlstrom wird damit zu einer der zentralen, multivalenten Metaphern des Textes, die nicht nur die verschiedenen Erzählstränge durch das wiederholte Auftreten miteinander verbindet, 515 sondern auch als Verbildlichung eines dynamischen Identitätsbildungsprozesses dient, dessen Ausgang ungewiss bleibt. Der Mahlstrom birgt eben auch Gefahren und ein Element des Kontrollverlusts, und ein Überleben des Reisenden im Sinne einer gelungenen und lebbaren Identitätsbildung ist keineswegs garantiert. 516 Der Umstand, dass sich der Text mit der Fenster-, Zwiebel- und Mahlstrommetapher dreier „ancient, well-worn“ (2) Tropen bedient, ist dabei alles andere als eine arbiträre Wahl. Denn wenn der Sinn der autobiographischen Erzählung nicht zuletzt in der Publikation bzw. Außendarstellung von Identität besteht, kommt der Vorstrukturierung der Rezeption ein besonderes Gewicht zu: Narrativ strukturierte Sinnprozesse zeichnen sich dadurch aus, „daß es eher zuviel als zuwenig (mögliche) Anschlußmöglichkeiten gibt“, 517 eine ‘Fehldeutung’ im Sinne einer vom Selbstbild abweichenden Interpretation durch die soziale Umwelt also stets möglich ist. Das Aufgreifen und die Variation literarisch etablierter Bilder 518 in der Erzählung ist damit potentiell eine Möglichkeit der Komplexitätsreduktion bzw. Rezeptionssteuerung, die das autobiographische Schreiben als „a process of selection and rearrangement of memory“, 519 dessen Sinn sich nur 514 Ermath (2000), 412. 515 Vgl. Wallhead (2003), 304. 516 Phineas’ Hinweis, dass Destry-Scholes’ „fabrications of Linnaeus’s fabrications of his visit to the Maelstrøm“ eine „pastiche of Edgar Allan Poe“ (256) ist, stärkt die Ambiguität des Bildes, da unklar bleibt, ob hier auf Poes Kurzgeschichte „A Descent into the Maelström“, in welcher der Erzähler überlebt, oder auf „MS. Found in a Bottle“, in welcher der Erzähler vom Strudel verschlungen wird, Bezug genommen wird. Vgl. hierzu auch Tönnies (2005), 77 und Campbell (2004), 220. 517 Meuter (2004), 149. 518 Vgl. hierzu Aleida Assmann (2002), 184, und Jan Assmann (2002), 97ff. 519 Cambiaghi (2003), 76. <?page no="210"?> 198 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale durch Bezugnahme auf eine spezifische Person erschließt, auch für Andere im Sinn der Außendarstellung interpretatorisch anschlussfähig zu gestalten: „[W]ir inszenieren unser Handeln, Sprechen und Interagieren, indem wir es für uns und andere mit Deutungs- und Regieanweisungen versehen, die uns eine gewisse Zielstrebigkeit der Kooperation sichern.“ 520 9.4.2 Muster- und Strukturmetaphern Neben einer Tiefen- und Oberflächenoppositionen aufrufenden Gruppe von Metaphern wird The Biographer’s Tale wesentlich von einem Bildkomplex bestimmt, der sich mit Mustern und Strukturen auseinandersetzt. Hierbei ist anzumerken, dass beide Metaphernbereiche eng miteinander verbunden sind und sich einer eindeutigen Kategorisierung zum Teil verweigern. Die Verknüpfung von Oberfläche und Tiefe, und von Mustern und Strukturen, findet einen verdichteten Niederschlag in der knappen Schilderung des Traumes, der Phineas zur Aufnahme des Biographieprojekts inspiriert: I had a vague memory of a dream of pursuit through dappled green and gold underwater caverns. Of rising to the surface and of seeing a pattern of glass balls, fishermen’s floats, on the surface of the sea, blue, green, transparent. (20) Die bei kursorischer Betrachtung recht simpel erscheinende, grundlegende Oberflächen- und Tiefenmetaphorik ist tatsächlich Teil eines vielschichtigen Metaphernkomplexes, der wesentliche Elemente der Erzählung strukturiert bzw. miteinander verknüpft. Der Eindruck der verborgenen Tiefe in Opposition zur klar erkennbaren Oberfläche wird hier insofern verstärkt, als erstere mit der Vagheit der Erinnerung und letztere mit Transparenz assoziiert wird. Deutet man darüber hinaus das Motiv der flackerhaft beleuchteten Unterwasserhöhlen und des anschließenden Aufstiegs zur Helligkeit der Meeresoberfläche als Variation des platonischen Höhlengleichnisses, 521 wird die Passage als Spiegelung des von Phineas beschrittenen Erkenntniswegs lesbar. Jagt Phineas zu Beginn der Erzählung noch der Person Destry-Scholes’, die er hinter den drei biographischen Fragmenten verborgen wähnt (vgl. 98), hinterher, steht an deren Ende Introspektion und die, wenn auch widerwillige, Einsicht, dass er ein „writer“ (251) geworden ist: Seine Aufmerksamkeit hat sich von der ‘Tiefe’ der eingebetteten Fragmente und Dokumente auf die ‘Oberfläche’ der eigenen Rahmenerzählung und seiner Rolle als 520 Hans-Georg Soeffner, zit. in: Kolesch (2004), 282. 521 Phineas selbst verweist an anderer Stelle auf „Plato’s metaphors of the Cave“, die im Gegensatz zu „modern theories of the mind“ erfolgreich den „test of time“ bestanden habe. Vgl. 167. <?page no="211"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 199 Autor gerichtet. Anzumerken ist dabei, dass das Element der „pursuit“ (20) sowohl als Verfolgen eines Zieles, aber auch als verfolgt werden interpretierbar bleibt. Zum einen steht es damit als Metapher für die Struktur der quest, 522 also das Verfolgen eines idealisierten Ziels, und zum anderen für die Getriebenheit, die Phineas angesichts seiner obsessiven und für ihn befremdlichen Schreiblust empfindet. Das im Traum an der Oberfläche schwimmende Muster aus farbigen Glaskugeln, welche die Position der im Meer verborgenen Netze markieren, eröffnet ebenfalls vielschichtige interpretatorische Anschlussmöglichkeiten; so markieren die „fishermen’s floats“ den Beginn der biographischen Spurensuche nach Destry-Scholes, die mit dem komplementären Bild des treibenden Fischerboots (vgl. 249) ihr Ende findet. Das Motiv der im Traumbild implizierten, im Verborgenen liegenden Netze taucht ebenfalls im Kontext des Endes der Suche wieder auf, als Phineas statt der „intriguing, pointless symmetries“ (98) die zugrunde liegende Struktur als das wesentliche Element der drei biographischen Fragmente erkennt: „Like three nets laid over the nature of things with different meshes and weaves“ (236). Mit den „glass balls“ antizipiert der Traum darüber hinaus die spätere ‘Entdeckung’ der Glasmurmelsammlung von Destry-Scholes durch Phineas und Vera - eine Verknüpfung von metaphorischer Bedeutung mit einem nachfolgenden, konkreten Ereignis, die auch ohne Phineas’ Hinweis auf „psychoanalytic criticism“ (30) die Jungsche Archentypenlehre in Erinnerung ruft. Die Murmeln selbst wiederum stehen, in Verbindung mit dem beiliegenden Notizbuch, als Metapher für den sich immer wieder im Text manifestierenden, narrativen Ordnungsbildungsprozess: Her fingers unloosened the last recalcitrant thread of the knot in the dolly-bag. It proved to contain - we counted them later - 366 glass marbles, some obviously very old and beautiful, of many sizes, colours and patterns. There was also, in the dolly-bag, a small notebook, an old-fashioned cash book, in which someone had written: The Names of the Great Families, the Decads, the Sexes and the Hands […]. ‘I love these,’ she said. ‘I shall bring them down with the other 522 Vgl. hierzu Boccardi (2001), 151, O’Connor (2002), 378 sowie Tönnies (2005), 76. Das Motiv der quest ist in The Biographer’s Tale insofern variiert, als das eigentliche Ziel der Suche unbestimmt bleibt, bzw. zwischen der Suche nach facts, der Person Destry- Scholes’ und Phineas’ Selbst oszilliert. Da die Suche darüber hinaus in der Regel auch mit dem Element der Reise verknüpft ist, deutet der Umstand, dass Phineas’ Reise erst mit dem Abschluss des Hauptteils des Manuskripts beginnt, darauf hin, dass auch die eigentliche Queste noch nicht beendet ist. Auf das Motiv der Queste deutet auch hin, dass der Taufname Destry-Scholes’ ursprünglich Percival Scholes Destry lautet; insofern wird der archetypische Suchende, der Gralsritter Parzival, hier selbst zum Objekt einer Queste. <?page no="212"?> 200 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale things. I wonder if it would be possible to guess which name went with which marble? ’ (137f) Das Problem, dass sich hier stellt, ist also zunächst einmal ein taxonomisches, d.h. eine Frage der Herstellung von Ordnung. Damit ergibt sich eine offensichtliche Verbindung zum ersten der drei biographischen Fragmente, das mit Carl von Linné, dessen System zur Nomenklatur der Arten bis heute in weiten Teilen seine Gültigkeit behalten hat, den Begründer der modernen Taxonomie zum Thema hat. „Natural history, for Linnaeus, according to Foucault, was fundamentally designed to order and name the world“ (115), merkt Phineas an und verweist so auf die in Les Mots et les Choses herausgearbeitete sprachliche Verfasstheit von Ordnungsstrukturen. 523 Mit der Ordnung und Benennung der Welt beschäftigen sich aber nicht nur eines, sondern alle drei der biographischen Fragmente, und die Problematisierung der Benennung der Murmeln greift somit einen Themenbereich auf, der die „importance of language for differentiation and classification, and of classification to an understanding of the individual and the world“ 524 zum Inhalt hat. Vor dem Hintergrund seines eigentlichen Anliegens, nämlich der biographischen Annäherung an Destry-Scholes, ist es wenig erstaunlich, dass sich Phineas’ Interesse weniger auf die Murmeln als auf die im gleichen Kontext entdeckten Indexkarten richtet: „I turned my attention to the box of cards. It was possible that here, at last, […] was Destry-Scholes himself“ (135). Bedenkt man allerdings seine sprachphilosophischen Ausführungen zum Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit, zur sprachlichen Verfasstheit von Ordnungssystemen und zur kulturellen Vermitteltheit von Wirklichkeit, ist es um so verwunderlicher, dass die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Veras Versuch, das von Destry-Scholes erdachte Ordnungssystem der Murmeln zu rekonstruieren (vgl. 171) und seinen eigenen vergeblichen Versuchen, nicht nur die diversen schriftlichen Hinterlassenschaften Destry-Scholes’, sondern auch seine eigenen Erinnerungen in ihre ursprüngliche Ordnung zu bringen (vgl. 35, 144, 152, 201), zunächst unkommentiert bleibt. Ein möglicher Erklärungsansatz für diese Ausblendung liegt in der Verortung in der erzählten Handlung: Der Fund von Destry- 523 Vgl. Campbell (2004), 219. 524 Wallhead (2003), 299. Die Gewichtung bzw. das Verhältnis von ‘Ding’ und ‘Sprache’ erfährt dabei im Verlauf der drei biographischen Fragmente eine deutliche Verschiebung. Während für Linné eine natürliche Ordnung vorgegeben ist, die er nur noch in Sprache übersetzen muss (vgl. 37), ist Sprache für Galton neben direkten Naturbeobachtungen ein ebenso gültiges Mittel der Erforschung von Wirklichkeit (vgl. 58), und die biographische Bearbeitung Ibsens wiederum stellt das Primat der sprachlichen Exploration der Welt in den Mittelpunkt (vgl. 84). <?page no="213"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 201 Scholes’ things bildet den Höhepunkt von Phineas’ Nachforschungen, und nie wieder wähnt er sich dessen Präsenz so nahe. Das explizite Aufzeigen struktureller Analogien hätte in diesem Kontext zu sehr den Ruch der „fatal family likeness“ (1) poststrukturalistischer Interpretationspraxis und stünde zu sehr dem Anspruch der „direct collision [...] with things“ (167) entgegen: „‘To find, not to impose’, as Wallace Stevens magnificiently said“ (144). In dem Maße aber, wie Phineas seine Versuche, die ursprüngliche Ordnung der Indexkarten zu rekonstruieren, frustriert sieht, wandelt sich seine Einschätzung einer „pointless but aesthetically pleasing affinity“ (172) zwischen den eigenen und Veras Ordnungsversuchen zur Einsicht, dass beide nicht nur das gleiche Ziel verfolgen, „We were both mapping the mind of Scholes Destry-Scholes“ (175), sondern auch die gleichen Frustrationen erleben: Phineas bemerkt in Bezug auf die Indexkarten enttäuscht, „that remembering them in any order or making any sense of them is no more than botching“ (144), während Vera desillusioniert feststellt „you find you’ve got six possible marbles to one name, and six possible names to one marble, and others that are just baffling“ (172). Und wie Phineas’ eigene Rekonstruktionsversuche bleiben auch Veras letztendlich erfolglos; die verloren gegangene, von Destry-Scholes entwickelte „fixed taxonomy“ (191) lässt sich nicht re-etablieren. 525 Allerdings scheint die Möglichkeit der Etablierung eines eigenen Ordnungssystems durchaus gegeben. Die Murmeln lassen sich, ähnlich wie die Indexkarten, anhand des Notizbuchs in „related clusters“ (172) einteilen: 526 „drowning and autopsy“ (153), „hybrids and mixtures“ (154), „the sea“ (171), „atomic energy“ (174), „a kind of Japanesey group“ (174), „composite portrait (photography)“ (175) und „taxonomic collections“ (191). Die unübersichtliche Masse der Murmeln wird durch die Einteilung in diverse Bildbereiche überschaubarer, und eine Ordnungsstruktur wird durchaus erkennbar; allerdings stellt diese ein „arbitrary system“ (173) dar, innerhalb dessen die Beziehung zwischen Objekt und Benennung flexibel bleibt. Vera und Phineas scheitern in ihren Ordnungsversuchen also durch ihr Festhalten an der Vorstellung, dass jede Murmel „one name and one only“ (174) hat bzw. eine eindeutige Zuordnung existieren muss (vgl. 175). Die Alter- 525 Vgl. hierzu auch Phineas’ Ausführungen zu Foucault: „Foucault makes the point that we moderns do not like the idea of an immobile nature, which is to some extent implicit in a classificatory system - we like, he says elegantly, ‘a swarming continuity of beings who communicate amongst themselves, shift shapes, one into the other.’ He himself remarks precisely that the essence of the idea isn’t in the conflict between these two visions of nature, but in the relationship, precisely between words and things“ (115). 526 Vgl. auch Campbell (2004), 221. <?page no="214"?> 202 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale native, nämlich die Herstellung einer eigenen, „our own Procustean grid of priorities“ (167) geschuldeten Ordnung, ist aber genau diejenige, der sich Destry-Scholes und Phineas in ihren Erzählungen bedienen. Und auch der „non-existent reader“ (175) praktiziert diese Form der Erzeugung von sinnhaften Zusammenhängen, wenn disparate Einzelereignisse und Bilder auf den verschiedenen Erzählebenen zueinander in Bezug gesetzt werden. Der Versuch, die taxonomische Ordnung der Murmeln zu rekonstruieren, wird so zu einer Metametapher, welche nicht nur Phineas’ biographische Bemühungen, sondern auch die Bedeutung von strukturgenerierenden Metaphern für narrative Sinnbildungsprozesse kommentiert. 9.4.3 Hybrid- und Kompositmetaphern Die vielleicht treffendste Beschreibung der narrativen Struktur von The Biographer’s Tale ist in Phineas’ Verwendung des Mosaiks als Metapher zu finden: 527 Postmodernist ideas about intertextuality and quotation of quotation have complicated the simplistic ideas about plagiarism which were in force in Destry- Scholes’s day. I myself think that these lifted sentences, in their new contexts, are almost the purest and most beautiful parts of the transmission of scholarship. I began a collection of them, intending, when my time came, to redeploy them with a difference, catching light at a different angle. That metaphor is from mosaic-making. One of the things I learned in these weeks of research was that the great makers constantly raided previous works - whether in pebble, or marble, or glass, or silver and gold - for tesserae which they rewrought into new images. (29) Phineas beschreibt hier die Grundlage des von ihm empfundenen „true delight“ (28), das er angesichts seines Nachspürens der „presence“ (28) von Destry-Scholes in dessen monumentaler Biographie von Elmer Bole verspürt. Das Entdecken der ungekennzeichneten Zitate, „lifted whole, or loosely rewritten“ (29), derer sich Destry-Scholes bedient, erscheint ihm zum einen „solidly scholarly, adding to the sum of facts“ (29) und damit inhärent wünschenswert. Und zum anderen kommt hier ein gewisses Sicherheitsgefühl zum Ausdruck: Angesichts seiner eigenen „postmodernist sophistication“ 528 fühlt sich Phineas als schreibendes Subjekt den „simplistic ideas“ (29) seines zu beschreibenden Objekts ebenso überlegen und mit einem Wissensvorsprung versehen, wie Destry-Scholes gegenüber Elmer Bole: „Destry-Scholes knew all that Bole knew [...] Not only that, [...] he knew more of Bole’s subjects than Bole did, or could“ (19). Vor diesem 527 Vgl. Wallhead (2003), 294 und Campbell (2004), 220. 528 Campbell (2004), 220. <?page no="215"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 203 Hintergrund erscheint es ihm unwahrscheinlich, dass sich seine Jagdbeute (vgl. 23) dem Zugriff entziehen könnte, und das Aufspüren der wenigen, von Destry-Scholes nicht selbst geschaffenen, sondern meisterhaft wiederverwendeten Mosaiksteinchen, ist gleichsam der Lohn für seine als Vergnügen empfundene Detektivarbeit. Dieser Eindruck ändert sich in dem Maße, in dem sich Destry-Scholes’ Entlehnungen und Fabrikationen nicht mehr als überaus selten und kostbar, „rarissimae“ (29), sondern eher als Regel denn als Ausnahme herausstellen: „myth and legend“ (116) sind unentwirrbar mit Fakten verbunden (vgl. 167). Die „personages“ (99) der „three fictive fragments“ (236) sind untereinander und mit Destry-Scholes durch „tiny factual connections“ (99) verknüpft, aber auch durch das Motiv des halluzinierten Doppelgängers (vgl. 126), und der Versuch, die vom „spliced-faked document“ (126) und den „(lying, untruthful) biographical fragments“ (237) ausgehenden „threads“ (167) bis zum Ende zu verfolgen, bleibt letztendlich unmöglich: „But no string has an end. Like spider-silk unreeling“ (168). Obwohl diese Erkenntnis für Phineas in höchstem Maße beunruhigend und seine quest existentiell bedrohend ist, wird auch sie im Verlauf der Erzählung einer Revision unterworfen, die an das „miracle of metamorphosis“ (19) erinnert, dessen Präsenz Phineas in der ersten Lektüre von Destry-Scholes’ Bole-Biographie verspürt. 529 Im Verlauf seiner Nachforschungen wird die Frage nach dem faktischen oder fiktionalen Gehalt einzelner narrativer Episoden, also gleichsam die Frage nach der Herkunft der Mosaiksteinchen, in zunehmendem Maße von der Frage nach deren Verwendung verdrängt: 530 Phineas’ Aufmerksamkeit wendet sich nach und nach von den für sich allein genommen bedeutungslosen Mosaiksteinen, den facts und things, dem durch ihre einzigartige Verbindung erzeugten Gesamtbild, der story, zu. Die Herstellung des Mosaiks steht als Metapher damit nicht nur für Destry-Scholes’ biographische Methode, sondern auch für die Struktur von Phineas’ Erzählung und die narrative Strategie des Textes. Obwohl Destry-Scholes und Phineas die gleichen Elemente in ihren Erzählungen nutzen, gleichsam dieselben Mosaiksteine verwenden, ist das jeweilige Resultat höchst verschieden: Phineas’ Rahmenerzählung ist eine autobiographische, und so ist es eigentlich wenig erstaunlich, dass das schrittweise entstehende „composite portrait“ (236) sein eigenes ist. 529 Vgl. Campbell (2004), 223. 530 In diesem Sinne ließe sich hier von einer Umgewichtung sprechen, in der die Wahrheitsfrage als Was-Dimension zugunsten der pragmatisch-performativen Dimension der Wer-Frage in den Hintergrund tritt, allerdings nicht notwendigerweise vollständig bedeutungslos wird. Vgl. hierzu Straub (2004), 283f. <?page no="216"?> 204 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale Als Metapher ist dem Mosaik dabei auch eine dynamische, über die Zeit veränderliche Dimension mit eingeschrieben, denn nicht nur der Konstruktionsprozess des Mosaiks verweist auf die temporale Komponente. Auch das fertige Mosaik selbst ist hier nicht als statisches Endprodukt gedacht, sondern wird selbst wieder zum Ausgangspunkt eines neuen Konstruktionsprozesses: „the great makers constantly raided previous works - whether in pebble, or marble, or glass, or silver and gold - for tesserae which they rewrought into new images“ (29). Im Kontext der Ausführungen zu Intertextualität, Plagiat und der Kunst der Mosaikherstellung schildert Phineas einen weiteren, symbolisch in hohem Maße aufgeladenen Traum: At this time I had a recurrent dream of a man trapped in a glass bottle, itself roughly formed in the shape of a man. Sometimes it was blue, sometimes green, sometimes clear with a yellowish cast and flaws in the glass. This man was and was not myself. I was also the observer of the events of the dream. Sometimes he was cramped by the bottle, sometimes a small creature scurrying at the base of a sheer glass cylinder. (29) Der Bezug zwischen Traum und Mosaikmetapher wird dabei nicht nur durch die unmittelbare erzählerische Nähe hergestellt, sondern auch durch den Hinweis, dass die Verwendung von „blue glass from ancient vessels, such as Roman scent-bottles“ (29), eine gängige Praxis der mittelalterlichen französischen Mosaikkunst ist. So, wie das Herausheben der dynamischen Qualität des Herstellungsprozesses und der Wiederverwendung die eigentlich statische Konnotation des fertigen Bildes relativiert, wird mittels der Einbeziehung des Traumes die Aufmerksamkeit auf eine weitere, potentiell problematische Dimension der Mosaikmetapher gelenkt, denn diese suggeriert eigentlich einen außerhalb der Bildebene zu verortenden Betrachter. Die Möglichkeit eines archimedischen Punktes jedoch wird hier insofern wieder relativiert, als sie zum einen durch die beständige und unwillkürliche Veränderung der Perspektive im Traum konterkariert wird. Und zum anderen deutet sich an, dass eine ‘echte’, vollständige Außenperspektive nicht zu erreichen ist: Das Glas, das sich zugleich als Gefängnis und sein eigenes Selbst darstellt, wird zum Teil in die Herstellung des Mosaiks einfließen, und der Betrachter wird selbst Teil des Bildes sein. Vor diesem Hintergrund ist der Metaphernkomplex um das Mosaik also als in höchstem Maße gelungener Kommentar auf Identitäts- und Subjektkonstitutionsmodelle zu deuten, der zum einen die dynamischen Elemente betont und das Motiv der Unmöglichkeit der vollständigen Selbsteinholung betont, zugleich aber durch die geschickte Auswahl der Basismetapher der Wirkmächtigkeit von traditionalistischeren Modellen Rechnung trägt, die im Wesentlichen auf essentialistischen und Subjekt/ Objekt-Dichotomien aufgreifenden Vorstellungen beruhen. <?page no="217"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 205 Die erweiterte Mosaikmetapher kommentiert also nicht nur Destry- Scholes’ biographische Technik, „where fact cannot be separated from fiction“, 531 sondern auch Phineas’ autobiographisches Schreiben und die Struktur des Gesamttextes. „I was delighted, as human beings are delighted when facts slot together“ (10), merkt Phineas zu Beginn seiner Erzählung an, und an deren Ende ist er, nachdem er in vielen, teils quälenden Zwischenschritten gelernt hat zu akzeptieren, dass die „threads of connection“ (227, vgl. auch 144, 201, 214, 237) zwischen den Fakten seine eigenen sind, in der Lage, in der „compulsion to invent“ (237) nicht mehr nur einen lästigen Störfaktor zu erkennen: There are a very few human truths and infinite variations on them. I was about to write that there are very few truths about the world, but the truth about that is that we don’t know what we’re not biologically fitted to know, it may be full of all sorts of shining and tearing things, geometries, chemistries, physics we have no access to and never can have. Reading and writing extend - not infinitely, but violently, but giddily - the variations we can perceive on the truths we thus discover. (237) Daher ist es nicht überraschend, dass sich zahlreiche Variationen der Mosaikmetapher im Text wiederfinden, so zum Beispiel die Maltechnik der Buschmänner, die mit „a number of isolated dots“ (74) beginnen, welche für sich genommen keine Struktur, aber mit der sukzessiven Verbindung der einzelnen Punkte schließlich ein Bild erkennbar werden lassen. Und auch die Technik der Kompositphotographie, die Phineas mit Destry- Scholes’ Erzählstil vergleicht (vgl. 236), generiert ein Gesamtbild dadurch, dass andere Bilder zueinander in Bezug gesetzt werden. Durch den Umstand, dass dies durch Überlagerung, durch den Aufbau von Schichten erfolgt, ist sie dabei nicht nur als Metapher für den strukturellen Aufbau von The Biographer’s Tale zu deuten, sondern verweist in ihrem Palimpsestcharakter auch auf die Dichotomie von Oberfläche und Tiefe. Während jedoch das Palimpsest auf eine in der Tiefe verborgene und durch rekonstruktive Arbeit zu Tage zu fördernde, ursprüngliche Schicht hindeutet, vollzieht sich der Erkenntnisweg der Kompositphotographie gerade in umgekehrter Richtung: 532 Epistemologisches Ziel ist nicht die unterste Schicht, sondern die aus den Überlagerungen der Schichten resultierende Oberfläche. Diese ist dabei nicht als Gerinnung einer bestimmten Essenz zu deuten, ist das Ergebnis doch ein veränderliches: Die Auswahl 531 Campbell (2004), 221. 532 Insofern lässt sich die Kompositphotographie als Komplementärmetapher zu der Zwiebel deuten. Während letztere die Betonung auf die Kernbzw. Essenzlosigkeit legt, verweist erstere darauf, dass jede einzelne der Schichten das Resultat mitprägt. Vgl. hierzu auch Ermarth (200), 241f. <?page no="218"?> 206 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale der einzelnen Photographien bzw. Schichten bestimmt das Ergebnis und ist mithin ein kreativer Akt. In diesen Kontext ist auch die Metapher der Anzeigetafel einzuordnen, those very large advertising installations, which show you an image, made up of a series of vertical stripes, for a calculated number of minutes, and then flick, or revolve, the stripes, to constitute (to reveal) a quite other image. (98) Auch hier wird wieder das Zusammensetzen eines Bildes aus Einzelteilen beschrieben und die konstruierte Natur des gewünschten Effekts herausgehoben. Und auch als Oberflächenbzw. Tiefenmetapher lässt sich die Anzeigetafel deuten: Hinter ihr befindet sich nur „empty sky“ (99), und die scheinbare Solidität der Oberfläche ist eine „illusion“ (98). Die Regelmäßigkeit der zyklischen Abfolge der Bilder wiederum stellt eine strukturelle Analogie zu Abfolge und Inhalt der einzelnen Erzählstränge in The Biographer’s Tale dar: „ghosts and spirits, doubles and haunting, metamorphoses, dismemberment, death“ (237) bestimmen nicht nur die Biographie von Elmer Bole und „Destry-Scholes’s fiction“ (237), sondern auch Phineas’ autobiographische Erzählung. 533 9.5 „True and Full of Life”: Die Frauenfiguren Phineas’ „true intellectual passion for coherence and meanings“ (100), die ursprüngliche Motivation für das Aufnehmen eines literaturwissenschaftlichen Studiums, manifestiert sich am Anfang seiner Erzählung in der Freude, die er empfindet „when facts slot together“ (10). Jenen facts, auf die er zunächst seine Aufmerksamkeit richtet, ist dabei eine dominant historische Dimension gemein, und die temporale Distanz zwischen Phineas und den Objekten seiner Nachforschungen wird dadurch betont, dass der Ausgangspunkt des Biographieprojekts, nämlich Sir Elmer Bole, die älteste der fiktionalisierten historischen Figuren im Roman ist. Daraus, und aus dem Umstand, dass Phineas, wie in den zahlreichen metafiktionalen und sprachphilosophischen Überlegungen deutlich wird, nicht hinter postmoderne epistemologische Prämissen zurückfallen kann, ergibt sich ein grundlegendes Dilemma: in the impossibility of historical knowledge, communion with the past, the next best thing, becomes the aim of the characters, in the attempt to complete the 533 Vgl. Campbell (2004), 220f. Darüber hinaus ist insofern ein direkter Bezug zwischen der Mosaikmetapher und der Metaphorik der Anzeigetafel zu erkennen, als letztere mit den „picture bricks we all had as kids“ (99) verglichen wird und im Rahmen der Mosaikmetapher auf das Wiederverwenden von „ancient mosaic cubes“ (29) Bezug genommen wird. <?page no="219"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 207 biographical task they have undertaken; at the same time, the more successful they are in this aim, the more complete the collapse of the differences between past and present, the less capable they are of writing the biographies. 534 Wenn am Ende von Phineas’ Erzählung aber nicht ein Gefühl des Scheiterns, sondern der „liberation“ (214) steht, er das Dilemma der Eingebundenheit in ein textuelles Universum und der gleichzeitigen Sehnsucht nach der Realität der physischen Welt überwunden zu haben scheint, 535 ist die Erklärung hierfür in den beiden zentralen Frauenfiguren des Romans angelegt: Vera Alphage, die Nichte Destry-Scholes’, und Fulla Biefeld, die schwedische Biologin und „pollination ecologist“ (110). Vera Alphages Name ist dabei insofern ein telling name, als er als Beschreibung ihrer Funktion für Phineas’ Identitätsfindungsprozess gedeutet werden kann. Vera steht für Wahrheit und Alpha für den Anfang; ihr „name suggests initial truth or true beginning.“ 536 Und in der Tat wird Phineas im Rahmen seiner Suche nach Destry-Scholes durch Vera mit der ‘Wahrheit’ in der Form seiner „first solid evidence“ (149), „a suitcase full of authentic things“ (131), in Berührung gebracht. Vera ist auch zugegen, als sich Phineas nach der Schlüsselszene in Thorold Jespersens Büro entschließt, einen ‘echten Neuanfang’ zu wagen und auch das biographische Projekt aufzugeben: Destry-Scholes’ Hinterlassenschaften werden von ihnen gemeinsam erneut verpackt und dabei deren alte, bis dahin sorgfältig bewahrte Ordnung zerstört: We massed the marbles randomly in a great glass bowl I bought her for a present. We stood them where the soft light filtered through them. [...] We put he lids on the shoeboxes, and the tribal lists of marbles in the suitcase. (252) Fulla Biefelds Name wiederum ist ebenfalls als telling name zu deuten. Fulla verweist zum einen auf ihren fülligen Körperbau, „the stocky, stout kind“ (110), und zum anderen, wie Phineas auf der letzten Seite der Erzählung anmerkt, auf eine minor Norse goddess - a handmaid of Frigga, who kept the jewels of the Queen of heaven, and spent her time tending woodland and forests, fruit trees and hives, cloudberries, blackberries and golden apples. (260) Dieser direkte Bezug zwischen mythologischem Namen, beruflicher Ausrichtung und ihrem Sendungsbewusstsein als Naturschützerin findet sein 534 Boccardi (2001), 155. 535 In der Sekundärliteratur wird diese Frage zum Teil höchst unterschiedlich beantwortet. Merle Tönnies sieht Phineas am Ende des Romans als rein diskursiven Sinneffekt entlarvt, während Mariadele Boccardi Phineas fest in der „certainty of the physical world“ verwurzelt deutet. Vgl. Tönnies (2005), 76 sowie Boccardi (2001), 156. 536 Campbell (2004), 217. <?page no="220"?> 208 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale Echo in ihrem Nachnamen, der neben dem phonetischen Anklang im Englischen auch einen etymologischen Bezug zum schwedischen biett, der Biene, und fält, dem Feld, nahelegt, und damit wieder auf Fullas Beruf verweist. Fulla ist dabei nicht nur über ihren telling name mit der Sphäre der Natur und des Lebens assoziiert. Phineas’ Beschreibung legt ihre figürliche Nähe zu den Keramiken Picassos nahe, welche die Figurensprache steinzeitlicher Darstellungen von Fruchtbarkeitsgöttinnen aufgreifen, „with breasts pushing forwards und buttocks pushing backwards, and solid calves“ (109), und ihr Gesicht ist eher natürlich denn schön zu nennen (vgl. 119). Ihre Haare erinnern an „sun-rays“ (110) und die lebensspendende Kraft der Sonne und sind gar so „abundant and energetic“, dass sie „almost a separate life-form“ (109) darstellen. Als Phineas sich nach einer klaustrophobischen Panikepisode zu Fullas Füßen wiederfindet, ist sein Blickfeld von „the slight wiriness of her pubic hair“ (117) ausgefüllt und seine „nose […] alive with Fulla Biefeld’s sex“ (117); auch hier dominiert das sexuelle und lebensspendende Element. Wenn sie mit der mit ihrer Spucke befeuchteten Ecke eines Taschentuches Phineas’ Verletzung versorgt (vgl. 207), so trägt ihre Fürsorge mütterliche Züge, ist aber zugleich über ihren fast animalischen Körpergeruch in höchstem Maße sexuell aufgeladen: „I was overcome with a memory of my return to consciousness under her skirts. As she lifted her arm, I smelled her sweat, salt and pungent“ (207). Neben ihr fühlt sich Phineas „very aware of being male, beside this almost violently female creature“ (208). Das Bild der fast göttlich zu nennenden Essenz des Weiblichen und Natürlichen setzt sich bis ins Detail fort: Beim Picknick im Freien streckt sie ihre Beine aus, deren goldene Behaarung nimmt fast wurzelartige Züge an, Spinnen und Raupen krabbeln über ihr Kleid und ihre Haare, Fulla unternimmt „no move to brush them off“ (209), und beim Liebesspiel weckt Fulla in Phineas „primitive“ (215) Gefühle: „fierce and wholehearted, not prolonged but repetitive [...]. She cries out, she laughs [...] She is all liquid gold, all grip and drive“ (215). Fast das genaue Gegenteil trifft für Phineas’ Beschreibung von Vera Alphage zu. Ist Phineas’ erster Eindruck von Fulla von ihrer Solidität und, als er vom Boden zu ihr aufblickt, fast übermenschlichen Größe geprägt, ist sein erster Kontakt mit Vera lediglich ein mittelbarer: Vera antwortet auf Phineas’ Anzeige im Times Literary Supplement, und es ergibt sich zunächst ein Briefwechsel zwischen beiden. Im Gegensatz zu Fullas unordentlich anmutender Natürlichkeit und dem von ihr erweckten Eindruck, fast larger than life zu sein, ist Veras Handschrift „beautifully neat, miniscule“ und „clear enough but clearer under a magnifying glass“ (130). Auch Vera selbst ist „shockingly beautiful“ (132). Ihr Haar ist nicht golden und unbändig, sondern „fine“ und „black“ und „falling“ (132), ihre Gestalt nicht <?page no="221"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 209 robust, sondern „slender“ (132), ihre Haut so „pale“ (132), dass Phineas annimmt, sie scheue das Licht, und ihre Stimme ist nicht laut und dominierend, sondern „very soft, and shy“ (132). Als Liebhaberin ist sie „tentative“ und „delicate“ (189), ihre sexuellen Begegnungen finden „largely in silence“ (189) statt, und sie beklagt in einem Moment der Verzweiflung, sie habe „no life“ (219). Ihre Assoziation mit Stille, Innengewandheit und Tod äußert sich, wie Fullas Verbindung mit Natur, Leben und Geburt, auch in dem von ihr ausgeübten Beruf. Als „radiographer“ (186) setzt sie sich professionell mit den Themenbereichen Krankheit und Tod auseinander, und privat verzweifelt sie fast an der Tatsache, dass sie „alive“ (218) ist, während ihre Patienten ihren „inevitable death [...] in the details of her work“ (218) erkennen. 537 In ihrem Hobby, dem kunstvollen Arrangieren der von ihr gefertigten Röntgenaufnahmen in ihrem Schlafzimmer (vgl. 186), manifestiert sich die Differenz zu Fullas nach außen gewandten, persönlichen und direkten Naturbeobachtungen (vgl. 209f): Sie sind introspektive „photographs of our invisible inner lives, made with frequencies of light our human eyes cannot see“ (215). Vor diesem Hintergrund stellen sich Vera und Fulla zunächst als Metaphern für dichotomische Oppositionspaare dar, die grundlegend für Phineas’ Selbstsuche und seine autobiographische Erzählung sind. Fulla scheint mit ihrer überaus direkten Art, die Phineas zunächst sogar als aufdringlich und ungehobelt wahrnimmt (vgl. 122), ihrer sexuellen Energie und ihrer resoluten Fürsorglichkeit, wie sie sich zum Beispiel in ihrem Eingreifen in den Streit zwischen Phineas, Christophe und Erik äußert (vgl. 203), für Natur, das Leben und das mütterliche Prinzip zu stehen. Vera dagegen ist zunächst überaus distanziert und reserviert. Sie behütet die Aufzeichnungen Destry-Scholes’, gleichsam ein verschriftlichtes Gedächtnis, und setzt sich nicht direkt mit Naturphänomenen auseinander, sondern indirekt über den Zwischenschritt der photographischen, also einer medialen, Vermittlung. Sie ist also, anders als Fulla, statt mit Natur primär mit kulturellen Phänomenen assoziiert. Nicht nur qua Implikation lässt sich daher der Assoziationskette Fulla/ Natur/ Mutter die komplementäre Kette Vera/ Kultur/ Vater gegenüberstellen, setzt Vera sich doch nicht mit einer natürlichen, sondern einer symbolischen Ordnung auseinander. 538 537 Vor diesem Hintergrund lässt sich Veras Nachname auch anders deuten: Alphage wird zu all und phage, also gleichsam zum alles Verschlingenden. 538 Vgl. hierzu Zima (2000), 257ff. In diesem Zusammenhang sei erneut darauf hingewiesen, dass Phineas mehrfach und insbesondere auf die Lacansche Subjektkonstitutionstheorie reflektiert. <?page no="222"?> 210 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale Die einfache, dichotomische Gleichsetzung von Fulla mit Natur und Unmittelbarkeit und Vera mit Kultur und Mittelbarkeit wird aber bei genauerer Betrachtung der metaphorischen Zuschreibungen beider Frauenfiguren unterminiert. So legt das in Veras Nachnamen anklingende Alpha und das in Biefeld qua Implikation angedeutete Beta nahe, dass Phineas zunächst Vera und dann erst Fulla begegnet; tatsächlich aber treten beide in umgekehrter Reihenfolge auf. Ähnliches wird auch durch die assoziierte Dichotomie Leben/ Tod impliziert, denn auch hier liegt eher die Kombination Alpha und Leben und Beta und Tod nahe. Auch die Beschreibung der Haare, die als klassische literarische Metapher für Sexualität und Befreiung von bzw. Eingebundenheit in gesellschaftliche Zwänge besondere Beachtung verdient, stellt sich als deutlich komplexer als eine rein dichotomische Gegenüberstellung heraus. So sind Fullas Haare zwar wie von einem eigenen Leben erfüllt und vermitteln Energiegeladenheit, sind aber gleichzeitig auch durch ein „compressed bottleneck“ (110) gebändigt und gleichsam kultiviert: „It would have stood out from her head [...] if she had not caught it back and confined it“ (110). Veras Haare erscheinen im Vergleich zwar fast leblos, dürfen aber ungehindert und natürlich fallen (vgl. 132). Und auch in anderer Hinsicht sind die zunächst eindeutig scheinenden Zuordnungen bald nicht mehr so deutlich zu erkennen. Vera, die ja zunächst schriftlich mit Phineas in Kontakt tritt und die physische Welt scheinbar nur mittelbar erfährt, beschäftigt sich beruflich wie privat mit dem Tod und damit sozusagen mit der letztgültigen, nicht mehr semiotisierbaren Realität. Dabei bedient sie sich mit der Röntgenstrahlung eines Mittels, das sich in der Transzendenz des menschlichen Sinnesinstrumentariums den fundamentalen „truths about the world“ (237) anzunähern scheint. Fulla wiederum, die in ihrer „matter-of-fact manner“ (211) und mit ihrem ökologischen Bewusstsein gleichsam einen direkten Zugriff auf die Natur und die physische Welt zu haben scheint, zeigt ein in hohem Maße entwickeltes Bewusstsein für ihr eigenes Bedürfnis, die Welt mittels einer sprachlich verfassten Ordnung zu strukturieren (vgl. 213). Und an anderer Stelle wirkt sie nicht wie die Fruchtbarkeitsgöttin, als die Phineas sie zuerst wahrnimmt, sondern in ihren Voraussagungen ökologischer Katastrophen (vgl. 120f) eher wie eine düstere Cassandra. Auch im Hinblick auf die sexuelle Beziehung der Frauen zu Phineas werden die durch die plakativen Zuschreibungen generierten Erwartungen zunächst erfüllt, um dann unterminiert zu werden. So deckt sich zwar Fullas sexuelle Aggressivität mit ihrem energiegeladenen Auftreten und ihrer Forschheit und die eher zurückhaltende und schüchterne Sexualität Veras mit ihrer Distanziertheit. Aber zwischen erstem sexuellem Reiz und der Erfüllung des Verlangens vergeht im Fall Fullas eine längere Zeitspanne (vgl. 117 und 213), während Phineas sein Verlangen nach Vera plötzlich zu erkennen scheint und auch sofort erfüllen kann (vgl. 186). <?page no="223"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 211 Vera Alphage und Fulla Bielfeld bilden also nicht nur ein Oppositionspaar, sondern tragen die Oppositionen auch in sich selbst. 539 Damit erinnern sie an Carl von Linnés Zeichnung der Andromeda polifolia, des Wilden Rosmarins, die Phineas als „a photocopy of a copy of his drawing“ (112) seinem Manuskript beifügt. 540 The legend in the middle, between the human personification and the botanical representation, reads Andromaeda ficta et vera mystica et genuine figurata et depicta (112) Neben dem Motiv der eingeschriebenen Opposition klingt im Epigramm ein weiteres wesentliches Element an, das sich ebenfalls als prägend für die Funktion der beiden Frauenfiguren herausstellt: I found that I had in a way invented Vera and Fulla, whilst at the same time being constantly surprised by their independent and unpredictable reality. […] I could say that I had imagined a goddess of the night, and a goddess of the daylight, and I could add that once the mind has started spinning such dangerous metaphors it embroiders and elaborates them. But I must be very careful. For Vera is a real woman, not an angel of death. She is a real woman who spends her life studying proliferating cells, living and feeding, growing and killing. And Fulla is a rather opinionated idealist, who has a sense, yes, of the endlessly interconnected threads of the living surface of the earth, but who also, like all scientists, fights her own corner doggedly. (238) Die beiden Frauenfiguren sind ‘wahrhaftig und falsch’, weil sie als Figuren in Phineas’ autobiographischer Erzählung nicht nur die realen Frauen repräsentieren, sondern durch seine Zuschreibungen gewissermaßen erst erfunden werden. Sie sind ‘rätselhaft und natürlich’, weil sie als Metaphern auf verborgene Bedeutungsebenen verweisen und zugleich nur auf sich selbst; sie sind ‘(durch die menschliche Vorstellungskraft) geformt und (nach der Natur) gemalt’, weil sich ihre Darstellung an Vorbilder anlehnt und doch direkt auf sie bezogen ist. Phineas denkt „Vera’s scent“ als „silvery“ (219), als synästhetische Metapher. Sie ist „a darting silver fish, a sailing moon in an indigo sky“ (219), aber eben auch „a real woman“ (238); und „Fulla is golden pollen clinging 539 Dies gilt für zahlreiche Figuren im Roman, seien sie fiktiv oder fiktionalisiert. Linné, Galton und Ibsen sind ebenso von internen Widersprüchen geprägt wie Destry- Scholes oder Phineas. Wenn Elmer Bole als „multitudes in one man“ (239) beschrieben wird, lassen sich Vera und Fulla als ‘multitudes in one woman’ bezeichnen. 540 Vgl. Campbell (2004), 217. <?page no="224"?> 212 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale to bee-fur, Fulla is the sailing fleet of dandelion clocks“ (219) sowie eine manchmal allzu real scheinende, starrsinnige Idealistin. Phineas formt die Opposition zwischen beiden Frauenfiguren zum Teil dadurch, dass er auf etablierte literarische Muster zurückgreift; dies ist angesichts seiner literaturwissenschaftlichen Ausbildung auch nicht verwunderlich. Wichtiger ist die narrative Funktion dieses Rückgriffs, denn auf diese Weise wird, bis zu einem gewissen Grad, die Verständlichkeit der Erzählung gewährleistet: We think in clichés because clichés are ideas which have so to speak proved their Darwinian fitness over time (I say nothing, here, of truthfulness). I could compare Fulla and Vera to tea and coffee, or Glasgow and Birmingham, but clichés are requisite here, like tap-roots into the common (in every sense) consciousness from which slightly adapted, new mutations are generated. (219) Durch den Rückgriff auf im kulturellen Gedächtnis verankerte narrative Elemente kann Phineas also seine Erzählung anschlussfähig gestalten und ihr zugleich über die Variation dieser Elemente eine eigene Prägung geben: I think - from reading novels - that there is a compulsion when faced with two women, to decide that one is ‘the real one’ and that the other is ‘only’ something or other. Only for sex, only for relaxing, even only for friendship, as opposed to the Romantic welded dyad. […] We have a cultural need to present ourselves this way. Only, I didn’t. I wanted to go from Fulla to Vera (and back to Fulla) forever. (216) Die von Phineas zumindest zum Teil konstruierte Opposition zwischen beiden Frauenfiguren, und auch die in ihnen intern angelegten Oppositionen, dienen damit (nicht nur, aber auch) einem narrativen Zweck. Zunächst werden beide metaphorisch mit unterschiedlichen Polen einer dichotomischen Struktur besetzt, Natur vs. Kultur, Realität vs. Text, und dann wird die Wahl zwischen den Alternativen verweigert: In Phineas’ Liebe zu Fulla und Vera manifestiert sich so eine Metapher für seine Weigerung, sich zwischen den durch Gareth Butcher und Ormerod Goode repräsentierten theoretischen Paradigmen zu entscheiden. Und mehr noch: Schon die Aufforderung zur Wahl ist eigentlich eine falsche und basiert lediglich auf historisch gewachsenen und kulturell vermittelten Vorstellungen. Die vermeintlichen Oppositionen sind in beiden Frauenfiguren angelegt, und selbst wenn die Konvention der dyadischen Beziehung erfüllt würde, so hätte sich Phineas letztendlich doch für beide Pole entschieden: Nicht entweder/ oder, sondern sowohl/ als auch ist sein Leitmotiv. 541 Die Verweigerung der Wahl zugunsten des Zusammendenkens von vermeintlich Inkommensurablem äußert sich auch nicht zuletzt darin, dass 541 Vgl. hierzu auch Campbell (2004), 228. <?page no="225"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 213 Vera und Fulla im Rahmen der Erzählung, wie bereits angedeutet, nicht nur als Metaphern und funktionale narrative Elemente zu deuten sind. Sie sind „independent and unpredictable“ (238) und üben einen konkreten, ja prägenden, Einfluss auf Phineas aus. 542 Fulla weist Phineas auf die fiktiven Elemente in den biographischen Fragmenten hin und lässt bei Phineas erste Zweifel an Destry-Scholes’ Faktentreue aufkommen. Vera stellt Destry-Scholes’ Aufzeichnungen und Indexkarten zur Verfügung und verstärkt mittelbar Phineas’ Eindruck, dass Destry-Scholes ihn persönlich zu täuschen versucht (vgl. 119). Den stärksten Eindruck hinterlassen sie beim sexuell unerfahrenen Phineas jedoch in der gemeinsamen „experience“ (215) der unmittelbaren körperlichen Begegnung, des sexuellen Akts. Nach dem Sex mit Vera verändert sich nicht nur sein Selbstverständnis als schreibendes Subjekt, „It’s becoming more difficult to know what sort of writer I am“ (187), sondern auch seine Selbstwahrnehmung, seine Identität: „Also, afterwards, I was not the same person“ (187). Das Ausleben der neu entdeckten erotischen Möglichkeiten verändert ihn dabei jedes Mal aufs Neue (vgl. 213, 215, 240) und stärkt auch die nicht-sexuelle Dimension seiner Beziehung zu beiden Frauen. So erschließt sich ihm Veras Gefühlswelt erst dann, als er mit „words until then unknown in the Nanson vocabulary“ (217f) ihr Vertrauen gewinnt; zuvor war dies für ihn undenkbar, aber als ‘neuer’ Phineas ist er in der Lage, ihr im Moment größter Verzweiflung zur Seite zu stehen. Dies ist ihm paradoxerweise aber nur möglich, weil ihn seine Erfahrungen mit Fulla verändert haben: „Fulla had defended me, and now I felt enough of a man to console Vera“ (219). Die Doppelbeziehung zu Vera and Fulla wird damit zum integralen Bestandteil seines Identitätsfindungsprozesses, und in seinem Wunsch „to go back from Fulla to Vera (and back to Fulla) forever“ (216) spiegelt sich die immer wiederkehrende Iteration der narrativen Exploration des eigenen Selbst. 543 542 Vgl. Campbell (2004), 223f sowie Boccardi (2001), 156. 543 „Wenn es darauf ankommt, die allzu starr gewordene Form des Selbst wieder in Bewegung zu bringen und zu sprengen, ist auf die Erfahrung der Lüste Verlaß: Ihr Genuß öffnet das verschlossene Selbst und sorgt für das ‘eigentliche Erbeben des Ich’, von dem Lévinas spricht, um den Genuß zu beschreiben. Darin hat die unstillbare Sehnsucht des Selbst nach dem Anderen wohl ihren äußersten Grund: Das Selbst sehnt sich nach dem Genuß, den der Andere verkörpert und um dessentwillen er als hinreißend schön und bejahenswert erscheint, da in ihm das Selbst sich aufzulösen und neu zu formen und auf diese Weise unendlich zu bereichern vermag.“ Schmid (1998), 334. <?page no="226"?> 214 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 9.6 Fragment und Ganzes Insofern kann es kaum als Zufall erscheinen, dass der erste sexuelle Kontakt zwischen Phineas und seiner späteren Geliebten Vera in deren mit Röntgenaufnahmen geschmückten Schlafzimmer stattfindet (vgl. 186). So, wie die Röntgenaufnahmen die „invisible inner lives“ (215) der Patienten offenlegen, erschließt sich für ihn in der Beziehung zu Vera und Fulla ein Teil seines bis dahin verborgenen Selbst und zwingt ihn, sein Verhältnis zu sich selbst zu überdenken. 544 In der Konsequenz wird er auch zu einem anderen „sort of writer“ (190). Scheut er sich zunächst noch, die sexuelle Vereinigung mit Vera zu beschreiben (vgl. 187), wird seine Erzählung im Verlauf der Zeit in dieser Hinsicht immer expliziter. So schildert Phineas nach seiner eher zurückhaltenden, fast schüchternen Beschreibung seiner Gefühle und der Szene in Veras Schlafzimmer offen sein „burning desire to describe making love to Fulla Biefeld“ (214f), wenn auch durch „lyrical (banal but shocking-to-me) sentences“ (215), und bald ist er in der Lage, ohne Zögern zu beschreiben, wie Fulla seine Erektion streichelt (vgl. 240). Seine neugefundene „precision“ (250) in der Beschreibung tritt immer dann zu Tage, wenn Phineas in der Lage ist, sein „healthy desire to eschew the personal“ (214) zu überwinden und seine eigene „history“ (214) als „a temporal thread to string my story (my writing) on“ (214) zu nutzen. Dies ist Phineas aber nicht bewusst, denn gerade die Autobiographie als hochpersönliche Form des Schreibens ist für ihn immer noch als „unreliable, and worse, imprecise“ (250) konnotiert, und obwohl er in gewisser Hinsicht ein anderer geworden ist, können die ihn prägenden früheren Erfahrungen nicht einfach abgelegt werden: „I was brought up as a child to believe in self-effacement, and as a student to believe in impersonality“ (250). Der neue Modus des Denkens und Schreibens von sich selbst muss gleichsam erst erlernt werden und bedarf noch der Anleitung: „I needed to observe her observing the creatures in order to become more precise in my own watching and recording“ (238). In gewisser Hinsicht lässt sich also sein am Anfang der Erzählung geäußerter Wunsch nach dem unmittelbaren Kontakt mit things und facts durch „his new-found preoccupation with the two women’s bodies“ 545 einerseits, und durch den Einsatz der ehemals verbotenen Wörter, „words critical theorists can’t use and writers can“ (250), andererseits, als erfüllt betrachten: „As he ends his tale, Phineas’s writing is as close to ‘things’ as he can get.“ 546 544 Vgl. Campbell (2004), 225. 545 Campbell (2004), 224. 546 Campbell (2004), 224. <?page no="227"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 215 In dem Maße, wie sich Phineas’ Erzählung von einer biographischen zu einer autobiographischen wandelt und sich sein Fokus von der objektiven Darstellung historischer Fakten zur subjektiven Schilderung seines Selbst verschiebt, verändert sich auch die narrative Struktur des Textes und nimmt immer fragmentiertere Züge an. 547 Der zunächst räumlich und zeitlich kontinuierlich verlaufende Handlungsstrang zu Beginn der Erzählung wird erstmals durch den Einschub der „Three Documents“ (37), also der drei fiktional-biographischen Fragmente, unterbrochen. Diese wiederum zeigen insofern eine relative interne Kohärenz, als jedes der Fragmente sich mit je einer der drei historischen Personen befasst, ihre Abfolge die historisch-chronologische Ordnung aufrechterhält und darüber hinaus eine thematische Verknüpfung zwischen den einzelnen Fragmenten besteht (vgl. 126, 237). Nach dieser zweiten, in sich geschlossenen Einheit beginnen sich einzelne Erzählstränge auszudifferenzieren, deren Figureninventar zum Teil getrennt ist, wie zum Beispiel Vera und Fulla, und sich zum Teil überschneidet. Die temporale Ordnung beginnt zusammenzubrechen, denn Phineas kann sich zum Teil nicht mehr an die exakte Reihenfolge der Ereignisse erinnern, „I cannot now remember what came next“ (127, vgl. auch 152). Darüber hinaus verstrickt er sich zunehmend in Abschweifungen: „I have managed to trap myself in digressions in a project that appears alternately to have too little and too much form. I start too many hares“ (168). Die zunehmende Fragmentierung, temporale Unordnung und Ausdifferenzierung der Erzählstränge findet ihre Entsprechung in der nicht vorhandenen Ordnung von Destry-Scholes’ photographischem Archiv und der Sammlung der Indexkarten: „Neither showed any kind of order, not even on examination“ (138). Diese „documents“ (134) sind in scheinbar zufälliger Ordnung in die Erzählung eingebettet und wechseln beständig sowohl in ihrem thematischen als auch in ihrem Personenbezug. Die unterschiedliche Ordnungsstruktur beider Quellen, also der kohärenteren Biographiefragmente einerseits und der ungeordneten Indexkarten andererseits, klingt dabei schon in der unterschiedlichen Kategorisierung als „Documents“ (37) und „documents“ (134) an: Im ersten Fall fungiert die Bezeichnung auch als Titel und suggeriert damit, dass die nachfolgenden Passagen einen thematischen und formalen Gesamtkontext bilden. Die zunehmende formale Fragmentierung im Verlauf von The Biographer’s Tale findet ihren Höhepunkt darin, dass Phineas’ Manuskripttext noch vor dem eigentlichen Ende der Erzählung endet. Die beiden letzten Abschnitte sind graphisch vom Rest des Textes und voneinander abge- 547 Vgl. Campbell (2004), 227. <?page no="228"?> 216 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale setzt 548 und räumlich von Phineas’ Manuskript getrennt: „The manuscript, that is the document, of all that other writing, is on my machine (and backed up on disk) in London“ (255). Der vorletzte Abschnitt des Gesamttextes wird von Phineas, der sich gemeinsam mit Vera in Norwegen aufhält, in einem „small notebook“ (255) notiert, das er zuvor benutzt hatte, um Fulla bei ihren empirischen Naturbeobachtungen zu helfen. Der letzte Abschnitt wird in demselben Notizbuch festgehalten; aber nun befindet sich Phineas mit Fulla in Anatolien, und seit dem letzten Eintrag ist ein Jahr vergangen (vgl. 257). The Biographer’s Tale bedient sich also einer paradox scheinenden, gegenläufigen Doppelstruktur: Während die formale Fragmentierung stetig zunimmt und in der völligen Zerdehnung räumlicher und zeitlicher Kontinuität kulminiert, nimmt die zu Beginn erdrückend erscheinende Verunsicherung Phineas’ in Bezug auf seine eigene Identität stetig ab. Durch das Erzählen seiner eigenen Lebensgeschichte ist es Phineas gelungen, die in sich heterogenen und kontingenten Veränderungen und Erfahrungen in „einen, freilich von subjektiv erlebten und praktisch bedeutsamen ‘Spannungen’ durchzogenen Lebens-Zusammenhang zu integrieren“, ohne dabei in „völlig unabhängig voneinander fungierende ‘Selbste’ oder ‘Personen’“ 549 zu zerfallen. Auch wenn er zwischenzeitlich meint, zwei, drei, oder gar vier völlig disparate Leben zu leben (vgl. 152), ist es ihm am Ende der Erzählung doch unmöglich, diese getrennt zu denken, wie sich beispielsweise in der Metamorphose der mit den beiden Frauenfiguren assoziierten Metaphorik zeigt: „Vera, whom I think of in darkness, has become palely golden in all this space of air and hard rock and tenacious vegetation“ (256). Phineas ist es, mit der Bildsprache des Textes gesprochen, 550 gelungen, aus den Mosaiksteinchen seiner eigenen Lebensgeschichte ein Mosaik zusammenzusetzen, das trotz der fragmentierten, disparaten und heterogenen Natur der einzelnen Elemente ein kohärentes Gesamtbild ergibt. 551 548 Vgl. Tönnies (2005), 72. 549 Straub (2004), 285. 550 Vgl. Campbell (2004), 228. 551 Vgl. hierzu Straub (2004), 287: „Die Kriterien, die darüber entscheiden, was in kohärenter Weise gesagt oder getan werden kann von einer Person [...], sind empirisch kontingent und keiner universalen Logik der Widerspruchsfreiheit unterworfen.“ Insofern bleibt es also offen, ob die gefühlte Kohärenz von Phineas’ Identität von anderen geteilt wird, seien es andere Figuren im Roman oder der Rezipient des Textes. Phineas selbst verweist auf das kulturell bedingte Bedürfnis, sich adäquat zu präsentieren (vgl. 216), und seine geheime Doppelbeziehung fällt nicht unbedingt in die Kategorie der allgemein sanktionierten Lebensformen. Dem gegenüber steht allerdings <?page no="229"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 217 Insofern erklärt sich auch die Aufwertung des eigenen Manuskripts zum Dokument: Die „harmlose deskriptive Funktion“ 552 seiner Aufzeichnungen ist durch die wesentlichere Funktion der narrativen Integration von Kontingenzerfahrungen und damit der Identitätsbildung ersetzt worden. 9.7 The Biographer’s Tale und die ‘Dritten Wege’ A. S. Byatts Roman ist zum Teil akademische Satire und metaliterarischer Kommentar, teils postmodernes Experiment und teils traditioneller Roman. Als postmodern erscheint The Biographer’s Tale insofern, als stilistisches Experimentieren, metafiktionale Überlegungen, Selbstreflexivität, intertextuelle Verweisstruktur, die ontologische Differenz von Fakt und Fiktion und nicht zuletzt der spielerische Umgang mit Sprache wesentliche Elemente des Textes darstellen. Als eher traditionell stellen sich andere Elemente dar, wie beispielsweise die kritische Darstellung der in ihrer Rigidität ideologisch anmutenden Applikation poststrukturalistischer Theorien und die Exploration moralischer Fragen. 553 Während der Text in der Sekundärliteratur sowohl als Aufforderung an die postmodernen „dehumanized humanities“ 554 verstanden worden ist, ihre zunehmend arbiträr werdenden Standpunkte anhand der Hinwendung zum Faktischen gleichsam neu zu justieren, als auch als höchst pessimistische Affirmation postrukturalistischer Prämissen sowie als endgültige Absage an den „human free will“, 555 spricht doch vieles für eine Interpretation als Illustration der möglichen Gangbarkeit eines zwischen beiden Extremen liegenden, dritten Weges. Dies scheint insofern besonders nahe liegend, als der „major structure-endowing mechanism“ 556 des bis ins Detail durchkonstruierten Textes das Motiv der dreiteiligen Struktur ist. So lässt sich der Text in drei Einheiten unterteilen: Die erste wird von dem Einstieg in die Erzählung und die Transkription der „foul papers“ (35) Destry-Scholes’, die wiederum in drei separate Teile unterteilt sind, gebildet; die zweite von dem zunehmend fragmentierten und temporale sowie räumliche Sprünge vollziehenden Rest des Manuskripts, in dem die Texte einzelner Indexkarten und die Reproduktionen ausgewählter Photographien eingestreut sind; und schließlich als dritte Einheit die beiden Eintradas Beispiel Sir Elmer Boles, der bereits im 18. Jahrhundert erfolgreich eine entsprechende Doppelbeziehung lebte. 552 Vgl. Straub (2004), 286. 553 Vgl. Campbell (2004), 219, Tönnies (2005), 77f und O’Connor (2002), 379f. 554 O’Connor (2002), 383. 555 Tönnies (2005), 77. 556 Wallhead (2003), 305. <?page no="230"?> 218 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale gungen in das Notizbuch. Darüber hinaus lassen sich zahlreiche weitere Dreierstrukturen im Roman identifizieren: die ineinander verschachtelte, dreifache Autorenstruktur aus Destry-Scholes, Phineas und der Autorin des Gesamttextes, Byatt; die drei Professorenfiguren Butcher, Goode und Jespersen; die drei Personen der biographischen Fragmente Linné, Galton und Ibsen; Elmer Bole und seine beiden Ehefrauen; deren jeweils drei Söhne und drei Töchter; und schließlich die Dreierbeziehung von Phineas, Vera und Fulla. 557 Und auch epistemologische Prozesse, wie sie sich im Roman manifestieren, lassen sich als dreifache Struktur aus der Kombination von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft deuten: Phineas ist bemüht, Bedeutung und Sinn durch den Einsatz und die Variation von etablierter Formensprache (vgl. 251) zu erzeugen, aber erst der „imaginary reader“ (100) fügt die einzelnen Bestandteile zu einem Ganzen zusammen. Wichtig ist dabei insbesondere, dass alle drei Bestandteile unerlässliche Voraussetzung sind: ohne Rückgriff auf tradierte Muster kein Arrangement, und ohne Arrangement keine narrative Generation von Sinn. 558 Weder traditionalistische Vorstellungen von Realität noch die überspitzte diffus-postmoderne Wendung der Bedeutungslosigkeit der physischen Welt werden von The Biographer’s Tale affirmiert: statt getrennt, sind beide immer nur gemeinsam zu denken. Die dreiteiligen Strukturen, die den Text bis ins Detail prägen, lassen sich so als ein Gegenentwurf zu dichotomischen Binäroppositionen deuten, der die beiden Pole der Oppositionspaare nicht negiert, sondern als unverzichtbare Bestandteile integriert und in wechselseitigen Bezug zueinander setzt. Deutlich wird dies in Phineas’ Verhältnis zu Vera und Fulla, die als metaphorische Figuren für Oppositionen wie Theorie vs. Praxis, Realität vs. Text oder Natur vs. Kultur stehen: Phineas will und kann sich nicht für eine der beiden entscheiden, denn beide erscheinen ihm trotz ihrer Gegensätzlichkeit für ein ausgefülltes Leben als unverzichtbar. Der Ansatz, dass Widersprüchlichkeit nicht notwendigerweise mit Unvereinbarkeit gleichzusetzen ist, durchzieht Handlungs- und Metaebene des Romans. In besonders verdichteter Weise findet er seinen Ausdruck in Phineas’ Beobachtungen der Territorial- und Paarungskämpfe der Hirschkäfer: I tried to be what I thought of as detached and scientific, and think of my population by numbers. But I ended up giving them literary names of horned gods - Hern and Moses, Horus and Actaeon (the smallest, who always got crunched). […] The males jousted along twigs and promontories, jabbing and weaving with 557 Vgl. Wallhead (2003), 305. 558 Vgl. hierzu Straub (2001), 286, Meuter (2001), 153 sowie Schmid (1998), 71ff. <?page no="231"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 219 their serrated pincers, butting and rushing not unlike the stags themselves. The project was to reverse, dislodge, overturn the antagonist. After three falls he crept away, and the triumphant beetle would mate with the waiting female, who would obligingly raise her rear. The females showed no preferences, and mated with all winners. (252) Die am Ende von Phineas’ Manuskript beschriebenen Naturstudien stellen in gewisser Hinsicht die Erfüllung des zu Beginn seiner Erzählung geäußerten Wunsches dar, sich mit der unmittelbaren Dinglichkeit der physischen Welt direkt auseinanderzusetzen. Und obwohl die Beobachtung der Natur diesem Ideal in gewisser Hinsicht sehr viel näher zu kommen scheint als seine bisherigen Bemühungen, bleibt letztlich die Wahrnehmung der Natur immer schon kulturell und durch Zeichen vermittelt, und hinter diese Vermitteltheit kann Phineas nicht zurückfallen. Strukturell betrachtet ist dabei die vermeintlich neutrale und abstrakte Betrachtungsweise, in der die beobachteten Objekte durch Zahlen beschrieben werden, grundlegend analog zur ‘literarischen’ Sicht, in der die Käfer mit den Namen mythologischer Vorbilder versehen werden: In beiden Fällen wird die ungeordnete Natur durch sprachliche und kulturelle Überformung in eine Ordnungsstruktur gebracht. 559 Die beiden Herangehensweisen können als Verdeutlichungen eines paradigmatischen bzw. eines narrativen Modus des Denkens gewertet werden, wobei beide grundsätzlich den gleichen Wahrheitsgehalt in Bezug auf die Beschreibung der beobachteten Phänomene beanspruchen können: Beide sind als kulturelle Konstruktionsformen prinzipiell gleich nah an, oder gleich weit entfernt von, der beschriebenen Natur. Wenn sich Phineas hier für die Vergabe von „literary names“ (252) statt bloßer Zahlen entscheidet, spiegelt dies den von ihm selbst vollzogenen Übergang von einer dominant paradigmatisch zu einer dominant narrativ ausgerichteten Sicht auf die Welt; durch das Erzählen von Geschichten werden Einzelphänomene in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht. Der Umstand, dass sich Sinn erst auf der Ebene der kulturellen Konstruktion konstituiert, negiert dabei keinesfalls die Wertigkeit der zugrunde liegenden Naturphänomene. Vielmehr besteht zwischen beiden ein reflexives Verhältnis: Durch die Benennung des kleinsten männlichen Käfers nach Aktaeon (des Jägers, der die Göttin Artemis beim Bad überraschte und, zur Strafe in einen Hirsch verwandelt, von seinen eigenen Hunden zerrissen wurde) wird die Wahrnehmung der Kämpfe unter den Käfern zwar insofern geprägt, als über den Verweis auf den antiken Mythos das Element der unverschuldeten, schicksalhaften Vorbestimmtheit betont wird: der mythologische Name strukturiert die Sicht auf zukünftige Ereignisse vor. Dabei 559 Vgl. Böhme (2004), 9f. <?page no="232"?> 220 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale darf jedoch nicht der eigentliche kausale Zusammenhang aus dem Blick verloren werden: Der kleinste Käfer verliert nicht, weil er nach Aktaeon benannt wurde; vielmehr wurde er nach der mythischen Figur benannt, weil er immer verliert. Die kulturelle Vermittlung der Welt ist unhintergehbar, aber dies negiert nicht ihre Existenz. In gewisser Hinsicht stellt die Schilderung der Dominanzkämpfe der Hirschkäfer einen extrem verdichteten Kulminationspunkt der den Roman durchziehenden theoretischen Reflexionen dar. So greift die Schilderung der Kämpfe, die gleichsam rituell jeweils „three times“ (253) wiederholt werden, die den Gesamttext durchziehende, übergeordnete Zahlenmetaphorik erneut auf. In den Dominanzkämpfen der Hirschkäfer spiegelt sich darüber hinaus der Widerstreit zwischen den unterschiedlichen Paradigmen, welche die Grundlage für die von Gareth Butcher und Ormerod Goode repräsentierten theoretischen Ausrichtungen bilden und die ihren Ausdruck auch in Phineas’ zwischen kritischer Ablehnung und Befreiung oszillierender Haltung gegenüber seinem eigenen Schreiben finden. Wesentlich ist dabei, dass der Hirschkäfer-Metapher, wie auch zahlreichen anderen Bildkomplexen des Romans, eine prozessuale und narrative Ebene eingeschrieben ist. Nach dem dreimaligen Kräftemessen wird zwar der Sieger durch das Weibchen, „who would obligingly raise her rear“ (253), gleichsam belohnt, aber mit dem Ende der Paarung beginnt eine neue Runde des Kräftemessens: Der Prozess beginnt von Neuem. In der Beschreibung von Phineas’ Naturstudien am Ende des Romans scheint dabei diejenige lebensweltliche Opposition wieder auf, die der Protagonist zu Beginn des Textes schildert. So finden Phineas’ Beobachtungen im Park unter freiem Himmel statt, während die von ihm im Rahmen seiner Recherchen herangezogene entomologische Studie des Naturforschers Hamilton von „arranged battles“ in „cardboard boxes“ (253) berichtet: Erneut wird hier das „real life“ (253) dem vermeintlich artifiziellen akademischen Kontext zunächst dichotomisch gegenübergestellt. Phineas’ spontane Entscheidung, selbst aktiv einzugreifen und einem der schwächeren Hirschkäfer durch das Aufkleben eines kleinen Metallgewichts zum Sieg über das dominante Männchen zu verhelfen, steht emblematisch für die gedankliche Zusammenführung beider Welten. Während sich in Phineas’ Entwicklung also das Prinzip des ‘sowohl als auch’ gegenüber dem anfänglichen ‘entweder/ oder’ durchsetzt, 560 illustriert der Roman das Beharren auf dichotomischen Strukturen letztendlich als Irrweg. Besonders deutlich wird dies in den Figuren Maurice Bossey und Scholes Destry-Scholes. 560 Campbell (2004), 228. <?page no="233"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 221 Maurice Bossey, der „strange customer“ (127) in der Reiseagentur, benannt nach dem „rendering of Henrik Ibsen’s doppelgänger son [...] named for the Strange Passenger, in Peer Gynt’s last voyage“ (127) steht dabei von seinem ersten Auftritt an für eine radikale Position, die mit den Gedankengängen poststrukturalistischer bzw. postmoderner Konzeptionen verwoben ist. So wird die Figur Bosseys durch Phineas’ Beschreibung nicht nur eng mit dem Konzept des Signifikantenverweises und der intertextuellen Bezugnahme verknüpft: Jeder Aspekt Bosseys, sei es sein Auftreten, seine Kleidung, seine Gesten, ja sogar das Timbre seiner Stimme, die mit „postmodernist French Theory“ (129) assoziiert wird, werden - in der Rückschau - von Phineas als bedeutungstragende Zeichen wahrgenommen. Wenn Bossey sein eigenes Vergnügen, das Ausleben seiner sadistischen und pädophilen Neigung als einzigen, „ancient and universal“ (188) Wert setzt, so greift der Text nicht nur das Schlagwort vom postmodern play kritisch kommentierend auf, sondern nimmt auch Bezug auf den Allgemeingültigkeits- und Universalitätsanspruch radikaler postmoderner Theoriekonzeptionen. 561 Verstärkt wird der Eindruck, dass Bossey gleichsam die Personifikation einer radikalisierten Postmoderne und ihrer schlimmsten Konsequenzen darstellt, während Phineas’ Attacke auf seine beiden Arbeitgeber Erik und Christophe, die er fälschlicherweise in Komplizenschaft mit Bossey wähnt, auf den ebenso abzulehnenden programmatischen Beliebigkeitsvorwurf verweist: I remember screaming incoherently about dogsbodies, schadenfreude, Pym or Pim, semiotics, disgust, limits after all, everything doesn’t go; I remember screaming and growling and howling - yes, and weeping - in complete sentences. (203) Mit seinen im Zustand höchster Erregung vorgebrachten Einwürfen greift Phineas den Entgrenzungs- und Beliebigkeitsvorwurf auf und illustriert das destruktive Potential einer Weltanschauung, die keine Fixpunkte außer sich selbst zu kennen scheint. Maurice Bossey isoliert durch seine ethischen und moralischen Defizite nicht nur sich selbst, sondern zerstört auch, zumindest temporär, die sozialen Beziehungen seiner Umwelt. In ‘bester’ postmoderner Manier basiert dabei Bosseys Wirkung stets auf Zeichen, die wiederum auf andere Zeichen verweisen; zu keinem Zeitpunkt interagiert Bossey körperlich mit einer der anderen Figuren. Phineas, nach eigenem Bekunden „not [...] good at human beings in the raw“ (141) und „a failure as a semiotician“ (143), kann die von Bossey ausgesandten 561 Maurice Bosseys Name lässt sich vor diesem Hintergrund als zweifach telling deuten. Zum einen verweist sein frankophoner Vorname über den Anklang auf das französische mourir auf seine destruktive Qualität, und zum anderen deutet sein Nachname den Dominanzbzw. Letztgültigkeitsanspruch einer radikalen Postmoderne an. <?page no="234"?> 222 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale Zeichen bzw. deren Verweischarakter erst spät richtig deuten: Der von Bossey angebotene Schnupftabak, „snuff“ (188), bezeichnet eben auch Filme, in denen echte Verstümmelungen und Morde zu sehen sind. Die emphatische Ablehnung radikalster Entgrenzungen, wie sie an Phineas’ Reaktion auf Bossey deutlich wird, macht die Fähigkeit zum Erkennen von weiterverweisenden Codes, also einer grundlegenden semiotischen Kompetenz, keineswegs überflüssig. Während an Maurice Bossey also der Irrweg der radikalen Entgrenzung und seiner potentiellen Konsequenzen illustriert wird, ist der Figur gleichzeitig auch ein Paradox eingeschrieben. Zwar steht Bossey in emblematischer Weise für die von Phineas bemängelte postmoderne slipperiness des Signifikats, aber zugleich ist er als Figur direkt auf der Handlungsebene der Erzählung angesiedelt und konkreter Bestandteil von Phineas’ unmittelbarer Lebenswirklichkeit. Gerade umgekehrt verhält es sich bei einer zweiten Figur, die als Personifizierung des im Roman der Postmoderne diametral gegenübergestellten Ansatzes, dem Festhalten an der alleinigen Signifikanz des Faktischen, des real life, gedeutet werden kann: Scholes Destry-Scholes. Destry-Scholes, dessen Überlegungen zur Methodik der Biographie und ihrem ontologischen und epistemologischen Stellenwert Phineas als Vorbild und Inspiration dienen (vgl. 25f), steht zu Beginn der Erzählung für eben diesen Ansatz, über den sich Phineas den Zugang zur glittery fullness der ‘konkreten Welt’ erhofft. Im Laufe seiner Nachforschungen zu Destry-Scholes entzieht sich ihm dieser trotz der verschiedenen Dokumente und persönlichen Gegenstände, die Phineas aufspürt. Aber in zunehmendem Maße erweisen sich die Nachforschungen als ergebnislos und Phineas muss sich schließlich eingestehen, dass er sein eigentliches Ziel, nämlich eine Biographie Destry-Scholes’ zu verfassen, aufgeben muss (vgl. 245): Scholes Destry- Scholes erweist sich am Ende des Romans als eine Art Phantom, von dem nur noch undeutliche Spuren zurückgeblieben sind. Das Motiv der Spur wird im Zusammenhang mit der Figur Destry- Scholes auch an anderer Stelle konkretisiert. In einer ihrer naturkundlichen Ausführungen macht Fulla Phineas auf einen bestimmten Käfer aufmerksam: I remember putting an elm-bark beetle - Scolytus destructor it was called then - it’s been renamed Scolytus scolytus - in a matchbox and labelling it the Valise Bug. It’s a rather boring beetle, though it makes wonderfully patterned interconnecting tunnels in the bark of elms - they look like great centipedes - or dragons. It looks like a neat little zipped-up suitcase. Of course, it isn’t really boring, it spreads Dutch elm disease, it’s changed the whole landscape of Europe. (212) Die metaphorische Verbindung zwischen dem Käfer und Scholes Destry- Scholes wird dabei nicht nur durch die ähnliche Lautung der jeweiligen Namen deutlich, sondern auch durch einen Hinweis in den acknowledge- <?page no="235"?> Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale 223 ments am Ende des Romans: 562 Scolytus scolytus ist der Wirt für eine parasitäre Wespenart, Phaeogenes nanus. Die Spur, die der Käfer in der Baumrinde hinterlässt, ist dabei nicht nur eine treffende Metapher für Phineas’ Suche nach der ‘historischen’ Person Destry-Scholes, derer er nie tatsächlich habhaft wird und die er auch mittels der hinterlassenen textuellen Spur nicht zu rekonstruieren vermag, sondern stellt darüber hinaus einen Verweis auf das Konzept der Spur im Werk Derridas dar. Auch lässt sich das in der Rinde entstehende Muster mit seinen Querverbindungen als Metapher für den intertextuellen Verweischarakter von Literatur im Allgemeinen deuten. Und schließlich bauen Phineas’ eigene literarische Experimente auf den Arbeiten von Destry- Scholes auf und stehen damit gleichsam in einem Abhängigkeitsverhältnis zu diesen - ein Verhältnis, dass die Beziehung zwischen Käfer und Wespe spiegelt. Während also Maurice Bossey Phineas unmittelbar die Gefahren eines an eine enthemmte Postmoderne angelehnten hedonistischen Solipsismus vor Augen führt, zerstört ein phantomgleicher Destry-Scholes seinen Glauben an die Letztgültigkeit des Konkreten und Faktischen. Der Weg, der sich für Phineas am Ende des Romans abzeichnet, ist dabei weniger als simple Synthese beider Extreme zu deuten, sondern vielmehr als ein Nebeneinander der gemäßigten Ausprägungsformen beider Extreme. Aus dieser Perspektive heraus lassen sich die einzelnen Bestandteile der Erzählung, also Phineas’ autobiographischer Bericht, die Notizen und Karteikarten Destry-Scholes’, die biographischen Fragmente, die Reproduktionen der Photographien und die tagebuchartigen Passagen am Ende des Textes als Teile eines Ganzen deuten: Trotz ihrer Unterschiedlichkeit und zum Teil auch Widersprüchlichkeit ergeben sie doch eine kohärente Erzählung, aus der heraus sich Phineas’ Identität zu konstituieren beginnt. 563 The Biographer’s Tale lässt dabei offen, ob diese Identitätskonstitution, die sich dem sowohl/ als auch statt dem entweder/ oder verpflichtet, letztendlich eine erfolgreiche ist. Aus der Perspektive der beiden im Roman aufgezeigten weltanschaulichen Extrempole heraus betrachtet ist sie es sicherlich nicht: Im einen Fall, weil sie in wesentlichen Teilen nicht auf facts, sondern auf Fiktionen beruht, und im anderen Fall, weil sie sich nicht gänzlich der Fiktion hingibt, sondern in wesentlichen Teilen auf Phineas’ Lebenswirklichkeit fußt. Aber auch aus der dritten vom Roman angebotenen, zwischen beiden Extremen liegenden Perspektive, bleibt die Antwort am Ende ungewiss und der Text verweigert sich letztendlich - wie auch Iain Banks’ The Wasp Factory, wenn auch mit deutlich weniger pessimisti- 562 Vgl. Campbell (2004), 218. 563 Vgl. hierzu Straub (2004), 287. <?page no="236"?> 224 Identität, Struktur und Erzählung in A. S. Byatts The Biographer’s Tale schen Untertönen - einer undifferenzierten Annahme postmodernen (Re)Konstruktionspotentials. Als Gewissheit hat Identität ausgedient, als Aspiration aber Bestand. <?page no="237"?> 10 Zwischen Dekonstruktion und (Re)Konstruktion In den vorangegangenen Detailinterpretationen ist deutlich geworden, dass auf die von Unbestimmtheit, Fragmentarisierung, Enthierarchisierung und assoziierte Auflösungs- und Entgrenzungserscheinungen in der Postmoderne aufgeworfenen Fragestellungen wie die nach der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit von Identität keine einfache, und vor allen Dingen keine endgültige Antwort gegeben werden kann; alles andere wäre vor dem Hintergrund der Postmoderne wohl auch mehr als überraschend. Negativ gewendet lässt sich dies als Ratlosigkeit angesichts des Verlusts von sinnhafter Tiefe und von tradierten Sicherheiten deuten - oder aber als positive Eröffnung neuer Manifestationsräume von Sinn und Ermöglichung produktiver Vielstimmigkeit. In ihrer ‘präzisen’ Ausprägung ergeht sich die Postmoderne allerdings nicht nur in der theoretisch abgehobenen und vergnügten Exploration dieser neuen Spiel-Räume, sondern setzt diese in Bezug zu lebensweltlich relevanten Fragestellungen. Wenn Individualität und Identität stets als Prozess gedacht werden und die Vorstellung von ‘Essenzen’ keine Gültigkeit mehr hat, was kann dann das Abdriften in totale Beliebigkeit verhindern? A. S. Byatts The Biographer’s Tale stellt wohl die schlüssigste Antwort innerhalb des in dieser Arbeit vorgestellten Spektrums bereit: In der narrativen Verfasstheit nicht nur von personaler Identität, sondern von Sinnbildungsprozessen im Allgemeinen ist eine Struktur angelegt, der - potentiell - eine Korrektivfunktion zukommt. Eine erfolgreiche Sinnerzählung, also eine, die tatsächlich Sinn herstellt, leistet dies durch ihre Anschlussfähigkeit an andere Erzählungen, und zwar sowohl in persönlicher als auch sozialer Hinsicht. Phineas Nansons identitätsstiftende Erzählung ist innerhalb des vorgestellten Textkorpus deshalb als die erfolgreichste zu deuten, weil es ihm gelingt, sich nicht nur kohärent selbst zu erzählen, sondern auch soziale Anschlussfähigkeit zu generieren. Dieser Befund wirft erneut die Frage nach der Selbstmächtigkeit des individuellen Subjekts auf; oder, anders formuliert: Sprechen wir hier plötzlich nicht doch wieder den Diskurs, statt durch den Diskurs gesprochen zu werden? Sind wir Diskursprodukte oder erfinden wir uns selbst? Die Antwort muss lauten: Immer beides. Introspektion und Reflexion eröffnen, wie sich insbesondere am Beispiel Phineas’ und, deutlich eingeschränkter und mit düsterer Prognose, auch an Frank/ Francis in The Wasp Factory zeigt, erst die Möglichkeit zum produktiven und vor allem kreativen Weitererzählen der eigenen Geschichte. Die Struktur von Identität und die körperliche Endlichkeit machen indes eine vollständige Selbstmächtigkeit durch <?page no="238"?> 226 Zwischen Dekonstruktion und (Re)Konstruktion uneingeschränkte Selbstkenntnis unmöglich: Die Möglichkeit der Einflussnahme auf das Selbst ist damit strukturell begrenzt. Eine erfolgreiche Identitätskonstitution im Sinne auch sozialer Anschlussfähigkeit bedingt darüber hinaus, wie positiv an Phineas und negativ an Nicholas Dyer/ Hawksmoor illustriert wird, dass auch die benutzte ‘Formensprache’ bzw. die Erzählbausteine von Identität anschlussfähig sind und in ein bestehendes, diskursiv vorgegebenes Sinnsystem eingefügt werden können. Die vielschichtige Mosaikmetapher in The Biographer’s Tale legt dies besonders nahe; der Wahnsinn Hawksmoors, die Einsamkeit Harriet Scropes in Chatterton und die Verzweiflung John Miltons können exemplarisch als Illustration für die Konsequenzen aus der Nichtbeachtung der sozialen Dimension von Identität gewertet werden. Auf die rhetorische Frage „Anything goes? “ antworten die ausgewählten Texte Ackroyds, Banks’ und Byatts alle auf höchst unterschiedliche Weise, aber alle letztendlich mit einem Nein - sei es auch, besonders im Falle von Peter Ackroyds Romanen Hawksmoor, Chatterton und Milton in America sowie Iain Banks’ The Wasp Factory, mittels der Illustration der einer radikalen Auslotung aller Möglichkeiten eingeschriebenen Gefahren. Damit stellt sich die Frage: Wozu Postmoderne? Kann sie über das (literarische) Spiel hinaus fruchtbare Impulse geben? Gibt es sie überhaupt, wenn doch die am positivsten gezeichneten Figuren der ausgewählten Texte gerade wenig Postmodernes an sich zu haben scheinen, im Falle Goosequills in Milton in America sogar vormoderne Züge tragen? Hierauf ist zunächst zu antworten, dass alle der vorgestellten Texte auf unterschiedliche Art und Weise zwei oder mehrere diskursiv geformte Wirklichkeitskonstruktionen einander gegenüberstellen. Dies ist, wie gezeigt, zum einen einer gewissen dekonstruktiven Strategie der Texte geschuldet. Zum anderen verweist dieser Umstand über die Textstrategie hinaus auf die ‘Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen’. Die Postmoderne existiert nicht monolithisch, sondern zeitgleich mit modernen und prämodernen Elementen. 564 Was für die erfolgreiche Identitätskonstitution von Phineas gilt, hat metaphorisch auch für die Postmoderne Bestand: Diese Postmoderne ist Ergebnis eines narrativen Prozesses, der Heterogenes und scheinbar Inkommensurables zu einem kohärenten Ganzen vereinigt hat. Hierin liegt das Potential einer postmodernen Auflösung und ihrer literarischen Exploration: Aus der Variation und Neukombination etablierter Formen entstehen gleichsam ein neues Ausdruckspotential und neue Möglichkeiten kreativen Handelns. Diese Möglichkeiten sind und bleiben jedoch Möglichkeiten im Sinne einer Potentialität; ein automatisiertes Heilsversprechen liefert weder die 564 Vgl. Schmid (1998), 95ff. <?page no="239"?> Zwischen Dekonstruktion und (Re)Konstruktion 227 Postmoderne noch postmoderne Literatur. Gerade das Figureninventar in Ackroyds frühen Romanen macht dies eindrucksvoll deutlich und verweist zugleich darauf, dass Radikalität jeglicher Ausprägungsform für Anschlussfähigkeit im Sinne einer erfolgreichen narrativen Sinnkonstitution nichts Gutes verheißt. Sowohl der völlige Mangel von Selbstreflexion als auch das beständige Verharren in solipsistischer Selbstbespiegelung machen letztendlich handlungsunfähig. Die Dekonstruktion als zugrunde liegender und alles andere dominierender Diskurs kann demnach zwar einen fragenden Blick eröffnen und stellt, in der Form des radikalen Experiments, gleichsam einen epistemologisch notwendigen Schritt auf dem Weg zur Beantwortung der aus der Postmoderne resultierenden Fragestellungen dar, kann aber über die Herausstellung radikaler Wege als Irrwege hinaus keine befriedigenden Antworten liefern. Wird jedoch dem dekonstruktivistischen ein (re)konstruktives Element zur Seite gestellt, wie dies angedeutet in Ackroyds The Plato Papers, unter negativem Vorzeichen in Banks’ The Wasp Factory und unter positivem Vorzeichen in Byatts The Biographer’s Tale geschieht, entsteht das Potential für eine ‘präzise’ Postmoderne. Dies mag zunächst nach einem versteckten Wiedereinzug aufgeklärter und rationalistischer Prämissen klingen und einen stetigen Zuwachs an Wissen, Ausdrucksformen und Gestaltungsmöglichkeiten suggerieren. In gewisser Hinsicht trifft dies auch zu. Die kreative Auslotung von Möglichkeiten des Erfolgs und des Scheiterns in der Postmoderne und der postmodernen Literatur sorgt für einen kollektiven Zuwachs von Wissen, Ausdrucks- und Lebensformen; das kulturelle Gedächtnis erweitert sich ständig. Die Inhalte aber sind nie von gleicher Realisierbarkeit, da ihre stets gegebene kulturelle Eingebundenheit die Wahlmöglichkeiten einschränkt. Ihre Potentialität wird darüber hinaus immer individuell aktualisiert: Zwar mag es keine logischen Ausschlusskriterien von Kombinationsmöglichkeiten und Anschlüssen geben, da auch diese immer kulturell produziert und damit arbiträr sind. Aber immer gibt es auch kulturelle Vorgaben dessen, was nicht mehr als kohärenzfähig zu denken ist. In jedem Fall ist das Spektrum postmoderner Sinnstiftungsmöglichkeiten zu breit, als dass es von einem Individuum komplett realisiert werden könnte. Darauf, dass eine Sinnstiftung aber trotz aller Fragmentiertheit und Unbestimmtheit potentiell sehr wohl noch realisiert werden kann, verweist der postmoderne britische Roman in seiner präzisen Ausprägung und auch darauf, wo sich dieser Sinn manifestieren kann: an der Schnittstelle von Dekonstruktion und (Re)Konstruktion als individuell realisierte Lebensgestalt. <?page no="240"?> 11 Bibliographie 11.1 Primärliteratur Ackroyd, Peter. Chatterton. London: Penguin (1993a). —. Hawksmoor. 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Ausgehend von Überlegungen zur narrativen Verfasstheit von Identität setzt sich der vorliegende Band in Detailinterpretationen von Romanen Peter Ackroyds, Iain Banks’ und A.S. Byatts exemplarisch mit der Frage auseinander, inwiefern im jüngeren britischen Roman eine Entwicklungslinie weg von einer ‘diffusen’ hin zu einer ‘präzisen’ Postmoderne nachgezeichnet werden kann. ISBN 978-3-8233-6427-6
