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Das Deutsche und seine Nachbarn

Über Identitäten und Mehrsprachigkeit

1022
2008
978-3-8233-7437-4
978-3-8233-6437-5
Gunter Narr Verlag 
Ludwig M. Eichinger
Albrecht Plewnia

In der Mitte Europas gelegen, lebt das Deutsche nicht zuletzt vom Kontakt mit anderen Sprachen, diese Kontakte sind vielfältig, und sie hinterlassen ihre Spuren. Nur im Kontakt mit seinen großen europäischen Nachbarn und in der permanenten Orientierung an ihnen ist das Deutsche zu der europäischen Kultursprache geworden ist, die es ist. Gleichwohl ist, durch die ebenfalls europäische Gleichsetzung von Sprache und Nation befördert, die Gesellschaft im mehrheitlichen Bewusstsein der Sprecher stark einsprachig geprägt - und zwar selbst dort, wo durch Migration und durch die Entwicklungen, die man gemeinhin mit dem Schlagwort Globalisierung belegt, in Wirklichkeit mehrere Sprachen koexistieren. Die Beiträge in diesem Band gehen der Frage nach, welche Rollen das Deutsche unter diesem Gesichtspunkt - als europäische Kultursprache, als Mehrheits- und als Minderheitssprache in mehrsprachigen Gesellschaften - spielte und spielt und wie die Sprecher des Deutschen in den verschiedenen Konstellationen mit dem jeweils Fremden umgegangen sind und umgehen.

<?page no="0"?> Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia (Hrsg.) Das Deutsche und seine Nachbarn Über Identitäten und Mehrsprachigkeit Gunter Narr Verlag Tübingen Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E <?page no="1"?> S T U D I E N Z U R D E U T S C H E N S P R A C H E 4 6 <?page no="2"?> Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Ulrich Hermann Waßner Band 46 <?page no="3"?> Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia (Hrsg.) Das Deutsche und seine Nachbarn Über Identitäten und Mehrsprachigkeit Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Redaktion: Franz Josef Berens Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Volz, Mannheim Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-6437-5 <?page no="5"?> Inhalt Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia Das Deutsche und seine Nachbarn.................................................................. 7 Ludwig M. Eichinger Deutsch als europäische Sprache .................................................................. 13 Norbert Richard Wolf „ein einträchtige Sprach, ein einträchtige Regierung, vnd Endlich Auch ein einträchtige Religion“. Pädagogik und Aufklärung am Beginn des Deutschen als National- und Kultursprache.................................................. 31 Angelika Linke Integration und Abwehr. Standardsprachlichkeit als zentrales Moment bürgerlicher Selbstdefinition im 19. Jahrhundert.......................................... 43 Jürgen Spitzmüller „Sind wir noch Deutsche? “ Der deutsch-englische Sprachkontakt als Thema des öffentlichen Diskurses in der Gegenwart .............................. 63 Rosemarie Tracy / Doris Stolberg Nachbarn auf engstem Raum. Koexistenz, Konkurrenz und Kooperation im mehrsprachigen Kopf.......................................................... 83 Hans Goebl Sprachenvielfalt und Sprachenpolitik in der Spätphase der Donaumonarchie (1848-1918) .............................................................. 109 Heinz Bouillon Belgien: offizielle Einsprachigkeit, individuelle Mehrsprachigkeit............ 135 Werner Hauck Sprachenrecht und Sprachstrategien der Schweiz ...................................... 157 <?page no="7"?> Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia Das Deutsche und seine Nachbarn Dieser Band handelt von der deutschen Sprache und von den Sprechern des Deutschen. Er handelt davon, wie das Deutsche im Kontakt mit seinen Nachbarn und in ständiger Auseinandersetzung mit ihnen die europäische Kultursprache geworden ist, die es ist, und er handelt davon, wie sich Sprache und Identität verknüpfen und bedingen und wie die Sprecher des Deutschen damit umgehen, dass in dem Moment, in dem mehrere Sprachen ins Spiel kommen, die Zuordnungen nicht mehr ganz einfach und eindeutig sind. Von den meisten seiner Sprecher zumindest in Deutschland wird das Deutsche als vergleichsweise homogene Sprache wahrgenommen, Grenzlinien werden oft allenfalls im Bereich einer dialektalen Variation sowie, damit zusammenhängend, im Bereich einer Dialekt-Standard-Opposition gesehen. Dabei ist das Deutsche in eine ganze Reihe systematischer Mehrsprachigkeitskonstellationen eingebunden, in denen es jeweils unterschiedliche Rollen übernimmt. Funktional überdachende Mehrheitssprache ist es für die autochthonen Minderheiten in Deutschland (Sorben und Friesen sowie den Sonderfall des Niederdeutschen) und in Österreich (Slowenen, Kroaten); in der Schweiz liegen die Dinge etwas komplizierter. Umgebende Mehrheitssprache ist das Deutsche auch - wenngleich in anderer Weise - für die Migranten, die aus unterschiedlichen Ländern ins deutsche Sprachgebiet kommen. Minderheitensprache hingegen ist das Deutsche (bzw. seine Varietäten) einerseits an den Rändern des geschlossenen Sprachgebiets, wo Staatsgrenzen und Sprachgrenzen nicht parallel laufen (Nordschleswig, Ostbelgien, Elsass und Lothringen, Südtirol), auch in je unterschiedlichen Konstellationen (etwa als Streuminderheit in Dänemark oder als zwar nationale Minderheit, aber regionale Mehrheit in Südtirol) und mit unterschiedlichen Zukunftsperspektiven; und andererseits in den immer noch zahlreichen deutschen Sprachinseln in aller Welt, sowie natürlich auch als Ergebnis individueller Migration. Doch neben den unmittelbaren Sprachkontaktsituationen durch mehrsprachige Umgebungen gibt es auch noch eine andere Ebene des mittelbaren Einflusses anderer Sprachen auf das Deutsche; waren es in der Vergangenheit vor allem Latein und Französisch, die in unterschiedlicher Weise auf das Deutsche gewirkt haben, so ist es gegenwärtig vor allem das Englische, das als Fahnensprache der Globalisierung auch im Deutschen seine Spuren hinterlässt - ein Prozess, auf den die Sprecher (die ihn ja selber tragen) durchaus nicht einheitlich reagieren. Wie sich <?page no="8"?> Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia 8 nun Sprecher des Deutschen in diesen sehr unterschiedlichen Bedingungsgefügen zurechtfinden, soll in den Beiträgen dieses Bandes aus verschiedenen, exemplarisch gemeinten Perspektiven beleuchtet werden. Es gibt zunächst den historischen Blick, der das Deutsche auf seinem Weg zur Kultur- und National- und Standardsprache begleitet; es gibt die Diskussionen, wie mit dem Fremden, wenn es in Form fremder (oder fremd scheinender) sprachlicher Formen auftaucht, umzugehen sei; und es gibt schließlich den Blick von außen, der zeigt, wie es die andern machen. Was es vor diesem Hintergrund heißen könne, dass Deutsch eine europäische Sprache sei, dieser Frage geht Ludwig M. Eichinger im ersten Beitrag dieses Bandes nach. Dass das Deutsche zu Europa gehört, ist geografisch trivial. Das Gebiet, in dem die Sprecher des Deutschen - der Sprache mit den meisten Muttersprachlern in Europa - leben, liegt gerade in der Mitte Europas, zwischen dem romanischen Westen (und Süden) und dem (überwiegend) slawischen Osten (der skandinavische Norden ist zu fern und liegt von hier aus oft außerhalb der Wahrnehmung). Eben diese Nachbarschaften in mehrere Richtungen haben historisch dazu geführt, dass sich der europäische Charakter des Deutschen auch in seiner Grammatik, in seiner Sprachstruktur manifestiert. Stellt man die Brennweite hinreichend klein, ähneln sich die europäischen Sprachen, die die Nachbarn des Deutschen sind, untereinander in bemerkenswerter Weise. Stellt man sie größer und fokussiert einzelne Bereiche, sieht man, wie das Deutsche, wo es zwischen verschiedenen typologischen Optionen zu wählen hat, mal mit dem Westen geht (etwa beim Artikel), mal mit dem Osten (Flexion), dass es Kompromisse findet, die es typologisch stärken, und dass es auch einzelne Züge zu Alleinstellungsmerkmalen auszubauen verstanden hat. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert hat Europa gelernt, Sprache, Nation und Staat als Einheit zu denken, und bis heute mühen wir uns mit den Inkongruenzen von Sprachgrenzen und politischen Grenzen. Das Konstrukt der Nationalsprache (ebenso wie der Nationalkultur) setzt aber Überregionalität und Standardisierung als Ergebnis eines langen, evolutionären Prozesses voraus. Zunächst geht es, wie - leicht zeitversetzt - überall in Europa, um den Konflikt zwischen Latein und Volkssprache, alsbald um den Ausbau des Deutschen zu einer vollwertigen Sprache, die nicht nur funktional alle Domänen füllen, sondern vor allem auch Trägerin nationaler Identität werden kann. Welche Rolle soll die deutsche Sprache ausfüllen? Wie sind Sprache, Politik, Religion und Kultur in ein gemeinsames Konzept zu bringen, welche - auch politisch-argumentativen - Interdependenzen bestehen hier? Norbert Richard Wolf zeichnet in seinem Beitrag über „Pädagogik und Aufklärung am Beginn <?page no="9"?> Das Deutsche und seine Nachbarn 9 des Deutschen als National- und Kultursprache“ nach, wie sich das 17. und 18. Jahrhundert an diesen Fragen abgearbeitet haben, und wie die Selbstvergewisserung des Eigenen schließlich, in den Sprachgesellschaften (und übrigens nicht nur im deutschen Sprachraum), zu einer Sprachreinheitsdebatte führt, die manches Gegenwärtige zu antizipieren scheint. Die Situation ändert sich für das 19. Jahrhundert in dem Maße, in dem das Bürgertum zur kulturtragenden Schicht avanciert und der Sprache - im Sinne einer elaborierten Beherrschung eines Standards - einen neuartigen soziokulturellen Wert zuschreiben kann. Angelika Linke zeigt, wie die Standardsprachlichkeit zum zentralen Moment bürgerlicher Selbstdefinition im 19. Jahrhundert wird. Während sich der Adel traditionell über das Repräsentationsmedium des Leibes definierte, erhebt nun das Bürgertum die Sprache zu seinem bevorzugten Selbstdarstellungsmittel, das zudem ganz im Dienst der bürgerlichen „Bildungsreligion“ steht. Sprache und Sprachgebrauch werden damit zu Integrationswie zu Ausschlussmedien der kulturell tragenden Gruppierung, „richtiges Deutsch“ wird zum Ausweis von Bildung und bürgerlicher Kinderstube. Überregionalität wird auch in der Sprechsprache zum Ideal erhoben, der Gebrauch von Dialekt wird sozial stigmatisiert, und regionalsprachliche Eigenheiten werden als Zeichen mangelnder Bildung und unterbürgerlicher Herkunft gedeutet. Die zunehmende Ächtung des Dialektgebrauchs im 19. Jahrhundert kann zudem verstanden werden als sprachliche Distanzierung von einer Lebenswelt, wie sie traditionell als mit dem Dialekt verbunden gedacht wird, d.h. einer Welt der Nähe, der lokalen Verhaftetheit und beschränkter sozialer Kontakte, der mit dem Ideal der überregionalen Standardsprache auch das Ideal urbaner Dynamik, weitgespannter sozialer Netze und damit auch einer als befreiend empfundenen sozialen Distanz entgegengestellt wird. Damit bekommt die Sprache nicht nur eminent soziale, sondern auch deutlich kultursemiotische Dimensionen. Mit dem Beitrag von Jürgen Spitzmüller, „Sind wir noch Deutsche? “, wird der historische Bogen zur Gegenwart geschlossen; auf die Phase der bürgerlichen Selbstvergewisserung unmittelbar folgend bzw. bereits mit ihr verschränkt wird die Frage, wie mit dem Fremden umzugehen sei, zunehmend zum Thema des öffentlichen Diskurses - vor allem dann, wenn sich dieses Fremde nicht aus eigenem Antrieb zeigt, sondern man es in bereitwilliger Adoption und Adaption durch die eigene Sprachgemeinschaft antrifft. Der Titel des Beitrags ist einem puristischen Aufsatz von 1928 entlehnt und verweist so auf die Kontinuitäten eines Diskurses, in dem Sprachverhalten und Vorstellungen von nationalen Loyalitäten so zu einem Themengemisch verrührt werden, dass eine sachlich-neutrale Verständigung kaum mehr möglich erscheint. <?page no="10"?> Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia 10 Der Sprachkontakt des Deutschen zum Englischen ist, nachdem er in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst weitgehend in der Hintergrund getreten war, spätestens seit Mitte der 1990er-Jahre wieder ein in den Medien heftig diskutiertes Thema geworden. Während die einen die Entlehnungen aus dem Englischen und die Verwendung des Englischen als Verkehrssprache als willkommene Bereicherung des Deutschen und als notwendigen Ausdruck einer zusammenwachsenden Welt beurteilen, sehen andere darin eine Gefahr für die deutsche Sprache sowie eine Bedrohung für die nationale Kultur und Identität. Der Beitrag zeichnet den historischen Verlauf des Diskurses zu diesem Thema nach und beleuchtet die linguistischen, politischen und sozialen Hintergründe. Dabei geht es in erster Linie um den Zusammenhang von Spracheinstellungen, Sprachgebrauch und sozialer Identitätsbildung; Spitzmüller kann zeigen, dass die Debatten nicht zuletzt Ausdruck langfristiger sozialer und politischer Veränderungen sowie konkurrierender sprachlicher Konzepte, Werthaltungen und Ideologien sind. Für das Problem des Umgangs mit dem Eigenen und dem Fremden muss spätestens dann eine Lösung gefunden werden, wenn, wie es in Migrationskontexten geschieht, das Fremde (mindestens partiell) zum Eigenen wird und mehrsprachige Sprecher, je individuell, ihre Mehrsprachigkeit kognitiv und kommunikativ organisieren müssen. In der Tat sind mehrsprachige Menschen in der Lage, ohne Verzögerung und Beeinträchtigung ihres Sprechflusses von einer Sprache in die andere zu wechseln. Wie sich eine solche „Nachbarschaft im Kopf“ gestaltet, zeigen Rosemarie Tracy und Doris Stolberg in ihrem Beitrag über in die USA emigrierte Sprecher des Deutschen, d.h. erwachsene Zweitsprachlerner des Englischen; die Koexistenz unterschiedlicher Sprachsysteme in einem Kopf erlaubt Kooperation und Konkurrenz gleichermaßen, und das Umschalten zwischen zwei Sprachen erfolgt aufgrund ganz verschiedener Faktoren: einerseits entlang den formalen Eigenschaften der beiden Sprachen, andererseits aus pragmatischen und diskursfunktionalen Gründen, wo beispielsweise die gewählte Sprache gezielt als Identitätsmarker eingesetzt werden kann. Die individuelle Mehrsprachigkeit und ihre praktische Binnenorganisation ist das Eine; eine andere Frage ist, wie mehrsprachige Gesellschaften mit dem Nebeneinander verschiedener Sprachen, genauer: mit den sozialen Gruppen, die die Sprecher der jeweiligen Sprachen bilden, umgehen. In Deutschland liegt die Möglichkeit dieser Mehrsprachigkeit außerhalb des mehrheitlichen Bewusstseins, obwohl wir nicht nur die vergleichsweise jungen Migrations- <?page no="11"?> Das Deutsche und seine Nachbarn 11 minderheiten, sondern mit den Sprechern des Friesischen, Sorbischen, Dänischen und mit dem Sonderfall des Niederdeutschen auch autochthone Minderheiten haben. Da kann es hilfreich sein, sich anzusehen, wie es die anderen machen; Hans Goebl zeigt in seinem Beitrag „Sprachenvielfalt und Sprachenpolitik in der Spätphase der Donaumonarchie (1848-1918)“ - der übrigens auf der diesem Band beigefügten CD-ROM vollständig in seiner audiovisuellen Primärfassung vorliegt -, wie in einer ganz bestimmten historischen Konstellation, nämlich im Österreich-Ungarn in der Zeit von der 1848er-Revolution bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, mit der Sprachenfrage umgegangen wurde. Die relative Stabilität, zu der die gut ein Dutzend Sprachen und Kulturen im Habsburgerreich über die Jahrhunderte zusammengefunden hatten, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert in eine schwere Krise geraten, deren sichtbarer Ausdruck die 1867 offiziell etablierte politische Zweiteilung der Donaumonarchie in einen von Wien aus regierten „österreichischen“ bzw. „zisleithanischen“ und einen von Budapest aus regierten „ungarländischen“ bzw. „transleithanischen“ Teil war. Während in der Folge in der zisleithanischen Reichshälfte eine föderalistische und auf den Erhalt (und die Förderung) der historischen Sprachenvielfalt ausgerichtete Sprachenpolitik betrieben wurde, hat sich die transleithanische Reichshälfte (in Orientierung am französischen Modell) für eine zentralistische und auf die langfristige Durchsetzung des Ungarischen abzielende Sprachenpolitik entschieden. Es ist aus der heutigen Perspektive eines zusammenwachsenden Europas durchaus erhellend, welche verschiedenen Lösungsstrategien in dieser speziellen Konstellation erprobt wurden. Minderheitssprache ist das Deutsche in Belgien, wo der Sprachenstreit zwischen den beiden großen Gruppen, dem Flämischen und dem Französischen, zwischen denen sich die kleine deutschsprachige Gruppe in Ostbelgien ihre Position suchen muss, bis in die Gründungszeit des belgischen Staates zurückreicht und bis heute erheblich politischen Sprengstoff birgt. Heinz Bouillon zeigt in seinem Beitrag, wie die individuelle Mehrsprachigkeit der einzelnen Bürger, für die die Kenntnis anderer Sprachen nicht zuletzt ökonomisch von hoher Relevanz ist, mit der offiziellen Ideologie der Einsprachigkeit entlang festgelegter territorialer Grenzen kontrastiert. Dabei sind die administrativen Konflikte zwischen den beiden großen Sprachgruppen entlang dieser Grenzen, vor allem in den Brüsseler Randgemeinden, unübersehbar; im Streit um den Sprachengebrauch wird die Sprache zum Träger ethnisch gemeinter Identitätskonzepte, in deren historischer Bedingtheit sich auf beiden Seiten die jeweiligen Befindlichkeiten spiegeln. <?page no="12"?> Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia 12 Das andere europäische Beispiel von institutionalisierter Mehrsprachigkeit ist das der Schweiz; es ist, wie Werner Hauck in seinem Beitrag zu „Sprachenrecht und Sprachstrategien der Schweiz“ aufzeigt, ein Modell, das auf gegenseitigem Respekt und Partnerschaftlichkeit als Grundlage für Verständigung und nationalen Zusammenhalt, auf dem Territorialitätsprinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beruht. Diese leitenden Grundsätze finden in der Verfassung und im gesamten schweizerischen Sprachenrecht ihren Niederschlag. Hauck zeigt, wie sich die Schweiz vor diesem Hintergrund um eine demokratiefähige Gesetzes- und Verwaltungssprache bemüht und wie sie den neuen Herausforderungen begegnet, die sich aufgrund der demografischen Entwicklung, der Prozesse, die man gemeinhin mit dem Schlagwort Globalisierung belegt, und der Migration in sprachenrechtlicher Hinsicht ergeben. Im Juni 2007 hat das Goethe-Institut in Berlin ein Festival mit dem Titel „Die Macht der Sprache“ veranstaltet, mit Ausstellungen, Installationen, Vorträgen und Podiumsdiskussionen zu den Themen Mehrsprachigkeit, kulturelle Vielfalt, Wissenschaftssprache und Sprachenpolitik. Eine der drei wissenschaftlichen Sektionen, die in diesem Rahmen stattfanden, wurde vom Institut für Deutsche Sprache gestaltet; der vorliegende Band versammelt die Vorträge, die in dieser Sektion gehalten wurden. Ergänzt werden die Beiträge durch Zusatzmaterial (Tonaufnahmen, Karten, Texte) auf der diesem Band beigefügten CD-ROM , für deren technische Realisation Norbert Volz herzlich gedankt sei. Die Sektion wurde abgerundet durch eine Podiumsdiskussion zum Thema „Viele Sprachen - wie viele Identitäten? Welche Politik für eine mehrsprachige Gegenwart wünschen wir uns? “ mit Ludwig M. Eichinger (Mannheim), Rudolf de Cillia (Wien), Peter Gilles (Luxemburg), Mark Terkessidis (Köln) und dem Schriftsteller Jan Weiler; die Podiumsdiskussion ist in diesem Band nicht dokumentiert. Der Dank der Herausgeber gilt allen, die an der Entstehung dieses Bandes beteiligt waren, in erster Linie natürlich den Referenten der Berliner Tagung und Autoren der Beiträge, auch den Teilnehmern der die Sektion abschließenden Podiumsdiskussion, und nicht zuletzt dem Goethe-Institut als Veranstalter des Festivals „Die Macht der Sprache“, in dessen Rahmen die Tagung stattfand. <?page no="13"?> Ludwig M. Eichinger Deutsch als europäische Sprache 1. Was heißt das? 1.1 Zahlen Deutsch als europäische Sprache. Selbstverständlich, was sonst? Was wären die Alternativen? Realistische und zum Teil auch erprobte und zu verschiedenen Zeiten gültige Alternativen wären zum Beispiel: „Deutsch als Weltsprache“. Das klingt heute nicht sehr plausibel, vielleicht war Deutsch einmal eine der Weltsprachen der Wissenschaft - und zum Teil ist es das wohl auch noch, Weltsprache der Philosophie und der Kunstgeschichte zum Beispiel. Aber es gilt wohl nur für eine Minderheit von Menschen, dass sie ihre sprachliche Identität als Sprecher des Deutschen daran festmachen würden. Von „Europa“ aus auf den nächst kleineren Bezugsraum blickend wäre die Alternative „Deutsch als Nationalsprache“. Das ist nun einerseits sicher für viele Sprecher innerhalb der Bundesrepublik Deutschland einigermaßen unstrittig und daher identitätsprägend, ist aber schon deutlich schwieriger für die anderen sogenannten deutschsprachigen Staaten. In Österreich ist dieser amtliche Status immerhin festgestellt, aber nicht umsonst hat gerade Österreich in der Diskussion um die Fragen der nationalen Varietäten eine herausragende Rolle gespielt, 1 und Iwar Werlen hat unlängst von einer Umfrage in der Schweiz berichtet, wo das Deutsche logischerweise nur eine der nationalen Sprachen ist. Die Umfrage ergab, dass eine Mehrheit der befragten - jüngeren - Deutschschweizer das Hochdeutsche als eine Fremdsprache betrachtet. Welche Konsequenzen das für die sprachliche Identität in einer prinzipiell schriftsprachlich geformten Welt hat, ist nicht ganz klar, soll hier nicht weiter besprochen werden. 2 Aber auch in der Bundesrepublik Deutschland gibt es jüngsthin Erscheinungen, die daran zweifeln lassen, dass und ob das Deutsche ganz selbstverständlich als die Sprache unseres Staates gilt. Zumindest für die Gruppen in der Bevölkerung, die das Deutsche zu seinem Schutze als Staatssprache in das Grundgesetz schreiben lassen wollen, ist diese Selbstverständlichkeit, von der die letzten 150 Jahre geprägt waren, nicht mehr gegeben. Aber auch Bürger, die sich in dieser Hinsicht weniger Sorgen machen, machen häufig ihre sprachli- 1 Siehe die in Eichinger (2005) referierte Diskussion. 2 Immerhin ist auf dieser Basis ein Modell denkbar, in dem zu einer gesprochenen Varietät Schwyzerdütsch eine geschriebene Standardform des Englischen gehörte. <?page no="14"?> Ludwig M. Eichinger 14 che Identität nicht nur an der Standardsprache fest. Vielmehr kennt - was bei dem plurizentrischen Charakter des deutschen Sprachraums naheliegt - die sprachliche Identität mehrere einander überlagernde Bezugsräume mit entsprechenden Sprachformen. Gerade Sprechern aus dem südlichen Teil des deutschen Sprachgebiets liegt ein Selbstverständnis nahe, das sich auf eine Art konzentrisch angeordneter Kreise sprachlicher Zugehörigkeitsebenen stützt. 3 Ihre sprachliche Identität ist tendenziell sowohl durch das Idiom geformt, das man im Alltag spricht - und das Merkmale von Regionalität enthält -, und durch das Bewusstsein, dass es darüber ein einigermaßen einheitliches Dach gibt, das man in der Schule lernt. Und die Voraussetzung dafür ist mindestens eine geregelte Orthographie. Die Enkulturation in unsere sprachliche Welt, die eine ausgebaute Schriftkultur repräsentiert, ist daher bewusstseinsmäßig offenbar mehr mit der Fähigkeit zu schreiben und zu lesen verbunden als mit dem Sprechen und dem Hören. Die Aussprachenorm hat bei Weitem nicht den Status - und auch nicht die Genauigkeit 4 - wie die für die Rechtschreibung festgelegten Regelungen. Und es war zweifellos etwas naiv, bei den Anfängen der nun zu einem glücklichen Kompromiss gekommenen Reform bestimmter Teile der Rechtschreibung den zentralen Charakter dieser Repräsentation und der Beherrschung der entsprechenden Kulturtechnik nicht ins Auge gefasst zu haben. Und die mangelnde Fähigkeit, Geschriebenes angemessen verstehen zu können, gereicht geradezu zur nationalen Schande, wie man an den heftigen Reaktionen auf die verschiedenen PISA -Studien deutlich sehen kann. 5 Wie gut man sprechen kann - auch rhetorische Geschicklichkeit - und Gehörtes angemessen umsetzen kann, das steht im Vergleich dazu deutlich im Schatten. Ohne dass das dem naiven Nutzer häufig so recht bewusst wäre, ist ohnehin viel unklarer, wie ein angemessener mündlicher Standard überhaupt aussehen sollte. 6 Denn wenn man nicht herausgehobene und eher an der schriftlichen Vorlage orientierte Situationen als den Maßstab für Normgerechtigkeit nimmt, ist jedenfalls klar, dass Merkmale struktureller Mündlichkeit in einem gesprochenen Standard prinzipiell kein Mangel sein sollten. Nun hat aber das Deutsche aufgrund seiner historischen Entstehung und der damit zusammenhängenden oben kurz schon erwähnten plurizentrischen Struktur 3 Vgl. dazu Eichinger (2001). 4 Vgl. Ehrlich (2008). 5 Wobei nicht ganz so klar ist, was hier eigentlich gemessen wird, vgl. den „Text“ in Pisa- Konsortium (2007, S. 395). 6 Dieser Frage wird am IDS derzeit auf der Basis einer Erhebung des aktuellen Gebrauchs nachgegangen; vgl. Knöbl et al. (2007), Berend (2005). <?page no="15"?> Deutsch als europäische Sprache 15 hier ein ganz spezifisches Problem zu lösen. Im Grenzbereich von Standard und Substandard treffen zwei Ansprüche aufeinander, die nur schwer miteinander vereinbar sind. Zum einen soll dem Gesprochenen die Natürlichkeit dieses Mediums eignen, zum anderen sollen sich die Sprecher an eine Norm annähern, die historisch auf einem schriftsprachlichen Kompromiss beruht, der prinzipiell dem gesprochenen Alltag eher ferner steht. Das ist vor allem für den historisch „hochdeutschen“ Süden ein Problem, da hier keine echte Grenze hin zu Varianten traditioneller - regional basierter - Mündlichkeit besteht. So ist die Annäherung an einen neutralen Standard nicht problemlos zu erreichen. Und diese Form erreichen viele - vor allem ältere - Sprecher des Deutschen, die aus diesem Gebiet stammen, auch wenn sie sich stark bemühen, nur annäherungsweise. Im nördlichen Teil des deutschen Sprachgebiets wird die Lage in dieser Hinsicht einfacher oder komplizierter. Das hängt davon ab, wie man die Bedeutung des Niederdeutschen einschätzt, dessen Status nicht so ganz klar ist. 7 Diese eher pragmatische Definition einer sprachlich mehrschichtigen Identität könnte dann schon fast europäisch sein. Sie hat, weil sie sich auch auf entsprechende Reste deutschsprachiger Minderheiten in Mittel- und Osteuropa anwenden ließe, z.B. Claude Hagège zu dem Modell veranlasst, Deutsch werde die eher östliche Regionalsprache in Europa, Französisch eher die westliche, und Englisch liege darüber. Wie weit diese „europapolitische“ Positionierung des Deutschen als europäische Regionalsprache die sprachlich fundierte Identität allzu vieler Menschen prägt, die in ihrem Alltag Deutsch sprechen, ist nicht so eindeutig zu sagen. Allerdings hat sie zweifellos bei der Frage der „Rückwanderung“ der Bewohner historischer deutscher Außensiedlungen und Sprachinseln z.B. aus Rumänien und Russland eine nicht unwichtige Rolle gespielt. Als diese Frage nach der politischen Wende zu Beginn der neunziger Jahre plötzlich und unerwartet akut wurde, ergab das nicht nur ideologische, sondern auch rechtlich relevante Probleme, die mit dem traditionellen Nationalitätenrecht, das in den deutschsprachigen Staaten im Unterschied zu den östlicheren Rechtstraditionen nicht vom staatsbezogenen Recht getrennt ist, nur sehr schwer in den Griff zu bekommen waren und eigentlich eines europäischen Blicks bedurft hätten. 8 Ohne mich auf die schwierige Diskussion dieser Fragen einlassen zu wollen, scheint jedenfalls die europäische Ebene eine, die geeignet erscheint, diese Fragen und sprachlichen Überlappungen angemessen zu diskutieren. 7 In der Darstellung von eurominority.org wird das Niederdeutsche z.B. als „discuted language variety“ geführt. 8 Vielleicht hilft hier der Rückblick auf donaumonarchische Verhältnisse; vgl. dazu den Beitrag von Goebl (in diesem Band). <?page no="16"?> Ludwig M. Eichinger 16 1.2 Welches Europa? Wenn der Verweis auf die europäische Ebene nicht nur eine Art Ausrede sein soll, gibt es zumindest eine dringende Frage zu klären. Wo ist und wo endet Europa? Denn Europa kann je nach Fragestellung eine ganz unterschiedliche Erstreckung haben. Konkret heißt das vor allem: wie weit nach Osten reicht unser Gebiet? Haben Darstellungen recht, die, wie etwa in einer repräsentativen Kartendarstellung, 9 das Türkeitürkische in der Türkei ausschließen, aber Türkisch in Sprachinseln (in Bulgarien) anerkennen, und andererseits bis zum Baskirischen ausgreifen? Bei einer ähnlichen Diskussion in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz 10 reichten entsprechende Vorschläge für eine Begrenzung im Wesentlichen von „Europa ist die EU (+ Schweiz, evtl. + Norwegen)“ bis zur üblichen geografischen Festlegung „Europa reicht in Russland bis zum Ural“. Konsensfähig erschien dort der anfangs wohl nur halb ernst gemeinte Beitrag eines musikwissenschaftlichen Kollegen, dass Europa dort sei, wo mehrstimmige Musik in der Form von Oper originär zu Hause sei. Wie immer das sei, es ist immerhin ein Hinweis darauf, dass es ja für das Thema von Sprache und Identität, aber auch von Macht und Sprache nicht hinreicht, zu sagen, alle Sprachen, die man auf einer Karte dieses oder jenes Europas eintragen könnte, seien europäische Sprachen und das Deutsche auch. Vielmehr sind auch die zahlenmäßig größeren europäischen Sprachen auf ihre eigene Weise und in unterschiedlichem Ausmaß europäisch. Wenn man sich zu diesem Zweck ansieht, wie sich die europäischen Sprachen im Weltmaßstab positionieren, sieht man, dass mit Spanisch, Englisch, Portugiesisch und Russisch vier europäische Sprachen größenmäßig deutlich vor dem Deutschen liegen. Man bemerkt aber auf den zweiten Blick auch, dass die Höhe der Muttersprachler-Zahlen für diese Sprachen nicht durch ihre Vertretung im europäischen Raum zu erklären ist. Besonders groß sind die Diskrepanzen bei den beiden iberischen Sprachen und beim Englischen. 11 So gesehen ist Deutsch von den zahlenmäßig großen europäischen Sprachen diejenige, deren Kern am eindeutigsten in Europa liegt, so dass bei ihr auch die Einbindung in die europäischen Zusammenhänge die höchste Bedeutung hat. 9 An doch repräsentativer Stelle: eurominority.org ; zu den Befunden vgl. Haarmann (1999). 10 Im Anschluss an Wittinger (2007). 11 Man geht in etwa von den folgenden Zahlen für die muttersprachliche europäische Basis aus: Spanisch 30 Mio., Englisch 59 Mio., Französisch 55 Mio., Portugiesisch 10 Mio.; die Zahl für das Russische ist etwas unklar, sie liegt wohl etwas über der für das Deutsche (vgl. Blühdorn 2001, S. 13). <?page no="17"?> Deutsch als europäische Sprache 17 Nr. Sprache Muttersprachler Zweitsprecher Datum 1 Mandarin 874 185 1999 2 Hindi 366 121 1999 3 Spanisch 358 95 1999 4 Englisch 341 167 1999 5 Bengali 207 4 1999 6 Portugiesisch 176 15 1999 7 Russisch 167 110 1999 8 Arabisch 150 50 1989 9 Japanisch 125 1 1999 10 Deutsch 100 28 1999 11 Koreanisch 78 - 1999 12 Französisch 77 51 1999 13 Wu 77 - 1984 14 Javanisch 76 - 1999 15 Yue 71 - 1999 16 Telugu 70 5 1999 17 Marathi 68 3 1997 18 Vietnamesisch 68 - 1999 Abb. 1: Sprachen nach Sprecherzahlen (in Mill., nach Ethnologue, www.ethnologue.com ) 12 Die Zahlen aus den Eurobarometererhebungen, die vom Ende des Jahres 2005 stammen, bilden diese Verhältnisse in prozentualen Relationen ab - und erweitern die Zahlen für die muttersprachlichen Sprecher um die der Lerner der jeweiligen Sprachen in EU-Europa. Vor allem ein Blick auf den Muttersprachleranteil zeigt die deutliche Differenz zwischen innereuropäischer und außereuropäischer Vertretung. Man kann sicher inzwischen darüber streiten, ob, in welchem Ausmaß und ggf. wie lange noch man davon ausgehen kann, dass das sprachliche und kulturelle Zentrum für die außer dem Deutschen genannten Sprachen in Europa liegt bzw. in ihrer europäischen Vertretung die relevante und prägende Fundierung hat. Das gilt ganz deutlich zumindest für das Englische, in abnehmendem Maße auch für die romanischen Sprachen. 13 Dem absoluten Verteilungsbild entsprechen die dokumentierten Präferenzen des Fremdsprachenlernens, die in dieser Form von der relativen internen 12 Vgl. auch Blühdorn (2001, S. 11ff.). 13 Frankreich, Spanien und Portugal versuchen, dem über die Tätigkeit ihrer Akademien Rechnung zu tragen. <?page no="18"?> Ludwig M. Eichinger 18 Abb. 2: Die meistgesprochenen Sprachen in der EU (2006) (Europäische Kommission 2006, S. 4) Nützlichkeit des Deutschen zeugen, bzw. von der Einschätzung, sie sei gegeben. Auch das belegen übrigens die Daten des Eurobarometers, bei denen auf die Frage, warum man diese Sprachen lerne, für das Deutsche und das Französische geantwortet wird, weil diese Sprachen einem beruflich nützlich sein könnten, für das Spanische, weil man es im Urlaub brauchen könne. 2. Mittendrin Im zweiten Punkt dieses Beitrags wird der Frage nachgegangen, wie sich der europäische Charakter des Deutschen, seine spezifische Art, eine europäische Sprache zu sein, in seiner Struktur niederschlägt bzw. wiederfindet. Dass das Deutsche eingerahmt zwischen einer ganzen Reihe anderer Sprachen liegt, auch zwischen genetisch mehr oder minder weit verwandten, vor allem zwischen den romanischen und den slawischen Sprachen, kann man, wenn man will, auch dem strukturellen Bild unserer Sprache ansehen. 14 Das Deutsche liegt, um ein normalerweise als charakteristisch geltendes Merkmal anzuführen, was die Ausstattung mit flexivischen Merkmalen angeht, irgendwie in der Mitte zwischen in dieser Hinsicht „sparsamen“ Sprachen wie Französisch und Englisch und den in dieser Hinsicht auf jeden Fall üppiger ausgestatteten slawischen Sprachen. 15 Und so hat sich das Deutsche auch in dieser Hinsicht 14 Die verwandten Nachbarn des Küstenwestgermanischen bieten in dieser Hinsicht eher strukturelle Bestätigung als Differenzerfahrung. 15 Dass der in diesem Zusammenhang oft geschriebene Satz, das Deutsche habe sich historisch von einer analytischen zu einer synthetischen Sprache gewandelt, zumindest eine starke Verkürzung ist, hat Wolfgang Ullrich Wurzel (1996) deutlich gezeigt. <?page no="19"?> Deutsch als europäische Sprache 19 häufig einen Platz gesucht, der in der Mitte liegt. Dass das faktisch ganz Unterschiedliches heißen mag, sei an einigen Beispielen demonstriert, die uns ein Blick in den „World Atlas of Language Structures ( WALS )“ 16 liefert. 2.1 Überraschend ähnlich Manchmal heißt das bloß, dass das Deutsche im Vergleich mit den anderen beiden traditionellen großen Sprachen seiner Nachbarschaft, dem Englischen, mit dem es ja verwandt ist, und dem Französischen, an dessen feste Grenze das Deutsche stößt, seit wir es kennen, gar nicht auffällt, während dann die sonstige Nachbarschaft ein anderes Gepräge zeigt. Als ein Beispiel dafür könnte man die Daten nehmen, in denen das Verhältnis von Konsonantenzu Vokalphonemen in den Sprachen der Welt verglichen werden. 17 Wenn die Erhebung hier auch bedauerliche Lücken zeigt, 18 immerhin kann man sehen, dass das Englische, das Französische und das Deutsche relativ wenige Konsonantenphoneme im Verhältnis zu Vokalphonemen haben, während in den anderen benachbarten Sprachen durchschnittlich (Spanisch, Katalanisch, Bretonisch, Lettisch, Ungarisch, Rumänisch, Bulgarisch, Albanisch, Griechisch), überdurchschnittlich (Baskisch, Gälisch, Rätoromanisch, Litauisch) oder sehr viel (Polnisch, Samisch, Russisch) Konsonanten pro Vokal verzeichnet werden. Logischerweise hat das sowohl mit der Menge der Konsonanten wie mit der der Vokale zu tun - so leistet sich das Französische nasale Vokale, das Deutsche ein Set von gespannten/ langen und ungespannten/ kurzen. Wenn auch klar ist, dass sich diese Gemeinsamkeiten auf einem niedrigen Niveau auf die Systemebene beziehen, und die Stereotypen über solche Verteilungen auf die Gebrauchsebene, ist es aber vielleicht dennoch überraschend, dass das in der Verwendung immer als durch unaussprechbare Konsonantenhäufung gekennzeichnete und so auch karikierte Deutsche hier in die niedrigste Kategorie fällt. Das hat, wie weitere Daten zeigen, auch mit der relativen Unauffälligkeit des Phoneminventars dieser Sprachen im weltweiten Vergleich zu tun. 2.2 Der europäische Normalfall Wenn man in der Mitte liegt, ist es andererseits gar nicht unplausibel, dass man in mancherlei Hinsicht sich dem Normalfall der Region angleicht, der man zugehört. Das betrifft ganz deutlich die Frage, welche Subkategorisie- 16 Die Karten aus dem WALS , auf die im Folgenden eingegangen wird, finden sich auch auf der beigefügten CD im Verzeichnis „Eichinger“. 17 Vgl. die entsprechenden Daten in Karte 3 des WALS . 18 Gerade auch im für uns relevanten ostmitteleuropäischen Raum. <?page no="20"?> Ludwig M. Eichinger 20 rungstiefe für grammatische Kategorisierungen gewählt wird. Deutsch liegt hier eindeutig im großräumigen Trend in seiner Umgebung (bis hin zum Russischen). Konkret heißt das, dass an den Rändern des üblichen Systems grammatischer Kategorien die mit standardisierten grammatischen Mitteln erreichbare Differenzierungstiefe auf einem mittleren Maß gehalten wird. Wenn der sprachliche Differenzierungsbedarf darüber hinaus geht, wird an dieser Stelle die genaue Bedeutung bestimmter Beziehungselemente dem Kontext überlassen. So nutzt die durchschnittliche europäische Sprache eine einzige Form dazu, um in Phrasen im Satz die Beziehungen des „Mittels“ und des „Begleitumstandes“ zu kodieren. 19 Dementsprechend wird im Deutschen - wie entsprechend in den romanischen Sprachen und im Englischen und den anderen germanischen Sprachen - die Verbindung mit der Präposition mit in beiden Fällen genutzt. Ob ich mit einem Hammer einen Nagel einschlage oder mit meiner Frau in die Stadt gehe, bleibt sich in dieser Hinsicht gleich und formal ununterschieden. 20 Oder, wie es in der IDS -Grammatik über die „Modifikatoren, die weitere Ereignisdimensionen einführen“, heißt: Zu dieser Gruppe zählen wir die traditionell als „instrumental“ und „komitativ“ bezeichneten Adverbialia. Diesen gemeinsam ist, dass durch sie das „Mittel“ bzw. der „Begleiter“ als zusätzliche Ereignisbeteiligten genannt werden. Die unterschiedlichen Mittel bzw. Begleiter, die diesen Ereignisbeteiligten entsprechen, ergeben sich allerdings nicht aus der Konstruktion oder der Ereignisstruktur selbst, sondern aus den Wortbedeutungen und Verwendungskontexten. (Zifonun et al. 2007, S. 1200). Allerdings gehört diese eurasische Gruppe, wie die Zahlen in der Legende zeigen, zur kleineren Gruppe, während die insgesamt dominante Differenzierungsgruppe, in der also unterschiedliche Mittel für diese beiden Funktionen genutzt werden, weltweit die Mehrheit darstellt - und dieser etwa auch schon das Polnische zugehört. 2.3 West-Ost ... Für großräumigere Kompromisse kann sich das Deutsche prinzipiell an zwei Partnern orientieren, an die es sich anlehnen könnte. Man kann sich entweder an den analytischeren Tendenzen der benachbarten romanischen Sprachen des Westens (d.h. mit dem Französischen) oder an den synthetischeren der slawi- 19 In den gängigen grammatischen Termini: instrumentale und konkomitative Relation; zu den Daten vgl. Karte 52 des WALS . 20 Harald Weinrich hat daher diese beiden Verwendungen des Junktors mit unter dem Merkmal < ERGÄNZUNG > zusammengefasst und beschreibt eine Reihe weiterer Verwendungen; siehe Weinrich (1993, S. 653-655). <?page no="21"?> Deutsch als europäische Sprache 21 schen Nachbarn im Osten orientieren. Deutlich zeigen sich die erstgenannte Option der Orientierung am Westen und eine entsprechende Abgrenzung gegen den Osten am Beispiel eines eigenständigen bestimmten Artikels. 21 Hier verläuft die Grenze hin zu den slawischen Sprachen, der germanisch-romanische Westen ist Artikelland. 22 Auch wenn erkennbar ist, dass sich innerhalb des hier apostrophierten Westens noch deutliche Unterschiede verbergen, ist die grundsätzliche Unterscheidung zu den östlichen Nachbarn hin doch schlagend. 23 2.4 ... und Ost-West Das Deutsche hat aber auch die Möglichkeit, das heutzutage eher dem flexivischen Osten zuzuordnende Inventar an grammatischer Technik zu nutzen, und tut es logischerweise auch. Man kann darüber räsonieren, inwieweit die funktionalen Verdeutlichungsbemühungen, die mit der Konstituierung des Deutschen als Druck- und Schriftsprache zu tun haben, hierbei eine Rolle gespielt haben. 24 Hierher gehört der bis an die Grenzen der Romania reichende Konsens, attributive Adjektive vor die entsprechenden Substantive zu stellen. 25 Das Deutsche kennzeichnet dann noch dazu diese Verwendung des Adjektivs und seinen Raum links vom Nomen von Artikel bis Substantiv durch flexivische Mittel. 26 Es entwickelt das System des Zusammenwirkens von Artikel- 21 In all den Fällen, die wir im Weiteren diskutieren, geht es um die weiträumigere Nachbarschaft des Deutschen, aber eben nur um die Nachbarschaft. 22 Die Daten finden sich in Karte 37 des WALS . 23 So ist für das Deutsche schon die Formulierung der Kategorie nicht ganz glücklich. Der deutsche bestimmte Artikel in der Form „der, die, das“ ist durchaus auch als Demonstrativum zu verwenden. Insgesamt bietet das Bild des Deutschen einige bemerkenswerte Punkte und mögliche Alleinstellungsmerkmale; die wesentlichen Punkte finden sich übersichtlich zusammengestellt bei Eroms (2000, S. 256-257). Zudem wäre natürlich zu diskutieren, was es bedeutet, dass hier in den skandinavischen Sprachen Affixe genutzt werden. Bedauerlicherweise generalisiert der WALS gerade im Hinblick auf die europäischen Verhältnisse häufig in nicht ganz leicht nachvollziehbarer Weise. 24 Ganz offenkundig ist die Resystematisierung der substantivischen Pluralmarker diesem Tatbestand ebenso geschuldet, wie die genaue Ausgestaltung und das Aufrechterhalten der Differenzierung der Kategorie Person in der Verbalflexion. Beide Systemteile waren typische Stellen, wo die „Abschleifungen“ in spätmittelhochdeutscher Zeit deutlich in eine andere Richtung gewiesen hatten. 25 Siehe Karte 87 des WALS . 26 Und differenziert so deutlich zwischen zwei Verwendungsräumen des Adjektivs, nämlich den Raum links vom Nomen, der bis auf ganz marginale Fälle (ein rosa Kleid; ? ein klasses Auto) der flektierten attributiven Form vorbehalten ist, während die prädikatsbezogenen Verwendungen im Raum des Satzes nur die unflektierte Form kennen. <?page no="22"?> Ludwig M. Eichinger 22 und Adjektivflexion, das als Monoflexion bekannt ist (der brave Mann; ein braver Mann; guter Wein), während sich das Englische durch die problemlose und systematische Nachstellung von Partizipien (vgl. in Deutschland gebrautes Bier gegen beer brewed in Germany) zu einem gewissen Ausmaß dem westlichen Typ annähert. 27 2.5 Der Platz in der Mitte Es ist eigentlich nur logisch - und hat sich bei der Diskussion der Artikelfragen eigentlich schon angedeutet -, dass in diesem Vergleich das Deutsche dann auch eine Reihe von Erscheinungen zeigt, die als „Alleinstellungsmerkmale“ gelten dürfen. 28 Die für das Deutsche als zentral und charakteristisch angesehenen Merkmale der Wortstellung sind vielleicht das klassischste Beispiel dafür. In einer flächigen Verbreitung des SVO -Typs 29 ist das Deutsche nach Auskunft der Karte dadurch ausgezeichnet, dass es keine dominante Wortstellung kenne. Das ist die leichte und daher nur die halbe Wahrheit: tatsächlich ist es so, dass das Deutsche Merkmale des SVO - und des SOV -Typs miteinander kombiniert. 30 Das Finitum steht ja im Aussagehauptsatz an zweiter Stelle (und das Subjekt ist eine der Normalbesetzungen der ersten Stelle, die andere sind temporale Bestimmungen); zu diesem SVO -Typ passt auch die Stellung von Adverbialia. Im Nebensatz ist aber der SOV -Typ repräsentiert, dem auch die Reihenfolge der Objekte und sonstigen Ergänzungen in allen Satztypen entspricht. Wenn zweiteilige Prädikate auftauchen (Tempora, Passiv, Modalverbfügungen), sind gleichzeitig beide Typen realisiert. Diese Option wird durch den relativ hohen Grad an nominaler Flexion ermöglicht, der auch erlaubt, zu markieren, wenn ein Objekt an die erste Stelle im Satz tritt. Generell lässt sich sagen, dass das Deutsche Elemente beider Serialisierungsrichtungen systematisch zur Subgliederung nutzt, wobei für die regierten Satzglieder - und daher die augenfälligste grammatische Ebene - der Aufbau vom rechts stehenden Verb aus die charakteristische Struktur darstellt. In Sonderheit dient der Wechsel der Determinationsrichtungen der Anpassung an die Beidseitig- 27 Für die Konsequenzen, die solche Eigenheiten für die Kodierung von Komplexität in modernen Texten haben, siehe Eichinger (2003). 28 Wie oben schon angedeutet, gehen in nicht ganz seltenen Fällen noch das Niederländische und Friesische mit dem Deutschen. 29 Mit VSO bei den keltischen Kleinsprachen und dem in diesem regionalen Kontext singulären SOV -Muster des Sorbischen; vgl. Karte 81 des WALS . 30 Zur historischen Festigung dieses Musters siehe Eichinger (1995); vgl. Haftka (1996); zum heutigen Funktionieren die Ausführungen von Ursula Hoberg in der IDS -Grammatik (siehe Zifonun et al. 1997, S. 1495ff.). <?page no="23"?> Deutsch als europäische Sprache 23 keit von Distanz- und Klammerstrukturen, was insbesondere auch die Ablaufregularitäten im sogenannten Mittelfeld prägt. 31 Ein anderes Beispiel stellt die Verteilung der Typen von Indefinitpronomina dar, wo das Deutsche beide anzunehmenden Arten hat, nämlich welche, die Fragepronomina ähneln (ist da wer), aber auch Pronomina, die auf generische Nomina zurückgehen (ist da jemand). Dabei ist Letzteres der Typ der dem Deutschen westlich und südlich benachbarten Romania sowie des Englischen, die slawischen Nachbarn im Osten folgen durchwegs dem Pronominaltyp. 32 2.6 Wenn man schon Flexion hat Es hat sich ja schon gezeigt, dass die im westeuropäischen Vergleich eher höhere Zahl an flexivischen Markierungen die relativ komplexe Handhabung der Wortstellung ermöglicht, die dem Deutschen eine signifikante Zwischenstellung einräumt. Auch hier kann man im Vergleich sehen, dass das Deutsche einen zwischen Ost und West stehenden Zwischentyp repräsentiert. Das führt etwa im Fall der Genera dazu, dass gegenüber der in der Romania gängigen Zweierzahl als das Normalminimum für unseren Raum Europas die eher alteuropäische Tradition der drei Genera aufrechterhalten wird und als Marker für die Wahl bestimmter Flexionsklassen beim Substantiv eine weitaus größere Rolle spielt als im Englischen, das die Unterscheidung im Wesentlichen nur im pronominalen System kennt. Man kann sich daher auch fragen, ob es angemessen ist, wie das in dem zitierten Atlas geschieht, das Genus-System des Deutschen Sexus-basiert zu nennen. 33 2.7 Aber nicht übertreiben! Was hier bei den Genera und auch schon bei den Wendungen der Wortstellung wie eine mutwillige Komplikation aussieht, kann so insgesamt als der Versuch verstanden werden, im Hinblick auf die im Vergleich der im europäischen Raum gängigen Kodierungsgewohnheiten eine eigene Lösung zu wählen, die beide typologischen Optionen nutzt, die mehr Reihenfolge-basierte und syntaktische des Westens und die weniger Reihenfolge-orientierte und flexivische Option, die der Osten präferiert. Das führt im zentralen Bereich der syntaktischen Relationen im Satz dazu, dass bei der in der Nominalgruppe 31 Vgl. Zifonun et al. (1997, S. 1675ff.), Eichinger (1991; 1995), auch Eroms (2000, S. 323ff.). 32 Nach Karte 46 des WALS . 33 Daten nach Karte 30 des WALS - im Gegensatz zu den grammatisch basierten Systemen, die sich vor allem in Afrika finden; zu einer anderen Positionierung des Deutschen vgl. Leiss (1994 und 1997); siehe auch Hoberg (2004, S. 7-9). <?page no="24"?> Ludwig M. Eichinger 24 ausgedrückten Markierung dieser Relation Kasus nach wie vor eine wichtige Rolle spielt (etwa auch in der Dativ-Akkusativ-Differenz), dass allerdings bei merklicher semantischer Interpretierbarkeit die präpositionale Junktion gewählt wird; mit dem kritischen Kipppunkt in den regierten Präpositionalobjekten. Und so steht das Deutsche mit seinen vier Kasus ziemlich in der Mitte zwischen den doch recht weit entfernten Modellen gänzlich ohne morphologische Kasus, die der Westen hat, und den sechs Kasus, die der slawische Osten als normales Paradigma kennt. 34 Die Kompromissrolle wird noch deutlicher, wenn man in Betracht zieht, dass der Genitiv viel von dem verloren hat, was einen Kasus ausmacht, so dass das Deutsche so etwas wie dreieinhalb Kasus hat. 35 Dass auch diese Information (eben: außer beim Genitiv Maskulin/ Neutrum) an die Artikel bzw. Adjektive links vom Nomen ausgelagert wird, teilt im Prinzip externe Kategorisierungen (wie Kasus), die vor allem über Verben und Präpositionen zugewiesen werden, stärker der gesamten Nominalphrase zu, während interne Kategorisierungen wie Plural (der dann typischerweise tendenziell mit dem Genus der Lexeme zusammenhängt) am Substantiv selber markiert werden - auch das eine Eigenheit des Deutschen. 36 Genug der Beispiele, die zeigen, dass das Deutsche - auch in seinen vermeintlichen Eigenheiten - in einer seiner Lage adäquaten Weise aus den europäischen Optionen für eine Grammatik schöpft. Was ich angedeutet habe, sind allenfalls bestimmte Trends: die darin versteckte abstraktere Einsicht ist, dass eine angemessene Beschreibung des Deutschen diesen Blick braucht. Das IDS stellt sich diesem Postulat: Eine Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich für eine Sprache mit einer europäischen Grammatik. 3. Auf Augenhöhe Zum Ausklang zwei Beispiele, die zeigen, welchen Weg das Deutsche innerhalb zweier Jahrhunderte genommen hat, um im volkssprachlichen Europa eine gleichwertige und angemessene Rolle zu übernehmen. 34 Siehe Karte 49 des WALS . 35 Im „besten“ Fall. Das sind in dieser Hinsicht der der starken Maskulina und der Plural (der ja kein Genus kennt). Bei den Feminina am anderen Ende kommen wir mit zwei Kasus aus; das Neutrum hat nach unserer Rechnung zweieinhalb Kasus, der Plural zweieinhalb bis dreieinhalb. 36 Zur flexivischen Struktur der deutschen Nominalphrase in systematischer dependenzieller Sicht vgl. Eichinger/ Plewnia (2006). <?page no="25"?> Deutsch als europäische Sprache 25 Beispiel 1: Nach dem ihrer viel von der Fruchtbringenden Geselschaft/ was dero eigentlicher Zweck/ auch wie und worzu sie aufgerichtet/ und angestellet/ bericht zu haben begehren; Als ist gut befunden worden/ nachfolgendes kürtzlich/ zu iedes begerenden unterricht/ zu verfassen. Ist also zuwissen/ das im Jahre 1617. den 24. Augustmonats bey einer vornemen / wiewol traurigen Fürstlicher und Adelicher Personen zusammenkunfft / zu etwas ergetzung vorgangenen leides / und anreitzung der löblichen Jugend / zu allerley hohen Tugenden / unterschiedenen Academien / die in frembden Landen / beydes zu erhaltung guten vertrauens / erbauung wolanständiger Sitten / als nützlicher ausübung jedes Volckes Landes=Sprachen / aufgerichtet: erwenung geschehen: Darbey aber ferner erwogen worden / weil unsere weitgeehrete hochdeutsche Muttersprache so wol an alter / schönen und zierlichen Reden / als auch am überflusse eigentlicher und wolbedeutlicher Wort / so jede sachen besser/ als die frembden recht zuverstehen geben können / einen nicht geringen vorzug hat: Das ebener gestalt darauf möchte gedacht werden / wie eine sothane Gesellschaft zu erwecken und anzustellen / darinnen man in gut rein deutsch reden / schreiben / auch anders / so bey dergleichen zusammensetzung und erhebung der Muttersprache / (darzu ieder von Natur verpflichtet) gebräuchlich und dienlich / vornemen möchte. (Aus: Anhalt-Köthen, Fürst Ludwig v. (1644 [1971]): Der Fruchtbringenden Geselschaft Nahmen / Vorhaben / Gemählde und Wörter. Franckfurt am Mayn. [München: Kösel (Reprogr. Nachdruck)], S. ii.) Dieses Beispiel zeugt von dem Wunsch um eine angemessene nationale Form der deutschen Sprache ebenso wie von den Schwierigkeiten, sie zu erreichen. Der Text, der uns erzählt, wie man darauf gekommen sei, im Jahr 1617 nach gutem europäischem Vorbild etwas für die deutsche Sprache zu tun, zeigt in seinen Reflexen des Kanzlei-Stils deutliche Spuren der abperlenden Struktur traditionellen Schreibens. Italienische und niederländische Vorbilder sind es, denen man nacheifert. Mit der sprachlichen Identitätsfindung, die der der Nachbarn gleichen soll, ist auch eine moralische Reinigung verbunden. Und man sieht übrigens, dass eines der Ziele auf diesem Weg schon ganz gut erreicht scheint: die Reinigkeit des Deutschen ist recht gut gewahrt, außer einem Bildungswort wie Academien findet sich nur deutscher Wortschatz. Aber die Syntax lässt uns noch stark im Stich. Man kann für diesen Text sagen, dass er Traditionen vergangener Mündlichkeit als Signale für Gehobenheit ver- <?page no="26"?> Ludwig M. Eichinger 26 wendet. Das sieht man schön, wenn man das einfache syntaktische Minimum ansieht, das in diesem Text mit rhetorischen Mitteln der Auffüllung versehen worden ist. Beispiel 1a: Nach dem ihrer viel von der Fruchtbringenden Geselschaft Bericht zu haben begehren, als ist gut befunden worden nachfolgendes zu verfassen. Ist zu wissen: das unterschiedenen Academien: erwenung geschehen: darbey erwogen, dass darauf möchte gedacht werden wie eine Gesellschaft anzustellen, darinnen man deutsch reden, schreiben auch anders vornemen möchte. Die Komplexität ergibt sich dadurch, dass im Vergleich zur modernen Schriftlichkeit unvollständige Konstruktionen gewählt werden, die davon leben, dass immer noch einmal hinten etwas angehängt wird. 37 So kann eine breitere Öffentlichkeit nicht erreicht werden, hier ist einiges zu tun, bis wir zu dem folgenden Resümee kommen können. Beispiel 2: Wir geben gerne zu, daß jeder Deutsche seine vollkommene Ausbildung innerhalb unserer Sprache ohne irgend eine fremde Beihülfe hinreichend gewinnen könne. Dieß verdanken wir einzelnen vielseitigen Bemühungen des vergangenen Jahrhunderts, welche nunmehr der ganzen Nation, besonders aber einem gewissen Mittelstand zu Gute gehn, wie ich ihn im besten Sinne des Wortes nennen möchte. Hiezu gehören die Bewohner kleiner Städte, deren Deutschland so viele wohlgelegene, wohlbestellte zählt: alle Beamten und Unterbeamten daselbst, Handelsleute, Fabricanten, vorzüglich Frauen und Töchter solcher Familien, auch Landgeistliche, in so fern sie Erzieher sind. Diese Personen sämmtlich, die sich zwar in beschränkten, aber doch wohlhäbigen, auch ein sittliches Behagen fördernden Verhältnissen befinden, alle können ihre Lebens= und Lehrbedürfniß innerhalb der Muttersprache befriedigen. (Aus: Goethe: „Die deutsche Sprache“ (1817); WA [Sophienausgabe] 41, 1, S. 115/ 116.) Das betrifft sowohl den Inhalt der beiden Textstücke, die sich ja beide auf den Zustand des Deutschen und seinen Gebrauch in der Gesellschaft beziehen, wie auf die sprachliche Form, die sie nutzen. Zwischen den beiden Texten 37 Zu einer genaueren Analyse siehe Eichinger (2006). <?page no="27"?> Deutsch als europäische Sprache 27 liegt auf jeden Fall das 18. Jahrhundert, in dessen zweiter Hälfte, aufbauend auf den grammatischen Arbeiten zwischen Justus Georg Schottel und Johann Christoph Gottsched, die deutsche Sprache und eine bildungsbürgerliche Diskurswelt sich als angemessene Partner fanden. Die Unübersichtlichkeit und auch Uneindeutigkeit der Signalisierung von Abhängigkeiten, wie sie unser erster Text in Übereinstimmung mit den Techniken des Kanzlei-Stils kennt, ist der geordneten Nutzung einer an den Konnektoren und der Verbstellung hängenden Hierarchisierung gewichen. Was auf diesem Wege geschehen ist, davon wird der nächste Beitrag dieses Bandes Kenntnis geben, hier mag es mit dem kurzen Ausblick genug sein. 4. Literatur Berend, Nina (2005): Regionale Gebrauchsstandards - Gibt es sie und wie kann man sie beschreiben? In: Eichinger, Ludwig M./ Kallmeyer, Werner (Hg.): Standardvariation. Wie viel Variation verträgt die deutsche Sprache? Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2004. Berlin/ New York, S. 143-170. Besch, Werner (2001): Territoriale Differenzierung. In: Fleischer, Wolfgang/ Helbig, Gerhard/ Lerchner, Gotthard (Hg.): Kleine Enzyklopädie Deutsche Sprache. Frankfurt a.M., S. 383-423. 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Mai übergibt Wolfgang Ratke oder Ratichius, wie er sich latinisierend nannte, in Frankfurt den Fürsten ein „Memorial“, also eine Denkschrift, in der er sich als kundig und fähig darstellt, „Anleitung“ zu geben, Wie die Ebraische, Grechische, Latinische vnd Andere sprachen mehr, Jn gahr kürtzer Zeit, so wol bey Alten Alß Jungen Leichtlich zu lernen vnd fortzupflantzen sein. Wie nicht Allein Jn hochteutscher, sondern Auch in Allen Andern Sprachen ein Schule Anzurichten, darinnen Alle Künste vnd Faculteten außführlich können gelernet vnd propagirt werden. Wie Jm gantzen Reich, ein einträchtige Sprach, ein einträchtige Regierung, vnd Endlich Auch ein einträchtige Religion, bequemlich ein zuführen, vnd friedlich zuerhalten sey. (Ratichius 1959, S. 101; siehe auch Verzeichnis „Wolf“ der beiliegenden CD ) Dieses „Memorial“ ist ein erstaunliches Dokument: Ein Pädagoge stellt eine Reihe von Forderungen; dabei aber vermeidet er explizit Ausdrücke des Forderns, sondern stellt sich als einen Experten hin, der weiß, wie das Geforderte durchzuführen wäre. So fordert er nahezu die allgemeine Schulpflicht, zumindest aber die Errichtung von Schulen, in denen „Alle Künste vnd Faculteten“ unterrichtet werden können. Wichtig ist dabei, dass die Sprachen im Mittelpunkt seines Interesses stehen. In all dem steht Ratichius in der Tradition Martin Luthers, der schon im Jahre 1524 in seiner Schrift ‘An die Ratherren aller Städte deutsches Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen’ (Luther 1899) die Errichtung von Schulen gefordert hatte. Luther beklagt zunächst den (Zu-)Stand der Bildung der Jugend: Ja weyll der fleyschliche hauffe sihet, das sie yhre söne, töchter und freunde nicht mehr sollen odder mügen ynn klöster und stift verstossen und aus dem hause und gutt weysen und auff fremde gütter setze, will niemand meher lasen kinder leren noch studiern. ‘Ja, sagen sie, Was soll man lernen lassen, so nicht 1) 2) 3) <?page no="32"?> Norbert Richard Wolf 32 Pfaffe, Münich und Nonnen werden sollen? Man las sie so mehr leren, damit sie sich erneren.’ (Luther 1899, S. 28) Gleichsam in einer Nebenbemerkung sei darauf hingewiesen, dass Luthers Klage sehr modern anmutet: Wozu eine Allgemeinbildung, wo es doch viel sinnvoller erscheint, das zu lernen, was einem das notwendige Einkommen sichert? - Wie dem auch sei, Luther formuliert geradezu Mitleid mit „der armen Jugend“ und meint dann: Denn es ist eyn ernste grosse sache, Da Christo und aller wellt viel anligt, das wyr dem jungen volck helffen und ratten. [...] Lieben herrn, mus man jerlich so viel wenden an büchsen, wege, stege, demme und der gleichen unzelichen stucke mehr, da mit eyne stad zeytlich fride und gemach habe, Warum sollt man nicht viel mehr doch auch so viel wenden an die dürftige arme jugent, das man eynen geschickten mann oder zween hielte zu schulmeystern. (ebd., S. 30) Großen Wert legt Luther auf den Unterricht in Sprachen, wobei er hier theologisch argumentiert: Die künste und sprachen, die uns on schaden, ja grösser schmuck, nutz, ehre und frumen sind beyde zur heyligen schrifft zuverstehen und welltlich regiment zu füren. (ebd., S. 36) Gott hat die Sprachen geschaffen, um ein Vehikel für die Bibel zu haben: Denn das konnen wir nicht leucken, das, wie wol das Euangelion alleyn durch den heyligen geyst ist komen und teglich kompt, so ists doch durch mittel der sprachen komen und hat auch dadurch zugenomen, mus auch da durch behallten werden. Denn gleich alls da Gott durch die Apostel wollt ynn alle wellt das Euangelion lassen komen, gab er die zungen dazu. (ebd., S. 37) Daraus folgt, dass Luther die drei ‘heiligen Sprachen’, Hebräisch, Griechisch und Latein, sehr hoch schätzt und die Meinung vertritt, dass diese Sprachen in den Schulen zu unterrichten seien: Und last uns das gesagt seyn, Das wyr das Euangelion nicht wol werden erhallten on die sprachen. Die sprachen sind die scheyden, darynn dis messer des geysts stickt. Sie sind der schreyn, darynnen man dis kleinod tregt. Sie sind das gefess, darynnen man disen tranck fasset. Sie sind die kemnot, darynnen dise speyse ligt. (ebd., S. 38) Luther geht es also um die Bibellektüre und die Fähigkeit, die reformatorischen Grundschriften zu lesen; aus diesem Grund liefert er eine Sprachtheologie. Achtundachtzig Jahre später argumentiert Ratichius schon etwas anders. In der „Erklerung“ zu seinen drei Forderungen heißt es: <?page no="33"?> „ein einträchtige Sprach, ein einträchtige Regierung [...]“ 33 Auch wenn er die drei klassischen Sprachen am Anfang seiner Denkschrift als erste nennt, ist die Bibellektüre nicht das erste Ziel dieses Unterrichts. Zwar empfiehlt er als Lektüre für den Unterricht des Hebräischen und des Griechischen noch das Alte und das Neue Testament, für das Lateinische hingegen die Komödien des Terenz bzw. für angehende Juristen die ‘Institutiones’ des Justinian. Deutsch, Hebräisch, Griechisch und Latein sind die vier ‘Hauptsprachen’: Dieß sein Also die vier vornehmste haubtsprachen, worauß Alle Andere mehrentheils herfliesen vnd Jhren vrsprung haben, welche für Allen Dingen müßen gelernet vnd Propagieret werden, [...]. (Ratichius 1959, S. 102) Auch solche Äußerungen stehen in der Tradition spätmittelalterlicher Sprachphilosophie. Die Schule der ‘Modisten’, die sich u.a. mit dem Namen des Thomas von Erfurt verbindet, nahm an, dass es eine Lingua universalis gebe, von der die Linguae particulares abgeleitet seien. Die Lingua universalis ist Latein; wenn man von einer ‘Grammatik’ spricht, dann meint man nur die lateinische Grammatik. Auf diese Weise wird auch theoretisch begründet, dass eine Grammatik des Deutschen der Kategorien aus der lateinischen Grammatik bedarf; etwas anderes war nicht denkbar. Ratichius bringt gerade auch in diesem Bereich grundlegende Neuerungen (wie wir noch sehen werden). Als erste Sprache, die in Schulen zu unterrichten ist, nennt Ratichius das Deutsche: Nu ist der Rechte gebrauch vnd lauff der Natur, das die Liebe Jugent, zum Ersten, Jhr angeborne Muttersprache, welche bey vns die teutsche Recht vnd fertig Lesen, schreiben vnd sprechen lerne. (ebd., S. 102) Ratichius weicht in den ausführlichen Erläuterungen zu seinen Forderungen, in seiner „Erklerung“ von der Reihenfolge seiner Postulate ab. Die Muttersprache, die dem „lauff der Natur“ entspringt und nicht der Güte Gottes, sollen die jungen Menschen normgerecht („Recht“) und im Besitze aller sprachlichen Fertigkeiten („fertig“) schriftlich und mündlich, produktiv und rezeptiv („Lesen, schreiben vnd sprechen“) beherrschen. Wichtig ist das ‘Memorial’ noch unter einem anderen Gesichtspunkt: Ratichius stellt eine politische Forderung, nämlich dass Jm gantzen Reich, ein einträchtige Sprach, ein einträchtige Regierung, vnd Endlich Auch ein einträchtige Religion, bequemlich ein zuführen, vnd friedlich zuerhalten sey. (ebd., S. 101) - - - <?page no="34"?> Norbert Richard Wolf 34 Ratichius fordert drei „einträchtige“ Institute, wobei ich hier Institut als rechtssprachlichen Begriff verstehe, der eine „durch gesetzlich verankertes Recht geschaffene Einrichtung“ (Duden 2000) bezeichnet (vgl. auch die Kontextbelege aus dem großen Duden-Wörterbuch: „das Institut des Eigentums, das Institut der Opposition“). Diese drei Institute sollen alle, wie gesagt, „einträchtig“ sein, also die Concordia „Jm gantzen Reich“ widerspiegeln. Auch wenn Ratichius zunächst nur vom „Reich“ spricht, formuliert er die für ihn fundamentalen Kriterien, die eine ‘Nation’ ausmachen. Das erste Institut, das Ratichius nennt, ist die Sprache, darauf folgen die Regierung, also die staatliche Organisation, und schließlich die Religion bzw. Konfession. Alle drei Institute sind zu seiner Zeit (noch) nicht einheitlich, und nur einheitliche Institute führen zu einer einheitlichen Nation. Ratichius weiß gleichzeitig, dass die Realität in vielem noch ganz anders ist als seine Idealvorstellung. Latein als Unterrichtssprache ist so eine Realität, weshalb er sich damit speziell auseinandersetzt. Generell stellt er fest: Hier steht [...] zubedencken, wie die Künste vnd Faculteten, An keine Sprachen, vnd hergegen die Sprachen An keine Künste oder Faculteten gebunden. So haben Auch die Lieben teutschen Jtziger Zeit [...] nicht Allein das liecht der Natur, sondern Auch das Euangelij, vnd die wahre erkentnuß Gottes, darzu mangelts Auch nicht An Büchern vnd gelarten Leuten, kan derhalben ein vollenkomne Schule, Jn hochteutscher Sprach sehr wol Angericht werden, wordürch die teutsch Sprach vnd Nation mercklich zu beßern vnd zu erheben stehet. (Ratichius 1959, S. 103) Hier fällt der Begriff der „Nation“, der an den vorausgehenden Begriff „die teutsch Sprach“ mit der Konjunktion „vnd“ gekoppelt ist. Die „Lieben teutschen“ haben einen Stand des Wissens und der Wissenschaft erreicht, der es erlaubt, die deutsche Sprache auch zur Sprache der Wissenschaft zu machen. Er geht dann auf die vier Fakultäten ein und legt dar, dass und inwiefern die deutsche Sprache als Wissenschaftssprache geeignet ist: Kan doch ein Philosophus Jn Grekischer vnd Latinischer Sprach seine Philosophiam Lehren vnd vorthetigen, Was soll Jhm den mangeln solchs Jn hochteutscher Sprache zuthun, wan nur die Vocabula Artium Jn derselbigen erfunden, die Künste ordentlicher weise darinnen beschrieben, vnde Jm gebrauch sein. (ebd.) Ähnliches wird über die weiteren Fakultäten gesagt. In diesen Äußerungen manifestiert sich nicht nur der Pädagoge, sondern auch der Grammatiker Ratichius, der der Sprachwissenschaft eine wichtige Aufgabe zuweist: Sie muss die Einheitssprache definieren und die Möglichkeiten, die nötigen Fachtermini, „die Vocabula Artium“, zu bilden. <?page no="35"?> „ein einträchtige Sprach, ein einträchtige Regierung [...]“ 35 Wir wissen nicht, wie die Fürsten auf die Vorschläge des Ratichius reagiert haben. Vermutlich wurde die Eingabe ähnlich behandelt wie vergleichbare Papiere von der heutigen Kultusministerkonferenz. Vermutlich waren seine Ideen ihrer Zeit zu weit voraus; schließlich äußerte er seine Gedanken gewissermaßen am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, der ja der schreckliche Höhepunkt des Konfessionalismus wurde. Dennoch ist es wichtig, sich gerade mit Ratichius zu befassen, denn er ist ein aufmerksamer und scharf denkender Pädagoge, der aus pädagogischen Notwendigkeiten heraus über Sprache und Sprachen reflektiert. In ihm kristallisieren sich früh Ideen, die man gemeinhin als Gedanken der Aufklärung kennt und erst wieder in der Aufklärung findet: Eine Nation braucht eine „einträchtige“ Sprache. Eine gute schulische Erziehung dient auch nationalen Interessen. Die Deutschen haben einen so hohen kulturellen und wissenschaftlichen Stand erreicht, dass die Nationalsprache als Kultur- und Wissenschaftssprache fungieren kann und soll. Die Grammatik einer Einzelsprache, hier des Deutschen, ist eine Universalgrammatik, aus der sich alle Sprachen herleiten lassen und die auf die Beschreibung jeder Einzelsprache anzuwenden ist. Auch wenn sich manches bei Ratichius aus mittelalterlicher, reformatorischer und humanistischer Tradition erklären lässt - die Forschung hat unterschiedliche und mannigfache Traditionsstränge herausgearbeitet 1 -, hat schon die Bezugnahme auf Luther gravierende Unterschiede und Neuansätze ergeben. Wie dem auch sei, im Jahre 1637 wird René Descartes in seinem ‘Discours de la méthode’ rechtfertigen, warum er auch in der Volkssprache, in diesem Fall auf Französisch schreibt: 2 Und wenn ich auf Französisch schreibe, in der Sprache meines Landes, statt auf Lateinisch, d.h. in der Sprache meiner Lehrer, so deswegen weil ich hoffe, daß diejenigen, die sich nur ihrer völlig reinen natürlichen Vernunft bedienen, meine Meinungen besser beurteilen werden als diejenigen, die nur an die alten Bücher glauben. Jürgen Trabant macht auf eine Reihe von signifikanten Oppositionen in diesem Zitat aufmerksam: 1 Vgl. Kordes (1999, S. 334ff.). 2 Zi t. nach Trabant (2006, S . 140). - - - - <?page no="36"?> Norbert Richard Wolf 36 Voraufklärung Aufklärung Latein Sprache meines Landes Lehrer Vernunft alte Bücher natürlich Auch Ratichius distanziert sich vom althergebrachten Unterschied, der auf „vielfaltigen Büchern“ (Ratichius 1959, S. 102) beruht; auch er fordert muttersprachlichen Unterricht aufgrund des ‘Laufs der Natur’. Ratichius hat zu seinen Lebzeiten kaum etwas veröffentlicht, dennoch hat er gewirkt. Er hat Einfluss auf die einflussreichen Grammatiker seiner Zeit, auf Christian Gueintz und auf Justus Georg Schottelius, der 1663 seine „Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HauptSprache“ (Schottelius 1663) herausbringt und darin als Programm formuliert: Die Hochteutsche Sprache aber / davon wir handelen und worauff dieses Buch zielet / ist nicht ein Dialectus eigentlich / sondern Lingua ipsa Germanica, sicut viri docti, sapientes & periti eam tandem receperunt et usurpant. Schottelius liefert also die Theorie einer Nationalsprache, der „Lingua ipsa Germanica“, obwohl diese in der Realität noch gar nicht existiert. Die Idee einer Universalgrammatik erlaubt es, die Grammatik einer idealen Sprache zu liefern. Gerade auch Schottelius definiert das Deutsche als eine Ur-Sprache oder eine Wurzelsprache wie die drei klassischen Sprachen auch; deshalb ist er bemüht, Verwandtschaften zwischen diesen Sprachen nachzuweisen; als die Einheitssprache einer Nation, die sich über die Dialekte erhebt sowie normiert, gepflegt und erforscht werden muss. Datenquelle für Schottelius ist der Sprachgebrauch der „viri docti, sapientes & periti eam tandem receperunt et usurpant“, also der „verbal gebildetste[n] Schicht“; denn „nur in diesem Sprachgebrauch sind die Sprachmittel so differenziert ausgebildet, daß sprachliche Kommunikation auf außersprachliche Kommunikationshilfen auch weitgehend verzichten kann“. 3 Bei Ratichius hatte es noch geheißen: In einer ieden Sprache mus ein gewisser autor [= eine sichere Autorität, N.R.W.] sein, darin der sprach Eigenschafft vnd die Grammatick gelehret wird [...] Der Autor in der Deutschen Sprach, ist das Deutsche Newe Testament Lutheri. (Ratichius 1959, S. 108) 3 Reiffenstein (1975, S. 131). - - <?page no="37"?> „ein einträchtige Sprach, ein einträchtige Regierung [...]“ 37 In diesem Punkt markiert Schottelius einen großen Fortschritt in Richtung Aufklärung: Wichtig ist, dass die sprachlichen Mittel möglichst weit ausdifferenziert erscheinen, damit die Sprache - gerade als Schriftsprache, denn nur so konnte das Deutsche eine Einheitssprache werden - situationsabstrakt vielen Situationen gerecht werde. Der schon erwähnte Christian Gueintz wurde im Jahre 1618 von Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen nach Köthen berufen, er sollte dort die Lehrmethoden des Ratichius einführen. Wiederum traute man vor allem einem Grammatiker zu, den Schulunterricht zu reformieren. Ludwig wird aber noch auf andere Weise sprachpflegerisch tätig: Er gründet im Jahre 1617 die ‘Fruchtbringende Gesellschaft’, die erste und wohl auch bedeutendste der so genannten Sprachgesellschaften. Ludwig gründete diese Gesellschaft nach dem Vorbild der italienischen Accademia della Crusca, die 1583 in Florenz gegründet worden war. Mit dieser „‘Akademie der Kleie’ [...] wollten die Florentiner Akademiker zum Ausdruck bringen, daß die Sprachkultur im wesentlichen darin besteht, die Kleie vom Mehl (lutherisch gesprochen: die Spreu vom Weizen) zu trennen“. 4 Die Fruchtbringende Gesellschaft ist in den Augen Harald Weinrichs „eine echte Sprachakademie im Sinne der Accademia della Crusca und der (späteren) Académie Française gewesen, doch hat sie aus verschiedenen Gründen das 17. Jahrhundert nicht überlebt“. 5 In den Statuten der Fruchtbringenden Gesellschaft (Fruchtbringende Gesellschaft 1985) ist zu lesen: Fürs ander / daß man die Hochdeutsche Sprache in jhrem rechten wesen und standt / ohne einmischung fremder ausländischer wort / auffs möglichste und thunlichste erhalte / und sich so wol der besten aussprache im reden / als der reinesten und deutlichsten art im schreiben und Reimen=dichten befleissige. Wohl aus puristischen Gründen vermied Ludwig für seine Gründung den Ausdruck Akademie und wählte „das durch und durch deutschstämmige Wort ‘Gesellschaft’“. 6 1635 wurde in Paris die Académie Française gegründet, deren Ziel und Aufgabe die „Vereinheitlichung und Pflege der französischen Sprache“ war und ist. Der Pflege der jeweiligen Sprache dienen Referenzwerke, vor allem (normative) Wörterbücher: 1612 Vocabulario degli Accademici della Crusca 1694 Dictionnaire de l'Académie 4 Weinrich (1988, S. 85). 5 Weinrich (1988, S. 86). 6 Weinrich (1988, S. 88). <?page no="38"?> Norbert Richard Wolf 38 1726 Diccionario de Autoridades (Real Academia Española) 1755 Samuel Johnson: Dictionary of the English Language Auch die Fruchtbringende Gesellschaft plante ein Wörterbuch, das jedoch nie zustande kam. „Aber [Kaspar] Stieler hat sein Wörterbuch noch 1691 - als die F[ruchtbringende] G[esellschaft] eigentlich nicht mehr bestand - unter seinem Gesellschaftsnamen Der Spate veröffentlicht, also als Gesellschaftsarbeit gelten lassen.“ 7 Samuel Johnson gibt als Ziel seines Wörterbuchs an: The chief intent of it is to preserve the purity and ascertain the meaning of our English idiom. 8 Hier wie in der Satzung der Fruchtbringenden Gesellschaft sowie auch von den beiden Akademien und anderweit wird eine Auffassung von Sprachreinheit formuliert, die „mehr als nur ‘rein von Fremdwörtern’“ meint. Es geht vielmehr um eine Normgerechtigkeit, Richtigkeit „im Sinne des Gebrauchs einer Standardsprache bzw. Leitvarietät“. 9 Die Sprachgesellschaften und auch die Akademien wollen in ihren Wörterbüchern und in der „Wörterarbeit“ 10 überhaupt weniger genialischen Wortschöpfern und Wortschöpfungen das Wort reden, sondern sind bestrebt, gerade auch bei älteren Autoren nach brauchbarem Wortgut zu suchen. Von da ist es nur ein kleiner Schritt zur „zweite[n] Phase der deutschen Lexikographie des 17./ 18. Jahrhunderts“, der „gesamtsprachlich dokumentierende[n] aufklärerische[n]“. 11 Um 1697 schrieb Gottfried Wilhelm Leibniz „Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache“ nieder (Leibniz 1983). „Leibniz hatte die Absicht, diese Abhandlung um 1712 gemeinsam mit anderen sprachwissenschaftlichen Arbeiten herauszugeben, wurde aber durch Reisen und Geschäfte daran gehindert. Sein Sekretär besorgte 1717 den Abdruck der ganzen Sammlung.“ 12 Leibniz stellt in dieser Arbeit fest: Der Grund und Boden einer Sprache sind die Worte, worauf die Redensarten gleichsam als Früchte hervorwachsen, woher denn folgt, daß eine der Hauptarbeiten, deren die deutsche Hauptsprache bedarf, sein würde eine Musterung 7 Polenz (1994, S. 119). 8 Z it. nach Weinrich (1988, S. 63). 9 Döring (2007, S. 129f.). 10 Polenz (1994, S. 119). 11 Polenz (1994, S. 186). 12 Pörksen (1983, S. 79). <?page no="39"?> „ein einträchtige Sprach, ein einträchtige Regierung [...]“ 39 und Untersuchung aller deutschen Worte, welche, dafern sie vollkommen, sondern auch auf die, so gewissen Lebensarten und Künsten eigen. (Leibniz 1983, S. 17, § 32) Leibniz schwebt also ein Wörterbuch vor, das sowohl den allgemeinen deutschen Wortschatz als auch regionale, soziale und funktionale Sonderwortschätze umfasst. Leibniz denkt noch weiter: Auch nicht nur, was in Deutschland in Übung, sondern auch, was von deutscher Herkunft im Holländischen und Engländischen ist, wozu auch vornehmlich die Worte der Norddeutschen, das ist der Dänen, Norweger, Schweden und Isländer (bei welchen letzteren sonderlich viel von unserer uralten Sprache geblieben) zu ziehen wären. Und letztlich nicht nur auf das, so noch in der Welt geredet wird, sondern auch, was verlegen und abgegangen, nämlich das Altgotische, Altsächsische und Altfränkische, wie sich's in uralten Schriften und Reimen findet, daran der treffliche Opitz selbst zu arbeiten gut gefunden. (ebd.) Bei all dem verweist Leibniz auf die Projekte der Akademien und Gesellschaften und vermerkt dazu: Als mir nun auch vor einigen Jahren Nachricht gegeben worden, daß die Engländer ebenmäßig mit einem großen Werk umgingen, [...], habe sofort angehalten, daß sie auch auf Kunstworte denken möchten, mit dem Bedeuten, ich hätte Nachricht erhalten, daß die Franzosen sich auch in diesem Stück eines Besseren bedacht. (ebd., S. 20, § 38) Die Protagonisten der Spracharbeit in den einzelnen Ländern stehen also in persönlichem und fachlichem Kontakt zueinander. Die Begründung des Deutschen als National- und Einheitssprache steht in keinem Zusammenhang mit einer Abwertung anderer Sprachen. Ganz im Gegenteil, wie sich an einem aufschlussreichen Beispiel zeigt: Johann Christoph Adelung, der bedeutendste Lexikograph der Goethe-Zeit, der mit seinem ‘Grammatisch-Kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart’ geradezu normsetzend wirkte, beginnt im Jahre 1780 mit der Arbeit an einem Neuen, grammatisch-kritischen Wörterbuch der Englischen Sprache für die Deutschen; vornehmlich aus dem größern englischen Werke des Hrn. Samuel Johnson nach dessen vierter Ausgabe gezogen, und mit vielen Wörtern, Bedeutungen und Beyspielen vermehrt. (Adelung 1783) Der erste Band dieses Werks erschien 1783, der zweite 1796. Leibniz selber hat kein Wörterbuch verfasst, wir wissen auch nichts von solchen Plänen. Doch „seine Anregungen und Impulse“ haben „nachhaltig ge- <?page no="40"?> Norbert Richard Wolf 40 wirkt“, 13 zahlreiche Wörterbücher sind nach seinem Konzept entworfen und verfasst worden. Das bekannteste und wirkungsmächtigste Werk in diesem Traditionsstrang ist das ‘Bayerische Wörterbuch’ des Oberpfälzers Johann Andreas Schmeller, des Begründers der modernen Dialektologie, dessen soziolinguistisches Interesse und nicht so sehr ein historisch-antiquarisches Interesse der wesentliche Impetus für seine Arbeiten war. Fast möchte man sagen: natürlich - natürlich schlug Leibniz am Ende seiner Schrift, wie in mehreren anderen auch, die Gründung eines „deutschgesinnten Ordens“, einer Sprachgesellschaft bzw. einer Akademie, vor. Am 11. Juli 1700 wurde die „Kurfürstlich-Brandenburgische Societät der Wissenschaften“ 14 gegründet, deren Nachfolgereinrichtung heute die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften ist. Gründer resp. Initiator war Leibniz, von dem auch das Siegel der Societät entworfen worden ist. 15 Die Societät bestand aus vier Klassen, von denen die dritte der „Ausarbeitung der deutschen Sprache“ 16 dienen sollte. Eine wesentliche Forderung von Ratichius, das Deutsche auch zur Sprache der Wissenschaft zu machen, wird in der Folge ebenfalls realisiert: „Kaspar Stieler [ein Autor, den man sonst immer mit dem Barock in Verbindung bringt, N.R.W .] versuchte vermutlich 1676/ 77, sicher aber dann 1679, deutsche Vorlesungen an der Universität Jena zu halten.“ 17 1687-88 kündigt Christian Thomasius deutschsprachige Vorlesungen an der Universität Leipzig an. 18 Mit dem Deutschen als akademischer Sprache „setzte“ Thomasius sich schließlich „gegen den Protest seiner Juristenkollegen durch, die 1705 der Neuerung mit einer Kabinettsordre Einhalt gebieten wollten.“ 19 Der Wert des Deutschen als einer National- und Kultursprache wird durch mindestens zwei Jahrhunderte hindurch mit drei Argumenten begründet: die Nützlichkeit des Deutschen „für praktische Zwecke wie Rhetorik und Conversation“; 20 13 Reiffenstein (1985, S. 18). 14 www.luise-berlin.de/ lexikon/ mitte/ a/ Akademie_der_Wissenschaften.htm (Stand: Mai 2008). 15 www.bbaw.de/ akademie/ chronik.html (Stand: Mai 2008). 16 www.luise-berlin.de/ lexikon/ mitte/ a/ Akademie_der_Wissenschaften.htm (Stand: Mai 2008). 17 Döring (2007, S. 139). 18 www.phf.uni-rostock.de/ institut/ igerman/ forschung/ litkritik/ (Stand: Mai 2008). 19 www.uni-leipzig.de/ ~agintern/ uni600/ ug117.htm (Stand: Mai 2008). 20 Polenz (1994, S. 110). - - - <?page no="41"?> „ein einträchtige Sprach, ein einträchtige Regierung [...]“ 41 die Gleichwertigkeit des Deutschen mit den drei klassischen Sprachen sowie mit den anderen europäischen Kultursprachen; das hohe Alter der deutschen Sprache. So gesehen, ist die historische Sprachwissenschaft der Romantik auch durch die Aufklärung theoretisch begründet. Die deutschsprachigen Theoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts formulieren damit einen eigenen deutschen Kulturpatriotismus, der ganz wesentlich von ähnlichen Tendenzen in den Niederlanden angeregt wurde: Der deutsche Kulturpatriotismus, der als eine Vorform des Nationalismus nicht nur trotz, sondern entschieden wegen des Dreißigjährigen Krieges erstarkte und sich am klarsten in zahlreichen deutschen Poetiken und sprachwissenschaftlichen Abhandlungen ausdrückte, ist ohne den Anstoß der niederländischen Bewegung undenkbar, auch wenn im damaligen Deutschland die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen bei weitem nicht so günstig waren wie in den bürgerlich-republikanischen Niederlanden. ( Berns 1976, S. 8f.) Der deutsche Kulturpatriotismus sowie Theorie und Praxis des Deutschen als einer vollwertigen National- und Kultursprache entwickelte sich somit gerade im Kontakt und durch den Kontakt mit anderen Sprachen und Kulturen in Europa. Es könnte sich lohnen, sich dieses Traditionsstrangs der deutschen Sprachgeschichte bewusst zu bleiben. Literatur 1. Quellen [Adelung, Johann Christoph (1783/ 1796)]: Neues, grammatisch-kritisches Wörterbuch der Englischen Sprache für die Deutschen; vornehmlich aus dem größern englischen Werke des Hrn. Samuel Johnson nach dessen vierter Ausgabe gezogen, und mit vielen Wörtern, Bedeutungen und Beyspielen vermehrt. Leipzig. Bd. 1 1783. Bd. 2 1796. Fruchtbringende Gesellschaft (1985): Der Fruchtbringenden Gesellschaft Vorhaben, Namen, Gemälde und Wörter. Faksimile des ersten Bandes des im Historischen Museum Köthen aufbewahrten Gesellschaftsbuches Fürst Ludwigs I. von Anhalt- Köthen. Hrsg. von Klaus Conermann. Weinheim. Leibniz, Gottfried Wilhelm (1983): Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache. 2 Aufsätze. Hrsg. von Uwe Pörksen. Kommentiert von Uwe Pörksen und Jürgen Schiewe. (= Universal-Bibliothek 7987). Stuttgart. Luther, Martin (1899): An die Ratherren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen. In: Martin Luther: Werke. Kritische Gesammtausgabe Bd. 15. Weimar, S. 27-53. - - <?page no="42"?> Norbert Richard Wolf 42 Ratichius (1959): Erika Ising: Wolfgang Ratkes Schriften zur deutschen Grammatik (1612-1630). Tl. 1. (= Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen der Sprachwissenschaftlichen Kommission 3). Berlin. [Siehe Verzeichnis „Wolf“ der beiliegenden CD ] . Schottelius, Justus Georg (1663): Ausführliche Arbeit ║ Von der ║ Teutschen ║ Haubt- Sprache. Braunschweig. 2. Wissenschaftliche Literatur Berns, Jörg Jochen (1976): Justus Georg Schottelius 1612-1676. Ein Teutscher Gelehrter am Wolfenbütteler Hof. Wolfenbüttel. Döring, Brigitte (2007): Das Deutsch der mittleren Neuzeit. In: Schmidt, Wilhelm: Geschichte der deutschen Sprache. 10. Aufl. Hrsg. von Helmut Langner und Norbert Richard Wolf. Stuttgart, S. 127-154. Duden (2000): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. 10 Bde. auf CD- ROM . Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. Kordes, Uwe (1999): Wolfgang Ratke (Ratichius, 1571-1635). Gesellschaft, Religiosität und Gelehrsamkeit im frühen 17. Jahrhundert. (= Beihefte zum Euphorion 34). Heidelberg. Polenz, Peter von (1994): Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 2: 17. und 18. Jahrhundert. Berlin/ New York. Pörksen, Uwe (1983): Zu dieser Ausgabe. In: Leibniz (1983), S. 79f. Reiffenstein, Ingo (1985): Zur Geschichte, Anlage und Bedeutung des Bayerischen Wörterbuchs. In: Nach Volksworten jagend. Gedenkschrift zum 200. Geburtstag von Johann Andreas Schmeller. Hrsg. von Richard J. Brunner et al. (= Jahrbuch der Johann-Andreas-Schmeller-Gesellschaft 1984). Bayreuth, S. 17-39. Reiffenstein, Ingo (1975): Hochsprachliche Norm und Sprachnormen. In: Sprache und Gesellschaft. (= Grazer Linguistische Studien 1). Graz, S. 126-134. Trabant, Jürgen (2006): Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein. (= beck'sche reihe 1693). München. Weinrich, Harald (1988): Wege der Sprachkultur. (= dtv 4486). München. <?page no="43"?> Angelika Linke Integration und Abwehr Standardsprachlichkeit als zentrales Moment bürgerlicher Selbstdefinition im 19. Jahrhundert* Im Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft, einer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Ernst Dohm und Julius Rodenberg herausgegebenen und an bildungsbürgerliche Kreise gerichteten Literatur- und Kunstzeitschrift, erscheint im Oktober 1869 eine Erzählung des Publizisten, Theatermannes und Schriftstellers Paul Lindau mit dem Titel: „Die Liebe im Dativ“. 1 Wie der Titel verspricht, handelt es sich um eine linguistische Geschichte, und sie zeigt exemplarisch, in welchem Ausmaß sich das Bürgertum des 19. Jahrhunderts über einen bestimmten sprachlichen Habitus und vor allem über „Standardsprachlichkeit“ definierte. Deshalb sei die Geschichte im Folgenden etwas ausführlicher nacherzählt: 1. Die Liebe im Dativ Die Erzählung setzt ein, als der Ich-Erzähler, den wir uns wohl als einen noch jungen und gebildeten, vor allem aber sehr flotten Herrn vorstellen müssen, an einem Juninachmittag auf dem Bahnhof von Trebbin steht und die Auskunft erhält, dass er am selben Tag nicht mehr von dort fortkommt - der nächste Zug fährt erst am andern Morgen. Eine Erklärung dafür, wie und weshalb der Erzähler nach Trebbin gekommen ist, obwohl er dort eigentlich nichts Ernsthaftes zu suchen hat, gibt uns die folgende Rückblende, die nach Berlin führt und in der uns der Ich-Erzähler den Beginn seines merkwürdigen Abenteuers wie folgt erläutert: „Auf dem Dönhofsplatz war mir ein reizendes Mädchen begegnet. Ich beschloß, sie zu heirathen. Oder ich that wenigstens so, als ob ich's beschlossen hätte. Erröthend folgte ich ihren Spuren.“ Und diese Spuren führen den Erzähler nun zum Anhalter Bahnhof, wo die junge Dame am Schalter eine Fahrkarte nach Trebbin verlangt, was den amourösen Verfolger vor die Qual der folgenden dreifachen Wahl stellt: * Für diesen Text habe ich teilweise auf Textpassagen, vor allem aber auch auf Quellenbeispiele aus Linke (1996 und 1998) zurückgegriffen. 1 Dann auch erschienen 1877 in Stuttgart (Lindau, Paul: Die kranke Köchin. Die Liebe im Dativ. Zwei ernsthafte Geschichten) [siehe Verzeichnis „Linke“ der beiliegenden CD ]. <?page no="44"?> Angelika Linke 44 Sollte ich nun auf das Glück meines Lebens verzichten, sollte ich Lili [so nennt der Ich-Erzähler die junge Dame in Ermangelung der Kenntnis ihres richtigen Namens, AL ] gewaltsam von der Abreise zurückhalten oder sollte ich mitfahren? Ich hatte die Wahl! Das erste war tragisch, das zweite war romantisch, das letzte war idyllisch. Meine alte Vorliebe für Gesner [! ] bestimmte mich zu dem Entschlusse, das Letztere zu wählen.“ Der Erzähler fährt also mit, allerdings nur auf Distanz, da Lili für ihn unerreichbar im Damencoupé sitzt. Und auch als er, in Trebbin angekommen, Lili endlich ansprechen möchte, gelingt ihm das nicht, da Lili von Vater, Mutter und einer ganzen Schar jüngerer Brüder erwartet und abgeholt wird. Der Erzähler hat also das Nachsehen und auch keinen Zug mehr nach Berlin und muss deshalb in der „Post“ Quartier beziehen. Der Wirt, ein umgänglicher Mensch, nimmt sich seiner an und führt ihn - am späteren Nachmittag - in den Garten der „Harmonie“, des ersten Hauses am Platze, wo sich um diese Zeit die Honoratioren der Stadt versammeln. Unter diesen entdeckt der Erzähler dann auch den von Frau und Söhnen begleiteten Vater seiner Angebeteten, der ihm als Cantor Wohlgemuth präsentiert wird. Lili selbst ist nicht anwesend. In dieser Situation beschließt der Erzähler, einen Gang durch den ausgedehnten Garten der „Harmonie“ zu machen, nicht ganz ohne Hoffnung, Lili doch noch allein zu begegnen. Und tatsächlich: Das Glück ist ihm endlich hold, so dass die Geschichte ihren Höhepunkt und gleichzeitig auch ihre Schlussphase erreicht: Der Erzähler erklärt sich Lili und bietet ihr in den folgenden wohlgesetzten Worten sein Herz an: ‘Mein Fräulein’, hub ich an, ‘als ich Sie zum erstenmal sah, fühlte ich, dass ich Sie liebe. Mein Herz, das ich todt glaubte, erwachte bei der sanften Klarheit Ihres Blicks wie der Gefangene beim ersten Sonnenstrahl, welcher durch die vergitterten Fenster seines Kerkers fällt, das Bewusstsein wieder erlangt, dass er lebt, dass es einen Frühling giebt. Mein Fräulein, ich liebe Sie! Lieben Sie mich? Antworten Sie mir Ja! oder Nein! Aber sagen Sie mir nicht: ‘Sprechen Sie mit meiner Mutter! ’ Sie können mich überglücklich oder namenlos elend machen. Sprechen Sie, entscheiden Sie! ’ Ich sprach diese Rede sehr geläufig, sehr ausdrucksvoll und sehr schön - denn ich hatte sie schon oft gehalten - und harrte nun der Dinge, die da kommen sollten. Lili erröthete. ‘Sprechen Sie, mein Fräulein, ich beschwöre Sie! ’ ‘Aber ich kenn Ihnen ja noch gar nicht! ’ hauchte Lili. ‘Wie? ? ? ’ <?page no="45"?> Integration und Abwehr 45 ‘Ich kenne Ihnen nicht. Sie wollen mir gewiss blos [! ] necken.’ * Am andern Morgen verließ ich Trebbin. Ich bin nie wieder dorthin zurückgekehrt. Und damit endet - ohne jede weitere Erklärung - die Geschichte. Offensichtlich braucht es gar keine Erklärungen, um dem geneigten Leser und der geneigten Leserin des „Salon“ zu verdeutlichen, was mit der grafischen Hervorhebung des „Ihnen“ sowie in der durch den Stern signalisierten Auslassung lediglich angedeutet ist. Das kalte Sturzbad, welches sich mit Lilis unangebrachtem Dativ über den Erzähler ausgießt und dessen lodernde erotische Gefühle ebenso plötzlich wie gründlich zum Erlöschen bringt, wird vom sprachsensiblen Lesepublikum der Zeit offenbar auch ohne explizite Thematisierung nachempfunden. Nun ist das natürlich alles Persiflage und gibt sich auch offen als solche zu erkennen. Dennoch illustriert Paul Lindaus linguistische Anti-Liebesgeschichte gerade in den Selbstverständlichkeiten, die sie unausgesprochen lassen kann, das zeitgenössische bürgerliche Sprachbewusstsein und beleuchtet schlaglichtartig die Tatsache, dass Sprache und sprachliches Verhalten im Bürgertum des 19. Jahrhunderts ebenso als Medium von Identitätsbildung und sozialer Integration wie als Medium des sozialen Ausschlusses fungieren. Diese Funktionalisierung des Sprachbewusstseins ist in der soziokulturellen Selbstdefinition des aufgeklärten Bürgertums zudem eng verknüpft mit einem Selbstverständnis als gebildeter Stand einerseits sowie mit einem neuartigen, zumindest neu akzentuierten zeitgenössischen Verständnis des Verhältnisses von Sprache und Nation andererseits. 2. Bürgertum, „Bildungsreligion“ und ‘Hoch’-Sprache Mit Blick auf die Sprachgeschichte des Deutschen kann das 19. Jahrhundert als ausschlaggebende Phase in der Durchsetzung einer deutschen Hochsprache - das heißt: in der Standardisierung des Deutschen - gelten. Es ist folglich auch das Jahrhundert, das, wie dies der Titel eines einschlägigen sprachhistorischen Sammelbandes formuliert, „Voraussetzungen und Grundlagen der Gegenwartssprache“ herstellt (Cherubim/ Mattheier (Hg.) 1989) und entsprechend in der sprachhistorischen Forschung der letzten 25 Jahre vermehrt Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. <?page no="46"?> Angelika Linke 46 Im 19. Jahrhundert konsolidierte sich der im 18. Jahrhundert initiierte Übergang von einer feudal-ständischen Gesellschaft zur Industrie- und Klassengesellschaft und damit auch der Übergang von einer adelsdominierten zu einer bürgerlich dominierten und nicht zuletzt kulturell am Bürgertum orientierten Gesellschaft. Dieser Übergang wird in der sozialhistorischen Literatur zudem mit Schlagwörtern wie Modernisierung, Urbanisierung, Professionalisierung, Institutionalisierung und Demokratisierung charakterisiert (vgl. Polenz 1999, S. 2). Alle unter diese Stichwörter gefassten sozioökonomischen, soziopolitischen und soziokulturellen Entwicklungen sind mit sprachlichen Entwicklungen interdependent. Damit ist gemeint, dass sich - einerseits - diese Entwicklungen auch auf die deutsche Sprache auswirken, dass sie in den Formen und Mustern des Sprachgebrauchs Spuren hinterlassen und dass nicht zuletzt auch der ‘Haushalt’ einschlägiger kommunikativer Gattungen, über den die Sprachgemeinschaft verfügt, entsprechend verändert, vor allem auch erweitert wird. Andererseits gilt aber auch, dass viele der genannten Prozesse ihrerseits in erster Linie im Medium der Sprache erfolgen beziehungsweise auf Sprache als unabdingbaren Katalysator angewiesen und in diesem Sinn selbst sprachlich geprägt sind. Ganz besonders gilt dies für den Auf- und Ausbau eines umfassenden Bildungswesens und im Zusammenhang damit für die von Thomas Nipperdey so genannte „Bildungsreligion“. Diese lebensweltliche Hochwertung des kulturellen Konzepts „Bildung“ ist zudem eng verbunden mit seiner alltagspraktischen ökonomischen Nutzung durch das Institut der Bildungspatente. Zu diesen Patenten gehören in erster Linie die unterschiedlichen Schulabschlussnachweise und hier prominent das Zeugnis der gymnasialen Reifeprüfung sowie die unterschiedlichen Hochschulexamina und die damit verbundenen Titel, die nun vermehrt als Voraussetzung wie als Sicherung von Verdienst- und Aufstiegschancen fungieren. Als Ausweis über erworbenes kulturelles Kapital eröffnet der Doktortitel einem jungen Mann auch dann den Zugang zu sozialen Kreisen und zu deren Töchtern als potenziellen Bräuten, wenn ihm die entsprechenden ökonomischen Voraussetzungen fehlen. Und beides, sowohl der schulische Erwerb von Bildung sowie deren Zurschaustellung in beruflichen wie in privaten Kontexten, erfolgt in erster Linie im Medium der Sprache. 3. ‘Nationalsprache’, ‘Sprachnation’ und die „Vertikalisierung der Varietätenstruktur“ Mit Blick auf die politischen Veränderung des „langen 19. Jahrhunderts“, das sich von der Französischen Revolution bis zum ersten Weltkrieg erstreckt, ist zudem die zunehmende ideologische Verbindung von Sprache und Nati- <?page no="47"?> Integration und Abwehr 47 on im Sinne von „Staatsnation“ relevant, eine Verbindung, die durch die Napoleonischen Kriege eine deutliche Katalysatorwirkung erfährt. In der Folge kommt es zu einer zunehmenden Intoleranz gegenüber Minderheitensprachen (etwa gegenüber dem Sorbischen) einerseits und Nachbarsprachen andererseits. So ist der Ersatz des Französischen als Prestigesprache durch ein an der Literatursprache Goethes und Schillers orientiertes bildungsbürgerliches Deutsch konstitutiv sowohl für die Ablösung der kulturellen Hegemonie des auch sprachlich an Frankreich orientierten Adels durch diejenige des Bürgertums wie auch für die national gefärbte Stigmatisierung des Französischen als Sprache des so genannten „Erbfeindes“. 2 Die intensivierte Koppelung der Konzepte „Sprache“ und „Nation“ zeigte sich zudem, wie Peter von Polenz festhält, auch in einer zunehmenden Irritation über die Koexistenz regionaler und sozialer Varietäten des Deutschen (vgl. Polenz 1999, S. 3); zu diesem Varietätenspektrum gehören neben den Dialekten vor allem auch die städtischen Varietäten unterbürgerlicher Schichten. Und auch diese Irritation leistet letztlich der Orientierung am Konzept einer überregionalen Standardsprache auch im mündlichen Sprachgebrauch Vorschub. Die Setzung und im 19. Jahrhundert dann auch die Durchsetzung des Konzepts einer überregionalen, an der Schriftsprache orientierten, standardisierten Sprechsprache als selbstverständliche Orientierungsgröße für das individuelle Sprachhandeln in bürgerlichen wie dann auch zunehmend in unterbürgerlichen Kreisen muss als genuin bürgerliches Projekt betrachtet werden. Dieses Projekt hat seine Wurzeln - wie dies auch der Beitrag von Norbert Richard Wolf in diesem Band zeigt - im 17. Jahrhundert, und bereits am Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert kann vor allem im schriftsprachlichen Bereich für die überregionale deutsche Hochsprache eine linguistische Realität veranschlagt werden. Die reale Ausformung der überregionalen Hochsprache verdankt sich ebenso dem Wirken der Grammatiker der Aufklärung - beispielhaft ist hier Johann Christoph Adelung - wie der zeitgenössischen Literatursprache. Als mentale Realität, das heißt als Sprachbewusstseinskonzept und damit als Denkkategorie und bewusstes sprachliches Programm, ist die überregionale Hochsprache auch mit Blick auf die gesprochene Sprache bereits am Ende des 18. Jahrhunderts vor allem in bildungsbürgerlichen Kreisen vorhanden. Mit Blick auf die soziale Realität dagegen, das heißt mit Blick auf den faktischen Sprachgebrauch, ist die überregionale Hochbeziehungsweise 2 Das „Deutsche Wörterbuch“ von Hermann Paul (Neubearbeitung durch Helmut Henne u.a.) verzeichnet den Ausdruck als ursprünglich mittelhochdeutsche Bezeichnung für den Teufel, der erst seit den Napoleonischen Kriegen auf Frankreich angewendet wird. <?page no="48"?> Angelika Linke 48 Standardsprache zu Beginn des 19. Jahrhunderts allerdings noch weitgehend auf die Schriftsprache beschränkt. 3 Die gesprochene Sprache dagegen trägt auch im Bürgertum noch durchgehend regionale beziehungsweise dialektale Züge, auch wenn besonders auffällige, als Schibboleth fungierende Regionalismen und Dialektismen (wie etwa der berlinische „Akkudativ“, vgl. Schlobinski 1988) zunehmend vermieden werden. In der Koppelung des Konzeptes einer überregionalen Standardsprache an das Konzept der Staatsnation, die, so die entsprechende Denkfigur, als politische Einheit in der sprachlichen Einheitlichkeit (Reichmann 2000, S. 460) 4 ihren symbolischen Ausdruck findet, erhält das kulturelle Konzept einer deutschen Hochsprache im 19. Jahrhundert eine zusätzliche Facette und damit auch zusätzliche Attraktivität für seine Trägerformation, das Bürgertum. Mit anderen Worten: Es geht im 19. Jahrhundert nicht mehr darum, das Deutsche - wie von Norbert Richard Wolf in diesem Band für das 17. und 18. Jahrhundert dargelegt - als für Kultur- und Wissenschaftszusammenhänge taugliche Sprache auszuweisen und damit die „Hochsprachlichkeit“ des Deutschen zu belegen und zu sichern, sondern es geht nun in erster Linie darum, die potenzielle politisch-gesellschaftliche Funktion einer solchen Hochsprache zu markieren. Und in der Verpflichtung der eigenen sozialen Formation auf eben diese Varietät der Hochbeziehungsweise Standardsprache erhebt sich das Bürgertum zum sozialen Träger von Kultur und Wissenschaft wie auch eines neuen, sprachgebundenen nationalen Selbstverständnisses. In der Summe führen die skizzierten Prozesse zu einer Umschichtung der Varietätenlandschaft des Deutschen. Die in den davorliegenden sprachhistorischen Epochen in erster Linie durch ein „horizontales Nebeneinander“ (Reichmann 2000, S. 457) von vorwiegend räumlich-geografisch bestimmten Varietäten charakterisierte Sprachlandschaft wird im Rahmen des Standardisierungsprozesses umgebaut - ein Prozess, den Oskar Reichmann unter den Terminus der „Vertikalisierung“ (ebd.) fasst. In diesem vertikalisierten Sprachraum ist die Standardsprache in ihrer geschriebenen wie in ihrer gesprochenen Form ‘oben’ angesiedelt (wobei ‘oben’ sich einerseits auf die größere Reichwei- 3 Zu diesem Absatz, vor allem für die Unterscheidung von linguistischer und mentaler Realität, vgl. Mattheier (2000, S. 1951ff.). 4 Reichmann spricht davon, dass diese „Nationalisierung der Sprache“ - durchaus im Sinne einer „Verstaatlichung“ - als umso effektiver gelten kann, „je besser es gelingt, dem Adressaten das Bild eines durch besondere Gütequalitäten ausgezeichneten Identifizierungsinstrumentes zu vermitteln, und je einheitlicher das Zugriffsmedium ‘Sprache’ entworfen wird, beziehungsweise je geschlossener die in Betracht kommenden kanonischen Texte zusammengestellt sind“ (Reichmann 2000, S. 460). <?page no="49"?> Integration und Abwehr 49 te der Standardsprache wie auf ihr soziales Prestige bezieht), ‘darunter’ sind die Dialekte und Soziolekte zu denken, denen einerseits eine weniger große geografische wie soziale Reichweite zukommt und die andererseits mit geringerem Prestige beziehungsweise zunehmend mit explizit negativer sozialer Markierung versehen sind. Diese nun deutlich soziale Hierarchisierung von Hochsprache und Dialekt wird zugleich als Medium der sozialen Distinktion des bürgerlichen Mittelstandes funktionalisiert, sie wird als sprachliche Werthaltung, als eine Art sprachlicher ‘Geschmack’ internalisiert und lässt sich spätestens für das ausgehende 19. Jahrhundert als ein sprachlicher Habitus beschreiben, der kaum mehr argumentativ begründet werden muss und nur noch sporadisch rationalisiert und mit Sachargumenten gestützt wird. 4. Sprachgebrauch, Sprachnormen und sprachlicher Habitus Um von dieser allgemeineren Betrachtung der sozialen und kulturellen Sprachsituation im 19. Jahrhundert nun aber wieder zurückzukommen zur linguistischen Moral von Paul Lindaus Geschichte der Liebe im Dativ, so beleuchtet diese ja nicht nur die tiefe Verankerung eines normativen Sprachbewusstseins im bürgerlichen Lebensgefühl, sondern gibt auch erste Hinweise darauf, in wie nachhaltiger und folgenreicher Weise Sprachnormen ins kollektive Bewusstsein einer sozialen Gruppe eingebunden werden können. Die Geschichte macht deutlich, dass Lilis fehlplatzierter Dativ, den diese zu allem Übel auf die ungläubige Nachfrage des männlichen Protagonisten hin auch noch wiederholt, nicht einfach dazu führt, dass der Held der Geschichte Lili für ungebildet, allenfalls auch für dumm erachtet. Es ist viel schlimmer: Der falsche Dativ ruft bei unserem flotten jungen Herrn geradezu körperlichen Ekel hervor, so dass Lilis äußerliche Attraktivität schlagartig sämtlichen Reiz verliert und selbst der Ort des Geschehens mit einem entsprechenden Makel behaftet bleibt: Der Erzähler ist, wie im Schlusssatz der Geschichte extra vermerkt, nie wieder nach Trebbin zurückgekehrt. Es wird hier offensichtlich, dass bürgerliches Sprachbewusstsein nicht nur kognitive, sondern ebenso emotive Dimensionen umfasst, dass es sich dabei um einen, wie dies Dieter Cherubim formuliert, „Sprachgestus“ (Cherubim 1983, S. 406) handelt, der sich unter anderem in einer „über Konnotationen (d.h. Sprachgefühl, Spracheinstellungen, Sprachwertmuster usw.) organisierte[n] Zuordnung bestimmter Sprachmittel und Sprachverhaltensweisen zu verschiedenen Sprachhandlungssituationen“ manifestiert (Cherubim 1983, S. 417). Daraus ergibt sich nun die Frage, wie ein solcher „Sprachgestus“ ausgebildet, <?page no="50"?> Angelika Linke 50 wie er in der betreffenden Sozialformation verankert wird, wie der Bürger beziehungsweise die Bürgerin ganz konkret sprachlich sozialisiert werden. Hierzu bedarf es spezieller Quellen. Und zwar am besten solcher, die uns - direkt oder indirekt - sowohl Aufschluss darüber geben, welche Normen und Ideale des Sprachgebrauchs im Bürgertum des 19. Jahrhunderts kollektive Gültigkeit haben, und die gleichzeitig einen Einblick vermitteln, wie diese Ideale zu kollektiven Idealen gemacht werden, wie ihr Geltungsanspruch abgesichert und wie ihre individuelle Internalisierung gefördert wird. Geeignet hierfür sind unter anderem Etikettenbücher und Anstandslehren - ein Quellentypus, der für die Untersuchung von Sprachbewusstseinsgeschichte allgemein besonders ertragreich ist. Zudem belegen die hohen Auflagenzahlen der explizit an ein bürgerliches Zielpublikum gerichteten Etikettenbücher im 19. Jahrhundert, dass es sich bei diesen Werken um eine gerade für die bürgerlichen Schichten relevante Textgattung handelt. Als weiterer Quellentypus lassen sich die gesamte Erziehungsliteratur und hier wiederum die so genannten Mädchenbücher heranziehen, die vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer eigenständigen und vielgelesenen Gattung werden und denen soziale wie kulturelle Orientierungsfunktion zukommt. Und schließlich finden sich sowohl in der breiten Palette privater Schriftlichkeit - vor allem in Tagebüchern und Briefen - wie auch in literarischen Texten zahlreiche explizite wie implizite Hinweise auf spezifisch bürgerliches Sprachbewusstsein. Ich möchte im Folgenden an ausgewählten Beispielen aufzeigen, was sich den genannten Quellentypen an Erkenntnissen zur Ausbildung eines bürgerlichen Sprachhabitus entnehmen lässt. 4.1 Sprachliche Korrektheit In einer Anstandslehre aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts heißt es: Die Sprache ist dasjenige, wodurch man seine Empfindungen, seine Gefühle und Gesinnungen, kurz, seine eigentliche innere Beschaffenheit zu erkennen giebt, womit man im geschäftlichen und geselligen Leben seinen wahren Werth bemerkbar machen, die Aufmerksamkeit Anderer auf sich lenken, sich bei ihnen angenehm aber auch verhaßt machen kann. Daher ist es eine der ersten Pflichten, auf die Ausbildung der Sprache Fleiß und Aufmerksamkeit zu verwenden. (Sydow 1840, S. 4) Das Zitat stammt aus Friedrich von Sydows Neuem Sitten- und Höflichkeitsspiegel von 1840, der, wie dem Untertitel des Buches zu entnehmen ist, „be- <?page no="51"?> Integration und Abwehr 51 sonders für den Mittel- und Bürgerstand bearbeitet und für Personen jedes Alters und Geschlechts berechnet“ ist. Friedrich von Sydow ist mit seiner Ansicht über die Bedeutung der Sprache nicht allein: Aus der Perspektive der Anstandslehren des 19. Jahrhunderts ist tatsächlich die Ausbildung der Sprache die erste Bürgerpflicht, dies schon nur aufgrund der engen Verbindung von Sprache und Bildung - eine Verbindung, der in den Anstandslehren Toposcharakter zukommt und die deshalb nicht weiter expliziert wird. Diese Ansicht verfestigt sich im Verlaufe des Jahrhunderts zunehmend. Elise Polko, Berliner Schriftstellerin und außerdem Verfasserin von Anstandsbüchern, erklärt entsprechend dezidiert: „Die echte, wahrhafte Bildung kennt eben keine Sprachfehler, weder geschriebene noch gesprochene.“ (Polko 1886, S. 145). Dabei geht es, wie es die Formulierung bei Polko schon deutlich macht, unter dem Stichwort „Sprache“ hier vor allem um deren eher formale Seiten, das heißt in erster Linie um Fragen der Wortwahl, der Grammatik und der Aussprache und damit um das, was man nach Ansicht der Anstandsbücher, aber auch aus der Sicht zeitgenössischer grammatischer, stilistischer und orthoepischer Werke eindeutig falsch oder dann eben richtig machen kann. Tatsächlich kommt der Dichotomie ‘richtig - falsch’ in Bezug auf Sprache und Sprachverwendung im 19. Jahrhundert eine immer größere Bedeutung zu, neben der traditionelle ästhetische oder auch funktionale Kriterien teilweise verblassen. Ihren Höhepunkt findet diese Fokussierung auf sprachliche Korrektheit im orthographischen Regelwerk von Konrad Duden (das in einer ersten Fassung 1872 erscheint) einerseits und in Theodor Siebs „Bühnenaussprache“ (1898) andererseits. Am Ende des 19. Jahrhunderts sind damit sowohl die Schreibung als auch die Lautung des Deutschen standardisiert und in dieser Standardform auch kodifiziert. 4.2 Dialekt und Peinlichkeit Auch die Dialekte stehen im populären Sprachdiskurs des 19. Jahrhunderts im Verdacht, ‘falsche’ Sprachformen zu enthalten, sie entsprechen schon deshalb nicht dem Ideal eines ‘korrekten’ Sprachgebrauchs. Es ist ganz in diesem Sinn, wenn im Ratgeber für Jung und Alt in allen Regeln des Anstandes von 1888 verfügt wird: Lass die Kinder nicht im volksthümlichen Dialekt sprechen, er giebt der Sprache immer etwas Fremdartiges und Bäurisches, so schön an und für sich das betreffende Idiom sein mag. Im Kindermund klingt's stets wie Dienstboten-Unterhaltung unter sich. (Freund 1888, S. 88) <?page no="52"?> Angelika Linke 52 Diese kurze Passage ist insofern interessant, als sie in verdichteter Form die inhärenten Widersprüche bürgerlichen Sprachbewusstseins aufzeigt: Zwar ist der Dialekt als „volksthümliche“ Sprache mit den positiven Assoziationen von Naturwüchsigkeit und unverfälschter Tradition verbunden und ist entsprechend „an und für sich schön“. Aus der Perspektive bürgerlicher Selbstdefinition und mit Blick auf das Ideal der Standardsprache kommt aber auch dieser „Volksthümlichkeit“ der Charakter des „Fremdartigen“ zu. Etwas unerwartet klingt also auch hier letztlich das Nationalsprachen-Argument an: Gemessen an der Standardsprache sind nicht nur andere Sprachen, sondern auch Dialekte „fremd“ und stehen damit der der Sprache zugeordneten vereinigenden Funktion entgegen. Dominant ist schließlich aber das soziale Argument: Dialekt klingt nach Dienstboten-Unterhaltung und signalisiert das Fehlen von Bildung. Entsprechend große Überwindung kostet es deshalb auch Antonie Grünlich, geborene Buddenbrook, die Werbung von Alois Permaneder, bayrischem Geschäftsmann und Dialektsprecher, zu erhören. Denn auch wenn diese Heirat sie von dem sozialen Makel befreit, den ihre Lebenssituation als geschiedene Frau mit sich bringt und auch in ökonomischer Hinsicht attraktiv ist, so stellt der süddeutsch-unbekümmerte Dialektgebrauch des Herrn Permaneder im hanseatisch-großbürgerlichen Kontext doch eine solche kulturelle und soziale Peinlichkeit dar, dass Tony Buddenbrook sich eigentlich „nicht denken [kann], dass ich ihn heiraten könnte“ (Mann 1974, S. 340). Ähnliche Peinlichkeitsschwellen und ähnliche emotionale Probleme, wie sie hier bei Thomas Mann thematisiert werden (vgl. ausführlicher Linke 1996), finden sich auch in zeitgenössischen Mädchenbüchern, die als an die Gefühlsebene appellierende Identifikations- und Orientierungsliteratur nicht zuletzt in der Sprachbewusstseinsbildung des weiblichen Geschlechts eine wichtige Rolle spielen. In dem beschränkten Figurenarsenal solcher Bücher sind es vor allem die einfacheren Hausangestellten sowie vereinzelt auftauchende Personen von einfachem Stand und Beruf, die als Dialektsprecher beziehungsweise Dialektsprecherinnen präsentiert werden. Konsequenterweise spricht auch in der kleinstädtischen Arztfamilie, die uns Henny Koch, eine der erfolgreichsten Autorinnen von Jugendliteratur im 19. Jahrhundert, in ihrem Mädchenroman „Mütterchen Sylvia“ präsentiert, nur die Köchin pfälzischen Dialekt, während sich die ganze restliche Familie der Standardsprache befleißigt. Die sozialen Fronten der Romanwelt finden also auch in der Sprache der vorgestellten Figuren ihre eindeutige Entsprechung. Die Situation verkompliziert sich allerdings im Verlauf der Geschichte da- <?page no="53"?> Integration und Abwehr 53 durch, dass der Verehrer und spätere Bräutigam der Tochter des Hauses - der Titelheldin Sylvia - als ein aus einfachen dörflichen Verhältnissen stammender junger Mann eingeführt wird, der sich durch Begabung und Fleiß zum Studenten und schließlich zum Lehrer emporgearbeitet hat, was ihn vor dem Hintergrund bürgerlicher Leistungsmoral ja durchaus zu einem würdigen Kandidaten für die Hand der Protagonistin wie auch zu einem erzieherisch wertvollen Männerideal für die jugendlichen Leserinnen macht. Und natürlich spricht er - als Zeichen seiner bürgerlichen Arriviertheit und der durch Schule und Studium erworbenen Bildung - keinen Dialekt. Seine Mutter aber, die als ein „kleines Bauernweibchen“ geschildert wird, muss um der Glaubwürdigkeit der Geschichte willen als Dialektsprecherin dargestellt werden. Damit handelt sich die Autorin nun allerdings das Problem ein, dass ausgerechnet die Mutter des jugendlichen Helden durch ihre Sprache sozial stigmatisiert ist, und zwar sowohl vor den Leserinnen als auch - und dies würde eventuell die Liebesgeschichte gefährden - vor ihrer nur Hochsprache sprechenden zukünftigen Schwiegertochter. Henny Koch gelingt hier jedoch die sprachliche Quadratur des sozialen Kreises, indem sie sowohl sprachlichen Realitäten als auch die mit ihnen verbundenen sozialen Wertungen ein klein wenig zurechtrückt und das im Diminutiv eingeführte „Bauernweiblein“ bei der ersten Begegnung mit Sylvia einen gemilderten Dialekt sprechen lässt, der in Kombination mit dem gestisch-körperlichen Verhalten der zukünftigen Schwiegermutter eher traditionell-ländlich als derb-ungebildet erscheint: Das kleine Weiblein machte einen altmodischen, kleinen Knicks und wischte erst vorsichtig die Hand an der Schürze ab, ehe sie sie Sylvia und den Brüdern bot. ‘Willkomme bei uns’ sagte sie mit nur leisem Anflug von Dialekt, der, mit ihrer weichen Stimme gesprochen, nicht die Spur rauh oder unfein klang. ‘Lasse Se sich's gefalle. Ich freu mich von Herze, Sie kenne zu lerne.’ (Koch, o.J. [1890], S. 205) So geht es: Die alte Bäuerin spricht zwar Dialekt, aber eben nur in Form eines „leisen Anflugs“, und auch dieser Anflug ist von der „weichen Stimme“ so gedämpft, dass die „unfeine“ Wirkung des Dialekts, die hier grundsätzlich als gegeben vorausgesetzt wird, vermieden werden kann. Auf diese Weise bleibt die Funktion des Dialekts als sozialer ‘Marker’ und als sprachliches Abgrenzungsmittel gegen ‘unten’ erhalten, ohne sich jedoch als unüberwindliche Schranke im Rahmen einer ebenfalls zur Selbstdefinition bürgerlicher Schichten gehörenden sozialen Dynamik von ‘unten’ nach ‘oben’ zu erweisen. <?page no="54"?> Angelika Linke 54 Das soziale Spannungsfeld, in dem sich dialektale Varietäten vor allem im 19. Jahrhundert befinden und das in den unterschiedlichen Dialektregionen durchaus unterschiedliche Ausformungen annimmt, kann zudem eine Stelle aus der Autobiographie der 1843 geborenen, später als eine der ersten Ärztinnen Deutschlands tätigen Franziska Tiburtius belegen, in der sie über ihre Kindheit auf einem kleineren Landgut auf Rügen berichtet: „Untereinander und mit den Geschwistern sprachen wir Kinder hochdeutsch, - es war ja auch manchmal danach! - mit den Haus- und Hofleuten stets Platt, und ich schätze es noch als einen Vorteil, daß ich quasi zweisprachig aufgewachsen bin.“ (Tiburtius 1923, S. 12). Andererseits berichtet Tiburtius aber auch darüber, dass auf dem Stralsunder Gymnasium die Jungen bis zur Tertia streng darauf achteten, „dass keiner unter ihnen außerhalb der Stunden hochdeutsch sprach. Wer es tat, galt als geziert und wurde geprügelt.“ (ebd.). Hier wird - parallel zur ambivalenten Bewertung des Dialekts als liebevolle Sprache der Heimat wie als disqualifizierendes Signal sprachlicher Ungebildetheit - die schwankende Bewertung der Hochsprache deutlich, die einerseits als Ausweis von Status und Bildung dient, andererseits aber auch als Ausdruck von Geziertheit und sozialer Fremdheit gelten kann. Wenn also ein fachlich berufener Zeitgenosse wie etwa der Germanist und Sprachwissenschaftler Rudolf von Raumer noch im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts konstatiert: „Davon kann natürlich nicht die Rede sein, daß alle gebildeten Deutschen ununterscheidbar gleich sprechen oder sich auch nur bestreben, dies zu thun.“ (Mattheier 1991, S. 54, der sich auf Socin 1888, S. 458f. beruft), so markiert diese Beobachtung lediglich den Tatbestand, dass es über einen relativ langen Zeitraum eben weniger der konkrete Sprachgebrauch als vielmehr die kollektive Orientierung an einem gemeinsamen Ideal - dem der dialektfreien Sprechsprache - war, die als integrative Kraft für die Sozialformation des Bürgertums gelten muss. Im Hinblick auf die Ausbildung einer sozialen Identität kommt also dem Sprachbewusstsein mindestens dieselbe Funktion zu wie faktischem Sprachgebrauch. 4.3 Standardsprache, Überregionalität und die Faszination sozialer Distanz Die symbolischen Potenzen von Dialekt und Hochsprache sind allerdings nicht auf die Markierung einer von ‘oben’ nach ‘unten’ verlaufenden Sozialachse beschränkt, sondern werden ebenso wirksam auf einer nach Nähe und Ferne differenzierenden Beziehungsachse: Wenn wir Sprache (auch) als Medium der Beziehungspflege sowie des Sozialkontaktes betrachten, so lässt sich der <?page no="55"?> Integration und Abwehr 55 Gebrauch der Standardsprache in erster Linie den Kontakten im gesellschaftlichen Fernbereich, der Dialekt dagegen denjenigen im sozialen Nahbereich zuordnen (vgl. hierzu vor allem Mattheier 1993, S. 648ff.). Klaus Mattheier hält in diesem Zusammenhang fest, dass „gesellschaftlicher Fernbereich [...] dabei nicht nur regionale Entfernung, sondern auch soziale Entfernung zwischen unterschiedlichen sozialen Welten und die damit verbundene gesellschaftliche Fremdheit“ meint (Mattheier 1993, S. 649). Ich schließe mich diesen Überlegungen an, möchte aber, mit Blick auf die habitualisierte Ablehnung von Dialektgebrauch in bürgerlichen Kreisen im ausgehenden 19. Jahrhundert, noch einen Schritt weiter gehen. Ich nehme an, dass in der Ablehnung von Dialekt beziehungsweise in der Ächtung von Dialektgebrauch auch eine Distanzierung von denjenigen Sozialisationsformen und Lebensmustern stattfindet, die traditionellerweise als mit dem Dialekt verbunden gedacht werden, das heißt eine Distanzierung von sozialen Konzepten, die idealiter durch Nähe, durch dichte soziale Netzwerke sowie durch Geschlossenheit der sozialen Kreise bestimmt sind. Diesen Konzepten stehen bürgerliche Vergesellschaftungsformen gegenüber, die durch eine gewisse Offenheit, durch lose, dafür weiter gespannte soziale Netze und, damit verbunden, durch eine Grundbestimmtheit der sozialen Distanz charakterisiert sind. Es dürfte eben diese Grundbestimmtheit sein, die durch den Gebrauch der Standardsprache beziehungsweise durch die Ablehnung des Dialekts signalisiert wird. Denn ebenso wie der Dialekt den gesellschaftlichen Nahbereich auch dort symbolisieren kann, wo er gar nicht (mehr) gegeben, sondern nur „erinnert oder gewünscht“ (Mattheier 1993, S. 650) ist - wie dies vermehrt im 20. Jahrhundert sowie in der sprachlichen Gegenwart der Fall ist -, und wo er deshalb auch als Symbol für die Welt der Kindheit oder einer ländlichen beziehungsweise als ländlich gedachten Heimat dienen kann, so kann die habituelle Verwendung der Standardsprache auch durch den Wunsch motiviert sein, sich - in symbolischer Weise - eine gewisse Weltläufigkeit sowie eine stärker durch die Flüchtigkeit und Wandelbarkeit zahlreicher Sozialkontakte geprägte Lebenshaltung anzueignen. Alexander von Gleichen-Rußwurm, übrigens ein Urenkel Friedrich Schillers, der sich nicht nur als Schriftsteller und Essayist, sondern auch als Verfasser einer Gesellschaftskunst 5 betätigte, thematisiert zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ‘Dialektfrage’ in seinem Essay über die „Ästhetik des praktischen Lebens“ in eben diesem Sinn, wenn er festhält: 5 Alexander von Gleichen-Rußwurm: Gesellschaftskunst. Ein Büchlein von Konversation und feiner Sitte. Berlin 1924. <?page no="56"?> Angelika Linke 56 Niemand wird es dem Bauern, dem Arbeiter, dem Handwerker verdenken, wenn er in der derben Weise seiner Heimat die Dinge beim rechten Namen nennt [...]. Aber der Gebildete, den Leben und Kenntnisse über den Kreis der engsten Heimat erheben, hat nicht das Recht, aus Bequemlichkeit eine Mundart beizubehalten, die nicht mehr echt und natürlich ist [...]. Alle Mundarten umfassen in ihrer Urkraft und rauhen Schönheit nur das kleine Gebiet von Dingen, das der Ideenkreis des Gaues seit alters beherrschte. Ihre Berechtigung beschränkt sich auf die untern Stände und auf die Gegend, in denen sie geboren und gereift sind. (Gleichen-Rußwurm 1909, S. 169) Die Präferierung der Standardsprache kann also insofern Teil der sozialen Selbstdarstellung des Bürgertums werden, als man sich damit urban-dynamischen Verhältnissen zuordnet, die, wenn schon nicht von allen bürgerlichen Kreisen tatsächlich gelebt, so doch zumindest angestrebt werden: Die Enge der „kleinen Verhältnisse“ wird so zumindest in der symbolischen Form der Sprache verlassen. 5. Erziehung zu sprachlichem Geschmack Wenn also einerseits die Ideologie von einer ‘korrekten’ Sprache die kognitiven Dimensionen des Sprachbewusstseins in den Vordergrund rückt, so lassen sich andererseits auch deutlich emotive Komponenten bürgerlichen Sprachbewusstseins ausmachen, die bestimmte Sprachgebräuche und sprachliche Verhaltensweisen direkt mit emotionalen Befindlichkeiten rückkoppeln, was im effizientesten Fall dazu führt, dass sprachliche Verstöße nicht mehr nur intellektuelle Missbilligung oder soziale Ablehnung, sondern - wie dies dem Protagonisten der Kurzgeschichte von Paul Lindau geschieht - geradezu körperlichen Ekel hervorrufen. Eine solche in der Erziehung geleistete Koppelung der Einhaltung von Verhaltensnormen an körperliche Befindlichkeit ist ein ebenso altes wie wirksames Mittel der Sozialdisziplinierung, das in prototypischer Weise - und dies durchaus nicht nur im 19. Jahrhundert - in der Reinlichkeitserziehung sowie in der Vermittlung von Tischsitten eingesetzt wird. Die Bindung körperlicher Reaktionen wie Ekel oder Wohlbefinden an bestimmte sprachliche Verhaltensweisen ist dagegen eine Erscheinung, die erst und vor allem in der bürgerlichen Spracherziehung des 19. Jahrhunderts gefördert und ausgenutzt wird. 6 In diesem Zusammenhang kommt der bürgerlichen Kinderstube eine herausragende Funktion zu. Das Erlernen eines 6 Wo in Anstandsbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts von „unflätiger“ Sprache oder Redeweise gesprochen wird, sind (noch) nicht dialektale oder substandardliche Ausdrucksweisen gemeint, sondern Ausdrücke aus dem Sexual- oder Fäkalbereich oder dann entsprechende Sprichwörter und Zoten. <?page no="57"?> Integration und Abwehr 57 bewussten Umgangs mit Sprache im emotional geprägten Rahmen familiären Lebens dürfte auch bei der sozialen Binnendifferenzierung bürgerlicher Kreise eine Rolle spielen. Wenn Nipperdey mit Blick auf das bürgerliche Standesprädikat der Bildung zwischen „geborenen“ und „gewordenen“ Bildungsbürgern unterscheidet (Nipperdey 1991, Bd. 1, S. 389) und davon spricht, dass all diejenigen „am Rande“ blieben, die „in den Symbolen und Signalen nicht von Kindheit an zu Hause war[en]“, so dürfte sich dies mit besonderer Berechtigung von der Sozialsymbolik der Sprache behaupten lassen. Diese Bedeutung der bürgerlichen Kinderstube für die feinen Unterschiede des Sprachgebrauchs und für die auch in der Erziehungsliteratur explizit gemachte Sensibilisierung ihnen gegenüber soll abschließend eine kleine Passage aus Emma Billers Mädchenroman „Das Haustöchterchen“ demonstrieren: Sabine, Tochter von Amtsrat Breitenbach und Protagonistin des Romans, hat Mühe im Umgang mit Trude, einer entfernten Verwandten, die für einige Zeit in die Familie des Amtsrats aufgenommen ist. Trude benimmt sich in den Augen Sabines und ihrer Geschwister sehr merkwürdig und abstoßend. Sabines Mutter erklärt ihrer Tochter unter vier Augen, weshalb das so ist: Trude ist mutterlos aufgewachsen, ihr Vater konnte sich nur wenig um sie kümmern, und so blieb die Erziehung des Mädchens auf den täglichen Umgang mit der Magd beschränkt, was man ihr nun anmerke. Diese Erklärung erfüllt Sabine mit Nachsicht, obwohl der Umgang mit Trude schwierig ist und Sabine mehr als einmal Erzieherin spielen muss. So auch in der folgenden Szene: ‘Wie ihr euch ziert,‘ bemerkte Trudchen, nachdem sie ein bisschen mehr aufgetaut war. ‘Warum sprecht ihr denn nicht, wie euch der Schnabel gewachsen ist? ’ Sabine konnte sich nicht helfen, etwas von oben herunter zu entgegnen: ‘Wir zieren uns nicht, wir sprechen nur wie gebildete Leute.’ ‘Na, ich denke, wenn ich so reden lernen soll, lache ich mich halb tot. Bei Tische sprecht ihr untereinander so leise, dass ich kein Wort verstanden habe.’ ‘Papa liebt nicht lautes Reden bei Tisch, er sagt, es passe sich nicht.’ ‘So, das passt sich nicht? Ich bin nur neugierig, was sich bei euch alles nicht passt! Wahrscheinlich passt sich's auch nicht, dass man das Messer in den Mund nimmt? Ich sah ja, was Fritz für eine Grimasse zog, als ich's that. - Na, ich esse, wie mir's gefällt; bildet euch nicht ein, dass ich mir an euch ein Beispiel nehmen werde; das sollte mir einfallen, bei jedem Bissen nachzudenken, wie man ihn in den Mund steckt.’ (Biller o.J., S. 116, Hervorhebung im Original) An dieser Stelle nun bringt das perfekte Bürgerkind Sabine nicht nur das Wesen ihrer Tischsitten, sondern - in völliger Parallele dazu - auch ihrer sprachlichen Manieren auf den Punkt und belehrt Trude: <?page no="58"?> Angelika Linke 58 ‘Wir denken weder nach, wie wir sprechen, noch wie wir essen,’ meinte Sabine. ‘Papa und Mama haben sich, als wir kleine Kinder waren, viel Mühe gegeben, es uns zu lehren.’ (Biller o.J., S. 116, Hervorhebung im Original) Die junge Romanheldin formuliert hier, was sich auch für die reale sprachliche Alltagswelt des Bürgertums im 19. Jahrhundert als soziolinguistisches Faktum festhalten und mit dem Habitusbegriff von Pierre Bourdieu theoretisieren lässt. Was Bourdieu unter dem Leitbegriff des Habitus in Bezug auf den so genannten guten Geschmack formuliert, trifft in besonders pointierter Weise auf die Ausbildung der bürgerlichen Sprachkultur, auf die Ausformung eines sprachlichen Stilgefühls zu, das seinen Maßstab in körperlichen Reaktionen findet und seinen Trägern entsprechend unhintergehbar erscheint: [...] was sich [...] einstellt, ist ein unmittelbares Verhaftetsein bis hinein in die Tiefen des Habitus, bis hinein ins Innerste des Geschmacks und des Ekels, der Sympathien und Antipathien, der Phantasmen und Phobien, welche weitaus nachdrücklicher als die erklärten Meinungen und Ansichten im Unbewussten die Einheit einer Klasse begründen.“ (Bourdieu 1988, S. 137) 6. Integration und Abwehr Auch wenn die zitierten literarischen Quellen zweifellos mit Stilisierungen arbeiten, und auch wenn autobiographischen Erinnerungen und Überlegungen immer der Charakter des Anekdotischen anhaftet, so lassen sich aus der Konvergenz der unterschiedlichen Daten doch die zentralen Charakteristika ebenso wie die soziale Funktionalisierung bürgerlichen Sprachbewusstseins im 19. Jahrhundert erschließen. Im Gegensatz zur ständischen Selbstdefinition des Adels, deren bevorzugtes semiotisches Medium der Körper ist und die ihren Ausdruck in einer entsprechenden Leibeskultur, in einer elaborierten Sozialsemiotik der Körpergesten findet, wie sie besonders auffällig in den adligen Körperkünsten, in Tanz, im Fechten, im Ballspiel etc. zur Schau gestellt werden (vgl. Linke 1996 und 2004), ist das bevorzugte sozialsemiotische Medium des Bürgertums die Sprache, das zudem bevorzugt in den Dimensionen von ‘richtig’ und ‘falsch’ beurteilt wird. Auch wenn in der Ausbildung der überregionalen deutschen Standardsprache eher sachfunktionale Faktoren und Prozesse eine wesentliche Rolle gespielt haben - wie etwa die vermehrte überregionale Beweglichkeit bürgerlicher Kreise, die zunehmende Institutionalisierung von Politik und Gesellschaft, Ausbau und Professionalisierung von Wissenschaften und Verwaltung etc. -, so ist die Standardisierung des Deutschen doch eng mit der kulturellen Selbstermächtigung der sozialen Formation des (Bildungs-)Bürgertums des späteren 18. sowie des 19. Jahrhunderts verbunden. Die soziale und kulturelle Funktionalisierung von „Standardsprachlichkeit“ hat dabei zwei <?page no="59"?> Integration und Abwehr 59 Stoßrichtungen: einerseits als Medium von Identitätsbildung und sozialer Integration, dies nicht zuletzt gegenüber der ‘alten’ Führungsschicht des Adels; andererseits als Medium von Abwehr und Ausschluss, dies vor allem gegenüber aufstiegsorientierten unterbürgerlichen Schichten, deren Teilhabe an einer bürgerlichen Öffentlichkeit unter anderem an eine adäquate Artikulationsfähigkeit gebunden und dadurch auch gleichzeitig eingeschränkt wird. Wenn es in einem einschlägigen Artikel zur Ausbildung der überregionalen Standardsprache heißt: Die dt. ‘Hochsprache’ ist danach aufzufassen als eine Varietät in dem Varietätenspektrum der historischen Gesamtsprache Deutsch, die neben anderen Varietäten, etwa den verschiedenen Dialekten innerhalb des diatopisch/ diastratisch/ diaphasisch dimensionierten Varietätenraumes ‘Deutsch’ seit dem Ende des 18. Jhs. einen Platz erobert hat. (Mattheier 2000, S. 1952) so ist die Vorstellung einer quasi „selbstständigen“ Herausbildung und sozialen Positionierung der Standardsprache, die solche Formulierungstraditionen mit sich bringen, unter einer soziopragmatischen Perspektive problematisch. Die Ausbildung, Stabilisierung sowie die Verbreitung von Varietäten des Deutschen sind - nicht nur im Fall der Standardsprache - immer auch als soziolinguistische beziehungsweise kulturlinguistische Prozesse zu modellieren, und das heißt: Es ist in der Sprachgeschichtsschreibung immer auch die Frage nach den Akteuren und ihren Motivationen zu stellen. 7 7. Literatur 7.1 Quellen Biller, Emma (o.J. [1. Aufl. 1881]): Das Haustöchterchen. Eine Erzählung für Mädchen von 10 bis 15 Jahren. 5. Aufl. Stuttgart. Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft (1867-1890). Leipzig. Freund, Franz (1888): Was schickt sich und was schickt sich nicht? Ein Ratgeber für Jung und Alt in allen Regeln des Anstandes. Schweidnitz. Gleichen-Rußwurm, Alexander von (1909): Sieg der Freude. Eine Ästhetik des praktischen Lebens. Stuttgart. 7 Diese Forderung wurde und wird gerade von Klaus J. Mattheier in verschiedenen Publikationen gestellt. Aus der oben zitierten Formulierung darf deshalb nicht auf eine mangelnde soziopragmatische Sensibilisiertheit des Autors geschlossen werden, als vielmehr auf die Prägekraft einmal eingespielter Formulierungsmuster, die als nachhaltige „Filter“ für die Theoriebildung wirken. <?page no="60"?> Angelika Linke 60 Gleichen-Rußwurm, Alexander von (1924): Gesellschaftskunst. Ein Büchlein von Konversation und feiner Sitte. Berlin. Koch, Henny (o.J. [1906? ]): Mütterchen Sylvia. 19. Aufl. Stuttgart/ Berlin/ Leipzig. Lindau, Paul (1877): Die kranke Köchin. Die Liebe im Dativ. Zwei ernsthafte Geschichten. Stuttgart/ Leipzig. [„Die Liebe im Dativ“ ist im Verzeichnis „Linke“ der beiliegenden C D enthalten.] Mann, Thomas (1974): Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Gesammelte Werke in 13 Bdn. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt a.M. Polko, Elise (1886): Unsere Pilgerfahrt von der Kinderstube bis zum eigenen Herd. 8. Aufl. Leipzig. Sydow, Friedrich von (1840 [Vorwort 1836]): Neuer Sitten- und Höflichkeitsspiegel. Ein Complimentirbuch für alle Stände; oder Anleitung, sich in allen geschäftlichen und geselligen Verhältnissen, mit Anstand, der Sittlichkeit und Schicklichkeit gemäss und dem Geiste der Zeit angemessen, zu verhalten. Besonders für den Mittel und Bürgerstand bearbeitet und für Personen jeden Alters und Geschlechts berechnet. Nordhausen. Tiburtius, Franziska (1923): Erinnerungen einer Achtzigjährigen. Berlin. 7.2 Sekundärliteratur Bourdieu, Pierre (1988): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 2. Aufl. Frankfurt a.M. Cherubim, Dieter (1983): Zur bürgerlichen Sprache des 19. Jahrhunderts. In: Wirkendes Wort 33, S. 398-420. Cherubim, Dieter/ Klaus J. Mattheier (Hg.) (1989): Voraussetzungen und Grundlagen der Gegenwartssprache. Sprach- und sozialgeschichtliche Untersuchungen zum 19. Jahrhundert. Berlin/ New York. Linke, Angelika (1996): Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart. Linke, Angelika (1998): Sprache, Gesellschaft und Geschichte. Überlegungen zur symbolischen Funktion kommunikativer Praktiken der Distanz. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 26, S. 135-154. Linke, Angelika (2004): Das Unbeschreibliche. Zur Sozialsemiotik adeligen Körperverhaltens im 18. und 19. Jahrhundert. In: Lonze, Eckart/ Wienfort, Monika (Hg.): Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert. Köln/ Weimar/ Wien, S. 247-272. Mattheier, Klaus J. (1991): Standardsprache als Sozialsymbol. Über kommunikative Folgen gesellschaftlichen Wandels. In: Wimmer, Rainer (Hg.): Das 19. Jahrhundert. Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch. Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1990. Berlin/ New York, S. 41-73. <?page no="61"?> Integration und Abwehr 61 Mattheier, Klaus J. (1993): „Mit der Seele Atem schöpfen“. Über die Funktion von Dialektalität in der deutschsprachigen Literatur. In: Mattheier, Klaus J./ Wegera, Klaus-Peter/ Solms, Hans-Joachim/ Macha, Jürgen/ Hoffmann, Walter (Hg.): Vielfalt des Deutschen. Festschrift für Werner Besch. Frankfurt a.M. u.a., S. 633-653. Mattheier, Klaus J. (2000): Die Durchsetzung der deutschen Hochsprache im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert: sprachgeographisch, sprachsoziologisch. In: Besch, Werner/ Betten, Anne/ Reichmann, Oskar/ Sonderegger, Stefan (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Vollst. neu bearb. und erw. Aufl. Bd. 2. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.2). Berlin/ New York, S. 1951-1966. Nipperdey, Thomas (1991): Deutsche Geschichte 1866-1918. 2 Bde. 2. Aufl. München. Polenz, Peter von (1999): Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 3: 19. und 20. Jahrhundert. Berlin/ New York. Reichmann, Oskar (2000): Nationalsprache als Konzept der Sprachwissenschaft. In: Gardt, Andreas (Hg.): Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Berlin/ New York, S. 419-469. Schlobinski, Peter (1988): Über den „Akkudativ“ im Berlinischen. In: Muttersprache 98, 3, S. 214-225. <?page no="63"?> Jürgen Spitzmüller „Sind wir noch Deutsche? “ Der deutsch-englische Sprachkontakt als Thema des öffentlichen Diskurses in der Gegenwart 1. Einleitung Der vorliegende Beitrag schließt den von Norbert Richard Wolf begonnenen und von Angelika Linke (beide in diesem Band) weitergeführten chronologischen Überblick über die Auseinandersetzung der Deutschen mit ‘ihrer’ Sprache ab, indem er den Blick auf die metasprachlichen Diskurse der Gegenwart lenkt, insbesondere auf die in den Massenmedien geführten Kontroversen zu aktuellen Sprachkontaktphänomenen. Er tut dies aus einer soziolinguistischen Perspektive, wird also sprachliche Praktiken in ihrem konkreten gesellschaftlichen Umfeld betrachten, wobei auch der Diskurs zum Sprachkontakt primär als Praktik verstanden wird: als metasprachliche und metapragmatische Praktik. 1 Da der Beitrag nur einen Ausschnitt aus diesem komplexen Gegenstandsbereich beleuchten kann, 2 konzentriert er sich auf zwei zentrale Aspekte: die historische Tradition, in der der Diskurs steht, und die sprachtheoretischen Konzepte, die ihm zugrunde liegen. Entsprechend ist der Beitrag in zwei Teile gegliedert: Der erste Teil (Abschnitt 2) skizziert die Entstehung und Entwicklung des Diskurses, im zweiten werden dort dann einige zentrale Positionen herausgearbeitet (Abschnitt 3), welchen anschließend (in vielerlei Hinsicht konträre) soziolinguistische Positionen gegenübergestellt werden (Abschnitt 4). In diesem Teil wird gleichzeitig gezeigt, wo die zentralen Punkte und Probleme dieses Diskurses aus Sicht der Soziolinguistik liegen. 1 Der v. a. von Michael Silverstein geprägte Begriff der Metapragmatik fokussiert Äußerungen, mit denen sprachliche Handlungen - bzw. im Kontext dieses Beitrags: ‘angemessenes’ sprachliches Handeln - thematisiert werden (vgl. dazu Silverstein 1993, Verschueren 2004 sowie zur soziolinguistischen Bedeutung der Meta-Ebene grundsätzlich Coupland/ Jaworski 2004). 2 Für eine ausführliche Analyse vgl. Spitzmüller (2005). <?page no="64"?> Jürgen Spitzmüller 64 2. Diskursgeschichte Der Diskurs zum deutsch-englischen Sprachkontakt steht in einer langen Tradition. Die Auseinandersetzung mit den Folgen des Sprachkontaktes, jeweils bezogen auf die Hauptkontaktsprache einer bestimmten Zeit oder Domäne, lässt sich bis zu den Anfängen des Deutschen als Schriftsprache im 9. Jahrhundert zurückverfolgen (vgl. Straßner 1995, S. 1-31). Die lange und wechselvolle Geschichte dieser Auseinandersetzung kann in diesem Beitrag nicht dargestellt werden (vgl. dazu Kirkness 2000; Stukenbrock 2005b). Es sei an dieser Stelle jedoch darauf hingewiesen, dass sehr viele der zentralen Argumente, die in der aktuellen Diskussion vorgebracht werden, sich ebenfalls quer durch die Diskursgeschichte ziehen, nicht zuletzt auch solche, von denen diejenigen, die sie vorbringen, überzeugt sind, dass es sich dabei um neue Argumente handelt bzw. um Argumente, die sich auf neue Entwicklungen beziehen. 3 In den Fokus des Diskurses rückt der deutsch-englische Sprachkontakt ab Ende des 19. Jahrhunderts, in sprachkritischen Schriften wie Hermann Dungers „Wider die Engländerei in der deutschen Sprache“, die 1899 erstmals in der Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins abgedruckt 4 und 1909 überarbeitet als Büchlein erschien, sowie in Eindeutschungslisten eben dieses Vereins etwa zur Terminologie des Fußballs und anderer damals neuer Sportarten. Obwohl Entlehnungen (sowohl sprachlicher als auch nichtsprachlicher Art) aus dem Englischen und Amerikanischen seit dieser Zeit zunehmend kritisiert wurden, zielte der damalige Purismus noch nicht spezifisch auf Anglizismen, sondern auf ‘das Fremdwort’ allgemein und dabei immer noch vor allem auf Gallizismen (vgl. Schiewe 1998, S. 54-176; Polenz 1999, S. 264-293). Ein puristischer Text aus dieser Phase soll im Folgenden etwas ausführlicher zitiert werden, weil sich darin sehr schön einige Konstanten zeigen, die sich durch den Diskurs ziehen. Wenn man die kritisierten Ausdrücke austauschen würde, könnte man die Passage durchaus für ein prototypisches Zitat aus dem gegenwärtigen Diskurs halten. Es handelt sich um einen Beitrag, der unter dem Titel „Sind wir noch Deutsche? “ 1928 in der Zeitschrift „Deutsches Volkstum“ abgedruckt wurde. Der Autor Christoph Langmut fragt dort mit Blick auf die „Reichshauptstädter und Weltstädter“, „meine Berliner“: 3 Das zeigt insbesondere Anja Stukenbrocks (2005b) Untersuchung des sprachreflexiven Diskurses zu Sprache und Nation vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (vgl. auch Stukenbrock 2005a). 4 Der Aufsatz ist im Verzeichnis „Spitzmueller“ der beiliegenden CD enthalten. <?page no="65"?> „Sind wir noch Deutsche? “ 65 […] Wie steht es aber mit dem Deutschtum der Berliner? Faul steht es damit. Wie sie sich kleiden, wie sie reden und schreiben, und wie sie sich vergnügen. Vom Deutschtum ist da nicht mehr viel zu spüren. Sie reden sich mit dem ‘kosmopolitischen Charakter der Weltstadt’ heraus. Aber Paris und London sind doch gewiß ‘Weltstädte’: sind sie deswegen so abhängig vom Ausland, laufen sie so den Fremden nach wie ihr ‘Balina’? […] Wenn du über den Kurfürstendamm gehst, verehrter Zeitgenosse, kannst du deine französischen Sprachkenntnisse erweitern. Immer wieder bleibt das Auge an einer französischen Aufschrift hängen. Nicht allein Putzgeschäfte, die meinen, eine deutsche Firma könnte sie in Mißkredit bringen und sich also ‘Maison Angèle’ oder ‘Salon Marguerite’ nennen oder ‘Maison de Paris’ - die Inhaber solcher Häuser sind nicht etwa Franzosen, sondern Deutsche (soweit man davon reden darf): sie heißen Rixrath, Landeck und Friedmann, diese Krampfpariser, und ‘La Corsetière’ hört auf den nicht eben gallischen Namen ‘Wanda Seifert’ - es gibt auch eine ‘Maison du livre’ und eine Fabrik elektrischer Kühlanlagen, die keinen passenderen Namen gefunden hat als ‘Frigidaire’. Habt ihr es erlebt, daß sich Engländer und Franzosen in ihrer Heimat deutsche Firmenschilder zugelegt hätten? Kaum … Sind uns etwa die Franzosen so weit voraus? […] Es ist zum Lachen. (Langmut 1928, S. 374-375; Hervorhebungen im Original. [Enthalten im Verzeichnis „Spitzmueller“ der beigefügten CD .]) Wie auch in aktuellen puristischen Texten 5 ist hier die Rede von einem „kosmopolitischen Imponiergehabe“, von der Verleugnung der eigenen nationalen Identität und davon, dass dies eine deutsche Eigenheit sei (all dies findet sich auch in älteren Texten bis hinein ins 17. Jahrhundert). 6 Weiterhin fällt auf, dass die Kritik primär auf Sprache im öffentlichen Raum zielt, vor allem auf Werbesprache und das Phänomen des Foreign Branding, wie die Werbeforschung die Benennung von Produkten mit fremd klingenden Namen nennt, die alles andere als eine deutsche Eigenheit ist und nicht zuletzt in den USA massiv eingesetzt wird (vgl. Leclerc/ Schmitt/ Dubé 1994; Gierl/ Großmann 2006). Auch strategisch gibt es viele Gemeinsamkeiten zu heutigen Texten: Das parodistische Aneinanderreihen möglichst vieler Entlehnungen und der Versuch, deren Gebrauch ins Lächerliche zu ziehen, findet sich sowohl in heutigen als auch in früheren Texten häufig - die Aufforderung, über den kritisierten Sprachgebrauch zu lachen, scheint durch die Jahrhunderte hinweg Teil einer vielversprechenden Taktik zu sein, mit der man den eigenen Sprachgebrauch sozusagen kontrastierend aufwerten kann. 7 5 Vgl. etwa Frankfurter Allgemeine Zeitung (1996); Hinz (1998); zum Argument Spitzmüller (2005, S. 281-284; 324-325) sowie Spitzmüller (2007b). 6 Vgl. Stukenbrock (2005b, S. 95-101; 187-193; 257-262; 345-349) sowie Stukenbrock (2005a, S. 235-239). 7 Bekannte historische Beispiele hierfür sind die mittelalterliche Kritik (z.B. des Tannhäusers) am sog. strîfeln (vgl. Bumke 1997, S. 114) und die satirische Kritik an höfisch-gestrîfel- <?page no="66"?> Jürgen Spitzmüller 66 Wie das obige Zitat zeigt, konzentriert sich Langmuts Kritik immer noch primär auf Gallizismen. Wenn man seinen Text noch etwas weiterliest, sieht man allerdings, dass der Sprachkontakt zum Englischen auch bereits seine Aufmerksamkeit gefunden hat. Er wird als neues Phänomen wahrgenommen, das dem Sprachkontakt zum Französischen zur Seite tritt und diesen möglicherweise sogar in den Hintergrund drängt: Nicht allein Frankreich ist Trumpf, sondern neuerdings auch England und Amerika. […] Die ‘mondäne’ Dame geht nachmittags in ihrem ‘Trotteur’- Kleidchen Einkäufe machen? - nicht doch: sie geht ‘shopping’. Sie hat entweder ein ‘Faible’ oder einen ‘Penchant’ für diese Beschäftigung. Zum ‘Five o clock’ betritt sie ein ‘fashionables’ Café, über dessen Türen man liest ‘Confiserie’ und ‘Patisserie’. Dann, nach dem Genuß einiger ‘Sandwiches’ und nach der Lektüre der neuesten ‘Communiqués’ (oder ‘Kommuniqués’ oder ‘Kommuniquees’) telephoniert sie, der Chauffeur möge den Chrysler aus der ‘Box’ holen. (Langmut 1928, S. 375) „So weit haben wir's gebracht …“, schließt Langmut (1928, S. 376) seine Klage. Ganz ähnliche Schilderungen zitiert bereits Dunger (1909, S. 4-6): In Berlin spricht man gegenwärtig so viel Englisch, daß der Vorwurf, Berlin sei eine Stadt Englands, gar nicht unberechtigt ist. Natürlich sind es nicht reisende Engländer, die hier in Rede stehen, sondern gut deutsche, Berliner Bürger … Betritt man heute ein neues Haus, um etwa eine Wohnung zu besichtigen, so wird man, da der neuzeitliche Mensch nicht mehr Treppen steigt, mit einem Aufzug oder Fahrstuhl hinaufbefördert. Dieser Fahrstuhl heißt in Berlin ‘Lift’, und der ihn bedienende Pförtner oder Fahrstuhljunge trägt stolz den Aufdruck ‘Liftboy’ an der Mütze. Echt deutsch … In diesen Wohnungen finden wir jetzt außer dem Bratofen, auf dem die deutsche Hausfrau bisher den Gänsebraten oder die Apfelspeise herstellte, einen ‘Grill’. Denn der echte Berliner, der in diese Wohnung zieht, ißt zum Frühstück beileibe nicht mehr ein Eisbein oder ein Stück Rindfleisch, sondern ein Beefsteak, ein Rumpsteak, ein Kalbsteak oder sonst ein Steak, und das würde ihm nicht schmecken, wenn es nicht auf dem Grill und womöglich in dem besonderen Grillroom zubereitet worden wäre. Der gute deutsche Mann ißt zudem schon lange keinen Kuchen mehr, sondern behilft sich mit Cakes und statt der gerösteten Brotschnitte nimmt er zum Kaviar Toast, statt der Butterstullen Sandwiches. […] (Dunger 1909, S. 4; im Original Fraktur, Hervorhebungen Antiqua) 8 tem Sprechen etwa im Helmbrecht Wernhers des Gartenaere (vgl. Bumke 1997, S. 119-120; Straßner 1995, S. 21) sowie die „Alamode“-Kritik im 17. Jahrhundert (vgl. Straßner 1995, S. 99-120). Zur Satire im aktuellen Diskurs, die übrigens auch auf Seiten der Purismuskritiker - etwa in Form der Präsentation absurder wörtlicher Übersetzungen - beliebt ist, vgl. Spitzmüller (2005, S. 298-299). 8 Davon, dass sich diese Passage fast ausschließlich auf Anglizismen bezieht, welche sich (im Fall von Cakes: in orthographisch angeglichener Form Keks) im Sprachgebrauch etabliert <?page no="67"?> „Sind wir noch Deutsche? “ 67 Wie Langmut vermutet auch Dunger, dass das Englische die Rolle des Französischen als Hauptkontaktsprache übernehmen werde: […] Englisch ist jetzt fein, Englisch ist Trumpf. Für manchen Deutschen ist es das höchste Ziel seines Ehrgeizes, für einen Engländer gehalten zu werden. Wie der Deutsche früher der Affe des Franzosen war, so äfft er jetzt den Engländern nach. […] Die neue englische Hochflut hat erst begonnen, aber sie ist auf dem besten Wege, unsre Sprache zu überschwemmen, wenn man ihr nicht Einhalt gebietet. Das deutsche Volk muß aufmerksam gemacht werden auf die Gefahr, die seiner Sprache droht; es muß gewarnt werden, so lange es noch nicht zu spät ist. (Dunger 1899, S. 242; 250) Wiederum finden sich hier diskursive Sedimente, die die Jahrhunderte durchziehen. Zum einen ist dies die beliebte Bedrohungsmetaphorik, auf die die Diskursteilnehmer in verschiedenen Varianten immer wieder zurückgreifen 9 und die in aller Regel auf tief verwurzelte kollektive Bedrohungsszenarien zurückgreifen. Das von Dunger hier verwendete Metaphernkonzept Entlehnung als Flut, das nicht nur bei Dungers Zeitgenossen und Mitstreitern - etwa bei Eduard Engel (vgl. Sauter 2000, S. 273-274) - sehr beliebt war, sondern sich auch im gegenwärtigen Diskurs häufig findet (vgl. Spitzmüller 2005, S . 247- 251), ist Teil eines solchen kollektiven Bedrohungsszenariums. Zum andern verwendet Dunger das Bild des Fremdwort-Verwenders als Affen, das sich, wie Andreas Gardt (2001, S . 52) gezeigt hat, bereits in puristischen Texten des 17. Jahrhunderts und eben auch in aktuellen Texten findet, in denen vom sog. „Schimpansendeutsch“ (vgl. z.B. Besuch 1998; Bettermann 1999) die Rede ist. Die Wirkmächtigkeit dieser Analogie liegt in verschiedenen Implikationen begründet: Zum einen werden Kommunikationsteilnehmer, die Fremdwörter verwenden, als „unreflektierte[…] Imitator[en]“ (Gardt 2001, S . 52) dargestellt, nicht zuletzt aber auch als vollkommen entmenschlichtes und damit enthumanisiertes Gegenstück - als Alterität - zum aufgeklärten Bürger, der einen wichtigen Bezugspunkt sprachkritischer Identitätsarbeit darstellt (vgl. Spitzmüller 2007a, S. 271-275). Tatsächlich ist ja dann das eingetreten, was Dunger und Langmut geahnt (bzw. befürchtet) haben: Englisch ist zur Hauptkontaktsprache geworden. Der Diskurs allerdings hat eine andere Wendung genommen. Nachdem dem Allgemeinen Deutschen Sprachverein 1940 per sogenanntem ‘Führererlass’ die haben, sollte man sich allerdings nicht in die Irre führen lassen. Die meisten der etwa 1000 Anglizismen, die Dunger (1909) gesammelt hatte, sind heute nicht (bzw. nicht mehr) frequent (vgl. dazu bereits Carstensen 1984). 9 Vgl. Spitzmüller (2005, S . 191-257); zu älteren Texten Stukenbrock (2005b, S . 85-111; 172- 201; 250-283; 335-380). <?page no="68"?> Jürgen Spitzmüller 68 politische Unterstützung entzogen wurde (vgl. Polenz 1967), und erst recht nach 1945, als die immer nationalistischer und zuletzt auch explizit rassistisch gewordene Sprachideologie des bereits 1934 von einem Mitglied als „SA unserer Muttersprache“ (Miebach 1934, Sp. 146; vgl. auch Schiewe 1998, S. 161) attribuierten Vereins gesellschaftlich diskreditiert war, hatte zumindest der institutionalisierte Purismus sein vorläufiges Ende gefunden (vgl. Jung 1995, 2006). Die Folge davon war, dass der Diskurs zum deutsch-englischen Sprachkontakt für annähernd ein halbes Jahrhundert sehr stark in den Hintergrund getreten ist, insbesondere, wie Matthias Jung (1995, 2006) gezeigt hat, nach 1968. Das heißt nicht, dass es nicht immer wieder anglizismenkritische Bemerkungen gegeben hätte. Der Diskurs „rauschte“, um es mit Michel Foucault (1997, S. 33) auszudrücken, zwar leiser, aber dennoch „unaufhörlich“ im Hintergrund weiter. Längerfristig in den Vordergrund getreten ist er erst wieder im Verlauf der 1990er-Jahre. Nachdem bereits in den 1980er-Jahren eine ideologische Umwertung der zuvor stark mit Konservativismus und Nationalismus konnotierten Anglizismenkritik konstatiert werden kann (vgl. Jung 1995, S. 266- 272), begannen vor allem um die Mitte der 1990er-Jahre (und sicher nicht zufällig nach der Wiedervereinigung) 10 anglizismenkritische Stimmen lauter zu werden. Die Gründung des Vereins zur Wahrung der deutschen Sprache - heute Verein Deutsche Sprache - im Jahr 1997 war in dieser Entwicklung nur ein weiterer, konsequenter Schritt. Wie die Analyse des Diskurses deutlich zeigt, war die Gründung dieses Vereins eher die Folge eines bereits in Gang gekommenen neuen Diskurses als sein Anstoß, gleichwohl haben seine zahlreichen öffentlichkeitswirksamen Initiativen den Diskurs in der Folgezeit sehr stark geprägt, und die erneute Institutionalisierung des Purismus kann als eine wichtige Etappe in der Geschichte des Diskurses über Sprachkontakt im 20. Jahrhundert betrachtet werden (vgl. Spitzmüller 2005, S. 107-128). Zwischen 1995 und 2001 intensivierte sich der Diskurs sowohl qualitativ als auch quantitativ in bemerkenswerter Weise. Im diesem Beitrag zugrunde liegenden Untersuchungskorpus, das aus 1398 Medientexten besteht, hat eine stetige und deutliche Zunahme der Texte zum Thema stattgefunden (vgl. Spitzmüller 2005, S. 128-139), die ihren Höhepunkt im Frühjahr 2001 findet, als Politiker aller Parteien öffentlich darüber diskutieren, ob man ein Sprachgesetz einführen solle (vgl. ebd., S. 139-156). 10 Vgl. dazu u.a. Spitzmüller (2002, S. 252-254); Law (2002, S. 83); Gardt (2004, S. 204); Spitzmüller (2007a). <?page no="69"?> „Sind wir noch Deutsche? “ 69 Nachdem die politische Debatte im Sommer 2001 zu einem vorläufigen Abschluss gekommen war, nahm die mediale Präsenz des Themas wieder etwas ab; 11 gleichwohl hat sich der Diskurs auf recht hohem Niveau eingependelt, und das Thema kommt immer mal wieder kurzfristig zu erhöhter Medienaufmerksamkeit; jüngste Beispiele dafür sind die Titelgeschichte des Spiegels zur angeblichen „Verlotterung der Sprache“ im Oktober 2006 (vgl. Schreiber 2006; dazu Spitzmüller 2007b; Schneider 2007) und der im März 2007 lancierte Vorschlag der CDU -Politikerin und Verbraucherschutzbeauftragten Julia Klöckner, „sprachlichen Verbraucherschutz“ gesetzlich zu verankern (vgl. Klöckner 2007). Der deutsch-englische Sprachkontakt hat sich also bis auf Weiteres als Thema des öffentlichen Diskurses etabliert. Neue Argumente werden dabei allerdings nicht mehr eingebracht. Sowohl die Befürworter als auch die Kritiker des Sprachkontakts scheinen ihre Positionen im Wesentlichen artikuliert zu haben. 3. Positionen im Diskurs Welche Positionen sind das? Wie bereits angedeutet, lassen sich die Argumente (auf beiden Seiten) relativ leicht zu argumentativen Grundmustern zusammenfassen. Im Folgenden werden die häufigsten und wohl auch die im Diskurs am tiefsten verwurzelten vorgestellt (für eine ausführliche Argumentationsanalyse vgl. Spitzmüller 2005, S. 259-310). Auf Seiten der Befürworter des Sprachkontakts bzw. der Purismusgegner treten vor allem folgende drei Typen von Argumenten besonders häufig auf: Beim gegenwärtigen Sprachkontakt handle es sich um kein bedenkliches Phänomen, Entlehnung habe es schon immer gegeben; Purismus sei nationalistisch, Anglizismen hingegen seien Zeichen einer transnationalen, globalisierten Welt; Anglizismen stellten eine wichtige semantische Bereicherung dar. Die Kritiker von Anglizismen bringen hingegen vor allem folgende drei Typen von Argumenten häufig vor: Anglizismen schüfen Verständnisbarrieren und grenzten dadurch bestimmte Sprechergruppen aus; die Sprecher verwendeten Anglizismen nur, um sich zu profilieren (sog. ‘Imponiergehabe’), semantisch seien sie überflüssig; 11 Das gilt zumindest für die Monate unmittelbar nach der politischen Debatte (vgl. Spitzmüller 2005, S. 146-147). Empirische Daten zu der Zeit nach 2001 liegen leider bislang nicht vor. 1) 2) 3) 1) 2) <?page no="70"?> Jürgen Spitzmüller 70 die Verwendung von Anglizismen sei das Zeichen einer kollektiven Identitätsstörung. Das Interessante an dieser Gegenüberstellung ist nun m. E. nicht die Gegensätzlichkeit der Positionen, sondern es sind vielmehr die den beiden Seiten gemeinsamen Bezugspunkte. Sowohl den anglizismenkritischen als auch den purismuskritischen Argumenten liegen nämlich, wie sich argumentationsanalytisch herausarbeiten lässt, dieselben laienlinguistischen Konzepte von Sprache und Sprachgemeinschaft zugrunde - nur die Konsequenzen, die die beiden Parteien daraus ziehen, differieren. Der dem öffentlichen Diskurs zugrunde liegende Sprachbegriff lässt sich durch folgende Grundannahmen charakterisieren: Es gibt einen direkten und statischen Zusammenhang zwischen Sprache und Nationalität bzw. nationaler Identität. Konsequenterweise führen aus Sicht der Anglizismenkritiker Veränderungen im Sprachgebrauch, die die Homogenität (vgl. Punkt 3) ‘der’ Sprache brüchig erscheinen lassen, oder gar die Verwendung ‘fremder’ Sprachen in bislang der Nationalsprache vorbehaltenen Domänen, unvermeidlich zu einer Erschütterung ‘der’ nationalen Identität. Die Purismuskritiker beurteilen diesen Zusammenhang eher negativ, als Ausdruck eines ‘überkommenen’ Nationenbegriffs, den man zugunsten eines globalen bzw. transnationalen zu überwinden versucht, zumeist mit Verweis auf die deutsche Geschichte. Angezweifelt wird der Zusammenhang aber letztlich auch von ihnen nicht. Die einzig wichtige Funktion von Sprache sei es, Gegenstände und Sachverhalte in der Welt zu benennen. Daraus resultiert der Streit, ob denn Anglizismen nun eine semantische Differenzierung darstellten oder nicht. Man geht also davon aus, dass für jeden Begriff nur eine Bezeichnung gebraucht wird und dass mehrere Ausdrücke, die dasselbe Referenzobjekt haben, automatisch eine Konkurrenzsituation generieren, die zu einer Verdrängung eines dieser Ausdrücke führt. 12 Sprachen seien homogene, abgeschlossene Gebilde mit scharfen, klar definierbaren Grenzen. Aus Sicht der Anglizismenkritiker liegen Anglizismen jenseits dieser Grenzen, es handelt sich um ‘englische Wörter’. Daher müsse man auch des Englischen mächtig sein, um Anglizismen zu verstehen. 13 Auch die Purismusgegner teilen, wie die Analyse zeigt, weitgehend 12 Gardt (2001, S. 38-39) zufolge zieht sich auch diese Annahme quer durch die Diskursgeschichte. 13 Dies ist auch das Kernargument in den meisten politischen Initiativen zum Thema (vgl. etwa Klöckner 2007). 3) 1) 2) 3) <?page no="71"?> „Sind wir noch Deutsche? “ 71 diese Auffassung. Allerdings weisen sie darauf hin, dass Anglizismen in die homogene deutsche Einheit ‘inkorporiert’ - also: assimiliert - werden, wie eben die Sprachgeschichte zeige. Dieser Sprachbegriff ist im öffentlichen Diskurs tief verwurzelt. Das belegt die Analyse zahlreicher anderer anglizismen- und purismuskritischer Argumente, die im Rahmen dieses Beitrags nicht behandelt werden können (vgl. dazu wiederum Spitzmüller 2005, S. 259-310), die Analyse der im Diskurs verwendeten Metasprache, also der Metaphern (etwa aus dem Metaphernkonzept Sprache als Organismus oder auch aus dem bereits erwähnten Konzept Sprachwandel als Flut; vgl. ebd., S. 191-257) und der Bezeichnungen für sprachliche Phänomene (Brockenenglisch, 14 Denglisch u.Ä. . ; vgl. ebd., S. 157- 190). Soziolinguistisch interessant ist, dass man dieses laienlinguistische Konzept von Sprache in vielen anderen europäischen Ländern hat nachweisen können. Entsprechende Untersuchungen liegen unter anderem zum Diskurs in England (vgl. Thomas 1991; Milroy 2005), Griechenland (vgl. Moschonas 2004) und Luxemburg (vgl. Horner 2005) vor. Weiterhin interessant ist, dass dieses Konzept tief in der europäischen Geistesgeschichte verwurzelt ist, wie Susan Gal (2006) herausgearbeitet hat. Die amerikanische Soziolinguistin geht sogar so weit, ‘Sprache’ als Erfindung der europäischen Aufklärung zu bezeichnen: It may seem odd to say so, but ‘language’ was invented in Europe. Speaking is a universal feature of species, but ‘language’ as first used in Europe and now throughout the world is not equivalent to the capacity to speak, but presumes a very particular set of features. Languages in this limited sense are assumed to be nameable (English, Hungarian, Greek), countable property (one can ‘have’ several), bounded and differing from each other, but roughly inter-translatable, each with its charming idiosyncracies [sic! ] that are typical of the group that speaks it. (Gal 2006, S. 14) Dieses Sprachkonzept, das Gal das „Herderianische Sprachkonzept“ nennt (obwohl sie einräumt, dass Grundzüge des Konzepts bereits vor Herder nachgewiesen werden können; vgl. Gal 2006, S. 14) und das ihr zufolge die Sprachideologien in den europäischen Ländern weitgehend bestimmt, zeichnet sich durch folgende Grundannahmen aus (vgl. ebd., S. 15): Sprache wird hauptsächlich als Instrument angesehen, mit der man Gegenstände und Sachverhalte auf der Welt benennen könne. Alle anderen Funktionen von Sprache sind dem nachgeordnet oder werden nicht als Sprachfunktionen akzeptiert. 14 Vgl. Schrammen (2003); Fritz (2000); bereits Dunger (1899, S. 258) bezeichnet Anglizismen übrigens als „englische Brocken“. 1) <?page no="72"?> Jürgen Spitzmüller 72 Man geht davon aus, dass es so etwas wie Einsprachigkeit gibt und dass diese die Ausgangssituation der Sprecher darstellt. Sprachen werden als intern homogen strukturierte Gebilde angesehen. Zwischen Sprachen gibt es klar definierbare Grenzen, die auf gegenseitiges Nicht-Verstehen zurückzuführen sind. Sprachen sind Gemeinschaftsbesitz. Die Bezüge (insbesondere der Punkte 1, 3 und 4) zu den oben herausgearbeiteten Topoi des öffentlichen Diskurses zum deutsch-englischen Sprachkontakt sind überdeutlich. Das Herderianische Konzept wirkt also in die aktuellen Metasprachdiskurse hinein. Kritisch muss allerdings angemerkt werden, dass auch die Linguistik lange Zeit diesem Herderianischen Konzept verpflichtet war und teilweise noch verpflichtet ist und dass sie auf der Grundlage dieses Konzeptes Schlüsse hinsichtlich des Sprachkontaktes gezogen hat, die zu diskutieren sind. Es war insbesondere die Soziolinguistik, die viele dieser als ‘unhinterfragbar’ geltenden Grundannahmen aufgrund empirischer und theoretischer Forschungen zur faktischen Sprachsituation und Sprachpraxis in Zweifel gezogen hat. Im Folgenden sollen einige der soziolinguistischen Einwände genannt werden. 4. Soziolinguistische Positionen Erstens: Dass Sprache primär Benennungsfunktion hat, ist aus soziolinguistischer Sicht eine massive Verkürzung. Das ist keine neue Erkenntnis: Bereits 1934 hat Karl Bühler in seiner berühmten „Sprachtheorie“ darauf aufmerksam gemacht, dass Sprache mehr ist als ein Werkzeug, „um einer dem anderen etwas mitzuteilen über die Dinge“ (Bühler 1934, S. 24). Neben der „Darstellungsfunktion“ erfüllt Sprache eine ganze Reihe anderer sozialer Aufgaben, unter anderem ist sie ein Mittel, um Einstellungen kundzutun und sich sozial zu positionieren. Das kann man mit Sprache deshalb tun, weil sprachliche Zeichen nicht nur ein Denotat haben (also das Potenzial, bestimmte Gegenstände und Sachverhalte zu benennen), sondern auch Träger sozialsymbolischer Werte sind (vgl. Hess-Lüttich 2004). Das ist keine sekundäre Funktion von Sprache, sondern eine primäre, die in vielen Fällen wichtiger ist als die Darstellungsfunktion (vgl. dazu ausführlicher Spitzmüller 2007b). Daher ist die Frage, ob nun z.B. Kinder und Kids dasselbe bezeichnen, aus soziolinguistischer Sicht schlicht falsch gestellt, wenn auf ihrer Grundlage entschieden werden soll, ob die Entlehnung ‘nötig’ ist oder nicht. Wie Angelika 2) 3) 4) 5) <?page no="73"?> „Sind wir noch Deutsche? “ 73 Linke (2001, 2006) erst kürzlich wieder verdeutlicht hat, ist das Entscheidende bei der Verwendung dieser beiden Varianten, dass ihnen sehr unterschiedliche sozialsymbolische Werte zugeschrieben und sie somit mit unterschiedlichen sozialen Konzepten verbunden werden. Wie weiter unten ausgeführt wird, sind diese sozialsymbolischen Werte allerdings keine statischen Phänomene, eben weil sie das Ergebnis kollektiver Zuschreibungen sind. Der Soziolinguist Jan Blommaert schreibt dazu: [Socio-pragmatic] function is affected by the social ‘values’ - in a politicoecomomic sense - attributed to particular linguistic resources […]. In general, we can say that every difference in language can be turned into difference in social value - difference and inequality are two sides of a coin, a point often overlooked or minimised in analysis. (Blommaert 2005, S. 68-69) Daher ist ‘Variation’, die Auswahl aus verschiedenen möglichen Bezeichnungen für ein und dieselbe Sache, aber mit unterschiedlichen sozialsymbolischen Implikationen, aus Sicht der Soziolinguistik nicht der Ausnahme-, sondern der Normalfall. Dass eine Sprache also idealerweise genau eine Bezeichnung für eine Sache zur Verfügung stellen soll, ist eine Vorstellung, die aus soziolinguistischer Sicht die Polyfunktionalität von Sprache verkennt. Zweitens: Dass Sprachen homogene Gebilde sind und dass es einsprachige Sprecher gibt, ist eine Annahme, welche die Soziolinguistik ebenfalls in Zweifel zieht, und zwar in verschiedener Hinsicht. Dies betont auch Susan Gal: Ironically, as scholars have repeatedly pointed out, such a perfect homology among nation, state, and language [wie es das Herderianische Konzept impliziert; Erg. J. S.] never existed in Europe, or anywhere else. (Gal 2006, S. 15) Für diese These lassen sich mehrere, auf empirische Untersuchungen gestützte Begründungen anführen: Zum einen lassen sich Sprachen, wie insbesondere Untersuchungen in den sprachlichen Grenzregionen gezeigt haben, nicht so eindeutig voneinander abgrenzen, wie es das Herderianische Konzept impliziert. Wir haben es vielfach vielmehr mit graduellen Übergängen zu tun. Wolfgang Raible bringt es auf den Punkt: Der Gegenentwurf lautet also: Alles, was mit Sprache zu tun hat, hat unscharfe Konturen. Scharfe Konturen sind unser Konstrukt. (Raible 1999, S. 462) Zum anderen ist Mehrsprachigkeit der Normalzustand und nicht die Ausnahme, und zwar sowohl auf der Ebene einer Nation als auch auf der Ebene der einzelnen Sprecher. Auf der Ebene der Nation wurde von vielen Linguisten - als Beispiele seien hier nur Georges Lüdi (1996a) und Volker Hinnenkamp (1998) genannt - nachdrücklich darauf hingewiesen, dass es so etwas wie Ein- <?page no="74"?> Jürgen Spitzmüller 74 sprachigkeit in Deutschland nie gegeben hat. Lüdi (1996b, S. 322) hat in diesem Zusammenhang von der „Einsprachigkeitsideologie“ gesprochen, deren Entstehungsgeschichte er in seinem Beitrag nachzeichnet (vgl. Lüdi 1996a). Wenn man von dem problematischen Konzept der homogenen Einzelsprachen abgeht, muss man weiterhin konstatieren, dass es auch keine einsprachigen Sprecher gibt. Jedem Sprecher steht ein Repertoire an verschiedenen Registern zur Verfügung, die er ja nach Situation einsetzt und die sich nur sehr schwer einer einheitlichen, homogenen Sprache oder gar einem idealisierten Konstrukt wie ‘der deutschen Sprache’ subsumieren lassen. Das Stichwort ist hier wiederum ‘Variation’: Die Sprecher wählen unter verschiedenen soziopragmatischen Bedingungen aus verschiedenen sprachlichen Ressourcen diejenigen Zeichen aus, die ihnen zur Erreichung ihrer kommunikativen Ziele am geeignetsten erscheinen. Die Benennungsfunktion ist auch hier nur eine von mehreren Auswahlkriterien. In einem kürzlich erschienenen Aufsatz hat Jannis Androutsopoulos zu Recht darauf hingewiesen, dass sich im Zusammenhang mit Anglizismen und anderen Sprachwandelphänomenen nicht einfach die Frage nach dem systemischen Wandel des Deutschen bzw. der deutschen Standardsprache [stellt], sondern nach der Veränderung sprachlicher Repertoires in Deutschland. (Androutsopoulos 2007, S. 115) Was nun den deutsch-englischen Sprachkontakt betrifft, muss man vor diesem Hintergrund verschiedene Phänomene deutlich voneinander unterscheiden: Die faktische Verwendung des Englischen (zum Beispiel als Verkehrssprache oder als Wissenschaftssprache); die Verwendung syntaktisch vollständiger englischer Phrasen (zum Beispiel als Werbeslogan), also das so genannte Code-Switching; Anglizismen. Nur in den ersten beiden Fällen haben wir es aus Sicht der Soziolinguistik tatsächlich mit Englisch zu tun; der Gebrauch orientiert sich hier auf allen linguistischen Ebenen (Semantik, Syntax, Wortbildung, Aussprache, Schreibung) am Englischen. Anglizismen allerdings sind aus Sicht der Soziolinguistik, im Gegensatz zur Position des öffentlichen Diskurses, im eigentlichen Sinn keine englischen Wörter (vgl. dazu auch Schneider 2007, S. 8). Sie sind zwar aus dem Englischen entlehnt, aus Bausteinen, die aus dem Englischen entlehnt sind, gebildet oder nach englischem Vorbild neu gebildet, es handelt sich aber grundsätzlich um deutsche Wörter, allerdings um sozialsymbolisch häufig spezifisch markierte (s.u.). Anglizismen sind den Wortbildungs- und Satzbaumustern des 1) 2) 3) <?page no="75"?> „Sind wir noch Deutsche? “ 75 Deutschen ebenso unterworfen wie etwa deutschen phonologischen oder orthographischen 15 Regeln. Es ist daher geradezu paradox, Sprechern vorzuwerfen, sie sprächen Anglizismen ‘falsch’ aus, wenn sie diese nicht nach den phonologischen Regeln des Englischen aussprechen (vgl. Polenz 1994, S. 87; zu diesem Argument im öffentlichen Diskurs Spitzmüller 2005, S. 294-298). Dasselbe gilt für die Semantik. Anglizismen führen ein semantisches Eigenleben, sie bilden eine eigenständige Semantik aus. Die Wörter bike (im Englischen) und Bike (im Deutschen) sind daher nicht identisch, und wer (wie Schrammen 2003, S. 46-47) einen Anglizismus im englischen Wörterbuch nachschlägt, ist nicht gut beraten. Der Hinweis, man solle Backshop oder Body-Bag mal im Oxford Dictionary nachschlagen, um zu sehen, was es ‘wirklich’ bedeutet (vgl. z.B. Fritz 2000; Bode 2001), verkennt daher aus soziolinguistischer Sicht den linguistischen Status von Anglizismen völlig. Aus denselben Gründen ist für die Soziolinguistik auch das Argument höchst zweifelhaft, durch Anglizismen würden alle Sprecher ausgegrenzt, die des Englischen nicht mächtig sind. Die Kenntnis des Englischen ist für das Verständnis von Anglizismen ebenso zweitrangig, aufgrund der differierenden Semantik manchmal sogar eher störend, wie die Kenntnis des Griechischen, Lateinischen und Französischen für das Verständnis von Gräzismen, Latinismen und Gallizismen (vgl. dazu grundsätzlich schon Braun/ Nowack 1979). Hingewiesen werden muss in diesem Zusammenhang auch darauf, dass im sprachlichen Alltag nicht Wörter gelesen werden, sondern Texte in Kontexten. Und das Verständnis von Texten ergibt sich, wie die Textlinguistik und die Verständlichkeitsforschung nicht müde werden zu betonen, eben nicht allein aus der Kenntnis der Semantik von Einzelwörtern, wie es die Anglizismenkritik und leider auch viele Untersuchungen zum Fremdwortverständnis präsupponieren, welche Wort- und Phrasenlisten einsetzen (was sie aus Sicht der Verständnisforschung und der Textlinguistik wertlos macht). Textinterpretation ist vielmehr ein sehr komplexer Prozess, bei dem nicht zuletzt das Textumfeld (Kotext) und eben der Kontext eine fundamental wichtige Rolle spielen (vgl. grundsätzlich Christmann/ Groeben 1996; Schnotz 1996). Anders liegt der Fall bei den anderen beiden Ebenen: Bei der Verwendung von Englisch als Verkehrssprache und bei der Verwendung komplexer Phrasen sind Englischkenntnisse für das Verständnis Voraussetzung. Allerdings muss man auch hier mit Blick auf die Textfunktion differenzieren. Werbeslogans etwa, die Textteile, in denen am häufigsten Code-Switching zum Englischen 15 Vgl. etwa die Großschreibung von Substantiven; zu diesen Aspekten vgl. grundsätzlich Eisenberg (1999). <?page no="76"?> Jürgen Spitzmüller 76 vorkommt, haben primär Appellfunktion, sie dienen primär dazu, möglichst positive Assoziationen zu transportieren. Die Satzproposition ist daher hier - übrigens auch bei deutschsprachigen Werbeslogans - in aller Regel zweitrangig (vgl. Störiko 1995; Schütte 1996). Mit Blick auf die sozialsymbolischen Eigenschaften von Sprache ist noch etwas Weiteres zu sagen: In aller Regel wird - leider auch immer noch sehr häufig von Seiten der Linguistik - der wichtige Prozess der sprachlichen Assimilation nur auf Wortbildung, Aussprache, Semantik und Verschriftung bezogen. Gerade bei Entlehnungen findet aber noch eine weitere, m.E. zentrale Assimilation statt, nämlich sozialsymbolische Assimilation. Denn die Werte, die den sprachlichen Zeichen zugeschrieben werden, werden ihnen ja von den Sprechern einer spezifischen Gemeinschaft zugeschrieben. Das heißt, dass die sozialsymbolischen Werte von Sprechergemeinschaft zu Sprechergemeinschaft variieren. Jan Blommaert hat in diesem Zusammenhang (in Anlehnung an Silverstein 2003) von indexikalischen Ordnungen gesprochen, das sind sozialsymbolische Systeme oder Ordnungen, in denen bestimmte Wertzuschreibungen gelten: While performing language use, speakers […] display orientations towards orders of indexicality - systematically reproduced, stratified meanings often called ‘norms’ or ‘rules’ of language and always typically associated with particular shapes of language (i. e. the ‘standard’, the prestige variety, the usual way of having conversation with my friends etc.). […] Stratification is crucial here: we are dealing with systems that organise inequality via the attribution of different indexical meanings to language forms (e.g. by allocating ‘inferior’ value to the use of dialect varieties and ‘superior’ value to standard varieties in public speech). (Blommaert 2005, S. 73) Was bei der Entlehnung passiert, ist, dass Wörter in neue indexikalische Ordnungen gestellt werden, sie werden, wie Blommaert sagt, rekontextualisiert (vgl. Blommaert 2005, S. 76). Ein Wort wie Bike hat daher im Englischen in der Regel einen anderen sozialsymbolischen Wert als im Deutschen - das schon deshalb, weil es im Deutschen üblicherweise (zumindest anfangs) als ‘englisch’ markiert ist und daher Stereotype transportiert, die mit einem englischen (oder auch amerikanischen oder auch globalen) ‘Lebensstil’ assoziiert werden. Sehr wahrscheinlich ist es gerade diese sozialsymbolische Assimilation, die die Anglizismenkritiker am meisten stört. Drittens und letztens: Dem monokausalen und statischen Zusammenhang, der zwischen Sprache und Nation oder nationaler Identität hergestellt wird, liegt ein Begriff von Sprachgemeinschaft zugrunde, der aus Sicht der Soziolinguistik problematisch ist (vgl. für einen Überblick über die Diskussion Rampton 2000). Die Soziolinguistik hat schon früh darauf hingewiesen, <?page no="77"?> „Sind wir noch Deutsche? “ 77 dass Sprachgemeinschaften keine homogenen Größen sind. Eine Nation wie Deutschland besteht aus unzähligen, teilweise ineinander verschachtelten Sprachgemeinschaften (die ihrerseits teilweise wieder über die nationalen Grenzen hinausgehen), sogar jeder Sprecher ist Teil verschiedener Sprachgemeinschaften, zu denen er sich durch die Wahl bestimmter Repertoires in bestimmten Situationen als zugehörig zu erkennen gibt. Solche Sprachgemeinschaften orientieren sich an ganz verschiedenartigen Bezugsgrößen (neben Nation z.B. auch Region, soziale Zugehörigkeit, Vorlieben und Werthaltungen). Je nach Sprachgemeinschaft wirken dabei spezifische indexikalische Ordnungen. Daher werden auch beispielsweise Anglizismen in den jeweiligen Sprachgemeinschaften unterschiedliche sozialsymbolische Werte zugeschrieben (Analoges gilt auch für andere sprachliche Ressourcen). Insofern muss man den Zusammenhang von Sprache und Identität differenzieren. Die Soziolinguistik teilt die Auffassung der Sprachkritik, dass durch Sprache Identität hergestellt wird, allerdings in einem Raum multipler, dynamischer Identitäten (vgl. Blommaert 2005, S. 203-232; Spitzmüller 2005, S. 62-67, 326-334; Spitzmüller 2007a). Und hier liegt wahrscheinlich die Krux der gesamten Debatte: Denn es gibt durchaus Ausgrenzung durch Anglizismen, allerdings weniger sprachliche Ausgrenzung, sondern vielmehr Ausgrenzung aus bestimmten Sprachgemeinschaften. Diese kann von den Mitgliedern dieser Gemeinschaften vorgenommen werden, oder aber von den Ausgegrenzten selbst, die die Werthaltungen und sozialsymbolischen Zuschreibungen einer bestimmten Sprachgemeinschaft nicht teilen wollen. Diese Ausgrenzung ist Teil der Identitätsarbeit und somit grundsätzlich ein integraler Bestandteil sozialen Lebens. Insofern ist der Diskurs um den deutsch-englischen Sprachkontakt weit mehr als ein Diskurs um das Verhältnis zweier Sprachen, es ist ein Diskurs um Werthaltungen und um den Status bestimmter Sprachgemeinschaften innerhalb einer größeren, heterogenen Sprachgemeinschaft. Mit Blick auf den Titel dieses Bandes könnte man also festhalten, dass die zentrale Frage des gegenwärtigen Diskurses zum deutsch-englischen Sprachkontakt sich nicht um „Das Deutsche und seine Nachbarn“ dreht, sondern um „Die Deutschen und ihre Nachbarn“, wobei man zu den Nachbarn durchaus auch die Deutschen selbst zu zählen hat. <?page no="78"?> Jürgen Spitzmüller 78 5. Literatur Androutsopoulos, Jannis (2007): Ethnolekte in der Mediengesellschaft. Stilisierung und Sprachideologie in Performance, Fiktion und Metasprachdiskurs. In: Fandrych, Christian/ Salverda, Reinier (Hg.): Standard, Variation und Sprachwandel in germanischen Sprachen/ Standard, Variation and Language Change in Germanic Languages. 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Die Koexistenz gestaltet sich „mehr oder weniger friedlich“, weil wir beides finden: zum einen die Rivalität gleichzeitig aktivierter Lexeme und Satzbaupläne und zum anderen den arbeitsteiligen Einsatz unterschiedlicher sprachlicher Ressourcen. Ersteres ist der Preis, den man für ein erweitertes Repertoire von Verhaltensoptionen zahlt, und entspricht der Konkurrenz, die man aus der monolingualen Versprecherforschung kennt (vgl. Leuninger 1996, Hohenberger 2007). Ein Beispiel für einen bilingualen Versprecher - der sprachübergreifenden Vernetzung von hoffen und hope zu verdanken - findet sich in (1). Der Versprecher wird von der Sprecherin umgehend bemerkt, eine Korrektur gelingt ihr aber erst im zweiten Anlauf. (1) I was hoffing äh hoffing äh hoping … Das kooperative Potenzial koexistierender Sprachen und ein sich damit eröffnendes Kontinuum von Mischformen zeigt sich in Gesellschaft „Gleichgesinnter“, d.h. dann, wenn keine Notwendigkeit zur Unterdrückung einer Sprache besteht, weil die beteiligten Sprachen von den Anwesenden verstanden werden. Auch dies findet bereits sein Pendant im Wechsel von Stilen oder Registern oder im Ausschöpfen von Dialekt-Standard-Kontinua im Dienste der sozialen Verortung (vgl. Günthner 2002), des Ausdrucks von Zugehörigkeit und Abgrenzung, von Nähe und Distanz oder von Zustimmung und Ablehnung. Die Frage nach der Nachbarschaft im Kopf und die Frage, wie jeweils angemessene Varianten gewählt werden, stellt sich also nicht nur im Zusammenhang mit einer Mehrsprachigkeit, bei der diverse Codes zufällig mit etablierten Bezeichnungen wie Englisch oder Spanisch versehen sind. Da es aus sprachwissenschaftlicher Perspektive keine saubere Dichotomie von „mehrsprachig“ vs. „einsprachig“ gibt, könnte man also das Adjektiv „mehrsprachig“ in unserer Überschrift eigentlich getrost streichen. Dies bedeutet <?page no="84"?> Rosemarie Tracy / Doris Stolberg 84 aber nicht, dass es sich nicht lohnte, die mannigfachen Interaktionen zwischen simultan verfügbaren Sprachen oder Varietäten online, d.h. in Echtzeit, näher zu beleuchten. Genau dies ist Anliegen unseres Beitrags. Sprachkontakt im Kopf und die daraus resultierenden Kontaktphänomene, z.B. unfreiwillige Interferenzen wie in (1) oder das Code-mixing, das wir später diskutieren, erweisen sich als überaus spannender Untersuchungsbereich für diverse Teildisziplinen der Linguistik. Dazu gehören als sprachwissenschaftliche Herausforderungen unter anderem die Identifikation der jeweiligen Anteile der beteiligten Sprachen, die Suche nach möglicherweise universalen Prinzipien oder Beschränkungen des Sprachwechsels (vgl. Romaine 1995, Muysken 2000, MacSwan 2000, Myers-Scotton 1993, 2006) sowie die Erforschung des Zusammenhangs von Sprachkontakt und Sprachwandel (McMahon 1994, Stolberg 2007, Stolberg/ Tracy i.Dr., Thomason/ Kaufman 1988). In der soziolinguistischen und ethnografischen Tradition steht die indexikalische oder emblematische Funktion der Sprachwahl im Vordergrund. Der Sprachwechsel an sich erzeugt einen kommunikativen Mehrwert für die Konstruktion der eigenen Identität und für die soziale Kategorisierung Anderer (vgl. Gumperz 1982, Auer (Hg.) 1998, Günthner 2002, Keim/ Schütte (Hg.) 2002, Kallmeyer/ Keim 2003, Hinnenkamp/ Meng (Hg.) 2005, Myers-Scotton 2006, Keim 2004, 2007). Komplementär dazu richtet sich das Interesse der psycholinguistischen Forschung darauf zu ergründen, wie sich die Verfügbarkeit unterschiedlicher sprachlicher Ressourcen in der Wissensrepräsentation und in Verarbeitungsprozessen (Produktion und Verstehen) niederschlägt. Unter anderem wird danach gefragt, ob bilinguale Menschen über ein einziges mentales Lexikon oder über mehrere verfügen, wie eine unerwünschte Sprachwahl unterdrückt werden kann oder wie man sich sprachübergreifende Priming-Effekte erklären kann (vgl. de Bot 1992, Clyne 2003, Loebell/ Bock 2003, Green 1998, Grosjean 1997, Kroll/ de Groot (Hg.) 2005, Poulisse 1999). Aus neurowissenschaftlicher Perspektive erwartet man Antworten auf die Frage, wie sich die Aktivierungsmuster, die man bei der Sprachverarbeitung mit Hilfe bildgebender Verfahren im Gehirn feststellen kann, mit behavioralen Ergebnissen, Lernbiografien und Alterseffekten verbinden lassen (Nitsch 2007, Gullberg/ Indefrey (Hg.) 2006, Paradis 1997, 2004). Dabei dreht es sich dann in einem sehr konkreten Sinn um „territoriale“ Ansprüche bezüglich der Nutzung von Hirnarealen. Anliegen unseres Beitrags ist es zu zeigen, warum es sich lohnt, sich sowohl mit den Formen als auch den Funktionen des Sprachwechsels oder, allgemeiner, von Sprachkontaktphänomenen zu beschäftigen. In Abschnitt 1 gehen wir <?page no="85"?> Nachbarn auf engstem Raum 85 zunächst auf eine Untersuchung zum Sprachkontakt Deutsch-Englisch ein, der die meisten der im Folgenden diskutierten Belege entstammen. In Abschnitt 2 illustrieren wir typische Effekte der deutsch-englischen Kontaktsituation und wenden uns danach (Abschnitte 3 und 4) dem soziosymbolischen und identitätsstiftenden „Mehrwert“ der Redebeiträge mehrsprachiger Sprecher zu. 1. Datengrundlage und thematischer Einstieg Die empirische Basis unserer Überlegungen bilden Daten eines DFG -Projekts, das es uns ermöglichte, sechs Jahre lang unter systematisch variierenden Bedingungen Gespräche mit und unter deutschen Auswanderern in den USA aufzuzeichnen (vgl. Lattey/ Tracy 2001, 2005; Tracy 2006 a, b). 1 Primäres Ziel der Studie war es, sowohl übergreifende formale und funktionale Merkmale und Folgen des langjährigen Sprachkontakts von Einwanderern der ersten Generation zu untersuchen, als auch interindividuell differierende Sprecherprofile und Präferenzen zu identifizieren. Untersucht wurde insbesondere, wie sich die Vertrautheit der Gesprächspartner, die Art des Gesprächs (Telefonat vs. face-to-face), Typen von Aktivitäten (gemeinsame Unternehmungen, Gespräche am Tisch, Kartenspiel mit Freunden) und spezifische Themen auf das Mischen von Sprachen auswirkten. Sprecher und Sprecherinnen wurden auch zu den Umständen ihrer Auswanderung und zu ihren Einstellungen zum Code-mixing befragt. Auch schriftliche Daten wurden in die Untersuchungen einbezogen (vgl. Lattey/ Tracy 2001), in einigen Fällen von den gleichen Personen (Münch 2006). Die Daten ermöglichen uns nicht nur einen Einblick in den potenziellen Wettstreit und die Kooperation von Sprachen im Kopf mehrsprachiger Individuen, sondern sie verraten auch unabhängig von der Sprachwahl (also beispielsweise auch in weitgehend ungemischten Passagen) viel darüber, wie unsere Sprecher und Sprecherinnen mit ihrer neuen Lebenssituation zurecht kamen, von welchen Merkmalen ihrer neuen Umwelt sie sich distanzierten und was sie als positiv empfanden. Das heißt, auch weitgehend monolinguale Sequenzen liefern uns unabhängige Evidenz für Einstellungen, die an anderer Stelle 1 Es handelt sich um das Teilprojekt „Code-Switching, Crossover und Co.“ der DFG -Forschergruppe „Sprachvariation“ (Kooperation Universität Mannheim/ Institut für Deutsche Sprache, Mannheim), unter der gemeinsamen Leitung von Elsa Lattey und Rosemarie Tracy. In das Gesprächskorpus gingen die Daten von zwölf Probanden im Alter von 65 bis 90 Jahren ein. Von zwei weiteren Personen lag nur ein umfangreiches schriftliches Korpus vor, da sie bereits verstorben waren. Im Folgenden werden wir vor allem auf die Gesprächsdaten Bezug nehmen und auf die schriftlichen Daten nur gelegentlich zur Illustration typischer Interferenzen rekurrieren. <?page no="86"?> Rosemarie Tracy / Doris Stolberg 86 mit einem Sprachwechsel einhergehen. Wie wir sogleich anhand der Episode in (2) erkennen können, sind die Kategorisierungen, die dabei vorgenommen werden, keineswegs immer eine direkte Abbildung der außersprachlichen Realität. In (2) erzählt ein aus München nach New York emigriertes Ehepaar (AS, MS) einem Mitglied unseres Projekts (EL, selbst als Tochter deutscher Auswanderer in den USA geboren), das sie erst kurz zuvor kennengelernt hatten, von ihren ersten Eindrücken nach der Einwanderung vor etwa 50 Jahren. Ebenfalls anwesend ist TG, die zum Zeitpunkt der ersten Aufnahmen bereits seit etwa 60 Jahren in den USA lebte und die anfängliche Skepsis von AS und MS aus eigener Erfahrung, auf die wir in späteren Beispielen zurückkommen, gut nachempfinden kann. 2 (2) „Wie die Amerikaner san“ (vgl. auch Tonbeispiel 1) 3 AS: Da hat’s geregnet herauß, und in Manhattan da is zu der Zeit ein Dreck gwesen, Zeitungen bei die Hunderte auf der Straßen, und dreckig, und gestunken, in Manhattan, und die Mi/ , un die Minna hat mich angschaut, ich hab sie angschaut, mir ham un/ mir ham uns des gleiche gedacht. Un na sin mer da in e Taxi rein, mit dem/ na sinmer nach Brooks-/ 4 , nach äh Brooklyn ||MS: Williamsburg, Williamsburg AS: rübergefahrn, über Williamsburg, un da war die Kläranlage. TG: Mhm. AS: Da hat's fürchterlich gestunken, ich hab mir gedacht, mir fahrn ab, mirmir kommen zum Ende der Welt. Na sin mer zu mei'm Freund zu sei'm Haus gekommen, wo der gwohnt hat. In der ganzen Straße, da warn vielleicht dreißig Häuser, drei warn nicht ausgebrannt. Und da hat er in einem gewohnt. Un na sin mer da rein, wennde da raufgangen bist, die Stufen, und hast da an die Wand so mit'm Finger hingetupft, na haste innen den Mörtel runterlaufen ghert, wie er runtersaust. Mir ham bloß 2 Um die Lesbarkeit der Beispiele zu erhöhen, haben wir Satzzeichen eingefügt und bedienen uns folgender Konventionen: kursiv = englisch, recte = deutsch, / = Abbruch, - = kurze Pause und Iteration, || = gleichzeitiges Sprechen, doppelt unterstrichen = Crossover, d.h. Struktur aus der einen und Vokabular aus der anderen Sprache, {…} = sprachliche Zuordnung nicht entscheidbar. Runde Klammern verweisen auf unverständliche Äußerungsteile; eckige Klammern markieren Kommentare und von uns gekürzte Passagen. 3 Alle fünf Tonbeispiele sind als WAV -Dateien im Verzeichnis „Tracy/ Stolberg“ auf der beigefügten CD enthalten. 4 Zu dem Zeitpunkt, an dem AS von dieser Episode berichtet, lebt er in einem Ort namens Brooksville. Er produziert hier also einen durch die Koaktivierung ähnlicher Formen provozierten Substitutionsversprecher, der von ihm umgehend korrigiert wird. <?page no="87"?> Nachbarn auf engstem Raum 87 die Augen dabei verdreht, wie/ Na, na sin mer da rauf, die ham uns natürlich bewirtet, you know, mi/ wie die Amerikaner san, damals sin mer […] EL: Ja, warn des Amerikaner? MS: No. AS: Des war/ äh er war e Russe, un sie war von äh Bayern. ||MS: Tschevon der Tschechei, glaub i, ja. AS gibt hier zunächst der Enttäuschung Ausdruck, die er und seine Frau (MS) nach ihrer Ankunft in den USA zu Anfang (zu der Zeit) empfunden haben. Er kommentiert die negativen Seiten ihrer neuen Umgebung, z.B. den Gestank in der Nähe der Kläranlage, die heruntergekommene Wohngegend, in der ihre Freunde wohnen, den von den Wänden rieselnden Putz. Es handelt sich offensichtlich nicht um einen Ort, an dem sie sich wohlfühlen könnten (ich hab mir gedacht, mir fahrn ab). Dass sich ihre Gastgeber Mühe gaben, sie großzügig zu bewirten, kann man an dieser Stelle nur vermuten, u.a. durch die durch you know und wie die Amerikaner san ausgelöste Implikatur hinsichtlich des bei den Gesprächspartnern, inklusive EL, geteilten Wissens um die sprichwörtliche Gastfreundschaft der Amerikaner. Interessant ist nun, dass es sich − wie man nur dank der Nachfrage von EL erfährt − bei den erwähnten Freunden gerade nicht um alteingesessene Amerikaner handelt. Wie sich später im Verlauf des Gesprächs herausstellte, waren diese Freund selbst erst kurz zuvor nach Amerika gekommen und hatten AS und MS dazu überredet, ebenfalls auszuwandern. In dieser Episode tritt das Englische bei AS vor allem in Form von you know, in einem no von MS und unterschwellig in bei die Hunderte (anstatt zu Hunderten, analog zu engl. by the hundreds) in Erscheinung. In inhaltlicher Hinsicht ist hier ein doppelter Kontrast erkennbar, und zwar sowohl zur äußeren Umgebung als auch zu einem als „typisch amerikanisch“ (positiv) eingeschätzten Verhalten von Menschen, zu denen AS und MS anfangs noch nicht gehören. Im Vordergrund der Aussage steht in diesem Moment der Ausdruck der erlebten Distanz; dass die Personen, um die es geht, eigentlich (noch) keine „Amerikaner“ sind, ist dabei nachrangig. Wir werden später sehen, dass Sprachwahl und Inhalt systematisch korrelieren können. Gleichzeitig ist es wichtig zu erkennen, dass bilinguale Menschen nicht oder mindestens nicht overt mischen müssen. Durch eine gezielte Manipulation unabhängiger Variablen (monolinguale vs. bilinguale Gesprächspartner, Sprachwahl dieser Gesprächspartner, Vertrautheitsgrad etc.) kann man <?page no="88"?> Rosemarie Tracy / Doris Stolberg 88 leicht zeigen, dass Sprecher sehr gut in der Lage sind, Sprachmischungen oder als unangemessen betrachtete Sprachwahl zu unterdrücken oder zu reparieren (Lattey/ Tracy 2005). Bis auf eine Probandin, die zum Zeitpunkt der Emigration erst vierzehn Jahre alt war, haben alle unsere Proband(inn)en Englisch erst als Erwachsene erworben. Das Ergebnis ist entsprechend variabel. Alle Sprecher, deren Daten wir in diesem Beitrag betrachten, verfügen über gute bis sehr gute Englischkenntnisse. Dennoch kann man Phänomene ausmachen, die sich auf Fossilisierungen, d.h. unvollständig erworbene Aspekte bzw. stagnierte Lernervarietäten, zurückführen lassen, wie im folgenden Beispiel von AS, in dem er sich zu seinem Leben äußert. Mit seinem Was very interesting, you know produziert er eine im Englischen abweichende Struktur, die im Deutschen als Topikellipse in Ordnung wäre, genau wie der erste Satz, War aber schön, ne? (3) AS: […] War aber schön, ne? Ich miss Deutschland net, mer ham nix ghabt, aber ich miss es nicht. I/ if I would have my life again, I want it the same way. Was very interesting, you know. Obwohl wir in diesem Fall nicht ausschließen sollten, dass Was very interesting das Ergebnis eines Primings durch das vorangegangene War aber schön sein könnte (vgl. Loebell/ Bock 2003), finden sich auch in anderen Passagen von AS sowie bei den anderen Emigranten unseres Projekts immer wieder vergleichbare subjektlose englische Kopulasätze. Diese Beobachtung unterstützt die in der Zweitspracherwerbsforschung der letzten Jahre diskutierte Hypothese, dass sich erwachsene Lerner besonders schwer damit tun, Erwerbsaufgaben zu meistern, die an der Schnittstelle unterschiedlicher Ebenen liegen (vgl. Sorace 2003), in diesem spezifischen Fall an der Schnittstelle von Syntax und Pragmatik. 2. Interaktion am Gartenzaun: Konkurrenz und Grenzgänger Die Rivalität zwischen Sprachen, die sich ganz natürlich aufgrund ihrer prinzipiellen Verfügbarkeit und regelmäßigen Nutzung als Bestandteil des Alltags einstellt, geht weitgehend, wenngleich nicht ausschließlich, wie wir später sehen werden, auf das Konto der Ähnlichkeiten der beteiligten Sprachen. Dies zeigt sich sehr deutlich im Fall der für unser Projekt zentralen Sprachen Englisch und Deutsch, die eine Fülle von „Grauzonen“ (oberflächlich parallele Strukturen, Kognate etc., vgl. Clyne 1987, S. 755) teilen. In (4) finden wir beispielsweise nicht nur eine ambige Kopula der dritten Person Singular Prä- <?page no="89"?> Nachbarn auf engstem Raum 89 sens, sondern auch ein ambiges Nomen (Haus/ house), dessen neutralen Status wir durch geschweifte Klammern wiedergeben. (4) My {house/ Haus}{is} offen to all times [IH, aus Münch (2006, S. 69)] 5 Obgleich to all times hier oberflächlich in englischem Gewand erscheint, beruht to auf der Relexifizierung einer deutschen Präposition (zu allen Zeiten/ zu jeder Zeit, engl. at all times/ at any time; vergleichbare Beispiele finden sich in Tracy 2000, 2007). Eine typische Grauzone des bairisch-englischen Sprachkontakts sehen wir auch in (5). Hier kann man nicht entscheiden, ob der Sprachwechsel vor oder nach dem Artikel erfolgt. (5) I have {a/ e} schöne gelbe Strickjacke. [KL] Für die Form, in der sich für das Sprachpaar Englisch und Deutsch Kontaktphänomene online manifestieren, kann man eine Reihe von Faktoren verantwortlich machen. An prominenter Stelle sind phonologische Nachbarschaftsbeziehungen zwischen kognaten oder (fast) homophonen Lexemen zu nennen (z.B. kommen/ come, Hand/ hand, und/ and, then/ denn/ dann, wir/ we, when/ wenn, my/ mei(n), and/ und, oder/ or, am/ an/ on, for/ für/ vor, in), die - ebenso wie Eigennamen - den Ort des Übergangs von einer Sprache zur anderen perfekt „kaschieren“ oder den Wechsel vielleicht als Trigger auslösen (vgl. Clyne 1967, 2003). In (6), einem Briefausschnitt, kann man sehen, wie sich dies in orthografischen Interferenzen (for statt vor) niederschlägt (vgl. auch Lattey/ Tracy 2001; Tracy 2006a, b). Im Englischen müsste es hier heißen: sprained his/ her ankle 7 weeks ago bzw. broke several bones in his/ her ankle [...]. (6) [...] hatt sich den Ankle zersplittert for 7 Wochen [EE] Auf syntaktischer Ebene stellt sich die Frage, an welchen Stellen Interaktionen möglich sind bzw. die Sprache gewechselt wird. Hier stimmen unsere Ergebnisse im Wesentlichen mit den in der Forschung berichteten Tendenzen überein (vgl. Poplack 1980, Muysken 2000, Myers-Scotton 2006): Präferierter Ort des Wechsels sind Satzgrenzen, aber keineswegs ausschließlich, denn der intra-sentenziale Sprachwechsel ist keine vernachlässigbare Größe (vgl. die Zahlen in Lattey/ Tracy 2005). Spannend wird es insbesondere dann, wenn die Wortstellung beider Sprachen divergiert und Poplacks Äquivalenzprinzip 5 Beim schnellen Sprechen verschwindet der Unterschied zwischen dem stimmhaften Auslaut des englischen is und dem stimmlosen deutschen is(t). Bei der Sprecherin IH kann man sicher sein, dass der possessive Artikel, phonetisch [  ], dem englischen my entsprach, denn ihr deutscher Dialekt hätte mein verlangt. Im Falle unserer anderen ProbandInnen, beispielsweise AS, MS oder TG, die alle aus Bayern stammen, hätten wir {my/ mei} notieren müssen. <?page no="90"?> Rosemarie Tracy / Doris Stolberg 90 zufolge kein Sprachwechsel stattfinden sollte. Dies betrifft beispielsweise den Kontrast von SVO-Sätzen im Englischen und deutschen Verbzweitsätzen mit Nichtsubjekten im Vorfeld (Da hab ich gesagt … / Dieses Buch würde ich nie lesen.), die im Englischen nur residuell Entsprechungen finden (wh-Fragen, Inversionsstrukturen mit spezifischen Triggerelementen wie in In walked the cat. Never before had he …). 6 Wir können uns also bei Versuchen, satzintern zwischen Deutsch und Englisch zu wechseln, auf potenzielle Konflikte gefasst machen, die von Sprechern u.a. durch Neutralisierungsstrategien (z.B. die zunehmende Angleichung vorfeldfähiger Elemente, s.u.) aufgefangen werden. Unabhängig von den spezifischen phonologischen Ähnlichkeiten und syntaktischen Parallelen nutzen Sprecher Möglichkeiten, syntaktische Formate der einen Sprache durch lexikalische Elemente der anderen auszubuchstabieren, Phänomene, die wir (vgl. Tracy 2000, Lattey/ Tracy 2005) als Crossover bezeichnet haben 7 und die in der Bilingualismusforschung - meist eher am Rande - als Lehnübersetzung oder Calquing aufgeführt werden, vgl. (7) und (8): (7) Und was ist neu mit euch? [TG] (8) Und scheinbar die Mutter wasn't a good housekeeper [TG] In (8) scheint die Syntax des Englischen bereits einen Vorsprung zu haben (And apparently the mother …), bevor das englische Lexikon mit wasn't … nachzieht. Muysken spricht hier von „delayed lexicalization“ (2000, S. 259), einer nachlaufenden Lexikalisierung. In beiden Fällen, dem vollständigen oder partiellen Crossover entsteht eine aus theoretischer Sicht spannende Situation: Verben, beispielsweise, erscheinen in Strukturformaten, die sie eigentlich nicht projiziert haben können. Es fällt jedenfalls nicht schwer zu erkennen, dass Vorstellungen vom Sprachwechsel als einem perfekt synchronisierten Umschwenken auf allen sprachlichen Ebenen kaum in der Lage sind, den eher oszillierenden Charakter der Interaktion am nachbarschaftlichen „Zaun“ abzubilden. Im Folgenden illustrieren wir einige der genannten Phänomene. Die aufgrund koaktivierter Strukturen mehr oder weniger latente Konkurrenz (und damit „Oszillation“) deutscher und englischer Kandidaten zeigt sich in 6 Wir lassen an dieser Stelle andere Kontraste außer Acht, wie die Asymmetrie der Wortstellung im eingeleiteten Nebensatz/ Komplementsatz (… dass ich ihm ein Buch geschenkt habe vs. … that I have given him a book) oder die im Falle nicht-finiter Verbformen kontrastierende Abfolge OV (für das Deutsche) und VO (für Englisch); siehe die gleichen Beispielsätze. 7 Dieser Begriff ist der Musik entlehnt, wo man von Crossover spricht, wenn ein Original der E-Musik (ernste Musik) in Gestalt von U-Musik (Unterhaltungsmusik) erscheint und umgekehrt. <?page no="91"?> Nachbarn auf engstem Raum 91 folgenden Belegen, in denen jeweils die deutschen und englischen Äquivalente der Pronomina mitaktiviert wurden. (9) [..] die hat zu mir gsagt, ich I ca/ ich kann dir nich mehr bezahlen [TG] (10) I could understand a few things und I ich hätt äh frogn kennen [TG] (11) So life was very/ we wir sagn ‘bunt’, ne? Leipziger Allerlei, that's what it was [TG] (12) […] dann denk ich oft, we-when people complain, was wir alles ham [TG] Auffällig ist, dass es bei TG im Fall von wenn/ when schon über den Online- Wettbewerb hinaus zum individuellen Sprachwandel gekommen ist (vgl. auch Lattey/ Tracy 2001, 2005; Stolberg/ Tracy i. Dr.), denn sie verwendet wenn in deutschen Sätzen konsequent auch da, wo als bzw. bairisch wie benötigt würde. In (13) beispielsweise repariert sie einen begonnenen Substitutionsversprecher (Hitler an Stelle von Hindenburg) mit einer Latenzzeit von nur einer Silbe, während sie die abweichende Verwendung von wenn passieren lässt. (13) wenn ich zwölf Jahr alt war [TG] (14) I remember wenn der Hitder Hindenburg gestorben is [TG] Konvergenzen und Neutralisierungen finden sich just an den Stellen im Satz, an denen laut Poplacks Equivalence Constraint wegen fehlender Parallelen zwischen dem Deutschen und dem Englischen eigentlich kein Sprachwechsel möglich sein sollte, vgl. (15) bis (20). Hier erscheint im Vorfeld eines deutschen Satzes ein englisches Adverb oder eine Adverbialphrase, manchmal in Kombination mit einer wie das deutsche denn klingenden Doublette, vgl. thendenn in (16), and then and denn in (17). Wie wir in (18) bis (20) sehen können, sind then/ denn nicht die einzigen vorfeldfähigen Elemente. 8 Da TG ihre erste Ausdruckswahl mehrere Male spontan korrigiert, kann man vermuten, dass ihr eigenes Sprachverarbeitungssystem (bzw. ihr Monitor, vgl. Levelt 1983) den Vorfeldbereich tatsächlich als „Konfliktzone“ wahrnimmt: (15) […] and then hat er immer für mich gewartet an der Plattform [TG] (16) Das war was, ach du liebe Zeit, and the funniest thing is then san ma von ähm ja, I was with the Flying Tiger Line because there was no regular scheduled you know äh plan to and then denn sin mir nach/ na hat der Käpitän gsagt, wir müssn nach Norwegen [TG] 8 Andere unterschwellige Interferenzen (z.B. im Falle von für mich gewartet) lassen wir an dieser Stelle unberücksichtigt. <?page no="92"?> Rosemarie Tracy / Doris Stolberg 92 (17) […] and then and denn ham mer nach Rom müssen [TG] (18) […] and then the next morning hob i mer denkt […] [TG] (19) In the meantime äh inzwischen hat sie […] [TG] (20) […] because there ham mer nie lachen können [TG] Im restlichen TG-Korpus, ebenso wie in den Daten von KL, finden sich in rein deutschen Passagen viele Belege für denn, wo man im Deutschen dann erwartet. Bei der Übernahme der Funktion von dann durch denn scheint das englische then keine unwichtige Vermittlerrolle einzunehmen, evtl. auch begünstigt dadurch, dass im Brooklyn English, das TG und KL nach ihrer Ankunft in den USA erwarben, stimmhafte interdentale Frikative durch einen alveodentalen Plosivlaut ersetzt werden können. Hier entsteht ein neues „homophones Diamorph“ (vgl. Clyne 1967, 2003). In Abhängigkeit von den beteiligten Sprachpaaren können sich über die allgemeine Koaktivierung von äquivalenten Äußerungsmöglichkeiten hinaus „Grenzgänger“ (für Deutsch und Englisch z.B. wenn/ when, then/ denn, ambige Artikel etc.) herausbilden. Sie geben uns nicht nur Hinweise auf präferierte Orte des Sprachwechsels, sondern liefern uns zugleich Einblicke in individuellen kontaktinduzierten Sprachwandel. Bemerkenswert ist fernerhin, dass sich nur eine Teilmenge aller Wechsel von einer Sprache in die andere in Kombination mit Verzögerungssignalen vollzieht bzw. dass gemischte Passagen keinesfalls mehr (eher weniger) Verzögerungen aufweisen als ausschließlich deutsche oder englische Texte unserer Sprecher (vgl. Ehinger 2003, Lattey/ Tracy 2005). Die Sprachmischung erleichtert es Sprechern geradezu, ihren Redefluss zu erhalten - ein überaus sinnvolles Nebenprodukt der Koaktivierung. 3. Kooperation und Polyphonie Sprachliche Zeichen erfüllen mehrere Funktionen gleichzeitig. Wie Bühler bereits 1934 in seinem Organonmodell verdeutlichte, symbolisieren sie Ereignisse und Dinge in realen oder imaginierten Welten und sind gleichzeitig Symptome der inneren Zustände des Sprechers und Appelle an den Hörer. In gemischtsprachlichen Äußerungen kann der Sprachwechsel selbst eine indexikalische Funktion erfüllen. In einem sehr allgemeinen Sinne verweist er auf die bilinguale und ggf. hybride Identität eines Sprechers (vgl. Hinnenkamp/ Meng (Hg.) 2005, Keim 2004, 2007), ein Punkt, auf den wir in Abschnitt 4 zurückkommen. In diesem Abschnitt illustrieren wir, welche Art von Implikaturen durch kooperatives Alternieren von Sprachen ausgelöst werden. Es <?page no="93"?> Nachbarn auf engstem Raum 93 wäre allerdings verfehlt zu erwarten, dass für jeden einzelnen Wechsel eine soziosymbolische Funktion identifiziert werden könnte. Vielmehr ist in vielen Fällen die Mischung an sich der „unmarkierte“ Code (Myers-Scotton 1993, 2006, Poplack 1980), wie in den folgenden Beispielen: (21) In einem Gespräch über ein Strickwarenunternehmen AS: […] der Stricking/ der Strickervormann which war aweil der number eins man, right? Der hat'n Scheck angschaut […] In (22) sehen wir, wie mit Hilfe der Anderen (in diesem Fall TG) der für den amerikanischen Kontext angemessene Ausdruck gefunden und von AS ratifiziert wird. (22) Die Rede ist von Gehaltsvorstellungen AS: Wieviel is it, sixsix Dollar fümfevierzig, right? Ge/ Minimum Lohn? LK: Was? TG: Minimum wage? ||AS: Minimum wage. Mehrsprachige Sprecher(innen) bewegen sich auf einem Kontinuum zwischen monolingualem und bilingualem Modus (vgl. Grosjean 1987) und mischen ihre Sprachen mit unterschiedlicher Intensität. Das Ergebnis hat - auch wenn es nur durch einen Mund geäußert wird - den Charakter einer Fuge mit Stimme und Gegenstimme, in der eine Sprache gegenüber der anderen eine Art Metadiskurs ermöglicht, d.h., dass im bilingualen Kontext objekt- und metasprachliche Aufgaben von unterschiedlichen Sprachen übernommen werden können. Dies zeigt sich beispielsweise beim Sprachwechsel in folgenden Zusammenhängen, die insgesamt in der Code-mixing-Forschung gut belegt sind (vgl. Salmons 1990, Auer (Hg.) 1998, Alfonzetti 1998, Muysken 2000, Myers-Scotton 2006, Keim 2004, 2007): (a) Zitate; (b) Interjektionen, Diskurspartikel (z.B. Tags wie you know); (c) Kontrast, Korrektur, Pausenfüller (bei Verzögerungen); (d) Emphase, Ausdruck von Distanzierung oder Solidarität; (e) Qualifizierung der Nachricht, Bewertungen, Hintergrundinformation. Dabei erweist sich (zumindest in unseren Daten, vgl. aber Keim 2007 für andere Korrelationen von Funktionen und Sprachen) die Richtung des Wechsels als irrelevant. Wichtig ist, dass es sich nurmehr um Tendenzen handelt, die in- <?page no="94"?> Rosemarie Tracy / Doris Stolberg 94 terindividuell schwanken (u.a. in Abhängigkeit von expliziten Bemühungen, Mischungen zu vermeiden). Die folgenden Beispiele illustrieren einige der unter (a) bis (e) genannten Funktionen. Polyphone Effekte (vgl. auch Günthner 2002) werden bei Zitaten besonders deutlich. Dabei werden die zitierten „Stimmen“ nicht unbedingt in der Sprache der ursprünglichen Äußerung reproduziert (vgl. auch Alfonzetti 1998). Im folgenden Beispiel (23) nutzt TG Standarddeutsch, Englisch und bairische Dialektformen (i, hot, sog, gsagt, na etc.) in schneller Abfolge und ohne Verzögerungen an den Übergängen dazu, einen Dialog zu (re-)inszenieren. Von der in (23) rekapitulierten Unterhaltung wissen wir zudem definitiv, dass sie auf Deutsch stattfand, so dass die Sprachwechsel nicht mit der Absicht einer getreuen Wiedergabe der Realität zu erklären sind. Da, wo TG nicht ins Englische geht (Ich leb noch), bedient sie sich standardnaher Formen (ich anstatt bair. i). Auch die anschließenden Beispiele (24)-(26) demonstrieren, wie geschickt die Sprecher(innen) ihre Sprachen einsetzen und damit ihrer Erzählung eine weitere Strukturierungsebene verleihen. (23) TG hatte bei ihrem ersten Arbeitgeber in New York gekündigt. Dann hat sei Frau zu mir gesagt, why are you leaving us now? Da sog i, because I would like to laugh once in a while, und dann hat s' gsagt, well, I'm here too an' ich leb noch, hot s' gmoant. Na hab ich gsagt, well, gee […] [TG] (24) KL (84 Jahre) ist empört über den Wunsch ihres Sohnes, sie möge nicht mehr selbst Auto fahren. Aber ich hab gesagt, I go according to the way I feel, and if I feel well enough that I think I can do it, I will do it. Ich fahr doch schon äh seit neunzehnhundertzweiundfünfzig and never, thank God, knock wood, had an accident. [KL] (25) LK berichtet über ein Telefonat mit Tochter und Ex-Ehemann. […] Und äh na sagt sie, he's he's sitting here, he wants to talk to you. Na sag i, I'm making arrangements to come up. Na sagt er, well, I have a nurse here during the day, butone more person wouldn't wouldn't hurt, you know? Und äh na krieg i'n Anruf so um eins rum […] [LK] (26) TG erinnert sich an eine Unterhaltung mit ihrem Arbeitgeber. Na sagt er zu mir, Madam T., your slip is showing. [ LACHT ] Na hab i mer denkt, Na, is that all? You know? Ach Gott, des war a spinnerter Kerl! [TG] <?page no="95"?> Nachbarn auf engstem Raum 95 In den folgenden Beispielen korreliert der Sprachwechsel mit inhaltlichen Präzisierungen und der Ergänzung von Hintergrundinformation, vgl. (27)-(31). In (27) erläutert TG, um wen es sich bei der erwähnten Person handelt, in (28) präzisiert sie ihre Einstellung zu dem genannten Arzt, bevor sie zum dominanten Strang ihrer Erzählung zurückkehrt (Der hot zu mir gsagt). In (29) liefert sie ergänzende Hintergrundinformation zu einem Frankreichaufenthalt im Jahre 1947, und in (30) ergänzt sie medizinische Details. Hier sehen wir übrigens auch die Konkurrenz durch eine monolinguale Alternative zu der wo für sie einkauft, nämlich in etwa der wo sie versorgt. (27) […] and ähm es war so schön da, und nebn dene hot die Elsa Maxwell 9 gwohnt, she was a gossip äh woman, you know? [TG] (28) Und dann hot mei Doktor, der war von Hamburg, Doktor L., he was nice and I liked him very much. Der hot zu mir gsogt […] [TG] (29) […] the war wasn't over very long, you know, and äh die Deutschen war'n nicht sehr beliebt, you know [TG] (30) Ja. Wenn sie noch lebt, die Hanna. Die ist krank, die hat schon jemand, der wo sie-/ für sie einkauft und so. She/ I think she was a smoker, too, and has problems with breathing! I have a feeling she has emphysema! [TG] (31) Da hab ich bei den Nightingales gwohnt in Paris and he was with the Waterfront Commission in New York [TG] In den Auszügen (32) bis (35) begegnen wir Selbstreparaturen und Suchprozessen, bei denen metalinguistische Kommentare oder die Korrektur selbst in der jeweils anderen Sprache realisiert werden. (32) Ihr Vater äh, I mean, ihr Mann und ihr Bruder, they were waiters in ähm the Carltonno ah, wie hat'n des glei wieder ghoassn, on Seventy-first, a hotelwell, anyhow, … [TG] (33) Und ich hab’n Kaffeetisch, I mean, {a/ a} an Teewagen [TG] (34) […] when they came for dinner, they used to speak French, but anyhow, to Tante Ida and Doctor M., net zu mir, and äh it was, well, an adventure … [TG] (35) I think we stayed two nights. And when we went to Amy, we stayed one night. No, auch zwei. [TG] 9 Elsa Maxwell wurde in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts als einflussreiche High- Society-Gastgeberin bekannt. Sie war für zahlreiche Zeitschriften als Kolumnistin tätig und unterhielt eine eigene Radiosendung. <?page no="96"?> Rosemarie Tracy / Doris Stolberg 96 Belege für wertende Kommentare finden wir schließlich in (36) bis (37) und emphatische Verstärkungen in (38) bis (39). (36) I don't know why, because so großartig warn die aa net, ne? [TG] (37) […], but never talk about it really. Kann ma nix machen, you know. [KL] (38) […] i hab gsagt, i tanz net, i tanz net, I don't wanna dance with somebody, [LK] (39) […] da hat er g'sagt: Na [=nein], Papa! Nach Paris geh i nimmer. I don't wanna go to Paris. [TG] Damit kann man für die Abschnitte 2 und 3 vorläufig Folgendes festhalten. Im Wesentlichen ging es um zwei Aspekte: einerseits um die Möglichkeit, dank der formalen Eigenschaften beteiligter Sprachen und weniger aus pragmatischen und diskursfunktionalen Gründen ein „Grundstück“ zu verlassen (um bei der Metapher der Nachbarschaft zu bleiben), andererseits ging es um die Nutzung dieser prinzipiell verfügbaren Koaktivierung als stilistische Ressource. Bevor wir in Abschnitt 4 der Frage nachgehen, wie diese Optionen in den Dienst einer symbolischen Markierung oder Konstruktion von Identität gestellt werden können, illustrieren wir anhand einer längeren Passage, (40), das Zusammenwirken der genannten Aspekte. (40) „Bratapfel“ RT: […] Du, was ich dich fragen wollteäh würd'st du mir noch mal erklären, wie du diese Bratäpfel machst? Weil wir auch Äpfel haben, wir ham gedacht, das könnten wir heut Abend vielleicht mal machen. TG: Ja, ich tu sie obenabschälen um um äh äh you know, w-wo der handle {is}- [ KICHERT ] und unten a bisschen, dann nehm ich den Kartoffelschäler und tu das raus, das Kernhaus- und unten auch, dassdas durchgeht, then I putlemonjuice over itand then a-a großen Löffel Marmelade, irgendeine, oder Honig, aber Marmelade schmeckt mir besser, especially (…) Marmelade. (Also)/ you know, and then tu ich'n Zimt drauf, und dann tu ich äh/ ich hab'n Suppenteller dann, weil ich manchmal zwei undschneid noch {a a} Nektarin rein damit, und dann de der Zimt und alles, und dann tu ich Wasser unten rein, ungefähr so viel und tu's in microwave Ofen ungefähr für sieben, acht Minuten, it depends how big the apples are. If they are smaller, you do/ EL: In der Mikrowelle machst du das? TG: {Ja}! EL: Nit in'em normalen Ofen? <?page no="97"?> Nachbarn auf engstem Raum 97 TG: No! And then I put it in the fridge tocool it off, andyou know. EL: Und wie langin der Mikrowelle? Wie lang? TG: Ungefähr --je nachdem, wie groß der Apfel ist-sieben oder acht Minuten. In der ersten Zeile ihres Redebeitrags fällt TG die Bezeichnung Stiel nicht ein. Die Suchzeit füllt sie mit einem Appell an geteiltes Weltwissen (you know), bevor sie sich mit einer bedeutungsnahen, aber nicht perfekten Entlehnung aus dem Englischen hilft: handle. Ihr Kichern zeigt, dass sie selbst diese Wahl nicht als ganz treffend empfindet. Wir sehen, dass einige von TGs deutschen Sätzen mit dann beginnen (dann nehme ich den Kartoffelschäler …), dass aber auch an der Satzgrenze mit then ins Englische gewechselt wird. Wir erkennen auch die bereits angesprochene Kombination mit denn im Vorfeld eines ansonst deutschen Satzes (and then tu ich'n Zimt drauf ). Interferenzen aus dem Englischen finden sich am Onset von Ofen (vermutlich ausgelöst durch das englische Erstglied des Kompositums) und Wasser, im Text durch die Kursivierung gekennzeichnet. Mit microwave füllt TG wohl eine echte lexikalische Lücke im Deutschen, denn Mikrowellengeräte hat sie erst in den USA kennengelernt. Mit especially nimmt TG eine Spezifizierung des zuvor Gesagten vor, und mit it depends (on) how big the apples are liefert sie relevante Hintergrundinformation. In der allerletzten Zeile finden wir übrigens eine perfekte Paraphrase dieses Hinweises ( je nachdem …). Anders als bei der kurzfristigen Lücke, die TG durch handle füllt, fehlt es ihr an dieser Stelle nicht an Ausdrucksmöglichkeiten im Deutschen. 4. Mehrstimmiger Diskurs und Identität In gewisser Weise liegt der Zusammenhang zwischen Sprache und Identität auf der Hand, denn im Normalfall, d.h. von geglückter Dissimulation (Gender- Swapping beim Chat, Stimmenimitation etc.) und schlechten Kanalbedingungen abgesehen, kommen wir selbst am Telefon schon nicht umhin, durch unsere Art zu sprechen eine Menge Informationen preiszugeben. Wir verraten Zuhörern nicht nur unser biologisches Geschlecht oder unser (ungefähres) Alter, sondern ggf. auch unsere Zugehörigkeit zu regionalen und sozialen Gruppen. Weiterhin geben wir durch Lautstärke, Prosodie und paralinguistische Merkmale zu erkennen, wie es um unsere Stimmung und unsere Einstellung zum Gesagten bzw. zum Gemeinten bestellt ist. Was kann man über diese indexikalischen Ressourcen, die allen Sprecher(inne)n zur Verfügung stehen, hinaus über eine identitätsstiftende Funktionalisierung der Mehrsprachigkeit sagen? <?page no="98"?> Rosemarie Tracy / Doris Stolberg 98 Betrachten wir zunächst ein Beispiel, (41), in dem sich der mehrsprachige Hintergrund des Sprechers, von der gleichzeitigen Nutzung standardnaher und dialektaler Formen abgesehen, nur sehr verhalten bemerkbar macht. Der Sprecher ist AS, dem wir schon in (2) und (3) begegnet waren. Das Englische partizipiert hier in geringem Umfang, vor allem in der - allerdings durchaus gewichtigen - Wahl von I don't care gegen Ende. (41) „Das Ende der Welt“ (Tonbeispiel 3) AS: I wollt z'ruck fahrn inin/ am ersten Tag hab i schon gsagt zur Minna, ich fahr wieder zurück. Den Dreck mog i net. Des is ja das Ende der Welt. EL: Aha, hier? AS: U-und zwei Tag später sin mer zum Einkaufen gangen, un dann ham mer die-die Schnitzel und die Würschte kriegt, ||MS: und Eiscreme AS: für fünfzehn, zwanzig, dreißig Pfennig e Pfund, da hab i gsagt, i geh nimmer hoam. ||MS: Bananen AS: Ich geh nimmer hoam. I don't care, wie dreckig es ist. AS bringt hier nicht nur erneut den von ihm anfangs empfundenen Kontrast zwischen zwei Welten (Deutschland vs. USA ) zum Ausdruck, sondern er verdeutlicht auch seine bewusste Entscheidung in Bezug auf seine eigene Zugehörigkeit. Mit dem englischen Ausspruch I don't care kommt am Schluss nicht ohne Selbstironie eine „neue“ (lachende) Stimme ins Spiel, passend zur Schilderung seines Einstellungswechsels von Ich fahr wieder zurück hin zu Ich geh nimmer hoam. Sprachlich deutlicher markiert wird die Einstellungsänderung im folgenden Gruppengespräch, bei dem alle bisher bereits genannten Personen (AS und MS, die bairische Emigrantin TG, die einer Migrantenfamilie zugehörige EL sowie die aus Schwaben stammende LK) anwesend sind. Die Sequenz wird von LK eröffnet, die mit der Thematisierung ihrer Gefühle bei der Ankunft im neuen Land einen Referenzpunkt für den folgenden Austausch bietet (I war enttäuscht.). TG erklärt sich solidarisch (War(n) mer alle) und beschreibt sodann ihre eigenen ersten Eindrücke näher. Im Laufe dieser Beschreibung findet auf mehreren sprachlichen Ebenen der Übergang von der anfänglichen inneren Distanz zur Akzeptanz der neuen Heimat statt. Wir unterstreichen in dieser Passage Stellen, an denen der englische Einfluss eher subtil unterhalb der lexikalischen Oberfläche erkennbar wird. <?page no="99"?> Nachbarn auf engstem Raum 99 (42) „Die subway hat uns aa net gfalln“ (Tonbeispiel 2) LK: Well, i bin vierundfünfzig rüberkomme. I war enttäuscht. EL: Und und/ TG: War(n) mer alle. EL (zu AS): Ihr seid sechsundfünfzig rüber? AS: Sechsundfuffzig. EL: Ah ja. TG: Und Sie, mir sechsunddreißig, im Februar, am sechzehnten Februar hat das Schiff gelandet, und da war äh o/ beim Pier unten, ne? Bei Pier forty-six or what it was, the German Lloyd, {Nord/ North} German Lloyd, da, auf der Straße, der garbage, die-die potato peels, alles war angefrorn. Und äh, you know, under the äh the elevator/ AS: Kommend von München damals, des war der Dreck des, sowas hast noch nie gesehn. TG: Ja! Und denn when we got on the subway, die subway hat uns aa net gfalln, you know, from Manhattan to go/ but then when we got out in, in the Bronx, it was nice, there were trees, and later on we lived up on Bronx Park, across the street from the park. Auf der Ebene der Sprachwahl ändert sich im Laufe dieses Dialogs die Interaktion der beteiligten Sprachen. Der erste Teil der Darstellung findet im Wesentlichen auf Deutsch statt, ergänzt durch Entlehnungen aus dem Kernvokabular des Englischen (der garbage, die potato peels). TG bringt ebenso wie die anderen ihre Abscheu gegenüber den wahrgenommenen Zuständen zum Ausdruck, und diese Distanziertheit setzt sich auch noch zu Beginn ihres zweiten längeren Redebeitrags fort. Sie hebt zunächst auf Englisch an und unterbricht beim Stichwort subway ihren Erzählstrang durch einen deutschen Einschub, der ihre ablehnende Haltung ausdrückt (die subway hat uns aa net gfalln). Doch danach wechselt die Perspektive, und dies wird sowohl durch die Sprachwahl als auch durch die Art des Sprechens ikonisch abgebildet. TG hebt ihre Stimme, die Prosodie wird stärker moduliert. Inhaltlich verschiebt sich der Fokus von Kälte und Frost bei der Ankunft auf eine freundliche Umgebung mit einem Park, in dessen Nähe TG später wohnen wird. Was hier sprachlich ausgestaltet wird, ist der Übergang von der distanzierten Perspektive der eben angekommenen Immigrantin zu der Position einer gut integrierten Deutsch-Amerikanerin, die in den USA eine neue Heimat gefunden hat und für die sich, ebenso wie bei AS und MS die Frage einer Re-Immigration nach Deutschland zeitlebens nicht mehr stellt. <?page no="100"?> Rosemarie Tracy / Doris Stolberg 100 Wir hatten bereits darauf hingewiesen, dass die von uns aufgenommenen Emigranten und Emigrantinnen ihre Sprachen nicht gleichermaßen intensiv mischen, zumindest nicht auf der Ebene, die am besten kontrollierbar scheint, nämlich im Bereich des Lexikons. Einige Personen unter den bisher genannten, vor allem LK, sind sehr bewusst um eine möglichst strikte Trennung der beiden Sprachen bemüht. Die gute Beherrschung beider Sprachen ist Teil ihres Selbstverständnisses. In der folgenden Episode (43) berichtet sie von ihrem ersten Besuch in Deutschland nach sieben Jahren in den USA . Bei „Franzl“, von dem in den späteren Episoden die Rede ist, handelt es sich um ihren zweiten Ehemann, der ebenfalls aus Deutschland emigriert war. In (43) geht es zunächst darum, dass es für sie während ihrer ersten Ehe mit einem Amerikaner schwierig war, ihr Deutsch zu pflegen, weil es ihr an Verwendungsgelegenheiten fehlte. Offensichtlich störte es sie, dass ihre schwäbischen Verwandten Schwierigkeiten hatten, sie zu verstehen ( ja Lorle, wie schwätscht denn du? I-i verstand di jo kaum! ). (43) LK: (…) durch dies- [Sie meint ihre zweite Ehe] hab' i wieder Deutsch glernt [ LACHT ], was wenn mer wenn mer jahrelang/ EL: Du hast jetzt praktisch in der Zeit dazwischen nur Englisch gesprochen. LK: Ja, i bin/ wie i zum ersten Mal nüber bin nach sieben Jahr' mit meiner Familie - […] und ähmei Zunge, die wollt oifach net, mei Tante hat gsagt, ja Lorle, wie schwätscht denn du? I-i verstand di jo kaum! Ja! Weil wenn ma', wenn ma' sieben Jahr' lang nicht-nicht redet/ first of all, damals war's no' net so wie heut', dass du ans Telefon gehen kannsch und anrufen, net? Und so vor dich hinreden, des tut ma' au' net […]. (44) LK: Und wenn i, wenn i net, i moin' i bin net sogwandt mit allem, aber wenn i manchmal net-net weiß, wenn i in Englisch n Brie/ n Brief in Englisch schreib', un' i bin mer net sicher, na geh' i an mei' dictionary hin und schau', weil- Fehler möcht' i net mache' im Schreiben. [ LACHEN ] Da hab' i scho' mal äh vom-vo'me Bekannten vom Franzl, die warn schon mal erstaunt, dass i dass i no' so gut- Deutsch schreiben kann, net? (45) LK: Ja, woisch, wie-wie i mein Franzl kennenglernt hab, wie i zu ihm komme bin, hat er immer gsagt, Deutsch sollsch reden, Deutsch sollsch reden! Un dann, wie s/ wie mer dann so gwusst habm, dass mer heiraten wolln, na schaut er mi an un na sagt er: Woisch, Schatzl, i woiß net, ob du deutsch gnug bisch für mi! [ LACHEN ] In (44) berichtet LK von ihren Bemühungen, ihre Englischkompetenz zu verbessern; sie erzählt stolz, dass deutsche Bekannte ihres Mannes offensichtlich von ihrer schriftlichen Deutschkompetenz beeindruckt waren. (45) legt <?page no="101"?> Nachbarn auf engstem Raum 101 nahe, dass die Möglichkeit, deutsch zu kommunizieren und die Attribuierung „deutsch“ für ihre Partnerschaft nicht unwesentlich war und mindestens für eine Menge Gesprächsstoff sorgte. Einschübe wie first of all in (43) oder lexikalische Entlehnungen wie dictionary in (44) sind bei LK selten. Ihr Bemühen, bei einer Sprache zu bleiben, zeigt sich besonders deutlich in der Übersetzung englischer Ortsnamen, z.B. im Fall von Neu York in (46) unten sowie anhand ihrer Bitte um Unterstützung bei der Wortsuche in (47). (46) LK: Und äh wie gsagt, i bin dann ausgewandert, mei' Tante kam mit nach Bremerhaven, na bin i angekommen in Neu York, und der Anblick, wenn ma wenn ma mit dem Schiff kommt isch ja großartig. Großartig! Mir sin in der Nacht ankommen, und alles isch dannabgefertigt worden äh in de frühen Stunden […] (47) „Trip“ (Tonbeispiel 4) LK: […] und der hat ihnen dann äh en äh trip äh äh, wie sagt man denn da? Also äh, wie sagt mer jetzt? EL: Die Reisegeschenkt oder wie? LK: Gesch-/ ja, die Reise geschenkt […] (48) LK: Die ham doch, meiner Tochter ham sie doch über hundert Dollar auf ihr Kreditkarte äh gecharged oder wie ma da sagt. In (48) füllt LK eine offensichtlich echte lexikalische Lücke durch ein morphologisch gut integriertes charge und markiert diese Notlösung sogleich durch oder wie ma da sagt (vgl. auch Klintborg 1996). Um eine ganz andere Art von Kontrastierung, nämlich der von Einwanderern der eigenen Generation (when I came over) und jüngeren, bereits als „Amerikaner“ geborenen Familienmitgliedern geht es im nächsten Beispiel (49), in dem uns eine Reihe der bereits oben in Abschnitt 3 thematisierten Strategien zur Strukturierung des Diskurses wieder begegnen: Hintergrundinformation wird auf Deutsch gegeben, reinszenierte Sprecherstimmen sind (vorwiegend) englisch. Protagonisten im konkreten Fall sind der Arbeitgeber ihrer Enkelin (= er), die Enkelin sowie TG selbst. Die Kategorisierung und Identitätskonstruktion (wir hart arbeitenden, mittellosen Leute damals vs. ihr jungen, unerfahrenen, unbescheidenen Leute von heute) wird dabei zwar inhaltlich, jedoch nicht durch Kontraste in der Sprachwahl zum Ausdruck gebracht. Am Ende mutmaßt TG selbst lachend, wie junge Leute innerlich auf eine solche „Moralpredigt“ reagieren (Oh my God, now we got to sub/ to suffer through that again! ), eine Art „virtuelles“ Zitat (vgl. auch Alfonzetti 1998, Lattey/ Tracy 2005). <?page no="102"?> Rosemarie Tracy / Doris Stolberg 102 (49) „Anspruchshaltung“ (Tonbeispiel 5) TG: […] der Mann hat ihr neun Dollar die Stunde angeboten, na hats' gsagt, I can't work for that! Des hat sie mir erzählt, äh because you don't have any benefits of any kind, na hat er gsagt, give me a chance! I'll get to it. N-n-n-you know, get, you know a health insurance. Na wars' scho drei Monate oder was dortn, na hats' gsagt, I think I have to leave now. Na sagt er: Why? We just got so, you know, acquainted and everything. She says, you told me three months ago that äh we get health insurance, and nine dollars is no money. Na sag i, Arlene, wie konnst du des, du bist grad aus der Schul! Na hab i wieder gsagt, I had to work for seven dollars äh six days a week when I came over! An' you wouldn't accept nine dollars an hour! Und-und des is a joke today when-when something comes up un' ich mecht sogn, I had to work for seven dollars a week, dann hoaßt's, Oh my God, now we got to sub/ to suffer through that again. [ LACHEN ] God, no. ||MS: (Well) des is aber woahr, die Kinder heitzut/ In der Episode (50) geht es um einen Kontrast zwischen als Fremde und offensichtlich „weltfremd“ wahrgenommenen Stadtmenschen und bergerfahrenen Einheimischen. KL unternahm bei einem Besuch in Bayern mit einer Verwandten eine Bergwanderung zu einer Almhütte. Da sie - frisch aus den USA angereist - keine Wanderstiefel besaß, hatte sie sich im Ort Schuhe ausgeliehen. Auch sonst war ihre Kleidung nicht gerade zünftig. Sie berichtet, dass sie einen Regenmantel anhatte und eine Handtasche bei sich trug. Mit droben bezieht sie sich auf die Gaststätte auf der Alm, und die Leute, von denen sie redet, sind die Wirtin der Gaststätte sowie deren Mann, dem sie beim Aufstieg begegnete. (50) KL: […] Ich bin mit ihre Schuh dann aufgstiegn und mit meiner Tasche, and wie wir droben finally ankamen, dann hab ich gehört wie die/ äh ihrn Mann hatten wir getroffen, der, der is verletzt worden mit'm Baumstamm oder was, und äh, der hat sein Arm getroffen, we, we met him walking down with another man, andäh sie war/ äh seine Frau war grad am Telefon, und da hab ich/ ham wir gehört wie s' gsagt hat, ja, zwei Weibsen komme rauf, hat's gsagt, und oane hot's/ kommt sogar mit'm Dascherl. [ LACHEN ] I hob so viel glacht […] In dieser Erzählung von KL sieht man Formen, die offensichtlich nicht länger sprachspezifisch zugeordnet werden (and), Entlehnungen, die eigentlich „ohne Not“ und wohl allein aufgrund koaktivierter Lexeme erfolgen (finally), sowie Wechsel ins Englische, die mit erläuternden Einschüben korrelieren (we met him walking down with another man, was hier übrigens einer inhaltlichen Wiederholung entspricht, vgl. ihrn Mann hatten wir getroffen). Vor allem aber <?page no="103"?> Nachbarn auf engstem Raum 103 erkennt man eine zunehmende Dichte dialektaler Merkmale beim Zitieren des von der Wirtin getätigten Telefongesprächs, das KL zufällig hört. In diesem Gespräch werden sie und ihre Begleitung als Weibsen bezeichnet, von denen eine sogar mit'm Dascherl auf eine Berghütte wandere. Damit kontrastierend ist in der ersten Zeile noch in einer standardnahen Formulierung von meiner Tasche die Rede. Es spricht für KLs Sinn für Humor, dass sie sich über diese nicht sehr schmeichelhaften Äußerungen amüsieren kann (I hob so viel glacht). Der besondere Clou besteht darin, dass die Wirtin zum Zeitpunkt des Telefongesprächs nicht ahnt, dass die „Fremden“ verstehen, was sie sagt. Im letzten Beispiel, (51), geht es ebenfalls um einen humorvollen Effekt, und zwar um den bewussten und spielerischen Einsatz von Mischungen. Die Episode beginnt mit einer Frage von AS an EL. Die Mischung kommt durch die Insertion von teacher als Ersatz für das bereits teilweise realisierte Lehrer(in) zustande. Da Lehrer(in) im mentalen Lexikon von AS verfügbar ist, füllt teacher keine echte Lücke. Hier wird die Koaktivierung in spielerischer Absicht genutzt, was dann in der kurz danach anschließenden Reaktion von LK noch eine Steigerung erfährt. (51) AS: Also warn se da e junge Lehe junge teacherin? […] LK: Teacherin? Gibt's sowas, e teacherin? Zwei languages zusammenputten! Es kommt nicht von ungefähr, dass LK die bewusste Mischung von AS aufgreift. Sie ist Verfechterin einer möglichst klaren Sprachentrennung und zitiert mit Zwei languages zusammenputten einen Spruch, mit dem sich die Gruppe der Deutschamerikaner, der LK, TG und AS angehören, hin und wieder selbst ob ihres Mischverhaltens karikiert. Dass es sich dabei um ein Zitat mit hohem Verkehrswert handelt, haben wir im Laufe der Projektjahre feststellen können. 5. Abschließende Überlegungen Soziale Identität wird in der kommunikativen Interaktion verhandelt (vgl. Asmuß 2003, di Luzio/ Auer 1986, Kallmeyer/ Keim 2003, Keim/ Schütte (Hg.) 2002, Münch/ Stolberg 2005, Myers-Scotton 2006), inklusive solcher Interaktionen, die uns nur in den Erzählungen der Sprecher selbst begegnen (vgl. Kitschenberg 2004, Linde 1993). Unterschiedliche (imaginäre oder reale) Sprecher werden zitiert und sprachlich mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet. Dialektales Shifting und Code-mixing bieten sich an, um verschiedene <?page no="104"?> Rosemarie Tracy / Doris Stolberg 104 Stimmen zu Gehör zu bringen (vgl. Günthner 2002, Sebba/ Wootton 1998). Von daher ist es nur ein Vorteil, wenn die Ressourcen, die dafür benötigt werden, dank effektiver nachbarschaftlicher Netzwerke schnell abgerufen werden können. Es besteht weitgehend Konsens darüber, dass sich die von einem bilingualen Sprecher auf regelmäßiger Basis verwendeten Sprachen gegenseitig aktivieren und dass in mehrsprachigen Kontexten normalerweise parallele Äußerungspläne entworfen werden (vgl. Green 1998, Clyne 2003). Interessanterweise besteht damit das eigentliche - vor allem psycholinguistische - Explanandum nicht länger darin zu erklären, wie es zum Mischen von Sprachen kommen kann. Eine anspruchsvollere Herausforderung liegt darin zu erklären, wie es überhaupt gelingen kann, sich hin und wieder auf einen monolingualen Modus zu beschränken, und wie man es ansonsten schafft, im potenziell verfügbaren Chor möglicher Stimmen seriell und parallel für Ordnung zu sorgen. In jedem Fall eröffnet die natürliche Koexistenz und die dadurch bedingte Konkurrenz eng vernetzter, d.h. „benachbarter“ Alternativen einer interdisziplinär ausgerichteten und ihrerseits nachbarschaftlich eingebetteten Sprachwissenschaft ein reiches und zudem unterhaltsames Betätigungsfeld. 6. Literatur Alfonzetti, Giovanna (1998): The conversational dimension in code-switching between Italian and dialect in Sicily. In: Auer (Hg.), S. 180-211. Asmuß, Birte (2003): Zur interaktiven Aushandlung von Teilnehmerkategorien in interkultureller Kommunikation. In: Linguistik Online 14, 2/ 03, S. 107-121. Internet: http: / / www.linguistik-online.de/ 14_03/ asmuss.html (Stand: April 2008). Auer, Peter (Hg.) 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Vorbemerkung Der nachstehende Beitrag präsentiert sich „intermedial“, so dass sich den geneigten Leserinnen und Lesern mehrere Möglichkeiten bieten, von seinem Inhalt Kenntnis zu nehmen: durch die einfache Lektüre des nachfolgenden Textes, der zwar mit dem im Juni 2007 in Berlin verlesenen Vortragsmanuskript weitestgehend identisch ist, jedoch um kommentierende Anmerkungen und zahlreiche bibliografische Hinweise ergänzt wurde; durch die audiovisuelle Konsultation der beiliegenden CD , die (im Verzeichnis „Goebl“) nicht nur den vom Autor gesprochenen Vortragstext, sondern - vor allem - die Gesamtheit jener (zur Gänze mehrfarbigen) Grafiken und Landkarten 1 enthält, die das eigentliche „Salz“ der Berliner Präsentation ausgemacht haben; durch eine Kombination der Möglichkeiten a) und b). Klarerweise bietet die erstgenannte Variante (a) die geringsten Vorteile, wohingegen die Variante b) die Leser (utriusque generis) immerhin imstande setzt, sich in den Besitz der in Berlin präsentierten bildhaften und gesprochenen Informationen zu setzen. Ganz gewissenhafte und entsprechend informationshungrige Leser werden freilich zur Variante c) greifen und dabei die in den Fußnoten und im bibliografischen Annex gebotenen Hinweise zur Kenntnis nehmen. 1. Vortragstext Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kollegen! Zwar ist es nicht schwer, Sie in rund 30 Minuten mit interessanten Bild- und Schriftdokumenten zur alten Donaumonarchie gewissermaßen zu überschütten, doch ist es schon um vieles schwieriger, Ihnen in dieser Zeit ein anschau- 1 Für die Erstellung dieser Grafiken und deren Einbau in das Programm PowerPoint danke ich meinen Mitarbeitern Slawomir Sobota, Xavier Casassas und Fabio Tosques. a) b) c) <?page no="110"?> Hans Goebl 110 liches und vor allem schlüssig und plausibel erscheinendes Bild von der in der Tat sehr komplexen Sprachenlage in der „Alten Monarchie“ - wie es im klein gewordenen Österreich von heute oft heißt - zu vermitteln. 2 Die beiden im Titel meines Vortrags angegebenen Eckdaten sind rasch erklärt: Das Datum 1848 steht für das Jahr der Revolution, in dem auch die Sprachenfrage bereits eine wichtige Rolle gespielt hat und viele Völker der Alten Monarchie sich zum ersten Mal als politisch agierende Kollektive bzw. als - wie es damals mit Nachdruck hieß - „Nationen“ empfanden. Das Jahr 1918 wiederum steht für das Ende des Ersten Weltkriegs, in dessen Verlauf und als Konsequenz von dessen Ausgang sich in der Tat alle Völker der Alten Monarchie von der supranationalen Staatsidee der Habsburger losgesagt und einer mehrheitlich republikanisch und vor allem mono-ethnisch und mono-lingual konzipierten Zukunft zugewandt haben. Im 50. Jahr des Bestehens des EU -Gedankens - der sich ja als völkerverbindendes und die Grenzen der (seit 1918 freilich zur Norm gewordenen) Nationalstaaten überwindendes Programm versteht - kann in der Tat ein vergleichender Blick auf die komplexen Realitäten der Alten Monarchie hilfreich und erhellend sein. Somit werde ich versuchen, Ihnen in alle Kürze und mit Hilfe grafischen Anschauungsmaterials alter und neuer Provenienz die sprachliche Komplexität des Habsburgerreiches vorzuführen. Beginnen wir dazu mit einem historischen Rückblick! 1918 ist die Alte Monarchie nicht nur de facto, sondern auch de iure als „Doppelstaat“ in das Grab der Geschichte gestiegen. 2 Zu einer zusammenfassenden Darstellung der anstehenden Problematik verweise ich auf meine Beiträge von 1994 und 1999a (beide auf Deutsch), ferner von 1997 (auf Französisch) und 1999b (auf Italienisch). Ein unersetzbares Schlüssel- und Quellenwerk zur Habsburger- Monarchie in der Zeit zwischen 1848 und 1918 stellt die von Adam Wandruszka, Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch seit 1973 herausgegebene Serie „Die Habsburgermonarchie 1848-1918“ [HBM] dar, die zwischenzeitlich (Stand 2007) über sieben Bände verfügt. In unserem Kontext interessieren besonders die Bände III (Die Völker des Reiches), IV (Die Konfessionen) und V (Die bewaffnete Macht). Zur Sprachen- und Kulturvielfalt der Alten Monarchie sei im Übrigen auf die sehr instruktiven Sammelbände von Rinaldi/ Rindler- Schjerve/ Metzeltin/ Baglio (Hg.) (1997), Rindler-Schjerve (Hg.) (2003) und Rindler-Schjerve/ Nelde (Hg.) (2003) hingewiesen. Zusätzlich seien hier noch zwei Publikationen erwähnt, die im Rahmen eines längere Zeit (1997-2005) an der Universität Graz beheimateten Spezialforschungsbereiches zum Thema „[Wiener] Moderne“ entstanden sind: Müller-Funk/ Plener/ Ruthner (Hg.) (2002) und Feichtinger/ Prutsch/ Csáky (Hg.) (2003). <?page no="111"?> Sprachenvielfalt und Sprachenpolitik in der Spätphase der Donaumonarchie 111 Abb. 1: Gesamtmonarchie ab 1867 (aus: Weißensteiner 1976, S. 68) (= Dia 2) Dia 2: In Rot 3 sehen Sie die westliche Reichshälfte, welche die Zeitgenossen inoffiziell als „Zisleithanien“ und offiziell als „Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ bezeichneten. In diesem Kontext kam damals der Name „Österreich“ offiziell gar nicht vor. Die östliche bzw. ungarische Reichshälfte hieß inoffiziell „Transleithanien“ und offiziell „Königreich Ungarn“ bzw. „die Länder der ungarischen Krone“. 4 In Gelb sehen Sie ferner das Gebiet von Bosnien-Herzegowina, das Wien und Budapest als gemeinsames Kondominium verwalteten. Das Gebiet von Bosnien und Herzegowina wurde im Zuge der allgemeinen Zurückdrängung des 3 Die Beschreibungen der hier nur in Graustufen wiedergegebenen Abbildungen, Karten und Diagramme beziehen sich auf die farbigen Versionen der audiovisuellen Fassung dieses Beitrags, die im Ordner „Goebl“ der beiliegenden CD zu finden ist. 4 Siehe dazu die zusammenfassenden Darstellungen (mit Betonung der sprachlich-nationalen Faktoren) von Baier (1983), Béhar (1991), Fischel (1910), Hantsch (1953), Hugelmann (Hg.) (1934), Kann (1964), Lehmann/ Lehmann (Hg.) (1973), Sked (1993), Stourzh (1980 und 1985) und Tapié (1975). <?page no="112"?> Hans Goebl 112 Osmanischen Reiches aus Europa im Jahr 1878 zunächst besetzt und 30 Jahre später offiziell annektiert. Die Zweiteilung der Donau-Monarchie in Zis- und Transleithanien galt seit dem Jahr 1867 und war die Folge eines politischen Arrangements mit dem offiziellen Namen „Ausgleich“ zwischen den beiden politisch einflussreichsten Nationalitäten der Monarchie, nämlich den Deutschen und den Magyaren. Als auslösendes Moment für diesen innenpolitischen Ausgleich fungierte die außenpolitisch induzierte Schwächung des zuvor einheitlich konzipierten Kaiserstaats Österreich durch die militärische Niederlage gegen Preußen in der bekannten Schlacht von Königgrätz im Jahr 1866. 5 Als Folge des 1867 zwischen Wien und Budapest vereinbarten „Ausgleichs“ 6 verbleiben nur mehr drei Agenden in den Händen einer gesamtstaatlichen Regierung: das Finanzwesen, die Außenpolitik und das Heereswesen. Dafür wurde die heute noch da und dort mit dem Alten Österreich assoziierte Abkürzung k. u. k. im Sinne von „kaiserlich und königlich“ verwendet. Mit Bezug auf andere Agenden - wie z.B. für das nicht gesamtstaatlich verwaltete Unterrichts-Wesen - wurde in Zisleithanien die Abkürzung k. k. (für „kaiserlich-königlich“) und in Transleithanien das Kürzel k. (für „königlich“) verwendet. Hinzuzufügen ist, dass Ungarn und Österreich (bzw. die westlich der Leitha gelegenen Länder) seit 1526 gemeinsam zum Haus Habsburg gehörten und dass dessen jeweiliger oberster Regent über das Gesamtgebiet in vielfacher Personalunion und unter verschiedenen Titeln herrschte. Für Ungarn war daher Franz Joseph I. also nicht Kaiser, sondern König. Die Alte Monarchie war ethnisch und sprachlich überaus bunt: hier sehen Sie eine erste kartografische Übersicht (Dia 3). Die deutschen Gebiete sind in Rot gehalten, die magyarischen Gebiete in Gelb. Die tschechischen, slowakischen und slowenischen Gebiete erscheinen in einem mittleren Grün. Dazu kommen die Kroaten, Bosniaken und Serben im Süden sowie die in Dunkelgrün gehaltenen Polen und die in Hellgrün gehaltenen Ruthenen im Norden. An romanischen Nationalitäten sind auf dieser Karte die Rumänen, die Italiener sowie die Ladiner und Friauler vermerkt. 5 Genaues Datum: 3. Juli 1866. Österreich befand sich damals in einer Zweifronten-Situation: im Norden gegen Preußen, im Süden gegen Italien. Der kriegerische Konflikt mit Italien führte zwar zu zwei militärischen Siegen (zu Lande: Schlacht von Custoz(z)a am 24. Juni 1866, zu Wasser: Seeschlacht bei der dalmatinischen Insel Lissa (kroat. Vís) am 20. Juli 1866), endete jedoch mit der Abtretung des Veneto an Frankreich, das es an Italien weiterreichte. Zum Gesamtverlauf siehe Zöllner (1974, S. 409-411). 6 Siehe dazu vor allem Gogolák (1980), Haselsteiner (1984) und Katus (1980). <?page no="113"?> Sprachenvielfalt und Sprachenpolitik in der Spätphase der Donaumonarchie 113 Abb. 2: Ethnographische Karte von Österreich-Ungarn (aus: Rothaug 1911, S. 40) (= Dia 3) Die eben vorgestellten Völkerschaften hatten nach 1848 zunächst einen noch nicht voll abgesicherten Rechtsstatus. Dieser Rechtsstatus wurde in Zisleithanien erst durch das „Staatsgrundgesetz“ von 1867 und in Transleithanien durch das „Nationalitätengesetz“ von 1868 offizialisiert. Über die numerischen Verhältnisse der Alten Monarchie wissen wir durch vier Volkszählungen - abgehalten in den Jahren 1880, 1890, 1900 und 1910 - sehr genau Bescheid. 7 Bei diesen wurde offiziell zwar nach der „Umgangssprache“ gefragt, doch war allgemein bekannt und auch de facto akzeptiert, dass die weit überwiegende Mehrzahl der Bürger der Monarchie bei dieser Gelegenheit auf den Zählformularen die eigene Volkszugehörigkeit entweder selber vermerkte oder vermerken ließ. Im Vorfeld und bei der Auswertung der Resultate der Volkszählungen gab es - vor allem in sprachlichen Mischgebieten - wie etwa Böhmen, Galizien oder Dalmatien - zahlreiche Streitereien, jedoch interessanterweise nie den in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts des Öfteren vorgekommenen Fall des Boykotts der Volkszählung. 7 Siehe dazu vor allem Brix (1982), Waber (1915) und die den einzelnen Völkern gewidmeten Kapitel in HBM III , wo überall genaue Auflistungen zu finden sind. <?page no="114"?> Hans Goebl 114 Betrachtet man die ethnische Zusammensetzung der Gesamtmonarchie für das Jahr 1910 (vgl. Dia 4 der audiovisuellen Version meines Beitrags auf der beiliegenden CD ), dann erkennt man, dass sich von den rund 51 Millionen Bewohnern der Alten Monarchie 23,41% als Deutsche betrachteten, 19,62% als Magyaren, 16,39% als Tschechen und Slowaken, 9,76% als Polen und so weiter. Es gab somit im gesamten Staatsverband keine absoluten und nur sehr prekäre relative Mehrheiten. Bei einer Aufteilung desselben Zahlenmaterials nach Zis- und Transleithanien (Dia 5) sieht die Bilanz für das Jahr 1910 etwas anders aus. Dabei wird deutlich, dass sich in Zisleithanien die prozentuelle Lage der Deutschen von 23 auf rund 35% verbessert hat, diesen aber eine absolute slawische Mehrheit von fast 59% gegenüber stand, die sich aus den folgenden sechs Nationalitäten zusammensetzte: Ruthenen, Polen, Kroaten, Slowenen, Serben und Tschechen. Dagegen verfügten die Magyaren in Transleithanien über eine sehr komfortable relative Mehrheit von über 48%. Die hier vorzustellende ethnische, sprachliche und auch religiöse Komplexität wurde in der Alten Monarchie sehr genau dokumentiert, und zwar auch losgelöst von bzw. schon einige Zeit vor den erwähnten vier Volkszählungen. So entstanden schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe von - auch vom rein kartografischen Standpunkt aus - überaus interessanten Sprach- und Völkerkarten. In Dia 6 (Abb. 3) sehen Sie einen relativ kleinen Ausschnitt aus einer der bekanntesten (und sicher auch besten) Völker- und Sprachenkarte der Alten Monarchie, der sich nur auf Oberitalien und Tirol bezieht. Die fragliche Karte wurde im Jahr 1856 vom Freiherrn Carl von Czoernig erstellt, der der im Innenministerium angesiedelten österreichischen Statistik vorstand. In Rot sehen Sie die Siedlungsgebiete der Deutschen. Die Farbe Gelb bezieht sich vorwiegend auf die im Jahr 1856 noch zu Österreich gehörenden italophonen Gebiete der Lombardei und Venetiens. Schwarz schraffiertes Gelb markiert die Siedlungsgebiete der Ladiner und Friauler. Sprachlich bzw. ethnisch gemischte Gebiete sind mit speziellen Randsignaturen gekennzeichnet. Ein Proprium der Sprachenvielfalt der Alten Monarchie war deren über viele Jahrhunderte verteiltes, langsames Zusammenwachsen. Im 19. Jahrhundert waren somit - historisch gesehen - die meisten Völker Altösterreichs miteinander gut vertraut. Nichtsdestotrotz hat der seit der napoleonischen Zeit <?page no="115"?> Sprachenvielfalt und Sprachenpolitik in der Spätphase der Donaumonarchie 115 Abb. 3: Ausschnitt aus der „Ethnographischen Karte der Oesterreichischen Monarchie“ von Carl von Czoernig 1856; partieller Neudruck bei Goebl (1987) (= Dia 6) überall aufkommende und in weiterer Folge rasch überbordende Nationalismus zu interethnischen Segregations- und Abschottungsmechanismen oft der absurdesten Art geführt, an deren Ende schlussendlich der Zerfall der Monarchie stand. Lassen Sie mich die Genese dieses Völkeraggregats vor dem Hintergrund einer historischen Karte darstellen. (Dia 7: Putzger: Entwicklung der habsburgischen Länder 1526-1795.) 8 Die beiden seit dem 10. Jahrhundert das Gesamtschicksal Österreichs bestimmenden Herrschergeschlechter waren die Babenberger und die Habsburger. Die Babenberger herrschten in und über Österreich und die damit verbundenen Länder von 976 bis 1246 und die Habsburger von 1278 bis 1918. 9 Im Jahr 976, also zu Beginn der Babenberger-Herrschaft, enthielt die Urzelle Österreichs - wofür seit 996 der Name Ostarrichi überliefert ist - aller Wahrscheinlichkeit nach Anteile der folgenden Völker: Bajuwaren, Reste von Romanen und Awaren, ferner sicherlich nicht zu unterschätzende Anteile an Slawen und höchstwahrscheinlich auch Juden. Beim Anfall des Herzogtums Steiermark an das (bereits im Jahr 1156 von Bayern abgespaltene) Herzogtum Österreich 8 Grundkarte entnommen aus Putzger/ Lendl/ Wagner (1977, S. 96-97). 9 Zu einer Gesamtgeschichte Österreichs sei auf den „Klassiker“ von Erich Zöllner (1974) hingewiesen. <?page no="116"?> Hans Goebl 116 kamen im Jahr 1192 in größerer Zahl Slowenen dazu. Durch den Zuerwerb Tirols im Jahr 1363 und Triests im Jahr 1382 betraf dies Italiener und Ladiner. Nach dem Erwerb der Markgrafschaft Istrien im Jahr 1374 gerieten viele Kroaten und weitere Slowenen unter die Herrschaft Habsburgs. Mit dem im Jahr 1500 erfolgten Erbanfall von Görz und Umgebung trat ein größeres Kontingent von Friaulern in den habsburgischen Länderverbund ein. Etwa zur selben Zeit kamen durch den Zuerwerb eines Großteils der burgundischen Gebiete als Folge der bekannten Heirat Maximilians von Habsburg mit Maria von Burgund auch französische und niederländische Sprach- und Volkselemente hinzu. Im Jahr 1526 fielen nach der Schlacht von Mohács - in der der Ungarnkönig Ludwig II. im Kampf gegen die Türken den Tod fand - die Gebiete der böhmischen Wenzels- und der ungarischen Stephanskrone an Habsburg. Damit gerieten Tschechen, Slowaken und Magyaren in größerer Anzahl unter Habsburg. Als nach 1683, d.h. nach der Abwehr der Türken vor Wien, Schritt um Schritt das Gesamtgebiet der Stephanskrone erobert wurde, kamen im Jahr 1699 durch den Frieden von Karlowitz 10 die folgenden zwei Völker dazu: Rumänen und Ruthenen. Im Jahr 1718, bzw. nach dem Frieden von Passarowitz, 11 gelangten mit dem Banat viele Serben unter die habsburgische Herrschaft. Schließlich wurden im Jahr 1772, d.h. nach der Ersten Polnischen Teilung, Polen und weitere Ruthenen in den habsburgischen Völkerverbund integriert. Die letzte bedeutende Vermehrung der ethnischen Vielfalt unter den Fahnen Habsburgs brachte die Besetzung Bosniens und der Herzegowina (1878), wo Bosniaken, Serben und Kroaten wohnten. Die religiösen und die ethnischen Identitäten dieser drei in Bosnien und Herzegowina siedelnden Nationalitäten waren überdies weitgehend deckungsgleich. Dies deshalb, weil das Glaubensbekenntnis praktisch aller Bosniaken mohammedanisch, jenes der Serben griechisch-orthodox und schließlich jenes der Kroaten römisch-katholisch war, wie dies Dia 8 in aller Klarheit zeigt. Zu erwähnen ist noch die deutliche Verkleinerung des Anteils an Romanen - genauer an Italienern und Friaulern - im Laufe des 19. Jahrhunderts (vgl. Dia 9/ Abb. 4). Es geschah dies im Jahr 1859 durch den Verlust der Lombardei und im Jahr 1866 durch jenen von Venetien. 10 Karlowitz (dt.) bzw. Sremski Karlovci (serb. und kroat.) liegt an der Donau, in der Vojvodina, knapp südlich der Stadt Neusatz (dt.)/ Novi Sad (serb. und kroat.)/ Újvidék (ungar.) und in unmittelbarer Nähe der alten österreichischen Festung Peterwardein (dt.)/ Petrovaradin (serb. und kroat.)/ Pétervárad (ungar.). 11 Passarowitz (dt.)/ Požarevac (serb. und kroat.) liegt südöstlich von Belgrad, unweit der Einmündung der (Großen) Morava in die Donau. <?page no="117"?> Sprachenvielfalt und Sprachenpolitik in der Spätphase der Donaumonarchie 117 Abb. 4: Monarchie 1815-1919 (aus: Putzger/ Lendl/ Wagner 1977, S. 99) (= Dia 9) <?page no="118"?> Hans Goebl 118 Die Habsburger haben - im Unterschied zu anderen europäischen Herrscherhäusern - immer streng auf die persönliche Mehrsprachigkeit der Mitglieder ihres eigenen Hauses geachtet, um solcherart einem wesentlichen Prinzip der klassischen Feudalität nachzukommen, nämlich der Herstellung eines persönlichen Naheverhältnisses zwischen Untertan und Fürst. In diesem Zusammenhang verweise ich auch auf den in seiner sprachpolitischen Zielsetzung überaus modern wirkenden Artikel XXXI der von Kaiser Karl IV . im Jahr 1356 erlassenen „Goldenen Bulle“, worin mit sehr großer Deutlichkeit von der verpflichtenden viersprachigen Erziehung 12 der jungen Prinzen des Römischen Reiches die Rede ist. In Dia 10 sehen Sie eine Aufstellung der historisch bzw. biografisch recht gut dokumentierten Mehrsprachigkeit der aus dem Hause Habsburg stammenden deutschen und österreichischen Kaiser seit Maximilian I. 13 Beachten Sie dabei zweierlei: dass es auch Kaiser mit nicht-deutscher Muttersprache gab (wie Karl V. (1519-1556) oder seinen Bruder Ferdinand I. (1556-1564)) und dass zum fremdsprachlichen Standardgepäck aller Habsburger die drei Sprachen Latein, Französisch und Italienisch gehörten. Ein besonderer Freund von Mehrsprachigkeit war Kaiser Maximilian I. (1493- 1519) mit acht Fremdsprachen: Englisch, Flämisch, Spanisch, Italienisch, Französisch, Lateinisch, Tschechisch und Slowenisch. Sogar der wegen seiner kommunikativen Trockenheit oft als wenig brillant apostrophierte Kaiser Franz Joseph I. brachte es auf ganze sechs Fremdsprachen: Italienisch, Französisch, Lateinisch, Tschechisch, Ungarisch und Altgriechisch. Auffällig ist ferner die deutlich größere Westorientierung der Fremdsprachenkenntnisse der Kaiser. Unter den Ostsprachen dominierten Tschechisch und Ungarisch; es fehlten aber völlig Polnisch und Serbokroatisch, wie diese südslawische Sprache seit dem 19. Jahrhundert hieß. Diese große persönliche Mehrsprachigkeit wird uns später bei der Besprechung des Unterrichts- und Heereswesens erneut begegnen. 12 Die fraglichen vier Sprachen waren: Deutsch (Theutonicum ydioma), Latein (gram[m]atica), Italienisch (Italica lingua) und Tschechisch (Slavica lingua). 13 Angaben nach Tanzmeister/ Uttenthaler (1993, S. 65). a) b) <?page no="119"?> Sprachenvielfalt und Sprachenpolitik in der Spätphase der Donaumonarchie 119 Ersten Zeugnissen einer diesen Namen verdienenden Sprachenpolitik der Habsburger begegnen wir im frühen 16. Jahrhundert, d.h. nach dem Anfall Böhmens und Ungarns im Jahr 1526. 14 Damals lässt sich das Aufkommen einer domänen- und anlassbezogenen Mehr-Sprachigkeit bzw. Mehr-Schriftigkeit erkennen, bei der zwar Latein und Deutsch die wichtigste Rolle spielten, daneben aber auch andere Sprachen wie Italienisch, Tschechisch oder die südslawischen Sprachen durchaus ihren Platz hatten und diesen im Lauf der Jahrhunderte deutlich verbessern konnten. Einer der ersten Erträge der 1848er-Revolution war die programmatische Festschreibung der Gleichberechtigung der altösterreichischen Sprachen und die Definition des Gesamtstaates als eines Komplexes gleichberechtigter Nationalitäten. Die damals initiierte Publikation des neuen „Allgemeinen Reichs- Gesetz- und Regierungsblattes für das Kaiserthum Österreich“ erfolgte im Wege der Übersetzung in den folgenden zehn Sprachen (Dia 11): 15 1. in deutscher Sprache, 2. in italienischer, 3. in magyarischer, 4. in böhmischer (zugleich mährischer und slovakischer Schriftsprache), 5. in polnischer, 6. in ruthenischer, 7. in slovenischer (zugleich windischer und krainischer Schriftsprache), 8. in serbisch-illirischer Sprache mit serbischer Civil-Schrift, 9. in serbisch-illirischer (zugleich croatischer) Sprache mit lateinischen Lettern, 10. in romanischer (moldauisch-wallachischer) Sprache Beachten Sie auf dieser Liste die historische Gestalt der Sprachennamen! Zwar wurde im nach 1849 einsetzenden Neo-Absolutismus die Publikation des „Allgemeinen Reichs-Gesetz- und Regierungsblattes“ in zehn Sprachen wieder eingestellt, doch lebte diese im Jahr 1867 mit der konstitutionellen Einrichtung der beiden neu etablierten Reichshälften wieder auf. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass seit 1867 Zis- und Transleithanien nationalitätenpolitisch und sprachenrechtlich deutlich voneinander getrennte Wege gingen. Während das 1867 erlassene österreichische „Staatsgrundgesetz“ - in Fortführung der schon 1848/ 49 am Reichstag von Kremsier formulierten Gedanken - Zisleithanien als einen Vielvölkerstaat definierte, ging das transleitha- 14 Siehe dazu die vorzügliche Quellensammlung von Fischel (1910); ferner verweise ich in diesem Zusammenhang auf Baier (1983), Reut-Nicolussi (1930), Hugelmann (1934) und die beiden Bücher von Stourzh (1980 und 1985). 15 Aufstellung nach Stourzh (1985, S. 35). <?page no="120"?> Hans Goebl 120 nische (bzw. ungarische) „Nationalitätengesetz“ vom Ideal des einheitlichen magyarischen Nationalstaats aus und folgte damit der französischen Staatsidee. Ich zeige Ihnen nunmehr die zentralen Stellen der betreffenden Grundgesetze. Zunächst sehen Sie den berühmten Artikel XIX des österreichischen „Staatsgrundgesetzes“ von 1867 (Dia 12): Zisleithanien: Staatsgrundgesetz 1867, Art. XIX (nach Stourzh 1985, S. 56): Absatz 1: Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache. Absatz 2: Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate anerkannt. Absatz 3: In den Ländern, in welchen mehrere Volksstämme wohnen, sollen die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, daß ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält. Achten Sie auf die folgenden Termini bzw. Schlüsselbegriffe: Absatz 1: „… unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege …“ Absatz 2: „… aller landesüblichen Sprachen …“ Absatz 3: „… einer zweiten Landessprache …“ In Absatz 3 wurde explizit die Verpflichtung zur Erlernung einer zweiten Landessprache ausgeschlossen: „… daß ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache …“. Dieser Absatz wurde ursprünglich - d.h. in einem Vorentwurf der Jahre 1848 und 1849 - auf Betreiben jener Deutschböhmen in den Gesetzestext aufgenommen, die nicht bereit waren, das von ihnen damals (und auch später) sehr gering geschätzte Tschechische zu erlernen. Diese Unwilligkeit, sich eine zweite Sprache anzueignen, sollte bis 1914 kontinuierlich ansteigen, und zwar nicht nur bei den Deutschböhmen, sondern bei praktisch allen Nationalitäten bzw. in allen nur denkbaren Kontaktlagen der Alten Monarchie. Dies führte natürlich in der öffentlichen Verwaltung und auch im Schulwesen zu immer wieder aufflammenden Konflikten. Auf die eben erwähnten innerböhmischen Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen geht unter anderem die berühmt-berüchtigte Badeni-Krise 16 des Jahres 1897 zurück. Damals verfügte der zisleithanische Ministerpräsi- 16 Zu näheren Details siehe Sutter (1980, S. 223-230). <?page no="121"?> Sprachenvielfalt und Sprachenpolitik in der Spätphase der Donaumonarchie 121 dent Graf Kasimir Badeni die verpflichtende Zweisprachigkeit der Beamtenschaft in Böhmen und Mähren, die grosso modo von den Tschechen dieser beiden Kronländer begrüßt, jedoch von den dort siedelnden Deutschen vehement abgelehnt wurde. Die aus diesem Dissens erwachsenen österreich-weiten Demonstrationen und Krawalle führten schließlich zum Rücktritt von Graf Badeni und seiner Regierung. (Transleithanien: Nationalitätengesetz 1868, Art. XLIV ; zit. nach Brote 1895, S. 236) (Dia 13): Sämtliche Staatsbürger Ungarns bilden nach den Grundprinzipien der Verfassung in politischer Hinsicht eine Nation, die unteilbare, einheitliche ungarische Nation, deren gleichberechtigtes Mitglied jeder Bürger des Vaterlandes ist, gleichviel welcher Nationalität er angehört. Diese Gleichberechtigung kann nur in Hinsicht auf den offiziellen Gebrauch der im Lande gebräuchlichen Sprachen und nur insoweit einer besonderen Regelung unterworfen werden, als dies die Einheit des Landes, die praktischen Erfordernisse des Regierens und Verwaltens sowie eine gerechte Rechtssprechung notwendig machen; […]. In Transleithanien war dagegen explizit („… die unteilbare, einheitliche ungarische Nation …“) von der unteilbaren, einheitlichen ungarischen Nation die Rede, die nicht aus Volksstämmen bzw. ethnischen Kollektiven („… gleichberechtigtes Mitglied jeder Bürger des Vaterlandes ist …“), sondern aus einzelnen gleichberechtigten Bürgern bestand, denen - soweit unumgänglich notwendig - sprachlich entgegengekommen werden konnte. In der Tat haben die transleithanischen Regierungen in weiterer Folge einen starken und bisweilen recht erfolgreichen Druck zur Assimilierung an das Magyarische aufgebaut, dem sich nach dem Ausweis der zwischen 1800 und 1910 durchgeführten Volkszählungen in toto rund 2,5 bis 3 Millionen Untertanen der Stephanskrone gebeugt haben, darunter ganz besonders viele Deutsche, Slowaken, Juden und Rumänen. 17 Zu analogen Assimilationsschüben größeren Umfangs kam es aber in Zisleithanien nie. Hier blieben die ethnischen Besitzstände im selben Zeitraum im Großen und Ganzen stabil. Für die programmatische Mehrsprachigkeit Zisleithaniens und die programmatische Einsprachigkeit Transleithaniens gab es bis zum Zusammenbruch der Monarchie ein für jedermann deutlich sichtbares Symbol: die Vorder- und Rückseiten der österreichisch-ungarischen Banknoten. 17 Siehe dazu Gogolák (1980, passim) und Haselsteiner (1984, passim). <?page no="122"?> Hans Goebl 122 Abb. 5: 50-Kronen-Banknote: zisleithanische Seite (Vorlage in Reden 1987, Kassette) (Dia 14) Abb. 6: 50-Kronen-Banknote: transleithanische Seite (Vorlage in Reden 1987, Kassette) (Dia 15) <?page no="123"?> Sprachenvielfalt und Sprachenpolitik in der Spätphase der Donaumonarchie 123 In Dia 14 (Abb. 5) sehen Sie die zisleithanische Seite der am 2. Jänner 1914 ausgegebenen 50-Kronen-Note. Die Seite zeigt bei deutlicher grafischer Privilegierung des Deutschen immerhin auch die schriftlichen Äquivalente zum Banknotenwert von „50 Kronen“ in acht zusätzlichen Sprachen: und zwar - von oben nach unten - in Tschechisch, Polnisch, Ruthenisch (in zyrillischer Schrift), Italienisch, Slowenisch, Kroatisch, Serbisch (erneut in zyrillischer Schrift) und Rumänisch. Die hier sichtbare Reihenfolge dieser acht Sprachen hat sich zwischen 1867 und 1918 nicht geändert. Dagegen war die transleithanische Rückseite allein auf Magyarisch gehalten (Dia 15/ Abb. 6). In der öffentlichen Verwaltung Zisleithaniens wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts - und zwar ganz besonders nach 1867 - die nichtdeutschen Sprachen immer häufiger bzw. zuletzt sogar ausschließlich verwendet. Dabei war zwischen der inneren und der äußeren Amtssprache zu unterscheiden. Im Bereich der äußeren Amtssprache, wo es um den direkten Kontakt zwischen Behörde und Bürgern ging, erfolgte der Aufstieg der nicht-deutschen Sprachen besonders rasch. Dabei wurden - vor allem für Slowenisch, Tschechisch und Serbokroatisch und unter prominenter wissenschaftlicher Beteiligung - sogar reguläre Sprachausbau 18 -Kommissionen tätig, die unter der direkten Schirmherrschaft des Kaisers standen. 19 Eine für den Ausbau der jeweiligen juridischen Fachterminologien wichtige Rolle spielten dabei die Übersetzungen des deutschen Urtextes des 1811 erlassenen „Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches“ ( ABGB ) in die verschiedenen Sprachen der Monarchie. 20 Nicht unerwähnt seien in diesem Zusammenhang die letztendlich gescheiterten Versuche von Kaiser Joseph II. (1780-1790), in den nicht-deutschen Teilen der Monarchie - unter anderem auch im damals noch stark mit dem Lateinischen verbundenen Ungarn - binnen drei Jahren das Deutsche als allgemeine Verwaltungssprache durchzusetzen. 21 Diese Versuche setzen im Jahr 1784 ein und wurden bereits im Jahr 1790 eingestellt bzw. explizit zurückgenommen. 18 Man bezeichnet die von den Sprechern einer Sprache entfalteten Bemühungen, den Wortschatz und die syntaktischen Ausdruckmöglichkeiten dieser Sprache systematisch zu erweitern, als „(Sprach)Ausbau“. Die Termini Sprachausbau bzw. Ausbausprache gehen auf den deutschen Soziolinguisten Heinz Kloss (1904-1987) zurück: siehe dazu Kloss (1978, passim). 19 Zu näheren Details siehe Hafner (1965 und 1983). 20 Siehe dazu Ogris (1986/ 87, passim). 21 Siehe dazu das faktenreiche Buch von Eder (2006). <?page no="124"?> Hans Goebl 124 Ein besonders interessantes Kapitel stellt naturgemäß das Unterrichtswesen dar, das seit der im Jahr 1774 von Kaiserin Maria Theresia erlassenen „Allgemeinen Schul-Ordnung“ im Prinzip zu einer Sache des Staates geworden war. Der damals etablierte 6-jährige Pflichtschulunterricht basierte auf der durchgehenden Berücksichtigung der Muttersprache als Unterrichtssprache oder wenigstens als Unterrichtsgegenstand und sorgte auch für die parallele Vermittlung von weiteren Sprachen, vor allem von solchen, die für den sozialen Aufstieg nützlich waren. 22 Dieser Fall betraf natürlich vor allem sprachliche Mischgebiete. Dabei entstand die so genannte „utraquistische“ Schule, d.h. ein Typ von Pflichtschule, bei dem vor einer Klasse mit Kindern verschiedener Muttersprache und von ein und derselben Lehrperson zwei oder mehr Unterrichtssprachen verwendet wurden. Wir würden das heute „Immersions- Schule“ nennen. In Dia 16 sehen Sie eine Übersicht über das Unterrichtssprachen-Profil aller Volksschulen der Alten Monarchie im Jahr 1849. 23 Beachten Sie dabei das graue Segment mit 1945 „utraquistischen“ Schulen (Dia 17)! Die meisten utraquistischen Schulen verwendeten zwar das Deutsche als eine der beiden Unterrichtssprachen, doch gab es daneben auch zahlreiche Unterrichtssprach-Kombinationen ohne Deutsch, vor allem in Galizien, wo Polnisch und Ruthenisch dominierten. Festzuhalten ist aber auch das deutlich erkennbare Ost-West-Gefälle hinsichtlich des nur schwer auszumerzenden Analphabetismus (vgl. Dia 18). 24 Hier stand Zisleithanien besser als Transleithanien da, wie man aus dem Vergleich der betreffenden Prozentsätze für jene Nationalitäten erkennt, die in beiden Reichshälften siedelten, d.h. für die Rumänen, die Ruthenen und die Serbokroaten. In quantitativer Hinsicht war bis 1914 bei allen Nationalitäten eine stetige Aufwärtsentwicklung des Ausbaus der betreffenden Schulsysteme zu vermerken, wie das folgende Dia 19 (Entwicklung des Bestands an Volks- und Mittelschulen zwischen 1870 und 1913) 25 zeigt, das sich auf das primäre und das sekundäre Schulwesen bezieht. Fast überall waren kontinuierliche Aufwärtstrends zu vermerken. Wo das nicht der Fall war, hatte das seine besonderen Gründe. 22 Siehe dazu vor allem Burger (1995, passim) und Frommelt (1963). 23 Daten nach Frommelt (1963, S. 88-89). 24 Daten nach Urbanitsch (1980, S. 77) und Katus (1980, S. 485). 25 Daten nach Burger (1995, S. 246-248 sowie 256-257). <?page no="125"?> Sprachenvielfalt und Sprachenpolitik in der Spätphase der Donaumonarchie 125 So erklärt sich die Abnahme der Anzahl italienischer Volksschulen dadurch, dass im Laufe der Zeit - vor allem in Istrien und Dalmatien - immer mehr Kinder mit slowenischer oder serbokroatischer Muttersprache in Schulen der eigenen Nationalitäten gingen und damit den in dieser Gegend altetablierten Bildungsweg über das Italienische nicht mehr einschlugen. 26 Überdies nahm in den untersuchten vier Jahrzehnten ganz allgemein die Zahl der utraquistischen Volksschulen ab, dagegen nahm aber die Zahl der utraquistischen Gymnasien laufend zu. Offenbar hatte dieser Schultyp trotz aller Anfeindungen doch bis zuletzt seine Anhänger. In nicht wenigen Fällen waren die Sprachenkämpfe an Schulen aller Grade sehr heftig. 27 Auch Universitäten waren davon betroffen: ich erinnere hier nur an den schrittweisen Zerfall der Prager Karls-Universität zwischen 1882 und 1891 in einen Teil mit tschechischer und einen anderen Teil mit deutscher Vortragssprache 28 sowie an den langen Kampf um eine italienische Universität in Triest, 29 das seinerseits Schauplatz eines allgemeinen Sprachenkonfliktes zwischen Italienern und Slowenen war. Nur nebenbei sei erwähnt, dass die heutige Quellenlage zu all diesen Konflikten sowohl in Österreich wie in den Nachfolgestaaten der Monarchie noch immer optimal ist, so dass sich hier sehr ergiebige - und sachlich sehr attraktive - Studien- und Forschungsmöglichkeiten für sozio- und kontaktlinguistisch interessierte Doktoranden und Habilitanden eröffnen. Nicht weniger vielgestaltig und auch problembehaftet war die Sprachenfrage in der Alten Armee. 30 Ich zeige Ihnen zunächst die Gesamtansicht einer popularisierenden Grafik aus dem Jahr 1904, die sich auf die ethnische Zusammensetzung der 110 Infanterie-Regimenter der Alten Armee des Jahres 1900 bezieht (Dia 20/ Abb. 7). Betrachten wir daraus zur Verdeutlichung einige charakteristische Lagen näher: 26 Siehe dazu Kramer (1954, S. 95-97). 27 Siehe dazu Otruba (1983, passim). 28 Siehe dazu Sutter (1980, S. 210); Kořalka/ Crampton (1980, S. 512) sowie Stourzh (1980, S. 1320). 29 Siehe dazu Veiter (1965 S. 25f.). 30 Siehe dazu den fünften Band der „Habsburgermonarchie 1848-1918“ ( HBM V ) und die monografischen Darstellungen von Deák (1991) und Rothenberg (1967). <?page no="126"?> Hans Goebl 126 Abb. 7: Ethnische Zusammensetzung der k. u. k. Armee 1900 (aus: Hickmann 1904) (Dia 20) <?page no="127"?> Sprachenvielfalt und Sprachenpolitik in der Spätphase der Donaumonarchie 127 In der ersten Einblendung 31 sehen Sie die ethnische Zusammensetzung des in Czernowitz stationierten Infanterie-Regiments 41. Czernowitz war die Hauptstadt des viersprachigen Kronlandes der Bukowina, wo Rumänisch, Ruthenisch, Polnisch und Deutsch die vier „landesüblichen“ Sprachen waren. Die zweite Einblendung zeigt die Zusammensetzung des Infanterie-Regiments 72, das in Preßburg bzw. Pozsony (heute ist das Bratislava) stationiert war. Und so (dritte Einblendung) präsentierte sich die Lage beim Infanterie-Regiment 97 aus Triest, in dem Italiener, Slowenen und Kroaten gemeinsam dienten. Betrachten wir noch einen vergleichenden Ausschnitt zu den einzelnen Waffengattungen der Alten Armee (vierte Einblendung). Auffällig sind darauf überdurchschnittliche Massierungen gewisser Nationalitäten bei bestimmten Waffengattungen. So dominierten die Magyaren bei der Kavallerie, waren Deutsche und Tschechen überproportional bei der Pioniertruppe vertreten und dienten vor allem Serbokroaten und Italiener in der ehemaligen Kriegsmarine. Bei der Behandlung der Sprachenfrage in der Alten Armee ist erneut eine genaue Differenzierung nach kommunikativen Domänen wichtig. Zu unterscheiden sind demnach die Sprache der obersten Führungsinstanzen, jene der Offiziers- und Unteroffiziersausbildung, die Sprache zwischen Offizier und Mannschaft, die allgemeine Dienstsprache und die sprachliche Form allgemeiner militärischer Kommandos wie etwa Habt Acht, Ruht, Rechts richt Euch! etc. 32 Für die zuletzt zitierte Domäne - eine Menge von rund 80 bis 100 Nominal- und Verbalphrasen - hat sich der falsche Assoziationen weckende Begriff „Armeedeutsch“ eingebürgert. Doch war das keine Sprache im landläufigen Sinn, sondern ein Code mit vielen nominalen und nur wenigen verbalen Elementen, die allerdings alle deutschen Ursprungs waren. Zwar blieb der Primat des Deutschen als allgemeiner Kommandosprache auf fast allen Ebenen der k. u. k. Gesamt-Armee bis 1918 unangetastet aufrecht, doch wurde bei der Ausbildung vor allem der Offiziere programmatisch auf deren persönliche Mehrsprachigkeit geachtet. 31 Die folgenden Erläuterungen beziehen sich auf die Einblendungen zu Dia 20 in der audiovisuellen Fassung dieses Beitrags auf der beiliegenden CD . 32 Siehe dazu Deák (1991, S. 117f.) und Allmayer-Beck (1987, S. 98f.). <?page no="128"?> Hans Goebl 128 Zur Beförderung der Mehrsprachigkeit der Berufsoffiziere diente unter anderem das Prinzip, dass sich diese im Fall einer Versetzung zu einem neuen Regiment binnen dreier Jahre jene Regiments-Sprache anzueignen hätten, die sie fallweise noch nicht kannten. Andernfalls erfolgte kein Avancement. Dia 21 zeigt neun Histogramme zur Vertrautheit mit nichtdeutschen Sprachen (1904, Berufsoffiziere). 33 Dia 22 (zwei Tortendiagramme: ethnische Verteilung der Offiziere und Mannschaften 1900 und 1910) 34 zeigt indirekt, dass von der Notwendigkeit der beruflichen Erlernung anderer Sprachen vor allem deutsche Offiziere betroffen waren, da deren Prozentsatz jenen der deutschen Mannschaften um mehr als das Doppelte überstieg. Beachten Sie ferner im oberen Teil des Dias die Zählkategorie „gemischter oder unbestimmter Nationalität“! Es war dies das konkrete Resultat der in der Alten Armee programmatisch gehandhabten Erziehung der Offiziere zu supranational denkenden - d.h. die eigenen nationalen Regungen weitgehend hintan stellenden - Dienern des Kaisers und des Gesamtstaaates. Den Quellen nach zu schließen, kam die überwiegende Mehrzahl der Offiziere diesem Postulat auch nach. Allerdings war hier zwischen Berufs- und Reserveoffizieren zu unterscheiden. Letztere entstammten den jeweiligen wehrpflichtigen nationalen Eliten und manifestierten sehr oft eine bis 1918 kontinuierlich ansteigende nationale Intransigenz. Abschließend soll - durchaus mit Blick auf die heutige Situation in der EU - nochmals eine Partikularität der Sprachenlage der Alten Monarchie unterstrichen werden: die oft erstaunlich große persönliche Mehrsprachigkeit von beamteten Funktionsträgern auf allen Hierarchie-Ebenen. Die Tragik der damaligen Lage bestand nun darin, dass diese Mehrsprachigkeit einerseits - wenigstens in Zisleithanien - vom Staat und dessen offiziellen Organen explizit verlangt und gefördert wurde, jedoch andererseits von den verschiedenen Nationalitäten und von deren Eliten zur selben Zeit mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln massiv bekämpft und hintertrieben wurde. Damit kam Mehrsprachigkeit in den Geruch von altmodisch und obsolet und Einsprachigkeit in jenen von Fortschritt und Innovation. Dazu kam, dass die Sprache des jeweiligen Nachbarn oft nicht nur als Fremd-, sondern vor allem als Feind- 33 Zahlen nach Deák (1991, S. 123). 34 Zahlen nach Deák (1991, S. 219 und 223). <?page no="129"?> Sprachenvielfalt und Sprachenpolitik in der Spätphase der Donaumonarchie 129 Sprache betrachtet wurde. Ein Zitat aus einem Buch der österreichischen Bildungsforscherin Hannelore Burger möge diesen Umstand näher beleuchten: Eine Wiederherstellung und Wiederermöglichung von Mehrsprachigkeit, die für ein modernes europäisches Bildungssystem - soll es gelingen - unerläßlich zu sein scheint, hätte jedoch weder mit der Konstruktion oder Rekonstruktion bestimmter Schulformen noch mit der Bereitstellung entsprechender pädagogisch-didaktischer Vermittlung zu beginnen - auch nicht mit einem bloßen Appell an das Sprachvermögen des einzelnen -, sondern mit der Wiedergewinnung des mentalen Vermögens, die Sprache des Anderen, die in einer bestimmten historischen Konstellation zur Sprache des Feindes geworden ist war, zu allererst zuzulassen. (Burger 1995, S. 244) Mit Blick auf die heutige Lage, in der die nationalen und internationalen Fremdsprachenmärkte fast ausschließlich vom Englischen dominiert sind, muss man sich natürlich auch fragen, wie es mit der Bereitschaft der Bürger in den verschiedenen Ländern der EU steht, neben dem Englischen noch weitere Fremdsprachen zu lernen, vor allem solche, die weniger Prestigeals vielmehr Nachbarschaftswert haben. Das auch in Altösterreich bei der Sprachenbeherrschung beobachtbare Ost-West-Gefälle - Slawen und Ungarn konnten Deutsch in aller Regel besser als umgekehrt - gibt es ja im großen Europa von heute auch noch. Die Deutschsprachigen beherrschen in der Regel kaum slawische oder sonstige Ostsprachen, aber doch leidlich die eine oder andere Sprache vor ihrer westlichen Haustür. Engländer, Franzosen und sonstige Romanen beschränken sich meist - und dies oft programmatisch oder aus Tradition - auf ihre eigene Muttersprache. Dieses Gefälle hat natürlich tief sitzende Gründe, die die Geschichte ganz Europas betreffen. Ob dieses sprachliche Brust-an-Rücken-Stehen durch die Kenntnis und den Gebrauch allein des Englischen - also einer einzigen allgemein-verbindlichen Sprache - zu beheben ist, wage ich - im Licht der altösterreichischen Kommunikationserfahrungen - vehement zu bezweifeln. Damit danke ich Ihnen sehr für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit. <?page no="130"?> Hans Goebl 130 2 . Literatur Allmayer-Beck, Johann Christoph (1987): Die bewaffnete Macht. In: HBM V , S. 1-141. Baier, Dietmar (1983): Sprache und Recht im alten Österreich. München/ Wien. Béhar, Pierre (1991): L'Autriche-Hongrie. Idée d'avenir. Permanences géopolitiques de l'Europe centrale et balkanique. Paris. Brix, Emil (1982): Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910. Wien/ Köln/ Graz. 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Die historische Entwicklung 1.1 Grenzziehung auf dem Wiener Kongress Nach der französischen Niederlage wurde Wilhelm IV . von Oranien Staatsoberhaupt der neu gebildeten Niederlande (Niederlande und Belgien). Unter dem Namen Wilhelm I. wurde er am 16. März 1815 König. Um eine Intervention Preußens im Falle eines französischen Rückfalls zu erleichtern, erhielt Preußen von den europäischen Staaten die Kreise von Malmedy, Eupen und Sankt Vith. Erst 1816 legten beide Seiten, d.h. das Königreich Preußen und das Königreich der Niederlande, den endgültigen Grenzverlauf im Grenzvertrag von Aachen fest. Über einen Punkt allerdings konnte keine Einigung erzielt werden: die Zugehörigkeit von Moresnet (auch „Altenberg“ genannt). Die beiden Staaten stritten um dieses Gebiet wegen seiner begehrenswerten Zinkerzgruben. Eine provisorische Kompromisslösung wurde gefunden: der westliche Teil der Gemeinde Moresnet kam zu den Niederlanden, der östliche zu Preußen. Dazwischen lag das Gebiet mit den reichen Gruben, das als 1 Ich danke meinen Kollegen Vincent Dujardin und Michel Dumoulin für ihre hilfreichen Ratschläge. <?page no="136"?> Heinz Bouillon 136 „Neutral-Moresnet“ unter preußisch-niederländische Doppelverwaltung kam (Janssens 2000, S. 1-32). 1.2 Die niederländische Zeit und die belgische Revolution War seit der Besetzung durch Napoleon Französisch die offizielle Sprache, so etablierte Wilhelm I. die Verwendung des Niederländischen als offizielle Sprache (De Vroede 2002, S. 5-21). Im Jahre 1828 entschieden Flamen wie Wallonen, Liberale wie Katholiken, ihre Kräfte zu vereinen, um die Freiheiten zu erlangen, die sie seit der aufgezwungenen Vereinigung mit den Niederlanden forderten. Die allgemeine Unzufriedenheit wuchs, und im September 1830 entsandte der König seine Truppen nach Brüssel, um die Revolte niederzuschlagen. Die Holländer wurden von bewaffneten Gegnern empfangen. Die Kämpfe dauerten ganze vier Tage und endeten mit der Niederlage der Holländer. Bei diesen Kämpfen fielen 450 Soldaten, 1200 Menschen in der Hauptstadt wurden verletzt. Darunter waren Wallonen und Flamen und eine Mehrheit Brüsseler. Diese kamen vor allem aus den Arbeitervierteln der Stadt, wo, je nach Viertel, zu 35 bis 87 Prozent Niederländischsprachige ansässig waren. Heute überraschen diese Zahlen, doch es war erst die Entscheidung, Brüssel zur Hauptstadt zu machen, die die Anzahl der Französischsprachigen so stark hat wachsen lassen (Stengers 1995, S. 147). Der katholische Süden fiel von dem Königreich der Niederlande ab, dessen Schwerpunkt im protestantischen Norden lag, und machte sich als neues „Königreich Belgien“ im Jahre 1831 selbstständig. Eine provisorische Regierung rief die Unabhängigkeit Belgiens aus und beauftragte den Nationalkongress mit der Ausarbeitung eines neuen Grundgesetzes. Diese Verfassung garantierte die großen individuellen und kollektiven Freiheiten, u.a. die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und dem Fiskus, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Religionsfreiheit, die Freiheit des Unterrichtswesens, die Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit, das Briefgeheimnis, die Freiheit der Sprachwahl. Was jedoch die Sprache betrifft, wurde - aus einem Gefühl der Rache gegenüber Holland - nur Französisch als offizielle Sprache betrachtet. De facto war also der Staat französischsprachig, wenn auch in diesem Staat individuell jede Sprache gesprochen werden durfte. Das belgische Staatsblatt erschien erst viel später zum ersten Mal in niederländischer Ausgabe, nämlich im Jahre 1888. Ein anderes Beispiel für diese besondere Stellung der französischen Sprache: noch im Jahre 1919 legten in Flandern 11 von 44 gewählten Senatoren ihren <?page no="137"?> Belgien: offizielle Einsprachigkeit, individuelle Mehrsprachigkeit 137 Eid auf Französisch ab. Nach den Wahlen von 1946 war es kein einziger mehr (Gubin/ Nandrin/ Gérard/ Witte 2003, S. 200-202). Zum König wählten sich die Belgier keinen aus dem eigenen Land; sie einigten sich auf Leopold von Sachsen-Coburg-Gotha, der aus einem deutschen Haus stammte, das damals in Familienbeziehung mit fast allen europäischen Fürstenhäusern stand. 1.3 Leopold I. und der belgische Staat Die Holländer fanden sich mit ihrer Niederlage nicht ab und sahen in dem neuen Nachbarstaat keine militärische Kraft, die sich ihnen widersetzen konnte. Im August 1831 fiel eine holländische Armee in Belgien ein. Leopold I., der feststellte, dass seine Armee zu schwach war, rief die Franzosen zu Hilfe. Diese konnten die Holländer aufhalten und bis zur Grenze zurückdrängen. Auf der darauffolgenden Konferenz in London setzten die Großmächte einen Friedensvertrag mit 24 Artikeln auf. Wilhelm von Oranien stimmte diesem erst im Jahre 1839 zu. Belgien trat den Norden des alten Limburgs mit Maastricht (die heutige Provinz Limburg) an Holland ab. Der östliche Teil von Luxemburg (das heutige Großherzogtum Luxemburg) wurde selbstständig (Witte 2005, S. 100-108). Mit diesen Gebietsverlusten schied ein Großteil der rund 250.000 Menschen deutscher Muttersprache (Moselfränkisch) aus Belgien aus. Bis dahin gab es eine bedeutende deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien, was zur Übersetzung der Gesetzestexte führte (Janssens 2000, S. 1-32). 1839 wurde die deutsche Sprachgruppe in Belgien auf weniger als ein Fünftel ihrer bisherigen Stärke vermindert. Beim belgischen Königreich verblieben nur die Deutschen des Montzener Gebietes (im Nordosten) und des Areler Bezirks (im Südosten) sowie des kleinen Gebiets von Bocholz (in der Mitte). Sie werden gewöhnlich als „deutschsprachige Altbelgier“ bezeichnet. 1846 betrug ihre Zahl 34.060 Einwohner. Die heutigen so genannten Ostbelgier befanden sich damals in Preußen. 1.4 Der neue belgische Staat Der neue belgische Staat war ein zentralistisch geführter Einheitsstaat. Die Struktur dieses neuen Staates war auf dem Prinzip der Einheit von Gesetzgebung und Regierung für das gesamte Gebiet gegründet. Die Provinzen waren administrative Einheiten, die der Ausführung einer zentral gesteuerten Politik dienten. <?page no="138"?> Heinz Bouillon 138 Karte 1: Belgiens Entstehung 1831. Aus: Westermanns Atlas zur Weltgeschichte, Berlin/ Hamburg/ München/ Kiel/ Darmstadt, 1956, S. 127. (Diese und die folgenden vier Karten des Beitrags sind auch auch im Ordner „Bouillon“ der beiliegenden CD enthalten.) Dieser belgische Staat war ursprünglich ein bürgerlicher Staat: Die Beteiligung an der politischen Macht war denjenigen vorbehalten, die über die wirtschaftliche Macht verfügten. Bei dem parlamentarischen Wahlrecht hatten sich die Gründer für ein Zensuswahlrecht entschieden, wobei der Zensus der Betrag war, den man zahlen musste, um Wähler sein zu können. Somit war auch die Sprache der höheren Klassen der Bevölkerung, die lediglich eine demografische Minderheit darstellten (diese Führungsklassen repräsentierten nur rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung), die einzige offizielle Sprache des neuen Staates. <?page no="139"?> Belgien: offizielle Einsprachigkeit, individuelle Mehrsprachigkeit 139 Auf diese Weise wurde die Einheit Belgiens de facto auf der Vorherrschaft der französischen Sprache, der Sprache der Bourgeoisie sowohl in Wallonien als auch in Flandern, aufgebaut. Das junge belgische Nationalgefühl fand nur im Französischen seinen sprachlichen Ausdruck, obwohl der Staat die Gebiete dreier Sprachgruppen umfasste, der französischen, der flämischen und der - wenn auch kleinen - deutschen. Flämisch und Deutsch wurden in Führungskreisen als Dialekte angesehen. Nach Meinung der wohlhabenden Bürger, sowohl in Flandern als auch in Wallonien, sollten alle Belgier Französisch sprechen - und keine unbedeutende Sprache. Diese Geringschätzung löste die Entstehung der flämischen Bewegung aus. 1.5 Die flämische und wallonische Bewegung Im Kontext anderer nationalistischer Bewegungen, wo sich die Sprache als Ausdruck und Festigung der Nation verstand, entstand auch in Flandern der Wille, sich für die Gleichstellung der flämischen Sprache einzusetzen. Schriftsteller ließen die vergessene kulturelle Vergangenheit Flanderns aufleben. Philologen festigten das Sprachbewusstsein. Im späten Mittelalter war Flandern eine der reichsten Regionen der damaligen Welt gewesen. Die Religionskriege hatten seine Aristokratie in die Flucht getrieben, viele zum Protestantismus übergegangene Intellektuelle, Adlige, Handelsleute waren in den protestantischen Norden ausgewandert und hinterließen der spanischen Reconquista das einfache Volk. So hatte Flandern danach lange unter der Führung eines flämischen Kleinadels oder flämischer Kleinbürger gestanden, die mit dem Volk Flämisch sprachen, in der eigenen Familie allerdings Französisch, die Sprache von Welt. Später wurden diese Leute „Fransquillons“ genannt (und heißen bis heute so), wobei die Konnotation von „Verrat“ für jeden Flamen spürbar bleibt. Ein Buch symbolisiert diesen Einsatz für sein Volk: „De Leeuw van Vlaanderen“ von Hendrik Conscience. Der Löwe von Flandern ist auf allen flämischen Fahnen vorhanden, er ist zentrales Motiv der flämischen Hymne. Die Forderungen der flämischen Bewegung waren vor allem sprachlich-politischer Natur: Sie kämpfte gegen die französische Sprache als Instrument der Beherrschung der Klassen, wobei es damals vorerst nur um die Anerkennung der flämischen Sprache ging und noch keineswegs um Autonomie (Witte 2005, S.195-198). <?page no="140"?> Heinz Bouillon 140 Die flämische Bewegung erzielte ihre ersten Erfolge. Schon 1873 stimmte das Parlament einem Gesetz zu, das den Gebrauch der flämischen Sprache in der Justiz erlaubte. Ein weiteres Gesetz von 1878 regelte den Gebrauch des Flämischen in der Verwaltung. Im Jahre 1883 wurde Flämisch Unterrichtssprache in den Mittelschulen des Staates. Ein Erlass von Juli 1884 schaffte den Gebrauch des Französischen in den Mitteilungen und Bekanntmachungen der Verwaltung in Flandern ab. Schließlich wurde 1886 eine königliche Akademie der Sprache und Literatur in Gent gegründet (Deneckere 2005, S. 174-193; Wils 1994). Als Reaktion auf die flämische Bewegung entstand nun auch eine wallonische Bewegung. Der erste Versammlungskongress der Wallonen fand im Jahre 1890 statt. Im Jahre 1912 erklärte der wallonische Abgeodnete Jules Destrée in seinem Brief „Lettre ouverte au Roi Albert“: «Vous régnez sur deux peuples. Il y a en Belgique des Wallons et des Flamands; il n ' y a pas de Belges» („Sie regieren über zwei Völker. Es gibt in Belgien Wallonen und Flamen; es gibt keine Belgier“) (zit. n. Mullier 1977). Das Manifest „Lettre au Roi“ sollte der Grundpfeiler der wallonischen Bewegung im Laufe ihrer späteren Entwicklung sein und wird oft als die Charta des belgischen Föderalismus betrachtet (Destatte 1997, S. 89-90). 1.6 Erster Weltkrieg Belgien wurde im Ersten Weltkrieg fast ganz von den deutschen Truppen erobert. Nur ein kleines Gebiet an der Yser hielt den Deutschen stand, wobei die Belgier - Flamen und Wallonen - vom Soldatenkönig Albert geführt wurden. Dieser Widerstand gegen einen ausländischen Gegner entfachte ein belgisches Nationalgefühl, wenn auch der einfache flämische Soldat in einer französischen Sprache, die er nicht verstand, in den Tod geschickt wurde (Dumoulin 2006, S. 119; Keymeulen/ De Vos 1988, S. 598-612; 1989-1990, S. 1-38 und 81-104; De Schaepdrijver 2004, S. 186). Während der deutschen Besatzung im Ersten Weltkrieg flamisierten allerdings die flämischen Aktivisten unter Mitwirkung und mit der Erlaubnis der deutschen „Zivilverwaltung“ die Justiz, das Schulwesen und die Verwaltung. Die administrative Trennung Belgiens wurde 1916 gesetzlich erlassen und blieb in Kraft bis zum Waffenstillstand von 1918. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Niederlage des Deutschen Reichs verlangte Belgien eine Wiedergutmachung und beanspruchte die Kreise Eupen-Malmedy. Durch den Königlichen Erlass vom 4. Oktober 1925 wurde die belgische Verfassung in den drei Kantonen Eupen, Malmedy und Sankt Vith eingeführt (Luyckx/ Platel 1985, S. 276). Erst am 24. September <?page no="141"?> Belgien: offizielle Einsprachigkeit, individuelle Mehrsprachigkeit 141 1956 erkannte Deutschland die Abtrennung dieser Gebiete an, als der deutsche und der belgische Außenminister den „Vertrag über eine Berichtigung der deutsch-belgischen Grenze“ unterzeichneten. 1.7 Erste Einsprachigkeit Zuerst galt ab 1930 die Forderung nach Einsprachigkeit nach dem Motto „In Vlaanderen, Vlaams“. Ein wichtiges Ergebnis dieser Forderung war die Entstehung einer ersten flämischen Universität in Gent im Jahre 1930. Ab 1932 wurde Flämisch die offizielle Sprache der öffentlichen Verwaltung, der Gerichtsbarkeit und des Unterrichtswesens in Flandern (Gérard 2006, S.154- 155). Da Flandern sich jetzt immer mehr in eigener Sache behaupten konnte, kam in den beiden großen Sprachgemeinschaften zunehmend das Gefühl auf, dass in kulturellen Angelegenheiten jeder für sich entscheiden sollte (Wils 1985, S. 123). 1.8 Der Zweite Weltkrieg Sofort nach Ende der Eroberung Belgiens durch die deutschen Truppen wurden die Grenzen neu gezogen. Am 18. Mai 1940 verkündete Adolf Hitler: „Die durch das Versailler Diktat vom Deutschen Reich abgetrennten Gebiete von Eupen, Malmedy und Moresnet sind wieder Bestandteil des deutschen Reiches.“ De facto ging es nicht nur um die oben besprochenen Gebiete, auch neun altbelgische Gemeinden, die nie zuvor zu Deutschland gehört hatten, wurden mit ins Reich eingegliedert. Das Reich führte die eigene Verwaltung, Gesetzgebung, Militärpflicht, Währung und Kriegswirtschaft in den neu gewonnenen Gebieten ein. Die männlichen Einwohner dieser Gebiete wurden zwangsweise in die deutsche Wehrmacht eingezogen und kämpften - und starben - an allen deutschen Fronten. Belgien erkannte diese deutsche Annexion selbstverständlich nie an, und 1945 wurden diese Gebiete wieder belgisch. Im übrigen Belgien hatte die deutsche Besatzung eine differenzierte Haltung. Die Flamen wurden z.B. sofort aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, auch war die deutsche Verwaltung in Flandern „verständnisvoller“, es bestand eine Art Verständigung zwischen den germanischen Völkern; die Französischsprachigen hingegen blieben länger in Kriegsgefangenschaft, die Widerstandsbewegung gegen die Deutschen war viel härter. Diese unterschiedliche Behandlung durch die Besatzungsmacht hat dazu beigetragen, die beiden Völker Belgiens weiter auseinanderzutreiben. Nach dem Krieg gab es unendliche Diskussionen über die Haltung der einen und der anderen Seite während des <?page no="142"?> Heinz Bouillon 142 Krieges. Flämische Denker und Aktivisten wurden verdächtigt, nationalistisches und faschistisches Gedankengut verwechselt oder vermischt zu haben. Eine lang währende Diskussion um eine Amnestie für so genannte Kollaborateure, gefordert von den Flamen, verweigert auf frankophoner Seite, brach aus, und diese Streifrage wurde Gegenstand mehrerer Regierungsverhandlungen (Van den Wijngaert/ Dujardin 2006, S. 80-82). 1.9 Zur territorialen Einsprachigkeit Die wichtigsten Jahreszahlen, um die heutigen Auseinandersetzungen in Belgien zu verstehen, sind 1962 und 1963. Nach langen Verhandlungen wird die Sprachgrenze 1962 durch ein Gesetz festgelegt; somit wird sie eine politische Grenze. Dies geschah nicht auf Basis einer Volkszählung, es war ein Verhandlungsergebnis, eine „Einigung“ zwischen Gemeinschaften, die jedoch für einige Minderheiten Probleme hinterließ, die bis zum heutigen Tag nicht gelöst sind. Im Jahre 1963 wird die Gesetzgebung für den Gebrauch der Sprachen festgelegt: Außer in Brüssel und einigen genau festgelegten Gemeinden herrscht amtliche Einsprachigkeit. Dieses Ergebnis ist ein Paradox: Eigentlich wollten die Flamen ursprünglich nur die offizielle Anerkennung der flämischen Sprache, keine Sprachgrenze; sie hätten also eine effektive offizielle Zweisprachigkeit akzeptiert. Die Frankophonen hingegen wollten keine Zweisprachigkeit, weil sie, wie von flämischer Seite gern unterstellt wird, eigentlich kein Flämisch lernen wollten; bei offizieller Zweisprachigkeit hätten sie zum Beispiel weniger Berufsaussichten. Premierminister Dehaene hat diese Ansicht in den letzten Monaten nochmals wiederholt. Hätte man sich damals für eine allgemeine Zweisprachigkeit entschieden, so wäre die Lage heute eine ganz andere (Wils 1996, S. 298-299). Vielleicht hätte sich sogar die französische Sprache allein durchsetzen können. Jedenfalls haben die Frankophonen den Flamen mit der territorialen Einsprachigkeit die Grundsteine zur allmählichen Trennung gegeben. Seitdem wird nämlich diese Einsprachigkeit konsequent durchgeführt. Die letzte spektakuläre Trennungsaktion geschah 1968: Die 1425 gegründete katholische Universität Löwen wurde in zwei Universitäten aufgespalten. Der flämische Teil blieb in Löwen zurück, der französischsprachige Teil musste nach Louvainla-Neuve umziehen, wo man ganz einfach auf den Feldern von vier Bauernhöfen eine neue Stadt gegründet hat (Laporte 1999). Diese aus dem Boden gestampfte Stadt zählt heute ca. 50.000 Einwohner, darunter 21.000 Studenten. Der Studenten-Austausch zwischen „Leuven“ und „Louvain-la-Neuve“ (Distanz 35 km) verläuft heute nach Kriterien des Erasmus-Programms. <?page no="143"?> Belgien: offizielle Einsprachigkeit, individuelle Mehrsprachigkeit 143 2. Die letzten Staatsreformen 2.1 Die Staatsreformen 1970-1993 Im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts sind nacheinander mehrere Staatsreformen durchgeführt worden, durch die die Strukturen des Landes tiefgreifend verändert wurden. Der Zentralstaat ist Schritt für Schritt zu einem Bundesstaat umgebaut worden, wobei heute niemand weiß, ob die aktuelle Phase wirklich die letzte ist und ob die Organe des Staates ihre endgültige Form haben. Das bisherige Ergebnis dieser Verteilung der Kompetenzen erhält dem Föderalstaat prinzipiell alle Befugnisse, die noch nicht an Regionen und Gemeinschaften abgegeben wurden. Die Regionen befassen sich eher mit territorialen Angelegenheiten (Wirtschaftspolitik), die Gemeinschaften mit personenbezogenen Angelegenheiten. Die Regionen sind territorial festgelegt (Sägesser 2006): Flandern: einsprachig Flämisch - Ausnahme: Voeren, Brüsseler Randgemeinden, Wallonien: einsprachig Französisch, Ausnahme: deutschsprachige Gemeinschaft, Mouscron/ Comines, die Region Brüssel (umfasst 19 Gemeinden, darunter die Stadt Brüssel): zweisprachig Flämisch und Französisch. Die Gemeinschaften regeln personenbezogene Angelegenheiten: die französische Gemeinschaft, die flämische Gemeinschaft, die deutschsprachige Gemeinschaft. Seit 1988 befassen sich die Gemeinschaften hauptsächlich mit Unterrichtsfragen (Ausnahmen sind Festlegungen zu Minimalbedingungen von Diplomen, Schulpflichtalter sowie Renten der Lehrer, die eine föderale Angelegenheit bleiben) sowie mit Presse, Radio und Fernsehen. Die sog. „Räte“ der Regionen und Gemeinschaften haben eine konstitutive Autonomie, d.h. sie beschließen selbst, wie sie sich zusammensetzen. Zusammenfassend gibt es im Wesentlichen folgende „Organe“ des Staates (Deschouwer 2006, S. 395-422): Auf nationaler Ebene: König, Regierung (zweisprachig), Parlament (Kammer - Senat, proportional je nach Wahlkreisen); - - - - - - - <?page no="144"?> Heinz Bouillon 144 die flämische Region und die flämische Gemeinschaft haben sich auf einen einzigen Rat geeinigt: „de Vlaamse Raad“ mit einer flämischen Regierung (zuständig für die flämischen Institutionen auch in Brüssel); die wallonische Region (Rat, Regierung); die französischsprachige Gemeinschaft (Rat, Regierung), zuständig für die Frankophonen Walloniens und für die französischsprachigen Institutionen Brüssels; die Brüsseler Region (Rat, Regierung), zuständig für nicht personenbezogene Fragen, vor allem im wirtschaftlichen Bereich; die deutschsprachige Gemeinschaft (Rat, Minister). Karte 2: Die Gemeinschaften und Regionen (nach: http: / / www.tlfq.ulaval.ca/ axl/ Europe/ belgiquefrncommunes.htm ; Stand: September 2008) 2.2 Bleibende Spannungen und mögliche Lösungen 2.2.1 Frühere Probleme, die gelöst wurden Die deutschsprachige Minderheit (74.000 Einwohner) stellt heute kein Problem mehr dar; sie hat den Ruf, die „bestbeschützte Minderheit der Welt“ - - - - - <?page no="145"?> Belgien: offizielle Einsprachigkeit, individuelle Mehrsprachigkeit 145 zu sein. Sie verfügt über eine große Autonomie im Rahmen der neuen Kompetenzen für die Gemeinschaften; ihre vier Minister sind verantwortlich vor einem 25-köpfigen Rat. Die Probleme der Gemeinden Voeren und Comines/ Mouscron hingegen haben einige Regierungen in die Knie gezwungen. Es geht um das gleiche Problem: auf beiden Seiten war eine große Anzahl der Einwohner nicht einverstanden mit ihrer Zugehörigkeit zur flämischen bzw. französischsprachigen Region. Nach heftigen Auseinandersetzungen und vielen Verhandlungen und typisch belgischen Kompromissen gehört die Gemeinde Voeren heute zu Flandern; die dort lebenden Frankophonen bekommen jedoch persönliche Sonderrechte (Wahlen, Unterricht…). Eine entsprechende Lösung gilt für Mouscron: Die Gemeinde gehört zu Wallonien, mit administrativen Sonderrechten (facilités) für die Flamen (Joris 1998, S. 120; Destatte 1997, S. 271). 2.2.2 Die bleibenden Probleme Ganz ähnliche Probleme stellen heute die Existenz des belgischen Staates aufs Spiel. Zwei Einstellungen prallen aufeinander: Den Flamen geht es hauptsächlich um klare Grenzen ihres Territoriums. Den Frankophonen geht es darum, persönliche Rechte (u.a. Schulausbildung) dort durchzusetzen, wo sie eine Mehrheit darstellen, auch wenn das betroffene Gebiet auf flämischem Territorium liegt. Diese Fragen stellen sich zurzeit vor allem in den Brüsseler Randgemeinden und im Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde (Brassine de la Buissière 2005). 2.2.2.1 Die Brüsseler Randgemeinden Als die Grenzen der „Hauptstadt Brüssel“ festgelegt wurden, war diese dritte Region vollständig von flämischem Territorium umgeben, es gab keine territoriale Verbindung zur Wallonie. Wie bei jeder Großstadt hat sich der Ballungsraum von Brüssel ausgedehnt, und in den grünen Randgemeinden haben sich immer mehr vor allem französischsprachige Brüsseler niedergelassen. Somit hat sich die Bevölkerungsstruktur in diesen Gemeinden stark verändert. Rhode-St. Genèse oder Sint Genesius-Rhode liegt zwischen Brüssel (zweisprachig) und Waterloo (wallonische Region), gehört zur flämischen Region, hat aber eine französischsprachige Mehrheit. <?page no="146"?> Heinz Bouillon 146 Karte 3: Brüssel, die Randgemeinden und die Wallonie (nach: http: / / www.tlfq.ulaval.ca/ axl/ Europe/ belgiquefrncommunes.htm ; Stand: September 2008) In der Ausgabe vom 26. August 2006 hält die Tageszeitung Le Soir folgende Zahlen fest: Crainhem Fr 72% Nl 28% Drogenbos Fr 75% Nl 25% Linkebeek Fr 79% Nl 21% Rhode-St Genèse Fr 58% Nl 42% Wemmel Fr 54% Nl 46% Wezembeek-Oppem Fr 72% Nl 28% In diesen Gemeinden, die in der flämischen Region liegen, bilden inzwischen die Französischsprachigen die Mehrheit. Bisher wurden ihnen administrative Sonderrechte (facilités) zugesprochen. In der Interpretation dessen, was diese Sonderrechte bedeuten, gibt es jedoch große Meinungsunterschiede zwischen den beiden großen Gemeinschaften. Die Flamen betrachten die „administrativen Spracherleichterungen“ als eine vorübergehende Lösung bis zur Anpassung der Einwohner an die sprachlichen Anforderungen der flämischen Region; am Ende des Prozesses sollte Einsprachigkeit die Regel geworden sein. Die Frankophonen sehen in den „administrativen Spracherleichterungen“ eine endgültige Anerkennung ihrer Grundrechte; am Ende des Prozesses sollte die Zweisprachigkeit der Brüsseler Region die Regel werden. Die Brüssler Randgemeinden (communes à facilités) bleiben also ein dauerhafter Zankapfel für alle Regierungen. Die Flamen erwarten in weiterer Zukunft in diesen Gemeinden, dass alle Einwohner ausschließlich in flämischer Sprache verwaltet wer- <?page no="147"?> Belgien: offizielle Einsprachigkeit, individuelle Mehrsprachigkeit 147 den und dass diese Gemeinden natürlich Bestandteil von Flandern bleiben; die Frankophonen wünschen sich einen Anschluss dieser Gemeinden an ihr natürliches Zentrum, Brüssel/ Hauptstadt, und somit die Anwendung der administrativen Zweisprachigkeit. Karte 4: Die Brüsseler Randgemeinden (nach: http: / / www.tlfq.ulaval.ca/ axl/ Europe/ belgique frncommunes.htm ; Stand: September 2008) (die Prozentzahlen geben den Anteil der Französischsprachigen wieder). 2.2.2.2 Der Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde Die Aufteilung Belgiens in Wahlkreise hat eine lange und komplizierte Geschichte. Ohne hier auf Einzelheiten eingehen zu können, wollen wir von der heutigen Situation ausgehen, in der der heutige Wahlkreis ein größeres Gebiet umfasst, das von Vilvoorde bis Halle reicht. Dies ermöglichte bisher, die frankophonen Wählerstimmen, die sonst in der weiteren Umgebung von Brüssel für keine frankophonen Abgeordneten geäußert werden konnten, zur Geltung zu bringen und sie nach Brüssel zu übertragen. Nach einem Urteil des Schiedshofes soll nun dieser Wahlkreis endgültig aufgeteilt werden. Wie dies geschehen soll, ist höchst strittig. Eine Teilung des zweisprachigen Wahlkreises würde in den Augen der Flamen zu einer politischen Vertretung nach flämischem Recht führen: die Frankophonen dieses großen Wahlkreises könnten nicht mehr für Brüsseler wählen; die frankophonen Brüsseler verlören somit einen Teil der Wähler, die in diesem großen Wahlkreis wohnen und die endgültig als „Flamen“ angesehen würden. <?page no="148"?> Heinz Bouillon 148 Karte 5: Der Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde (nach http: / / www.lalibre.be/ bhv/ infobhv.htm ; Stand: September 2008) umfasst die 19 Gemeinden der Hauptstadt Brüssel und die 6 Kantone „Halle-Vilvoorde“: Asse, Halle, Lennik, Meise, Vilvoorde, Zaventem. Bei den letzten Wahlen im Juni 2007 bekamen französischsprachige Listen 88% der Stimmen in Brüssel/ Hauptstadt; die Anzahl französischsprachiger Wähler außerhalb von Brüssel im großen Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde betrug 78.000. Im Jahre 1880 gab es nur 39% Französischsprachige in Brüssel. Die Flamen haben dieses Phänomen mit einer problematischen Metapher als „Ölfleck“ bezeichnet, der sich immer weiter ausdehnt. Die flämische Strategie ist nun, diesen „Ölfleck“ einzudämmen, vielleicht rückgängig zu machen. Die Flamen wollen eine klare Lage um Brüssel herum, sie beanspruchen ebenfalls eine angemessene Vertretung in Brüssel, die nicht der demografischen Lage entspricht. Um dies zu rechtfertigen, verweisen sie auf die Rolle Brüssels als Hauptstadt des Gesamtstaats. Die Frankophonen wollen so oder so die Brüsseler Grenzen ausdehnen, auf Kosten des flämischen Territoriums. <?page no="149"?> Belgien: offizielle Einsprachigkeit, individuelle Mehrsprachigkeit 149 3. Sprachenbedarf in der belgischen Wirtschaft Schon wegen seiner geografischen Lage kann man in Belgien nur mit einer guten Kenntnis mehrerer Fremdsprachen erfolgreich sein. Der Bedarf im Bereich Fremdsprachen ist in diesem Land besonders hoch. In welche Richtung man auch fährt, spätestens nach dreihundert Kilometern trifft man auf eine andere Sprache. Das Land ist sehr stark exportorientiert, Fachkräfte mit zwei, drei Fremdsprachen sind in vielen Bereichen keine Seltenheit. Wer Brüssel als europäische Hauptstadt besucht hat, weiß, dass in vielen Vierteln eine Vielzahl von Sprachen zu hören ist. Auch hier ist die Kenntnis von mehreren Fremdsprachen die Regel. So hat sich heute ein „ideales Sprachprofil“ für den Durchschnittsbelgier entwickelt: am besten wäre eine gute Beherrschung der Muttersprache, dazu die andere Landessprache fließend, Englisch obligatorisch als Lingua Franca, wenn möglich Deutsch (Deutschland ist erster Handelspartner), und am besten noch eine weitere europäische Sprache. Dieses Profil ist natürlich in der Realität kaum zu erfüllen. Schließlich sorgt der Bürger selbst für seine individuelle Lösung. Jedenfalls ist der Bedarf an Fremdsprachen immer noch höher als das, was der Durchschnittsbürger der Wirtschaft anbieten kann (Bouillon/ Vlieghe 2001, S. 564-584). Auch hier sind je nach Sprachgemeinschaft unterschiedliche Reaktionen festzustellen: Fast drei Viertel der befragten flämischen Unternehmen verwenden z.B. die deutsche Sprache im Kontakt mit Deutschland. Von den wallonischen Unternehmen passen sich weitaus weniger (50%) dem deutschen Geschäftspartner an und verwenden Englisch bzw. Französisch. Im Allgemeinen bewegen sich die Flamen leichter in Fremdsprachen als die Wallonen. Im exemplarischen Sektor des Imports für landwirtschaftliche Maschinen gaben die befragten Unternehmen ihren Fremdsprachenbedarf an: Französisch bzw. Niederländisch 43% Englisch 30% Deutsch 23% Spanisch 2% Italienisch 2% Erstaunlich ist das Ergebnis für Deutsch; es bedeutet, dass der Arbeitgeber sich diese Kenntnisse bei potenziellen Bewerbern wünscht, sie aber leider nicht so oft vorfindet. Das Angebot „Deutsch als Fremdsprache“ ist im Sekundarunterricht drastisch zurückgegangen, wobei gewisse französischsprachige Unterrichtsminister daran nicht ganz unschuldig sind (Bouillon 2002). 1) 2) - - - - - <?page no="150"?> Heinz Bouillon 150 4. Die individuelle Lösung Im alltäglichen Sprachhandeln unterscheiden die Sprecher in Belgien sehr konsequent ihr Verhalten gegenüber Behörden, wo peinlich genau die Sprachengesetzgebung angewandt wird, von ihrer individuellen Haltung, wo Mehrsprachigkeit seit langer Zeit selbstverständlich und gang und gäbe ist. Wie wird diese Mehrsprachigkeit erworben? Zuerst natürlich aus der klassischen Schulausbildung mit Fremdsprachenunterricht. Hier gilt die freie Wahl der Eltern, sie wählen für die Schulausbildung ihrer Kinder frei die erste und zweite, ggf. die dritte Fremdsprache - mit Ausnahme von Brüssel: hier ist die andere Landessprache Pflicht. Es gibt allerdings seit einiger Zeit auch neuere Unterrichtsformen nach kanadischem Modell: Die Submersion ist ein „sprachliches Untertauchen“ in eine fremde sprachliche Umgebung, auch in ein anderes Schulsystem, das für Anderssprachige erdacht wurde. Auch hier behalten die Eltern die freie Wahl: Zum Beispiel können französischsprachige Eltern ihre Kinder in eine flämische Schule (die sich in Flandern oder Brüssel befindet) schicken, und somit wird der eigentlich „französischsprachige“ zum „flämischen“ Schüler. Es ist eine persönliche Initiative, die auch manchmal „wilde Immersion“ genannt wird, weil sie vom Schüler ein absolutes Anpassen an das andere Schulsystem abverlangt. Der bilinguale Schulunterricht ist hingegen die Ausnahme, er ist bislang nur auf experimentieller Basis zugelassen. In diesem Fall werden Klassen zu 50 Prozent aus der einen Sprachgemeinschaft und zu 50 Prozent aus der anderen Sprachgemeinschaft zusammengestellt. Der Unterricht erfolgt dann auch je zur Hälfte in der einen oder anderen Sprache. Immersion: Johnson und Swain definieren Immersion auf der Basis folgender Kriterien (Johnson/ Swain 1997, S. 6-8): Die Zweitsprache ist die Sprache der Anweisungen. Der Lehrplan im Immersionsunterricht läuft parallel mit dem Lehrplan der regionalen Muttersprache. Es gibt eine explizite Unterstützung in der ersten Sprache. Das Immersionsprogramm hat additive Zweisprachigkeit zum Ziel. Sprachkontakt mit der Zweitsprache wird fast ausschließlich auf die Schule beschränkt. - - - 1) 2) 3) 4) 5) <?page no="151"?> Belgien: offizielle Einsprachigkeit, individuelle Mehrsprachigkeit 151 Am Anfang des Programms haben alle Schüler das gleiche Niveau der Zweitsprache. Die Lehrer sind zweisprachig. Die Kultur der Schule ist die Kultur der Gemeinschaft, in der die Schule sich befindet. Der Immersionsunterricht hat augenblicklich sehr großen Erfolg, fast ausschließlich allerdings in der französischsprachigen Gemeinschaft, wobei vor allem folgende Punkte als Vorteile hervorgehoben werden: Man geht von einer frühen selektiven Immersion aus: im Vorschulalter, wenn aufgrund der Plastizität des Gehirns ein günstiger Zeitpunkt für den Spracherwerb gegeben ist; man bevorzugt kollektive selektive Immersion, wenn eine ganze Klasse gemeinsame Fortschritte macht, was Hemmungen abbaut; man versucht soviel wie möglich in den Anfängen einen Unterricht von Muttersprachlern aufzubauen, was das natürliche Sprachempfinden verbessert. Damit alle Schulen (augenblicklich 129 an der Zahl) diese Immersion in geordneter Form vornehmen, hat die französischsprachige Gemeinschaft einen juristischen Rahmen festgelegt. Grundsätzlich ist die Unterrichtssprache der französischen Gemeinschaft selbstverständlich Französisch. Durch das Dekret vom 13. Juli 1998 ist aber auch Unterricht in einer anderen Sprache zugelassen, der bis zu 50 Prozent der Unterrichtsstunden betragen kann. Diese Unterrichtsform hat einen zunehmenden Erfolg; heute haben bereits fünf Prozent der Schüler den Vorteil, einen sehr effizienten Immersionsunterricht zu erhalten. Der Autor dieser Zeilen hat die Einführung des Immersionsunterrichts in einer Gemeindeschule von Court-St.-Etienne (Brabant wallon) jetzt vier Jahre lang wissenschaftlich begleitet. Die Kinder bekamen bis zur Hälfte ihrer Unterrichtszeit englische Immersion ab dem 5. Lebensjahr, also ein Jahr vor dem Eintritt in die Grundschule. Die ersten Schüler befinden sich jetzt in der 4. Klasse und erhalten einen Teil ihres Unterrichts in englischer Sprache. Die Lehrer und Lehrerinnen sind Muttersprachler, und das Ergebnis ist verblüffend, wenn man feststellen kann, dass sich diese Kinder in den beiden Sprachen deutlich wohl fühlen. Der frühe Sprachkontakt, der Jahr für Jahr konsequent weitergeführt wurde, hat bei den Schülern zu einem völlig ungezwungenen und problemlosen Sprachgebrauch im Englischen geführt. Dieser 6) 7) 8) - - - <?page no="152"?> Heinz Bouillon 152 pädagogische Erfolg hat sich herumgesprochen, so dass Eltern heute einen längeren Weg zurücklegen, damit ihre Kinder diese Schule besuchen können. In der flämischen Gemeinschaft gibt es dagegen einen gewissen Widerstand gegen Immersionsprogramme, obwohl auch hier über deren Nützlichkeit nachgedacht wird. Da die Flamen mit französischsprachigen Schülern in ihren eigenen flämischen Schulen eher negative Erfahrungen gemacht haben, stehen sie dieser Unterrichtsform weiterhin sehr zurückhaltend gegenüber. 5. Fazit Der Durchschnittsbelgier wird mit adminstrativen Gegebenheiten je nach seinem Wohnort konfrontiert; er wird in der Sprache angesprochen bzw. angeschrieben, die gesetzlich vorgeschrieben ist. Es herrscht also eine offizielle Einsprachigkeit, außer in Brüssel, wo sich jeder zwischen Französisch und Flämisch entscheiden muss, wenn er z.B. einen Ausweis beantragt. Ferner gibt es eine Anzahl gesetzlich festgelegter Gemeinden mit „sprachlichen Erleichterungen“ (facilités), die dem Bürger erlauben, sich in seinem persönlichen Kontakt mit der Verwaltung einer anderen Sprache als der offiziellen zu bedienen. Andererseits wird der Belgier mit spezifischen wirtschaftlichen Gegebenheiten konfrontiert, die es erforderlich machen, mehrere Sprachen zu beherrschen. Der ehemalige Präsident der wallonischen Arbeitgeber, Vincent Reuter, formulierte es so: „Eine Fremdsprache beherrschen neben dem Abschlussdiplom ist kein Bonus mehr, ein einsprachiges Diplom ist einfach nur noch ein halbes Diplom.“ Deshalb reagieren die meisten Belgier im Unterrichtswesen proaktiv: Es gibt augenblicklich eine sehr starke Nachfrage nach früher Immersion bei den Frankophonen, um den Rückstand in der Mehrsprachigkeit gegenüber den Flamen aufzuholen. Die individuelle Mehrsprachigkeit wird immer mehr ein Schlüssel zum Job. Dennoch bleibt das Verhalten je nach Gemeinschaft unterschiedlich: Der Flame gebraucht seine Muttersprache selbstbewusst, lernt sehr schnell und motiviert eine zweite Fremdsprache, wenn möglich situativ, benutzt effizient den Fremdsprachenunterricht in der Schule, macht Auslandsaufenthalte, sieht englische und französische Filme mit Untertiteln usw., ist schnell dreisprachig. Der Wallone hat verstanden, dass Französisch keine universale Lingua Franca mehr ist, er fährt trotzdem lieber nach Frankreich in Urlaub und versucht dennoch heute immer mehr, dem nördlichen Nachbarn zu gefallen. Er findet Immersion im eigenen Schulsystem die beste Lösung (ein gewisser Zwang muss sein …), um aus seiner Einsprachigkeit auszubrechen. Ausländische Filme sieht er sich <?page no="153"?> Belgien: offizielle Einsprachigkeit, individuelle Mehrsprachigkeit 153 natürlich immer noch am liebsten auf Französisch an. In der Mehrsprachigkeit hat er Fortschritte gemacht, ohne die Flamen auf diesem Gebiet einzuholen. Er hat in der Schule und am Arbeitsplatz die sprachlichen Anstrengungen gemacht, die sich die Flamen seit jeher gewünscht haben, doch sind die Rhythmen beider Gemeinschaften nicht asynchron geworden? Der Brüsseler schließlich hört jeden Tag eine Menge Fremdsprachen. Er passt sich an, vor allem in den betroffenen Wirtschaftssektoren. Für gute Jobs wird mindestens eine fließende Dreisprachigkeit vorausgesetzt. Der Deutschsprachige lebt in der bestbeschützten Minderheit der Welt, die er aber früher oder später verlassen muss. Die meisten leben in der Diaspora, weil ihre effiziente Mehrsprachigkeit sie in die Ferne zieht. Das vielschichtige Verhalten der Belgier, wie Marion Schmitz-Reiners (2006) es so köstlich beschreibt, kommt letztlich auch in der Sprachenfrage stark zur Geltung: man findet immer eine Ad-hoc-Lösung. Die letzten politischen Entwicklungen haben der Welt ein Bild von einem Land gezeigt, das sich monatelang schwer tut, eine Regierung zu finden. Aber alle Züge fahren, die Restaurants sind wie immer gut besucht, zu den Feiertagen fahren sehr viele Französischsprachige an die Küste, während die Flamen lange Spaziergänge in den Ardennen machen. In Brüssel sind an den Privathäusern viele belgische Fahnen zu sehen, als Zeichen, dass es auch viele Belgier gibt, die die heraufbeschworene Teilung des Landes nicht wollen. In Deutschland waren die Fahnen während der Fußball-Weltmeisterschaft zu sehen, in Belgien hängt man sie ans Fenster, um sich eine Regierung zu wünschen. Niemand weiß, wie es weitergeht. Doch es wird weitergehen, wie immer. Etliche Belgier finden immer eine Lösung, an die noch niemand gedacht hatte. Sind die Belgier deshalb Vorreiter für mögliche europäische Lösungen, die noch ausstehen? 6. Literatur Bouillon, Heinz (2002): Situation de l'enseignement de l'allemand en Europe - Aspects quantitatifs et méthodologiques. In: Cahiers de l'Institut de Linguistique de Louvain 28, 1-2, Bd. II, S. 59-76. Bouillon, Heinz/ Vlieghe, Veronique (2001): Stellung der deutschen Sprache in belgischen Unternehmen. In: Info DaF 28, 6, S. 564-584. 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Das Sprachenrecht der Schweiz im Überblick 1.1 Vorbemerkung Die Schweiz verdankt ihre Existenz nicht der verbindenden Kraft einer gemeinsamen Sprache, einer gemeinsamen Kultur oder einer gemeinsamen Religion. Ihr Ausgangspunkt ist vielmehr die pragmatische Einsicht der Gliedstaaten, der Kantone, dass es sich angesichts der politischen Verhältnisse lohnt, in genossenschaftlichem Geist einen liberalen Werten verpflichteten, freiheitlichen Staat zu schaffen. Die Schweiz nennt sich deshalb eine Willensnation. Die Wirklichkeit, die sich aus einem solchen Willen heraus entfaltet, untersteht zwangsläufig einem täglichen Plebiszit, der gemeinsame Wille bedarf steter Erneuerung und Bekräftigung, innerer Zusammenhalt ist ständiger Prozess. Oder anders ausgedrückt: Die Gesamtheit der Kantone muss dem einzelnen immer wieder deutlich machen, dass es sich lohnt, dabei zu bleiben. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt gehören also zum Wesen der Schweiz. Es versteht sich deshalb von selbst, dass die Kantone als in jeder Hinsicht gleichwertige Partner kooperieren, immer auf gleicher Augenhöhe. Dem entsprechen der föderalistische Staatsaufbau, der gegenseitige Respekt, der sich wie ein roter Faden durch alle Bereiche staatlichen Handelns zieht, und eine besondere Sorgfalt bei der Gestaltung des Sprachenrechts. Dieses ist deshalb so wichtig, weil die rechtliche Gleichbehandlung der Sprachgemeinschaften und deren gutes Verhältnis untereinander für den Zusammenhalt des Landes von zentraler Bedeutung sind. Sprache ist nun aber ein identitätsstiftender Faktor par excellence, und leider ist es so, dass sie sich leicht instrumentalisieren lässt, d.h. es besteht eine latente Versuchung, mit dem Argument Sprache selbst in Dingen, wo es überhaupt nicht um Sprache geht, Leute hinter sich zu scharen und Keile zwischen die Sprachgemeinschaften zu treiben. Bertolt Brecht hat das in seiner Geschichte Wenn die Haifische Menschen wären auf den Punkt gebracht. Wenn die Menschen Haifische wären, so würden sie ihren kleinen Fischen sagen, sie müssten die kleinen Fische der anderen Haifische angreifen und <?page no="158"?> Werner Hauck 158 bekämpfen, denn - so ihre Begründung - „sie schweigen in ganz verschiedenen Sprachen und können einander daher unmöglich verstehen.“ 1 Damit die Sprachenfrage in der Schweiz nicht zu einer zentrifugalen Kraft wird, ist sie Gegenstand besonderer Pflege. Das erklärt die verhältnismäßig große Zahl sprachenrechtlicher Bestimmungen auf der Ebene der Verfassung, der Gesetze, Verordnungen und Weisungen. Ich will hier nicht im Einzelnen darauf eingehen. Die wichtigsten sind als Zusatzmaterial auf der beiliegenden CD enthalten. Dort finden sich auch eine Karte und statistische Angaben, die zeigen, wie die Sprachgebiete sich räumlich auf das Territorium des Landes verteilen, wie groß die Sprachgemeinschaften zahlenmäßig sind und wie sich die Bevölkerung entwickelt. 2. Grundsätze Das ganze Sprachenrecht der Schweiz beruht auf drei Grundsätzen: Respekt, Territorialitätsprinzip, Verhältnismäßigkeit und Praktikabilität. 2.1 Respekt Respekt ist in zweifacher Hinsicht notwendig: Es braucht den gegenseitigen Respekt des Bundes, der Kantone und der Sprachgemeinschaften, und es braucht den Respekt des Staates vor der Würde des einzelnen Menschen. Der gegenseitige Respekt zwischen Bund, Kantonen und Sprachgemeinschaften kommt schon zum Ausdruck in der Präambel der Bundesverfassung. Da heißt es: Das Schweizervolk und die Kantone … im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben … 2 Da wir hier nicht nur über Sprachenrecht nachdenken, sondern vor allem über die Macht der Sprache, sei an dieser Stelle ein Blick auf die Sprache dieser Präambel gestattet: Die Schaffung oder die Totalrevision einer Verfassung ist immer eine hohe Zeit der Demokratie, in der der Standort bestimmt und Ziele festgelegt werden: Die Diskussionen und Kämpfe, die unter den Parteien, Organisationen und den bestehenden staatlichen Einrichtungen und den Bürgerinnen und Bürgern 1 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 12, S. 394. 2 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 ( SR 101) (= BV ) (vgl. Begleit- CD , Verzeichnis „Hauck“, Dokument 1, S. 2). 1) 2) 3) <?page no="159"?> Sprachenrecht und Sprachstrategien der Schweiz 159 geführt werden, dieser Widerstreit zwischen Krämerdenken und Grosszügigkeit, die Auseinandersetzung mit den Gewohnheiten und dem Neuen - all dies entfacht im besseren Fall eine Dynamik, die das ganze Volk erfasst und wie ein Band durch alles, was den Staat ausmacht, hindurchgeht und es miteinander verbindet. Dieser hohen Zeit sollte auch die Sprache entsprechen. Sie darf niemals geschwätzig und kleinlich sein, sondern muss mit Prägnanz, Dichte und Rhythmus diesem Aufbruch und den hohen Dingen, um die es geht, die nötige Kraft und das nötige Gewicht verleihen, sie sprachlich emporheben, sie feiern. Die Sprache muss zum Ausdruck bringen, dass sich das verfassungsgebende Volk in einem Prozess befindet, der es über die Alltäglichkeit hinausträgt. Sie muss diesen Schwung aufnehmen und ihn immer wieder zurückgeben können an die Leserinnen und Leser späterer Generationen. (Hauck/ Nussbaumer 2006, S. 159) Die Präambel der totalrevidierten schweizerischen Bundesverfassung erfüllt mit ihrem Rhythmus, und ihrer pathetischen Knappheit diese Anforderung meines Erachtens nicht schlecht. Weniger gut geraten ist dagegen die Bestimmung zum Schutz der Menschenwürde. Das ist umso bedauerlicher, als das deutsche Grundgesetz hier eine hervorragende Formulierung angeboten hätte: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieser Satz hat die unwiderstehliche Kraft eines Monolithen. Seine lapidare Wucht bringt zum Ausdruck: Hier gibt es nichts zu deuteln, nichts zu rütteln. Hier wird über die Form der höchste Grad der Tabuisierung gesetzt. Man sieht das erst so richtig, wenn man die entsprechende Formulierung der Schweizer Verfassung dagegen hält: Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen. 3 Im Vergleich zum deutschen Grundgesetz plätschert das wie eine Nebensache dahin, es wirkt pedantisch und kleinkariert und entspricht keineswegs dem höchsten Gut, das der Staat zu gewährleisten hat. Nach diesem kurzen Exkurs nun aber wieder zurück zum Respekt, als dem ersten Grundsatz, der das schweizerische Sprachenrecht regiert. Der gegenseitige Respekt von Bund, Kantonen und Sprachgemeinschaften kommt auch in verschiedenen Verfassungsbestimmungen zum Ausdruck, so in den Bestimmungen über die Zusammensetzung der Regierung, 4 des obersten Gerichts 5 3 BV Artikel 7. 4 BV Artikel 175 Absatz 4 (vgl. Begleit- CD , Verzeichnis „Hauck“, Dokument 1, S. 8). 5 BV Artikel 188 Absatz 4 (vgl. Begleit- CD , Verzeichnis „Hauck“, Dokument 1, S. 9). <?page no="160"?> Werner Hauck 160 und der parlamentarischen und außerparlamentarischen Kommissionen. 6 Überall gilt: Die Sprachgemeinschaften müssen in diesen höchsten Gremien angemessen vertreten sein. Dazu kommt eine Bestimmung, wonach jedes Sprachgebiet seine eigene Radio- und Fernsehanstalt hat. 7 Artikel 70, 8 der eigentliche Sprachenartikel der Verfassung, verleiht den Kantonen in Absatz 1 die Sprachhoheit. Sie bestimmen selber ihre Amtssprachen. Auch die Absätze 4 und 5, die Unterstützung der mehrsprachigen Kantone, die eine wichtige Brückenfunktion zwischen den Sprachgemeinschaften wahrnehmen, und die gezielte Förderung der bedrohten Sprachen, Italienisch und Rätoromanisch, sind Ausdruck des Respekts. 2.2 Der Respekt vor der Würde des Einzelnen Der Respekt vor der Würde des Menschen zeigt sich im Grundrechtsteil der Verfassung. Dort finden sich das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Sprache 9 und die Gewährleistung der Sprachenfreiheit. 10 Außerdem gibt es Bestimmungen zum Schutz von Menschen, denen die Freiheit entzogen 11 oder gegen die ein Strafverfahren durchgeführt wird. 12 Die Verfassung gebietet, sie in einer ihnen verständlichen Sprache über die Gründe des Freiheitsentzugs oder über die Beschuldigungen, die gegen sie bei Gericht vorgebracht werden, zu unterrichten. 13 Der Staat beschränkt sich hier also nicht auf die Amtssprachen, sondern er sorgt in diesen menschenrechtlich zentralen Fragen immer für eine Übersetzung, in welche Sprache auch immer, wenn die betreffende Person keiner Amtssprache mächtig ist. 6 Kommissionenverordnung, SR 172.31 (vgl. Begleit- CD , Verzeichnis „Hauck“, Dokument 1, S. 14). 7 BV Artikel 93 Absatz 2 (vgl. Begleit- CD , Verzeichnis „Hauck“, Dokument 1, S. 7). 8 BV Artikel 70 (vgl. Begleit- CD , Verzeichnis „Hauck“, Dokument 1, S. 6f.). 9 BV Artikel 8 Absatz 2 (vgl. Begleit- CD , Verzeichnis „Hauck“, Dokument 1, S. 3). 10 BV Artikel 18 (vgl. Begleit- CD , Verzeichnis „Hauck“, Dokument 1, S. 3). 11 BV Artikel 31 Absatz 2 (vgl. Begleit- CD , Verzeichnis „Hauck“, Dokument 1, S. 4). 12 BV Artikel 32 Absatz 2 (vgl. Begleit- CD , Verzeichnis „Hauck“, Dokument 1, S. 5). 13 Der aufmerksame Leser wird feststellen, dass der Passus „in einer ihr verständlichen Sprache“ in Artikel 32 fehlt. Es handelt sich hier um einen redaktionellen Fehler, der deshalb besonders stoßend ist, weil dadurch der Eindruck entsteht, es werde hier bewusst eine Differenz zu Artikel 31 geschaffen. Gemeint ist jedoch, dass Personen, gegen die ein Strafverfahren durchgeführt wird, in Bezug auf ihre Aufklärung genau die gleichen Rechte haben wie jene, denen die Freiheit entzogen wird. Materiell abgesichert ist dies durch die EMRK , die von der Schweiz ratifiziert worden ist, und konkretisiert wird es durch die kantonalen Strafprozessordnungen. Diese werden durch die neue Bundesstrafprozessordnung abgelöst, die nach Auskunft des Bundesamtes für Justiz voraussichtlich am 1.10.2010 in Kraft treten wird. <?page no="161"?> Sprachenrecht und Sprachstrategien der Schweiz 161 2.3 Das Territorialitätsprinzip Der zweite wichtige Grundsatz unseres Sprachenrechts ist das sogenannte Territorialitätsprinzip. Es ist in Absatz 2 von Artikel 70 der Bundesverfassung umschrieben 14 und verlangt, dass die Sprachgebiete in ihrem herkömmlichen Umfang erhalten bleiben. Keines soll sich auf Kosten eines andern ausdehnen. Das Territorialprinzip ist also vor allem gedacht zum Schutz der kleinen Sprachgebiete. So ist es durchaus möglich, dass es in Bern und Zürich je eine öffentliche französische Schule gibt, nicht aber eine deutsche Schule in Lausanne oder Genf, wo viele Deutschschweizer berufstätig sind. Die Subventionierung öffentlicher deutschsprachiger Schulen im kleineren französischen Sprachgebiet könnte leicht Ängste auslösen und den Sprachfrieden beeinträchtigen. Ohnehin spricht man in der Westschweiz schnell von der germanisation der Romandie. Vielleicht sogar oft etwas gar schnell und hin und wieder auch ohne materielle Begründung. Aber die Schwächeren müssen das Recht haben, empfindlicher zu sein als der Stärkere, und die Stärkeren haben die Pflicht, entsprechende Äußerungen ernst zu nehmen. Das Territorialitätsprinzip galt von allem Anfang des Bundesstaates an, aber es wurde in der Verfassung nirgends erwähnt. Es gehörte zum sogenannten ungeschriebenen Verfassungsrecht. Man war sich stets bewusst, wie heikel es ist, ein solches Prinzip zu formulieren. So hat man sich zwar immer daran gehalten, aber man hat sich gehütet, es zum Zankapfel des öffentlichen Diskurses werden zu lassen. Erst in der Totalrevision der Verfassung vom Jahre 1999 hat man das Territorialitätsprinzip zu formulieren gewagt, und zwar, wie gesagt, im Absatz 2 von Artikel 70: Die Kantone bestimmen ihre Amtssprachen. Um das Einvernehmen unter den Sprachgemeinschaften zu wahren, achten sie auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten. Auf die Nennung des Begriffs Territorialitätsprinzip hat man bewusst verzichtet. So haben es auch die mehrsprachigen Kantone in ihren Verfassungen gemacht, mit Ausnahme des Kantons Freiburg. Dessen Verfassung nimmt den Begriff auf. Französisch und Deutsch sind die Amtssprachen des Kantons. Ihr Gebrauch wird in Achtung des Territorialitätsprinzips geregelt. Staat und Gemeinden achten auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten. 15 14 BV Artikel 70 Absatz 2 (vgl. Begleit- CD , Verzeichnis „Hauck“, Dokument 1, S. 6f.). 15 Freiburger Kantonsverfassung, Artikel 6 Absatz 2, SR 131.219. <?page no="162"?> Werner Hauck 162 Dies hatte Folgen, die durchaus auf die Macht der Sprache zurückzuführen sind, denn seit der Begriff Territorialitätsprinzip in der Freiburger Verfassung steht, läuft vieles, was man früher mit mehr oder weniger lockerem Pragmatismus gelöst hat, nicht mehr so rund. Es scheint, als ob durch den Begriff vor allem die Grenze zwischen zwei Sprachgemeinschaften betont und das eigentliche Anliegen, nämlich die gegenseitige Rücksichtnahme im Dienste guter Nachbarschaft, in den Hintergrund gedrängt würde. Werfen wir noch kurz einen Blick auf den Absatz 1 von Artikel 70 der Bundesverfassung. Er legt die Amtssprachen des Bundes fest, d.h. die offiziellen Kommunikationssprachen mit den Bundesbehörden und unter ihnen. Die Bundesbehörden sind verpflichtet, Anfragen oder Eingaben, die in einer dieser Sprachen gemacht werden, entgegenzunehmen, den Betroffenen in der entsprechenden Sprache zu antworten und Aktenstücke in dieser Sprache zu verfassen. Obwohl in der deutschen, italienischen und rätoromanischen Schweiz die Dialekte von großer Bedeutung sind, regelt die Verfassung nicht, ob als Amtssprache nur die Standardsprache gilt oder auch ihre dialektale Ausprägung. Traditionellerweise wird der schriftliche Verkehr immer in italienischer oder deutscher Standardsprache abgewickelt. Im Romanischen ist das etwas komplizierter. Zu den dort bestehenden fünf Idiomen hat man im letzten Drittel des letzten Jahrhunderts eine Kunstsprache geschaffen, das sogenannte Rumantsch Grischun, das von allen Romanischsprachigen verstanden wird. Das neue Sprachengesetz des Bundes sieht vor, dass Bürgerinnen und Bürger schriftliche Eingaben in ihrem Idiom machen und die Bundesbehörden ihnen auf Rumantsch Grischun antworten. - Im mündlichen Verkehr wird in allen Sprachen in der Regel der Dialekt verwendet. 2.4 Verhältnismäßigkeit und Praktikabilität Der dritte wichtige Grundsatz des schweizerischen Sprachenrechts ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Praktikabilität. Die Schweiz hat vier Landessprachen. Das hält Artikel 4 der Verfassung fest, 16 und schon allein diese prominente Stellung zeigt, wie wichtig dem Schweizervolk diese Viersprachigkeit ist. Die Sprachgemeinschaften stehen in folgendem Verhältnis zueinander: 63,7 Prozent Deutsch 20,4 Prozent Französisch 06,5 Prozent Italienisch 00,5 Prozent Rätoromanisch 16 Vgl. Begleit- CD , Verzeichnis „Hauck“, Dokument 1, S. 3. <?page no="163"?> Sprachenrecht und Sprachstrategien der Schweiz 163 Amtssprachen hat die Schweiz aber nicht vier, sondern nur drei (oder dreieinhalb), wie weiter unten ausgeführt wird. Betrachtet man die Zahlen, so versteht man auch leicht, warum hier nicht alle Sprachen genau gleich behandelt werden. Gibt der Staat einer Sprache den Status Amtssprache, so bedeutet das für ihn einen sehr hohen Aufwand, wie die folgende Auflistung zeigt: Das gesamte Landesrecht und das für die Schweiz verbindliche Völkerrecht werden in alle Amtssprachen übersetzt. Die Gesetze, Verordnungen und Weisungen werden zu gut 90 Prozent in deutscher Sprache verfasst, aber bereits während des Erarbeitungsprozesses ins Französische und Italienische übersetzt. Die Erarbeitung der Erlasse ist im Verfahren der direkten Demokratie mehrstufig. Die Regierung verabschiedet ein Gesetz erst, nachdem der Entwurf samt einem umfassenden erläuternden Bericht den Kantonen, Parteien und den interessierten Organisationen zur Stellungnahme unterbreitet worden ist und die Änderungswünsche nach genauer Prüfung durch die Bundesverwaltung berücksichtigt worden sind. Dieser ganze Prozess geschieht mehrsprachig. Die Gesetze und Verordnungen erscheinen in einer chronologisch geordneten Amtlichen Sammlung des Bundesrechts und in der sog. Systematischen Sammlung des Bundesrechts, die nur das geltende Recht enthält. Das setzt u.a. umfangreiche Übersetzungsarbeit voraus, die sehr hohen Anforderungen genügen muss, da die Übersetzungen von Gesetzen und Verordnungen nach ihrer rechtsgültigen Verabschiedung den Status eines Originals erhalten. Alles, was die Regierung in ihrem Amtsblatt, dem sog. Bundesblatt, veröffentlicht, ebenso wie die Verfügungen und Broschüren der Bundesämter, die Entscheide des Bundesgerichts und der gesamte Parlamentsbetrieb, werden in die Amtssprachen übersetzt. Diese Aufzählung ist in keiner Weise vollständig, aber sie zeigt, dass jede Amtssprache eine personell entsprechend zusammengesetzte Verwaltung, zahlreiche Übersetzerinnen und Übersetzer und einen leistungsfähigen Dolmetschdienst voraussetzt. Ist es nun sinnvoll, für 0,5 Prozent der Bevölkerung, die Rätoromanisch sprechen, diesen riesigen Aufwand zu leisten, zumal Rätoromanisch in fünf verschiedene Idiome aufgesplittet ist und die Rätoromanen ihren Lebensunterhalt meist auf Deutsch, Italienisch oder gar Englisch verdienen? Das Verhältnismäßigkeitsprinzip sagt nein. Wer es aber auf der Grundlage des gegenseitigen - - - - - <?page no="164"?> Werner Hauck 164 Respekts anwendet, lässt es nicht einfach beim Nein bewenden, sondern sucht nach praktikablen Lösungen. So ist Rätoromanisch überall dort, wo es praktikabel ist, eben doch Amtssprache, z.B. im Kontakt rätoromanischsprachiger Personen mit den Bundesbehörden. Auch werden Bundesgesetze und Verordnungen oder Broschüren von Bundesämtern, die für die rätoromanischsprachige Bevölkerung von besonderem Interesse sind, ins Rumantsch Grischun übersetzt und selbstverständlich auch alle Texte, über die in eidgenössischen Abstimmungen entschieden wird, samt den dazugehörigen Erläuterungen der Regierung. Besonders wichtig erscheint mir auch, dass Rätoromanisch schweizweit überall dort vertreten ist, wo es um Identität und Identitätsstiftung geht. So sind alle Pässe, Identitätskarten und übrigen Ausweise, das Briefpapier und die Broschüren der Bundesbehörden sowie die Anschriften ihrer Gebäude viersprachig, in vielen Fällen sogar fünfsprachig, weil noch Englisch dazugesetzt wird. Auch die Währung ist viersprachig, nur bei den Münzen ist man aus Platzgründen auf die lingua franca des Mittelalters, aufs Latein ausgewichen: Confoederatio helvetica. In unserer auf Gewinnoptimierung und Effizienz getrimmten Welt mag der Aufwand für das Rätoromanische als übertrieben erscheinen. Für mich ist es eine beachtliche Leistung, die zeigt, dass die Viersprachigkeit nicht als folkloristische Nebensache, sondern als wesentliches Merkmal des Landes gepflegt wird. Die so zum Ausdruck gebrachte Achtung einer Sprachminderheit ist eine wichtige Voraussetzung für Frieden und Verständigung unter den Sprachgemeinschaften. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit spielt übrigens nicht nur bei der Behandlung des Rätoromanischen eine Rolle: So wird in der großen Kammer, dem Nationalrat, gedolmetscht, nicht aber im Ständerat, weil dort offensichtlich das Bedürfnis nach Übersetzung aufgrund des Ausbildungsstandes der Parlamentarier und sicher auch wegen der viel intimeren Verhältnisse in der Ratsarbeit nicht so stark verspürt wird. Auch in den Kommissionen beider Räte wird nicht gedolmetscht. Jeder und jede spricht in der Muttersprache, sofern diese eine Amtssprache ist. 17 Die Texte der Arbeitsdossiers werden ebenfalls nicht übersetzt, aber man versucht, die Dossiers so zu gestalten, dass die Parlamentarier darin in jeder Sprache etwa gleichwertige Informationen vorfinden. 17 Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier italienischer oder rätoromanischer Zunge sind allerdings pragmatisch genug, sowohl im Plenum als auch in den Kommissionen Französisch oder Deutsch zu sprechen, wenn sie ihrem Votum besonderes Gewicht geben wollen. <?page no="165"?> Sprachenrecht und Sprachstrategien der Schweiz 165 Ein richtig verstandenes Verhältnismäßigkeitsprinzip trägt zu einem guten Verhältnis der Sprachgemeinschaften bei, auch dann, wenn nicht für jede Sprachgemeinschaft der genau gleiche Aufwand geleistet werden kann. 3. Gutes Verhältnis unter den Sprachgemeinschaften Das gute Verhältnis der Sprachgemeinschaften untereinander ist ein zentrales Anliegen unseres gesamten Sprachenrechts. Deshalb spricht der Sprachenartikel der Verfassung konkret die Verständigung unter den Sprachgemeinschaften an: Um das Einvernehmen zwischen den Sprachgemeinschaften zu wahren, achten sie auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten. 18 Das gute Verhältnis der Sprachgemeinschaften bedarf allerdings dauernder seismografischer Aufmerksamkeit und Pflege. Wird eine schlechte Entwicklung nicht erkannt oder vernachlässigt und kommt es zur Konfrontation, dann ist der Schaden, der dadurch entsteht, nur sehr schwer und sicher nicht kurzfristig zu heilen. Die Kosten, die so entstehen, sind um ein Vielfaches höher als der Aufwand, den eine Verhinderung des Konflikts dank einfühlsamer Politik und entsprechender Maßnahmen kostet. Trotzdem ist es in der Schweiz nicht anders als anderswo: Es ist viel leichter, Geld zur Beseitigung als Geld zur Verhinderung von Schaden zu erhalten. Ein Beispiel für gute Pflege der Verständigung unter den Sprachgemeinschaften der Schweiz ist das folgende: Im Jahr 1992 entschied die Schweiz in einer Volksabstimmung über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum. Es war ein fundamentaler Entscheid, dessen war man sich bewusst, denn letztlich ging es um eine Öffnung der Schweiz oder um ihre Abschottung. In dieser wichtigen Abstimmung stimmte die Deutschschweiz nein, die französischsprachige Schweiz aber stimmte ja. Und es war nicht das erste Mal, dass die französische Schweiz in einer Volksabstimmung majorisiert wurde. Die Statistik zeigt, dass sich die französische Sprachgemeinschaft am häufigsten einem Volksmehr beugen muss. So etwas macht empfindlich, und entsprechend groß waren nach der Abstimmung von 1992 die Wut und Empörung, als dies auch in einer so vitalen Frage geschah. Die Schweiz war alarmiert, man sprach von einem Graben. Die beiden Kammern des Parlaments reagierten schnell. Sie bildeten eine aus Vertreterinnen und Vertretern beider Räte zusammengesetzte Verständigungskommission. Diese verfasste einen Bericht unter dem 18 Artikel 70 Absatz 2 (vgl. Begleit- CD , Verzeichnis „Hauck“, Dokument 1, S. 6f.). <?page no="166"?> Werner Hauck 166 Titel … das Missverhältnis soll uns bekümmern, 19 der mit einem Katalog von 23 Empfehlungen schließt. Diese Empfehlungen zielen alle darauf ab, die Vielfalt zu ermöglichen und gleichzeitig eine gesamtschweizerische Identitätsfindung zu erreichen. Von besonderer Bedeutung sind die folgenden: Schüleraustausch, Gemeindepartnerschaften, Aufenthalt nach der Berufslehre in einem anderen Sprachgebiet: Maßnahmen dieser Art sollen das gegenseitige Kennenlernen erleichtern, und zwar nicht nur durch Wissensvermittlung, sondern über persönliche Kontakte. Die Medien werden angehalten, Informationsquellen auch aus anderen Sprachgebieten zu benutzen und Medienschaffende der anderen Sprachgemeinschaften einzuladen. Radio und Fernsehen sollen einen gemeinsamen Informationsteil gemeinsamen Inhalts anstreben, und Informationssendungen von nationalem Interesse sollen in der Deutschschweiz nicht in einem Dialekt, sondern in der Standardsprache ausgestrahlt werden. Die Schule soll für den Spracherwerb neue Lehr- und Lernformen entwickeln und namentlich durch Immersionsunterricht effizienter werden. Für den Austausch von Schülern, Medienschaffenden und anderen Berufsleuten sollen entsprechende Infrastrukturen aufgebaut werden. Die Armee soll gemischtsprachige Rekrutenschulen und Wiederholungskurse anbieten. Ein schöner Teil dieser Empfehlungen ist heute bereits umgesetzt, und der inzwischen geschaffene Sprachenartikel der Verfassung bietet für Bund und Kantone eine Rechtsgrundlage für weiterreichende verständigungsorientierte sprach- und schulpolitische Maßnahmen. 4. Demokratiefähige Gesetzes- und Verwaltungssprache - die Leistungen der Sprache Wenn wir von der Macht der Sprache sprechen, haben wir meist die Vorstellung im Kopf, dass man mit Sprache Menschen sehr stark beeinflussen kann, im Guten wie im Bösen. Sprache als Instrument zur Ausübung von Macht. Es gibt aber auch eine Macht der Sprache, die ganz unmittelbar von der Sprache selbst ausgeht. 19 Bericht vom 22. Oktober 1993 ( BBl 1994 I 17). - - - - - <?page no="167"?> Sprachenrecht und Sprachstrategien der Schweiz 167 Drei Gedanken stehen hier im Vordergrund: Sprache zwingt zur Konturierung der Gedanken. Gedanken sind sehr flüchtig. Sie sind nicht fest, sondern in ständiger quecksilbriger Veränderung begriffen. Wer sie sprachlich fassen will, muss ihnen in einem Prozess fortlaufender Entscheidungen Festigkeit und Konturen geben. Im sprachlichen Akt des Niederschreibens treten die Gedanken aus dem Autor oder der Autorin heraus. Sie können nun gedreht, gewendet und bearbeitet werden, sie werden zum Werkstück. Allein dadurch, dass die Sprache den Autor oder die Autorin zwingt, die Gedanken in der von ihr vorgegebenen Struktur zu formulieren, leistet sie einen erheblichen Beitrag zur Qualität der Texte. Arbeit an der Sprache ist immer auch Arbeit am Gedanken. Die Sprache signalisiert Mängel. Ein Gesetz kann durchaus grammatikalisch und syntaktisch in jeder Hinsicht fehlerfrei formuliert und dennoch schlecht verständlich und unüberschaubar sein, weil beispielsweise die Regelungsdichte viel zu hoch ist, so dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht, logische Widersprüche in und zwischen den Normen bestehen, der Text die Adressaten überfordert, weil er zu viele Fachkenntnisse voraussetzt, der Text aus der Sicht der Verwaltenden statt aus der Sicht der Betroffenen formuliert ist, die Normstruktur nicht dem Gehalt entspricht, Normen durch unechte politische Kompromisse oder falsch verstandene Rücksicht verschwommen sind oder Lücken offen lassen, die nur Eingeweihte „auffüllen“ können, Wichtiges mit weniger Wichtigem vermischt wird etc. … Die Sprache kann solche Mängel zwar nicht verhindern, aber sie signalisiert sie dem wachen Leser mit unerbittlicher Klarheit. Wer diese Signale wahrnehmen kann, hat deshalb sehr gute Aussichten, zur Verbesserung beitragen zu können. Diese Fähigkeit geht aber gerade den Gesetzesredaktorinnen und -redaktoren weitgehend ab, weil sie zu stark in die jeweilige Regelungsmaterie involviert und den verschiedensten Interessen ausgesetzt sind. Die Sprache kann hier also nur zur Klärung beitragen, wenn sprachlich sensible Personen, 1) 2) - - - - - - - - <?page no="168"?> Werner Hauck 168 die nicht in den Gesetzgebungsprozess eingebunden sind und dennoch ein hellwaches generalistisches Interesse am jeweiligen Regelungsbereich haben, den Text aufmerksam lesen, seine sprachlichen Signale wahrnehmen, sie mit den Autorinnen und Autoren besprechen und die Gesprächsergebnisse einwandfrei formulieren. Man könnte sie vergleichen mit Wanderern, die einen Weg verfolgen, den der Gesetzesredaktor signalisiert hat. Überall dort, wo sie unsicher werden, muss ein klärendes Gespräch einsetzen. Die Übersetzung trägt zur Klärung bei. Übersetzen heißt nicht, die Wörter eines in einer bestimmten Sprache geschriebenen Textes durch Wörter einer anderen Sprache zu ersetzen. Es heißt vielmehr, gegebene Sachverhalte in einer anderen Struktur neu zu denken. Dieser Prozess kommt einem Lackmustest gleich, denn überall dort, wo der Ausgangstext nicht klar formuliert ist, gerät der Übersetzer oder die Übersetzerin in Entscheidungsschwierigkeiten. Diese aber regen zur Verbesserung des Ausgangstextes an. Oft auch bietet die Übersetzung bei unnötig komplizierten Formulierungen des Ausgangstextes überraschend einfache Lösungen an, die in den Ausgangstext übernommen werden können. Die Übersetzung ist immer auch eine Chance für den Ausgangstext. Es ist deshalb wichtig, dass Autorinnen und Autoren die Übersetzer als Mitdenkerinnen und Mitdenker betrachten. Ebenso wichtig ist aber auch, dass Übersetzerinnen und Übersetzer selbst ihre Rolle so verstehen und die Zusammenarbeit mit den Autorinnen und Autoren suchen. 5. Die Redaktionskommission der schweizerischen Bundesverwaltung In der schweizerischen Referendumsdemokratie stimmen die Bürgerinnen und Bürger über die Verfassung und viele Gesetze und deren Änderungen ab. Damit sie dies tun können, müssen die Texte in einer möglichst einfachen, klaren, allgemeinverständlichen Sprache verfasst sein, die sich im öffentlichen Diskurs bewährt. Darauf haben die Bürgerinnen und Bürger Anspruch, denn nur so kann direkte Demokratie entstehen und lebendig bleiben. Da Gesetzesredaktorinnen und -redaktoren aus den dargelegten Gründen allein nicht ohne weiteres Verständlichkeit erreichen können, hat die Schweizerische Bundesverwaltung vor rund dreißig Jahren eine spezielle Redaktionskommission geschaffen. Diese setzt sich aus Sprachwissenschaftlern und Juristen beider Geschlechter zusammen, die die Texte sozusagen als erste Bürger lesen. Sie sorgen für leichteren Überblick und besseres Verständnis, indem sie das Dickicht von Detailnormen lichten und durch allgemeinere 3) <?page no="169"?> Sprachenrecht und Sprachstrategien der Schweiz 169 Normen ersetzen, logische Lücken und Widersprüche beseitigen und auf terminologische Kohärenz und anschauliche Formulierungen achten. Sie arbeiten mindestens zweisprachig und nutzen so die Chancen der Übersetzung. Sie machen ihre Arbeit selbstverständlich nicht autonom, sondern unterbreiten dem jeweils federführenden Amt in jeder wichtigen Erarbeitungsphase eines Textes Vorschläge, diskutieren sie mit seinen Fachleuten und optimieren die Texte gemeinsam mit ihnen. Später, wenn das Gesetz das parlamentarische Verfahren durchläuft, arbeiten sie als Expertinnen oder Experten in der Redaktionskommission des Parlaments mit. 20 Ich bin überzeugt, dass eine solche Institution wesentlich zu einer Verbesserung der Erlasse und damit zu mehr Rechtssicherheit und Rechtsüberzeugung beitragen kann. 6. Neue Herausforderungen - von der Viersprachigkeit zur Vielsprachigkeit Der Schweiz stellen sich heute neue sprachenrechtliche Herausforderungen, die man eigentlich alle unter einem einzigen Titel zusammenfassen könnte: Von der Viersprachigkeit zur Vielsprachigkeit. 1960 bezeichneten lediglich 1,4 Prozent der Wohnbevölkerung eine Nicht- Landessprache als ihre Hauptsprache. 1980 waren es bereits 6 Prozent, und heute sind es stattliche 9 Prozent. Diese Dynamik wird noch zunehmen aufgrund der erweiterten Personenfreizügigkeit der EU , die auch für die Schweiz gilt, des gesetzlich garantierten Familiennachzugs, der heute schon zusammen mit Heirat Haupteinwanderungsgrund ist, der legalen und illegalen Einwanderung aus sog. Drittstaaten. Bereits heute sprechen mehr Personen Spanisch, Portugiesisch, Türkisch oder Serbokroatisch als Rätoromanisch. Das geltende Sprachenrecht, das von einigermaßen kompakten Sprachgemeinschaften ausgeht und auf dem Territorialitätsprinzip basiert, wird dieser neuen Realität kaum mehr gerecht. Gleichzeitig ist auf kommunaler und auf Bundesebene eine Entwicklung hin zu einer unkoordinierten Reglementierung zu beobachten. Kein Wunder, dass die Schweiz heute sprachenrechtlich eine Großbaustelle ist, die allerdings noch keine fertigen Konzepte und Lösungen anzubieten hat. Zurzeit läuft ein Nationales Forschungsprogramm mit 29 Projekten, die folgende Frage beant- 20 Nähere Angaben über Organisation und Arbeitsweise der Redaktionskommission sind auf der Webseite des deutschen Sprachdienstes der Schweizerischen Bundeskanzlei zu finden: www.bk.admin.ch/ org/ bk/ 00332/ 00337/ index.html (Stand: April 2008). - - - <?page no="170"?> Werner Hauck 170 worten sollen: „Wie muss die Sprachenpolitik gestaltet sein, damit sie die Anforderungen im Zusammenhang mit der Verständigung erfüllen kann? “ Eines dieser Projekte scheint mir besonders wichtig. Die Berner Juristen Alberto Achermann und Jörg Künzli untersuchen, welche Leitlinien und Regeln sich aus dem Völkerrecht (namentlich Menschenrechte und Minderheitenschutz) und aus dem schweizerischen Verfassungsrecht ergeben, die es erlauben, den Umgang mit den neuen Sprachminderheiten auf eine solide grundrechtskonforme Grundlage zu stellen. Das Nationale Forschungsprogramm ( NFP 56) soll im Jahr 2009 abgeschlossen werden. Konkrete Ergebnisse liegen deshalb noch nicht vor. 7. Sprachunterricht in den Schulen 7.1 Ziele des Sprachunterrichts Eine zweite Baustelle liegt bei den Kantonen. Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren ( EDK ) hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Spracherwerb auseinandergesetzt und folgende Ziele festgelegt: 21 Die Schülerinnen und Schüler sollen ab Schulbeginn, wenn möglich aber schon im Vorschulunterricht, konsequenter in der lokalen Landessprache, und zwar in der Standardsprache, gefördert werden. Sie lernen mindestens eine zweite Landessprache und Englisch; das Potenzial des frühen Sprachenlernens soll konsequent ausgeschöpft werden, d.h. dass bis spätestens zum 5. Schuljahr der Unterricht von zwei Fremdsprachen einsetzt. Die Schülerinnen und Schüler erhalten die Möglichkeit, auch Kompetenzen in weiteren Landessprachen zu erwerben. Schülerinnen und Schüler, deren Erstsprache eine andere ist als die Lokalsprache, erhalten die Möglichkeit, ihre Kompetenzen in der Erstsprache zu festigen und zu erweitern. Für den Unterricht sorgen hier entsprechende Organisationen der jeweiligen Sprachgemeinschaft. Die öffentlichen Schulen stellen die Infrastruktur zur Verfügung. In all diesen Bemühungen will man in Tuchfühlung mit den anderen europäischen Ländern bleiben und zu diesem Zweck das Europäische Sprachenportfolio generell in den öffentlichen Schulen verwenden. 21 Vgl. Webseite der EDK , http: / / www.edk.ch/ Start/ mainStart_d.html (Stand: April 2008) . - - - - - <?page no="171"?> Sprachenrecht und Sprachstrategien der Schweiz 171 7.2 Bundesgesetz über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften Eine dritte Baustelle hat das eidgenössische Parlament eröffnet, indem es mit den Beratungen über ein Bundesgesetz über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften 22 begonnen hat. Von einem solchen Gesetz darf man nichts Spektakuläres erwarten. Sprachenrecht ist eine äußerst heikle Angelegenheit. Wenn es um Veränderungen geht, dann muss der Schritt vom Sein zum Sollen mit größter Sorgfalt und Zurückhaltung bemessen werden, andernfalls ist ein Scheitern vorprogrammiert. Der in Beratung stehende Entwurf ist denn auch sehr zurückhaltend. Er fasst vor allem bereits geltende Bestimmungen, die in der ganzen Gesetzgebung verstreut sind, zusammen und ermöglicht so einen besseren Überblick. Und natürlich bringt er, fein dosiert, auch Neues. Ich möchte nur auf drei Punkte hinweisen. Der erste betrifft die Kommunikationssprachen der Bundesbehörden. Artikel 6 Absatz 5: Im Verkehr mit Personen, die keine Amtssprache beherrschen, verwenden die Bundesbehörden nach Möglichkeit eine Sprache, welche diese Personen verstehen. Damit wird die Regel, wonach man sich an die Bundesbehörden nur in einer Amtssprache richten kann, gelockert. Es handelt sich nicht um eine Muss-, sondern um eine Kann-Bestimmung, welche die Behörden ermuntert, vorhandene Potenziale ganz pragmatisch zugunsten der Verständigung auszuschöpfen. So wird deutlich: Ziel ist nicht das sture Durchpauken einer Regel, vielmehr soll Kommunikation im Dienste guten Einvernehmens gelingen. Interessant ist auch Artikel 17 des Gesetzes: Zur Koordination, Einführung und Durchführung der angewandten Forschung im Bereich der Sprachen und der Mehrsprachigkeit können der Bund und die Kantone ein hierfür geeignetes Kompetenzzentrum unterstützen. Die heutigen Anforderungen an die individuelle Mehrsprachigkeit verlangen eine ganz erhebliche Verbesserung der Effizienz des Fremdsprachenunterrichts. Die Schweiz braucht deshalb eine Institution, die systematisch Erfah- 22 Bundesgesetz über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften (Sprachengesetz, SpG); BBl 2007 6951. Inzwischen hat das Parlament die Beratungen bereits abgeschlossen, und die Referendumsfrist, die bis zum 24. Januar 2008 dauerte, ist nicht benützt worden. Nach Auskunft des Bundesamtes für Kultur wird das Gesetz voraussichtlich am 1.1.2010 in Kraft treten. <?page no="172"?> Werner Hauck 172 rungen sammelt, Forschung betreibt und Impulse gibt. Und noch ein Anderes: Wie bereits erwähnt, verlangt das gute Verhältnis unter den Sprachgemeinschaften seismografisch sensible Aufmerksamkeit und Pflege. Eine Institution, wie die hier vorgeschlagene, die in ständigem Kontakt mit allen Sprachgemeinschaften steht, also auch mit den neu entstehenden, wäre für eine solche Beobachtung und Pflege geradezu prädestiniert. Aus Sorge um den Zusammenhalt des Landes wagte der Gesetzesentwurf sich auch auf ein Feld vor, das eigentlich den Kantonen gehört. Er hält in Artikel 15 Absatz 3 fest: Bund und Kantone setzen sich dafür ein, dass als erste Fremdsprache eine Landessprache unterrichtet wird. [Hervorhebung von mir, W.H.] Die sehr defensive Formulierung zeigt, wie umstritten dieser Bereich ist. Tatsächlich haben sich nämlich bereits mehrere Kantone entschlossen, Englisch als erste Fremdsprache zu unterrichten, weil sie glauben, nur so in der Globalisierung mithalten zu können. Der Nationalrat hat die Bestimmung denn auch nur knapp angenommen, und nach den Beratungen des Geschäfts im Ständerat beschloss das Parlament, den Entscheid über die erste Fremdsprache weiterhin den Kantonen zu überlassen. So lautet die definitive Version von Artikel 15 Absatz 3 wie folgt: Sie [die Kantone, W.H.] setzen sich im Rahmen ihrer Zuständigkeit für einen Fremdsprachenunterricht ein, der gewährleistet, dass die Schülerinnen und Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit über Kompetenzen in mindestens einer zweiten Landessprache und einer weiteren Fremdsprache verfügen. Der Unterricht in den Landessprachen trägt den kulturellen Aspekten eines mehrsprachigen Landes Rechnung. Das Gesetz verlangt auch die Förderung der Kenntnisse Anderssprachiger in ihrer Erstsprache. Das scheint mir ein sehr wichtiger Punkt zu sein, der zum Ausdruck bringt: Nicht die Assimilierung der Ausländerinnen und Ausländer ist das Ziel, sondern ihre Integration. Beachtenswert ist schließlich noch Artikel 7: Unter dem Titel Verständlichkeit verlangt er von den Behörden eine sachgerechte, klare und bürgerfreundliche Sprache, die auch der Erkenntnis Rechnung trägt, dass die Menschheit aus Männern und Frauen besteht. Im Zusammenhang mit den neuen sprachenrechtlichen Herausforderungen stellen sich zwei Fragen mit besonderer Dringlichkeit: Wie steht es mit dem Recht auf Übersetzung? Können Ausländerinnen und Ausländer mit einer Integrationsvereinbarung zum Erwerb einer Landessprache verpflichtet werden? 1) 2) <?page no="173"?> Sprachenrecht und Sprachstrategien der Schweiz 173 8. Recht auf Übersetzung Wie bereits dargestellt, haben Personen, denen die Freiheit entzogen oder gegen die ein Strafverfahren durchgeführt wird, Anspruch darauf, in einer ihnen verständlichen Sprache über die sie betreffenden Punkte informiert zu werden. Dies betrifft die Bestimmungen über den Anspruch auf Übersetzung für Zivilverfahren 23 und Verwaltungsverfahren. 24 Dabei wird die wichtige Frage, welche Texte in einem bestimmten Fall zu übersetzen sind, sowohl auf Bundesebene wie auf kantonaler Ebene immer nach dem grundrechtlichen Kriterium des rechtlichen Gehörs beantwortet. Außerhalb der formalisierten Verfahren besteht jedoch kein Anspruch auf Übersetzung. Das ist unbefriedigend, denn es gibt außerhalb dieser Verfahren verschiedene Bereiche, in denen ein solcher Anspruch aus grundrechtlicher Sicht ebenfalls zwingend erscheint. Denken wir nur an das Recht auf Unversehrtheit. Wenn z.B. eine staatliche Behörde im Umfeld von Atomkraftwerken Jodtabletten verteilen lässt, damit die Bevölkerung sich im Katastrophenfall schützen kann, dann genügt es sicher nicht, die entsprechenden Verhaltensanweisungen nur in den Amtssprachen abzugeben, zumal der Staat das Gefahrenpotenzial mit der Erteilung der Bau- und Betriebsbewilligung „geschaffen“ hat. Alle Betroffenen müssen in einer ihnen verständlichen Sprache informiert werden. Das gilt auch für Patienten, die vor einem Eingriff stehen, für den ein sog. informed consent, also die ärztliche Aufklärung des Patienten und dessen Zustimmung zum Eingriff gesetzlich vorgeschrieben sind. Die Frage nach einem Anspruch auf Übersetzung stellt sich aber auch in den Bereichen Arbeit, Wohnung und Bildung, und sie wird sich mit zunehmender Immigration und wachsender Mobilität der Bevölkerung immer dringender stellen. In Bereichen, in denen er ein unmittelbares eigenes Interesse hat, ist der Staat übrigens bereits seit einiger Zeit dazu übergegangen, seine Informationen in mehr als nur den Amtssprachen zu veröffentlichen, so zum Beispiel beim Umweltschutz oder bei der Abfallentsorgung. 23 Die zurzeit noch geltenden Zivilverfahrensordnungen der Kantone regeln die Frage des Anspruchs auf Übersetzung unterschiedlich und nur rudimentär. Hier soll künftig eine bundesrechtliche Regelung eine einheitliche und übersichtliche Ordnung schaffen. Vgl. dazu die Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung vom 28. Juni 2006, BBl 2006 7221, und den Entwurf in BBl 2006 7413. 24 Artikel 33a des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG), SR 172.021 (vgl. Begleit- CD , Verzeichnis „Hauck“, Dokument 1, S. 11). <?page no="174"?> Werner Hauck 174 Allerdings: Der Anspruch auf Übersetzung außerhalb formalisierter Verfahren ist ein weites Feld. Eine rechtliche Regelung müsste sich deshalb wohl darauf beschränken, jene Fälle zu regeln, in denen ein Anspruch auf Übersetzung zur Wahrung von Grundrechten notwendig ist. 26 9. Pflicht zum Spracherwerb? 9.1 Integrationsvereinbarung Integration der Ausländerinnen und Ausländer kann nur gelingen, wenn diese die Sprache des Landes verstehen und sprechen. Spracherwerb steht denn auch in der Integrationspolitik ganz oben. Nur, einfach zu realisieren ist er nicht, und entsprechend groß sind die Defizite. Nun hat man, um die Leute zu motivieren, ein Zauberding gefunden, die so genannte Integrationsvereinbarung. Der Begriff hat einen guten, gesellschaftsfähigen Klang. Vereinbarungen treffen schließlich nur Partner, die auf gleicher Augenhöhe sind. Schaut man Integrationsvereinbarungen jedoch näher an, so ergibt sich meist ein sehr einseitiges Bild. Solche Vereinbarungen sind aber auch in der Schweiz gesetzlich vorgesehen. 27 Als Beispiel einer Integrationsvereinbarung findet sich diejenige des Landes Berlin im Anhang (13.1) auf S. 178. Schon ein nur flüchtiger Blick auf diese Vereinbarung zeigt, wie problematisch dieses Instrument ist. Zu denken geben vor allem folgende Punkte: Von einer Vereinbarung kann inhaltlich nicht die Rede sein. Der Form nach liegt zwar ein Vertrag vor, aber anders als bei einem normalen Vertrag gibt es bei diesem für den einen Partner überhaupt nicht den geringsten Verhandlungsspielraum. Das Land Berlin ist nur im Kopf der Vereinbarung als Vertragspartei genannt und nirgends als Trägerin von Pflichten. Es werden nur Pflichten des Ausländers aufgeführt, und diese werden ihm in der pathetischen Form der Selbstverpflichtung in den Mund gelegt, die schnell einmal demütigend wirken kann, namentlich dann, wenn durch die Formu- 26 Eine umfassende Darstellung der Problematik bieten Alberto Achermann und Jörg Künzli unter dem Titel: Recht auf Übersetzung? Der Text wird voraussichtlich Ende 2008 erscheinen in: Dahinden, Janine/ Bischoff, Alexander: Dolmetschen, Vermitteln, Schlichten - Integration der Diversität? (Arbeitstitel). 27 Vgl. Artikel 54 Absatz 1 des neuen Ausländergesetzes vom 16. Dezember 2005 (AuG), das am 1. Januar 2008 in Kraft getreten ist (SR 142.20) und Artikel 5 der Integrationsverordnung (zu finden auf der Webseite http: / / www.admin.ch/ ch/ d/ sr/ 142_205/ index.html (Stand: Mai 2008) sowie als Dokument 2 im Verzeichnis „Hauck“ der beigefügten CD ). Seit Januar 2008 läuft eine zweijährige Pilotphase, in der eine beschränkte Zahl von Integrationsvereinbarungen abgeschlossen und analysiert werden sollen. Das Muster der Vereinbarung findet sich im Anhang (13.2) auf S. 180. 1) <?page no="175"?> Sprachenrecht und Sprachstrategien der Schweiz 175 lierung der Selbstverpflichtung Androhungen des Staates durchschimmern (vgl. Ziffern 3 und 4). Kurz: Die Integrationsvereinbarung ist ein Etikettenschwindel. Der Staat verfügt, er lädt dem Ausländer Pflichten auf und droht ihm Konsequenzen bei Nichterfüllung an. Aber er gibt dem Ganzen den formalen Anstrich partnerschaftlicher Kooperation. Mit der Einseitigkeit der Integrationsvereinbarung verkennt der Staat, dass Integration ein Prozess ist, der beide Seiten verpflichtet, also nicht nur die Ausländerinnen und Ausländer, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger des Staates und dessen Institutionen. Unter dem Gesichtspunkt Integration und Sprache stehen alle Ausländer, die keine Landessprache sprechen, auf der gleichen Ebene. Wer aus einem EU -Land stammt, kann jedoch wegen der Personenfreizügigkeit in der EU in Deutschland nicht verpflichtet werden, die deutsche Sprache zu erlernen. Die Personenfreizügigkeit der EU gilt auch für die Schweiz. Zurzeit bemüht sich die EU und mit ihr auch die Schweiz, hochqualifizierte Arbeitskräfte anzuwerben. Da man vor allem an deren spezialistischen Fähigkeiten interessiert ist, wird es schwer sein, ihnen gegenüber die Pflicht zum Spracherwerb durchzusetzen, und es ist auch nicht zu erwarten, dass der Staat dazu sehr motiviert sein wird. Es wird sich somit früher oder später die für einen Rechtsstaat wichtige Frage der rechtsgleichen Behandlung stellen. Wenn der erfolgreiche Besuch eines auf Spracherwerb konzentrierten Integrationskurses eine wesentliche Voraussetzung für die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung oder die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung ist, dann müsste der Staat für ein in qualitativer und quantitativer Hinsicht ausreichendes Kursangebot sorgen. Unklar bleibt, was geschieht, wenn einzelne Mitglieder einer Familie die Sprache des Landes erlernen, andere jedoch nicht. Was ist in einem solchen Fall höher zu gewichten: Familienleben oder Spracherwerb? 28 10. Anreize statt Verpflichtung Der durchaus nicht vollständige Katalog bedenkenswerter Punkte zeigt, dass Integrationsvereinbarungen, die einseitig Pflichten auferlegen und Sanktionen androhen, nicht das probate Mittel zur Integrationsförderung sind, als das man sie gerne bezeichnet. An ihrer Stelle sollte der Staat den Ausländerinnen und 28 Siehe auch Achermann (2007). 2) 3) 4) 5) 6) <?page no="176"?> Werner Hauck 176 Ausländern vielmehr als unterstützender und kooperativer Partner begegnen, indem er beispielsweise positive Anreize schafft. So könnte er den erfolgreichen Besuch eines Integrationskurses zum Anlass nehmen, einem Ausländer oder einer Ausländerin die Niederlassungsbewilligung frühzeitig zu erteilen. Oder er könnte Personen, die wegen drohender Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfebezug mit der Wegweisung rechnen müssen, von diesem Damoklesschwert befreien oder beim Entscheid über eine Wegweisung den ernsthaften Besuch eines Integrationskurses zumindest als besonders positives Element werten. Anreize, die den Betroffenen Perspektiven geben, leisten mehr als Verpflichtungen und Sanktionen; Kurse anbietet, die den konkreten Bedürfnissen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie ihren Lebensverhältnissen Rechnung tragen; zu einem integrationsfördernden Klima beiträgt, indem er den Bürgerinnen und Bürgern sowie seinen Behörden bewusst macht, dass erfolgreiche Integration ihnen und dem Staat zum Vorteil gereicht; auf allen Ebenen Bestrebungen fördert, die darauf abzielen, den Ausländerinnen und Ausländern Partizipationsmöglichkeiten in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens anzubieten. Partizipation ist der Schlüssel zur Partnerschaft und auch ein überaus wirksames Motiv zum Spracherwerb. 11. Schlussbemerkung Die Grundsätze des schweizerischen Sprachenrechts haben sich bewährt, und es hat sich immer gezeigt, dass ein rücksichtsvoller partnerschaftlicher Umgang mit den kleineren Sprachgemeinschaften sich in jeder Hinsicht lohnt. Die größte Herausforderung, die sich heute stellt, besteht darin, die Fakten, die durch Globalisierung und Migration geschaffen wurden und werden, anzuerkennen und das Sprachenrecht entsprechend weiterzuentwickeln. Ich meine damit nicht, man solle flugs entsprechende gesetzliche Bestimmungen schaffen. Die Erfahrung mit dem etwas voreilig ins Ausländergesetz aufgenommen Institut der Integrationsvereinbarung zeigt deutlich, wie leicht durch schnelles Vorpreschen eher Unsicherheit als Sicherheit geschaffen wird. Wichtig scheint mir, dass man zunächst versucht, in Zusammenarbeit mit Ausländerorganisationen auf der Grundlage eines wohlwollenden Pragmatismus ein Konzept zur Förderung des Spracherwerbs zu erarbeiten und eine Wirklichkeit zu schaffen, die später ins Recht gefasst werden kann. Wir müssen uns auch bewusst werden, dass das Hauptproblem im Hinblick auf die Zukunft unseres Landes - - - - <?page no="177"?> Sprachenrecht und Sprachstrategien der Schweiz 177 nicht im Spracherwerb, sondern in der erfolgreichen Integration der Ausländerinnen und Ausländer besteht. Damit diese gelingt, müssen wir den Ausländerinnen und Ausländern Partizipationsmöglichkeiten in allen Lebensbereichen anbieten und alles tun, damit eine eigentliche Kultur der Partnerschaft entsteht, in der Spracherwerb und gegenseitige Verständigung zur Selbstverständlichkeit werden. 12. Literatur Achermann, Alberto (2007): Integrationsverpflichtungen. In: Achermann, Alberto/ Caroni, Martina et al. (Hg.): Jahrbuch für Migrationsrecht / Annuaire du droit de la migration 2006/ 2007. Bern, S. 107-138. Achermann, Alberto/ Künzli, Jörg (ersch. vorauss. Ende 2008): Recht auf Übersetzung? In: Dahinden, Janine/ Bischoff, Alexander (Hg.): Dolmetschen, Vermitteln, Schlichten - Integration der Diversität? [Arbeitstitel]. Brecht, Berthold (1967): Gesammelte Werke in acht Bänden. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann. Frankfurt a.M. Bundesamt für Statistik (Hg.) (2003): Eidgenössische Volkszählung 2000: Bevölkerungsstruktur, Hauptsprache und Religion. Neuchâtel/ Neuenburg. [Siehe auch: Begleit- CD , Verzeichnis „Hauck“, Dokument 3]. Bundesamt für Statistik (Hg.) (2005): Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz. Bericht 2005. Neuchâtel/ Neuenburg. [Siehe auch: Begleit- CD , Verzeichnis „Hauck“, Dokument 4]. Hauck, Werner/ Nussbaumer, Markus (2006): Die Sprache in der neuen Zürcher Verfassung. In: Lorenzo Fosco, Leo/ Jaag, Tobias/ Notter, Markus (Hg.): Materialien zur Zürcher Verfassungsreform. Bd. 9. Zürich. S. 157-174. <?page no="178"?> Werner Hauck 178 13. Anhang 13.1 Integrationsvereinbarung des Landes Berlin Integrationsvereinbarung zwischen 1 _________________________________ und dem Land Berlin vertreten durch das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (Ausländerbehörde) Meine Familienangehörigen und ich haben eine Aufenthaltserlaubnis und damit ein Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland erhalten. Wir wollen unseren Beitrag leisten, uns bei der Gestaltung des Alltags und dem Aufbau von Kontakten in die Gesellschaft, in der wir dauerhaft leben wollen, zu integrieren. Das heißt für uns und unsere Kinder, die deutsche Sprache zu erlernen, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereiche und damit verbundene Regeln zu kennen, daran teilzuhaben und sie selbst mit zu gestalten. Wir stehen dazu, einander mit Respekt, Achtung und Interesse zu begegnen und bringen dies mit folgender Selbstverpflichtung zum Ausdruck: Wir werden uns bemühen, durch eigene Erwerbstätigkeit unseren Lebensunterhalt dauerhaft zu sichern. 1 Grundsätzlich sind alle Angehörigen aller [sic! ] Familie als Verpflichtete mit Namen und Vornamen zu benennen, auch wenn es sich um nicht geschäftsfähige Kinder handelt. Es wird pro Familie eine Integrationsvereinbarung getroffen. Auch bei kinderlosen Ehegatten, wird nur eine Integrationsvereinbarung abgeschlossen. Miteinbezogene volljährige Kinder unterzeichnen dagegen eine eigene Integrationsvereinbarung. Eine Integrationsvereinbarung wird nur in den Fällen des 3.2.2. d. und e. (Erwerbsunfähige und Alte) nicht verlangt. Bei Einzelpersonen kann auf die Integrationsvereinbarung verzichtet werden.) 1) <?page no="179"?> Sprachenrecht und Sprachstrategien der Schweiz 179 Wir wollen unsere Kinder fördern, ihnen durch Bildung und Sprachkompetenz die Eingliederung in die Gesellschaft erleichtern und gleiche Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ermöglichen. Dazu werden wir unsere Kinder in die staatlichen Schulen schicken und dafür sorgen, dass sie regelmäßig den Unterricht besuchen. Unsere Kinder sollen sich um einen möglichst qualifizierten Schulabschluss bemühen und auch an sonstigen schulischen Unternehmungen (Sportunterricht, Klassenfahrt, Ausflüge, sonstige Veranstaltungen) teilnehmen. Auch wenn wir nicht berechtigt oder verpflichtet sind, an einem Integrationskurs teilzunehmen, werden wir in unserem eigenen Interesse und dem unserer Kinder die Angebote des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge wahrnehmen. Wir werden uns aktiv um eine Teilnahme an einem Integrationskurs im Rahmen verfügbarer Kursangebote und -plätze bemühen. Wir wollen das Kursziel erreichen, damit unsere Kinder, die die deutsche Sprache durch regelmäßige Schulbesuche lernen, die Möglichkeit erhalten, sich mit uns auch in deutscher Sprache zu verständigen. Wir wollen uns an unserem Teil der Vereinbarung messen lassen. Wir haben verstanden und sind damit einverstanden, dass zu einem späteren Zeitpunkt eine positive Entscheidung für eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis davon abhängig gemacht werden kann, dass wir die hier getroffenen Vereinbarungen erfüllt haben. Eine von Beteiligten unterschriebene Durchschrift dieser Vereinbarung erhalten wir zur Kenntnis. ……………………………………..………………………………………… gebilligt und Kenntnis genommen verlesen und erläutert Dieser Text ist auch als Originaldokument auf der beiliegenden CD enthalten (Verzeichnis „Hauck“, Dokument 6). 2) 3) 4) <?page no="180"?> Werner Hauck 180 13.2 Integrationsvereinbarung (IntV) der Schweiz INTEGRATIONSVEREINBARUNG 1 zwischen Personalien des / der betroffenen Migrant/ in (nachfolgend: der / die Unterzeichnende) und der für den Abschluss der IntV zuständigen Behörde / Organisation Name Die vorliegende Integrationsvereinbarung soll dazu beitragen, die Integration auf individueller Ebene zu fördern und orientiert sich dabei an den Prinzipien der Ausländergesetzgebung des Bundes, wonach • es Ziel der schweizerischen Integrationspolitik ist, das friedliche Zusammenleben aller auf der Grundlage der Werte der Bundesverfassung und der gegenseitigen Achtung und Toleranz zu fördern; • eine erfolgreiche Integration das Ergebnis eines gegenseitigen Prozesses ist, welcher sowohl die Bereitschaft der Ausländerinnen und Ausländer zur Integration als auch die Offenheit der schweizerischen Bevölkerung voraussetzt; • Bund, Kantone und Gemeinden Chancengleichheit und Teilhabe von Ausländerinnen und Ausländern anstreben, welche sich rechtmässig und dauerhaft in der Schweiz befinden. Sie sollen einen chancengleichen Zugang zum wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Leben erhalten und daran teilhaben können; • von den Zugewanderten verlangt wird, dass sie sich mit den Verhältnissen und Lebensbedingungen in der Schweiz auseinandersetzen und die geltenden Regeln und Gesetze einhalten. Unumgänglich ist, dass Personen mit einer längerfristigen Aufenthaltsperspektive sich Kenntnisse der am Wohnort gesprochenen Landessprache aneignen. 1 Art. 54 des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer vom 16. Dezember 2005 (AuG), SR 142.20 und Art. 5 der Verordnung über die Integration von Ausländerinnen und Ausländern (VIntA) vom 24. Oktober 2007, SR 142.208 und gegebenenfalls kantonales Gesetz. <?page no="181"?> Sprachenrecht und Sprachstrategien der Schweiz 181 I. Angaben zur Person Personalien: [...] Zuzug in die Schweiz am: Zuzug in den Kanton XY am: Aufenthaltszweck: Sprachkenntnisse Erstsprache/ n: Weitere Sprachen: Sprachkenntnisse Deutsch ( GER ) 2 : Gegenwärtige Tätigkeit Erwerbstätigkeit: Stellenprozent: Arbeitgeber: Erziehungsarbeit: Anzahl zu erziehender Kinder: Alter der Kinder: II. Ziele der Vereinbarung Diese Vereinbarung bezweckt die Erfüllung der in der Verfügung vom ...................... des kantonalen Migrationsamtes auferlegten Bedingung „Besuch eines Sprachkurses“ oder: „Besuch eines Integrationskurses“. Der / die Unterzeichnende, ............................ (Name der betroffenen Person) A. Sprache kann sich im Alltagsleben in deutscher Sprache verständigen. nimmt teil an einem Sprachkurs mit den folgenden Zielen: ........................... 2 Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen des Europarates <?page no="182"?> Werner Hauck 182 B. Lebensbedingungen in der Schweiz kennt die Funktionen der schweizerischen Institutionen (Schule, Berufsbildung, Arbeitswelt, Gesundheitswesen etc.). kennt die gesellschaftlichen Verhältnisse, das Rechtssystem und die grundlegenden Werte und Normen gemäss schweizerischer Bundesverfassung, insbesondere die Bedeutung der Gleichstellung von Mann und Frau. ........................................................................................................................... III. Unterstützung durch den Kanton Der Kanton macht die Unterzeichnende / den Unterzeichnenden auf die unterschiedlichen Angebote an Sprach- und Integrationskursen sowie auf bestehende Beratungsstellen aufmerksam. IV. Verpflichtung des / der Unterzeichnenden 1. Massnahmen: A. Sprachkurse: Rahmenfrist: Allgemeine Sprachkurse: Alphabetisierung Mte Basiskurs Mte Konversationskurs Mte etc. B. Integrationskurse: Rahmenfrist: Integrationskurs Mte etc. 2. Nachweis des Kursbesuches und des Zertifikats Die vom Kanton bezeichnete Stelle (Institution, Kurszentrum) attestiert die Teilnahme sowie das Erreichen der mit der Kursteilnahme anvisierten Ziele, die im Einzelfall festgelegt wurden. <?page no="183"?> Sprachenrecht und Sprachstrategien der Schweiz 183 Bis zum ................ (Datum) sendet ....................... (Name des / der Unterzeichnenden) der zuständige Behörde unaufgefordert eine Kopie der Kursbesuchsbestätigung oder des Zertifikats an folgende Adresse: .......................................................................................... .......................................................................................... .......................................................................................... V. Folgen der Erfüllung oder Nichterfüllung der vom kantonalen Migrationsamt auferlegten Bedingung „Besuch eines Sprach- oder Integrationskurses“ In der Verfügung vom ............... der kantonalen Migrationsbehörde betreffend die Erteilung / Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung wurde der / die Unterzeichnende verpflichtet, an einem Integrationskurs / Sprachkurs teilzunehmen und das mit der Kursteilnahme anvisierte Ziel zu erreichen. Die Nichteinhaltung dieser Bedingung wird als mangelnde Integrationsbereitschaft angesehen und kann im Rahmen des Ermessensentscheides, welches die kantonale Migrationsbehörde hinsichtlich der Frage der Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung trifft, dazu führen, dass die Aufenthaltsbewilligung nicht verlängert wird. Besucht der / die Unterzeichnende den vorgesehenen Kurs und leitet der zuständigen Behörde (Adresse am Ende der Ziffer IV ) das entsprechende Attest weiter, kann sich dies positiv auf Bewilligungsentscheide auswirken. So zum Beispiel im Rahmen der Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung oder bei der Möglichkeit, die Niederlassungsbewilligung vorzeitig zu erhalten. Unterschrift Unterschrift und Stempel der (des Migranten / der Migrantin): zuständigen kantonalen Behörde oder Institution ....................................................................................................................................... Ort, Datum Ort, Datum Bei Ehegatten und eingetragenen Partnerschaften nimmt der Ehegatte/ die Ehegattin bzw. der Partner/ die Partnerin; bei Minderjährigen nimmt / nehmen der / die gesetzlichen Vertreter Kenntnis des Inhalts der Vereinbarung, und bestätigt / bestätigen dies mit der Unterschrift: ....................................................................................................................................... Ort, Datum Ort, Datum <?page no="184"?> Werner Hauck 184 Anlagen, beispielsweise: Liste von Sprach- und Integrationskursen im Kanton / in der Stadt Weitere Informationsschriften Globalskala GER Kriterienliste für die vorzeitige Erteilung der Niederlassungsbewilligung Kopie: Der / die Unterzeichnende ev.: Kantonale Ansprechstelle für Integrationsfragen ev.: Kantonale Migrationsbehörde (Ausländeramt) Dieser Text ist auch als Originaldokument auf der beiliegenden CD enthalten (Verzeichnis „Hauck“, Dokument 7).