Ereignis und Institution
Anknüpfungen an Alain Badiou
1119
2008
978-3-8233-7445-9
978-3-8233-6445-0
Gunter Narr Verlag
Gernot Kamecke
Henning Teschke
Von den französischen Denkern der Gegenwart erteilt Badiou dem Imperativ der kapitalistischen Ordnung die radikalste Absage. Dazu tritt bei ihm ein altes Begriffspaar an die Stelle der Dualität von Identität und Differenz, Gesetz und Kontinuität und entfaltet eine neue Bedeutung: Ereignis und Institution. Das Ereignis benennt den unberechenbaren Einbruch des Neuen, die Institution folgt seiner Verstetigung in schöpferischer Treue. Philosophisch, literarisch und politisch steht damit das Denken mit neuen Mitteln wieder vor seiner ältesten Aufgabe: den Absolutismus herrschender Rede zu brechen, das Reale in Begriffe zum Zwecke seiner praktischen Veränderung zu verwandeln. Das geschieht in vier Prozeduren, die Anspruch auf Wahrheit haben: Liebe, Politik, Literatur und Mathematik.
<?page no="0"?> edition lendemains 9 Gernot Kamecke / Henning Teschke (Hrsg.) Ereignis und Institution Anknüpfungen an Alain Badiou Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="1"?> Ereignis und Institution <?page no="2"?> edition lendemains 9 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück) und Hans Manfred Bock (Kassel) <?page no="3"?> Gernot Kamecke / Henning Teschke (Hrsg.) Ereignis und Institution Anknüpfungen an Alain Badiou Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Publikation des Europäischen Graduiertenkollegs Institutionelle Ordnungen, Schrift und Symbole, ee Technische Universität Dresden/ Ecole pratique des hautes études - Paris. Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6445-0 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Gernot Kamecke/ Henning Teschke: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . 7 Auftakt Alain Badiou: Ereignis und Gesetz: die drei Negationen . . . . . . . . 17 I. Philosophische Anknüpfungen Oliver Feltham: Badiou und Deleuze: ein oder zwei Begriffe des Ereignisses? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Gernot Kamecke: Institution als Wahrheitsereignis. Von Castoriadis zu Badiou oder: Erzwingung einer generischen Extension des ontologischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Frank Ruda: Von der Treue als subtraktiver Institution . . . . . . . . . 69 II. Politisch-theologische Anküpfungen, Literatur Henning Teschke: Extremismus: Badiou und Pascal . . . . . . . . . . . . 97 Burkhardt Wolf: Schiffbrüche wider den Kult der Sicherheit. Paulus, Mallarmé und das Ereignis nach Alain Badiou . . . . . . . . . . 115 Felix Ensslin: Das Subjekt der Wahrheit und sein Doppel. Einige Notizen zur Paulusrezeption Alain Badious im Spiegel des Paulinismus Martin Luthers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 <?page no="6"?> Inhalt 6 III. Deutungen: Mathematik, Poesie, Politische Theorie Arno Schubbach: Von der Menge zur Situation, vom Forcing zur Erzwingung. Badious Grenzgänge zwischen Philosophie und Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Mark Potocnik: Das Poem als Verfahren. Mallarmé mit Badiou . . 195 Daniel Schulz: Revolution und Ausnahmezustand: Ereignis und Institution in der politischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 IV. Kontrapunkte: Soziologie, Psychoanalyse Heike Delitz: Institution und Ereignis aus lebenssoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Marcus Coelen: Noch einmal die Frage des Subjekts? Bemerkungen zu Badiou, Lacan, Blanchot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 <?page no="7"?> Einleitung Qu’est-ce que vivre? 1 Die Herausforderung an das Denken der Gegenwart wird im Namen einer ‚kleinen’ Philosophie ausgesprochen: Können die Geistes- und Kulturwissenschaften vor dem Begriff der Wahrheit bestehen? Die Versuchung, sich dieser Prüfung zu entziehen, ist das Credo des Relativismus. Allgemein wird die Frage nach der Wahrheit, sofern nicht nach dem Vorbild der empirischen Wissenschaften mit Faktizität gleichgesetzt, als verhandelbar betrachtet und zum Gegenstand von Interpretationen erklärt. Von der Wahrheit selbst zu sprechen ist in den Spielräumen, die der Rahmen des interkulturellen Aushandelns von Tatsachen bestehen lässt, eine Provokation oder gar Verrücktheit. Wo der Begriff der Wahrheit aufscheint, dient er, diesseits der Privatgemächer religiösen Glaubens, zur Kennzeichnung politischer und logischer Subversion. Es ist daher folgerichtig, wenn der zeitgenössische Philosoph, der den Wahrheitsbegriff am radikalsten verteidigt, nicht in den Kanon der Universität aufgenommen und an den ‚Rändern der Philosophie’ verortet wird. In die Alma Mater hat Alain Badiou, als Mathematiker ignoriert oder als maoistischer Theologe beschimpft, keinen Eingang gefunden, mit Ausnahme einiger Laboratorien in Paris. Aufseiten der deutschen Romanistik ist das Unbehagen gegenüber der Philosophie im Allgemeinen und der poststrukturalistischen outre-rhin im Besonderen chronisch geworden. Stand die romanistische Literaturwissenschaft noch vor wenigen Jahren in erster Reihe der Rezeption französischer Philosophie in Deutschland (von Sartre, Lacan und Merleau-Ponty über Foucault zu Derrida und Deleuze), scheint sie heute den Nachfolgern (Rancière, Nancy, Badiou) nur Indifferenz entgegenzubringen. Hinter dem Vorwurf der Komplexität, die zum Hinderungsgrund ihrer Aufnahme erklärt wird, verbirgt sich die unerklärte Annahme, dass sich die Epistemologie der universitären Disziplinen aus der ‚Eigengeschichte’ ihrer wissenschaftlichen Praxis ergibt und keiner Legitimation mehr durch eine philosophische Theorie bedarf. Dies gilt nicht nur für die Romanistik und die ‚neuen Philologien’, sondern auch für große Teile der Politologie, der Soziologie und der Psychologie. In Kenntnis der heute notwendig gewordenen Rückbindung dieser Wissenschaften an die Philosophie ist es das Ziel des vorliegenden Bandes, Zugänge zu einem ihrer wichtigsten lebenden Vertreter aus Frankreich zu schaffen. Angesichts der Schwierigkeit, die Bedingungen des philosophischen Denkens und somit des politischen, ethischen und ästhetischen Handelns 1 Badiou 2006: 529. <?page no="8"?> Gernot Kamecke/ Henning Teschke 8 mit Hilfe einer mathematisch fundierten Ontologie systematisch zu fassen, sind die Möglichkeiten für ein konsistentes Denken von Subjektivität mit universellem Anspruch auszuloten. Das Prinzip der Universalität, das bei Sartre wie bei Deleuze schon angelegt ist, gilt für Badious Philosophie absolut: Jeder Mensch - ungeachtet seiner Identitätsmerkmale, seiner Bildung oder sozialen Stellung - kann durch ein Wahrheitsereignis affiziert und zum ‚Subjekt einer Treueprozedur’ werden. Die potenzielle Subjektivierung, an welche die Stetigkeit und Belastbarkeit einer jeden Wahrheit gebunden ist, hängt vom eigenen Handeln innerhalb einer Vielfalt gegebener Situationen ab. Diese führen in die zentralen Bereiche menschlichen Zusammenlebens: das Wissen, die Kunst, die Politik und, um das Primärverhältnis der Philosophie nicht zu vergessen, die Liebe. Durch das Prinzip der Universalität wird diesen Konstitutionsbedingungen des Subjektbegriffs - gegen die Beschränkung wahrer Aussagen auf die approbierten Spielregeln im demokratischen Konsens - ein eindeutiges Kriterium zugeschrieben, dem sich kein Subjekt und keine Institution entziehen kann. Durch die Verknüpfung mit dem Subjekt offenbart der Wahrheitsbegriff, zentrales Problem im Wechselspiel der Begriffe ‚Ereignis’ und ‚Institution’, seine eigentliche Klärungsbedürftigkeit. Natürlich ist es heute auch in der Philosophie schwierig geworden, einen Begriff der Wahrheit unabhängig von der analytischen Aussagenlogik im Bereich der Frage „Wie leben? “ zur Anwendung zu bringen. Badiou ist vielleicht der einzige lebende Philosoph, der diesen Weg in aller Konsequenz beschreitet. In seiner zweiten Zielsetzung sieht sich dieser Band daher verpflichtet, die Spannung zwischen einem universell gültigen Begriff von Theorie und der Mannigfaltigkeit seiner praktischen Anwendungsbereiche aufrechtzuerhalten und für literaturwissenschaftliche Fragestellungen in Nachbarschaft zur Psychologie, Soziologie und Politologie zu durchdenken. Dies erfordert, die menschlichen Existenzbedingungen - Politik, Wissenschaft, Kunst, Liebe -, in denen bei Badiou die Wahrheit ereignishaft aufscheint, aus den jeweiligen Situationen heraus immanent zu entfalten. Dadurch wird sich erweisen, ob in einer Philosophie, die sich der alten Ontologie in Treue verschreibt und sie mit den Mitteln der mathematischen Logik zu erneuern sucht, die Wahrheit, im Sinne einer Aussage über das Seiende, auch für das zeitgenössische Denken unverzichtbar bleibt. Der philosophische Kontext der in diesem Band verhandelten Grundbegriffe ist durch die These Badious gegeben, dass die Wahrheit mit dem Ereignis und nicht mit der Institution in Verbindung steht. Diese Verknüpfung hat für uns insofern besonderen Charakter, als der gemeinsame Ausgangspunkt durch den Begriff der Institution vorgegeben war. Auf der Tagung „Institution und Ereignis“ des Europäischen Graduiertenkollegs Institutionelle Ordnungen, Schrift und Symbole im November 2006 war die Zielsetzung zunächst, das interdisziplinäre Theoriegebäude der im Dresdener Sonderforschungsbereich Institutionalität und Geschichtlichkeit entwickelten „Theorie <?page no="9"?> Einleitung 9 und Analyse institutioneller Mechanismen“ in philosophischer Perspektive zu diskutieren. Auf dem Weg durch die begrifflichen Voraussetzungen der ‚Kategorien des Institutionellen’, die uns in die Verzweigungen der zeichentheoretisch fundierten Gesellschaftstheorien geführt haben, ergab sich, dass die Relevanz der Analyse des Institutionsbegriffs letztlich auf einem adäquaten Ereignisbegriff beruht. Darum ging es auf der Folgetagung „Ereignis und Institution“ während des XXX. Deutschen Romanistentags in Wien 2007. Welche historischen Fallbeispiele auch in den Blick geraten - Glaubensgemeinschaften, Dynastien, Nationen, Akademien, Armeen, künstlerische und politische Bewegungen, Konzerne, Gesellschaften -, die Rückführung von emanzipativen oder restriktiven Institutionen auf die Grundfigur der symbolischen Vermitteltheit von Gemeinschaftsformationen kommt ohne ein auslösendes Moment nicht aus. Damit werden Fragen nach der ordnungskonstituierenden Fiktionalität des menschlichen Weltbezugs und den Grenzen der strukturalen Gesetzmäßigkeit symbolvermittelter Institutionalisierungen aufgeworfen. Versucht man, die besondere Dynamik der Anfänge von Institutionalisierungsbewegungen zu fassen, so lässt sich feststellen, dass jeder tatsächlichen Institution eine Idee (als vorsprachlicher Entwurf derselben Bewegung) vorausgeht. Dies ist der historische, dem Gegenstand immanente Grund dafür, dass das Gegenstück zum Begriff der Institution phänomenologisch ein auf seine Bedingungen irreduzibles Ereignis ist, das, wo immer es ‚einbricht’, ein neues Verhältnis zur Umgebung - zur Zeit, zur Welt, zur Sprache, zur Kunst - erzeugt. An den Kreuzungen von Philosophie, Kunst, Theologie, Soziologie und Psychologie ist danach zu fragen, inwieweit Ereignisse für bestimmte Institutionen konstitutiv sind, wie Institutionen auf die umstürzende Kraft von Ereignissen reagieren oder welche Techniken institutioneller Verstetigung sich möglicherweise als ereignisresistent erweisen. Alle in diesem Band versammelten Beiträge - ob sie nun das das Gesetz, das Subjekt, die Gesellschaft, das Unbewusste, das Wunder, die Treue, das Gedicht, den Mythos, die Gefährlichkeit oder den Ausnahmezustand zum Thema haben - vereint ein Motiv, das sich mit Bergson als désir du mouvant bezeichnen ließe, als Drang des unruhigen, öffnenden Denkens. Ihm geht es in den diskursiven Ordnungen - von den fiktiven Repräsentationen bis hin zu mathematischtechnischen Notationen - um ‚Vorschriften’, die als definierbare Teilmengen ontologischer Situationen lesbar sind. Ohne den Einbruch der Ereignisse, die das Subjekt im Eingriff einer Treue erst möglich machen, würden diese Vorschriften in der Leere differenzloser Wiederholungen enden. Das Ereignis konstituiert eine Idee von Wahrheit, die kein Urteil oder den Stand der Dinge meint, sondern einen unabschließbaren Prozess. Jeder Wahrheitsprozess im Poem, in der Politik oder in der Liebe beginnt mit einem Ereignis, welches unvorhersehbar ist und somit den Schnittpunkt von Relationen, die unter die Kategorie der ‚Situation’ fallen, transzendiert. Erforderlich wird daher die Bestimmung des Unbestimmten. Literatur und <?page no="10"?> Gernot Kamecke/ Henning Teschke 10 Philosophie erweisen sich als im selben Maße produktiv, wie sie dem Ereignis einen Namen geben. Dieser Nominalismus verwirklicht sich auf zwei Linien. Zum einen tritt er in Gestalt von Strukturen und Institutionen in Erscheinung, die das Benannte fixieren, ihm Bedeutungen zuschreiben und dafür sorgen, dass sich der Gebrauch von Namen durch Wiederholung so verstetigt, bis er ganz mit dem Wesen der Sache zusammenzufallen scheint: „Das ist Demokratie“; „Das ist kulturelle Vielfalt“; „Das ist Religion“; „Das ist die alternativlose Weltordnung“. Zum anderen bringt das Ereignis in der Philosophie und der Literatur eine Nennkraft hervor, welche die Identifikation von Sein und Wissen bestreitet, weil beide an das am Ereignis anschließen, was sich der Aneignung widersetzt und der Prädikation entgeht. Aus dem ‚Exzess’ des Ereignisses über das Vorhandene resultiert die Aufgabe der narrativen wie diskursiven Verfahren diesseits von Konstruktion und Erfindung: eine Sprache für das Ungenannte zu schaffen, die eins ist mit dem Werden des Neuen. Die Geschichte ist ein „katastrophisches Kontinuum“ (Benjamin), das sich selbst mit vorteilhaften Namen zur Darstellung bringt: Ordnung, Staat, Gesellschaft. Wo diese Nennkraft nicht ausreicht, um die Realität zu erfassen, laufen Anfang und Ende in einem singulären Intervall zusammen. Zu den wenigen Augenblicken, so Flaubert, in denen die Menschen frei waren, zählt das Ende der Antike, als die Götter der alten Herrschaft tot und der Glaube an die neuen noch nicht gefestigt war: keine Epoche des Verfalls, vielmehr eine des Anfangs und Übergangs, eine kurze Sequenz, in der sich die Eingeschlossenen in den sie einschließenden Verhältnissen nicht mehr wiedererkennen. Die Namen der gegenwärtigen Epoche, die sich als ohnegleichen verkennt, lassen die Einberufung der fünf Kontinente in den Weltmarkt als Triumph erstrahlen: Globalisierung, Demokratie, Menschenrechte heißen die Namen, die vielmehr Trugbildern ähneln. Glaubt man ihren Fürsprechern, wäre hier ein leibnizscher Begriff ohne metaphysischen Rest zuständig: die bestmögliche aller Welten. Im Jahr 1989 hat sie ihr Gründungsdatum, mit dem 11. September 2001 erhält sie den dunklen Grund, der die westliche Sekuritätsforderung umso einleuchtender macht. Seitdem sind nur noch die Zuordnungsregeln, die distributiven Differenzen des Binnenraums strittig, um die subjektiven Plätze im Ganzen einzunehmen. Die ‚Identität’ und die ‚Kultur’ teilen die Fiktionen des Politisch-Imaginären unter sich auf. In der Schließungsphase der durch den Tausch zusammengeschlossenen Erde kommt die Selbsteinkreisung der Gattung Mensch zu sich. Das steht Badiou vor Augen, wenn er angesichts der Barbarei des planetarischen „Parlamentarkapitalismus“ von den Rechten des Unendlichen und des Unsterblichen gegen die Berechnung der Interessen spricht 2 , die - durch 2 „L’effet de l’axiome égalitaire est de défaire les liens, […] d’affirmer les droits de l’infini et de l’immortel contre le calcul des intérêts. La justice est pari sur l’immortel contre la finitude, contre ‚l’être pour la mort’“, Badiou 1998: 118. <?page no="11"?> Einleitung 11 Kunst, Liebe, Politik, Denken - für die Gegenwart in Wahrheit zurückzugewinnen sind: Präsenz gegen Repräsentation. Für Badiou stellen weder der Fall der Berliner Mauer 1989 noch der 11. September 2001 ein universelles Ereignis dar, beide Daten indizieren nur einen effizienteren Modus im Wirken der transzendenten Mächte dieser Zeit: die Verwaltung der Zwänge, der umherirrende Automatismus des Kapitals und die zur Schicksalsmacht angewachsene Marktlogik. Wie unklar und unbegriffen die realen Bedingungen der Epoche zu Beginn des 3. Jahrtausends sind, zeigt die Nomenklatur. ‚Postmoderne’ ist weder ein Begriff noch ein Name, sondern die Paarung der alten Trägheiten der Moderne mit neuen Verlegenheiten, die nicht aus Bescheidenheit entstehen. Welche historische Periode hat sich nach dem benannt, was sie nicht mehr ist? Als Synonym für ‚Posthistoire’ präsentiert sich der Status quo - mit einem Rest Hegelianismus - teleologisch als der vor aller Vergangenwart Gemeinte, der, wenn er sich nach dem Früheren umschaut, immer nur auf Vorformen seiner selbst trifft. Wendet sich die Posthistoire aber der Zukunft zu, erkennt sie allein sich selbst in ungebrochener Extension. So siegen die Lebenden über alle Ungeborenen und Toten. Was ist nach 1989 anders als zuvor, wo liegt die wirkliche Zäsur? Mit dem Ende des real existierenden Sozialismus gerät nicht allein der Marxismus in seine radikalste Krise, sondern das Politische insgesamt. Die durch die Gesellschaftsform, die sie aus sich entließ, schwer beschädigte Möglichkeit eines anderen Lebens droht den politischen Konjunktiv - dass Menschen die nackte Gewalt des Stärkeren außer Kraft setzen - aus dem theoretischen und praktischen Horizont zu entrücken. Übrig bleibt, außer den entmächtigten Utopien und regulativen Ideen, der schiere Indikativ, dass das, was ist, nicht anders sein könne, nie anders war und sein werde. Dem Naturalismus des mythischen Präsens („das Ende der Ideologien“) entspricht die Maxime der Selbstabdankung des Denkens: ein animalischer Realismus, der seinen Imperativ in aller Regel unwidersprochen auf die Tagesordnung setzt: „Vis sans Idée“. 3 Was aber entscheidet über das Reale? Der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten hat von der schweren Hypothek befreit, Gerechtigkeit von einer Partei repräsentiert und Gleichheit in autoritären Gesellschaften verkörpert zu finden. Hier widerspricht Badiou Lyotard, für den der Marxismus nur eine ‚große Erzählung’ war. Als Marx das Kapital verfasste, hatte er drei Referenzen. Philosophisch: Hegel und die deutsche Dialektik; historisch-politisch: die revolutionäre Arbeiterbewegung Frankreichs; wissenschaftlich: die politische Ökonomie Englands. Diese drei Referenzen sind hinfällig geworden, mit ihnen ist ein historischer Typus der Kapitalismuskritik erledigt, lange vor 1989. Der erste ‚Zyklus des Marxismus’, der zwischen 1840 und 1850 begonnen hat, ist zu Ende gekommen: das Werk von Marx/ Engels, die Pariser Commune, der Oktober 1917, Lenin, die dritte Internationale, 1968, die maoistische Revolution, die nationalen Befreiungs- 3 Badiou 2006: 533. <?page no="12"?> Gernot Kamecke/ Henning Teschke 12 bewegungen Asiens, Afrikas und Südamerikas. All das liegt nicht nur im zeitlichen Sinne hinter uns. Vor uns liegt jedoch eine neue, zweite Sequenz, um einem politischen Subjekt Konsistenz zu geben, die mit der heterogenen Potenz zusammenfällt, Herrschaft in Frage zu stellen. Die Gegenwart setzt dabei einen Schnitt, mit dem das Denken aus jedem Entwicklungsschema und jeder Zielvorgabe herausfällt. „Nous procédons à partir du ‚il y a’ d’une coupure“. 4 Diese Zäsur verhindert, eine Tatsache („es gibt keinen Marxismus“) mit einer Enteignung („es fehlt das kollektive Subjekt, das die egalitäre Wahrheit der Politik durchsetzt“) zu verwechseln. Daraus erklärt sich der ‚Suspens’, die angehaltene, erstarrte Zeit der nihilistischen Posthistoire, daraus erklärt sich aber auch die Gegenwart, die ihren eigenen Namen nicht kennt. Die Zäsur ermöglicht, die emanzipative Dimension des Ereignisses neu zu erfassen: „Nous devons refaire le Manifeste.“ 5 In erster Lesung initiiert der lapidare Satz ein theoretisches und praktisches Ereignis ersten Ranges: angesichts der Globalisierung das zu versuchen, was Marx für seine Epoche gelang, nämlich die bestehenden Hierarchien zum Zwecke ihrer Überwindung kenntlich zu machen. Dabei folgt Badiou der Logik des zweiten Anfangs, analog zu Deleuzes Differenz und Wiederholung und Benjamins Dialektischem Bild. Der zweite Anfang tritt an die Stelle des Ursprungsdenkens und der Aporien des letzten Grundes, denn er muss sich allein an seinen Folgen, nicht durch seine Voraussetzungen bewahrheiten. Die Figur des zweiten Anfangs macht die Konfiguration von Ereignis und Institution universal: Spartakus und die Spartakisten um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg (Badious ‚treue Subjekte’), Paulus und der zweite Anfang des Christentums, Amerika und die transatlantische Selbstwiederholung Europas, die Revolution von 1789 als militante Tat bei Saint-Just und Robespierre und als „point de vue spectateur“ 6 bei Kant und François Furet (Badious ‚reaktive Subjekte’); die antike Polis und die Demokratie als bürgerliche Staatsform oder als Demokratisierung der Produktionsverhältnisse, die Entbundenheit als Seinsform der permanenten Geld- und Warenzirkulation oder als neue Internationale, die alles, was sich mit Klassen, Kulturen, Nationen und Kontinenten identifiziert, als inadäquate Selbstzurechnungen deklassiert. Die Essenz des Politischen liegt für Badiou im Bruch mit dem, was ist, in der Revolte gegen die Trivialität des „immer weiter so“. Die Entscheidung für das Fällige wäre die für den zweiten Anfang. Die Gegenwart ist seine Inkubationszeit. Die Herausgeber Dresden/ Augsburg/ Berlin im August 2008 4 Badiou 1985: 59. 5 Ebd.: 60. 6 Badiou 1998: 33. <?page no="13"?> Einleitung 13 Literaturverzeichnis Badiou, Alain, Peut-on penser la politique? , Paris 1985. Badiou, Alain, Abrégé de Métapolitique, Paris 1998. Badiou, Alain, Logiques des mondes. L’être et l’événement, 2, Paris 2006. <?page no="15"?> Auftakt <?page no="17"?> Alain Badiou Ereignis und Gesetz: die drei Negationen Ich habe schon immer gedacht, dass die philosophischen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland im Kern auf der Frage der Dialektik beruhen. Als Marx die Realität der Französischen Revolution mit dem Substitut seiner deutschen Spekulation konfrontierte, setzte er den realen Widerspruch, der in den Klassenkämpfen in Frankreich am Werk war, dem ideologischen Widerspruch, der sich in der deutschen Philosophie entfaltete, entgegen. Die konkrete (französische) Dialektik durch die konzeptuelle (deutsche) Dialektik zu erklären, war für Marx eine der Aufgaben des modernen Denkens. Diese Überlegung setzt jedoch voraus, dass es zwei Ideen der Negation gibt. Die eine realisiert sich im tatsächlichen Konflikt, im politischen Bürgerkrieg. Die andere realisiert sich in einem spekulativen Kontext, der eher die Form einer (intellektuellen) Opposition annimmt. Eine starke Negation steht der abgeschwächten Präsentation eines Begriffs dieser starken Negation gegenüber. In der Tat beruht die deutsch-französische Frage - wenn man mein Programm annimmt, nämlich die Fusion der beiden Länder zu einer Einheit, die sich zugleich als materiell (ein einziger Staat) und als ‚spirituell’ (eine integrierte Konzeption der Dialektik) erweist - auf dem Erfordernis, die zeitgenössischen Gegebenheiten des dialektischen Denkens zu berücksichtigen. Der entscheidende Punkt ist nun aber, dass vonseiten der formalen Logik inzwischen deutlich geworden ist, dass nicht zwei, sondern drei grundlegende Orientierungen existieren, welche die ‚Kraft’ der Negation betreffen. Mein Ziel besteht hier also darin, die historische Frage der philosophischen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland in das logische Universum, das die Existenz der drei Negationen regiert, eintauchen zu lassen. Dieses Ziel werde ich in dem folgenden Text, der allein diese Existenz selbst präsentiert, nicht erreichen. Nehmen wir aber an, dass es sich um einen notwendigen Vorlauf handelt. 1 Bekanntermaßen besteht für Carl Schmitt das Wesen der Politischen in der deutlichen Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Die schwierige Frage liegt hierbei aber im Verhältnis zwischen beiden, gerade wenn die Unterscheidung deutlich ist. Selbst im Kriegsfall ist die Frage der Beziehung 1 Eine erste Fassung des folgenden Textes findet sich unter dem Titel „The Three Negations“ in: Cardozo Law Review 29/ 5 (2008), S. 1877-1883. <?page no="18"?> Alain Badiou 18 komplex. Und diese Komplexität ist diejenige der Aktion der Negativität. In einem Krieg (zwischen Staaten) sind die Kräfte des Feindes häufig zu zerstören, und die Zerstörung ist sicher die radikalste Form der Negation. In vielen Bürgerkriegen ist es jedoch unklar, ob das Ziel darin besteht, den Feind, der ein Teil des eigenen Landes ist, zu zerstören oder nur zu beherrschen, wie z.B. im Klassenkampf. In diesem Fall beruht die Negation des Feindes nicht auf der radikalen Form der Zerstörung, auch wenn Bürgerkriege zuweilen blutiger und grausamer sind als Kriege. Ein anderes Beispiel: Man kann wissen, dass ein Land ein Feind ist, manchmal sogar im starken Sinne, und trotzdem mit diesem Land gegen einen anderen Feind verbündet sein, der für den Moment gefährlicher ist, selbst wenn der erste Feind in der Zukunft noch gefährlicher werden wird. In taktischer Hinsicht war Deutschland während des Zweiten Weltkriegs der Hauptfeind der Vereinigten Staaten. Gegen Deutschland waren die Vereinigten Staaten mit der Sowjetunion verbündet. Aber in strategischer Hinsicht war die Sowjetunion ein größerer Feind der Vereinigten Staaten als Deutschland. Hier besteht also eine sehr komplexe politische Sequenz, in die eine sehr starke Negation eingebunden ist, die aber in einem gewissen Sinne durch eine schwächere Negation dominiert wird. Was aber ist genau eine Differenz zwischen zwei oder mehr Negationen? Ist es möglich, etwas mehr oder weniger zu negieren? Ist ‚Negation’ nicht das deutlichste Beispiel für etwas Absolutes? Dies ist letztlich der Sinn des berühmten Prinzips der Widerspruchsfreiheit. Wenn ich die Aussage A tätige, dann sage ich etwas absolut Verschiedenes von der Aussage Nicht-A, d.h.: Wenn die erste Aussage wahr ist, dann ist die zweite falsch. Hier erweist sich, dass ein konkretes politisches Problem nur in einem neuen logischen Grundgerüst formalisiert werden kann, in dem das Wort ‚Negation’ verschiedene Bedeutungen hat und in dem das Verhältnis zwischen Negation und Affirmation entlang verschiedener Wege dargelegt werden kann. Von meinem philosophischen Standpunkt aus gesehen, haben wir es in einer gegebenen Welt nur dann mit etwas Neuem zu tun, wenn die rationalen oder konventionellen Gesetze dieser Welt durch etwas unterbrochen oder außer Kraft gesetzt werden, das ich ein Ereignis nenne. Die Folgen dieses Ereignisses haben deutlich eine negative Beziehung zu den Gesetzen der Welt. Aus vielen guten Gründen nenne ich die Vielheit, die sich aus diesen Folgen zusammensetzt, eine Wahrheit bzw. eine ereignishafte Wahrheit. So können wir sagen, dass eine Wahrheit in einem ersten Sinn Teil der Welt ist. Denn sie ist die Menge von Folgen des Ereignisses in der Welt, nicht außerhalb von ihr. In einem zweiten Sinn können wir aber sagen, dass eine Wahrheit wie eine Negation der Welt ist, weil das Ereignis selbst den rationalen oder konventionellen Gesetzen der Welt entzogen ist. All dies lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Eine Wahrheit ist eine Überschreitung des Gesetzes. Das bedeutet erstens, dass eine Wahrheit vom Gesetz abhängt, und zweitens, dass sie dennoch eine Negation des Gesetzes ist. <?page no="19"?> Ereignis und Gesetz 19 Die Revolution, die von Marx als politische Wahrheit begriffen wird, beruht z.B. auf der affirmativen Enthüllung der versteckten Gesetze der Gesellschaft: Klassenkampf, Widersprüche, ökonomische Macht... Aber sie ist zugleich die destruktive Überschreitung all dieser Gesetze: kollektive Ökonomie, Diktatur des Proletariats... Wie aber ist es einer Negation - und vor allem einer destruktiven Negation - möglich, zugleich das affirmative Wissen vom Wesen einer Gesellschaft zu sein? Die Frage lautet schließlich: Welche Art von Negation ist in der Überschreitung involviert? Welche Art von immanenter Negation stellt der Prozess einer Wahrheit in einer Welt dar? In welchem Sinne ist die Distanz zwischen dem Ereignis und dem Gesetz in der Form einer Negation denkbar? Um all das zu verstehen, müssen wir das logische Problem der Negation erklären, welches auch ein ontologisches ist. Fangen wir am besten am Anfang an: Einer der berühmtesten und dunkelsten Texte der gesamten Philosophiegeschichte ist das Vierte Buch der Metaphysik des Aristoteles. In diesem Buch erklärt Aristoteles, dass das Denken im Allgemeinen von drei Prinzipien beherrscht wird. Erstens das Identitätsprinzip: Der Grundsatz der Identität bedeutet formal, dass ein Satz zu sich selbst strikt äquivalent ist. Er besitzt den gleichen Wahrheitswert. Zweitens der Satz vom Widerspruch: Es ist unmöglich, zugleich - im gleichen Kontext - die Aussage A und die Aussage Nicht-A zu behaupten. Und drittens der Satz vom ausgeschlossenen Dritten: Für eine Aussage A gilt: A ist entweder wahr oder falsch, d.h.: Entweder A ist wahr, oder Nicht-A ist wahr. Es existiert keine dritte Möglichkeit. Als Folge aus dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten ergibt sich das Prinzip der doppelten Negation. Negation der Negation ist äquivalent zu Affirmation. Doch dies ist erst der Anfang der Geschichte. Wir können sagen, dass die Prinzipien des Aristoteles das definieren, was wir heute die klassische Negation nennen. Sie stellt den Kern der klassischen Logik dar. Allerdings ist die klassische Negation nicht die einzige logische Möglichkeit mit Bezug auf die Negation. In philosophischer Hinsicht ist dies offensichtlich. Hegel z.B. behauptet, dass die Negation der Negation nicht unmittelbar zur Affirmation äquivalent ist. Sie entspricht eher dem Begriff einer ersten Affirmation bzw. deren reflexiven Existenz. Das logische Grundgerüst Hegels ist kein klassisches. Formal, im Kontext der mathematischen Logik, ist es aber ebenso wahr, dass die klassische Logik nicht die einzige Möglichkeit ist. Wir können zu den beiden aristotelischen Gesetzen der Negation zurückkehren: erstens dem Satz vom Widerspruch, zweitens dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten. In der Tat ergeben sich hier automatisch vier ‚Möglichkeiten’: 1) Die Negation gehorcht beiden Sätzen; das ist die klassische Logik. 2) Die Negation gehorcht dem Satz vom Widerspruch, aber nicht dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten. 3) Die Negation gehorcht dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten, aber nicht dem Satz vom Widerspruch. <?page no="20"?> Alain Badiou 20 4) Die Negation gehorcht weder dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten noch dem Satz vom Widerspruch. Die vierte Möglichkeit ist faktisch die vollständige Auflösung - unter dem Namen der Negation - jeglicher Kraft der Negativität. Sie entspricht einem inkonsistenten logischen Grundgerüst. Doch wir wissen heute, dass sowohl die zweite als auch die dritte Möglichkeit konsistent sind und ebenso interessante Logiken wie die klassische präsentieren. Die zweite entspricht der intuitionistischen Logik, die von Brouwer geschaffen und von Heyting formalisiert worden ist. Die dritte entspricht der parakonsistenten Logik, die in der Brasilianischen Schule und insbesondere durch den großen Logiker Da Costa geschaffen und entwickelt worden ist. Nehmen wir uns an dieser Stelle noch einmal das Bild des Krieges vor. Gemäß der klassischen Logik ist es erstens unmöglich, dass sich die eigenen Soldaten und diejenigen des Feindes zur gleichen Zeit am gleichen Ort befinden. Zweitens befinden sich an einem bestimmten raum-zeitlichen Punkt des Schlachtfeldes entweder die eigenen Soldaten oder die des Feindes. Es gibt keine andere Möglichkeit. Gemäß der intuitionistischen Logik gilt die erste Bemerkung ebenso. Aber an einem raum-zeitlichen Punkt des Schlachtfeldes können sich auch weder die eigenen Soldaten noch die des Feindes befinden, stattdessen z.B. die Soldaten eines neutralen Landes. Gemäß der parakonsistenten Logik schließlich können sich am selben Punkt entweder Ihre Soldaten oder die des Feindes befinden, aber auch sowohl Ihre Soldaten als auch die des Feindes. Andere Möglichkeiten gibt es jedoch nicht. Tatsächlich wird die Kraft der Negation von der ersten bis zur dritten Möglichkeit immer schwächer. Mit der vierten Möglichkeit schwindet die Negation vollends, jegliche Negation wird restlos negiert. Der Grund dafür liegt darin, dass die destruktive Kraft der Negation schwindet. In der klassischen Logik schließt die Negation von A nicht nur A selbst aus, sondern auch jede andere Möglichkeit, die die Inhalte der Aussage A betreffen. In der intuitionistischen Logik schließt die Negation von A ebenfalls A selbst aus, nicht jedoch andere Möglichkeiten, die sich faktisch irgendwo zwischen A und Nicht-A befinden. In der parakonsistenten Logik schließt die Negation von A diesen Raum zwischen A und Nicht-A aus, nicht aber A selbst. Hier wird die Aussage A durch ihre Negation nicht unterdrückt. Wie in Hegels Dialektik liegt A innerhalb der Negation von A. Kehren wir, all dessen eingedenk, zum Problem der überschreitenden Kraft einer Wahrheit oder - mit Blick auf das Gesetz - eines Ereignisses zurück. In meiner Ontologie ist ein Ding eine Vielheit ohne jegliche qualitative Bestimmung. Die allgemeinen Gesetze einer Welt sind nicht die Gesetze der Dinge selbst. Sie sind Gesetze der Beziehungen zwischen den Dingen in einer bestimmten Welt. Ich nenne die Einschreibung einer reinen Vielheit in das relationale Bezugssystem einer Welt das ‚Erscheinen’ der Vielheit in dieser Welt. Alle Gesetze - physikalische, biologische, psychologische oder solche des Rechts - sind daher Gesetze des Erscheinens im Kontext einer singulären Welt. In diesem Kontext ist ein Ding nicht nur eine reine Vielheit, <?page no="21"?> Ereignis und Gesetz 21 sondern existiert auch als Objekt in der Welt. Diese Unterscheidung zwischen dem Sein als Sein und der Existenz, die zugleich eine Unterscheidung zwischen einem Ding und einem Objekt ist, ist grundlegend. Man muss sich stets daran erinnern: Eine Vielheit ist als solche - in einem mathematischen oder ontologischen Kontext - und sie existiert bzw. erscheint in einer konkreten Welt. Es ist deutlich, dass die Logik des Seins als Sein eine klassische ist. Der Grund dafür liegt darin, dass die Zusammensetzung einer reinen Vielheit extensional ist. Extensional bedeutet, dass der Unterschied zwischen zwei Vielheiten Punkt für Punkt definiert wird. Zwei Vielheiten sind dann und nur dann verschieden, wenn es ein Element der einen Vielheit gibt, das kein Element der anderen ist. Hier finden die beiden klassischen Prinzipien unmittelbar Anwendung. 1) A wird als Vielheit oder Menge definiert. Nicht-A wird als die Menge aller Elemente definiert, die nicht zu A gehören. Das Ergebnis - gemäß der Extensionalität - lautet, dass Nicht-A von A absolut verschieden ist. A und Nicht-A haben nichts gemein. Folglich ist es unmöglich, etwas zu finden, das zugleich in A und in Nicht-A ist. Es gilt der Satz vom Widerspruch. 2) Jedes Element, das nicht in A ist, ist in Nicht-A, per Definition von Nicht-A. Folglich gibt es keine dritte Möglichkeit: Etwas ist entweder in A oder in Nicht-A. Es gilt der Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Nun präsentieren Erscheinen und Existenz einen ganz anderen Fall. In einer bestimmten Welt kann eine Vielheit mehr oder weniger erscheinen. Eine Vielheit kann im Licht oder auch im Schatten stehen. Eine Vielheit kann in der Welt mit stupider Intensität oder fürchterlicher Schwäche existieren. Häufig sind wir mit einer Unendlichkeit von verschiedenen Erscheinungsgraden und folglich von Existenzgraden konfrontiert. Es gibt eine Art Univozität des Seins, aber eine Äquivozität der Existenz. Gewiss gilt der Satz vom Widerspruch, weil eine Vielheit in der gleichen Welt nicht zugleich existieren und nicht existieren kann. Aber der Satz vom ausgeschlossenen Dritten gilt nicht allgemein. Nehmen wir einen maximalen Existenzgrad an, der das deutliche und vollständige Erscheinen einer Vielheit in einer konkreten Welt bestätigt. Und nehmen wir einen minimalen Existenzgrad an, der anzeigt, dass eine Vielheit in der Welt ist, aber nicht in Erscheinung tritt bzw. in dieser Welt nicht wirklich existiert. Zwischen diesen beiden Extremwerten findet sich häufig eine unendliche Anzahl von Mittelwerten, die belegen, dass eine Vielheit in der Welt weder absolut erscheint noch vollständig verschwindet. Wenn also A ‚erscheint’ und Nicht-A ‚nicht erscheint’, dann lässt sich die Wahl nicht auf ‚A oder Nicht-A’ reduzieren. Wir haben die Wahl zwischen vielen dritten Möglichkeiten. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten gilt nicht. Dies ist ein sehr wichtiges Ergebnis: Die Logik des Seins als solchem ist klassisch; die Logik des Erscheinens oder der Existenz ist intuitionistisch. Wenn also das große Feld des Gesetzes sich stets auf eine konkrete Welt (oder eine konkrete Konstruktion) bezieht, dann ist seine Logik nichtklas- <?page no="22"?> Alain Badiou 22 sisch. Verstehen wir ‚Gesetz’ im rein legalen Sinne, so wissen wir dies genau. Ist die Aussage A ‚schuldig’ und Nicht-A ‚unschuldig’, so besteht eine große Zahl von Mittelwerten wie ‚schuldig mit mildernden Umständen’ oder ‚unschuldig, weil sicher schuldig, aber ohne ausreichende Beweise’ usw. Einige der Filme von Alfred Hitchcock sind diesem düsteren Raum gewidmet, der sich zwischen vollständiger Unschuld und erwiesener Schuld öffnet. Die Schlussfolgerung würde lauten: Der wahre philosophische Gegenstand dieser Filme ist, dass die Logik der Existenz nicht klassisch, sondern intuitionistisch ist. Und aus diesem Grund ist die Negation im Erscheinen schwächer als im reinen Sein. Wenn ich in der mathematischen Ontologie sage: Die Menge A ist von der Menge Nicht-A verschieden, dann ist dies im Kontext der klassischen Logik absolut wahr. Wenn ich aber in einer konkreten Welt sage: „Ich bin unschuldig“, dann ist dies vielleicht wahr, aber praktisch nie absolut wahr. Denn jeder ist mehr oder weniger schuldig. Es war eine große Erfindung von Judentum und Christentum, diesen Punkt durch die Theorie der Erbsünde und der Erlösung zu formalisieren. Jeder ist aus dem irdischen Paradies vertrieben, denn jeder ist schuldig. Jeder kann errettet werden und ins himmlische Paradies eintreten, denn Christus ist unschuldig. Gewiss gehört Gott als solcher in den Bereich der klassischen Logik: Zwischen seiner Existenz und seiner Inexistenz gibt es keine dritte Möglichkeit. Die religiöse Logik ist hingegen klar intuitionistisch. Der wichtigste Beweis ist die Erfindung des Purgatoriums durch die subtilen Denker des 13. Jahrhunderts. Ihnen war der Gegensatz zwischen Himmel und Hölle in logischer Hinsicht zu klassisch. Und in der Tat eröffnet sich mit dem Purgatorium ein sehr großer Raum für die dritte Möglichkeit. Der Grund dafür ist, dass Gott ein ontologisches Konzept ist, während die Religion eine Frage der menschlichen Existenz in einer konkreten Welt darstellt. An dieser Stelle müssen wir den dritten grundlegenden Begriff betrachten. Neben dem Sein - als reiner Vielheit gemäß der klassischen Logik - und der Existenz - als Erscheinen in der Welt gemäß der intuitionistischen Logik - steht das Ereignis als schöpferische Neuheit gemäß allen drei Logiken: klassisch, intuitionistisch und parakonsistent. Die Details erweisen sich hier als etwas komplexer. Um sie vollständig darzulegen, müssen wir zunächst auf der ontologischen Ebene ein Ereignis definieren: Welche Art von Vielheit ist ein Ereignis (vgl. L’être et l’événement)? Sodann müssen wir ein Ereignis auf der phänomenologischen oder existenziellen Ebene definieren: Wie erscheint ein Ereignis in einer bestimmten Welt (vgl. Logiques des mondes)? Ich vereinfache diesen immensen Gegenstand an dieser Stelle stark, indem ich Folgendes sage: Ein Ereignis ist ein plötzlicher Bruch in den Regeln des Erscheinens, ein Wandel der Existenzgrade einer großen Zahl von Vielheiten, die in einer Welt erscheinen. Der entscheidende Punkt ist der Wandel von der minimalen Intensität, in der ein Ding existierte, zu einer tatsächlichen, positiven Intensität. So z.B. die <?page no="23"?> Ereignis und Gesetz 23 politische Existenz armer Arbeiter in einem revolutionären Ereignis oder die formale Existenz abstrakter Figuren in einem modernen Kunstereignis usw. Ich nenne eine Vielheit, die in einer bestimmten Welt mit dem minimalen Intensitätsgrad erscheint, ein ‚Inexistentes’ dieser Welt, etwas, das in dieser Welt als nichts erscheint. Die Frage des Ereignisses ist die folgende: Welches ist das Schicksal eines Inexistenten der Welt nach dem Ereignis? Was wird aus dem armen Arbeiter nach der Revolution? Sind die abstrakten Figuren, die vor dem künstlerischen Ereignis in einem Kunstwerk nicht annehmbar waren, nun zu einem wesentlichen Mittel der Kreation geworden? Hier gibt es drei Möglichkeiten: 1) Die Kraft des Wandels ist maximal. Dies lässt sich folgendermaßen überprüfen: Unter den Folgen dieses Wandels befindet sich der maximale Wert, die maximale Existenzintensität eines Objektes, das ein Inexistentes war bzw. mit dem minimalen Intensitätsgrad erschien. Der arme Arbeiter, der vor der Revolution im politischen Feld als nichts erschien, wird der neue Held dieses Feldes. Das abstrakte Gemälde, das vor einer künstlerischen Revolution eine rein dekorative Funktion hatte, wird zu einem wesentlichen Gegenstand der Kunstgeschichte usw. In diesem Fall ist das logische Gerüst von Ereignis und Wahrheit ein klassisches. Warum? Weil es keine Wirkung gibt, die stärker ist als ihre Ursache. Also nur wenn die Existenz des Ereignisses selbst maximal ist, kann sich die Minimalität eines Inexistenten in Maximalität wandeln. Die ganze Welt - vom Standpunkt des Ereignisses und seiner Folgen - reduziert sich formal auf die Dualität von maximaler Intensität und minimaler Intensität (oder Inexistenz). Und diese Art Welt, die nur zwei Intensitätsgrade kennt, ist immer klassisch. Wir sagen in diesem Fall, dass der Wandel ein wahres Ereignis ist - oder einfach, wenn der Kontext klar ist, dass der Wandel ein Ereignis ist. 2) Die Kraft des Wandels ist von mittlerer Intensität, weder maximal noch minimal. Dies erweist sich daran, dass das Inexistente einen mittleren Wert annimmt, größer als der Minimalwert, kleiner als der Maximalwert. Der arme Arbeiter erscheint im politischen Feld, aber nicht im Geringsten als dessen neuer Held. Die abstrakten Figuren können in der Malerei Verwendung finden, sind aber nicht besonders wichtig. In diesem Fall ist das logische Gerüst des Ereignisses und seiner Folgen klar intuitionistisch. Ein Ereignis ist nicht zwangsläufig von maximaler Intensität. Das Inexistente kann z.B. einen neuen mittleren Wert annehmen, der mit dem Wert des Ereignisses übereinstimmt. Die Stärke des Ereignisses ist nicht festgelegt. So können an die Stelle des Ereignisses andere moderate Wandel treten. Zwischen dem Ereignis und dem traurigen „Nichts geschieht“ existieren viele verschiedene Möglichkeiten. Wir können sagen, dass eine revolutionäre Politik klassisch ist, eine Reformpolitik jedoch intuitionistisch. Ich nenne diesen Wandel eine „schwache Singularität“. Das bedeutet, dass etwas passiert, aber ohne radikale Wirkungen und im allgemeinen Respekt für die Hierarchie der Erscheinungsgrade in der Welt. <?page no="24"?> Alain Badiou 24 3) Die Kraft des Wandels ist auf der Ebene des Inexistenten nicht wahrnehmbar. Nach dem Wandel ist der Existenzgrad aller Inexistenten der Welt immer noch minimal. Der arme Arbeiter ist im politischen Feld nichts mehr als ein armer Arbeiter, gegenüber der Repräsentation bleibt die Abstraktion nichtig usw. Hier ist das logische Gerüst parakonsistent. Warum? Weil es eine Art Ununterscheidbarkeit zwischen Ereignis und Nichtereignis geben kann: Etwas geschieht, jedoch bleibt vom Standpunkt der Welt aus gesehen alles identisch. Hier finden sich gleichzeitig Ereignis und Nichtereignis. Und es gibt keine neuen Werte zwischen Affirmation und Negation, da die Welt genau die gleiche geblieben ist. Somit gilt der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, aber nicht der Satz vom Widerspruch. Und wir erhalten eine parakonsistente Logik. Wir sprechen in diesem Fall von einem falschen Ereignis oder einem Simulakrum. Die Lektion ist die folgende: Wenn die Welt intuitionistisch ist, dann muss ein wahrer Wandel klassisch und ein falscher Wandel parakonsistent sein. Daher ist die Beziehung zwischen Gesetz und Ereignis nur verständlich, wenn wir deutlich zwischen den drei Bedeutungen der Negation unterscheiden. Eine Wahrheit - als Menge von Folgen eines Wandels - ist in einem klassischen Kontext mit Sicherheit transgressiv. Ist aber der Kontext intuitionistisch, fährt die Welt mit den gleichen allgemeinen Gesetzen und einigen Differenzen in der Anwendung fort. Ist der Kontext schließlich parakonsistent, erweist sich der Wandel als reine Fiktion. Schließen wir mit einer logischen Übung in Bezug auf die Politik. Nehmen Sie den Gegenstand ‚Präsidentschaftswahl’, z.B. in Frankreich letztes Jahr oder in den Vereinigten Staaten dieses Jahr. Sind solche Wahlen Ereignisse? Enthalten sie eine politische Wahrheit? Fragen wir uns, welches der logische Kontext ist. Es ist sicher nicht der klassische. Niemand denkt, dass mit Nicolas Sarkozy der arme maghrebinische Arbeiter zum neuen Helden geworden ist oder mit Barack Obama der arme mexikanische Arbeiter zum neuen Helden werden wird. So bleibt die Wahl zwischen intuitionistisch und parakonsistent. Meine persönliche Überzeugung ist, dass Wahlen heute in unserer Welt immer von dritten Typ sind: falsche Ereignisse. Parakonsistent! Sie erscheinen wie ein Gegensatz, sind aber identisch. Es ist jedoch bekannt, dass ich politisch äußerst links bin. Ihnen bleibt nach allem die Möglichkeit, couragierte Intuitionistinnen und Intuitionisten zu sein. Aus dem Französischen und dem Englischen von Gernot Kamecke <?page no="25"?> Ereignis und Gesetz 25 Anhang: Formalisierte Präsentation der drei Bedeutungen der Negation Symbole: ~ : Negation ^ : und v : oder : Es ist möglich, dass… A : Aussage Die drei Negationen: Logiken Widerspruch ausgeschlossener Dritter Klassisch ~ (A ^ ~A) (A v ~A) Intuitionistisch ~ (A ^ ~A) [~ (A v ~A)] Parakonsistent (A ^ ~A) (A v ~A) <?page no="27"?> I. Philosophische Anknüpfungen <?page no="29"?> Oliver Feltham Badiou und Deleuze: ein oder zwei Begriffe des Ereignisses? Drei verschiedene Momente können in der Beziehung zwischen Ereignis und Institution in der französischen Gegenwartsphilosophie unterschieden werden. 1 Das erste Moment ist die Kritik von Institutionen im Namen von Differenz und Begehren. Hier sind die Arbeiten von Foucault, Lyotard sowie Deleuze und Guattari 2 zu nennen. Bei jedem dieser Autoren wird eine Institution dafür kritisiert, dass sie der Existenz künstliche Normen auferlegt, dass sie anderen Existenzweisen die Anerkennung versagt und folglich alle als ‚anormal’ beurteilten gesellschaftlichen und psychischen Phänomene heilt, anpasst oder minimiert. Der korrespondierende Status des Ereignisses wird am besten durch den aristotelischen Term tuche charakterisiert, der in der Physik verwendet wird und den das Französische mit hasard, das Englische mit chance übersetzt. 3 Das Ereignis als tuche stößt einer präexistenten Institution zu, die sich entweder weigert, seinen Eintritt als relevant anzuerkennen, oder die das Ereignis bewältigt, indem sie es isoliert, anpasst oder falsch kategorisiert. Die Institution reduziert das Ereignis auf den Status eines Akzidens, bestimmt seine Modalität als Kontingenz und seine Herkunft extern aus der Umwelt. 4 Die daraus resultierende Beziehung zum Ereignis seitens der Institution ist eine der Indifferenz. In seinem Essay Force de loi kritisiert Derrida genau eine solche Institution und bietet den Begriff des Ereignisses dagegen auf. 5 Er legt dar, dass es ein Gründungsereignis gibt, welches - verdrängt - im Herzen einer Institution liegt. In der Institution des Rechts, die ihn interessiert, ist dieses Ereignis mit einer originären Gewalt verbunden, der Gewalt der ursprünglichen Instituierung des 1 Diese Momente bilden keine chronologische Ordnung, mitunter begegnen sie innerhalb desselben Werks. 2 Etwa Michel Foucaults kritische Genealogien der Psychiatrie, der Klinik und des Strafsystems; Jean-François Lyotards Kritik des theoretischen Wissens im Namen einer libidinösen Ökonomie; Deleuzes und Guattaris Kritik der ödipalisierten Psychoanalyse im Namen der Wunschmaschinen. 3 Vgl. Aristoteles, Physik, Buch II, Abschnitt 4-6. 4 Die Unterscheidung von Ereignissen und Akzidenzien ist grundlegend für diese Untersuchung. Aristoteles behauptet in seiner Analyse der Ursachen der Veränderung offenbar, dass ein Attribut ein Akzidens sei, und zwar als Funktion seiner Beziehung zu dem, was in Frage steht (Physik, Buch II, Abschnitt 3). Zum Beispiel sei der Bildhauer, der Polyklet heißt, ein Akzidens vom Standpunkt des Bildhauers als Herstellungsursache der Statue. 5 Vgl. Derrida 1990. <?page no="30"?> Oliver Feltham 30 Rechts. 6 Dies lässt sich als ein genetisches Argument verallgemeinern: Es kann keine Institution ohne ein originäres Gründungsereignis geben. Das erste Moment von Institution und Ereignis in der französischen Gegenwartsphilosophie besteht daher im Übergang von der ereignisindifferenten Institution zur Instituierung eines ursprünglich unerreichbaren Ereignisses. Dabei ist zu beachten, dass in der gegenwärtigen Ära der Privatisierung öffentlicher Dienste und des Netzwerk-Kapitalismus, der flexiblen Arbeitskraft, der Just-in-time-Produktion und der augenblicklichen Anpassung an die Marktbewegungen, die starre Opposition von Institution und Ereignis aktualisiert werden muss. Das zweite Moment ist die Emergenz des Ereignisses als zentraler Gegenstand der Theorie: von Deleuzes Logique du sens (1969) über Badious L’être et l’événement (1988) zu Derridas Spectres de Marx (1992). 7 Was diese Texte gemein haben, ist der Versuch, die starre Opposition von Ereignis und Institution aufzulösen oder außer Kraft zu setzen: Ereignisse und Institutionen sind für diese Denker in gewisser Weise koextensiv. Für Deleuze ist die Institution in ihrem Sein selbst nicht als mehr oder minder statischer Satz von Regeln und Prozeduren zu denken, sondern als kontinuierliches Ereignis, als kontinuierliches Geschehen. 8 Das dritte Moment bei der Befragung des Verhältnisses von Ereignis und Institution in der französischen Philosophie ist ein Moment der Konstruktion, das Durchdenken der Arten der Institutionen und Praktiken, die Ereignisse aufrechterhalten, erweitern und vergrößern können: Badious generische Wahrheitsprozedur, die nomadische Kriegsmaschine von Deleuze und Guattari, aber auch Experimente des philosophischen Schreibens, wie Derridas Glas. In jedem dieser Fälle geht es darum, zwei verschiedene Prozesse zusammenzudenken - einen Prozess der Dissemination oder Deterritorialisierung und einen Prozess des Schreibens oder der Reterritorialisierung -, und zwar ohne sie in negative und positive Phasen aufzuteilen. 9 Der Begriff einer Institution als ‚Erweiterung’ eines Ereignisses kennt zwei Seiten. Die erste nimmt die Französische Revolution als Modell: Ein Ereignis erzeugt neue Institutionen, die dessen Elan, Kraft und Versprechen zu bewahren 6 Diese Gewalt geht somit der Unterscheidung von legaler und illegaler Gewalt voraus. Die Argumentation reformuliert die Theorie des Gesellschaftsvertrags: Nicht der Naturzustand beinhaltet Gewalt, sondern der Akt des Souveräns, des Gesetzgebers, der den Sozialvertrag instituiert. 7 Natürlich müsste man die Folge dieser Texte zurückdatieren, wenn man Heideggers zwischen 1936 und 1938 entstandene Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) hinzunimmt. 8 Das sagt nicht dasselbe wie „alles fließt“: Man darf sich nicht einer allumfassenden Einheit von Ereignissen in einem allgemeinen Werden überlassen: Eine Institution kann als eine besondere Menge, als Wolke, als Schwarm, als Einbindung von multiplen und diskreten Ereignissen verstanden werden. Luhmanns Systemtheorie wäre als eine besondere Variation dieses Themas zu verstehen. Vgl. Luhmann 1998. 9 In Spectres de Marx sagt Derrida, dass Dekonstruktion ein Ereignis sei. In La communauté désœuvrée sagt Jean-Luc Nancy, dass Gemeinschaft kein Werk sei, sondern nur als „Entwerkung“ stattfinden könne. <?page no="31"?> Badiou und Deleuze 31 suchen. 10 Die zweite Seite dieses Begriffs ist die Institution, die auf die Produktion von Ereignissen ausgerichtet ist: Das ist die Wirkung einer nomadischen Kriegsmaschine, wenn sie in neues Territorium eindringt, das ist die Wirkung eines Manifests oder eines Happenings. Das dritte Moment der französischen Philosophie ist also präskriptiv und deskriptiv zugleich: Es versucht, die Institution und das Ereignis praktisch koextensiv werden zu lassen, es ist darauf aus, eine Institution als Ereignis zu denken. Mit anderen Worten: Durch das Ereignis entsteht für die französische Philosophie ein dreifaches Problem: 1) das Problem, die Mannigfaltigkeit gegen die Institutionen zu denken, die im weitesten Sinne als regionale Kräfte der Vereinigung betrachtet werden; 2) das Problem der Zentralität des Ereignisses im Gegensatz zu seiner Wertung als marginales oder supplementäres Moment bei der Ausarbeitung einer Ontologie; 3) das Problem der Konstruierbarkeit des Ereignisses, der Konstruktion eines Begriffs, der gleichermaßen die Einführung wie den Bestand des Ereignisses begründen kann. Dieser Essay wird sich auf die Konstruierbarkeit des Ereignisses in den Philosophien von Alain Badiou und Gilles Deleuze konzentrieren. 11 1 Die Stimme der Doxa Der Vergleich der Philosophien von Deleuze und Badiou ist zu einem Gemeinplatz der Kommentare im Feld der gegenwärtigen französischen Philosophie geworden, zumindest seit dem Erscheinen von Badious Deleuze (1997) und seiner englischen Übersetzung drei Jahre später. 12 Dieser Gemeinplatz hat eine Batterie von sekundären Gemeinplätzen errichtet: „Deleuze ist oder ist nicht der Denker des Einen“, „Badiou ist oder ist nicht ein analogischer Denker“, „Badiou hat Deleuzes Begriff der Univozität und seine Problematik nicht verstanden“, „Badious Paradigma ist das stellare Mathem, wohingegen Deleuzes Paradigma vitalistisch ist“. Der Gemeinplatz der Gemeinplätze lautet demnach, dass Badiou und Deleuze verschiedene Philosophien haben. Mit Blick auf unseren Zusammenhang würde dies bedeuten, dass sie verschiedene Begriffe des Ereignisses besitzen. Warum sollten wir aber von einer solchen Annahme ausgehen? Eine Untersuchung über das Ereignis im Werk von Badiou und Deleuze zu beginnen und stillschweigend zu unterstellen, das Ergebnis werde auf zwei verschiedene Be- 10 Die Auswirkungen solcher Institutionen übersteigen zwangsläufig die vulgär utilitaristischen Kriterien von Erfolg und Scheitern. Dies gibt den Einsatz für Sartres Untersuchung des Problems der Verknöcherung und graduellen Trägheit revolutionärer Gruppen in der Critique de la raison dialectique. 11 Ich beziehe mich vor allem auf Badiou 1988 [2005 (a), 2005 (b)] sowie Deleuze 1969 [1993], hier insbesondere die 5., 6., 8., 11. und 12. sowie die 21. bis 24. „Serie der Paradoxa“. 12 Badiou 1997 sowie Badiou 2000. <?page no="32"?> Oliver Feltham 32 griffe des Ereignisses hinauslaufen, würde den Namen und ihrer materiellen Inschrift auf den Einbänden gewisser Bücher zu viel Macht einräumen. Aber man wird sagen: Im Kern der Sache haben Badiou und Deleuze verschiedene Begriffe des Ereignisses, weil das Ereignis auf vielerlei Weise ‚ausgesagt’ wird - entsprechend der Ontologie, der Kausalität, der Häufigkeit, Zeitlichkeit, Sprache, Identität sowie der Einheit oder Vielheit. Jeder dieser Wege stellt eine Kategorie des Ereignisses dar, und in jeder Kategorie finden wir entgegengesetzte Aussagen von Badiou und Deleuze. Das ist die Stimme der Doxa: Sie differenziert bei Badiou und Deleuze sieben orthodoxe Sätze, einen für jede Kategorie. Satz 1, die Ontologie betreffend: Für Badiou ist das Ereignis aus dem Feld der Ontologie ausgeschlossen, es bildet einen Punkt der Unmöglichkeit für die Mengenlehre, während für Deleuze das Ereignis der ultimative Terminus seiner Ontologie ist, ein Name des Seins. Satz 2, die Kausalität betreffend: Für Badiou ist das Ereignis eine punktuelle Ursache, ohne eine Wirkung zu sein, da es keinen Ursprung hat, während für Deleuze, infolge seiner Aneignung der stoischen Ontologie, das Ereignis eine Wirkung ist, eine Menge von Wirkungen, ohne eine Ursache zu sein. Satz 3, die Häufigkeit betreffend: Für Badiou ist das Ereignis selten, es kommt nur in besonderen Situationen vor, während das Ereignis für Deleuze ubiquitär und allgegenwärtig ist. Satz 4, über Zeitlichkeit: Für Deleuze hat das Ereignis ein eigenes zeitliches Register, das des Aion, von unendlich teilbarer Vergangenheit und Zukunft, weshalb das Ereignis immer schon stattgefunden hat und dennoch ein kommendes bleibt. Für Badiou hingegen schafft das Ereignis eine neue, erweiterte Gegenwart und gehört nicht zu irgendeiner originären Situation oder einem zeitlichen Register, da es materiell einzig und allein der Situation eingeschrieben ist, in der es vorkommt. Satz 5, über Sprache: Deleuze verankert seine Konzeption des Ereignisses in der stoischen Philosophie der Sprache und in der strukturalistischen Theorie der Zeichen. Dagegen versucht Badiou mit dem zu brechen, was er als das strukturalistische Postulat des Primats der symbolischen Ordnung vor der Existenz ansieht: Er denkt die Struktur des Ereignisses unabhängig von der natürlichen Sprache. Satz 6, über Identität: Im Denken von Deleuze hat das Ereignis keine prädizierbare Identität, vielmehr destabilisiert es Identität. Bei Badiou hat das Ereignis eine besondere Identität, weil es teilweise von Elementen einer ereignishaften Stätte in einer Situation konstituiert wird. Satz 7, die Einheit und die Mannigfaltigkeit betreffend: Die äußerste Bestimmung des bejahenden Denkens des Ereignisses ist für Deleuze die Annahme, dass es nur ein und dasselbe Ereignis gibt, in dem alle Ereignisse kommunizieren. In Badious Philosophie der Bedingungen bleiben disparate Ereignisse disparat, spezifisch und mannigfaltig: Es gibt kein allumfassendes Ereignis. In Badious Augen würde ein solches Ereignis die Theologie wieder einführen. <?page no="33"?> Badiou und Deleuze 33 Diese sieben orthodoxen Sätze gründen ihrerseits wiederum in einem allgemeinen Vergleich von Deleuze und Badiou in Hinsicht auf ihr ‚Projekt’. Deleuzes Projekt will zeigen, dass der Strukturalismus insofern ein epochales Moment in der Geschichte des Denkens darstellt, als er eine Theorie des Sinns ausarbeitet, welche den Sinn von seiner Überbestimmung - in Kants oder Husserls transzendentaler Philosophie - durch die Formen des Gemeinsinns und des gesunden Menschenverstandes befreit. Badious Projekt hingegen will eine postmarxistische Theorie struktureller Veränderung entwickeln, die mit einer mathematischen Ontologie vereinbar ist und das Auftauchen neuen Wissens in so verschiedenen Feldern wie Kunst, Politik, Wissenschaft und Liebe modellieren kann. Wenn wir aber Logique du sens und L’être et l’événement genau lesen, wird deutlich, dass diese beiden Philosophen in ihren verschiedenen Entwürfen dieselbe Problematik teilen: wie nämlich das Ereignis vom Status eines Akzidens zu befreien ist, ohne es in eine Essenz zu verwandeln. Ein Akzidens ist, in aristotelischer Sprache, ein äußerliches Attribut einer Substanz, häufig relativ zum Standpunkt, von dem aus die Substanz wahrgenommen wird - mein Haus (die Wohnung, die ich miete) wurde von Callios gebaut, Callios ist ein Hausbauer und kennt daher die Form des Hauses im Modus der Möglichkeit. Zudem ist Callios auch musikalisch. Callios’ Musikalität ist - für Aristoteles - akzidenziell für das Erbauen eines Hauses. Überdies kann das Haus definiert bzw. zum Gegenstand der Rede werden, ohne Erwähnung von Callios’ Musikalität: Die Essenz ist daher den Akzidenzien gegenüber indifferent. Doch nicht nur dasselbe Problem - das Ereignis weder als Akzidens noch als Essenz zu denken - wird von diesen beiden Denkern geteilt, sie teilen auch dieselbe Strategie, die ganz einfach die ist, das Ereignis fortdauern zu lassen; Wege zu finden, sein bloßes Stattfinden und Geschehen zu erweitern und zu vergrößern; es vor dem sofortigen Verschwinden zu bewahren, seine Flüchtigkeit in eine anhaltende Wirkung zu verwandeln. Wenn die beiden Philosophen ein Problem und eine generelle Strategie teilen, so ist aber ihre Taktik doch verschieden. Hier müssen wir ins Detail gehen. Vier Taktiken lassen sich identifizieren, um das Ereignis fortdauern zu lassen: Ich beginne mit der Taktik von Deleuze, stelle ihr die von Badiou gegenüber und bilde eine Schnittmenge, sobald Probleme auftauchen. 2 Taktiken 2.1 ‚Idealität’ vs. raum-zeitliche Aktualisierung des Ereignisses Die erste Taktik besteht darin, die ‚Idealität’ des Ereignisses von seiner raum-zeitlichen Aktualisierung zu trennen. In Logik des Sinns ist dies eine von Deleuzes expliziten Taktiken. Der Effekt einer solchen Teilung besteht darin, die mögliche Wiederholung und Erweiterung des Ereignisses über <?page no="34"?> Oliver Feltham 34 sein anfängliches punktuelles Vorkommen hinaus zu garantieren. Die Idealität eines Ereignisses kann durch dessen bloßes Vorkommen nicht erschöpft werden. In einer Bewegung, die für einen vermeintlich antiplatonischen Philosophen merkwürdig ist, generiert Deleuze eine Autonomie des Ereignisses, indem er es paradoxerweise von seiner Ereignishaftigkeit ablöst, d.h. von seiner Eigenschaft, an einem besonderen Ort ‚stattzufinden’. Doch für Deleuze ist das Ereignis nicht nur eine unabhängige Idealität, sondern auch deren Verkörperung durch handelnde Körper, und dementsprechend abhängig. Für Badiou ist das Ereignis buchstäblich nichts außerhalb seiner raum-zeitlichen Aktualisierung als Vielheit - wenn es nicht an einem spezifischen Ort benannt wird, „erscheint es“, wie er sagt, „ebenso wie es verschwindet“. Da das Ereignis in einer spezifischen historischen Situation stattfindet, ist es von der stabilen Registrierung oder Repräsentation seiner raum-zeitlichen Aktualisierung strikt getrennt. Deshalb ist ein benanntes Ereignis für Badiou äußerst instabil in seiner Identität, es bildet einen opaken Punkt und ein Rätsel für das, was er die „Verfassung“ der Situation nennt. Überdies kann es, hypothetisch, auf verschiedene Weisen benannt werden. Folglich trennt Badiou das Ereignis von seinen Aktualisierungen: Das Ereignis ist nicht dasselbe wie das benannte Ereignis des Eingriffs. 2.2 Ein unabhängiges ontologisches Register Die zweite Taktik besteht darin, dem Ereignis ein unabhängiges ontologisches Register zuzuweisen. Deleuze entwickelt seine eigene Version der stoischen Ontologie, die zwei Bereiche separiert: Der erste ist der Bereich der Körper und Zustände, wo Körper aufeinander einwirken und ihre gegenseitigen Handlungen als Ursachen erleiden; der zweite ist der Bereich der Ereignisse oder Attribute, die sprachlich durch infinite Verbformen angezeigt werden. Der Baum ist ein Körper, und es gibt eine Durchdringung der Licht- Energie und des Chlorophylls, das zur Wirkung führt bzw. zum Ereignis des „grünenden“ Baums: „Grünen“ ist ein Ereignis, das dem Körper „Baum“ attribuiert wird. Ereignisse sind daher nicht nur getrennt von irgendeiner besonderen raum-zeitlichen Verwirklichung im Stand der Dinge, sie verfügen über ihr eigenes konsistentes ontologisches Register, das Register der Oberflächen. Außerdem entspricht die Trennung von Körpern und Ereignissen, oder Ursachen und Wirkungen, zwei verschiedenen Formen von Zeitlichkeit. Die Zeitlichkeit der Körper und ihrer gegenseitigen Durchdringung ist die des Chronos, dessen vorherrschender Modus die unteilbare Gegenwart ist. Demgegenüber ist die Zeit der Ereignisse die des Aion, die durch eine unendliche Teilbarkeit der Gegenwart in Vergangenheit und Zukunft charakterisiert ist, bis hin zum Punkt, an dem es keine Gegenwart, sondern nur noch eine kontinuierliche Kommunikation zwischen Vergangenheit und Zukunft gibt. Dadurch wird das Ereignis von einem punktuellen Vorkommen zu einer originären Ineinanderfügung (emboîtement) von mehreren ‚Abschnitten’ der Zeit, die wie russische Puppen ineinanderste- <?page no="35"?> Badiou und Deleuze 35 cken. Mit der Konstruktion dieser zeitlichen Expansion des Ereignisses macht Deleuze aus dem Ereignis zudem ein Äquivalent eines jeden Prozesses nicht fixierter Veränderung. Er tut dies mittels einer Analyse der paradoxen Ereignisse, die Alice im Wunderland erlebt, wie das Wachsen in zwei verschiedene Richtungen zugleich. Das Ereignis wird gleichbedeutend mit dem, was Deleuze „Werden“ nennt, wobei Werden eine Modalität von Veränderung ist, die ohne festen Anfangs- und Endpunkt und so ohne Maß bleibt. Findet sich irgendetwas von dieser Taktik bei Badiou? Zunächst einmal, auch wenn der oben angeführte Satz 4 zur Stimme der Doxa gehört: Badiou lässt keinen ontologischen Bereich zu, der von den unendlichen Vielheiten getrennt wäre. Es gibt nur unendliche Vielheiten; zwar können einige von ihnen zeitliche Situationen schematisieren, aber keine dieser zeitlichen Situationen hat irgendein Privileg vor anderen Situationen. Mit anderen Worten: In Badious Ontologie wirft die Zeit keinen Schatten über das Sein. In einer „geschichtlichen Situation“ jedoch konstituiert ein Ereignis - wenn es benannt und eine generische Wahrheitsprozedur initiiert wird - eine epochale Markierung der Zeitlichkeit, die der Situation immanent ist. Zudem gibt es eine spezifische Zeitlichkeit der Wahrheitsprozedur, die vergangene Zukunft (Futur II), die auf spezifische Weise mit der Tätigkeit verbunden ist, die in Badious Sprache „Erzwingung“ (forcing) heißt. Die Erzwingung ist eine Technik, die dazu dient, neues Wissen über die kommende Situation zu schaffen, über eine erweiterte Situation, die das Ereignis angenommen haben wird. Durch Erzwingung werden Kriterien der Entscheidung darüber entwickelt, welche Aussagen über die neue Situation wahr gewesen sein werden, in Anbetracht des Fortschritts der Untersuchungen über die Folgen des Ereignisses. Deshalb kommt es in Badious Philosophie zu einem beständigen Kreisen zwischen Zukunft und Vergangenheit bei der Ausarbeitung der Wirkungen des Ereignisses - in der konkreten, kontingenten, möglichen Erweiterung des Ereignisses. Auf diese Weise macht Badiou, wie Deleuze, das Ereignis zum Äquivalent eines Prozesses der Veränderung, und zwar einer sehr besonderen Form der Veränderung, nämlich einer „generischen Wahrheitsprozedur“, die nichts anderes ist als die kontinuierliche Erweitung der Identität eines Ereignisses, eine Erweiterung seiner Wirkungen durch die ganze Situation hindurch. Anders als in Deleuzes Ausprägung dieser Taktik bewilligt sich Badiou kein eigenes ontologisches Register, in dem Ereignisse unmittelbar und automatisch gleichbedeutend mit Veränderung wären. Dies erscheint ein wenig so, wie ein Kaninchen aus dem Hut zu ziehen. Gleichwohl ist es durchaus möglich zu argumentieren, dass der Status der Philosophie im Denken Badious präzise der eines Registers von Ereignissen durch Veränderung ist. Gewiss, dieses Register ist weder in seiner Existenz noch in seiner Identität garantiert, denn für Badiou existiert Philosophie nicht ohne die Kompossibilität von Ereignissen. <?page no="36"?> Oliver Feltham 36 2.3 Die Destabilisierung der Struktur Die dritte Taktik, ein Ereignis fortdauern zu lassen, besteht darin, das Ereignis in eine Destabilisierung der Struktur zu überführen. Badiou, um mit ihm zu beginnen, wendet diese Taktik insofern an, als das Ereignis an einem besonderen Punkt der Situation vorkommt, nämlich der „Ereignisstätte“, die bereits einen Punkt der Dysfunktionalität und Opazität für die Verfassung der Situation darstellt: Keines der Elemente der Stätte gehört zur Situation, sodass die Stätte, in Badious Terminologie, nicht durch die Verfassung der Situation repräsentiert, sondern lediglich präsentiert wird. Sobald das Ereignis eintritt, vereinigt es die Elemente dieser Stätte zu einem Eigennamen, und dieses Duo ergibt für die Verfassung nicht den geringsten Sinn; aus der Perspektive der Repräsentation und ihrer Ordnungen unterbricht die Präsentation dieses Paares die Einheit der Situation. Deleuze denkt das Ereignis ebenfalls in Form des Paradoxes und des Unsinns. Eine der Formen, die der Unsinn annimmt, ist das Wort, das seinen eigenen Sinn aussagt. Anders als normale Wörter oder Namen besitzt es keinen unabhängigen Sinn, der durch ein anderes Wort ausgesagt werden könnte. Daher enthält der Unsinn-Name eine gewisse Selbstreflexivität. Eine andere Bedeutungsregel erkennt Deleuze darin, dass Namen verschiedene Grade besitzen und verschiedenen Ebenen von Eigenschaften oder Klassen entsprechen: „Jede Eigenschaft muss zu einem Typus gehören, der den Eigenschaften oder Individuen überlegen ist, auf die sie sich bezieht“. 13 Diese Bedeutungsregel kann wiederum als eine Regel gegen Selbstzugehörigkeit formuliert werden: „eine Menge kann sich nicht selbst als Element beinhalten“. 14 Deshalb ist die Struktur des Ereignisses als Unsinn bei Deleuze eine selbstreflexive Struktur. Aber was ist dies anderes als eben die Definition des Ereignisses bei Badiou? In Badious Argumentation ist es genau die Selbstreflexivität der Ereignis-Vielheit, die es aus dem Feld der mengentheoretischen Ontologie ausschließt. Daher garantieren beide, Deleuze wie Badiou, die strukturdestabilisierende Kraft des Ereignisses - was Deleuze die Struktur des Gemeinsinns und des gesunden Menschenverstandes nennt, die der Allianz Ich-Gott-Welt der transzendentalen Philosophie zugrunde liegt -, indem sie eine Form der Selbstreflexivität innerhalb des Ereignisses selbst entdecken. 2.4 Das Ereignis der Struktur Die vierte von Deleuze verwendete Taktik, das Ereignis fortdauern zu lassen, besteht in der Verwandlung des Ereignisses in etwas, was wir das Ereignis der Struktur nennen können. Mit anderen Worten, das Ereignis kann als die immanente Konstitution und Produktion von Struktur verstanden 13 Deleuze 1993: 94f. 14 Ebd.: 95. <?page no="37"?> Badiou und Deleuze 37 werden. Zu diesem Zweck identifiziert Deleuze das Ereignis mit dem, was Lacan den „Herrensignifikanten“ genannt hat, das paradoxe Element, das die beiden Serien der Signifikanten und Signifikate vereint und so eine Struktur bildet. So kommt es, dass der Entwurf des Ereignisses als Ereignis der Struktur die poststrukturalistische Lösung schlechthin für das Problem darstellt, das Ereignis vom Status eines Akzidens zu befreien. In der Tat ist dies eines der basalen Charakteristika des Poststrukturalismus. In La communauté desœuvrée entwickelt Jean-Luc Nancy eine Variation dieses Themas, indem er argumentiert, dass allein die ereignishafte Bloßlegung des grundlosen Seins einer Gemeinschaft - in einem Augenblick des „Entwerkens“ - das Hervorkommen einer Gemeinschaft erlaubt, die keine verschmolzene Gemeinschaft ist. In der Tat besteht die ursprüngliche Taktik des Strukturalismus darin, eine Ausnahme von der Struktur zu isolieren - für Derrida etwa das pharmakon - und sie dann in die Bedingung der Möglichkeit - und Unmöglichkeit - von Struktur zu verwandeln. Deleuze stellt Unsinn als solchen nicht allein als Ausnahme von den Gesetzen des Sinns dar, sondern als sinnerzeugend; er schreibt: „der Unsinn nimmt eine Sinnstiftung vor“. 15 Badiou hingegen - darin vom Poststrukturalismus abweichend - will es explizit vermeiden, das Ereignis als ereignishafte Konstitution einer Struktur zu denken. Ein junger, über den Poststrukturalismus unterrichteter Hochschulabsolvent, der zum ersten Mal L’être et l’événement liest, würde erwarten, dass Badiou die leere Menge - die Vernähung mit dem Sein der Situation - entweder mit der Ereignisstätte oder dem Ereignis selbst identifiziert. Um solche Erwartungen zu hegen, müsste der junge Graduierte nicht einmal ein Anhänger des Poststrukturalismus sein, es würde genügen, das frühere Buch Théorie du sujet gelesen zu haben, wo Badiou den für die Verwandlung der Strukturen verantwortlichen Punkt mit dem für die Generierung der Strukturen verantwortlichen Punkt identifiziert: das clinamen. 16 Doch in L’être et l’événement identifiziert er die Leere weder mit der Ereignisstätte noch mit dem Ereignis. Dennoch bleiben einige Spuren der poststrukturalistischen Lösung in Badious Denken: Wenn er sagt, dass das Ereignis vorübergehend die „Zählung-als-Eins“ (compte-pour-un) der Situation unterbricht und deren Sein als inkonsistente Mannigfaltigkeit herausstellt, kommt er Jean-Luc Nancys Argumentation in der Darlegung des Gemeinsam-Seins (être-en-commun) einer Gemeinschaft ohne Einheit sehr nah. 3 Das Problem des Dualismus Deleuze verwendet also vier Taktiken, um das Ereignis fortdauern zu lassen: Er trennt die Idealität des Ereignisses von seiner raum-zeitlichen Aktualisierung, er weist ihm ein unabhängiges ontologisches Register zu, er lässt die 15 Deleuze 1993: 96. 16 Vgl. dazu den Abschnitt „The problem of periodization“ im 2. Kapitel von Feltham 2008. <?page no="38"?> Oliver Feltham 38 Destabilisierung von Strukturen aus der Selbstreflexivität des Ereignisses hervorgehen und er erweitert seine Kraft, eine konsistente Struktur zu generieren. Durch den Gebrauch dieser Taktiken sieht sich Deleuze gezwungen, etwas anzunehmen, was wie eine Menge von ontologischen Dualismen aussieht: Hier finden sich der Dualismus von unkörperlichen Ereignissen und Körpern bzw. Körperzuständen, der Dualismus von Aion und Chronos als zwei Registern der Zeitlichkeit und natürlich der Dualismus der dualen Serien der Strukturalisten. Allgemein gesprochen wird der Dualismus für Deleuze deshalb zum Problem, weil er letztendlich ein Monist ist. Er hält daran fest, dass es in der Univozität des Seins keine unüberwindliche Kluft zwischen Denken und Sein gibt. Daher ist er gezwungen, eine Anzahl von begrifflichen Operatoren zu bestimmen, die es ihm erlauben, diese Dualismen zu vereinen. Für den Strukturalismus findet er einen solchen Operator im paradoxen Element (das exzessive Objekt/ das leere Feld). Daher ist es der Sinn selbst (das Äquivalent zum paradoxen Element), der die Serien der Dinge und Aussagen vereint. Darüber hinaus muss er einen Weg finden, um die verschiedenen Auflösungen der von ihm aufgestellten Dualismen wieder zu verbinden. Beispielsweise behauptet er in einem der dunkelsten - und hegelianischsten - Abschnitte im Text die Einheit und Identität des paradoxen Elements und des zeitlichen Registers des Aion. 17 Kein Zweifel: Diese Bemühungen, den durchgehenden Dualismus zugleich aufzulösen und zu überbrücken, sind mit dem verbunden, was Badiou als fundamentalen Dualismus von Deleuzes Philosophie diagnostiziert: das Paar des Aktuellen und des Virtuellen. 18 Aber es wäre falsch zu glauben, dass Badiou selbst den Verlockungen und Fallen des Dualismus entginge: Indem er das Ereignis als strikt unvereinbar mit der Ontologie und trotzdem als Vielheit denkt, macht er ebenfalls einen Dualismus auf, wenngleich auf der globalen Ebene des philosophischen Diskurses: Es ist ein Dualismus von mengentheoretischer Ontologie und philosophischer Konzeptualisierung von besonderen Ereignissen und Prozeduren der Veränderung. Bei näherem Hinsehen bemerkt man jedoch, dass es in Badious Bestimmung der Philosophie nicht so sehr um einen Dualismus als um eine vierfache Aufteilung und Synthesis geht, insofern die Philosophie selbst durch generische Wahrheitsprozeduren bedingt ist, die in den vier Bereichen der Kunst, der Liebe, der Wissenschaft und der Politik vorkommen. Die Mengenlehre ist insofern eine dieser Wahrheitsprozeduren, als Badious Ontologie Resultat ihrer philosophischen Bedingung ist. Wenngleich Badiou und Deleuze in ihren zwillingsgleichen Versuchen, das Ereignis fortdauern zu lassen, auf verschiedene Weise dem Risiko des Dualismus ausgesetzt sind, ähneln sie sich wiederum in ihrer Verwendung einer fünften Taktik. Diese Taktik, die kein Kaninchen aus dem Zylinder zieht, nenne ich die immanente lokale Erweiterung von Ereignissen. Deleuze 17 Deleuze 1993: 109. 18 Badiou 2003: 70-78. <?page no="39"?> Badiou und Deleuze 39 nennt sie in einer hübscheren Wendung „die Kommunikation der Ereignisse“. 4 Die Kommunikation der Ereignisse Für Deleuze kommunizieren Ereignisse insoweit, als die Divergenz von Serien in einer disjunktiven Synthesis bejaht wird, die nicht die Differenz der Serien beseitigt, sondern deren Distanz explizit anspricht und betont. Bei Badiou gibt es insofern eine Kommunikation der Ereignisse, als eine generische Wahrheitsprozedur oder Treue den Grund für einen anderen, das Ereignis benennenden Eingriff und folglich eine andere generische Wahrheitsprozedur legen kann. Badious Beispiel ist Lenins Treue zur Pariser Kommune, die seinen Eingriff von 1917 ermöglichte. 19 Für Deleuze kommunizieren Ereignisse zudem durch ihre Öffnung auf eine Unendlichkeit von Prädikaten. In der Tat gibt es für Deleuze zwei Wege, auf denen sich personale Identität in der Kommunikation von Ereignissen verliert, die unendliche Identität ist der erste. Dies entspricht der Generizität der generischen Vielheit bei Badiou: Sie hat Elemente, die jedes einzelne Prädikat besitzen, sie ist die Präsentation einer Unendlichkeit von Prädikaten. Der zweite Weg, auf dem sich personale Identität für Deleuze verliert, ist die Behauptung des Abstands zwischen den Serien. 20 Dies entspricht der Ununterscheidbarkeit der generischen Vielheit: Für jede einzelne Eigenschaft ist sie verschieden, sie enthält Elemente, die diese Eigenschaft nicht besitzen. Die generische Vielheit ist im strengen Sinne eine disjunktive Synthesis. Badious Denken kann deshalb in deleuzianischen Begriffen als eine „Gegen-Verwirklichung“ des Ereignisses verstanden werden. Auch hier löst sich der vermeintlich große Unterschied zwischen Badious und Deleuzes Ereignisdenken in nichts auf. Aber Badiou und Deleuze kommen sich nicht nur in ihren positiven Darstellungen nahe, sondern auch in ihren Irrtümern und Sackgassen, wie die folgenden Überlegungen zeigen. 4.1 Die genetische Versuchung: der Kurzschluss zwischen Vorschrift und Ursprung Es ist offensichtlich, dass die bejahende Synthesis eine prekäre und kontingente Angelegenheit ist. Sie findet nicht ständig statt, sie hängt von einer sehr besonderen Orientierung des Denkens ab. Ein Beispiel von Deleuze ist 19 Vgl. Badiou 1998: 7f. Vgl. auch Badiou 2005 (c): 95f. 20 Deleuze schreibt: „Das Ich vermischt sich mit dieser Disjunktion selbst, die die divergenten Serien ebenso wie die unpersönlichen und prä-individuellen Singularitäten außerhalb des Ich befreit, sie aus ihm herausführt. Das ist schon die Gegen-Verwirklichung: infinitive Substanz anstatt unendlicher Identität. Alles geschieht durch Resonanz des Verschiedenartigen, des Standpunktes auf den Standpunkt“, Deleuze 1993: 218. <?page no="40"?> Oliver Feltham 40 Nietzsches Verwendung der Krankheit, um eine Perspektive auf die Gesundheit herzustellen, seine Verwendung der Gesundheit, um eine Perspektive auf die Krankheit herzustellen. In einer solchen Synthesis wird die Differenz zwischen Gesundheit und Krankheit nicht ausgelöscht, sondern vielmehr untersucht und ausgewertet. Allerdings verbindet Deleuze sodann die bejahende Synthesis mit dem paradoxen Element, von dem es heißt, dass es divergente Serien durchquert. Die Funktion des paradoxen Elements besteht darin, Strukturen durch Vereinigung verschiedener Serien zu konstituieren. An anderer Stelle argumentiert Deleuze, dass das Subjekt des Wissens nur insofern existieren kann, als ein Element auftritt, welches den divergenten Serien gemein ist, ein Element, das er das „X“ oder die „Person“ nennt. Mit anderen Worten, es gäbe kein wie auch immer geartetes Wissen, wenn es nicht ein Wissen über die Synthesis divergenter Serien wäre. Deleuzes Denken schwankt folglich zwischen dem, was ich ein präskriptives Moment nenne (er beschreibt eine Operation des Denkens, die geschehen kann), und einem strukturalen oder genetischen Moment (er legt dar, dass diese Operation des Denkens geschehen musste, denn sonst würde diese Struktur nicht an erster Stelle stehen). In Badious Théorie du sujet findet sich genau derselbe Kurzschluss. In diesem Werk ist es die Aufgabe des Denkens zu zeigen, wie eine politische Struktur durch das verändert werden kann, was er die „historische Periodisierung der Dialektik“ nennt: eine ungeheure Herausforderung für das Denken als politischer Praxis. Doch er erzeugt einen Kurzschluss, wenn er sagt, dass die dialektische Struktur bereits periodisiert sein muss, um zu existieren. Was immer die Schwierigkeit für das Denken und die Praxis bildet und nicht ständig stattfindet: Die Eröffnung einer dialektischen Struktur ist immer schon geschehen und verantwortlich für die Entstehung des Status quo. Dabei ist zu beachten, dass Badiou in seinen späteren Arbeiten zwischen der Entstehung einer Situation und ihrer möglichen allgemeinen Veränderung differenziert, wobei diese eher als Supplement einer präexistenten Situation verstanden wird. 21 4.2 Die Gegen-Verwirklichung von Ereignissen Sehr imperativisch behauptet Deleuze, dass Ereignisse nur insoweit kommunizieren, als sie gegen-verwirklicht sind: Das Ereignis gegen-verwirklichen heißt, das Ereignis als etwas zu erfassen, das sich selbst innerhalb seiner selbst als ein anderes Individuum bewirkt, welches auf es aufgepfropft ist. Mit anderen Worten, die Gegen-Verwirklichung des Ereignisses macht das Individuum insofern dem Ereignis äquivalent, als dieses Individuum alle 21 Badious spätere Theorie der Veränderung ist deswegen nicht idealistisch. Jede genealogische Analyse der Emergenz der generischen Erweiterung einer historischen Situation wäre nicht in der Lage, die Entstehung einer anfänglichen Situation zu erklären. Es gibt einen irreduziblen Überschuss der Mannigfaltigkeit der Situation gegenüber jeder Analyse ihrer Konstitution. <?page no="41"?> Badiou und Deleuze 41 anderen Individuen als Ereignisse behandelt und alle anderen Ereignisse als Individuen. Bei Badiou wird das Individuum auf ähnliche Weise zum Äquivalent des Ereignisses gemacht, insoweit es durch eine Serie von Untersuchungen der Folgen des zur Situation gehörigen Ereignisses konstituiert wird. Aber der letzte Schritt in Deleuzes Argumentation annulliert seinen präskriptiven Übereifer durch eine Wendung zur Theologie: „In der Gegen- Verwirklichung jedes Ereignisses extrahiert der Akteur-Tänzer das reine Ereignis, das mit allen anderen kommuniziert“. 22 Ohne Erklärung geht Deleuze von der immanenten Kommunikation der Ereignisse zur Existenz eines einzigen Ereignisses über, in dem sie alle kommunizieren. Badiou seinerseits bezeichnet dies als einen absoluten Punkt der Differenz zwischen ihren Philosophien. 23 Doch am Ende dieser Übung soll mit einer bewiesenen großen Differenz zwischen den Werken zweier Philosophen keine Niederlage stehen: Es ist jederzeit möglich, wie Deleuze und Badiou darlegen, dort eine disjunktive Synthesis zu vollziehen bzw. eine generische Vielheit herauszuschneiden, wo man nur divergente Serien zu besitzen scheint. Um diese letzte Synthesis - in meinen Augen die ergiebigste - zu vollziehen, möchte ich zur Aufgabe der Philosophie, wie sie Badiou definiert hat, zurückkehren: die Kompossibilität von irreduziblen gegenwärtigen Ereignissen zu benennen, zu identifizieren und zu denken. Aber was sagt Deleuze, wenn er eine gemeinsame Aufgabe für jeden Philosophen umreißt, der die Erweiterung des Ereignisses denken möchte? Das Problem besteht also darin, wie ein Individuum seine Form und seine syntaktische Bindung an die Welt überschreiten könnte, um in die universelle Kommunikation der Ereignisse [...] einzutreten. 24 Unser Problem ist, diese Aufgabe des Denkens nicht melancholisch nach Art der Frankfurter Schule zu verstehen; das heißt, die Frage ist nicht „Wie konnten die Massen ihre eigene Repression wollen? “ oder „Wie könnten sie nicht Unterdrückung wünschen? “ - worin ich das Verfahren des Anti-Oedipus sehe. Das Problem sollte besser wortwörtlich als eine praktische Gebrauchsanleitung eines Problems verstanden werden, nämlich spezifische materielle Formen bejahender disjunktiver Synthesen zu identifizieren. Deshalb ist das Ereignisdenken in der gegenwärtigen französischen Philosophie keine Angelegenheit von ‚Badiou gegen Deleuze’, auch keine Frage nach ‚Badeuze oder Deliou’, sondern das Denken via Badiou und Deleuze von 22 Deleuze 1993: 222. 23 Badiou 2003: 108. 24 Deleuze 1993: 221. <?page no="42"?> Oliver Feltham 42 konkret miteinander verflochtenen Prozessen der Veränderung in geschichtlichen Situationen. Jeder Eigenname und Textkorpus wird gelöscht und überschritten durch die gehaltvollere Arbeit, die lokalen Erweiterungen von Ereignissen zu denken. Dies nenne ich die Arbeit der alten Mole. Aus dem Englischen von Henning Teschke Literaturverzeichnis Badiou, Alain, Théorie du sujet, Paris 1982. Badiou, Alain, L’être et l’événement, Paris 1988. Badiou, Alain, Deleuze. ‚La clameur de l’être’, Paris 1997. Badiou, Alain, D’un désastre obscur. Sur la fin de la vérité d’Etat, Paris 1998. Badiou, Alain, Deleuze. The Clamor of Being, übers. von Louise Burchill, Minnesota 2000. Badiou, Alain, Deleuze. ‚Das Geschrei des Seins’, übers. von Gernot Kamecke, Zürich/ Berlin 2003. Badiou, Alain, Being and Event, übers. von Oliver Feltham, London 2005 (a). Badiou, Alain, Das Sein und das Ereignis, übers. von Gernot Kamecke, Zürich/ Berlin 2005 (b). Badiou, Alain, Infinite Thought: Truth and the Return to Philosophy, übers. von Justin Clemens/ Oliver Feltham, London 2005 (c). Deleuze, Gilles, Logique du sens, Paris 1969. Deleuze, Gilles, Logik des Sinns, übers. von Bernhard Dieckmann, Frankfurt am Main 1993. Derrida, Jacques, „Force de loi. Le ‚fondement mystique de l’autorité’“, in: The Cardozo Law Review 11, 5-6 (1990), S. 919-1045. Derrida, Jacques, Spectres de Marx. 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Das Glück, das aus der - in der Literatur noch nie versuchten - Begegnung zwischen den Philosophen Alain Badiou und Cornelius Castoriadis entsteht, antwortet auf die Sehnsucht der Menschen, die unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts an die Kraft des Denkens glauben, nach einem konsistenten und praktisch anwendbaren Begriff der Wahrheit. Die Wette, die ich hier eingehen möchte, lautet: Die Wahrheit des Seins ist noch heute denkbar, und zwar ganz praktisch in der Gesellschaft. Dafür genügen zwei in (materialistischer) Dialektik zu fassende Begriffe, wenngleich sie aus einem komplizierten Gefüge philosophischer und epistemologischer Kontexte zu befreien sind: die Institution (nach Castoriadis) und das Ereignis (nach Badiou). 2 Wahrheit und Sprache Die Möglichkeit, überhaupt etwas über die Wahrheit als solche - in Bezug auf das, was existiert oder prädizierbar ist - aussagen zu können, ist im 20. Jahrhundert auf radikale Weise bezweifelt worden. Die Frage nach der Wahrheit ist auf beinahe unwiederbringliche Weise verloren gegangen. Die philosophischen Hauptsströmungen, in denen der Begriff diskutiert worden ist, haben sich so weit in den korrespondenztheoretischen, kohärenztheoretischen, pragmatischen, analytischen oder phänomenologischen Ansätzen verzweigt, dass das Paradigma der Wahrheit - in Form einer empirischen Faktizität - den ‚exakten’ Wissenschaften (der Physik, Chemie und Biologie) überlassen worden ist. Die Frage heute ausgerechnet als eine „ontologische“ neu zu stellen, gar unter den zeitgenössischen Bedingungen ein universelles 1 Castoriadis 1975: 158. <?page no="44"?> Gernot Kamecke 44 „Sein-in-Wahrheit“ (als „unendlicher Horizont einer Treueprozedur“) 2 zu denken, ist ein philosophisches Ereignis erster Güte, das letztlich die gesamte Menschheit betrifft. Mit dem Begriff der Ontologie, der Wissenschaft vom Sein als solchem, knüpft das (hoffnungsvolle) zeitgenössische Denken - noch einmal - an die Grundfrage der Philosophie seit ihrer Begründung bei Platon und Aristoteles an: Entscheidet man in der Folge des berühmten Verses von Parmenides die fundamentale Frage des theoretischen Denkens derart, dass es überhaupt Seiendes gibt, und nicht vielmehr nichts, dann ist der erste Wahrheitsbegriff insofern ein ontologischer, als der Bedeutungsumfang des Ausdrucks ‚Wahrheit’ mit dem Sein selbst koextensiv ist: „Jedes Seiende verhält sich so zur Wahrheit, wie es sich zum Sein verhält.“ 3 Aus dem ontologischen Paradies, in dem die Erkenntnis der Wahrheit so allgegenwärtig war, dass man das Sein als das Denken selbst fassen konnte 4 , wurden die Philosophen schon sehr früh und immer wieder neu vertrieben. In den nachfolgenden Epochen der philosophischen Infragestellung der ‚Ursprünglichkeit’ der Wahrheitsidee (von Plotin bis Leibniz) ist der Weg zurück in dieses Paradies aber niemals so nachhaltig versperrt worden als zum Zeitpunkt des linguistic turn im frühen 20. Jahrhundert, als man trotz der Gegensätzlichkeit der philosophischen Positionen darin übereingekommen ist, die Gegenstände des Denkens dem Primat sprachlicher Konstruktion und Artikulation unterzuordnen. Die heute auf den Namen ‚neuere Philologie’ (wieder-)getaufte Literaturwissenschaft zum Beispiel, deren Untersuchungsobjekt eine bestimmte künstlerische Verfasstheit der Sprache selbst ist, bezieht ihre epistemologische Relevanz im Bereich der zeitgenössischen Philosophie vor allem aus der Tatsache, dass man - vielleicht vor allem in und durch die Kunst - „die Wahrheit sagen“ kann. Die Kehrseite dieser Verankerung des Denkens in der Sprache besteht jedoch, wie schon Nietzsche weit vor den Beweisführungen der analytischen Philosophie prophezeite, in einem unausweichlichen Relativismus von Wahrheit und Lüge „im außermoralischen Sinn“, welcher aus der Trennung der in der (vorsokratischen) Antike unmittelbar zusammengehörenden und sich gegenseitig bedingenden Praktiken der Philosophie, der Politik und der Ethik resultierte. Versucht man die Wahrheit ausschließlich philosophisch zu verstehen, kann sie sich leicht als ein „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen“ erweisen, als eine „Verpflichtung, nach einer festen Convention zu lügen“. 5 2 Badiou 2005: 382 (frz.: Badiou 1988: 374). 3 Aristoteles 1978: 75 (Metaphysik 993a). Vgl. Puntel 1974: 1650. 4 „Das Selbe aber sind Denken und Sein“. Parmenides: Über die Natur, zit. in: Heidegger 1976: 104. 5 Nietzsche 1988 (I): 880f. Wittgenstein, für den die Philosophie „ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“ ist, steht Nietzsche hier in nichts nach: „Das Lügen ist ein Sprachspiel, das gelernt sein will, wie jedes <?page no="45"?> Institution als Wahrheitsereignis 45 Die Philologie, die wissenschaftliche ‚Liebe zum Wort’, die sich im Kontext der Kulturwissenschaften behaupten muss, bezieht gerade aus dieser Schwäche, der ‚Leerstelle’ ihres Gegenstands, eine sie instituierende Kraft als „Kunst“ der Auslegung und der Interpretation. Dies gilt auch und gerade für die philosophischste ihrer Disziplinen, die arg gescholtene Hermeneutik. Der Grund für die ‚Austreibung’ der Wahrheit aus der Philosophie (und damit aus den Geisteswissenschaften) des 20. Jahrhunderts liegt in der Unvereinbarkeit der philosophischen Positionen, die in Bezug auf die Ontologie formuliert worden sind. Die Namen Heidegger und Tarski stehen als Beispiel für eine Extremform dieses Antagonismus: Heidegger bleibt dem parmenideischen Paradigma verhaftet und versucht, wie „von altersher“ die Philosophie aus der Zusammengehörigkeit von Wahrheit und Sein zu bestimmen. In der Untersuchung der „ontologischen Fundamente“ des Wahrheitsbegriffs ist die Frage nach der Wahrheit eine Frage nach dem Sein als solchem, woraus im Übrigen zwangsläufig folgt, dass man voraussetzen muss, dass es Wahrheit gibt. Durch die Begriffe der „Unverborgenheit“, der „Gewißheit“ und der „Erschlossenheit“ erweist sich für Heidegger die Wahrheit - von der großen Dichtung der Griechen „abkünftig“ - als „Seinsverfassung des Daseins“ selbst und damit als das umfassendste „existenzialontologische“ Konzept des Denkens überhaupt. 6 Tarskis Versuch, den traditionellen (in der Antike erfundenen und auch wieder vergessenen) Wahrheitsbegriff mit den Mitteln einer formalen bzw. idealen (Meta-)Sprache exakt, d.h. „sachlich angemessen und formal richtig“ in Aussagen, Axiomen und Folgerungen zu formulieren, führt dagegen zu einem „unentscheidbaren“ Ergebnis „ohne klare Lösung“, das den Ausdruck ‚Wahrheit’ für philosophische Fragestellungen insgesamt als „irrelevant“ erscheinen lässt. 7 Auf universelle Sprachen - Umgangssprachen bzw. Sprachen des realen Lebens - angewandt, führt der Wahrheitsbegriff laut Tarski „bei Verwendung der normalen Gesetze der Logik unbedingt zu Verwicklungen und Widersprüchen“. 8 Die sprachanalytische Kritik - neben Wittgenstein und Tarski sind vor allem Russell und Carnap zu nennen - hat das alte ontologische Fundament der Philosophie zerstört. Das Wort ‚Sein’ (to on) wurde vom Wort ‚Alles’ (hen pan), mit dem „die Geschichte unsrer Philosophie begonnen hat“ 9 , insofern andre.“ Wittgenstein 1984 (I): 299, 358 (Philosophische Untersuchungen §109, §249). Vgl. auch jüngst die Neuauflage von Weinrich 2000. 6 Vgl. Heidegger 1986: 212-230 (Sein und Zeit §44). Zur Kritik an Heideggers „Ontologie der Präsenz“, welche die ‚Abkünftigkeit’ der Wahrheit des Seins dem griechischen ‚Poem’ zuschreibt und dabei die eigentliche Besonderheit der griechischen Ontologie - das ‚Mathem’, die subtraktive, ideelle bzw. axiomatische Verfasstheit des Seins - verkennt, vgl. Badiou 2005: 143-149. (Frz.: Badiou 1988: 141-147). 7 Tarski 1983: 448, 457, 466 sowie Tarski 1977: 141, 168f. 8 Tarski 1983: 537. 9 Tugendhat 1992 (a): 22ff. Vgl. im Folgenden: Tugendhat 1992 (b) sowie Tugendhat 1992 (c). <?page no="46"?> Gernot Kamecke 46 abgetrennt, als seine Bedeutung - wenn es nicht selbst vor vornherein als leeres, d.h. inhaltsloses, reelle Prädikate nur transportierendes Hilfsverb angesehen wurde - in mehrere (pollachos) separate und vor allem unvereinbare Teilbedeutungen aufgespaltet wurde. Das ‚Sein’ kann heute in vielen Bedeutungen ausgesagt werden, zumindest jedoch als ‚Existenz’, ‚Prädikation’ und ‚Identität’. Deren Bedeutung ist aber ihrerseits (semantisch) so weit zersprengt worden, dass sich die eindeutigen Aussagen, trotz der ‚metaphysischen’ Rettungsversuche von Strawson und Quine, nur noch auf einen sehr kleinen Bereich der idealen Sprache beschränken. Die wichtigsten Aussagen - die subjektiven Aussagen über das Leben und die Welt: Liebe, Kunst, Politik - scheinen in logischer Hinsicht seither von der Wahrheit ausgeschlossen. In praktischer Hinsicht, und hierfür stehen Castoriadis und Badiou als Handlungstheoretiker Pate, kommen aber an genau dieser Stelle zwischen Wahrheit und Sprache auch die Einsätze des epistemologischen Verhältnisses von Literatur und Philosophie ins Spiel. 3 Institution und Ereignis Die Hoffnung, den Ort der Verknüpfung von Wahrheit und Sprache im Verhältnis von Literatur und Philosophie auf konsistente Weise (wieder)herzustellen, kann in der epistemologischen Praxis unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts ihren Rückhalt im (dialektisch zu denkenden) Paar der Begriffe ‚Institution’ und ‚Ereignis’ finden. 10 Aufgrund der disziplinären und interdisziplinären Verzweigung der (im Ursprung philosophisch fundierten) Geisteswissenschaften - und dem Verlust ihrer Wahrheit - sind die Berührungspunkte auch der wissenschaftlichen Traditionen (vor allem der Geschichte und der Geschichtsphilosophie), die diese Begriffe seit der ‚Erfindung’ der Epistemologie im 19. Jahrhundert 11 geprägt haben, nicht mehr als diskursive Entität eines systematisch verfestigten Wissens zu fassen. Dafür lassen sie sich an einem Ausgangspunkt ihrer diskursiven Instituierung als elementare Bestandteile der episteme und damit als Strukturmomente des wissenschaftlichen Denkens selbst verorten. Der entscheidende Punkt - meine Intervention - besteht hier in der Annahme einer grundlegenden dialektischen Bewegung, die sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Jede Institution beruht im Kern immer schon auf einem Ereignis, nämlich dem Moment ihres Entstehens, ihrer Instituierung. Jedes Ereignis benötigt dagegen stets die Umgebung einer institutionellen Form oder Struktur, um 10 Diese These, die aus einem Streitgespräch über Theologie mit Henning Teschke entstanden ist, war der Anlass für die Tagungen „Institution und Ereignis“ in Dresden 2006 und „Ereignis und Institution“ in Wien 2007. 11 Canguilhem (der neben Bachelard der theoretische Wegbereiter von Foucaults Begriff der episteme ist) datiert die Entstehung der Epistemologie als (der Ontologie gegenüberstehender) philosophischer Disziplin - im Rückgriff auf James F. Ferriers Buch Intitutes of Metaphysics - auf das Jahr 1854. Canguilhem 1976: 38. <?page no="47"?> Institution als Wahrheitsereignis 47 in dieselbe als Unerhörtes, Unvorhergesehenes einzubrechen. Eine Institution ohne Ereignis erscheint somit ebenso wenig denkbar wie ein Ereignis ohne Institution. Die begriffliche Verknüpfung von Institution und Ereignis repräsentiert, ontologisch gefasst, eine erste Bewegung des Denkens: Ihr Gegenstand entspricht, wenn man ihn als Funktion über die Zeit - als der fundamentalen Dimension jedes Denkens - fasst, einem grundlegenden Antagonismus aus größtmöglicher Dauer und kürzest möglichem Moment . Der Versuch, die Bewegung dieser ersten Gegenstände dialektisch zu fassen, lässt sich mit Bergson als ein désir du mouvant bezeichnen, als ein Drang jener besonderen Bewegung, die dem Denken, vor allem dem kreativen, selbstkritischen, sich und seine Umgebung öffnenden Denken eigen ist. 12 Er richtet sich methodisch gegen den positivistischen Ansatz der deutschen Geschichtswissenschaft, in der die Begriffe Institution und Ereignis zuletzt zusammengeführt worden sind. 13 Zwar ist hier eine wertvolle Form von Zeitkritik an den Formen der Überdauerung, der Überstabilisierung, Korrumpierung bis hin zur Revolutionsbedürftigkeit der strukturellen und metastrukturellen Mechanismen klassischer Institutionalisierungen von Macht oder Gewalt in der Politik, der Ökonomie und der Gesellschaft (inklusive ihrer Wissenschaften und Künste) in die ‚Enzyklopädie’ der Wissenschaften eingegangen. Mit dem Ziel, die Begriffe grundlegender auf einer ontologischen Ebene in einer Dialektik des philosophischen Denkens selbst zu situieren, ist aber über diese absolut gerechtfertigte Kritik der eingespielten Mechanismen fertiger Machtapparaturen hinauszugehen. Ich folge dabei einer Perspektive, die bei Castoriadis einsetzt und in Badiou eine Instanz der Reflexion findet. 3.1 Sein als Werden. Zum Begriff der Institution bei Castoriadis Etymologisch gesehen ist das Bedeutungsfeld des Wortes Institution im Französischen ungleich größer und antagonistischer strukturiert als im Deutschen. In beiden Sprachen gibt es die Bedeutungen der Institution als gesellschaftliche, politische oder ökonomische „Einrichtung“, welche im Französischen je nach Referenzfeld Synonyme wie „établissement“ (Einrichtung/ Anstalt), „fondation“ (Gründung/ Stiftung), „constitution“ (Verfassung) oder das unübersetzbare Wort „régime“ kennen. Die Verwendung des deutschen Institutionenbegriffs, der im klassischen Verständnis auf althergebrachten Macht- und Ordnungskategorien beruht, erlaubt in der all- 12 Dieser Versuch entspricht meiner Idee von Interdisziplinarität in den zeitgenössischen Geisteswissenschaften. Es gilt, in der Folge des poststrukturalistischen Bruchs mit den Institutionalisierungen des legalistischen Denkens eine epistemologische Differenz aufzuspannen, die zum einen in den philosophischen Disziplinen der Ontologie und der Ethik Niederschlag findet, zum anderen aber auch die Gegenstände und Verfahrensfragen der Sozial- und Geschichtswissenschaften, der Psychologie, der Theologie, der Technik und der Literaturwissenschaften mit einbezieht. 13 Vgl. Blänkner/ Jussen 1998. <?page no="48"?> Gernot Kamecke 48 gemeinen Form nur die Definition einer „bestimmten stabilen Mustern folgenden Form menschlichen Zusammenlebens“, wie es im Deutschen Universalwörterbuch heißt. Neben dieser nominalisierten bzw. substantivierten Interpretation der Institution als ein „être institué“ hat die französische Sprache dagegen die Verbalform der Institution als einer „action d’instituer“ beibehalten. Die aktivische, präsenz- und handlungsorientierte Konnotation des Begriffs macht die Institution potenziell zum Synonym jeglichen Akts der Herstellung, der Gründung oder der Schöpfung, was den normativen Ordnungs- und Geltungsmachtbehauptungen der konservativen deutschen Institutionentheorien diametral entgegensteht. 14 In seinem 1975 erschienenen Hauptwerk Gesellschaft als imaginäre Institution - das in der Übersetzung von Horst Brühmann den Untertitel Entwurf einer politischen Philosophie hinzuerhalten hat - entwickelt Cornelius Castoriadis, die Mannigfaltigkeit der semantischen Spielräume ausschöpfend, einen der bedeutungsoffensten Institutionenbegriffe, den die Philosophie kennt. Castoriadis bezieht neben den klassischen Beispielen wie Kirche, Staat, Armee, Kloster, Gericht, Gefängnis, Wirtschaftsunternehmen usw. auch die diesen Einrichtungen zugrunde liegenden sozialen Praktiken und Kommunikationsformen mit ein. So fallen „die Gesellschaft“ selbst ebenso wie „Gott“, „die Religion“, „die Welt“, „das Recht“, „die Demokratie“, „das Privateigentum“, „das Inzestverbot“, „die Sklaverei“, „das Geld“ und vor allem „die Sprache“ allesamt unter den Begriff Institution. Die zentrale Problemstellung, welche die große Fülle der von Castoriadis’ Theorie berührten Ebenen zusammenhält, gilt einem Komplex von unhintergehbaren Kategorien der gesellschaftlichen Formation. Die Frage, was das gemeinsame institutierende Moment der verschiedenen Institutionen ist, versteht sich als Gegenstand einer „genetisch-ontologischen Theorie“ der Vergesellschaftung und beruht zunächst auf der erkenntnistheoretischen Prämisse, dass man über die im Ursprung nicht bestimmbare, „magmatische“ Entität namens Gesellschaft nichts wissen kann außer der Tatsache, dass eine bestimmte Gesellschaft als solche erkennbar ist. Dieses letzte erkennbare Residuum nennt Castoriadis die haecceitas, d.h. die Einheit und Identität, das unwidersprochene und von ihren Mitgliedern anerkannte So-Sein einer 14 Als Ausnahme kann hier die Dresdener „Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen“ (TAIM) gelten, die insofern auch eine sprachschöpferische Leistung vollbracht hat, als sie ihren Schwerpunkt auf eine zeichentheoretisch fundierte Gesellschaftstheorie legt, deren analytische Kategorien aus Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, der philosophisch-anthropologischen Kategorienforschung von Arnold Gehlen, der wissenssoziologischen Theorie von Berger/ Luckmann, der allgemeinen Systemtheorie Niklas Luhmanns und nicht zuletzt aus der Philosophie der radikal imaginären Institution von Castoriadis gewonnen werden. Die „institutionell“ genannten Stabilisierungsformen sozialer Ordnungen sind hier auf diejenigen Ordnungsprämissen und -prinzipien eingeschränkt, die symbolisch zur Darstellung gebracht werden, sodass Institutionen als „auf Wiederholbarkeit und dauerhafte Sicherung von Handlungsvollzügen und Vorstellungsinhalten gerichtete gesellschaftliche Beziehungsformen“ definiert werden. Vgl. Rehberg 2001: 8. <?page no="49"?> Institution als Wahrheitsereignis 49 gesellschaftlichen Formation. Umgekehrt ist laut Castoriadis - dies ist das sozialanthropologische Korollar zur fundamentalontologischen These - die gesellschaftliche haecceitas das einzige So-Sein, welches man als solches beschreiben kann. Es gilt der für den politischen Philosophen Castoriadis unumstößliche Grundsatz, dass es unmöglich sei, „das Sein ohne Rekurs auf das Gesellschaftliche zu denken“. 15 Um die ontologische Einbettung dieses aktivischen, schöpferischen Institutionenbegriffs in den Rahmen einer gesellschaftlichen haecceitas nachzuvollziehen - und sodann im Sinne Badious zu ergänzen -, sind die folgenden Momente der Denkbewegung von Castoriadis hervorzuheben: Erstens gilt grundlegend ein allgemeines dynamisches Prinzip, das die ontologischen Theoreme in ständiger Bewegung hält. Dieses Prinzip einer notwendigen Einbettung der Seinsfrage in eine gleichgrundsätzliche Frage des Werdens macht das eigentlich Besondere dieses Denkens aus. Es handelt sich um eine Ontologie der Unbestimmtheit, des Magmatischen, um die Theorie eines „fließenden Untergrunds allen bestimmten Seins“. 16 Castoriadis’ Entwurf der politischen Philosophie verfügt über keine feststehende Generalkategorie immerwährender gesellschaftlicher Identität. Es gibt keinen strukturell bestimmbaren Fixpunkt wie zum Beispiel die (in der Soziologie verbreitete) funktionalistische Fiktion eines unveränderlichen Kerns abstrahierter sozialanthropologischer Bedürfnisse. Die haecceitas ist notwendigerweise „mannigfaltig“, multiple, und vor allem nimmt sie erst in der praktischen Ausgestaltung ihre verschiedenen Funktionen an, was laut Castoriadis auch der Grund dafür ist, dass es überhaupt erkennbare Unterschiede zwischen Gesellschaften gibt. Somit ist diese ontologische These der mannigfaltigen Seinsweise des Gesellschaftlichen an eine ebenso grundlegende historische Perspektivierung gekoppelt. Das wichtigste Differenzial für die haecceitas einer Gesellschaft ist die Zeit, d.h. ausdrücklich die „geschichtliche Zeit“, die das „So- Sein“ der Gesellschaft (auf vermeintliche paradoxe Weise) stets veränderlich hält. Zu Beginn steht also keine ‚Substanz’ der ersten Gesellschaft als solcher, die strukturell mit der haecceitas verknüpft wäre, sondern ein dialektischer Doppelbegriff, der die Ambivalenz des Geflechts aller Institutionalisierungsbewegungen ausdrückt und im für Castoriadis typischen Stil der Nominalverknüpfungen das „Gesellschaftlich-Geschichtliche“ heißt. Mit diesem Begriff ist eine doppelte (d.h. gleichzeitige und aufeinanderfolgende) „Mannigfaltigkeit von Dimensionen“ gemeint, die zum Ausdruck bringt, dass man die gewöhnlich verwendeten Begriffe „Gesellschaft“ und „Geschichte“ nicht getrennt voneinander denken kann. Die Gesellschaft instituiert sich notwendig in der Geschichte, die Geschichte instituiert sich notwendig in der Gesellschaft: 15 Castoriadis 1990 (a): 556 (frz.: Castoriadis 1975: 490). 16 Joas 1989: 594. Hierin liegt auch die grundlegende Ähnlichkeit zu Deleuze. <?page no="50"?> Gernot Kamecke 50 Das Gesellschaftlich-Geschichtliche ist das anonyme Kollektiv, das Unpersönlich- Menschliche, das jede gegebene Gesellschaftsformation ausfüllt und umfaßt, das jede Gesellschaft in eine Kontinuität von Gesellschaften einreiht, in der gewissermaßen auch die vergangenen, anderswo bestehenden und sogar künftig erst entstehenden Gesellschaften gegenwärtig sind. 17 Unter Verwendung eines badiouschen Begriffs lässt sich für die Praxis des philosophischen Denkens bei Castoriadis sagen, dass man eine bestimmte Eigenschaft der Gesellschaft (die man als solche nicht fassen kann) stets als ‚Verfassung’ einer bestimmten historischen Situation denken kann, wobei die Frage jederzeit neu auf die Bedingungen ihrer Formation zu richten ist, d.h. auf die handelnden Akteure, die durch ihr Sprechen und ihr Tun den gesellschaftlich-geschichtlichen Formationsprozess praktisch ins Werk setzen. Die ‚Akteure’ - in Badious Terminologie: die ‚Subjekte’ - werden dabei auf die gleiche Weise in das Denkgefüge eingebettet wie das Gesellschaftlich-Geschichtliche. Sie sind als prozessuale Entitäten am Beweggrund der Institutionen beteiligt, d.h. sie sind zu gleichen Teilen durch das Gesellschaftlich-Geschichtliche instituiert und instituieren ihrerseits das Gesellschaftlich-Geschichtliche. 18 Diese Subjekte sind - ebenso wie bei Badiou - vollkommen unpersönlich zu denken. Sie lassen sich nicht auf die Intentionalität oder Körperlichkeit besonderer menschlicher Erfahrungen reduzieren, sondern fungieren vielmehr als formalisierbare kategoriale Träger für die psychologischen und anthropologischen Grundbestimmungen des menschlichen Lebens. Auf der magmatischen Ebene der ersten Institutionalisierungsprozesse werden die identifizierbaren Subjekte, auch in stilistischer Hinsicht ein Pendant zum Gesellschaftlich-Geschichtlichen, „Psyche- Soma“ genannt, ein Begriff, der ebenfalls ein im Ursprung anonymes, unpersönlich-menschliches Ensemble bezeichnet und den Beweggrund bzw. die Antriebskraft der Institutionalisierungsbewegungen zum Ausdruck bringt. Gesellschaftlich-Geschichtliches, Psyche-Soma, Sprache und Handlung, Letztere bei Castoriadis ebenfalls griechisch: legein und teukein, dies sind die vier Grundkomponenten, deren Verknüpfung das tautologisch anmutende, aber das Denken selbst avisierende Grundtheorem der Institution ergibt: Gesellschaftlich-Geschichtliches instituiert sich durch Interaktion 17 „Le social-historique, c’est le collectif anonyme, l’humain-impersonnel qui remplit toute formation sociale donnée, mais l’englobe aussi, qui enserre chaque société parmi les autres, et les inscrit toutes dans une continuité où d’une certaine façon sont présents ceux qui ne sont plus, ceux qui sont ailleurs et même ceux qui sont à naître“, Castoriadis 1990 (a): 184 (frz.: Castoriadis 1975: 161). 18 „L’être-société de la société ce sont les institutions et les significations imaginaires sociales que ces institutions incarnent et font exister dans l’effectivité sociale“, Castoriadis 1996: 223. „La psyché et le social-historique sont irréductibles l’un à l’autre“, Castoriadis 1997: 26. <?page no="51"?> Institution als Wahrheitsereignis 51 mit Psyche-Soma im Medium von Handlung und Sprache zu menschlichen Gesellschaften in der Geschichte. 19 Gesellschaft, Geschichte oder Identität, sagt Castoriadis, sind in ihrer Seinsweise absolut imaginär. Sie sind reine Erfindungen, virtuell, formlos, diffus. Sie prä-existieren in der Seinsweise eines „radikal imaginären Magmas“. Um zu existieren, also in einer bestimmten Form überhaupt fassbar zu werden, wird die Institution notwendig, durch welche, mit Castoriadis’ Worten, das radikal Imaginäre zu einem aktual Imaginierten wird. Die Institution, die ein Prozess des ‚Sich-Instituierens’ ist, bezeichnet die Verbindung von bestehenden Symbolsystemen (Signifikanten oder Codes) mit Bedeutungen (Sinnvorstellungen oder Signifikaten), wodurch das Imaginierte Geltung für das gesellschaftliche Leben oder kulturelle Schaffen erhält. Der authentische Sinn einer Gesellschaft, die Identität einer Kultur, ergibt sich für einen bestimmten historischen Moment als die Summe der Akte eines Sich-Instituierens im Magma der Bedeutungen durch den in ihrem Tun und Sagen verkörperten Sinn. Bemerkenswert an diesem ‚autopoietischen’ System ist die Tatsache, dass die geschilderte Institutionalisierungsbewegung ohne einen expliziten Ereignisbegriff auskommt. Genauer: Das Ereignis wird bei Castoriadis in den Momenten des gesellschaftlichen Sich-Instituierens selbst eingebettet und - sich als solches hegelianisch überschreitend - ‚aufgehoben’. Ereignisse sind die Anfangsmomente und impliziten Möglichkeitsbedingungen des Geschichtlichwerdens von Institutionen: Das Geschichtliche selbst ist schlicht „das Auftauchen einer Institution“ oder „das Auftauchen einer anderen Institution“. 20 Aus dem Entwurf der Gesellschaft als imaginärer Institution folgt jedoch ein Problem, das die praktischen Bedingungen des philosophischen Denkens ebenso wie diejenigen des politischen Handelns (und damit die Frage der Wahrheit) betrifft. So hat die Geschichte laut Castoriadis vor zweieinhalb Jahrtausenden - mit der Einführung von Demokratie und Philosophie als „zwei gleichzeitig geschaffenen und wesensgleichen Institutionen“ 21 - eine Entwicklung eingeleitet, die der Gesellschaft die Möglichkeit eröffnet, ihr eigenes instituiertes Imaginäres explizit in Frage zu stellen. Damit gibt es 19 Castoriadis 1990 (a): 449f., 603ff. (frz.: Castoriadis 1975: 395f., 533ff.), passim. In der Praxis beruht diese vermeintliche Tautologie auf einem ebenso ergebnisoffenen wie kunstvoll durchkonstruierten System funktionaler Interaktions- und Differenzierungsprozesse. Daraus resultiert eine detailreiche und sehr aussagekräftige Matrix folgenreicher und bis heute wirksamer Positionen insbesondere im Bereich der Ökonomie und der Politik. Aber auch auf der begrifflichen Ebene ist der Entwurf von Castoriadis philosophiegeschichtlich bedeutend, so zum Beispiel in seiner auf Aristoteles zurückgehenden Korrektur des Marxismus und der auf dem Begriff der Schöpfung fußenden radikalen Kritik an jenem Bereich des abendländischen ontologischen Denkens, das in einer ebenso fragwürdigen wie folgenreichen platonischen Entscheidung das geschichtliche Werden durch die Institution der metrischen Zeit auf eine bloße Wiederholung des schon Vorhandenen reduziert hatte. 20 Castoriadis 1990 (a): 364 (frz.: Castoriadis 1975: 320). 21 Ebd.: 363/ 319. Vgl. auch Castoriadis 1990 (c): 128. <?page no="52"?> Gernot Kamecke 52 - im Okzident - so etwas wie ein herausragendes Ereignis aller Ereignisse. Allerdings gilt allgemein, dass jede einmal bestehende Institution (damit letztlich auch die Demokratie und die Philosophie) ihr ereignishaft ‚auftauchendes’ Gründungsmoment im Instituierungsprozess selbst einbetten und darin verdrängen muss, wenn sie „die Zeit der Andersheit und des Anderswerdens [...] die Zeit des Aufbrechens [und] der Schöpfung“ in der Form eines „immanenten Über-sich-hinaus-Gehens“ (transcendance immanente) 22 auf Dauer stellen will: Sosehr die Institution in einem Umbruch der Zeit entstanden ist, sich einem Umbruch der Zeit verdankt, ein Umbruch der Zeit ist; so deutlich sich in der Institution die Selbstveränderung der Gesellschaft als instituierender Gesellschaft dokumentiert, kann die Institution im rechtverstandenen Sinne nur existieren, wenn sie sich außerhalb der Zeit stellt, gegen ihr Anderswerden sperrt und die Norm ihrer unwandelbaren Identität und sich selbst als Norm unwandelbarer Identität aufstellt, ohne die sie nicht wäre. 23 Die gesellschaftliche Institution folgt einer „philosophischen Institution der Zeit“ - als Geschichte im „Schema der Sukzession“ - und mit ihr einer Institution des Raums (als koexistente gesellschaftliche Welt), der Sprache (als Vermittlung von Identitätslogik und imaginären Bedeutungen), des Vorstellens, Sagens und Handelns der sich instituierenden Individuen und ihrer ‚Kollektive’. An die Tradition der vorsokratischen Philosophie und die Grundfrage des Parmenides anknüpfend, aber mit den modernen Mitteln eines lebensphilosophisch gewendeten „dialektischen Materialismus“ wird die Bewegung gesellschaftlicher Formation mit ihrem Kern des Imaginären als der Triebkraft der kreativen Selbstveränderung von Gesellschaften und der ‚Quelle des Neuen’ in der Geschichte einer auto-poietischen Grundbewegung des Denkens selbst zugeschrieben. Da aber die Ereignisse als Momente der Differenzierung in dieser Bewegung aufgehoben werden, stellt sich - gerade in Bezug auf die Wahrheit solcher Institutionen - die Frage nach der Autonomie der beteiligten Akteure bzw. der Freiheit der Subjekte. Wenn die Akteure in den gesellschaftlichen Institutionalisierungsbewegun- 22 Castoriadis 1990 (a): 342 (frz.: Castoriadis 1975: 300). Die ‚immanente Transzendenz’ bezeichnet den Einsatz der Geschichte ontologisch als eine erste Institution im ‚Medium’ der Zeit: „L’histoire est le domaine où l’être humain crée des formes ontologiques“, Castoriadis 1990 (b): 103. 23 „Née dans, par et comme une rupture du temps, manifestation de l’autoaltération de la société comme société instituante, l’institution, au sens profond du terme, ne peut être qu’en se posant comme hors le temps, en refusant son altération, en posant la norme de son identité immuable et en se posant comme norme d’identité immuable sans quoi elle n’est pas“, Castoriadis 1990 (a): 361 (frz.: Castoriadis 1975: 318). Vgl. dazu Badiou: „La philosophie n’existe qu’autant elle extirpe les concepts de la pression historique qui prétend ne leur accorder qu’un sens relatif“, Badiou 1998 (c): 13. <?page no="53"?> Institution als Wahrheitsereignis 53 gen mit instituiert werden (ohne konsistente Spuren hinterlassen zu können), bedarf es dann überhaupt noch eines eigenen (autonomen) Subjektbegriffs? Eine Institutionentheorie, die ohne einen eigenständigen Ereignisbegriff auskommt, läuft Gefahr, die Wahrheit vom Subjekt zu trennen und praktisch unbrauchbar zu machen. Auf dieses Problem antwortet Badious Theorie des Subjekts als Konfiguration einer Treueprozedur. 3.2 Das Sein der Wahrheit. Zum Begriff des Ereignisses bei Badiou Um das ‚System’ von Castoriadis mit der Philosophie Badious in Beziehung zu setzen und den sehr weit gefassten, das Denken selbst inkludierenden Institutionenbegriff von Castoriadis durch einen geeigneten Ereignisbegriff zu präzisieren, ist eine Rekapitulation der wichtigsten Elemente des badiouschen Entwurfs hilfreich. Badious Philosophie kulminiert am Ende eines langen Parcours in einer einzigen Frage: „Qu’est-ce que vivre? “ Was kann das Leben sein - bzw. was kann es (für ein Subjekt) heißen zu leben? 24 Badious Philosophie ist insofern mit Castoriadis’ Institutionentheorie verwandt, als auch sie - auf der Basis einer meta-ontologischen Kritik - ein ‚Alles’ (hen pan) bzw. eine umfassende Gesamtheit von „Denkbarkeiten“ konzipiert, wenngleich diese nicht als Totalität zu betrachten oder „als Eins zu zählen“ ist, sondern als eine unendliche Anzahl von Vielheiten bzw. „Mengen“ gefasst werden muss. Dies ist die Grundlage für Badious „Identifikation von Ontologie und Mathematik“, die Übereinstimmung des Seins - als „Vielheit-Sein“ - mit der (axiomatischen) Mengenlehre: Alles, was ist bzw. zum Erscheinen kommt, ist Teil bzw. Element größerer, zum Teil unendlich verzweigter Gefüge von tatsächlich oder möglicherweise existierenden „Situationen“, deren (Mächtigkeits-)Verhältnisse zu beschreiben Gegenstand des Denkens ist. 25 Die überabzählbare Mannigfaltigkeit des biologischen und sozialen Lebens besteht für Badiou jedoch zum allergrößten Teil aus sogenannten „natürlichen Situationen“, die eine strukturale Gesetzmäßigkeit besitzen und in logisch ableitbarer sowie vorhersagbarer Weise aufeinander abfolgen. Zu diesen natürlichen Situationen gehören nicht nur die physikalischen und biologischen Determinanten, die den Menschen in ihrer Vergänglichkeit eine bestimmte Dauer und Bewegungsgeschwindigkeit in einem bestimmten 24 Badiou 2006: 529-537. 25 Badiou 2005: 29f., 113-122, 317ff. (frz.: Badiou 1988: 21ff., 109-119, 311ff.). Vgl. auch Badiou 1998 (a): 155-167 („La politique comme procédure de vérité“). Die Identifikation von Ontologie und Mathematik ist die einzige genuin philosophische Entscheidung, die Badiou der eigenen Aussage zufolge in Das Sein und das Ereignis trifft und die unmittelbar mit der (klassischen) Frage nach der Ontologie zusammenhängt: Das Sein als solches ist nicht Gegenstand der Poesie, wie Heidegger behauptet, der dem Verlust der poetischen Kraft und der Seinsvergessenheit nachtrauert, sondern der Mathematik, die ihre letzte Bestimmung im Ereignis der Mengenlehre gefunden hat. Vgl. auch Badiou 1992 (c) sowie Badiou 1998 (b): 25-38. <?page no="54"?> Gernot Kamecke 54 Raum vorschreiben. Dazu gehören auch die „strukturalen“, in einer jeweiligen historischen Epoche als gegeben und normal angesehenen Formen des sozialen Zusammenlebens der Menschen, wie das Gewohntheitsrecht, überkommene Staatsformen, religiöse oder rituelle Institutionen (im schlechten Sinne), herrschende ästhetische Überzeugungen, Regeln des Paarungs- und Fortpflanzungsverhaltens usw. Wenngleich die Kenntnisnahme der entsprechenden Gesetze von bestimmten Ereignissen (in Form von Erfindungen oder Diskursbegründungen) der Biologie, der Physik, der Theologie oder der Soziologie abhängig ist, sind die natürlichen Situationen stets Gegenstand des Wissens (savoir) und zu einer bestimmten Zeit „in die Enzyklopädie“ (einer Epoche) übergegangen. 26 Die besondere Wendung Badious besteht nun darin, dass den Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Situationen zwar ein Sein, aber keine Wahrheit zukommt. Die Natur steht außerhalb der Wahrheitskategorie, die bei Badiou ereignisabhängig und subjektkonstitutiv ist. Momente der Wahrheit ereignen sich allein - und selten genug - in sogenannten „geschichtlichen“ („ereignishaften“) Situationen, d.h. in Situationen, in denen der normale berechenbare Ablauf plötzlich radikal in Frage gestellt wird. In geschichtlichen Situationen können Punkte („Ereignisstätten“) in Erscheinung treten, an denen das Denken auf einen Widerstand der Praxis trifft und aus sich selbst heraus in das bestehende normale Wissen einbricht. An diesem Verhältnis von natürlichen und geschichtlichen Situationen wird auch der Antagonismus der Begriffe ‚Sein’ und ‚Ereignis’ deutlich: Auf der Seite des Seins präsentiert sich alles, was ist, in mannigfaltigen Situationen, deren Verhältnismäßigkeiten und interne Verzweigungen formallogisch analysierbar sind. Dagegen hat das Ereignis seinen Einsatz an den Stellen, an denen das formallogische System der axiomatischen Mengenlehre auf Widersprüche bzw. Unentscheidbarkeiten stößt. Zugleich wird an dem Verhältnis von natürlichen und geschichtlichen Situationen die Differenz zwischen ‚Wissen’ und ‚Philosophie’ festgemacht, die sowohl L’être et l’événement als auch Logiques des mondes durchzieht: Das Wissen akkumuliert (enzyklopädisch), was die Sprache einer natürlichen Situation über ihr eigenes (Vielheit-)Sein artikulieren kann. Die Philosophie verknüpft die Möglichkeiten, die sich aus der Praxis des Denkens selbst ergeben. 27 26 Badiou 2005: 369ff. (frz.: Badiou 1988: 361ff.). In der Sprache von Castoriadis könnte man sagen, dass in der Enzyklpädie das auslösende imaginäre Moment zu einem Teil der Identitätslogik der Gesetze geworden ist. 27 „Toute entreprise philosophique se retourne vers ses conditions temporelles pour en traiter conceptuellement la compossibilité“, Badiou 1992 (b): 93. „La philosophie, par essence, élabore les moyens de dire ‚Oui! ’ aux pensées antérieurement inconnues qui hésitent à devenir les vérités qu’elles sont“, Badiou 2006: 11. „La philosophie [...] est toujours l’élaboration d’une catégorie de vérité [...] Elle saisit les vérités, les montre, les expose, énonce ce qu’il y en a. Ce faisant, elle tourne le temps vers l’éternité“, Badiou 1998 (d): 28. <?page no="55"?> Institution als Wahrheitsereignis 55 Neuerungen, die einer Wahrheit entsprechen, sind bei Badiou immer gegen bestehende Strukturen gerichtet, sie brechen als Ereignisse aus dem Nichts in die Strukturen ein und verändern sie nachhaltig. Wahrheitsereignisse sind zudem ausschließlich subjektiv: Die Wahrheit eines Ereignisses erweist sich - nachträglich, mit Bezug auf dessen ‚Einbruch’ - allein in der Praxis, in der (illegalen) Handlung eines Subjekts. Diese „generische Treueprozedur“ 28 genannte subjektive Praxis ist nur in denjenigen Situationen des menschlichen Denkens und Handelns möglich, deren potenzielle Wahrheit an bestimmten Punkten ihrer Unterbrechung durch eine ontologische Illegalität bzw. eine logische Unentscheidbarkeit zum Ausdruck kommen kann: die Politik, die Wissenschaft (die Mathematik), die Kunst und die Liebe. Diese eindrucksvolle Quadriga repräsentiert die vier „Modi“ der menschlichen Existenz, deren logisches Gefüge niemals ganz zu erfassen ist und deren Sein überhaupt nur dann wahrhaft zur Geltung kommt, wenn es das logische Gefüge der normalen Existenzweisen aufhebt. Die Beispiele für die Ereignisse geschichtlicher Situationen und ihrer ‚Institutionalisierung’ durch subjektive Treueprozeduren sind bei Badiou ebenso klassisch wie anschaulich: In der Politik sind es die wenigen großen Revolutionen, deren Wahrheit darin liegt, dass sie die Gewalt politischer bzw. staatlicher Herrschaft zu bannen vermögen. In der Wissenschaft sind es die Ideen der Theorie sowie die großen Entdeckungen, die das Bild von der Natur des Menschen verändern. In der Kunst sind es die großen Schöpfungen epochaler Werke, die unhintergehbaren Errungenschaften der Literatur, der Malerei und der Musik. In der Liebe, welche der voraussetzungsloseste Modus ist, besteht das Ereignis in der individuellen Begegnung mit einem Menschen, dessen Eigenschaften jedes Subjekt für sich auf Langlebigkeit untersuchen muss. Um die Gesamtbewegung des badiouschen Gedankengebäudes zu beschreiben, genügen fünf Begriffe: Situation, Ereignis, Wahrheit, Treue, Subjekt. Die Wahrheit, die sich - voraussetzungslos - unmittelbar aus der Praxis ergibt und sich durch diese erst als solche erweist, steht an erster (und letzter) Stelle. Die übrigen Begriffe sind - im Verhältnis zwischen der Ontologie und der Phänomenologie der Wahrheitsbedingungen - vom Wahrheitsbegriff abhängig bzw. durch ihn impliziert: Dies gilt vor allem für den Begriff des Ereignisses, als möglicher Auslöser einer Wahrheit, und den Begriff des Subjekts, als ihr möglicher Vollstrecker. In der Funktion eines Verbindungsstückes zwischen diesen beiden Begriffen führt Badiou sodann ein Ensemble von Termen an, welche die Tätigkeit des Subjekts in Bezug auf das Ereignis beschreiben und in denen das Erkennen der Wahrheit des Ereignisses und der manchmal sehr langwierige Kampf um deren Erhaltung zum Ausdruck 28 Badiou 2005: 551f., 263-271 (frz.: Badiou 1988: 544, 257-265). In Logiques des mondes ist das erste Subjekt zunächst nur der (metaphysische) „Punkt“ einer generischen Treueprozedur, die sich in Abhängigkeit des nachfolgenden Handelns der Subjekte ausdifferenzieren und gar in ihr Gegenteil (Negation, Verdunklung etc.) verkehren kann. Vgl. Badiou 2006: 53-87 (sowie den Beitrag von Frank Ruda in diesem Band). <?page no="56"?> Gernot Kamecke 56 kommen: Dies sind der „Eingriff“ (intervention), der auf einer Entscheidung und dem Akt einer Benennung beruht, sowie die entsprechenden Techniken der Auswahl, der Unterscheidung, der Zählung, der Deduktion usw., die unter den Begriff der „Ermittlung“ (enquête) fallen. Alle zusammen werden sie unter dem Oberbegriff der „Treue“ gefasst, welcher neben der Situation - als dem grundlegenden Rahmen für jede konsistente Existenzbehauptung bzw. (in Logiques des mondes) für deren topologische Grenzverläufe - den fünften Hauptbegriff darstellt. Fasst man alle fünf in einem Satz zusammen, könnte man sagen, dass Badiou die Ereignisse generischer Situationen denkt, deren Wahrheit durch die seltene Treue bestimmter Subjekte erzeugt (instituiert) wird. 29 Anschaulich lässt sich die Gesamtbewegung des badiouschen Gedankengebäudes im Hinblick auf die fünf Hauptbegriffe also wie folgt beschreiben: Alles was existiert, entfaltet sich in einem Geflecht natürlicher Situationen, deren Abfolge, Verhältnissetzungen und strukturalen Gesetzmäßigkeiten ontologisch, in Bezug auf ihr Sein, mittels der mathematischen Mengenlogik beschreibbar sind. Dieses Sein wird philosophisch, noch bevor es zur Sprache kommt, als das Denken der jeweiligen Situation selbst gefasst. Solange es sich um normale, abzählbare oder strukturierbare Situationen handelt, ist dieses Sein berechenbar und lässt sich auf natürliche Weise als Gegenstand des Wissens oder der Enzyklopädie darstellen. Sobald aber der normale Verlauf der mannigfaltigen Konstellationen an bestimmten historischen Sequenzen durch ‚unnatürliche’ Situationen unterbrochen und in Frage gestellt wird, bricht das Denken aus sich selbst heraus in das bestehende Wissen ein und verändert dessen Parameter. Dies sind die Ereignisse, deren struktural unbestimmbare Stätten in der Situation liegen, aber auf- 29 Dieser Satz entspricht (annäherungsweise) der Quintessenz des „Wörterbuchs“ von Das Sein und das Ereignis (Badiou 2005: 535-554, frz.: Badiou 1988: 535-561). Der hinzukommende Begriff der Generizität ist ein entscheidendes mathematisches Element in der metaontologischen Konzeption von Badious philosophischem Denken. Seine Bedeutung beruht (sehr schematisch gesagt) auf der folgenden Überlegung: Stößt man in einer Situation aus der Rückbetrachtung einer Folge-Situation auf eine nachweisbare Unentscheidbarkeit, so kann man die Entscheidung „erzwingen“ - forcen -, wobei das Werkzeug dieser Erzwingung die „generische Menge“ ist. Mathematisch betrachtet ist die generische Menge eine besondere Teilmenge, die aus allen Elementen zusammengesetzt ist, die in der Ausgangsmenge ununterscheidbar sind (und deren Dominanten schneiden). Das Grundmodell der Ununterscheidbarkeit ist dabei die leere Menge, welche das kleinste Element ist, aus dem alle Mengen aufgebaut sind, die in der Mengenlehre Anwendung finden. Philosophisch betrachtet erhält man mit der generischen Menge ein Werkzeug, mit dem man per Intervention von außen, rückwirkend, diejenigen Eigenschaften einer gegebenen Situation zum Sein kommen lässt, deren Sein aus der Perspektive der Situation selbst undenkbar ist. Dies gilt paradigmatisch für die Ereignisstätten der zu betrachtenden Situationen, die aufgrund des Verbots der Selbstzugehörigkeit - man kann innerhalb einer Situation nicht wissen, ob sie ereignishafte Teile enthält, die in der Folge zur Wahrheit führen können -, nie entscheidbar sind und somit immer, in Abhängigkeit von der Konsistenz der Treueprozeduren der Subjekte, nachträglich unterschieden und benannt werden müssen. <?page no="57"?> Institution als Wahrheitsereignis 57 grund der Ununterscheidbarkeit ihrer Elemente für die Situation selbst unerkannt bleiben und ontologisch nicht (bzw. nur „subtraktiv“) zur Präsentation kommen. Konsistent werden diese Ereignisse erst, wenn ihre Präsentation erzwungen wird, was die Aufgabe der Treueprozedur ist, durch die sich die Subjekte konstituieren. 4 Institution als Wahrheitsereignis. Eine praktische Ontologie des Lebens 4.1 Castoriadis und Badiou Obgleich die Verknüpfung auf der Hand liegt, ist der Versuch, Castoriadis und Badiou philosophisch in Beziehung zu setzten, noch nicht unternommen worden. 30 Ein möglicher Weg entspräche der folgenden Analogie: Sowohl Castoriadis als auch Badiou besitzen die im 20. Jahrhundert selten gewordene Hybris, einen umfassenden, meta-ontologischen Entwurf über die Möglichkeiten des menschlichen Denkens und Handelns im Allgemeinen zu präsentieren. Castoriadis hat den Gegenstand seiner Philosophie von einem zu Beginn stehenden Lebensbegriff (den er neben dem Rückgriff auf die Psychoanalyse aus einem lebensphilosophischen Kontext über Bergson und Bataille gewinnt) hin zu einem Begriff des Denkens bzw. des „denkenden Tuns“ (le faire pensant) geführt, mit welchem sowohl Die Gesellschaft als imaginäre Institution als auch die Carrefours du labyrinthe enden. 31 Bei Badiou verläuft diese Bewegung exakt spiegelverkehrt: Er beginnt mit dem Begriff des Denkens (als sich selbst instituierender Praxis der Philosophie) und endet mit dem des Lebens, wenngleich in einer sehr eigenen post-deleuzianischen Interpretation, nämlich im „Qu’est-ce que vivre“ übertitelten letzten Kapitel von Logiques des mondes. Beide Autoren greifen zudem, jeweils im Spätwerk, auf den Begriff der „Welt“ (le monde) zurück, der als topologischer Rahmen für die zum Ende hin phänomenologisch gewendete Ontologie beider Denkgebäude funktioniert. 30 Auf die Ähnlichkeiten der Biografie beider Philosophen gehe ich hier nicht näher ein: Es wäre eine interessante Konvergenzbewegung zu beschreiben, die in etwa, im Altersabstand von 15 Jahren, einen Psychoanalytiker über die Mathematik und einen Mathematiker über die Psychoanalyse und (im sozialen Sinne) über die ‚Umwege’ Griechenland bzw. Marokko und Südwest-Frankreich ins Zentrum der Intelligenzia in Paris haben gelangen lassen, um dort über Jahrzehnte zu Institutionen der französischen Philosophie zu werden, ohne die Praxis ihres politischen Engagements - der eine in Socialisme ou Barbarie, der andere in der Organisation Politique - aus den Augen zu verlieren. 31 Der letzte Satz von Gesellschaft als imaginäre Institution lautet: „Ein wesentlicher Bestandteil [der autonomen Gesellschaft] ist das denkende Tun und das politische Denken: das Denken der sich selbst schöpfenden Gesellschaft“, Castoriadis 1990 (a): 609 (frz.: Castoriadis 1975: 538). Vgl. auch Castoriadis 1999 (b). <?page no="58"?> Gernot Kamecke 58 Auf der begrifflichen Ebene ließe sich die Analogie sodann folgendermaßen fortführen: Das Gesellschaftlich-Geschichtliche als solches, in seiner magmatischen Seinsweise, entspräche bei Badiou der reinen „Präsentation“, die durch nichts charakterisiert wird als durch die reine Mannigfaltigkeit, das „Vielheit-Sein in seiner tatsächlichen Entfaltung“. 32 Der Prozess der Instituierung des Gesellschaftlich-Geschichtlichen (durch Interaktion mit Psyche- Soma im Medium von Handlung und Sprache) entspräche sodann bei Badiou den sich präsentierenden (bzw. in Erscheinung tretenden) „Sequenzen“ von natürlichen und geschichtlichen Situationen, wobei das seiende, sich real verwirklichende Resultat einer solchen Sequenz nicht im Hinblick auf deren bloße Faktizität gefasst wird, sondern einer besonderen Einschränkung auf diejenigen Teil-Vielheiten der menschlichen Gesellschaften in der Geschichte unterliegt, die dem Erfordernis der Wahrheit genügen, nämlich die Politik, die Wissenschaft, die Kunst und die Liebe. So ließe sich sagen, dass das Magmatische von Castoriadis durch den Begriff des Generischen bei Badiou eingefangen und in der (subtraktiven) Seinsweise der Ununterscheidbarkeit aufrechterhalten wird. Die sogenannte „primäre Institution“ - Castoriadis bleibt bei der Bestimmung des ursprünglichen auto-poietischen Moments der gesellschaftlichen Institution, die er in den Figures du pensable entwickelt, sehr vage 33 - entspräche bei Badiou sodann den Fällen, in denen bestimmte Menschen in bestimmten historischen Konstellationen zur zeitlosen, transhistorischen Wahrheit vorstoßen, insofern sich ein „Sein der Wahrheit“ 34 instituiert. Schließlich entsprächen die Subjekte, die durch ihre Treue entstehen und als lokale Konfiguration der generischen Prozedur ihrer Wahrheit folgen bzw. - in der Terminologie von Logiques des mondes - die Erzeugung einer Gegenwart organisch verkörpern 35 , bei Castoriadis den Instituierungen des legein und teukein. Hier wird jedoch zugleich ein besonderer Unterschied zwischen beiden Denkgebäuden ersichtlich. Um den Institutionenbegriff von Castoriadis in die Sprache von Badiou zu überführen, kommt man ohne den Begriff des Ereignisses nicht aus. Die Instituierung oder das „Zum-Sein-Kommen“ 36 einer wie auch immer gearteten Entität des Lebens oder der gesellschaftlichgeschichtlichen Welt erfordert notwendig, um auf ein Mindestmaß an dauerhafter Relevanz zu zählen (sich also der absoluten Dauer der ewigen Gültigkeiten tendenziell anzunähern), eine besondere „Ereignisstätte“, d.h. eine historische Situation, die sich am Rande des Ununterscheidbaren befindet, welches kein Magma, sondern schlicht die Leere ist, und wo ein Sprung auf eine konzeptualisierbare Ebene oder eine „Vernähung“ der Situation mit ihrem Sein stattfinden kann. Subjekte im strengen Sinne kommen bei Badiou 32 Badiou 2005: 549 (frz.: Badiou 1988: 555). 33 Castoriadis 1999 (a). 34 Badiou 2005: 401 (frz.: Badiou 1988: 391). 35 Badiou 2006: 43f., 534f. 36 Badiou 2005: 484 (frz.: Badiou 1988: 474). <?page no="59"?> Institution als Wahrheitsereignis 59 erst dann zum Tragen, wenn diese in die Situation eingegriffen haben und wenn sich die Gesamtheit dieser Eingriffe nachvollziehbar als Prozedur einer Treue schematisieren lässt. Aus einem Magma kann die Treue eines Subjektes jedoch nicht erwachsen, sondern immer nur aus der Besonderheit eines Ereignisses. Die Verknüpfung der Begriffe ließe sich auf dieser Ebene für Castoriadis nur dann konsequent zu Ende führen, wenn man das Ereignis in die Institution überführen könnte, wenn also die Institution von Castoriadis das Ereignis von Badiou als Teil ihrer selbst beinhalten könnte. Dies führt jedoch zu der Schwierigkeit, dass entweder die Institution nichts anderes als ein Ereignis wäre, wobei ihre Konsistenz und ihre Dauer auf Kräfte außerhalb ihrer selbst angewiesen und sie nicht mehr autonom wäre (Widerspruch gegen Castoriadis), oder aber das Ereignis selbst ein Sein, nämlich das der Institution besäße (Widerspruch gegen Badiou). 4.2 Symbolisierung. Wahrheit und Mathematik Um die philosophische Differenz zwischen Castoriadis und Badiou, die an dieser Widersprüchlichkeit deutlich wird, vollständig zu ermessen - und damit die Frage nach der generischen Extension des Denkens an die Begriffe Institution und Ereignis zu binden -, ist es ratsam, noch einmal zu Castoriadis zurückzukehren und ein weiteres Moment seines Entwurfs zu betrachten, nämlich die Philosophie der Sprache als Verhältnis zwischen Symbolisierung und Bedeutung bzw. zwischen Identitätslogik und schöpferischer Imagination. Die Begriffe des Symbolischen und der Symbolisierung stellen bei Castoriadis das Kernprinzip des legein dar, also der verschiedenen Funktionen des menschlichen Sprechens, das die gesellschaftlichen Institutionalisierungsprozesse in Bewegung hält. Legein heißt: „unterscheiden, auswählen, aufstellen, zusammenstellen, zählen, sagen.“ 37 All diese Handlungen sind Sprachhandlungen, die notwendig symbolisch sind; sie müssen auf bestehende Symbolsysteme rekurrieren und sind in der Praxis an deren Instituierung mit beteiligt. Gesellschaftlich-geschichtliche Institutionen können sich überhaupt nur in und durch Sprache verstetigen. Ihre Identität ist, wie es bei Castoriadis heißt, de facto „in ihrem Tun verkörperter Sinn“. Der Sinn wiederum entsteht durch die schöpferische oder wiederholende Verknüpfung von Symbolen mit Bedeutungen. Die Sprache rekurriert somit zum einen auf bestehende gesellschaftliche Symbolisierungsleistungen, insofern „jeder Symbolismus sich auf den Ruinen älterer Symbolsysteme erhebt und deren Material benutzen muss“. 38 Zum anderen besitzt die Sprache aber auch die Kraft - für Literaturwissenschaftler ist dies eine notwendige philosophische Grundannahme -, neue Bedeutungen zu erzeugen. So gibt es, auch im Rekurs auf bestehende Symbole selbst, einen unhintergehbaren Moment der 37 Castoriadis 1990 (a): 375 (frz.: Castoriadis 1975: 330). 38 Ebd.: 207/ 181. <?page no="60"?> Gernot Kamecke 60 Schöpfung bzw. der Imagination, durch den die funktionalen Bezüge zwischen Zeichen und ihrer Bedeutung gekappt oder alteriert werden. 39 In der Konsequenz, die sich aus dieser Behauptung für die Analyse institutioneller Mechanismen ergibt, ist die Frage zu stellen, wie sich der Unterschied zwischen Wahrheit und Fiktion festmachen lässt, wenn man nach den „stabilen Mustern“ in der symbolischen Verstetigung von sozialen Beziehungsformen sucht oder nach den „Regelsystemen der Herstellung und Durchführung“ gesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen fragt. Mit Blick auf Badiou scheint mir die entscheidende Problemstellung vor allem in der Frage zu liegen, ob bzw. ab wann der radikal imaginäre Teil der Institutionen formalisiert wird. Sicher steht hinter jeder großen menschlichen Institutionsleistung wie zum Beispiel den monotheistischen Religionen ein unhintergehbares imaginäres Moment, dem die betroffenen Subjekte - „nachereignishaft“, wie Badiou sagen würde - die Treue halten: Die Juden verorten sich in der Zeit der Hoffnung, die Christen in der Zeit der Wiederkehr, die aufgeklärten Abendländer in der Zeit des Fortschritts. Doch wie verlässlich ist die Frage nach der Wahrheit insbesondere im empirischen Umgang mit konkreten gesellschaftlich-geschichtlichen Institutionen? Was kann ein Subjekt daran hindern, im Deutschland des Jahres 1940 dem sich verstetigenden Symbol- und Bedeutungszusammenhang eines tausendjährigen Reiches die Treue zu halten? Logisch kann man offenbar nur im Nachhinein beweisen, dass es sich hierbei weder um ein Subjekt noch um eine Treue gehandelt hat. Wenn sich also eine Wahrheit aus sich selbst heraus nicht instituieren lässt, ist sie dann nicht notwendig ereignisabhängig? Das Problem von Castoriadis, das sich aus dem Gedanken der wechselseitigen Verbindung zwischen logisch rationalisierbarer Formensprache und radikalimaginären Sprachschöpfungen in den Institutionalisierungsprozessen ergibt, ist ein doppeltes: Zum einen kann er in Ermangelung jeglicher Metasprache, die er aus seinem System kategorisch verbannen muss, nicht die Frage beantworten, auf welcher Ebene des Denkens die Postulate der Identitätslogik einerseits und nicht identitätslogisch organisierte Entitäten andererseits konsistent in Relation gesetzt werden können. Zumindest beschreibt Castoriadis nicht explizit, wo die Grenzen seiner impliziten Konsistenzbehauptung liegen, wenn er so unterschiedliche Strukturierungen wie Ding-Konstitutionen, Individualitäts-Typen, Gesellschaften, Sprachen oder gar „Weltbild-Synthesen“ 40 unter einem Begriff zusammenfasst. Zum anderen wird Castoriadis aufgrund der Behauptung, dass die identitätslogische Organisation der gesellschaftlichen Welt nicht von den gesellschaftlich imaginären Bedeutungen zu trennen sei, dazu gezwungen, bestimmte gemeinsame Teilbereiche seiner grundlegenden dialektischen Konstituenten anzu- 39 „Die Institution ist ein symbolisches, gesellschaftlich sanktioniertes Netz, in dem sich ein funktionaler und ein imaginärer Anteil in wechselnden Proportionen miteinander verbinden“, Castoriadis 1990 (a): 226 (frz.: Castoriadis 1975: 197). 40 Rehberg 2001: 11. <?page no="61"?> Institution als Wahrheitsereignis 61 nehmen, die ebenfalls nicht formalisierbar sind. Wenn Castoriadis also behauptet, dass die Dialektik von rationaler Symbolisierung und imaginärer Bedeutungsschöpfung mit dem „Vorkommen einer Art von Sein“ konfrontiert wird, „die sich jeglicher Bestimmtheit entzieht“, sodass die Grundprämisse jeder konsistenten Ontologie, nur einen Sinn des Wortes ‚Sein’ zu kennen 41 , hinterfragt werden muss, dann heißt dies, dass hier der Begriff der Identitätslogik zu eng gefasst wird. Castoriadis führt seine identitätslogischen Überlegungen, in denen er das ontologische Bestimmtsein als das übermächtige Paradigma des abendländischen Denkens von Pythagoras bis Husserl kritisiert, auf die Mengenlehre Georg Cantors zurück. Der Mengenbegriff, den er dabei zugrunde legt, ist eindeutig der „naive“ Begriff, der auf Cantors berühmte Definition aus den Beiträgen zur Begründung der transfiniten Mengenlehre von 1895 zurückgeht: „Unter einer ‚Menge’ verstehen wir jede Zusammenfassung von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die ‚Elemente’ der Menge genannt werden) zu einem Ganzen.“ 42 Badiou zeigt jedoch in Das Sein und das Ereignis in aller Ausführlichkeit die Problematik dieser naiven Auffassung, auf der eine konsistente mengentheoretische Ontologie nicht begründet werden kann. Im Gegenteil, im Verlauf der Geschichte der Mengenlehre selbst, von der Axiomatisierung durch Zermelo und Fraenckel über Gödel bis zum Beweis der Unabhängigkeit der Kontinuumshypothese durch Paul Cohen im Jahre 1963, wird deutlich, dass die mathematische Formalisierung die Auflösung geradezu sämtlicher Begriffe der frühen cantorschen Mengendefinition - also das Ganze, das Objekt, die Unterscheidung und die Anschauung - bewirkt hat: „Denn weder ist eine Menge eine Ganzheit, noch sind ihre Elemente Objekte, noch kann man - ohne besonderes Axiom - die unendlichen Mengenansammlungen unterscheiden, noch besitzt man die geringste Anschauung der angenommenen Elemente in einer nur geringfügig ‚großen’ Menge.“ 43 41 Castoriadis 1990 (a): 287f. (frz.: Castoriadis 1975: 253). Die hier angedeutete Aufspaltung des Seinsbegriffs birgt die Gefahr eines inkonsistenten Denkens, das mit der Wahrheitskategorie (und ihren praktischen Möglichkeiten) nicht mehr verknüpfbar wäre. Das Problem bei Castoriadis besteht darin, dass er die Ebene der (vielen) Bedeutungen, in denen „das Sein ausgesagt“ wird, vom Sinn des Begriffs ‚Sein’ (als solchem) nicht unterscheidet. Diese Differenz ist für die Konsistenz des ontologischen Denkens aber ebenso notwendig wie die Unterscheidung zwischen der Wahrheit als solcher (der „ewigen Wahrheit“ laut Badiou) und den mannigfaltigen Möglichkeiten, in denen sich etwas (eine Situation, die Handlung eines Subjektes) als wahr erweist. „Une vérité est comme telle indifférente aux différences. [...] Une vérité est la même pour tous“, Badiou 1993: 27. „La Grande logique, d’essence transcendantale, relève d’une théorie ontologique [ou théorie du multiple pur] des situations d’être“, Badiou 2006: 186, passim, Herv. G.K. Vgl. auch Deleuze 1969 (a): 52: „Il n’y a jamais eu qu’une proposition ontologique: l’Etre est univoque.“ 42 Cantor 1895: 481. Vgl. Castoriadis 1990 (a): 375 (frz.: Castoriadis 1975: 329f.). 43 „Car ni ce qui fait un ensemble n’est une totalisation, ni ses éléments ne sont des objets, ni on peut - sans axiome spécial - distinguer dans des collections infinies d’ensembles, <?page no="62"?> Gernot Kamecke 62 Indem Castoriadis bei Cantor stehen bleibt, entgehen ihm die Vorteile, welche die Axiomatisierung der Mengenlehre für die Formalisierung des ontologischen Denkens (und somit insbesondere für die Entscheidung über die Wahrheitsfrage) bereithält. Mit der weit tiefgründigeren mengentheoretischen Fundierung der Philosophie Badious wäre die Theorie von Castoriadis jedoch gewinnbringend zu ergänzen. Insbesondere könnte man das Problem der Sprachabhängigkeit derjenigen Philosopheme lösen, die sich selbst als unbegreifbar ausweisen müssen, wenn Symbolisierungsprozesse auf irrationale, magmatische bzw. radikal imaginäre Teilmengen bezogen werden. Badiou zeigt den philosophischen Gewinn dieser eben nicht nur technischen Erweiterung von der naiven zur axiomatischen Mengenlehre - welche „die größte Denkanstrengung [darstellt], die bis auf den heutigen Tag jemals von der Menschheit vollbracht worden ist“. 44 Badiou trennt, in einem Rückgriff auf die vorsokratische Situation des Denkens, die Disziplin der Philosophie von der Ontologie. Die Ontologie, die Wissenschaft vom Sein-als-Sein, setzt er sodann - zwingend - mit der Mathematik gleich, deren logisches Fundament sich historisch in der axiomatischen Mengenlehre herauskristallisiert. Durch diese grundlegende Trennung ist es Badiou möglich, alles das, was Castoriadis „Institutionen“ nennt, noch vor ihrer Instituierung zu fassen, nämlich als unendlich mannigfaltige Präsentationen von Zugehörigkeitsbeziehungen zwischen Mengen und Teilmengen, über welche die neun Axiome der Mengenlehre konsistente, beweisbare Gültigkeitsaussagen machen können, und zwar unabhängig davon, ob in den als Mengenrelationen gefassten Situationen natürliche, ereignishafte oder radikal imaginäre Teilmengen präsentiert werden. 45 Während auf der mathematisch-ontologischen Ebene eine streng abzählbare Anzahl von symbolischen Ableitungsregeln und eine unendliche Mannigfaltigkeit von Situationen (Sachverhalten, Aussagen, Handlungen usf.) ausdifferenziert und miteinander verknüpft werden, stellen sich die Fragen ni on ne possède la moindre intuition de chaque élément supposé d’un ensemble un peu ‚grand’“, Badiou 2005: 55 (frz.: Badiou 1988: 49). 44 Badiou 2005: 536 (frz.: Badiou 1988: 536). 45 Die Operationen der Zermelo-Fraenkel-Axiomatik ergeben somit das formallogische ‚Gerüst’ für die (oben präsentierten) Grundbegriffe von Badious Philosophie: Ausgehend von zwei fundamentalen Existenzbehauptungen, die sich auf die Unendlichkeit der Situationen und die Existenz der Leere beziehen (Unendlichkeitsaxiom und Axiom der leeren Menge), sowie dem grundlegenden ontologischen Theorem, das dem Sein das Primat vor der Sprache zuweist (Trennungsaxiom), beschreiben die Axiome der Ersetzung, der Extensionalität, der Vereinigung, der Paarmenge sowie der Potenzmenge auf formale Weise die Verhältnisse und internen Verflechtungen zwischen den Situationen, die Verzweigung der Elemente, die Differenzierung zwischen gleichen und ungleichen Teilen, die internen Größenverhältnisse sowie die Struktur ihrer Repräsentation durch übergeordnete, mächtigere Mengen. Eine Ausnahme bildet das - auch mathematisch besondere - Auswahlaxiom (als Existenzbeweis des Eingriffs), welches das formale Schema für die subjektkonstituierenden Konzepte der Auswahl und der Benennung liefert. <?page no="63"?> Institution als Wahrheitsereignis 63 der Philosophie, die nicht auf die Gültigkeit oder die Beweisbarkeit, sondern auf die Wahrheit abzielen, erst auf einer metaontologischen bzw. metamathematischen Ebene. Bei Badiou kommt die Philosophie überhaupt erst ins Spiel, wenn die mengenlogischen Aussagen auf vermeintliche Widersprüche oder Unwägbarkeiten treffen, wie die leere Menge oder die ununterscheidbaren Mengen, deren Sein - nachträglich betrachtet - möglich ist (bzw. „gewesen sein wird“). Insofern sind die Leere und die Ununterscheidbarkeit bei Badiou die eigentlichen Auslöser des philosophischen Denkens, das diejenigen praktischen Bereiche untersucht, in denen die generischen Wahrheiten stattfinden können: Politik, Wissenschaft, Kunst und Liebe. Wo eine leere Menge auftaucht, wo etwas Namenloses, Unvorhergesehenes ‚geschieht’, liegt die mögliche Stätte eines wahrhaften Ereignisses. Wo etwas Ununterscheidbares, eine generische Menge, die potenziell Teilmenge jeder Menge ist, möglich wird, liegt die Stätte eines Subjektes, das durch seine Treue das Ereignis zur Wahrheit führen kann. Castoriadis geht diesen Schritt der Extension zur Befreiung der Philosophie von der mathematischen Ontologie nicht mit. Für ihn gibt es keine Entsprechung zwischen dem Aufbau des Symbolischen „im wirklichen gesellschaftlichen und geschichtlichen Leben“ und den „geschlossenen und durchsichtigen Symboldefinitionen beim Aufbau eines mathematischen Werks“ 46 . Castoriadis verfügt weder über einen Begriff der Ununterscheidbarkeit noch über einen Begriff der Leere, die ihm sogar ein undenkbares Problem zu sein erscheint. Dies bedeutet nicht, dass er in das Feld der Mathematik und insbesondere der axiomatischen Mengenlehre nicht weit genug vorgedrungen wäre. Die mathematischen Ausführungen über Raum und Zahl in den Carrefours du labyrinthe bezeugen das Gegenteil. 47 Castoriadis geht so weit zu behaupten, dass es eine bewusste Entscheidung gewesen sei, seinen Begriff „ensembliste-identitaire“ (kurz ensidique) auf die naive Mengenlehre zu beschränken, und zwar mit dem Argument, dass es auch in der axiomatischen Mengenlehre bestimmte Vorvoraussetzungen (wie die Äquivalenz, die Eineindeutigkeit und die Selbstidentität) gibt, die ihrerseits zu Problemen der Unvollständigkeit bzw. Unentscheidbarkeit führen, und dass es somit selbst in dieser strengen Sprache die Institution eines radikalimaginären Kerns geben müsse. 48 Castoriadis verfolgt das Ziel, unter einem einzigen Begriff der Institution das Sein und das Werden einer Gesamtheit der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt zu fassen. Durch diese Systematisierung des lebensphilosophischen Ansatzes drängt es ihn aber zugleich über das Ziel hinaus. Versucht man sowohl die radikal imaginären als auch die logisch formalisierbaren Gegenstände der Sprache, sowohl die Bedeutungen als auch die Zeichen, 46 Castoriadis 1990 (a): 207 (frz.: Castoriadis 1975: 181). 47 Castoriadis 1999 (c). 48 Castoriadis 1986: 388f. Vgl. auch die Ausführungen zu den „présupposés ontologiques de la logique ensembliste“ in Castoriadis 1978: 204f. <?page no="64"?> Gernot Kamecke 64 sowohl die Kreation als auch die Wiederholung, sowohl die Theorie als auch die Praxis, sowohl die Ereignisse als auch deren nachträgliche Strukturierungen in einen Begriff zu pressen, dann erweist sich nur ein Ausweg als wirklich konsequent, nämlich die Konsistenz des ontologischen Denkens selbst aufzuspalten. Diesen ‚anti-philosophischen’ Weg erwägt Castoriadis an einer Stelle in Die Gesellschaft als imaginäre Institution auch implizit, als er im Exkurs über die philosophische Institution der Zeit zu dem Schluss kommt, dass man theoretisch zwei Ontologien unterscheiden müsste: die ontologie ensembliste-identitaire und die ontologie sociale-historique. Somit gäbe es aber auch (mindestens) zwei Grund-Bedeutungen des Verbs sein, nämlich „Element einer Teilmenge sein“ (appartenir à un sous-ensemble) und „in Beziehung zum Kosmos stehen“ (entretenir des relations avec le Cosmos). Diese drohende Selbstzerstörung des eigenen philosophischen Ansatzes ist jedoch ein Vorgang, der sich in den Labyrinthen der folgenden sechs Bücher wieder verläuft. 5 Philosophie als Institution (Epilog) Folgt man dem philosophischen Ziel, die Einheit der Ontologie und damit die Konsistenz des philosophischen Denkens zu bewahren und zugleich über einen praktisch anwendbaren Begriff der Wahrheit zu verfügen, der dem Gesellschaftlichen verpflichtet bleibt, so ist die Verknüpfung des Institutionenbegriffs von Castoriadis mit Badious Ereignisbegriff ein hoffnungsvoller Weg. Der Horizont der von Badiou beschriebenen subjektiven Treueprozedur ist ein universelles „Sein-in-Wahrheit“, das die ungeschriebenen Lücken im konstruktivistischen System von Castoriadis markiert und zugleich die Grenzen beschreibt, innerhalb derer das Denken - als Praxis der Wahrheit selbst - konsistent erweitert werden kann. Ontologische Extensionen des Denkens, so könnte man das Ergebnis dieses Versuchs einer begrifflichen Verknüpfung im Feld der zeitgenössischen politischen Philosophie zusammenfassen, müssen generisch sein, d.h. aus der Praxis der Wahrheitsprozeduren (und insbesondere der Politik, der generischen Prozedur par excellence) erzwungen werden. Badious Kritik an der zu weit gefassten Ontologie bei Deleuze - dessen „Univozität des Seins“ durch die „Mannigfaltigkeit der Namen“ zu einer eigentümlichen Metaphysik des „Virtuellen“ wird 49 - ist auf Castoriadis zu übertragen: Das Sein ist potenziell für alle ereignishaften Neuerungen offen, sofern das Denken selbst (die Spur des Subjekts) in der Praxis wiedererkennbar bleibt, was die Bedingung der Wahrheit des Ereignisses ist. Zur Überprüfung der Wiedererkennbarkeit des am Beispiel von Institution und Ereignis dargelegten Grenzverlaufs lässt sich die Gegenprobe ma- 49 Deleuze 1969 (b): 210. Die Kritik Badious zielt v.a. auf eine Überdeterminierung der Ontologie, die bei Deleuze nicht mit der Mathematik, sondern mit der Philosophie selbst gleichgesetzt wird. Vgl. Badiou 2003: 31ff., 70-78 (frz.: Badiou 1997: 31ff., 72-81). <?page no="65"?> Institution als Wahrheitsereignis 65 chen: Wenn die Institution (Castoriadis) durch den philosophischen Ereignisbegriff (Badiou) konsistent zu erweitern ist, kann dann am Ende die Philosophie selbst als Institution gefasst werden? Diese Möglichkeit untersucht Badiou in dem kleinen Text „Qu’est-ce qu’une institution philosophique? “ 50 Die Bedingungen für eine solche Meta-Institution sind jedoch klar umrissen: Eine philosophische Institution kann weder kausal noch präskriptiv noch instrumentell sein. Die Philosophie kann keine Institution schaffen, und eine Institution kann keine Philosophie besitzen. Als Institution ist die Philosophie nur durch die fortwährende Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte denkbar. Das Institutionelle der Philosophie ist ihre eigene Überlieferung, ihre Ausrichtung hin auf einen Adressaten, welcher sich allerdings, jenseits der philosophischen Institution, erst als Subjekt einer Treueprozedur generieren muss. Die Philosophie als Institution ist eine „Vernähung“ 51 generischer Situationen, deren Geschichtlichkeit ohne die besonderen Ereignisse, die in diesen Situationen stattfinden, nicht existieren könnte. Um sich aber in der Zeit zu verstetigen, ist diese Institution, an der Schaltstelle des Denkens zwischen den ewigen und den historischen Wahrheiten, auf eine maximale Anzahl vor Ereignissen angewiesen. Literaturverzeichnis Aristoteles, Metaphysik, übers. von Hermann Bonitz, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg 1978. Badiou, Alain, L’être et l’événement, Paris 1988. Badiou, Alain, Manifeste pour la philosophie, Paris 1989. Badiou, Alain, „Qu’est-ce qu’une institution philosophique? “, 1992 (a), in: ders., Conditions, Paris 1992, S. 83-90. 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Vgl. auch Badiou 1989: 41-48. <?page no="66"?> Gernot Kamecke 66 Blänkner, Reinhard/ Jussen, Bernhard (Hrsg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens, Göttingen 1998. Canguilhem, Georges, „Die Rolle der Epistemologie in der heutigen Historiographie der Wissenschaften“, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, übers. von Michael Bischoff/ Walter Seiter, hrsg. von Wolf Lepenies, Frankfurt am Main 1979, S. 38-58. Cantor, Georg, „Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre“, in: Mathematische Annalen 46 (1895), S. 481-512. Castoriadis, Cornelius, L’institution imaginaire de la société, Paris 1975. Castoriadis, Cornelius, „Science moderne et interrogation philosophique“, in: ders., Les carrefours du labyrinthe I, Paris 1978, S. 147-218. Castoriadis, Cornelius, „La logique des magmas et la question de l’autonomie“, in: ders., Domaines de l’homme. 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Tractatus logico-philosophicus - Tagebücher 1914- 1916 - Philosophische Untersuchungen, durchgesehen von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 1984. <?page no="69"?> Frank Ruda Von der Treue als subtraktiver Institution […] Wie können wir hier und heute treu leben, ohne für ein wenig Ewigkeit unwürdig zu sein? 1 1 Einleitung In kaum einem anderen Begriff verdichtet sich die Philosophie Alain Badious so sehr wie in dem der Treue. In ihm treten alle seine anderen philosophischen Großbegriffe, beispielsweise des Ereignisses, der Wahrheit, des Subjekts, des Generischen, der reinen Vielheit, a fortiori in eine innige Konstellation, die zu entwirren ebenso entscheidend wie vielschichtig ist. Zugleich ist wohl kaum ein anderer Begriff dermaßen geeignet, die vielfach gegen das badiousche Denken vorgebrachten Vorwürfe, es sei totalitär, anachronistisch oder inszeniere die verdeckte Renaissance einer säkularisierten Eschatologie, im Kern zu entkräften. Ich werde in der Folge, um das Konzept der Treue zu entwickeln, zunächst ausführlich zwei Thesen nachgehen und im Anschluss an diese versuchen, eine Frage an das badiousche Denken zu formulieren. Die erste These lautet: Treue heißt bei Badiou eine potenziell unendliche prozessuale Operation eines Subjekts, deren Konsistenz die einer diskontinuierlichen Kontinuität ist und die ich als subtraktive Institution verstehen werde. Aus deren genauer Entfaltung ergibt sich in der Folge die zweite These, dass die Philosophie sich als eine Treue zur Treue verstehen lässt. Schließlich werde ich mit der offenen Frage enden, ob sich die Entfaltung und Aufrechterhaltung der eigentümlichen Prozedur der Treue und ihrer Effekte auf diejenige Situation, innerhalb derer sie statthat, durch den badiouschen Naturbegriff genauer bestimmen lässt. Dabei werde ich zunächst in einer tour de force einige der grundlegenden Begriffe und Zusammenhänge der badiouschen Philosophie rekonstruieren, um mich von deren Basis aus dem Begriff der Treue zu nähern. 2 Un-Präsentation Ihre systematische Form nimmt die badiousche Ontologie an, indem sie von der Inkonsistenz ausgeht. Denn Sein als solches ist für Badiou inkonsistent. Das Sein qua Sein kann durch kein immanentes Prinzip der Einheit gedacht werden und benennt somit nichts als Vielheiten von Vielheiten a fortiori. 1 Badiou 2007 (a): 54. <?page no="70"?> Frank Ruda 70 Inkonsistenz muss in dieser Hinsicht, eben als Bestimmung des Seins als Sein, als Synonym von reiner Vielheit 2 verstanden werden und benennt jenen Typ von Vielheit, dem keine vereinheitlichende Form, keine andere Qualität als die der Vielheit zugeschrieben werden kann. Bildet die reine Vielheit so den Ausgangspunkt der badiouschen Ontologie, dann bedarf diese zugleich, um überhaupt vom Sein als reiner Vielheit, als jener Inkonsistenz, zu sprechen, einer anderen Ebene als derjenigen der Inkonsistenz. Denn von reiner inkonsistenter Vielheit lässt sich nur aus der Position konsistenter, „aus Einsen gewebte[r] Vielheit“ 3 sprechen, d.h. aus der Position derjenigen Vielheiten, die bereits dem Effekt einer sie konsistent machenden Strukturierung, einer strukturierenden Zählung-als-Eins unterliegen. „Badiou’s ontology is thus forced to split itself into two domains: one as the origin where being comes to be presented (which adheres to the principle of ordering multiplicity through presentation), and another domain where the pure inconsistency of what escapes the count is posed qua subtraction.” 4 Die Präsentation 5 ist somit niemals eine direkte Präsentation des Seins als solchem, eine Präsentation des Seins als Inkonsistenz, vielmehr präsentiert jede Präsentation schon immer ausgewähltes, bestimmtes Sein als (strukturierte) Vielheit - dies ist, was Badiou Situation nennt - und nicht Sein als solches, die Inkonsistenz als solche. Dies gilt auch für die Ontologie, die Badiou mit der Mathematik identifiziert. Vermag sie zwar als einzige eine Präsentation der Form jeder Präsentation, eine Präsentation der Präsentation, zu sein und so die reine Vielheit zu präsentieren, so muss es, damit die konsistente, als Eins gezählte Vielheit resultiert, „‚etwas’ in der Vielheit geben, das nicht absolut mit dem Resultat zusammenfällt.“ 6 Es gilt grundsätzlich für das badiousche Denken, dass „[e]s nur […] Situationen“ 7 gibt. Dies besagt dreierlei: Es bedeutet erstens, dass das Sein als Sein keine eingeschriebene 2 Inkonsistent wäre nach mengentheoretischem Verständnis dasjenige, das sich nicht einem Prinzip der Wohlordnung unterstellen lässt. Vgl. dazu auch Lavine 1998. Eine Kommentierung des Verhältnisses der badiouschen Philosophie zur mengentheoretischen Mathematik findet sich bei Feltham 2007 (a). 3 Badiou 2005 (a): 71. 4 Gillespie 2001: 64. Zur formalen Konstitutionsoperation, die aus den inkonsistenten Vielheiten konsistente, geordnete Vielheiten macht und die Badiou Zählung-als-Eins nennt, vgl. Badiou 2005 (a): 37-45. Für eine produktive Annäherung des Konzepts der Zählung-als-Eins an die lacansche Psychoanalyse vgl. Chiesa 2006: 68-93. Meine einleitenden Bemerkungen orientieren sich im Folgenden an der Rekonstruktion Gillespies. 5 Zum Begriff der Präsentation in der badiouschen Philosophie vgl. Gillespie 2007: 71-82. Eine interessante, wenn auch problematische Rekonstruktion findet sich ebenfalls bei Brassier 2007: 55-64. Wichtig ist hier anzumerken, dass Präsentation analog zum mengentheoretischen Begriff der Zugehörigkeit gedacht ist, die durch das Symbol - für Element - ausgedrückt wird und „die ursprüngliche Idee der Vielheit“ ist. Badiou 2005 (a): 85. 6 Badiou 2005 (a): 70. 7 Ebd.: 40. <?page no="71"?> Von der Treue 71 Struktur hat - Sein als solches ist inkonsistente Vielheit ohne Ordnung 8 , die per se nicht präsentierbar ist. Daraus folgt zweitens, dass es keinen direkten Zugang zur Inkonsistenz des Seins als solchem geben kann, sondern das Sein sich nur retroaktiv als das erschließen lässt, was von jeglicher strukturierten Präsentation subtrahiert gedacht werden kann. Und damit ist drittens gesagt, dass zugleich „das Sein in jeder Präsentation vorkommt“ 9 , und zwar im Modus der Subtraktion 10 , als Exzess der Inkonsistenz über die Konsistenz. Damit ist aber keineswegs eine „Logik der Lücke“ angesprochen, die sich an dem orientierte, was in der Präsentation „vergessen“ 11 wurde, vielmehr ist das Sein als solches von der Präsentation subtrahiert. 12 Wenn die mengentheoretische Ontologie Badious das Sein als solches ausgehend von einer einzigen Bestimmung, der der reinen, untotalisierbaren Vielheit, denkt, dann bedeutet dies: Was logisch vor der strukturierten Präsentation liegt, ist nichts/ Nichts als Inkonsistenz. „There is nothing that pre-exists the count if the count is no longer conceived in terms of a form acting upon a content. On the contrary the content is given through the form itself.” 13 Einerseits subtrahiert sich das Sein als solches von der Präsentation und lässt sich so als logisch vor der Präsentation denken, als das, was durch die Präsentation strukturiert präsentiert wird; andererseits aber ist das, was logisch vor der Präsentation von allen Qualitäten und inhaltlichen Bestimmungen subtrahiert, nichts als reine und inkonsistente Vielheit, und damit ist die von der Ontologie präsentierte Vielheit, wie Badiou folgert, Vielheit von Nichts. „Als existent kann die Ontologie also nur Leeres zählen […], also das, was sich präsentiert, insofern die Inkonsistenz es allein als das Nichtpräsentierbare jeder präsentierten Konsistenz ausweist.“ 14 Die Leere firmiert dabei bei Ba- 8 Damit verunmöglicht Badiou augenscheinlich, das Sein als immanent gerichtetes zu denken und so das Konzept einer Seinsgeschichte aufrechtzuerhalten. Wie er in einem Interview deutlich formuliert hat: „But there is not a History of being or a History of truth; rather there are histories of truth, of the multiplicity of truths. So, I am neither Hegelian, nor Heideggerian.” Vgl. Badiou 2005 (c): 136. 9 Badiou 2005 (a): 42. 10 Zur Bestimmung der Subtraktion und ihrer vier Grundoperationen vgl. Badiou 1992 (c). 11 Badiou 2005 (a): 71. Badiou nennt die Logik der Lücke dort eine „Illusion sowohl des Denkens als auch der Praxis.“ Inwiefern sich damit ebenfalls eine Abgrenzung von der Idee des „Rests“ ergibt, die für Badiou eine Eigentümlichkeit der Antiphilosophie darstellt, bedürfte einer genaueren Untersuchung. Vgl. dazu auch Badious Bemerkungen in Badiou 2008 (a): 20f. 12 Sam Gillespie hat vorgeschlagen, das Verhältnis einer Präsentation zu ihrem latenten Sein analog zum lacanschen Verhältnis des Symbolischen zum Realen zu denken. Vgl. Gillespie 2003. Beschreibt man das Verhältnis in diesen Begriffen, muss man dabei jedoch beachten, dass es sich innerhalb Badious Theorie um ein subjektloses Reales handelt - a Finally Subjectless Real, wie man in Variation eines badiouschen Titels sagen kann. Vgl. Badiou 1988 (b): 93-98. 13 Gillespie 2001: 64. 14 Badiou 2005 (a): 75. Dass Badiou von Leere und nicht von Nichts spricht, findet seine Begründung vorhergehend in Badiou 2005 (a): 72. Damit, wie deutlich werden sollte, ist die mengentheoretische Ontologie für Badiou erstens ebenfalls eine Präsentation, dar- <?page no="72"?> Frank Ruda 72 diou als Name für dasjenige, was von der Präsentation abgezogen ist. Es gibt in dieser Hinsicht in jeder strukturierten Präsentation eine ihr eigentümliche, eine durch die Präsentation selbst ‚lokalisierte’ Leere dieser Präsentation: eine ihr spezifische Un-Präsentation. 15 Kann es aber zu einer Manifestation des Exzesses der Inkonsistenz über die Konsistenz, kann es zu einem eigentümlichen Aufscheinen der Leere in der strukturierten Ordnung der Präsentation kommen? Die Antwort auf diese Frage gibt die badiousche Theorie des Ereignisses. Denn die Möglichkeit eines Aufscheinens der Leere innerhalb der konsistenten Präsentation gibt zugleich die Möglichkeit eines Ereignisses an. Das Ereignis ist so verstanden ein Einbrechen der Inkonsistenz in die Konsistenz, ein Moment des Exzesses, dessen einziges Erscheinen das Verschwinden 16 ist, da das Ereignis nichts anderes ist als der Einbruch der reinen Vielheit in die Präsentation. Das Ereignis ist in diesem Sinn Un-Präsentation. 3 Treue als subtraktive Institution Der Begriff der Treue bestimmt in der Philosophie Badious grundsätzlich das Bezogensein eines Subjekts auf den Einbruch der Inkonsistenz in die Konsistenz, die Badiou Ereignis nennt. 17 Ist dabei bereits jedes Ereignis singulär über die geschichtliche Situation bestimmt, innerhalb derer es statthat - jedes Ereignis lässt die der Situation eigentümliche Leere in ihr erscheinen -, so bedeutet dies, dass der Begriff der Treue ein sowohl subjektives als auch zugleich singuläres Verfahren bezeichnet, sich auf ein Ereignis zu beziehen. Wie Alexander García Düttmann zu Recht bemerkt hat, gilt: über hinaus, dass sie nur Vielheiten von Nichts präsentiert, ist sie aber zweitens Präsentation der Präsentation. 15 Der Begriff der Un-Präsentation besitzt zwei Referenzfelder. Erstens ist er eine mögliche Übersetzung des französischen „Imprésentation“, das Badiou in diesem Kontext verwendet. Das deutsche Präfix „un-“ gibt dann das französische „im-“ wieder, wie etwa bei der Übersetzung des französischen „impossible“ durch das deutsche „unmöglich“. Vgl. Badiou 1988 (a): 68. Zweitens spielt der Begriff auf die häufig von Slavoj Ž i ž ek angeführte kantische Unterscheidung dreier Urteilsformen (positives, negatives und unendliches Urteil) an. Spricht das positive Urteil einem Subjekt ein Prädikat zu (X ist tot), so verfährt das negative oder verneinende Urteil über die Aberkennung eines Prädikats und lässt sich darüber logisch in ein positives Urteil umschreiben (X ist nicht tot; X lebt). Das unendliche Urteil hingegen spricht einem Subjekt ein Nicht-Prädikat zu (X ist untot) und erschließt damit einen Bereich, der die zugrunde liegende Unterscheidung unterminiert. Un-Präsentation bedeutet hier weder „die Leere ist präsentiert“ noch „die Leere ist nicht präsentiert“, vielmehr: „die Leere ist un-präsentiert“. Vgl. dazu Ž i ž ek 2005: 49. 16 „The event forms thus the real and absent cause of truth“, Badiou 2005 (f): 65. 17 Es gilt dabei zu beachten, dass das Ereignis sowohl den Ursprung des Subjekts ausmacht als auch Anteil an seiner Konstitution hat. Vgl. hierzu auch Feltham 2007 (b): 112. So kann Badiou die Wahrheit eines Ereignisses verstehen als „construction of a fidelity to an event“. Vgl. Badiou 2005 (d): 43. Diese doppelte Funktion des Ereignisses werden die folgenden Bemerkungen deutlich machen. <?page no="73"?> Von der Treue 73 „Fidelity is as singular as the event itself […].“ 18 Ausgehend von Das Sein und das Ereignis lässt sich die Treue eines Subjekts zu einem Ereignis zunächst als endlose Sequenz, als potenziell endlose Folge von endlichen Ermittlungen verstehen. Doch was bedeutet hier Ermittlung? Jede Ermittlung stellt eine „geste minimal“ 19 , die minimale Geste einer Treueprozedur, dar. Die Ermittlung interveniert dabei in bereits bestehende Organisations- und Ordnungsstrukturen und gruppiert die einer Situation zugehörenden Elemente und Terme neu. In dieser Umgruppierungspraxis sieht sie gänzlich ab von der bestehenden repräsentativen Zu- und Verteilung der Präsentation und verfährt nach einem zweistelligen Muster, dessen Logik sich allein aus dem Ereignis und seinem Namen selbst ableitet. So stellt die Ermittlung vor die Wahl, denn sie prüft die Elemente auf ihre Verbindung zum Ereignis hin. Sie scheidet so diejenigen präsentierten Elemente, die in positiver Verbindung zum Ereignis stehen, von jenen, die in negativer oder indifferenter Verbindung zu ihm stehen. In ihrem Verfahren konfrontiert die Ermittlung so die Elemente einer historischen Situation mit dem überzähligen Namen des Ereignisses und seinen Implikationen und zwingt sie dazu, Position zu beziehen: für es oder gegen es. Hier wird deutlich, warum eine Ermittlung eindeutig militanten und keineswegs gelehrten Charakter hat. 20 Unmöglich 18 García Düttmann 2004: 203. García Düttmann versucht aus diesem singulären Bezug die Ununterscheidbarkeit von Ereignis und Treue abzuleiten, die ihn zu der paradox anmutenden Formulierung führt: „in order to relate to an event one must already be faithful to it and faithful to the fidelity, a decision for or against an event has always already been made […]. One relates to an intervening decision by ratifying or rejecting it, not by actually making it, not by making it at the present moment.“ So richtig diese Formulierung zunächst scheinen mag, so sehr entgeht García Düttmann jedoch die spezifische Zeitlichkeit jeder Wahrheitsprozedur, die die Treue als solche bestimmt und die jene des Futur Antérieur ist. Gegen die Ununterscheidbarkeit von Ereignis und Treue ließe sich daher einwenden, dass das Subjekt sich schon immer zu der Treue zu einem Ereignis entschlossen haben wird und so das Ereignis das Ereignis dieser Treue gewesen sein wird. So hat man es hier mit einer doppelten Determinierung innerhalb einer dialektischen Bewegung zu tun. Oder wie Badiou schreibt: „[…] l’événement n’est décidé tel que dans la rétroaction d’une intervention […]“, Badiou 1988 (a): 24. So müsste auch die Diagnose Gillespies verstanden werden „that it is tautological: subjects constitute the event at the same time that subjects are miraculously constituted by the naming and recognition of events.“ Vgl. Gillespie 2006: 165. Die zu Recht markierte Tautologie verliert ihr Tautologisches, wird sie in jener der Wahrheitsprozedur eigenen Zeitlichkeit gedacht. Denn damit würde deutlich, dass dem Subjekt bei Badiou weder der Rang eines Resultats (des Ereignisses) noch der eines Ursprungs zukommt, vielmehr ist es eine „lokale Konfiguration“, ein lokaler Status eines Prozesses, der auf das Ereignis bezogen ist und von ihm aus möglich gewesen sein wird. Vgl. auch Badiou 2005 (a): 439ff. 19 Badiou 1988 (a): 364, Markierung im Text. Kamecke übersetzt hier - den Aspekt der Praxis zu Recht betonend - „geste minimal“ mit „minimale Handlung“ (vgl. Badiou 2005 (a): 371); die englische Übersetzung Felthams verbleibt näher am Original und wählt „minimal gesture“ (vgl. Badiou 2005 (b): 329). Ich entscheide mich hier für die textnahe Version. 20 Wie es bei Badiou heißt: „Eine Treue […] ist nicht die Arbeit eines Wissenschaftlers, sondern eines militanten Aktivisten”, Badiou 2005 (a): 371. <?page no="74"?> Frank Ruda 74 etwa ist es, im Oktober 1917 sich nicht gegenüber der russischen Revolution zu positionieren. Entweder man steht auf der Seite ihrer Befürworter und nimmt aktiv an ihrer Entfaltung teil, oder man versucht hingegen die Revolution als Revolution, als einen Einbruch des Ereignisses, zu leugnen, die historische Situation ihren gewohnten Gang gehen zu lassen, und arbeitet an der Stabilisierung des Bestehenden. 21 Zu dieser Position drängt die Ermittlung. Sie zwingt dazu, sich auf die eine oder die andere Seite zu stellen: ‚Ja’ oder ‚Nein’ zum Ereignis zu sagen. Der „Vektor des Treueoperators“ 22 , der die Ermittlung ist, gruppiert also nach einem zweistelligen Muster, entweder in positiver (+) oder negativer (-) Verbindung zum Ereignis. 23 Das Ergebnis einer Ermittlung sind endliche Sequenzen, endliche Teilabschnitte von positiv oder negativ mit dem Ereignis verknüpften, aber auf diese Weise geordneten Elementen. Dabei verläuft die Ermittlung nicht einer vorgeordneten Regel gemäß, sondern vollkommen aleatorisch. 24 Denn es gibt kein Gesetz der Verbindung, keine Verfahrensregeln, die angeben würden, an welcher Stelle die Ermittlung als Nächstes anzusetzen hat oder welches Element sie als Nächstes auf seine Verbindung mit dem Ereignis überprüfen wird. Ihr Verfahren ist in dieser Hinsicht gänzlich dem Zufall überlassen. Denn die einzige Konstante stellt die Verbindung zum Ereignis 25 dar, und von dieser Beziehung kann Badiou sagen: „It in no way prescribes, however, that we examine one term before, or rather than, the other. Thus the procedure is regulated in terms of its effects, but entirely random in its trajectory. […] There is thus an essential randomness in the procedure’s itinerary.” 26 Durch diese Form der Hervorbringung aleatorischer endlicher Sequenzen - etwa der Sequenz der positiv mit dem Ereignis liierten Elemente {x 1 (+), x 3 (+), x 5 (+), …} gegenüber der Sequenz der mit ihm negativ verbundenen 21 Diese Zweipoligkeit hängt mit der immanenten Stufenlosigkeit des Wahrheitsprozesses zusammen, den die Treue entfaltet, und lässt sich bereits von Paulus lernen: „Für ihn […] ist ein Wahrheitsprozess so beschaffen, dass er keine Stufen kennt. Entweder man nimmt daran teil, bekennt sich zum Gründungsereignis und zieht daraus die Konsequenzen, oder man bleibt ihm fremd“, Badiou 2002: 43. 22 Ebd.: 364. 23 Man kann diese Verbindung auch in der Form dessen schreiben, was Badiou ein „Atom“ der Verbindung nennt. Vgl. Badiou 2005 (a): 265. (+) ließe sich als e x schreiben und (-) als ( e x ), wobei das untersuchte Element, die untersuchte Vielheit, wäre und e x das Ereignis bezeichnen würde. ‚ ’ bezeichnet so allein die Verbindung zum Ereignis. Bei dieser Art der Formalisierung zeigt sich bereits deutlich, dass für jedes Element einer gegebenen Situation gilt, dass es entweder mit dem Ereignis verknüpft ist oder nicht. 24 Aufgrund der Aleatorik des Verfahrens kann, was in Das Sein und das Ereignis Ermittlung heißt, in früheren Schriften den Namen der ‚Wette’ tragen. So bemerkt Badiou etwa von der politischen Organisation, die sich als Konsequenz eines Ereignisses herleitet: „[D]ie Organisation wird sich gemäß sukzessiv aktualisierbarer Wetten deduzieren […].“ Vgl. Badiou 1985: 113 (eigene Übersetzung, F.R.). 25 Genauer, zumindest bezogen auf Das Sein und das Ereignis, müsste man sagen: auf den Namen des Ereignisses. Dazu folgen weiter unten genauere Ausführungen. 26 Badiou 1988 (b): 96. <?page no="75"?> Von der Treue 75 Elemente {x 2 (-), x 4 (-), x 6 (-), …} - kommt der Ermittlung, wie Peter Hallward herausgestellt hat, ein doppelter ontologischer Status zu. Sie ist zum einen „a simple collection of elements that themselves belong to the situation and that it [die Ermittlung, F.R.], qua multiples, leaves unaltered, and it is a collection of judgements or classifications, through which it encodes a certain amount of information about these elements.“ 27 Die Treue stellt nun die endlose Sequenz dieser endlichen, einfachen Sammlungen und Gruppierungen dar. Die Treue ist eine potenziell infinite Reihe von endlichen Ermittlungsverfahren. Ihre Unendlichkeit leitet sich dabei aus dem Einbruch der Inkonsistenz selbst her. Denn in Treue zu einem Ereignis eine Situation umzustrukturieren, bedeutet, der Inkonsistenz, d.h. der Unendlichkeit der Vielheiten der Vielheiten, die Treue zu halten. Dass bereits die endlichen Akte, in denen sie voranschreitet, keinem stabilen Verfahrensgesetz unterstehen, bedeutet in der Konsequenz folgerichtig auch, dass die Treue selbst aleatorisch prozessiert. Sie ist damit, wie es bei Badiou heißt, „das Gegenteil von ‚Wiederholung’ und Routine.“ 28 Die „generische Treue“ 29 verfährt nicht nach sich in ihren Anwendungen bloß wiederholenden Regularien, welche die von ihr ausgehende Neustrukturierung der Situation instruierten. Die Treue deformiert die Situation und schöpft durch die endlichen Akte der Umgruppierung, die durch das Ereignis möglich wurden, Neues. Das Neue, was von der Treueprozedur in dieser Umstrukturierung hervorgebracht wird, heißt bei Badiou Wahrheit. Festzuhalten bleibt zunächst: Die Unendlichkeit einer singulären Treueprozedur verfährt über ebenfalls je singuläre und endliche Akte, die in Das Sein und das Ereignis Ermittlungen heißen. Treu zu sein bedeutet also grundsätzlich, die Situation gemäß dem Ereignis zu denken und in je endlichen Akten seine Konsequenzen zu entfalten. Treue ist aufgrund der ihr immanenten Aleatorik für Badiou ausgezeichnet durch ihre „Abenteuerlichkeit“, durch „ihre Freiheit“ und durch die „extreme Ungewissheit des Verknüpfungsmerkmals.“ 30 Die Abenteuerlichkeit jeder wahrhaften Treueprozedur ergibt sich dabei zunächst daraus, dass es keine Möglichkeit gibt, das Ergebnis ihrer Restrukturierung vorab festzulegen. Regellos in ihrem Verfahren gewinnt sie ihre einzige Legitimation allein aus dem Ereignis. Aus der Zufälligkeit ihres Verfahrens lässt sich notwendig ableiten, dass sie sich an 27 Hallward 2003: 127. Dies ist auch der Grund, warum die Treue die Form eines Wissens hat. Denn die Resultante der Ermittlung - die Gruppierung und Ordnung der Elemente - trifft sich mit der Determinante dessen, was Badiou „Enzyklopädie“ nennt, welche die Elemente einer Situation ebenfalls nach einem bestimmten Muster anordnet und so (an ihnen) Wissen (über sie) produziert. Vgl. dazu Badiou 2005 (a): 373 und zum Begriff der Enzyklopädie ebd.: 369-387. Dass dies so ist, ergibt sich bereits grundsätzlich daraus, dass es beiden um die Gruppierung der einer Situation zugehörigen Elemente, d.h. um die Konstitution von Teilmengen, geht. 28 Badiou 1984: 863 (eigene Übersetzung, F.R.). 29 Badiou 2005 (a): 269. 30 Ebd.: 284. <?page no="76"?> Frank Ruda 76 jedes beliebige Element der Situation richtet und derart eine universale Adresse hat. Ihre Universalität leitet sich daher sowohl aus der Aleatorik ihres Verfahrens als auch aus ihrer potenziellen Unendlichkeit ab. Mit den voranstehenden Bemerkungen ist aber zugleich bereits darauf verwiesen, dass in der gleichen Situation unterschiedliche Verfahrensweisen der Treue und damit unterschiedliche Treueprozeduren möglich sind. Kurz und beispielhaft gesprochen: Es gibt verschiedene Arten, etwa Lenin treu zu sein, und nichts in den Ereignissen des Oktober 1917 implizierte den Triumph der stalinistischen Auslegung der revolutionären Ereignisse. 31 Um aber die entscheidende Frage zu klären, warum die Treue durch die eigentümliche Bestimmung ihrer Operation und Verfahrensweise wie „eine Gegen-Verfassung, oder eine Unter-Verfassung“ 32 erscheint und warum es in ihr immer „etwas Institutionelles“ 33 gibt, gilt es zunächst, die beiden zentralen Gefahren, denen jede Treueprozedur ausgesetzt ist, anzuführen. Dem generischen 34 Verfahren der Verbindung, das die Ermittlungen in ihrer aleatorischen Offenheit anleitet und das so schrittweise eine Wahrheitsprozedur entfaltet, stehen das „spontaneistische“ und das „dogmatische“ 35 Verfahren als Verfallsformen gegenüber. Während das spontaneistische Verfahren allein diejenigen Elemente, die direkt in dem Ereignis involviert waren, eben diejenigen, „die es hervorgebracht haben“ 36 , als wahrhaft mit ihm verbunden annimmt, lässt das „dogmatische“ Kriterium alle Elemente der Situation, und zwar allein positiv, mit dem Ereignis verknüpft erscheinen. Beide Treuevarianten, sowohl die dogmatische als auch die spontane, kappen die generische Potenz - und das heißt zunächst grundlegend: die potenziell 31 Man müsste vielmehr sagen, dass Stalin bereits eine Abwehrreaktion auf die militante Aufrechterhaltung der Treue Lenins darstellt. Markiert damit der Name „Lenin“ 1917 die subjektive Position der Treue, dann markiert der Name „Stalin“ die subjektive Position des Thermidorianers oder genauer: die Position des reaktiven Subjekts. Dies zeigt sich deutlich auch in der grundsätzlich verschiedenen Auslegung der Rolle der Partei bei Lenin (als „nicht fixierbare Omnipräsenz“, deren Aufgabe es ist, die Klassenrepräsentation zu entgrenzen) und Stalin (als „kompakte und gebundene Fraktion der Arbeiterklasse“). Vgl. dazu Badiou 2003 (b): 87f. Zum Begriff des Thermidorianers vgl. ebd.: 135-150. Warum aber Lenin und Stalin zugleich Zeitgenossen sind, wird im Folgenden sichtbar werden. Eine interessante Genealogie ergibt sich, wenn man die leninistische Parteikonzeption und Hyppolites „intervenierende[n] Konzeption der Institution“ verbindet. So könnte man etwa fragen, ob sich nicht eine genealogische Linie von Lenin über Hyppolite bis Badiou ziehen ließe. Zu Hyppolite vgl. Badiou 2008 (b): 52. 32 Badiou 2005 (a): 264. Das französische „contre-état“ und „sous-état“ lässt an dieser Stelle zugleich die Bedeutungen des Gegen-Staats und Sub-Staats mit anklingen. Vgl. Badiou 1988 (a): 258. 33 Badiou 2005 (a): 264. 34 Ich bestimme die grundsätzliche Verfasstheit der Struktur des sich von P.J. Cohen herleitenden Begriffs des Generischen im Folgenden. An dieser Stelle möchte ich aber dennoch auf die präzisen Herleitungen Peter Hallwards und natürlich Alain Badious selbst verweisen: Hallward 2003: 130-144, Badiou 2005 (a): 401-433. 35 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Badiou 2005 (a): 268ff. 36 Ebd. <?page no="77"?> Von der Treue 77 unendliche Perpetuierung - der Treueprozedur. Sie tragen in sie entweder ephemere - so bei der spontaneistischen - oder desaströse 37 - so bei der dogmatischen - Störungen ein, d.h., sie beide partikularisieren und verendlichen die generische Potenz der Treueprozedur. Denn sie beide fügen Klassifikationsregeln, begrenzende Eigenschaften, Attribute, ausschließende Namen ein, sodass entweder erstens nur ausgewählte Teile der Situation sich zu einem Ereignis treu verhalten können, was einem strukturell elitären Argument gleichkommt, oder zweitens alles der Situation vom Ereignis - und das ist das Entscheidende - positiv betroffen ist, was einem strukturell totalitären im Wortsinn, d.h. totalisierenden oder mit Badiou „obskurantistischen“ 38 Argument entspricht. So lässt sich zumindest ex negativo als Bestimmung der generischen Treue festhalten, dass sowohl der spontaneistischen als auch der dogmatischen Versuchung widerstanden werden muss: Weder darf sie sich hinsichtlich derer, die vom Ereignis betroffen sind, partikularisieren, sodass nur einige betroffen wären - was ich die Versuchung einer Partikularisierung der Adresse nennen möchte; noch darf sie sich hinsichtlich der Art und Weise, in der alle vom Ereignis betroffen sind, partikularisieren, sodass alle auf die gleiche Weise betroffen wären - was ich die Versuchung einer Partikularisierung der (Weise der) Adressierung nennen möchte. Beides sind Prozeduren, die potenzielle Unendlichkeit und damit die Universalität der Treue zu limitieren, zu verendlichen und sie so einzutragen in ein sich bereits immer im Voraus auf die eine oder andere Weise abschließendes Denken der Endlichkeit. Dies geschieht, indem sie entweder die Wiederholung der ewig gleichen begrenzten Adresse oder die Wiederholung der ewig gleich begrenzten Weise der Adressierung ins Werk setzen. Beide stellen die Treueprozedur entweder unter einen (anderen) Namen des Gesetzes, welcher der Name des Ereignisses selbst ist und nur die Ausgewählten betrifft, die durch ihn direkt vom normalen Funktionieren der Situation enthoben sind, oder unter ein Gesetz des Namens, das die Art und Weise reguliert, wie alle Elemente mit dem Ereignis verbunden sind, und das sie gemäß dieser stets gleichen Verbindung denkt. Beide kappen so die universale Dimension der Treueprozedur. Kurz sei hierzu nur bemerkt, dass die Verknüpfung beider Partikularisierungen die Definition der Verfassung, des Staates, im badiouschen Sinn verständlich machen kann - die Bestimmung dessen, was die Repräsentation präsentierter Elemente regelt. Einige - d.h. wenige Bestimmte (spontaneistisch) - werden in nur einer möglichen Art und Weise (dogmatisch) adressiert und folglich gruppiert, oder anders formuliert: Einige Wenige werden durch bestimmte Namen und Eigenschaften klassifiziert und so gesetzlich koordiniert. 39 37 Vgl. zum Begriff des „Desasters“ Badiou 1992 (a): 70ff. und Badiou 1998. 38 Vgl. zu den Begriffen des „sujet obscur“ und der „occultation“ Badiou 2006: 67-87. Eine erste Bestimmung des „Obskurantismus“ findet sich bereits in Badiou 2002: 100. 39 Vgl. zum Begriff des Staats/ der Verfassung Badiou 2005 (a): 113-131. Auch an dieser Stelle ließe sich eine Analogie zur Theorie Lacans herstellen: Wäre die Präsentation/ Situation dem Symbolischen analog, das Verhältnis der Situation zu dem ihr la- <?page no="78"?> Frank Ruda 78 Um aber genauer zu bestimmen, wie sich dieses Etwas der Institution in jeder Treue denken lässt und wie es vermag, diesen Versuchungen zu widerstehen, ist es aufschlussreich, Alain Badious letztes großes Werk in den Blick zu nehmen: Logiques des mondes. 40 Von dort aus wird es möglich sein, genauer der internen „Konsistenz“ 41 oder Inkonsistenz der Treue nachzugehen. In diesem Buch unterscheidet Badiou, der Struktur aus Das Sein und das Ereignis folgend, drei subjektive Möglichkeiten, sich auf ein Ereignis zu beziehen. Dies bedeutet, dass sich hier erneut die formale Bestimmung dreier Subjekt-Typen finden lässt, die nun den Namen des treuen, des reaktiven und des obskuren Subjekts tragen. Unter Subjekt versteht Badiou dabei ein „System von Formen und Operationen“. 42 Alle drei Subjekt-Typen sind sowohl in ihrer Form als auch in ihren Operationen so verfasst, dass sie ein Gemeinsames teilen. Denn sie alle beziehen sich, wenn auch auf unterschiedliche Arten und Weisen, auf die von einem Ereignis hervorgebrachte neue Zeit, die mit ihm zusammenhängende neue Gegenwart. Lässt jedes Ereignis in einer gegebenen geschichtlichen Situation 43 etwas erscheinen, was vorher nicht in ihr erschienen ist, dann konstituiert diese Neuerscheinung eine neue Zeit, eine neue Gegenwart. In einer strukturierten Präsentation erscheint durch das Einbrechen der Leere des Ereignisses etwas Neues, das der badiousche Begriff des Subjekts beschreibt. Eine neue Gegenwart bedeutet in genau dieser formalen Hinsicht: die durch das Erscheinen eines bisher nicht Erschienenen veränderte Gegenwart; die Gegenwart, die sich von der vorherigen genau dadurch unterscheidet, dass in ihr etwas erscheint, was vorher nicht erschienen ist. Eine Konsequenz aus diesem Zeitverständnis ist augenscheinlich, dass alle drei Subjekte - das treue, das reaktive und das obskure - in ihrem Bezug auf die neue Gegenwart Zeitgenossen sind, denn ihnen allen ist eben dieser Bezug gemeinsam. Sie sind Subjekte ein und derselben Zeit, sie sind in diesem Sinn Subjekte derselben singulären geschichtlichen Situation. Trotz dieser formalen Gemeinsamkeit des Bezugs besteht zwischen den jeweiligen Modi des Bezugs große Verschiedenheit. Das treue Subjekt bezieht sich auf die neue Gegenwart im Modus der Produktion, d.h. der Hervorbringung eben dieser Gegenwart, wohingegen sich das reaktive Subjekt im Modus der Leugnung auf sie bezieht. Badiou nennt den Modus des Bezugs „Bestimmung“ 44 . Übertragen heißt dies, die tenten Sein dem Verhältnis von Symbolischen und Realem, dann ließe sich der Staat hier als Imaginäres begreifen. Eine ausführliche Untersuchung des Verhältnisses von Badiou zu Lacan, die auch eine Auseinandersetzung über den jeweiligen Begriff der Unendlichkeit sein müsste, steht meines Wissens noch aus. 40 Für das Folgende vgl. Badiou 2006: 53-87 (eigene Übersetzungen, F.R.). 41 Badiou 2003 (a): 90. 42 Badiou 2006: 55. 43 Zur badiouschen Typik der Situationen verweise ich auf die folgenden Ausführungen. 44 Badiou 2006: 70. Ich übersetze hierbei das französische „destination“ als Bestimmung. Es kann ebenso Ziel und Bestimmung(sort) heißen. <?page no="79"?> Von der Treue 79 Bestimmung des treuen Subjekts ist die Produktion, die des reaktiven ist die Leugnung. Zunächst wiederholt sich hier augenscheinlich ein grundsätzliches Strukturmerkmal, das aus Das Sein und das Ereignis bekannt ist: Entweder verhält sich das Subjekt dem Ereignis gegenüber treu oder nicht. Überdies ist damit gesagt, und auch das stellt keine Neuerung dar, dass das treue Subjekt entweder die Treue aufrechterhält, um sich so als treues Subjekt zu erhalten, oder aber dass es untreu wird, kurz: dass das treue Subjekt ein reaktives Subjekt wird. Treue bleibt Treue oder wird Reaktion, so ließe sich in verdichteter Form die grundlegende Logik des badiouschen Treuebegriffs fassen. Eine Variante dieser Logik lautet: Produktion bleibt Produktion oder aber wird zur Leugnung. Das treue Subjekt bestimmt Badiou in Logiques des mondes wie folgt: Es ist ein Körper, der sich einer Ereignisspur unterstellt und so durch die Deduktion der implizierten Konsequenzen zur Entfaltung einer Wahrheit beiträgt, kurz: en permanence eine neue Gegenwart hervorbringt. 45 Um dies zu erläutern: Die bolschewistische Partei stellt 1917 einen neu erscheinenden Körper dar, der sich der Spur eines Ereignisses unterstellt, welche die Form einer Maxime annimmt, die sich in diesem Fall in der Form „Proletarier aller Länder vereinigt euch! “ fassen lässt. Die Partei unterstellt sich in der Hinsicht der Ereignisspur, dass sie alle ihre Handlungen und Operationen unter Berücksichtigung dieser Maxime ausführt, oder genauer: Sie deduziert alle ihre Operationen aus den Implikationen dieser Maxime. Die Ereignisspur ist der Partei, wie Badiou bezogen auf die Politik sagt, Präskription. 46 Jede Handlung, die sich aus der Maxime, der Spur, deduzieren lässt und so antritt, die Implikationen des Ereignisses praktisch zu realisieren, transformiert die bestehende singuläre Situation, und das bedeutet folglich, jede in Treue zu einem Ereignis deduzierte Handlung transformiert die Gegenwart. Diese Transformation fällt aber reflexiv auf den ‚Agenten’ der Operation - hier auf den Körper der Partei selbst - zurück. So wird deutlich, dass die Partei, versteht man sie in dieser Hinsicht als Körper, kein je stabiles Gebilde ist. Sie ist vielmehr ausgezeichnet, wie Badiou von der Leninistischen Partei sagt, durch eine „Porosität zum Ereignis“, eine „vielfältige Geschmeidigkeit im Ansturm des Unvorhersehba- 45 Die Formel des treuen Subjekts schreibt sich dabei als: . Wobei die Spur des Ereignisses benennt, der sich ein Körper (franz. corps) unterstellt. Dabei bleibt dieser Körper immer der Prozessualität der Treue unterstellt, die ihn zerteilt, was die schräge Barrung angibt. Der Körper erscheint somit nie als Totalität, sondern bleibt immer davon gezeichnet, dass er sich der Deduktion der Implikationen des Ereignisses, geschrieben als , unterstellt. Diese potenziell unendliche Deduktion produziert so eine sich stets erneuernde Gegenwart . Dabei ist es wichtig, das Subjekt nicht nur allein als Körper zu verstehen, vielmehr gibt die gesamte Formel an, was Badiou treues Subjekt nennt. Vgl. Badiou 2006: 61-62. 46 Badiou 2003 (b): 155. <?page no="80"?> Frank Ruda 80 ren.“ 47 Auch der Körper, das materielle Supplement der Subjekt-Form, findet sich niemals in Gänze präsent, erscheint nie als voller Körper, denn jede einzelne Operation oder Handlung, die unter der Maxime ausgeführt wird, zeitigt Resultate, die immanent auf die Gegenwart, die auch immer die des Körpers ist, rückwirken. So hängt für die Aufrechterhaltung der Treue alles davon ab, ob er gemäß der Spur des Ereignisses, oder politisch gesprochen: gemäß der präskriptiven Maxime, handelt oder nicht. Eine Handlung, die der Körper ausführt und die der Ereignisspur gemäß ist, versteht Badiou als Deduktion einer logisch notwendigen und implizierten Konsequenz. 48 Denn Konsequenz benennt hier eine aus einem gegebenen Axiom, der Ereignisspur, deduzierte logische Operation, die zur schrittweisen Entfaltung der Implikationen beiträgt. Konsequenz beschreibt folglich die deduktive Aktivität eines Körpers, der sich einer Ereignisspur unterstellt. Hier zeigt sich deutlich, dass trotz des vermeintlichen Formalismus und der „leichte[n] Kälte, welche die Exaktheit mit sich bringt“ 49 , die badiousche Philosophie im eminenten Sinne einen Primat der Praxis statuiert. Denn die praktisch entfaltete Konsequenz ist zum einen durch die Singularität des Ereignisses und der Situation, in der das Ereignis statthat, bestimmt, zum anderen ist sie die Produktion einer veränderten Situation, die Hervorbringung einer neuen Gegenwart. Da diese Gegenwart aber nur hervorgebracht werden kann, wenn der Körper sich der Ereignisspur unterstellt und deren Implikationen gemäß, d.h. treu, handelt, kann die neue Gegenwart ausschließlich als produktive Konsequenz der Treue des Subjekts zum Ereignis verstanden werden. Denn nur in der Hervorbringung einer neuen Gegenwart, deren Fundament die Deduktion von Konsequenzen ist, zeigt sich überhaupt ein Teil der notwendigen Implikationen des Ereignisses. An dieser Stelle gilt es dreierlei zu bemerken: 1. Allein im Prozess einer so verstandenen Treue bestätigt das Subjekt immer wieder rückwirkend, retroaktiv das Ereignis als ein solches. Denn nur durch eine Veränderung der Situation durch das treue Subjekt kann es eine nachträgliche und immer im futur antérieur vollzogene Bestätigung dessen geben, was das Ereignis und die Wahrheit des Ereignisses gewesen sein wird. 50 Die Treue verändert so ebenfalls - durch ihre je singulären Akte stets nachträglich und im zeitlichen Modus des Futur II - die Vergangenheit, d.h., die Treue wirkt in ihrem Voranschreiten retroaktiv auch auf sich selbst zurück. Daher kann Badiou die Treue auch die „organisierte Kontrolle der Zeit“ 51 nennen. 47 Badiou 2003 (b): 87. 48 Vgl. dazu auch Badiou 2005 (a): 273-288. 49 Badiou 2003 (b): 90. 50 Dass die Zeitlichkeit einer Wahrheitsprozedur, die ihre Entfaltung durch die und in der Treue findet, die des Futur II ist, hat Badiou bereits früh markiert. Vgl. u.a. Badiou 1985: 104-115. 51 Badiou 2005 (a): 240. <?page no="81"?> Von der Treue 81 2. Die Produktion der Gegenwart durch das Subjekt verläuft zwar deduktiv und in der Konsequenz als Entfaltung der Implikationen eines Ereignisses, aber hierbei ist nicht vorab bestimmt, welche Elemente der Situation zunächst eine Veränderung erfahren. Das treue Subjekt handelt in der Entfaltung der Konsequenzen zwar Schritt für Schritt, „jour après jour“ 52 , aber was nun auf der, mit Lenin gesprochen, Tagesordnung steht, ist zufällig und dem aleatorischen Verlauf der Treue überlassen. Hier zeigt sich die Wiederaufnahme des aleatorischen Kerns der singulären Akte der Treue, der Ermittlungen. 3. Ist jede neue Produktion einer Gegenwart eine „Einrichtung (franz. institution) des Möglichen in der Gegenwart“ 53 , wie Badiou schreibt, so leistet die Treue in der Hervorbringung einer neuen Gegenwart im gleichen Schritt eine Konvertierung eines in einer gegebenen Situation als unmöglich Erscheinenden in ein Mögliches. Das treue Subjekt konvertiert also das, was die gegebene Situation und ihre Repräsentation, ihre Verfassung, als Unmöglichkeit angibt, Schritt für Schritt, in der rückwirkenden Bestätigung dessen, was das Ereignis gewesen sein wird, in ein Mögliches. Das Ereignis ist „Veränderung der Beziehungen zwischen Möglichem und Unmöglichem“ 54 , da es selbst der Einbruch des Unmöglichen einer Situation in diese ist. In dieser Hinsicht ist die „Einrichtung (institution) des Möglichen in der Gegenwart“ keine je stabile, keine fixierte Institution, die immer der gleichen Gesetzmäßigkeit folgt. Vielmehr handelt es sich, bereits aufgrund der Prozessualität der Treue, um eine konstante Konvertierungsleistung von Unmöglichkeit in Möglichkeit, die der je gegebenen Singularität der Situation angemessen sein muss. Das bedeutet auch, dass sie sich in ihrem Verfahren vom Regime der vorgeschriebenen oder angelegten Möglichkeiten einer Situation löst und vielmehr innerhalb des spezifischen „Regime[s] des Realen“ 55 einer Situation, das ihre Unmöglichkeit ist, interveniert. So ist etwa jede wahrhafte politische Aktivität, wie Badiou sagt, „unwiederholbar“ 56 , weil sie unter singulären Bedingungen eine neue Gegenwart schafft, d.h. in einer je singulären Situation Unmögliches in Mögliches konvertiert. Was die Treue betrifft, so ist diese, wie man mit einer Formulierung Badious sagen kann, die „unmögliche Möglichkeit.“ 57 Die Produktion einer Gegenwart zeigt so permanent, was in einer Situation „under the fire of the event“ 58 möglich gewesen sein wird. 52 Badiou 2006: 59. 53 Ebd. 54 Badiou 2002: 85. 55 Badiou 2003 (b): 106. 56 Badiou 2005 (f): 60. 57 Badiou 1985: 101. Interessanterweise ist damit eine der Treue eigentümliche ‚eilige Ästhetik’ verbunden. Treue ist in ihrem Verfahren so schon immer in gewisser Weise ästhetisch, da sie etwas vorher unmöglich Erscheinendes in ein möglich Erscheinendes konvertiert. 58 Badiou 2005 (e): 54. <?page no="82"?> Frank Ruda 82 Die potenziell unendliche Gesamtheit aller Konvertierungen einer Unmöglichkeit in eine Möglichkeit bezeichnet Badiou als Sequenz. Eine Sequenz ist immer Sequenz einer Treue, die unendlich oder zumindest potenziell unendlich ist, da sie keinem allgemeinen Gesetz gemäß operiert, oder besser, ihr einziges Gesetz ein „Gesetz ohne Stütze“ 59 ist. Denn sie orientiert sich allein an der Spur, die das Ereignis gelassen hat, oder wie Badiou in Das Sein und das Ereignis sagt, am überzähligen Namen des Ereignisses. 60 Dabei ist dieser Name ein absolut bedeutungsloser, leerer und unbestimmter Name, der allein in jedem Schritt der Treue retroaktiv bestimmt gewesen sein wird. Der Name des Ereignisses, dieses „Zeichen von nichts“ 61 (und die Bestimmung der Spur untersteht zumindest in dieser abstrakten Form der gleichen Logik), ist in dieser Hinsicht das einzige Gesetz, dem sich die Treue unterstellt, ohne dass dieser aufgrund seiner Unbestimmtheit eine Stütze haben könnte. Der Name des Ereignisses oder die Spur erfahren in der schrittweisen praktischen Entfaltung der implizierten Konsequenzen eine permanente, nie sich fixierende retroaktive Bestimmung, die stetig deren Unbestimmtheit erhält: der Name des Ereignisses „ist das Namenlose“ 62 und ist in eben diesem Sinne bestimmbar. 63 Wenn die Treue Treue zum Einbrechen der Inkonsistenz in die Konsistenz, Treue zu einem Ereignis, ist, so wird darüber erneut die potenzielle Unendlichkeit der Treueprozedur deutlich. Es kann keine Totalität, keine je letztgültige Vereinheitlichung der reinen Vielheit geben, die das Ereignis in die Situation einbrechen lässt. Die Treue ist ein potenziell unendlicher Prozess der Bestimmbarkeit des Ereignisses und seiner Implikationen. Dies gilt es genauer zu erläutern: Die schrittweise Produktion neuer Gegenwarten, in denen ein Unmögliches möglich gewesen sein wird, markiert für Badiou die aleatorisch voranschreitende Bahn einer im Ereignis aufscheinenden Wahrheit. Jour après jour wird die Potenz einer Wahrheit als Konvertierung von Unmöglichkeit in Möglichkeit entfaltet, und die Potenz einer Wahrheit ist daher immer eine Potenz, die im futur antérieur gedacht werden muss, oder um den badiouschen Namen dafür zu nutzen: sie ist immer „generische Potenz“ 64 . Die Treue ist immer generische Treue, da sie die Hervorbringung neuer Gegenwarten als Entfaltung der generischen Potenz einer Wahrheit ist, und ist insofern potenziell unendlich, da sie immer weiter und Schritt für Schritt retroaktiv bestimmt, was die Potenz dieser Wahrheit gewesen sein wird. Sie bestimmt so immanent die Potenz, aus der sie schöpft, im Prozess ihrer praktischen Entfaltung selbst. Die Treue besteht aus singulären Akten, die 59 Badiou 2002: 13. 60 Vgl. Badiou 2005 (a): 229-240. 61 Badiou 2002: 81. 62 Badiou 2005 (a): 233. 63 Das „-bar“ der Bestimmbarkeit muss hier zugleich als bar jeglicher Bestimmung, d.h. jeglicher Bestimmung entkleidet und als permanente und potenziell unendliche Möglichkeit der Bestimmung, gelesen werden. 64 Badiou 2005 (d): 43 (eigene Übersetzung des englischen „generic potency”, F.R.). <?page no="83"?> Von der Treue 83 der Singularität der Situation angemessen sein müssen und in dieser schrittweise die Potenz einer Wahrheit entfalten. So ließe sich sagen, dass etwa die christliche Version der Treue, die sich bei Paulus auffinden lässt, wie folgt verfährt: Freie männliche Juden können inkludiert, d.h. Teil des christlichen Körpers werden; männliche Juden können inkludiert werden; Juden können inkludiert werden, Juden und Nicht-Juden können inkludiert werden, Menschen mit religiösem Hintergrund können inkludiert werden und schließlich, die entscheidende Bedingung des Generischen: Jeder Beliebige kann inkludiert werden. Die Treue verfährt folglich nicht im Namen eines Gesetzes oder unter dem Gesetz eines mit Bedeutung angefüllten Namens, vielmehr suspendiert sie in jedem singulären Akt jede Stabilisierung, jede fixierende Institutionalisierung und entzieht so jedem Gesetz die Stütze. Die Treue ist daher Treue zum generisch Namenlosen, zu dem, was sich durch keinen eindeutigen Namen und keine eindeutige Eigenschaft konstruieren lässt. Treue ist Treue zur Bestimmbarkeit einer Wahrheit, die jede stabile Wiederholung unterbricht. Jeder Schritt dieser sich entfaltenden generischen Inklusion bildet sowohl für die Situation als auch für den Körper einen Schritt in einem potenziell unendlichen Transformationsprozess. Nur ein stetig sich in Treue transformierender offener Körper kann ein Körper der Wahrheit sein und werden. Damit ist auch bereits der einzige und grundlegende Imperativ der badiouschen Ethik der Wahrheit formuliert. Denn diese richtet sich allein an diesen Prozess der permanenten Transformation und Öffnung. Dieser Imperativ hat die einfache Form des „Weitermachens! “ 65 Das bedeutet: Weitermachen mit der Entfaltung der generischen Potenz einer Wahrheit! Weitermachen oder wie sich auch sagen lässt: treu bleiben! Wie aber treu bleiben, wenn jeder singuläre Akt der Treue eine neue singuläre Situation hervorbringt? Wie weitermachen, wenn es keine fixe Struktur, keine allzeit gültige Regel gibt, wie die Treue aufrechtzuerhalten ist? Beginnt man erneut ex negativo , kann man festhalten, dass für Badiou ein Körper, der sich der steten Wiederholung eines Prinzips, der Ereignisspur, hingibt und absieht von der Singularität der Situation, die von ihm selbst produziert wurde, ein geschlossener Körper wird. ‚Geschlossener Körper’ besagt, dass es sich um einen Körper ohne Transformationsmöglichkeit handelt. 66 So wird ein treues Subjekt zu einem reaktiven. Das reaktive Subjekt bestimmt sich darüber, dass es darauf zielt, die neue Gegenwart zu negieren, das Ereignis und seine Effekte, seine Spur, zu leugnen. So bezieht es sich andauernd auf das treue Subjekt und folgt logisch auf dieses. 65 Badiou 2003 (a): 90. Ein Hinweis darauf, dass dieser Imperativ in Verbindung zu den Ereignissen des Mai 68 steht, lässt sich auch auf dem Berliner Dorotheenfriedhof auffinden. Denn das Grab des dort beerdigten Herbert Marcuse trägt allein diese Inschrift: „Weitermachen! “ 66 Badiou nennt diesen Körper auch - auf Deleuze rekurrierend - organlosen Körper, da das Organ für Badiou die wesentliche Instanz der Transformation des Körpers angibt. So könnte man sagen, dass Badiou einen Körper mit potenziell unendlich vielen Organen einem organlosen Körper gegenüberstellt. Vgl. dazu u.a. Badiou 2006: 477-525. <?page no="84"?> Frank Ruda 84 Das treue Subjekt, wie Badiou sagt, ist das Unbewusste, oder anders gesagt: das Verdrängte des reaktiven Subjekts. 67 Ist das reaktive Subjektiv logisch dem treuen Subjekt nachgeordnet, stellt die logische Folge auf das reaktive das obskure Subjekt dar. Dieses versucht unter neuen zeitlichen Bedingungen eine vermeintlich alte Gegenwart zu restituieren, indem es sich auf die Fiktion eines vollen, transzendenten und ahistorischen Körpers - etwa den Gottes oder den einer Rasse - bezieht. Es arbeitet so an der Verdeckung des Neuen der Gegenwart, behauptet die Allgegenwart eines invarianten und sich nie transformierenden Immer-Schon. Dabei bedient es sich zunächst der negativen Arbeit des reaktiven Subjekts, das die Spuren des Ereignisses leugnet, und es sucht das treue Subjekt und seinen Körper gewaltsam auszulöschen. Das obskure Subjekt bezieht sich damit nicht mehr wie noch das reaktive unbewusst auf das treue Subjekt, vielmehr stellt die neue Gegenwart selbst sein Unbewusstes dar. 68 Die reaktive Leugnung setzt logisch die aktive Produktion voraus, die obskure Verdeckung setzt die Leugnung voraus. Hier aber markiert Badiou einen vierten Modus des Bezugs, eine vierte subjektive Bestimmung: die der Auferstehung. Eine einmal durch die Arbeit des reaktiven und obskuren Subjekts verdeckte und scheinbar verschwundene Wahrheit kann wiederauferstehen. Sie kann dies, indem sich ein neues treues Subjekt in einer anderen historischen Situation, in der ein neues Ereignis statthat und eine neue Spur dieses Ereignisses erscheint, erneut auf eben das Fragment der Wahrheit bezieht, das in der verdeckten Gegenwart entfaltet wurde. Geleugnete und verdeckte Wahrheiten können in neuen treuen Subjekten wieder auferstehen; produzierte, aber negierte und verdunkelte Gegenwarten können sich in anderen, neuen Gegenwarten wiederfinden. So ist es etwa 1919 für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht - wie der Name der „Spartakisten“ anzeigt - möglich, in einer vollkommen veränderten Situation das verdeckte und in Vergessenheit geratene Fragment der einst entfalteten Wahrheit des Spartakusaufstands wieder auferstehen 67 Die Formel des reaktiven Subjekts lautet: . Dabei ist die Negation der Ereignisspur zwar ebenfalls an den Anspruch gebunden, eine Gegenwart hervorzubringen, die aber nicht die Form einer affirmativen Gegenwart , sondern die einer negativen Gegenwart hat. Jedoch zeigt sich bereits in der Formel, dass das treue Subjekt und die von ihm hervorgebrachte Gegenwart „das Unbewusste“, das sich unter der horizontalen Barre findet, des reaktiven Subjekts ausmachen. Vgl. Badiou 2006: 65-67. 68 Die abstrakte Form des obskuren Subjekts lässt sich schreiben als: C . Dabei gibt C den vollen ahistorischen Körper an, der in der Folge die Ereignisspur und den sich dieser unterstellenden Körper negiert. Vgl. Badiou 2006: 67-70. <?page no="85"?> Von der Treue 85 zu lassen. Badiou nimmt damit ein Konzept auf, das er bereits früh für die Politik unter dem Namen der Aktualisierung „kommunistischer Invarianten“ 69 eingeführt hat. Jedoch ergibt sich an dieser Stelle implizit eine bemerkenswerte Pointierung des badiouschen Treuebegriffs. Bedeutet dies nicht, dass es in gewisser Weise Treue immer nur als permanente Wiederauferstehung geben kann? Ich möchte versuchen zu zeigen, dass der Erhalt jeder Treue davon abhängt, dass man die Treueprozedur intern gespalten denkt: Sie ist sowohl Produktion als auch Wiederauferstehung. Treu sein bedeutet, so die These, immer auch wieder aufzuerstehen. Denn schafft jede Treue in ihren endlichen singulären Akten einerseits eine je neue Situation, eine je neue Gegenwart, dann erscheint in dieser ein andererseits stets neuer und stets transformierter Körper. So stellt sich hier erneut die Frage nach dem Institutionellen der Treue, die Frage nach der Möglichkeit der Kontinuität zwischen zwei singulären Situationen und zwei singulären Körpern, d.h., es stellt sich genau die Frage nach der internen Konsistenz der Treue. Hierbei ist es hilfreich, ein Schema anzuführen, mit dem Badiou das Verhältnis der unterschiedlichen Subjekt-Typen zueinander darstellt, wobei das Zeichen die Gegenwart angibt: 70 Treu 1 Wahrheit Produktion Obskur Verdunklung 69 Vgl. dazu Badiou/ Balmes 1976: 34-69. 70 Badiou 2006: 75. Treu 2 Leugnung ng Auferstehu Reaktiv <?page no="86"?> Frank Ruda 86 Konstituiert jeder singuläre Akt der Treue retroaktiv, in der Entfaltung der Potenz der Wahrheit, das Ereignis neu, dann stellt genau der erscheinende Split zwischen treuem Subjekt 1 in Situation 1 und treuem Subjekt 2 in Situation 2 die eigentliche Frage nach der Konsistenz der Treue. Ich möchte die These vertreten, dass jeder singuläre Akt der Treue nicht allein rückwirkend bestimmt, was das Ereignis gewesen sein wird, sondern dass überdies jeder Akt den vorhergehenden in gleicher Weise bestimmt. Das treue Subjekt 2 bestimmt in einem singulären Akt, der in Situation 2 statthat, rückwirkend, was das treue Subjekt 1 gewesen sein wird. Und es bestimmt darüber hinaus in gleicher Weise das Ereignis, und dies setzt sich potenziell ad infinitum fort. Der Bezug auf die Spur des Ereignisses oder seinen Namen bleibt in dieser Weise stabil, aber die retroaktive Entfaltung der Potenz variiert stets die gesamte Sequenz der Treue. Ist dieser Akt sowohl der Ereignisspur als auch der Singularität der transformierten Situation angemessen, dann erscheint das treue Subjekt 2 mit dem treuen Subjekt 1 in Kontinuität, eben als ein Subjekt und so ad infinitum. Das treue Subjekt 2 findet sich so determiniert vom treuen Subjekt 1 , wie es auch dieses stets rückwirkend determiniert (haben wird). Das Verhältnis beider ist folglich keines der einfachen Identität. Es handelt sich vielmehr um eine Kontinuität, die in sich selbst die minimale Differenz einer in zwei Richtungen verlaufenden Bestimmung eingetragen findet, eine Art Kontinuität ohne Identität, oder anders: eine diskontinuierliche Kontinuität. So kann man verstehen, warum das treue Subjekt ein „Subjekt ohne Identität“ 71 ist. Denn es ist als treues Subjekt durch seine einzelnen Operationen stets in sich gespalten. Die Konsistenz der Treue lässt sich also weder allein durch die Form des treuen Subjekts 1 noch durch die des treuen Subjekts 2 verstehen, sondern nur durch die sie stets minimal voneinander trennende Differenz, die die Prozessualität der Treue einsetzt. Das treue Subjekt ist so immer beides: die Form des treuen Subjekts und die Operationen, die die Kluft zwischen treuem Subjekt 1 und treuem Subjekt 2 eintragen. Die eigentümliche Konsistenz der Treue ist damit durch den sich permanent fortschreibenden Spalt, der sich zwischen je singulären Akten auftut, bestimmt. Oder anders gesagt: Die Konsistenz der Treue bestimmt sich über die ihr immanente Inkonsistenz. In der generischen Treue, die jede vorgeschriebene Stabilität aushebelt, erscheint so die Inkonsistenz selbst im Zentrum der Treue. Dass die Treue selbst derart in-konsistiert ist, bedeutet, dass sie sowohl gesetzlose Treue als auch Treue zur Inkonsistenz ist, die durch das Ereignis in die Situation einbricht und die Unmöglichkeit einer Totalisierung angibt. Somit ließe sich sagen, dass das Institutionelle innerhalb der Treue die ihr immanente und sich perpetuierende Spaltung ist. Die Treue ist in dieser Hinsicht Wiederauferstehung als konstantes Offenhalten der internen Spaltung, die sie von sich selbst trennt und die sie so gegen die spontanen und dogmatischen, reaktiven und obskuren Versuchungen feit. Daraus 71 Badiou 2002: 13. <?page no="87"?> Von der Treue 87 ergibt sich aber eine weitere Differenzierung. Denn die Spaltung, diese stete Differenz, die die interne In-Konsistenz der Treue ausmacht und entfaltet, ist überdies je verschieden von sich selbst. Es lässt sich keine Einheit der Differenz, keine Einheit der Spaltungen finden. Die generische Treueprozedur ist so eine Perpetuierung sich stetig verschiebender Differenzen, ihre Konsistenz ist die reiner Vielheiten von Vielheiten, die potenziell ins Unendliche reicht. Deswegen muss man festhalten, dass - und hier ließe sich deutlich ein Unterschied zu Deleuze markieren - die Differenz, die die jeweiligen Akte der Treue einsetzen und die die Treue konstant von sich selbst variieren lässt, von sich selbst ebenfalls konstant differiert. 72 Die in jedem singulären Akt von sich selbst differierende Treueprozedur lässt in der Zeitlichkeit des futur antérieur selbst noch diese einzige Konstante, die eingetragene Spaltung oder Differenz, stets von sich selbst differieren. Solange die Treue Treue ist, gibt es in ihr niemals einen einzigen Modus der Differenz, der sie bestimmte, vielmehr ist die Treueprozedur in sich durch Differenzen von Differenzen, durch Vielheiten von Vielheiten, durch eine beständige Transformation selbst noch des Modus der Differenz verfasst. Ihre Einheit bleibt allein gesichert durch den Bezug auf den Namen oder die Spur des Ereignisses. Man kann sagen, dass sich mit Badiou diese Differenzen von Differenzen, diese sich perpetuierende und stetig verschiebenden Minimaldifferenzen als subtraktives Verfahren bestimmen lassen. So lässt sich folgern, dass die Treue eine subtraktive Prozedur ist, die sie stets, jour après jour, von sich selbst getrennt und doch liiert erscheinen lässt. Die Treue ist, so verstanden, eine subtraktive Institution. 4 Treue zur Treue Formuliert man die Frage nach der Konsistenz der Treue in Begriffen von Wiederholung und Produktion, dann kann man sagen, dass sich die Treue formal bestimmen lässt als produktive oder anders gesagt: als schöpferische Wiederholung. Wenn jeder singuläre Akt einer Treue in gewisser Weise den vorhergehenden wiederholt, dann hängt die Kontinuität von einer in der Wiederholung aufscheinenden Transformation ab. Wenn man sagen kann, dass treu zu sein Wiederauferstehen bedeutet, dann nur, weil Treue Wiederholung und zugleich Schöpfung und Produktion bedeutet. Genau hier zeigt sich zudem eine bedeutsame Strukturanalogie, die in das Herz der badiouschen Philosophie führt. Badiou hat in einer Diskussion der Position Althussers darauf hingewiesen 73 , dass man dessen These, die Philosophie verharre seit jeher in einer ewig gleichen Form und wiederhole permanent 72 Dagegen gibt es bei Deleuze eine Differenz der Differenz, einen stabilen Modus der Differenz. Denn Deleuze sagt deutlich, „dass es eine Differenz der Differenz gibt, die das Differente versammelt, dass es eine Differenzierung der Differenzierungen gibt, die das Differenzierte integriert und verschweißt.“ Vgl. Deleuze 1997: 275. 73 Badiou 2007 (b). <?page no="88"?> Frank Ruda 88 den gleichen Kampf zwischen Materialismus und Idealismus, bejahen müsse. Bestimmt Althusser Philosophie jedoch als geschichtslos, so muss, nach Badiou, diese Behauptung zurückgewiesen werden. Zwar bestimmt sich Philosophie als Wiederholung der ewig gleichen Form, jedoch werden in diese Form Variationen eingetragen. Die Philosophie empfängt von ihren Bedingungen - von der Wissenschaft, der Liebe, der Politik und der Kunst, in denen Ereignisse statthaben können - produktive Variationen, die die ewige Wiederholung des Gleichen transformieren. Daher gleicht die geschichtliche Entwicklung der Philosophie einem ewig gleichen musikalischen Thema und seinen Variationen: „There is a possibility that the development of philosophy must always be in the form of resurrection. […] But as you know there is a close relationship between resurrection and immortality, between the greatest change we can imagine, the change from death into life, and the most complete absence of change we can think of, when we are in the joy of salvation.” 74 Philosophie wäre folglich das Ineinander von Auferstehung und Unsterblichkeit, das Ineinander von Wiederholung ihrer eigenen ewigen Form und der Variation dieser Form durch das, was in ihren Bedingungen geschieht. Bemerkenswert ist diese Bestimmung der Philosophie als schöpferische Wiederholung aus zwei Gründen: 1. weil der Philosophie so die gleiche In-Konsistenz wie der Treue zukommt und 2. weil sie folglich eine Art Treue zur Treue ist. Damit ist gemeint, dass die Philosophie der „unmöglichen Möglichkeit“ treu bleibt und so allein von dem Axiom ausgeht, dass es in Liebe, Wissenschaft, Kunst, Politik ewige Wahrheiten gibt. Diese Treue zur Treue erhält sie aufrecht, indem sie dieses „es gibt“ 75 der Wahrheiten setzt. Aus diesem Grund möchte ich die Lesart des Verhältnisses der Philosophie zu ihren Bedingungen, die Alenka Zupan i 76 vorgeschlagen hat, nicht aufnehmen. Zupan i deutet dieses Verhältnis zu Recht als eines, das konstant Gefahr läuft, von der destruktiven Passion des Realen 77 des Philosophen heimgesucht zu werden, die eben dazu führt, die Philosophie mit einer der Bedingungen zu vernähen, d.h. sie allein unter dem Primat einer einzigen der vier Bedingungen zu denken. Ein solcher Vernähungseffekt konstituiert etwa, nach Badiou, die politische Philosophie, die alles - die Kunst, die Liebe, die Wissenschaft - der Bedingung der Politik untergeordnet zu denken sucht. Dagegen schlägt Zupan i vor, die notwendige Distanz der Philosophie zu ihren Bedingungen über eine „fünfte Bedingung“ zu denken. Nach Zupan i kann die Philosophie der Versuchung der Vernähung allein dann widerstehen, wenn sie eine ihrer Bedingungen, und zwar die der Liebe, in sich integriert, als Philo-Sophie. Die Liebe hielte so das Verhältnis der Philo- 74 Badiou 2007 (b). 75 Vgl. etwa Badiou 1992 (b): 79. 76 Vgl. Zupan i 2004: 191-201. 77 Zur Passion des Realen und zur Unterscheidung von destruktiver und subtraktiver Passion vgl. Badiou 2006: 63-74. <?page no="89"?> Von der Treue 89 sophie zu all ihren Bedingungen in stabiler Distanz aus, da die Liebe eine Zählung-als-Zwei einsetzt, die keine simple Addition bedeutet, sondern vielmehr ein reines Denken ohne Objekt ermöglicht. 78 In meiner Lesart ist diese Lösung problematisch. Denn jede einzelne der Bedingungen wiederholt sich in der Philosophie und trägt sowohl Variationen in diese ein wie sie auch deren ewige Form, die der Kompossibilität der Wahrheiten, mitbestimmt. So kann man sagen, dass die Philosophie von der Politik unter anderem die Form der universalen Adressierung und das Denken der Gleichheit der vier Bedingungen untereinander aufnimmt. Sie nimmt aber zugleich von der Wissenschaft die Kraft der logischen und deduktiven Operation, von der Kunst den Punkt des Unbenennbaren, Namenlosen, den das Poem markiert, und von der Liebe ein Denken ohne Objekt in sich auf. 79 Diese Aufnahmen reflektieren sich noch in der Form, die die Philosophie annimmt. So stellt sie sich daher zugleich als eine Fiktion des Wissens (Mathematik), als eine Fiktion der Kunst (Metaphern, Bilder), als eine Liebe ohne Objekt und als eine sich an jeden richtende „Überzeugungsstrategie ohne Machteinsatz“ 80 dar. In eben dieser Hinsicht ist die Philosophie immer eine ‚Diagonale’ ihrer Bedingungen, genauer gesprochen: der Bedingungen zu sich selbst, und als Treue zur Treue muss sie für Badiou der - destruktiven - Passion des Realen, eben der Vernähung mit einer ihrer Bedingungen, widerstehen. Daher muss sie gegen alle spontanen und dogmatischen Versuchungen, gegen alle Vernähung, gegen alle sophistischen Deklarationen des Endes der Philosophie, gegen alle reaktiven Subjekte darauf bestehen, dass es ewige Wahrheiten in ihren Bedingungen gibt. Dies kann sie aber nur tun, wenn sie kreative Wiederholung, Treue zur Treue, bleibt, und zwar eine Treue, die weitermacht und sich für die Wahrheiten, die in ihren Bedingungen statthaben, offen hält. So gilt es für den Philosophen, in immer wieder neuen historischen Situationen auf je singuläre Weise ihren Akt zu wiederholen. Gegen alle Propheten und leidenschaftlichen Fetischisten des Endes und der Endlichkeit muss sie das „es gibt“ der Wahrheiten statuieren. Dies ist ein Imperativ, der sich der simplen Wiederholung dessen, was bloß dem Gesetz nach ist, entzieht, und der die Philosophie als Treue zur Treue erhält. Dieser Imperativ, den man als einen Imperativ der badiouschen Philosophie 78 Eine Aufnahme und Fortführung dieses Gedankens findet sich bei Hoens 2007: 233-244. 79 Vgl. dazu auch Badiou 1992 (d): 263-274 und Badiou 1999: 177-190. Hier müsste man genau entfalten, wie die Subtraktion die Bedingungen selbst zeichnet. D.h., wie die Philosophie in gewisser Weise nichts anderes als ein dynamischer ‚Spiegel’ der Bedingungen ist, der jeder Bedingung ermöglicht, sich selbst und alle anderen zu bedingen. Die Philosophie wäre so der Ort der Differenz der Differenzen, die die Bedingungen von sich selbst trennen. Überdies wäre eine konzeptuelle Darlegung des badiouschen Konzepts der „Subtraktion“ nötig, um sowohl genauer das Verhältnis der Philosophie zur ihren Bedingungen als auch die Verfasstheit der einzelnen Bedingungen selbst zu verstehen. Daraus ergäbe sich auch erst ein adäquates Verständnis der Differenz von destruktiver und subtraktiver Passion des Realen. Meine Bemerkungen geben nicht mehr als eine mögliche Richtung einer solchen Untersuchung an. 80 Badiou 1992 (a): 69. <?page no="90"?> Frank Ruda 90 bezeichnen kann, besagt, dass auch die Philosophie in ihrer Treue zur Treue weitermachen muss. Dies könnte man wohl die subtraktive Passion des Realen der Philosophie nennen. 5 Coda Alain Badiou hat in Das Sein und das Ereignis eine Unterscheidung zweier Typen von Situationen eingeführt. Diese Unterscheidung setzt grundlegend daran an, dass es einerseits Situationen, d.h. Präsentationen und Repräsentationen von Vielheiten, in denen Ereignisse statthaben können, und andererseits Situationen, in denen dies nicht möglich ist, gibt. Diejenigen, in denen Ereignisse statthaben können, sind für Badiou „geschichtliche Situationen“ 81 , die anderen natürliche. 82 Die natürliche Situation benennt dabei einen bestimmten Typ von Vielheit, der aufgrund seiner eigentümlichen Verfasstheit die größte Stabilität besitzt und keiner Veränderung unterliegen kann. Ohne diese Differenzierung hier ausführlich diskutieren zu können 83 , ist es bemerkenswert, dass Badiou darauf hinweist, dass geschichtliche Situationen naturalisiert werden können, natürliche Situationen sich jedoch niemals historisieren lassen. Bedenkt man, dass die einzige transformatorische Möglichkeit geschichtlicher Situationen aus Ereignissen stammt und dass die Potenz der Wahrheit eines Ereignisses sich in der ausgeführten Logik der Treueprozedur entfaltet, dann liegt es nahe anzunehmen, dass die Treueprozedur selbst das Moment der Naturalisierung einer geschichtlichen Situation angibt. Was aber kann in diesem Kontext Naturalisierung bedeuten? Badiou selbst gibt die Richtung einer möglichen Antwort vor: „I think there is a profound historicity of truth, which is quite natural, since truth is a process and not a donation.” 84 Die Wahrheiten selbst sind in dieser Hinsicht 81 Zur Herleitung der geschichtlichen Situationen vgl. Badiou 2005 (a): 199-229. Deren grundlegendste Bestimmung lässt sich vereinfacht wie folgt angeben: Es sei A eine gegebene Situation, deren einziges Element ist. Nun besitzt , da es auch eine Vielheit ist, ein weiteres Element und dieses wiederum weitere Elemente. Eine geschichtliche Situation konstituiert sich nun formal darüber, dass in ihr gilt: A A & . Diese Formel bedeutet, es existiert für jede Menge A ein Element , für das gilt, dass es ein Element ihres Elements ist und dennoch nicht als repräsentiertes Element, als separat gezählte Teilmenge, von A erscheint. Kurz gesagt ist die Schnittmenge von A und leer. wäre in diesem Fall die Ereignisstätte, der besondere Term von A. Erneut verkürzt gesagt: Alle Situationen, in denen es eine Ereignisstätte oder besondere Terme gibt, sind geschichtliche Situationen, alle anderen natürliche. 82 Vgl. dazu ebd.: 143-183 und 215-217. 83 Um dies adäquat zu tun, müsste man die mengentheoretischen Ausführungen Badious, die zentral mit dem Fundierungsaxiom zu tun haben, rekonstruieren und in der Folge in die badiousche Konzeption der ontisch-ontologischen Differenz führen. Bruno Besana hat in einer kurzen Bemerkung in eine ähnliche Richtung gedeutet wie die, in die meine Frage weist. Vgl. Besana 2007: 132. 84 Badiou 2005 (c): 136. <?page no="91"?> Von der Treue 91 nicht natürlich, aber ihre Geschichtlichkeit. Als Geschichtlichkeit der Wahrheit lässt sich die formale Struktur jeder Wahrheit als generische Prozedur unabhängig von ihrer je singulären Entfaltung verstehen. Sie gibt die stets stabile Grundlage, nämlich die durch das Ereignis einbrechende Inkonsistenz, ihrer je singulären Emergenzen und Entfaltungen in je singulären Situationen und durch je singuläre Treueprozeduren an. Einerseits bezeichnet Geschichtlichkeit der Wahrheit die stets stabile und unveränderliche Form des Prozesses der Entfaltung der generischen Wahrheiten, und andererseits ist diejenige Ordnung von Vielheiten, die Badiou als stabilste angibt, eben die natürliche. Badiou entwickelt so ein immanentes Ineinander von absoluter Singularität der Wahrheit - der Situation, des Ereignisses und der Entfaltung in der Treue - und ihrer absoluten Stabilität, oder in Badious Terminologie: ihrer Ewigkeit. Ließe sich in dieser Hinsicht nicht sagen, dass die Treue als „das Symbolische, indem es sich auf das Reale richtet“ 85 zu verstehen wäre, d.h. als je singuläre Entfaltung der ewigen Stabilität der Wahrheit? Oder anders: Wenn jede Wahrheit in einer Treueprozedur praktisch entfaltet wird, ließe sich die Treue in dieser Hinsicht nicht als Naturalisierung verstehen? 86 Literaturverzeichnis Badiou, Alain/ Balmes, Francois, De l’Idéologie, Paris 1976. Badiou, Alain, „Custos quid noctis“, in: Critique 450 (Nov. 1984), S. 851-863. Badiou, Alain, Peut-on penser la politique? , Paris 1985. Badiou, Alain, L’être et l’événement, Paris 1988 (a). Badiou, Alain, „On a Finally Objectless Subject“, in: Topoi 7 (1988 (b)), S. 93-98. Badiou, Alain, „Le (re)tour de la philosophie elle-même“, 1992 (a), in: ders., Conditions, Paris 1992, S. 57-79. Badiou, Alain, „Définition de la philosophie“, 1992 (b), in: ders., Conditions, Paris 1992, S. 79-82. Badiou, Alain, „Conférence sur la soustraction“, 1992 (c), in: ders., Conditions, Paris 1992, S. 179-196. Badiou, Alain, „Qu’est-ce que l’amour? “, 1992 (d), in: ders., Conditions, Paris 1992, S. 263-274. Badiou, Alain, D’un désastre obscur, Paris 1998. 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Politisch-theologische Anküpfungen, Literatur <?page no="97"?> Henning Teschke Extremismus: Badiou und Pascal Vor Badiou hatte sich das gegenwärtige französische Denken schon zweimal auf Blaise Pascal eingelassen. Pierre Bourdieus Theorie des habitus, der automatisierten Handlungs- und Denkschemata, sowie seine Analyse des sozialen Apriori, das jedem individuellen Akt der Wahl zugrunde liegt, entstand auch in Auseinandersetzung mit Pascal, am systematischsten in Bourdieus letztem Werk, den 1997 erschienenen Méditations pascaliennes. Pascals Wette liefert das Muster für den Habitus. Sinnvoll wird die Wette einzig für den, der hinreichend disponiert ist, an die Vernunft zu glauben. Die Voraussetzung dafür, dass überhaupt gewettet wird, ist die Anerkennung der Instanz der Vernunft. Erst dann wird der Spieler empfänglich für das, was an ihm demonstriert werden soll: Ein endlicher Einsatz wirft unendlichen Gewinn ab. Wer sich auf diese Wette einlässt, hat bereits an den Spieltischen des sens commun Platz genommen und empfiehlt sich durch die Freiheit, mit der er sich ihren Regeln unterwirft. Gilles Deleuze unterscheidet in seiner Theorie des Spiels das bürgerlich-menschliche vom ideal-anarchischen Spiel, das Spiel nach kodifizierten Regeln vom Spiel, wo jeder Zug neu über die Regeln des Spiels entscheidet. In der langen philosophischen Tradition, das Geschehen zwischen Gott, Welt und Mensch im Bild des Spiels zu fassen - der würfelnde Gott Heraklits, die Verteilung der Seelenlose in Platons kosmologischer Lotterie, das Kombinationskalkül von Leibniz’ Schöpfer der besten aller möglichen Welten, Mallarmés Un coup de dés jamais n’abolira le hasard, Nietzsches Idee der ewigen Wiederkehr als Weltenwurf ohne Werfer -, gehört Pascals Wette für Deleuze zu einem Spieltypus, der zu einem abgekarteten Spiel einlädt. 1 Die Spieleinsätze, ob es sich lohnt oder nicht lohnt, auf Gott zu setzen, sind samt der daraus hervorgehenden Lebensweisen sekundär, solange die konstante Regel des Spiels, Gott selbst, niemals in Frage gestellt wird. Doch zum anderen nähert sich Deleuze Pascal überall dort wieder an, wo von habitude, automate, croyance, contrainte als einem gesellschaftlichen Bedingungsverhältnis die Rede ist, welches das Subjekt nicht wahrhaben kann, weil es sein Resultat ist. Badiou befindet sich also nicht in schlechter Gesellschaft, wenn Pascal, der große Apologet des Christentums, ein nichtbzw. ein nachchristliches Interesse auf sich zieht. Was ermöglicht diese Begegnung, wo setzt sie ein? Warum kann Badiou Pascal, nicht anders als Beckett oder Deleuze, eine „extrémité contemporaine“ 2 nennen, der extremistisch nicht nur in seiner 1 Vgl. Deleuze 1969: 74ff. 2 Badiou 1982: 296. <?page no="98"?> Henning Teschke 98 Gegenwart, sondern auch in unserer steht? Für Badiou gehört Pascal in die Reihe der Antiphilosophen, er nimmt gegenüber Descartes dieselbe Position ein wie Rousseau in Bezug auf Voltaire und Hume, Kierkegaard in Bezug auf Hegel, Paulus mit Blick auf die jüdische Orthodoxie. Jedes Mal stößt die Philosophie auf etwas, was für den Begriff uneinholbar bleibt, was sie nicht denken kann, weil es in der Homologie von Denken und Sein nicht aufgeht: die paulinische Auferstehung, die pascalsche Doktrin des Wunders, Kierkegaards existenzielle Kategorie der Wiederholung. Die Entwertung des philosophischen Wahrheitsbegriffs zugunsten der Wahrheit eines Ereignisses konstituiert einen neuen Typ des Subjekts, „ni transcendantal ni substantiel, entièrement défini comme militant de la vérité dont il s’agit.“ 3 Das Subjekt gehört nicht der Ordnung dessen an, was ist, sondern dessen, was geschieht: der Ordnung eines Ereignisses, das es überschreitet. Pascal sucht eine Antwort auf die spezifischere Frage, was es heißt, ein christliches Subjekt unter den Bedingungen der Gegenwart zu sein. Abzüglich des christlichen Vorzeichens findet Badiou bei Pascal Elemente für seine Theorie des Subjekts, die aus den reflexionsphilosophischen, kommunikativen, marxistischen und kulturalistischen Aporien der Letztbegründung die Konsequenz für eine andere Idee des Subjekts zieht. Das Subjekt gründet in keiner Selbstfindung oder Identität, in keinem Ursprung oder Prozess, in keinem Warten oder Advent (wie in Heideggers oder Derridas krypto-theologischer Ereignisphilosophie), sondern in einer Spaltung, der mit dialektischer Vermittlung nicht beizukommen ist. „La contradiction n’a aucun autre mode d’existence que la scission.“ 4 Entsprechend gilt: „il n’y a de vérité qu’extrémiste“ 5 , ein philosophischer, politischer und existenzieller Extremismus, der sich in seinen nicht minder extremistischen Konsequenzen bewahrheiten muss. Aus dieser Konfiguration ergibt sich die Verbindung von anti-naturalistischem Subjekt, „passion du réel“ 6 und dezisionistischer Wahrheit. Subjekt muss man werden, weil man es nicht ist, Subjekt bezeichnet für Badiou den Antipol zu allen gegebenen Identitäten, die in der Pluralität und Kombinatorik ihrer Prädikate ebenso viele Formen der marktförmigen Produktion von Individualität bereitstellen, im einverständlichen Pakt mit dem status quo, der lediglich die Plätze, die in ihm einzunehmen sind, in die Wahl des Einzelnen stellt, nicht die Bedingungen dieser Verteilung selbst. ‚Subjekt’ heißt Abstand zu sich selbst, Abhängigkeit vom Ereignis, Kapazität von Wahrheit, innere Transzendenz, Seinsmangel, Inexistenz im Verhältnis zum Gegebenen, um sich etwas Reales aneignen zu können, in dem sich das Subjekt als in einem es selbst überschreitenden Projekt verliert. 7 Es versteht sich dann von selbst, dass es keine vorgefun- 3 Badiou 1997: 117. 4 Badiou 1982: 32. 5 Badiou 2008: 98. 6 Badiou 2006: 46, 53, 62, 68, 70, 81, 123. 7 Vgl. ebd.: 124ff. <?page no="99"?> Extremismus: Badiou und Pascal 99 dene Natur der Dinge oder Subjekte geben kann, an deren Permanenz zu arbeiten verlohnt. Was tut Pascal dazu, was schaut Badiou ihm ab? Der Name des „Ereignisses“, mit dem Badiou von der Zwingkraft des „Warum? “ spricht, verdeckt eine Schwierigkeit, auf die wenig hindeuten soll und für die alles spricht: Badious Philosophie des Ereignisses steht in viel größerer Nähe zu den Konversionsstandards der christlichen Antiphilosophen Paulus, Pascal und Kierkegaard, als es sein Wahrheitsmodell zulassen dürfte. Durch alle Texte Badious hindurch erhält sich ein Begriffsregister, das nicht frei von religiösen Hypotheken ist: événement, césure, irruption, grâce, nouveau monde, résurrection, révélation, exception, universalité, salut, singularité, fidelité, infini, choix, décision, prisonniers du monde. Was rechtfertigt, was erzwingt die Inanspruchnahme solcher Kategorien diesseits theologischen Leichtsinns oder frivoler Metaphorik durch ein Denken links vom Möglichen, das sich der Evasion nach oben versagt? Warum der Rückgriff ausgerechnet auf Religion, wo doch die Welt nach Christus um keinen Deut besser geworden ist als vorher? Sich darüber Rechenschaft abzulegen verlangt, den gemeinsamen Nenner der para-atheistischen Philosophie Badious und der Antiphilosophie Pascals zu ermitteln. 1 Gnade Badiou greift zunächst ein Konzept auf, das mit lutherisch-calvinistischem Unterbau und augustinischem Fundament im Zentrum der Debatten von Port-Royal, Jesuiten und Jansenisten, Molinismus und Richelieu, Arnauld und Pascal stand: die Gnadenlehre. Doch nicht, um ihre Entwicklung ideengeschichtlich nachzuzeichnen, sondern um an der Wiederkehr der grâce in der Ereignisphilosophie von Deleuze zunächst die Differenz zur eigenen deutlich zu machen. Was George Bernanos’ Landpfarrer einmal in seinem Tagebuch notiert: „Qu’est-ce que cela fait? Tout est grâce“ 8 , wird für Badiou zur Formel, um den deleuzianischen Vitalismus im Ganzen zu bestimmen: Es gibt nichts als die Gnade des Ganzen. Das immanente Maß für die Mannigfaltigkeit aller Wertschätzungen, das Leben, ist selbst unschätzbar, absolute Notwendigkeit und absoluter Zufall sind ununterscheidbar. Daher werden Wette und Wahl bei Deleuze zur philosophischen Macht analog zu ihrer theologischen Ermächtigung bei Pascal. Die tiefsten Bewegungen der Seele entwaffnen die Psychologie, sagt Deleuze 9 , weil sie nicht von innen kommen. Das Denken wird von der Exteriorität eines Glaubens mitgenommen, der außerhalb jeder Innerlichkeit des Wissens steht. Bei Deleuze hat er zwei aleatorische, aber deshalb nicht arbiträre Namen: Gnade oder Zufall. Für die Entmächtigung des Subjekts als Voraussetzung einer neuen Potenz 8 Vgl. Bernanos 1962: 217, Badiou 1997: 142. 9 Vgl. Deleuze 1985: 228. <?page no="100"?> Henning Teschke 100 findet Deleuze eine Formel, die Wahl und Gnade verschränkt: „ne choisit bien, ne choisit effectivement que celui qui est choisi.“ 10 Aus der Ununterscheidbarkeit von Tun und Lassen heraus charakterisiert Badiou das Denken von Deleuze als eines, für das alles Gnade ist. Benannt ist damit zugleich die ontologische Differenz zu Deleuze: Sinon que pour celui qui, comme moi, exclut que l’Etre puisse se penser comme Tout, dire que tout est grâce, c’est exactement signifier qu’aucune grâce, jamais, ne nous est accordée. Or, c’est inexact. Il nous vient de l’interruption, du supplément, et qu’il soit rare, ou évanouissant, nous impose de lui être longuement fidèles. 11 Säkularisiert, wenn auch nie restlos, heißt die Gnade Ereignis, dessen Emblem für Badiou das Wunder ist. Ob es sich hierbei um Synonyme oder Substitutionen handelt, was überhaupt die Sprachregister von Badiou und Pascal aufeinander beziehbar macht, lässt sich nach einer kurzen Erörterung der operativen und polemischen Elemente in Pascals Gnadentheologie besser klären. Die theologische Erneuerungsbewegung des 17. Jahrhunderts ist insgesamt von Augustinus geprägt. 12 Mit den calvinistischen und lutherischen Glaubenslehren und den Beschlüssen des Trienter Konzils (1545-1563), auf deren Umsetzung Richelieu bedacht war, beginnt der Streit um die Gnadenlehre. Der Calvinismus lehrt, dass die Prädestination, also der Grad der vor der Geburt des Menschen von Gott bestimmten, ihm zukommenden oder mangelnden Gnade, an den Lebensbedingungen des Menschen im Diesseits ablesbar sei. Im Gegenzug für die ihm zuteil werdende Gnade ist es seine Pflicht, sich am sozialen Leben aktiv und rational zu beteiligen. Das Konzil von Trient wertete dagegen die Entscheidungsfreiheit des Menschen für oder gegen Gott auf und stimmte damit gegen die augustinische Version der Prädestination, auf der auch Luthers und Calvins Lehren fußten. Die Gesellschaft Jesu folgte dem kirchlichen Beschluss vorbehaltlos. Die jesuitische Lehre des Molinismus sieht den Menschen als Ebenbild Gottes und durch die Erbsünde nicht vollkommen korrumpiert. Er ist also, wie auch die Humanisten annehmen, mit den Fähigkeiten der Vernunft und Entscheidungsfreiheit ausgestattet. Dem Molinismus zufolge besitzt der Mensch als geschaffenes Wesen die zureichende Gnade Gottes (gratia sufficiens), die durch die sakramentalen Mittel der Kirche verstärkt wird (gratia efficax). Gott ist zur Mitwirkung am Heilsakt bereit, doch bedarf es dafür der aus freiem 10 Deleuze 1985: 232. 11 Badiou 1997 (b): 143, Herv. im Original. 12 Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund des Jahrhunderts vgl. Kondylis 1981, Lehmann 1980, Cassirer 1973, Hildesheimer 2002: 11-39. <?page no="101"?> Extremismus: Badiou und Pascal 101 Willen getroffenen Entscheidung des Menschen. Menschliche Freiheit und göttliche Gnade bilden keinen Gegensatz, sondern kooperieren im Idealfall miteinander (der „Kongruismus“ des Scholastikers Suarez). Der Weg zum individuellen Heil führt aber nicht nur über die spirituelle Einkehr, sondern auch über den Dienst an der Kirche mit ihren politischen Interessen. Mit subtiler Kasuistik, der fallweise verschiedenen Begründung der Normen des richtigen Handelns, vertreten die Jesuiten die Auffassung, dass man sich von begangener Schuld durch gestuft gute Taten befreien kann, ganz nach Art eines redemptorischen Schachers: Vergebung für Schuld durch gute Werke und Taten. Antoine Arnauld, seit 1645 Spiritual von Port-Royal, bringt die theologische Auseinandersetzung an die Sorbonne und akzentuiert den Gegensatz zwischen dem auf der augustinischen Prädestinationslehre, auf Liebe und Ehrfurcht vor Gott basierenden Jansenismus und der jesuitischen Lehre, die nicht von einer emphatischen Liebestheologie, sondern von einem praxis- und gesellschaftsorientierten Modell ausgeht. 1656 entscheidet die Sorbonne gegen die Argumentation Arnaulds und verhängt ein Publikationsverbot über ihn. An dieser Stelle greift Pascal in den Streit ein und verfasst Les Provinciales. Nach Entkräftung der Vorwürfe gegen Arnauld befasst sich das antijesuitische Pamphlet in den ersten drei Briefen vor allem mit der grâce habituelle (dauernde Gnade) und der grâce actuelle (augenblickliche Gnade). Die Argumentation seiner jesuitischen Gegner fasst Pascal so zusammen: Es gibt eine ausnahmslos allen Menschen verliehene Gnade, die folglich dem freien Willen untersteht, der sie ohne weitere Hilfe von oben entweder wirksam oder unwirksam macht. Gott hat den Menschen alles gegeben, was er zum Handeln braucht - eine Disposition, die durch die Handlung von der Latenz in die Aktualität überführt wird. Jesuitisch verstanden fungiert die Gnade als permanente Reserve, die allem menschlichen Tun seine Eindeutigkeit und Eigenverantwortlichkeit nimmt, weil sie auf einem verborgenen Fundament ruht, zu dem die jesuitischen Theologen bevorzugten Zugang haben. Aus der Ambivalenz von Grund und Begründetem ergeben sich alle kasuistischen wie probabilistischen Lizenzen in den Moralvorstellungen der Jesuiten. Sie kassieren die Differenz von Moral und Religion, sie bringen den Glauben um jene Widerständigkeit, die in der „grande facilité pour le commerce du monde“ 13 nicht aufgeht, sie entpflichten von der Notwendigkeit, zwischen der Unbedingtheit der Liebe zu Gott und dem Arrangement mit den weltlichen Mächten zu wählen. Die Jansenisten, denen Pascal nahesteht, behaupten hingegen, dass es keine gegenwärtige Gnade gäbe, die nicht auch zugleich wirksam wäre. Was bedeutet, dass jede Gnade, die nicht den Willen bestimmt, wirklich zu handeln, zum Handeln unzureichend ist, da man nie ohne wirkliche Gnade handelt. Im Jansenismus ist nicht von der grâce habituelle, nur von der grâce actuelle die Rede, die der Mensch für eine 13 Pascal 1987: 151. <?page no="102"?> Henning Teschke 102 Handlung erlangen, die Gott ihm aber für eine andere Handlung versagen kann. Dieses interventionistische Moment stellt Badiou bei Pascal in den Vordergrund, mit ihm die Vehemenz eines Eingriffs, der literarisch seinen Niederschlag im „style intervenant“ 14 der Provinciales findet: sprühend vor Esprit, aggressiv, komisch, eindringlich, brillant, drängend, militant, heiter, klar, schnell, leicht - die passion du réel aus der Hyperrealität des Glaubens. Badiou interessiert sich für die innerweltlichen Konsequenzen der pascalschen Religion. Was wird schon hier und jetzt, jetzt sofort anders durch die Treue zum ganz Anderen? Gegen die Verstrickung von Macht, Theologie und Moral erhöht Pascal den Abstand zwischen Gott und Welt in extremis („vere tu es deus absconditus“ 15 ), er präsentiert und praktiziert Religion als Entbindung von den Autoritäten und Gewalten einer Epoche, in der Ludwig XIV. mit nie gekanntem Erfolg daran geht, alle Menschen von einem abhängig zu machen. „Je n’espère rien du monde; je n’en appréhende rien; je n’en veux rien; je n’ai besoin par la grâce de Dieu ni du bien, ni de l’autorité de personne.“ 16 Den Herren dieser Welt nichts mehr zu schulden bedeutet jedoch nicht, der Wirklichkeit schlicht zu entsagen und sich, fern von la cour et la ville, in der Selbstgenügsamkeit isolierter Sphären einzurichten, wie es Molière in der Figur des Alceste im Misanthrope exemplarisch vorführt. Die maximale Entfernung zu, der Bruch mit den objektiven Verhaltensmustern und subjektiven Stereotypen der höfischen Gesellschaft (honnêteté, bienséance, gentilhomme , honnête homme, l’art de plaire) ist als äußerste Form des Bezugs zur Gegenwart zu denken. Deshalb verbietet sich für Pascal auch jeder Rückzug, Quietismus und alle Innerlichkeit im Stile der solitaires von Port- Royal. Es ist wenig damit gewonnen, die Sorge um das Gefallen vor anderen gegen die Sorge um das eigene Selenheil, nur um das eigene, einzutauschen; private Systemkonformität und private Systemindifferenz wirken als komplementäre Formen des amour de soi. Gnade meint bei Pascal ein Ereignis von zentrifugaler, kollektiver Kraft, die, weil sie vom ichzentrierten Denken wegführt, auf universelle Größe anwachsen kann, zunächst im Modus der Mission. In den Worten Badious: „Les conditions de l’universel ne peuvent être conceptuelles, ni quant à l’origine, ni quant à la destination.“ 17 In den Pensées erklärt Pascal die selektive Methode der Gnade Gottes, derer nur diejenigen würdig sind, „qui servent Dieu de tout leur cœur parce qu’ils le connaissent, ou ceux qui cherchent de tout leur cœur parce qu’ils ne le connaissent pas.“ 18 Um Erleuchtung zu erlangen, muss sich der Gläubige moralisch integrer verhalten, gerade weil er keine Garantie dafür hat und 14 Badiou 1988: 238. 15 Pascal 1977: 161, vgl. Goldmann 1955. 16 Pascal 1987: 273. 17 Badiou 1997 (a): 116. 18 Pascal 1977: 176. <?page no="103"?> Extremismus: Badiou und Pascal 103 die Gnade kein dauerhafter Besitz ist. Der terminus ad quem der Intervention liegt außerhalb der Reichweite des Subjekts. Mais, parce que cette religion nous oblige de les [die Ungläubigen, H. T.] regarder toujours […] capables de la grâce qui peut les éclairer, et de croire qu’ils peuvent être dans peu de temps plus remplis de foi que nous ne sommes, et que nous pouvons au contraire tomber dans l’aveuglement où ils sont, il faut faire pour eux ce que nous voudrions qu’on fît pour nous si nous étions à leur place, et les appeler à avoir pitié d’eux-mêmes et à faire au moins quelques pas pour tenter s’ils ne trouveront pas de lumières. 19 Pascals Genie, den Glauben zu einem ereignishaften Knoten zur schürzen, lässt seine institutionelle Formgebung, die ihm erst Dauer und Folgen verleiht, nicht in den Hintergrund treten. Es geht um ein neues, universalisierbares Subjekt, zu dem das individuelle nur Initial und Vorläufer sein kann. „L’organisation seule peut faire d’un événement une origine.“ 20 Für den Pascal Badious steht die Existenz des Christentums auf dem Spiel, nicht wegen der flexiblen Anpassung der kirchlichen Institutionen an die absolutistische Herrschaft von Gottes Gnaden, sondern weil sich das Überleben der ecclesia militans unter den neuen Bedingungen eines areligiösen Wissensdispositivs an der Frage entscheidet, ob es gelingt, die typischen Repräsentanten der neuen Welt (den genussfrohen und verzweifelten Materialisten, den Skeptiker, den Relativisten, den nihilistischen libertin) für die eigene Sache zu gewinnen, mehr noch, sie zur Wahl zwischen zwei Lebensformen zu zwingen, was voraussetzt, darin überhaupt den Gegenstand einer Wahl zu erkennen. Badiou präsentiert Pascal einseitig als den, der die kirchlichen, pädagogischen und monastischen Institutionen tiefgreifend verändern will, um in die profane Sphäre hineinzuwirken. Vernachlässigt werden darüber die konservativen, traditionellen Züge an Pascals Kirchenverständnis, für den Gnade und Heil außerhalb der Kirche ebenso undenkbar waren wie die Möglichkeit, dass Gottesliebe und Kirchenliebe nicht zusammenfielen. Angesichts der gesellschaftlich realen misère et grandeur de l’homme steht Pascal aufseiten der etablierten Mächte, deren Ordnung für gewöhnlich Terror bedeutet. 21 Unvereinbar mit diesem Habitus bleibt jedoch Pascals geistige 19 Pascal 1977: 176. 20 Badiou 1982: 143f. 21 „Als Pascals Vater nach Rouen geschickt wurde, war es in der ganzen Normandie zu Unruhen gekommen. Bewaffnete Bauern, siebenbis achttausend an der Zahl, brandschatzten das Land. Das militärische Eingreifen trieb die Bevölkerung zum Äußersten; am 21. August 1639 brach in Rouen eine Revolution aus. Der Aufstand wurde auf Befehl Richelieus von Séguier niedergeschlagen, in dessen Gefolge der Steuerkommissar Etienne Pascal am 2. Januar 1640 als Vollstrecker der königlichen Macht einzog. Diese Jugenderlebnisse sind nicht ohne Einwirkung auf die betont antirevolutionären Ansichten Pascals geblieben, der auch noch die ‚Fronde’ erlebte, den Bürgerkrieg des Par- <?page no="104"?> Henning Teschke 104 Radikalität. Als am 1. Februar 1661 der Klerus von jedem Geistlichen die Unterzeichnung des „Formulars“ vom März 1657 fordert, das die Lehre des Jansenius verdammt, schlagen Arnauld und seine Freunde am 8. Juni zurück und erwirken einen Hirtenbrief, der die Unterscheidung zwischen dem Recht (die fünf Sätze aus Jansens Augustinus sind verwerflich) und dem historischen Faktum (ob sie von Jansen stammen oder nicht) gelten lässt. Der Hirtenbrief wird im Juli für nichtig erklärt. Ein neuer Hirtenbrief vom 31. Oktober 1661 ordnet die bedingungslose Unterzeichnung des Formulars an, ohne irgendeine Unterscheidung zu treffen. Arnauld entschließt sich zur Unterzeichnung, Pascal mit anderen zum Widerstand und verfasst das Pamphlet Ecrit sur la signature. Erst angesichts des Widerstands, den Port- Royal seinen Ansichten entgegensetzt, verzichtet er auf die Fortsetzung des Kampfes. Es ist schwer zu entscheiden, was an der Gnade, nach ihrer weltlichen Seite, höherer Gehorsam und was Dissidenz ist. In Badious Logique des mondes, dem (vorläufigen? ) Abschluss seines philosophischen Denkens, findet sich ein Gedanke, welcher der offensichtlichen Willkür der christlich verstandenen Gnade, die viele ausschließt und wenige begünstigt, einen atheologischen Gnaden- oder Ereignisbegriff entgegenstellt. Badiou konzediert, dass er zur Kennzeichnung eines Lebens, das an den unerhörten Konsequenzen eines ihm zugestoßenen Ereignisses arbeitet, häufig die Metapher der Gnade verwendet habe. Das Unrecht, die Partikularität dieser Gabe wiedergutzumachen, heißt Universalität, Unendlichkeit und Singularität zu verschränken. Das Tout est grâce von Bernanos-Deleuze wird zum parfois tout est grâce pour chacun bei Badiou. An der Frage, ob die Gnade wie das Wunder nur eine Sprachfigur, nur eine Trope, nur eine Metapher für das Ereignis ist, entscheidet sich für Badiou wie für Pascal, ob Sprache und Sein äquivok oder univok, eindeutig werden oder zwiespältig bleiben. Je n’ai pas besoin de Dieu, ni du divin. Je crois que c’est ici et maintenant que nous nous suscitons, que nous nous (res)suscitons comme Immortels. L’homme est cet animal dont le propre est de participer à de très nombreux mondes, d’apparaître en d’innombrables lieux. Cette sorte d’ubiquité objectale, qui le fait transiter presque constamment d’un monde à l’autre, sur le fond de l’infinité de ces mondes et de leur organisation transcendantale, est par elle-même, sans qu’il soit besoin d’aucun miracle, une grâce: la grâce purement logique de l’innombrable apparaître. […] Incessamment, dans quelque monde accessible, quelque chose advient. A tout animal humain est accordée, plusieurs fois dans sa brève existence, la chance de s’incorporer au présent subjectif d’une vérité. À laments und der Hofpartei während der Minderjährigkeit Ludwigs des XIV. (1640- 1653)“, Béguin 1959: 54. <?page no="105"?> Extremismus: Badiou und Pascal 105 tous, et pour plusieurs types de procédures, est distribuée la grâce de vivre pour une Idée, donc la grâce de vivre tout court. 22 Ontologie statt Theologie. Die literal, nicht metaphorisch zu fassende Gnade des Lebens ist größer als die Weltinnenräume des Kapitals, das Dinge und Menschen nur in ihrer Warenform, also entstellt, zulässt. Mit paulinischem Unterton heißt es bei Badiou: „Nous ne sommes pas prisonniers des liens du monde.“ 23 Der im Bewegungsgesetz des Profits eingeschlossene Planet muss der Unendlichkeit seiner Möglichkeiten entbunden werden, nachdem die Loslösung selbst erobert wurde, die als unfreiwillige, erzwungene Bewegung beginnt: im Herausgerissenwerden aus dem, was ist. Daraus geht, der Idee nach für jeden, eine Freude hervor, die mit Pascal die Form des Bruchs zur Norm der Freiheit macht: „Joie, joie, joie, pleurs de joie. Je m’en suis séparé.“ 24 Dazu sind, im Denken und Handeln, Gelegenheiten und Anlässe zu schaffen, die mehr als einen Begünstigten vertragen. Was ist damit gewonnen, was verloren? Badiou verabschiedet einen Begriff des Subjekts, das bei allem, was es erfährt, nur mit sich selbst rechnet, das es überall nur mit sich selbst zu tun bekommt. Doch der Ausbruch aus dem Bannkreis der Selbstbezüglichkeit stößt auf Schwierigkeiten. Badiou denkt Wahrheit nicht als Besitz oder Habe, vielmehr ist es umgekehrt so, dass das Ereignis der Wahrheit den Menschen ruft, um ihn sich anzueignen, 22 Badiou 2006: 536. Badiou nennt vier generische Wahrheitsprozeduren als Bedingungen der Philosophie: Liebe (die Befreiung der Liebe aus der abseitigen Isolation des Paars; contra „gender“ als „idéal d’une sexualité enfin arrachée à la métaphysique“, ebd.: 443), Politik („nos sociétés sont sans avenir universellement présentable“, Badiou 2003: 58), Mathematik („Les mathématiques sont l’ontologie - la science de l’être-en-tant-qu’être“, Badiou 1988: 10), Kunst („Immanence: l’art est rigoureusement coextensif aux vérités qu’il prodigue. Singularité: ces vérités ne sont données nulle part ailleurs que dans l’art“, Badiou 1998: 21). 23 Badiou 1998: 56. Wie vom Kommunistischen Manifest antizipiert, hat der entfesselte Kapitalismus alle „natürlichen“ (traditionellen, religiösen, sittlichen, feudalen, patriarchalen, familiären, nationalen) Verbindungen zwischen den Menschen zerstört und „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare’ Zahlung’“, Marx/ Engels 1969: 22. Das Kapital errichtet eine planetarische Ordnung ohne Bindung, Nihilismus und Nostalgie sind die befangenen Reaktionen auf sie. Für Badiou eröffnet die desakralisierte Weltherrschaft des Kapitals einen neuen Zugang zur Wahrheit. „C’est évidemment la seule chose qu’on puisse et qu’on doive saluer dans le capital: il met à découvert le multiple comme pur fond de la présentation, il dénonce tout effet d’Un comme simple configuration précaire, il destitue les représentations symboliques où le lien trouvait un semblant d’être. Que cette destitution opère dans la plus complète barbarie ne doit pas dissimuler sa vertu proprement ontologique. A qui devons-nous d’être délivrés du mythe de la Présence, de la garantie qu’elle accorde à la substantialité des liens et à la pérennité des rapports essentiels, sinon à l’automaticité errante du capital? “, Badiou 1989: 37. Der Schwund der Bindungen, der Verlust der Bezüglichkeiten, die Krise des Eigentums verbindet das 20. mit dem 17. Jahrhundert. 24 Pascal 1977: 217. <?page no="106"?> Henning Teschke 106 hierhin gehört Badious Rede vom Außer-sich-Sein, vom Ergriffen- und Verrücktwerden durch das Wahrheitsereignis. Dem Selbstüberstieg geht eine Selbstenteignung, der Autonomie eine Heteronomie voraus, die sie nicht vor sich bringen, geschweige denn in Denken verwandeln kann. Anstatt zum Produzenten muss das Ich auch zum Empfänger einer Wahrheit werden, will es zu mehr als nur sich selber kommen. 25 Erst die Selbstentäußerung, vorgetragen in den Stilregistern von Ereignis oder Ekstase, macht das Selbst durchsichtig für seine andere Herkunft und Hinkunft. Der unentrinnbare Anspruch, die Treue zum Appell eines Ereignisses, das Folgsamkeit erzwingt - das ist seit Paulus und Augustinus ein religionsgeschichtlich vertrautes Schema. Badiou neutralisiert die Personalität des Absenders, nicht die Kraft seiner Sendung. Nach wie vor sind die vom Ereignis Getroffenen erleuchtete Boten, Zeugen, Mittler oder Träger eines Wahrheitsgeschehens, das ihnen, analog zu den biblischen Illuminationen, gleichsam von höchster Seite in den Mund gelegt wird, jetzt aber von der Zwingkraft des Seins: „Sous la poussée que l’être exerce sur son propre apparaître ne peut advenir à un monde que la chance, existence et destruction mêlées, d’un autre monde“ 26 , ein kaum geringeres Paradox als das pascalsche des immer anwesenden und immer abwesenden Gottes. Seinsgetrieben statt gottgesandt? Rhetorik der Überwältigung? Dabei ist auffällig, dass Badiou der institutionellen Ausgestaltung der für Pascal elementaren augustinischen Gnadenlehre weit weniger Aufmerksamkeit schenkt als dem irruptiven Ereignis. Gewiss, es gibt kein Heil im Augenblick, aber was wäre, wenn die Entfaltung der „vérité post-événementielle“ 27 nichts anderes wäre als die Geschichte der katholischen Kirche, in der die Dogmen der augustinischen Prädestinations- und Gnadenlehre, d.h. die Entmachtung der Vernunft zugunsten des undurchdringlichen göttlichen Willens und seiner pontifikalen Verwaltung, bis heute gelten? Das wäre die Spur des Terrors oder des Ver- 25 Die Evidenz des (christologischen oder atheologischen) Ereignisses ist folglich auch keine psychologische Kategorie, denn die Verlegung nach außen verschränkt die Selbstbezüglichkeit mit einer unvordenklichen Heteronomie, die mit dem Mandat auch eine ungekannte Souveränität in Aussicht stellt: der Dämon des Sokrates, der Aufstieg vom Höhlendunkel zum Licht bei Platon, die paulinische Verkündigung nicht ich, sondern Christus in mir, die augustinische Formel interior intimo meo, der vom Zweifel ausgeschlossene dieu nontrompeur bei Descartes, Pascals joie, joie, joie, pleurs de joie, das Prinzip des unzureichenden Grundes in Rimbauds je est un autre. Die kerygmatische, methodische oder existenzielle Folgebereitschaft, die sie erzwingen wollen, lässt auf die Gewalt eines Eindrucks schließen, der keine andere Reaktion als Gehorsam zuließ. In allen Fällen geht die Selbstentmächtigung der Selbstermächtigung voraus, aus höherer Berufung zu sprechen und Besseres als bloß subjektive Wahrheiten anzubieten: Evidenzen, die Zwang in Sinn, Sinn in Providenz verwandeln. Die Philosophie transformiert solche Entrückungen in Unbedingtheit, die Theologie in Gnade, die Literatur in den Zwang zu schreiben. 26 Badiou 2006 (a): 401. Vgl. ebd.: 398: „Un événement a pour conséquence maximalement vraie de son intensité (maximale) d’existence, l’existence de l’inexistant. Bien entendu, il y a là un violent paradoxe.“ 27 Badiou 1989: 90. <?page no="107"?> Extremismus: Badiou und Pascal 107 rats am Ereignis. 28 So bliebe allein die Zukunft, um dem Inexistenten Existenz zu geben, aber diese Allianz reklamiert auch die endlose Parusieverzögerung der Theologie für sich. Badiou schwankt gleichsam kasuistisch, wenn es um die Anteilsbestimmung von Tun und Empfangen, Wunder und Wahrheit, Entscheidung und Ankunft, Benennung und Offenbarung des Ereignisses geht. 29 Soll man sagen, dass es sich dabei um eine unauflösbare Inkonsistenz handle, vergleichbar nur dem undurchdringlichen Verhältnis von menschlicher Freiheit und göttlicher Allmacht in der Gnadenlehre? 2 Moral Welchen Pascal spielt Badiou auf gesellschaftlicher Ebene gegen die herkömmlichen Deutungen aus? Pascals Analytik der modernen Welt hatte eine laizistische Tradition von Voltaire bis Valéry dazu verleitet, ihn mit den französischen Moralisten seines Jahrhunderts gleichzusetzen, mit La Bruyère und La Rochefoucauld zumal. Demnach teilen die Moralisten mit ihm das düstere Portrait eines zerrissenen Ich, das sich, bei Abwesenheit jeder Transzendenz, über den ennui der Wirklichkeit hinweghilft mit den Blendwerken der Einbildungskraft (l’imaginaire) und des divertissement, dabei aber ebenso scheitert wie beim Versuch, aus der Allgegenwart des amour propre herauszufinden. 30 Übrig bleibt die Unentwirrbarkeit von Schein und Sein mit der Verzweiflung des Ich, seiner Lage in Raum und Zeit innezuwerden. Taumelnd zwischen zwei Unendlichkeiten, dem unendlich Großen und dem unendlich Kleinen, kommt die Selbstvergewisserung des skeptischen Subjekts dem Eingeständnis seiner Nichtigkeit gleich. In den bekannten Worten Pascals: „Le silence de ces espaces infinis m’effraie.“ 31 Badiou widerspricht dem Gemeinplatz des kosmischen Relativismus, denn Pascal bestimmt das Verhältnis von endlich und unendlich neu, sofern das zwischen zwei Unendlichkeiten gelegene Endliche davon durchdrungen, also selber unendlich ist. 32 Der existenzielle Zugang des Endlichen zum Unendlichen realisiert sich in der paradoxen Figur Christi. Damit fällt Pascal aus jedem moralischen Perspektivismus heraus. Das ganze relativistische Tam- 28 Vgl. Badiou 2003: 96-116. 29 Vgl. etwa im maoistisch-marxistischen Kontext den Dissenz mit Lyotard in Badiou 2008: 102. 30 „La plupart des hommes emploient la meilleure partie de leur vie à rendre l’autre misérable“, La Bruyère 1965: 255. „L’amour-propre est l’amour de soi-même, et de toutes choses pour soi […] Rien n’est si impétueux que ses désirs, rien de si caché que ses desseins, rien de si habile que ses conduites; ses souplesses ne se peuvent représenter, ses transformations passent celles des métamorphoses, et ces raffinements ceux de la chimie. On ne peut sonder la profondeur, ni percer les ténèbres de ses abîmes“, La Rochefoucauld 1976: 129. 31 Pascal 1977: 161. 32 Zum Konzept der double infinité in Pascals mathematischen und philosophischen Schriften vgl. Montel 1950, Mony 1986. <?page no="108"?> Henning Teschke 108 tam, wonach jedes Ding zwei Seiten, jede Wahrheit subjektiv, jede Aussage standpunktabhängig sei, geht ebenso zu Ende wie das Gerede von Toleranz und Pluralität. Mit einer Moral, sagt Badiou im Paulus-Buch, lässt sich die Existenz eines Subjekts nicht rechtfertigen, wenn unter Moral der praktische Gehorsam gegenüber einem Gesetz verstanden wird, das nie universell genug ist, um nicht auch die ständige Möglichkeit seiner Suspension zu legitimieren. Gegen die trüben Mischungsverhältnisse, gegen die permanente Dopplung des Seins, gegen den universellen Zweifel Montaignes erhebt sich die Forderung Pascals, den Zustand der Ambivalenz, in dem alles zugleich wahr und falsch ist - der Mord ein Verbrechen in Friedenszeiten, aber eine verdienstvolle Tat im Krieg -, in Eindeutigkeit zu verwandeln. Den Selbstbeschreibungen einer Epoche wird der militante Einsatz einer Wahrheit entgegengestellt, die sich weder prädikativ identifizieren noch prozedural ermitteln noch als Wissen besitzen lässt. Philosophisch geht dem Ereignis, das hier zur Entscheidung steht, eine dramatische Reduktion voraus. Logique des mondes sagt unmissverständlich: „Décider, c’est toujours filtrer de l’infini par du Deux.“ 33 Die elementare Operation jedes Einzelnen wird zur Operation der Zwei: die Wette für oder gegen Gott bei Pascal, der Sprung in den Glauben oder die ethische Normalität bei Kierkegaard. Ein Gott, den man kennt, so Pascal gegen die Gottesbeweise Descartes’, taugt bestenfalls noch zur Idolatrie. Wie eingeschüchtert muss ein Glauben sein, der durch Beweise dem aufhelfen will, was die Glaubenskraft nicht mehr trägt? Pascals Frage ist nicht die nach einem zeitgemäßen Gottesverständnis unter den Bedingungen frühneuzeitlicher Rationalität. Der Gott, den die Philosophen übrig behielten, war nur kosmologisches faute de mieux, der cartesische dieu non trompeur genauso wie der Uhrmacher-Gott Voltaires oder der Gott von Malebranche, der, um die Erhaltung der Welt zu sichern, auf die causes occasionnelles zurückgreift, zu denen auch Gnade und Wunder zählen. Der andere, quietistische Weg, die Logik des Herzens gegen den Verstand abzugrenzen, war ebenso wenig annehmbar wie die stoische Illusion einer weltüberlegenen, weil gesellschaftlich ohnmächtigen Souveränität des Subjekts im Stile Epiktets. Die Wahrheit ist weder außen noch innen zu finden, sie ist überhaupt keine Eigenheit des Subjekts. Pascal ist zu sehr Augustinus verpflichtet, um nicht den ganzen Menschen auf Gott auszurichten, der diejenigen, welche mit Leib und Seele von ihm erfüllt sind, unfähig zu jedem anderen Ziel macht als Gott. Pascals Frage bleibt für Badiou die: Was ist ein christliches Subjekt heute? Deshalb konzentriert er seine Apologie auf einen einzigen Punkt. Was vermag einen Atheisten oder libertin dazu bewegen, zum Christentum überzugehen? Modern ist Pascal in der Wahl seines Adressaten, da er den resoluten Atheisten den gewöhnlichen Formen des Selbst- und Weltverhältnisses vorzieht: Deisten, Jesuiten, laue Gewohnheitskirchgänger - die Reihen des juste milieu bis heute zu verlängern hieße, die obsessionslosen, flexiblen, demokratischen, kulturalistischen 33 Badiou 2006 (a): 491. <?page no="109"?> Extremismus: Badiou und Pascal 109 Durchschnittstypen der Subjektivität, die der Kapitalismus für seine eigene Reproduktion en masse erzeugt, mit pascalscher Optik ins Visier zu nehmen. Dagegen ist der nihilistische libertin darin singulär, dass er die Welt in ihrer jetzigen Form für nicht erhaltenswert hält, „aucun accord conservateur“ 34 mit ihr eingeht. Er hat mit Staat, Kirche und Gesellschaft keinen konservierenden Pakt geschlossen, der sich mit dem flachen, selbstgefälligen Relativismus Montaignes 35 genauso trefflich vertrug wie mit den antijansenisti- 34 Badiou 1988: 242. 35 Carl Schmitts Schrift Der Nomos der Erde legt dar, weshalb die Erdumseglungen und Entdeckungen des 15. und 16. Jahrhunderts eine globale Rechtsordnung erforderten. Sofort nach 1492 beginnen die Versuche, die auf die Landnahme folgende Landverteilung unter Regeln zu bringen. Im Edikt Inter caetera divinae vom 4. Mai 1494 zieht Papst Alexander VI. eine Linie, die vom Nordpol zum Südpol verläuft, 100 Meilen westlich des Meridians der Azoren und von Cap Verde. Im spanisch-portugiesischen Teilungsvertrag von Tordesillas einigt man sich 1494 auf die Festlegung einer Demarkationslinie (Raya), die der päpstlichen etwas nach Westen verlagert folgt. Die westlich der Linie entdeckten und noch zu entdeckenden Gebiete sollen der spanischen Krone zufallen, die östlich gelegenen Gebiete werden portugiesischer Machtbereich. Auf der anderen Seite des Globus wird im Vertrag von Saragossa (1526) eine Raya (Molukken-Linie) durch den Pazifischen Ozean gezogen, die durch Ostsibirien, Japan und Australien verläuft. Einen anderen Typus globaler Verteilungslinien stellen die amity lines dar. Die Freundschaftslinien beginnen mit der Geheimklausel zum spanisch-französischen Vertrag von Cateau-Cambrésis (1559) und gehören in das Zeitalter der Religionskriege zwischen den landnehmenden protestantischen und katholischen Seemächten. Geografisch verlaufen die Freundschaftslinien im Süden über den Äquator oder über den Wendekreis des Krebses, im Westen über einen im Atlantischen Ozean durch die Kanarischen Inseln oder die Azoren gezogenen Längengrad. Für Schmitt ist der geschichtliche Typus der Raya von der amity line durch eine Welt getrennt. Die Raya setzt voraus, dass christliche Völker und Fürsten das Recht haben, sich vom Papst einen Missionsauftrag geben zu lassen, um nicht-christliche Gebiete zu missionieren und zu okkupieren: eine interne Abgrenzung zwischen zwei landnehmenden christlichen Fürsten, basierend auf der Raumordnung der mittelalterlichen Respublica Christiana, die noch nicht zwischen Land- und Seenahme unterschied. Dem distributiven Sinn der línea de la partición del mar steht der agonale Charakter der amity lines entgegen. Für die Vertragspartner ist die christliche Einheit Europas nur noch Erinnerung, folglich fehlt die Autorität einer schiedsrichterlichen Zuteilungsinstanz. Einigkeit besteht lediglich über die Freiheit der neuen Räume, die jenseits der Linie beginnen. Konkret besteht die Freiheit in der „Ausgrenzung einer außereuropäischen Kampfzone: […] dass alles, was ‚jenseits der Linie’ geschieht, überhaupt außerhalb der rechtlichen, moralischen und politischen Bewertungen bleibt, die diesseits der Linie anerkannt sind“, Schmitt 1974: 62-63. Beyond the line meint beyond the law. Relativität ist zuerst ein geopolitischer Begriff. Montaigne und Pascal sind nicht so sehr durch ein halbes Jahrhundert als durch die amity lines getrennt, weshalb den beiden so ähnlichen Aphorismen ein völlig verschiedener Aussagewert zukommt. Montaigne: „Quelle bonté est-ce que je voyais hier en crédit, et demain plus, et que le trait d’une rivière fait crime? Quelle vérité que ces montagnes bornent, qui est mensonge au monde qui se tient au-delà? “, Montaigne 1979, Bd. II: 320, Pascal: „Trois degrés d’élévation du pôle renversent toute la jurisprudence. Un méridien décide de la vérite. En peu d’années de possession, les lois fondamentales changent, le droit a ses époques. […] Plaisante justice qu’une rivière borne. Vérité au-deçà des Pyrénées, erreur au-delà“, Pascal 1977: 87. Nicht die Banalität, dass hier anders als dort gedacht und geurteilt <?page no="110"?> Henning Teschke 110 schen sakralen Dramen von Racine (Esther, Athalie), wo das restaurative Wunder des göttlichen Eingriffs nur einen weiteren Rechtstitel des Absolutismus von Louis XIV. bereitstellte. 3 Wunder Nonkonformismus meint bei Pascal wie Badiou, keine Verträge mit der Welt zu haben, alle Verbindungen mit den bestehenden Gemeinschaften und Besitzständen aufzulösen, da sie unterhalb der Größenordnung der Universalität bleiben. Das Universelle gründet in einem Wahrheitsereignis, das, weil es einmal möglich war, immer möglich bleiben wird. Der religiöse Name für das événement-vérité ist Christus. Er fällt aus der heilsgeschichtlichen Entsprechung von Ankündigung und Erfüllung, die auf Altes und Neues Testament verteilt sind, heraus durch das Außergewöhnliche seiner Intervention. Der geweissagte Messias wird aus dem Milieu galiläischer Handwerker rekrutiert: als Sohn eines Zimmermanns, dessen Tod am Kreuz allen Bildern des Messias in seiner Glorie widerspricht. Pascal entwickelt diesbezüglich eine topologische Interpretation der Heiligen Schrift in, so Badiou, der Dialektik von Prophetie und Wunder. Bis zum Kommen Christi blieben alle Prophetien äquivok, danach sind sie es nicht mehr. Mit Christus ist die Schrift erfüllt. Um aber von Christus anders als prophetisch, anders als kraft des Gesetzes zu sprechen, muss sein Auftritt Überraschung und Zufall bleiben, die in keinem figuralen Schriftverständnis enthalten waren. Pascal setzt daher alles daran, die Apologie des Christentums auf seinen offenkundig schwächsten Teil zu stützen: auf die Doktrin der Wunder. In der postgalileischen Ordnung des Wissens, in der Epoche von Spinozas Tractatus theologico-politicus, wo die Analyse von Naturgesetz und Religion die Folgen des paradiesischen Sündenfalls auf eine gastritische Unverträglichkeit zweier Körper (der Apfel und Adam) herunterbringt, grenzt so etwas an Irrsinn oder Naivität. Doch eben an die Unwahrscheinlichkeit des Wunders verwendet und verschwendet der Erfinder des Wahrscheinlichkeitskalküls sein ganzes Genie. Aller Glaube beruht auf dem Wunder. Für Badiou nennt das Wunder den Exzess gegenüber jedem faktischen Beweis, das Wunder symbolisiert die Unterbrechung des Gesetzes. Pascal restituiert den Glauben als eine Ereigniskraft, irreduzibel auf Faktizität. Kenntlich wird das Wunder nur durch den interpretativen Eingriff der Apostel, die entscheiden, ob der Gekreuzigte wirklich der Messias ist. Erst die apostolische Avantgarde verifiziert das Wunder, also die Entscheidung, also den Glauben an das fini/ infini des Gottessohns. Erst die Doktrin der Wunder macht den figuralen Sinn der Prophetien retroaktiv zu einem univoken Sinn. Zunächst hat das Wunder nur für die winzige Minorität der Apostel Evidenz. wird, lässt Pascal staunen, ihn erschüttert die rechtsgeschichtliche Tatsache der Freundschaftslinien, mit denen sich christliche Souveräne darauf verständigen, für bestimmte Räume den Unterschied von Recht und Unrecht aufzuheben. <?page no="111"?> Extremismus: Badiou und Pascal 111 Mit der Institutionalisierung der christlichen Glaubensgemeinschaft beginnt die Geschichte seiner Veramtlichung oder seiner Verweltlichung zum Machtkalkül, zu Untreue und Verrat. Badiou interessiert sich weniger für die realgeschichtlichen Folgen des institutionalisierten Christus als für den konstitutiven Moment, als das Ereignis eine neue Welt inmitten der alten stiftet. Allein diesem Ereignis spricht Pascal die Fülle des Seins uneingeschränkt zu. „Seul le miracle est réel (devant Dieu).“ 36 Was ist die extremistische, kommunistische Spitze des Wunders? Dazu ist der generelle Befund der Ambivalenz aller Erscheinungen mit Pascals Machtanalyse in Verbindung zu setzen. „Mien. Tien. ‚Ce chien est à moi’ disaient ces pauvres enfants. C’est là ma place au soleil.’ Voilà le commencement et l’image de l’usurpation de toute la terre.“ 37 Eigentum resultiert aus gewaltsamer Besitzergreifung. Mit ihm treten ökonomische, juridische, territoriale und ideelle Eigentumsrechte und Besitztitel zwischen die Menschen, eine Gewalt der Teilung und Trennung als Form der Vergesellschaftung, mit der sich die Individuen durch das konstituieren, was ihnen gehört oder noch gehören wird. Jede Form privater Aneignung, auf die sich die frühbürgerliche Gesellschaft im 17. Jahrhundert gründet, schließt reale Allgemeinheit aus. Was Pascal als Ambivalenz registriert - „chaque chose est ici vraie en partie, fausse en partie“ 38 - ist Ausdruck der antagonistischen Besitz- und Personenverhältnisse und ihrer Partikularität. Christus hingegen erklärt alle bestehenden Zugehörigkeiten für null und nichtig, weil sie lediglich verallgemeinerte Privat- oder Klasseninteressen darstellen. In der Dialektik von Wunder und Realität gilt für die Immanenz: Wenn das Wunder die wahre Wirklichkeit ist (Badious „passion du réel“), dann wäre die universelle Wirklichkeit das Wunder. Ein Wunder, das nichts Kontemplatives oder Schriftbeglaubigtes mehr hat, sondern - infolge der Formalisierung, die Badiou am Ereignisbegriff vornimmt - eine kommunistische Universalie darstellt. Die Relation des Universellen zum Singulären steht gegen die Entsprechung von Allgemeinem und Individuellem. Beide Begriffspaare finden sich bei Pascal. Das offiziell in Umlauf gesetzte Bild des Christus, der reich mit den Reichen und arm mit den Armen ist, eines Christus, der das transzendente Modell aller Formen der Subjektivität vorstellt, gibt der Ambivalenz nur einen neuen, unendlichen Inhalt, der als ideologisches Komplement zur Absenz realer Gemeinschaft fungiert. Im schroffen Gegensatz dazu steht das bien universel. Solange es auf der Ebene materieller Güter gesucht wird, bleibt es partikular und festigt die Trennung von Besitzenden und Habenichtsen. Die wahre Natur des bien universel ist jedoch näher am Wunder als an der Teilungs(un)gerechtigkeit. „Le vrai bien universel devrait être tel que tous pussent le posséder à la fois sans diminution et sans envie.“ 39 Hier geht 36 Pascal 1977: 212. 37 Ebd.: 90. 38 Ebd.: 206. 39 Ebd.: 130. <?page no="112"?> Henning Teschke 112 es um kein Sein oder Haben, sondern um ein Ereignis, das mit jeder Teilung wächst und mehr wird, je mehr daran teilhaben. Hier liegt die Indifferenzzone zwischen messianischem und kommunistischem Seinsbegriff und den daraus hervorgehenden Subjekten, mit denen ein neuer Mensch aus dem alten hervorgeht. Erst dann verliert auch die Sprache ihre Mehrdeutigkeiten, erst dann legen die Subjekte ihre fixen Attribute ab und werden, wie Erde und Himmel, apokatastatisch frei für alle Namen und Arbeiten. „La création d’un nouveau ciel et d’une nouvelle terre. Nouvelle vie, nouvelle mort. Toutes choses doublées et les mêmes noms demeurant. Et enfin les deux hommes qui sont dans les justes. Car ils sont les deux mondes, et un membre et image de Jésus-Christ. Et ainsi tous les noms leur conviennent de ‚justes pécheurs’, ‚mort vivant’, ‚vivant mort’, ‚élu réprouvé’ etc.“ 40 Marx hatte in der Deutschen Ideologie die kommunistische Utopie der Entfaltung aller Anlagen des Menschen entworfen, als er von einer gesellschaftlichen Wirklichkeit sprach, in der jedermann morgens Jäger, mittags Fischer und nach dem Abendessen kritischer Kritiker sein könnte, ganz nach Lust und Laune, ohne je Jäger, Fischer oder kritischer Kritiker werden zu müssen. Parataxe oder disjunktive Synthesis - in diesem Sinn ist die vermeintliche Beziehungslosigkeit von Pascal und Marx als Beziehung zu denken. Solange jedoch die Spaltung zwischen dem besonderen und dem gemeinen Interesse existiert, solange das Sichfestsetzen einer beruflichen Tätigkeit Gewalt über den Einzelnen gewinnt, solange die kapitalistische Ökonomie und mit ihr die Ambivalenz des Vorhandenen bestehen bleibt, kann auch das allseitig entwickelte Individuum nur als Karikatur erscheinen: als absolute Verfügbarkeit des Menschen für die wechselnden Arbeitserfordernisse des globalisierten Marktes. Schwierigkeiten bleiben. Die christlichen Denker Pascal und Kierkegaard, die in ihrem weltlichen Antikonformismus exemplarisch sind, kritisiert Badiou darin, die Wahl unter den Vorentscheid der Transzendenz zu stellen. Aber selbst vorausgesetzt, dass der Modus der Wahrheitsfindung für ihren Inhalt gleichgültig sei, ich also an die leere Stelle, die der nicht mehr glaubhafte Gott hinterlässt, etwas anderes, etwa das Ereignis oder das Sein setzen kann - steht dieses dann unter weniger paradoxen, weniger irrationalen Bedingungen? Lässt sich das Ereignis wirklich so parallelisieren, dass die Frage nach Immanenz und Transzendenz zweitrangig wird? Wenn Christus das Gesetz erfüllt, indem er es aufhebt, wie ließe sich heute das sehr reale und sehr transzendente Gesetz des Marktes und sein Imperativ „Bereichert euch! “ brechen? Schließlich, wenn die Abwesenheit rationaler Kriterien gerade zum Kriterium derjenigen avantgardistischen Minderheit mit Namen Apostel, Wahrheitsergriffene oder revolutionäre Zelle wird, die sich dem Ereignis verschreibt, was unterscheidet dann noch Erwählung von Selbsterwählung, Selbstberufung von Gnade, Evidenz von fixer Idee, Sprechen und Handeln aus höherer Berufung von Autosuggestion? Es bleibt 40 Pascal 1977: 146. <?page no="113"?> Extremismus: Badiou und Pascal 113 aber auch zu sagen, dass die Differenzen von Theologie und Philosophie, die zu sich finden, unerheblich sind, sobald ihr gemeinsamer Feind erkannt ist. Literaturverzeichnis Badiou, Alain, Théorie du sujet, Paris 1982. 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Nur in diesem „Bruch“ der Darstellung, nur indem es die semiotischen und bildlichen Synthesen seiner Wahrnehmung übersteigt, wird das Ereignis jenseits seiner Präsenz in der gegebenen Situation „retroaktiv“, wird es sich also in einer - sei es poetischen, sei es politischen - „Wahrheitsprozedur“ rückwirkend aktualisieren. Es liegt nahe, das Ereignis mit Blick auf jene Situation zu untersuchen, die von jeher als älteste Allegorie einer zertrümmerten Ordnung der Dinge gegolten hat: die Szene des Schiffbruchs. Von gleichermaßen poetischer wie politischer Bedeutung, wurde diese Szene immer schon als Testfall der Repräsentation in ihrem darstellungslogischen wie körperschaftlichen Sinne verstanden. Sie ist zum Paradigma einer Daseinsmetaphorik geworden, ebenso aber zum Inbegriff des gefährlichen Ereignisses. Wie zu zeigen ist, steht mit ihr nicht zuletzt das auf dem Spiel, was man ein Ereignis der Kunst und ein solches der Politik nennen mag. Badiou hat insbesondere den Universalismus von Paulus’ (politischer) Theologie herausgearbeitet, den systematischen Sinn seiner Schiffbrüche aber allenfalls angedeutet - und dies, obwohl die paulinische Strandung auf Malta für die kanonische Motivik und Deutung des naufragium von unschätzbarer Bedeutung sind. Zu Stéphane Mallarmés Un coup de dés (1897), einem kanonischen lyrischen Seestück, hat Badiou hingegen eine repräsentationstheoretische Reflexion vorgelegt, ohne dabei auf die spezifische Situation des Schiffbruchs weiter einzugehen. Ist der Schiffbruch aber mehr als bloßes Beispiel, ist er ein Ereignis par excellence, so zeichnen sich in der Verknüpfung dieser beiden Lektüren die Konturen dessen ab, was ein Ereignis im Horizont poetischer und politischer Repräsentation überhaupt sein kann. Die poetische Ereignis-Stätte Ereignissen wird bei Mallarmé ein sprachlicher Ort zuteil, indem seine Dichtung die überkommene Topik deplatziert. Badiou zufolge ermöglicht sie insofern regelrechte „Ereignis-Dramen“, als sie Zufallskonstellationen <?page no="116"?> Burkhardt Wolf 116 herstellt und zugleich zur interpretativen Rekonstruktion von Handlungen nötigt. Wie im Fall von Un coup de dés umschreibt sie eine „Ereignisstätte am Rand der Leere“. Das Gedicht zeigt nämlich zunächst nichts weiter als einen verlassenen Horizont über einem stürmischen Meer, nur die „Phantom- Vielheiten“ eines wolkigen Himmels einerseits und eines aufgepeitschten Ozeans andererseits. In diese Szene dringt so folgerichtig wie unvermittelt ein Schiff mit Segel und Mastwerk, eine Erscheinung, die sogleich als bildliche Verinnerlichung zurückgenommen wird, indem sie in das Nichts der Präsentation, in die Tiefe des Nichtrepräsentierbaren versinkt. Auch wenn erst dieser Auftritt Handlung in die Situation einführt, kann das Schiff nicht repräsentiert werden. Sein Erscheinen hat nämlich keine „Rückversicherung“ in den Zeichen oder in der Verfassung einer Metastruktur - keine allegorische Semiotik und kein emblematisches Verweissystem verschafft ihm noch repräsentative Geltung. Wenn das Seestück mithin eine Handlung vorführt, dann nur eine solche „aus der Tiefe eines Scheiterns“, aus jenem Abgrund, den die präsentierte Vielheit an den Rändern der Nichtpräsentation eröffnet. Schließlich bewirkt „jedes Ereignis“, wie Badiou hinzufügt, „jenseits der Tatsache, dass es durch seine Stätte lokalisiert wird, die Zerstörung dieser Stätte im Hinblick auf die Situation, denn es benennt rückwirkend deren innere Leere. Allein das ,Scheitern’ (der Schiffbruch) gewährt uns jene anspielungsreichen Trümmer, aus denen sich im Eins der Stätte die unentscheidbare Vielheit des Ereignisses zusammensetzt.“ 1 Man mag Mallarmés Würfelwurf als Musterfall einer aleatorischen Ästhetik (und Ontologie) verstehen, in welchem der Grund der Repräsentation von Kontingenz und Potenz erfasst, die Überfülle des kontingenten Seins in einem Zufall namens Sprache bejaht und zuletzt gar symbolisch - nämlich in der abschließend erscheinenden Gestirnskonstellation - aufgehoben wird. Badiou selbst spricht von der „Herstellung eines absoluten Symbols des Ereignisses“, weil es das Gedicht gestatte, „aus dem Denken des Ereignisses ein Ereignis zu machen.“ 2 Die Vielheit des Ereignisses findet ihre Synthese in einem Zufalls-Symbol, nachdem die Trümmer der Repräsentation - im Wortsinn des symballein - „zusammengeworfen“ wurden und in der Fügung des Zufalls wieder zusammengetreten sind. Damit das Denken des Ereignisses selbst zum Ereignis wird, darf sich diese Fügung jedoch nicht auf ein flüchtiges Trugbild, auf eine „hallucination éparse“, beschränken. Und mehr noch: Diese Fügung muss grund- und ziellos sein. Einerseits darf sie nicht im Zuge einer Kausalität oder Finalität zustande kommen, sondern muss sich aus einem „Abîme“ heraus ereignen. Andererseits muss sie insofern unberechenbar sein, als sie sich keiner „conjonction suprême avec la probabilité“ und keinem statistischen Gesetz der „N OMBRE “ verdanken darf. Erst dann kann gelten: „Toute Pensée émet un Coup de Dés.“ 3 Im besonderen 1 Badiou 2005: 220f. 2 Ebd.: 221. 3 Mallarmé 2000: 241, 228, 232, 245. <?page no="117"?> Schiffbrüche 117 Zu-Fall von Mallarmés Gedicht ist schlichtweg unentscheidbar, ob das Ereignis einer definiten poetischen Struktur oder aber dem reinen Zufall zuzurechnen ist. Indem der Interpret jedoch darauf wettet, dass es aus der gegebenen Situation entstanden ist, obschon es diese übersteigen muss, wird er nachträglich mit dem „Eins-Überschuss des Ereignisses im Himmel der Ideen“ belohnt. 4 Denn nur in dieser Wette aufs Ereignis vermag er, dieses selbst zu denken - das, was sich am Rande der repräsentativen Leere hält und aus der „Ereignis-Stätte“ die Vielheit auch retroaktiv hervortreten lässt. Das Ereignis selbst insistiert also in einer chronologischen Unzeit, an einem Nicht-Ort der Repräsentation und letztlich in einem Modus, der ontologisch unmöglich oder gar verboten ist. Der Raum der Kontingenz, der Kult der kybernésis Es ist kein Zufall, dass die ersten ontologischen Überlegungen zum Ereignis mit Blick auf jene übermächtige Struktur angestellt wurden, als welche das Meer von jeher für die Mythologie und Dichtung, Kosmologie und Philosophie gegolten hat. Klassisch geworden ist jene Passage aus Aristoteles’ Lehre vom Satz (Peri hermeneias), in der er die Aussage „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden“ untersucht. 5 Aristoteles fragt: Kann es heute schon wahr und damit notwendig sein, dass morgen eine Seeschlacht stattfinden oder dass sie nicht stattfinden wird? Auf den ersten Blick hängt von der Frage nach der Notwendigkeit des Künftigen nicht weniger ab als die Allmacht der Götter und die Handlungsmöglichkeit der Menschen. Doch steht mit ihr, über die Alternative von Determinismus oder Freiheit hinaus, auch die Existenz des objektiven Zufalls auf dem Spiel, die Annahme eines dritten aussagenlogischen Wertes - neben wahr und falsch - und schließlich die Einführung einer modallogischen Kategorie namens „Kontingenz“ - einer Bereichsangabe potenzieller Ereignisse, die neben die feste Struktur, Bestimmtheit und Gesetzlichkeit des Seins dessen Latenz, Schwebe und Ereignisträchtigkeit setzt. Aristoteles kommt nachgerade zu dem Ergebnis, „daß manches Zukünftige seinen Grund darin hat, daß man etwas überlegt und tut, und daß überhaupt im Bereiche des nicht immer Aktuellen jene Dinge auftreten, die gleichmäßig sein und nicht sein können, einem Bereiche, wo beides möglich ist, das Sein und das Nichtsein und folglich auch das Geschehen und Nichtgeschehen.“ Deswegen gilt, „daß nicht alles notwendig ist oder geschieht, sondern manches auch zufällig, und das eine Mal so, daß die Bejahung bei ihm um nichts wahrer ist als die Verneinung“. Somit ist es, wie Aristoteles schließt, „notwendig, daß morgen eine Seeschlacht sein oder nicht sein wird, 4 Badiou 2005: 226. Zum Folgenden vgl. ebd.: 222. 5 Umstritten ist geblieben, ob die Passage, die mit dem restlichen Text nicht immer konsistent scheint, nachträglich - von einem Herausgeber oder von Aristoteles selbst - eingefügt wurde. Vgl. hierzu Frede 1970: 80-83. <?page no="118"?> Burkhardt Wolf 118 es ist aber nicht notwendig, daß morgen eine Seeschlacht sein wird oder daß sie nicht stattfindet“. 6 Als ausschließende Disjunktion ist der Satz auf triviale Weise wahr. Doch verbirgt sich hinter der Notwendigkeit, für die das Satzgefüge als Ganzes steht, die Kontingenz der Futurabilien: Die einzelnen Satzglieder drücken die Potenz aus, zu sein oder aber nicht zu sein. Dieses ‚Nichtsein-Können’, die Kontingenz oder Potenz, kann man auch positiv als ‚Mächtigkeit’ begreifen. Denn bereits für Aristoteles übersteigen die akzidentiellen Ursachen mitsamt ihren zufälligen Konjunktionen die Reichweite jedweder Prognostik und ermöglichen somit, dass Ereignisse - trotz eines lückenlosen Kausalgefüges - überhaupt stattfinden können. Wenn Aristoteles hier Sätze im Sinne einer Korrespondenztheorie untersucht, dann gilt für die kontingenten Zukünfte, dass das - faktische oder körperliche - Gegenstück zur Aussage hier nicht einfach nicht existiert, sondern vielmehr noch nicht existiert oder aber insistiert. Insofern die Aussagen einfach noch keinen Wahrheitswert haben, wird das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten auf eigentümliche Weise suspendiert. Und insofern das Akzidentielle laut Aristoteles „wie ein bloßer Name“ zu behandeln ist, die „unbegrenzt vielen“ Akzidenzien in ihrer übermächtigen Vielheit aber erst Kontingenz stiften, sind es weniger Begriffe als Namen, die Kontingenzen und damit den Bereich künftiger Ereignisse umschreiben. 7 Jedenfalls ist es das Meer, das Aristoteles zum Denken dessen nötigt, was man kontingente Futurabilien nennen sollte. Es erscheint als ein exemplarischer Ereignisraum mit spezifischer Onto-Logik, und dies im doppelten Sinne: Einerseits bildet das Meer als Elementarraum eine Sphäre der Potenz, insofern sich hier bereits die Naturvorgänge als kontingent präsentieren. Selbst zyklische Abläufe unterstehen nur „meistens“ und nicht „notwendig“ den Naturgesetzen, und umso ereignisträchtiger ist jene Konstellation, in der der Himmel (samt Wind und Wetter, Nebel und Blitzschlag) mit dem Meer (samt seiner Strömungen und Wellen, Klippen und Sandbänke) zusammentrifft. Andererseits gehen von diesem Elementarraum eben jene Unternehmungen aus, mit denen sich die vom Menschen erzeugte ‚zweite Natur’ geradezu exemplarisch ausprägt. Nicht nur, dass menschliches Handeln hier als solches kontingent ist oder Kontingenzen stiftet, es rechnet hier von Anfang an mit dem Nichtsein-Können. Aristoteles demonstriert dies am Seekrieg, weil gerade im taktischen Raum des Meeres Potenzialität zur potentia werden kann - schließlich lassen sich hier, wie die Athener Seemacht bewiesen hat, schon mit bloß möglichen Operationen Kräfte binden und feindliche Übermächte abwehren. Was das Meer mithin zum Ereignisraum schlechthin macht, ist die gegenseitige Durchdringung von elementarem und praktischem Zufall, von automaton und tyche. Wo ein Schiff auf dem Meer kreuzt, ist die Kreuzung von Polis und Natur allegorisch, und wo ein Schiff versinkt, ist das Ereignis selbst bildhaft geworden. 6 Aristoteles 1995 (a): 10f./ 19a. 7 Aristoteles 1995 (b): 127/ 1026b. <?page no="119"?> Schiffbrüche 119 Allgemein könnte man sagen, dass menschliches Handeln auf diesem von Natur aus ereignisträchtigen Nicht-Terrain doppelt kontingent ist, egal ob im Rahmen einer Seeschlacht oder bei einer vermeintlich friedlichen Kauf- oder Kreuzfahrt. Denn Schiffe, die sich an einer Naht namens Meeresoberfläche halten, kreuzen immer schon an der Grenze zwischen Untergang und Himmelfahrt, Sein und Nichtsein, Geschehen und Nichtgeschehen. Folglich ist von Homer über Anarchasis bis hin zu Franz Kafka die Feststellung überliefert: Die zur See fahren, sind weder tot noch lebendig - was heißt, sie haben die Potenz, beides nicht zu sein. Und folglich ist das Bild des Schiffs seit jeher das Emblem repräsentativer Selbstbehauptung, das Bild des Schiffbruchs aber der Topos eines fundamentalen Repräsentationsentzugs. Dies gilt bereits für den ältesten bekannten Nachweis der Trope bei Alkaios: Verloren zwischen „der Winde Stand“ und der „Wog’“ Gewalt, sind auf dem „lecken Staatsschiff“ natürliche wie sprachliche Zeichen „nicht mehr zu deuten“, weil aus dem Gefüge kausaler oder finaler Beziehungen herausgerissen. 8 Seefahrt war im Abendland von jeher ein widersprüchliches Unternehmen: Insofern sie immer schon ein Wagnis darstellte und an die Grundfesten des nomos, der heimischen Verfassung, rührte, war das Schiff das Andere der polis, eine Domäne der Abenteurer und des versprengten Volks. Insofern aber politisches und ökonomisches Handeln immer schon mit Kontingenzen operierte und die Nautik, wie Aristoteles sagt, im politisch vorbildlichen Zusammenspiel einer sachbezogenen techné mit gemeinschaftsförderlichem ethos besteht, konnte man vom Paradigma des Staatsschiffs sprechen. Als die Seefahrt sich noch im Stande einer elementaren ‚Kulturtechnik’ befand, verdichtete sich in ihr auf originäre Weise der konstitutive Widerspruch von Kultur überhaupt. Denn ehe in neuzeitlicher Politik poetisches und politisches Ereignis einerseits, Geschäft und Macht andererseits zu Gegensätzen wurden, hatten sie auf dem antiken Schiff einen gemeinsamen Ort gefunden. Entdeckung und Kolonisation, die Ausfahrt ins Blaue und die navigationstechnisch unterstützte Rückkehr waren schon in der achäischen Pionierzeit griechischer Polisbildung die Kehrseiten ein und derselben Unternehmung. Bei Homer sind deshalb nautische Örter auch poetische, insofern hier Navigation mit alphabetischer Artikulation zusammenfällt und Epen bis hin zu den Argonautica immer auch periploi darstellen. Aus derlei Seefahrtsdichtungen sind denn auch die wichtigsten Zeugnisse für jenen Heroismus überliefert, der es mit dem Meer und seinen Kontingenzen aufzunehmen wagte: Die Steuermänner, die Kyberneten, sind die Vorkämpfer dessen, was man einen geregelten Umgang mit gefährlichen Ereignissen nennen kann. In ihrer Präzisionsarbeit am Steuerruder, im geistigen Abgleich der tradierten Navigationsmarken mit dem augenblicklichen Kurs und in der intuitiven Vorwegnahme von Gefahren besteht jene Steuerkunst, die eigentlich nur den maritimen Göttern und Halbgöttern, nur den „Schicksalslenkern“ 8 Alkaios 2001: 20. <?page no="120"?> Burkhardt Wolf 120 (Apollonius von Rhodos) zufällt. 9 Wenn nämlich Kontingenzen und Zufälle weder Gründe noch Prinzipien offenbaren, so kann ihnen keine fundierende Instanz zugrunde liegen, sondern allenfalls eine steuernde voranstehen. Die kybernésis ist die letzte Instanz eines kontingenten Weltgeschehens - weshalb auch naos als Wohnort der Götter in der Lautvariante naus zum Schiff geworden ist. Entsprechend feierte man zu Ehren mythischer Steuerleute wie Nausithoos, Phaiax oder Tiphys das Kultfest der Kybernesien; entsprechend stellte man sich die Götter im Schiffsheck, neben dem Steuerruder und als letzte Steuerungsinstanz vor; und entsprechend vertraute man auf Apotropaia, hielt sich an Omina und Weissagungen und nahm an Bord zahlreiche Sakralhandlungen vor, die einer Seeunternehmung trotz ihrer Hybris die glückliche Fahrt ermöglichen sollten. Dieser griechischen „Religion des Weges“ 10 , die göttliches Geleit im Augenblick der Gefahr erhoffte, standen später die ökonomische Praxis des Seedarlehens und das Rechtsinstitut des Seewurfs zur Seite. Mit ihnen war zwar - mangels eines geeigneten Zahlensystems - noch keine genaue Kalkulation möglich, wohl aber die kommerzielle Übernahme von Seegefahren. Somit kann man von einem dreifachen System der Absicherung oder informellen Versicherung sprechen, das sich im Falle der Navigation, der kultischen Vorsorge wie der kaufmännischen Gefahrentragung auf die kybernésis als ein System der Steuerung und Regelung stützte. Symbolisch stand sie für den rechten Kurs, für das Wohlergehen und die Sicherheit der polis, weshalb Pindar die göttliche Weltregierung kybernésis nennt und Platon die Gottheit den kybernétes aller Dinge. In Rom, der imperialen Erbin griechischer Thalassokratie, die den Schiffbau regelrecht industrialisierte, den Seehandel zu frühkapitalistischen Dimensionen intensivierte und das Mittelmeer als mare nostrum rasterte, wurde die kybernésis dann zur gubernatio: So wie der Steuermann zuweilen bis zum Sklaven (und damit zum bloßen Werkzeug) des Schiffseigners oder Kommandanten erniedrigt wurde, so sank die mythische kybernésis zur bloßen Herrschaftstechnik herab. Die Schiffsmannschaft wurde nun der Gliederung des Landesheers angeglichen, während gubernatio in erster Linie die lebensnotwendige Organisation des maritimen Getreidehandels, der annona, bezeichnete, um dann bis in oströmische Zeit gar zum offiziellen Herrschaftstitel zu avancieren. Dabei erlangte Kultstatus, was die Verfassung der imperialen Übermacht zu gefährden drohte: Die Vielheit akzidentieller Ursachen im kontingenten Meeresraum erhielt den Namen der fortuna gubernatrix und das Angesicht einer Göttin des Zufalls, des Glücks wie der Katastrophe. Im Schatten ihrer unergründlichen Macht, die allein noch dem Imperium gefährlich werden konnte, bekam das mare nostrum zuletzt eine apokalyptische Färbung: „Ausspähen wird aufs neue ein Tiphys, ein Schiff mit dem Namen Argo“, schreibt Vergil in seiner vierten Ekloge über das „kommende Kind“, die man immer wieder als Christus-Prophezeiung deuten sollte. Und 9 Apollonius von Rhodos 2002: 85/ I. 1127. 10 Wachsmuth 1967: 78. <?page no="121"?> Schiffbrüche 121 „später […] werden die Seefahrer weichen, kein Schiff wird Waren zum Austausch / bringen: Die Erde erzeugt das Erforderte überall selbst.“ 11 Die Rettung aller Dieser Naherwartung eines neuen Kyberneten, der das Meer mitsamt seiner Kontingenzen, Menschen- und Warenströme verschwinden lassen würde, hingen auch und gerade die Frühchristen an. Zwischenzeitlich jedoch nutzten sie eifrig Schiffe und Seewege als Medien der Missionierung. Selbstredend war der Seeverkehr auch für Paulus die Voraussetzung seines apostolischen Kommunikationssystems, das ja in einem zusehends enger gezogenen Netz von dauernden und überseeischen Briefkontakten bestand. Doch dafür, dass er überhaupt zur Verkündigung berufen worden war, konnte dieser 13. Apostel allein sich selbst als Zeugen aufbieten. Autorität erlangte Paulus deshalb nur, indem er sich in seinen Sendschreiben immerzu selbst dazu autorisierte, ‚im Namen aller’ zu sprechen. Die Möglichkeit seiner Theologie des Geistes und universalen Verkündigung beruhte mithin weniger auf einem ‚Gesetz’ als auf der ‚wahren Schrift’ sowie der sicheren und entfernungsunabhängigen Zustellung ‚authentischer’ Briefe. Und da diese Briefe auch die ersten schriftlichen Zeugnisse des Christentums darstellten, waren Gefahren für ihre Expedierung auch Gefahren für die Universalisierung des neuen Glaubens. Schiffbrüche gefährdeten nicht nur Güter und Menschen, sondern - schlimmer noch - die frohe Botschaft. Nur so erklärt sich die Dramatik der paulinischen Schiffbrüche. Im Korintherbrief schreibt Paulus: „dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht habe ich auf dem tiefen Meer [treibend] zugebracht“, und er unterstreicht unter all den „Gefahren“, denen er sonst auf seinem Missionsweg begegnet sei, nochmals die „Gefahren auf dem Meer“. Wie Badiou betont, geht es hier nicht mehr um einen Heroismus im antiken Sinne (der nicht zuletzt den griechischen Seefahrern zugeschrieben wurde). „Ich will mich der Erweisungen meiner Schwachheit rühmen“, sagt Paulus und rühmt sich damit eigentlich seiner guten Verbindungen zu Gott. 12 Auf diesen ‚authentischen’ Schiffbruchberichten kann dann die Apostelgeschichte 27, der Bericht von Paulus’ Seereise nach Rom, aufbauen. Freilich steht dahin, ob der Evangelist Lukas als Verfasser der Apostelgeschichte mit Paulus’ gleichnamigem Begleiter identisch ist, zumal er sich ja nirgends explizit auf Paulus’ Briefe und theologische Leitsätze bezieht und vielleicht erst eine Generation später geschrieben hat. Und überdies ist ungeklärt, wieso der Erzähler gelegentlich in der ersten Person spricht, ob damit persönliche Zeugenschaft beglaubigt werden soll oder einfach Berichte Dritter ohne die nötige Redaktion eingearbeitet wurden. Wie zudem nachgewiesen 11 Vergil 1983: 35. 12 Badiou 2002: 127f. und 2. Kor. 11, 25, jetzt und im fortlaufenden Text zitiert nach der vom Kirchenrat des Kantons Zürich herausgegebenen Ausgabe (Heilige Schrift 1996). <?page no="122"?> Burkhardt Wolf 122 wurde, macht der Bericht von Paulus’ Seereise auch etliche begriffliche, motivische und narrative Anleihen besonders bei Homers Odyssee. 13 Doch handelt es sich alledem zum Trotz um die rasch kanonisierte Schilderung von Paulus’ letzter Fahrt - und damit um eine Schlüsselepisode jener ersten Paulus-Exegese überhaupt, welche die Apostelgeschichte ja darstellt. Ausgangspunkt der Episode ist Paulus’ Verhaftung und seine Berufung auf den Kaiser. Indem er von diesem Recht römischer Bürger Gebrauch macht, verhindert Paulus seine womöglich lebensgefährliche (und damit missionsgefährdende) Verlegung nach Jerusalem, wo ihm der Prozess gemacht werden soll. Damit vereitelt er aber zugleich seine vorzeitige Freilassung, denn einmal ausgesprochen, verpflichtet die Berufung die Behörden dazu, Paulus nach Rom zu bringen. Von Caesarea aus soll er deswegen, als Gefangener einer kaiserlichen Kohorte, nach Italien verschifft werden. In Lykien wechselt die Besatzung auf einen alexandrinischen Getreidefrachter, dessen Fahrt jedoch vor Kreta ins Stocken gerät. Die Herbstnachtgleiche ist gekommen und der Oktober bald erreicht, eine Jahreszeit also, in der die Seefahrt eigentlich einzustellen ist - und dies der Turbulenzen von Wind und Wellen, vor allem aber des bedeckten Himmels wegen, der die astronomische Navigation und damit die Reise unmöglich oder doch zum größten Wagnis macht. Bei Lasäa warnt deshalb Paulus: „Ihr Männer, ich sehe, dass die Fahrt mit Schädigung und großem Verlust nicht nur für die Ladung und das Schiff, sondern auch für unser Leben vor sich gehen wird. Der Hauptmann jedoch glaubte dem Steuermann und dem Schiffsherrn mehr als dem, was Paulus sagte.“ (Apg. 27, 10f.) Kybernetes und naukleros drängen auf die Weiterfahrt, da unbeabsichtigte Zwischenstopps - über den vereinbarten Transportpreis hinaus - für den Reeder und Eigner immense Kosten nach sich ziehen würden. 14 Einmal des Paulus Warnung in den Wind geschlagen, werden sie alle jedoch von einem orkanartigen Nordoster abgetrieben, das Schiff gerät zusehends in Seenot und wird mit Hypozomen gegürtet, d.h. mit starken Tauen vor dem Auseinanderbrechen gesichert. Als sich die Lage nicht bessert, ist man der Schiffsstabilität wegen gezwungen, das Geschirr und die Getreideladung, das Schiffsgerät und zuletzt auch alle Hoffnung über Bord zu werfen. Die römische gubernatio allgemein, die annona im Besonderen scheint durch die fortuna außer Kraft gesetzt. An dieser Stelle meldet sich jedoch abermals Paulus zu Wort und verkündet die hoffnungsfrohe Botschaft, die ihm nächtens ein Engel gebracht habe: die der bevorstehenden Rettung nicht des Schiffs und seiner Ladung, wohl aber seiner Besatzung. Er fordert alle dazu auf, sich mit einer letzten Mahlzeit zu stärken, und ermahnt jene Soldaten, die sich offenbar mit dem Rettungsboot absetzen wollen, mit den anderen an Bord zu bleiben - denn nur so könnten sie alle „gerettet werden“ (Apg. 27, 31). Als das Schiff sich unbekanntem Land zu nähern scheint, erwägen die römischen Soldaten, die 13 Vgl. Macdonald 1999: 88-107. 14 Vgl. Breusing 1886: 161. <?page no="123"?> Schiffbrüche 123 Gefangenen zu töten, ehe sie die Notlage zur Flucht ausnutzen können. Sie versuchen also, dem imperialen Gesetz selbst noch im Ausnahmezustand unbedingte Geltung zu verschaffen. Der Hauptmann verbietet es ihnen und leitet stattdessen eine Strandung ein, bei der die Schwimmer und mit ihrer Hilfe auch die Nicht-Schimmer keinen Schaden nehmen sollen. „Und so geschah es, dass alle ans Land gerettet wurden“ - restlos alle, nämlich „im ganzen 276 Seelen“. (Apg. 27, 44, 37) Man erkennt hier unschwer die providenzielle Verfügung, Paulus auf jeden Fall nach Rom gelangen zu lassen, sodass sich mit der Berufung auf den Kaiser auch die Berufung zur reichsweiten Verkündigung erfüllt. Im Ansatz zeichnen sich auch die späteren kirchenpolitischen Maßnahmen zur Bildung der Christengemeinde ab, zu deren gemeinschaftlichem Zusammenhalt und zuletzt zur Errettung unterschiedslos aller. Exakt 276 Gerettete werden verzeichnet, und diese genaue Zahlenangabe ist einmalig in der Apostelgeschichte, so als sei die penible kaufmännische Buchhaltung über die erlittenen Verluste an Schiff und Ladung zur Registratur des Heilsgeschehens geworden. Und so präzise wie fachmännisch werden die nautischen Manöver von der Gürtung bis zur Strandung geschildert, ein Sonderfall in der antiken Literatur 15 , welcher der Seefahrt auf geradezu technische Weise einen Heilssinn verschafft. Zwischen zwei Meeren Nicht minder signifikant ist aber der Ort der Strandung. Denn die Stelle, auf die man am Ende der orientierungslosen Fahrt inmitten allumgreifender Dunkelheit stößt und an der die einzelnen Passagiere und Besatzungsmitglieder ihre wundersame Rettung erfahren, scheint nur auf den ersten Blick ein rettender Naturhafen, eine Bucht zu sein. Zu erkennen gibt sie sich als topos dithalassos, als „Ort zwischen zwei Meeren“. (Apg. 27, 41) In exegetischen Kommentaren und unter Rückgriff auf eine Passage bei Strabon wurde diese Stelle als „Landzunge“, „Sund“, „Kanal“ und „kleine Meeresstraße“, als „Sandbank“ oder „Außengrund“ interpretiert, den man traditionell bei Malta, später auch bei Mljet und zuletzt bei Kephallenia zu lokalisieren versucht hat. Doch ist hier weniger die Benennung eines geo- oder hydrografischen Orts entscheidend als die strukturelle Bestimmung einer Ereignis-Stätte: als Nahtstelle zwischen zwei Phantom-Vielheiten. 16 Weil der Himmel im Paulus-Bericht stark bewölkt ist und damit die astronomische Navigation unmöglich macht, ja mit dem Ozean regelrecht verschwimmt, ist das Schiff zunächst in absoluter Ortlosigkeit verloren. Dass es mit dem „Ort zwischen zwei Meeren“ nicht nur irgendeine Stelle, sondern die Möglichkeit der Selbstverortung selbst erreicht, macht die Strandung zu einem Ereignis: Was hier nämlich, indem es vor Augen kommt, erfahrbar - und so gesehen 15 Vgl. Praeder 1984: 701. 16 Schon bei Strabon ist „die Verbundenheit der beiden Meere geradezu die Hauptsache“, Hans Balmer 1905: 415. <?page no="124"?> Burkhardt Wolf 124 zum „Eräugnis“ - wird, ist eine fundamentale Artikulation, die Schöpfung eines Orts aus einem dunklen Erwartungshorizont, in dem Himmel und Meer noch verschmolzen waren. Damit wird nicht nur der vielfache Wortsinn von contingere erfüllt: „an etwas stoßen oder grenzen“, „ein Ziel erreichen“,„sich ereignen“ oder „glücken“. Dieses Ereignis, das nichts weniger als die Schöpfung einer Welt vorführt, ist als Komplement einer Hoffnung oder Erwartung modallogisch zu beschreiben. Doch im selben Zuge rührt es an den Grund oder Ungrund zeichenlogischer Prozesse. Nicht von ungefähr begreift etwa Ferdinand de Saussure das Zusammenspiel von Gedanken- und Lautmasse - mit Hilfe eines Diagramms - als ein Aufeinandertreffen zweier Meere. Dabei verweist er auf die „mysteriöse Tatsache, daß der ,Laut-Gedanke’ Einteilungen mit sich bringt, und die Sprache ihre Einheiten herausarbeitet, indem sie sich zwischen zwei gestaltlosen Massen bildet. Man stelle sich etwa vor: die Luft in Berührung mit einer Wasserfläche; wenn der atmosphärische Druck wechselt, dann löst sich die Oberfläche des Wassers in eine Anzahl von Einteilungen, die Wellen, auf; diese Wellenbildung könnte einen Begriff von der Verbindung des Denkens mit dem Stoff der Laute, von der gegenseitigen Zuordnung beider, geben.“ 17 Das paulinische Seestück liefert keine bloße Repräsentation, vielmehr präsentiert es die Szene einer - für Heiden wie Atheisten „mysteriösen“ - Artikulation, die man sogleich als Rekursion der Genesis und ihrer Scheidung der Wasser auffassen wird. Entsprechend ließe sich behaupten, die Errettung aus einem Schiffbruch komme nicht nur einer individuellen Neugeburt, sondern der Geburt einer neuen Welt gleich, sodass der paulinische Schiffbruch den Niedergang der heidnischen und die Entstehung der christlichen Welt markiere. Doch ist das Elementare, das hier zwischen zwei Meeren geschieht, allemal mehr mit der jüdischen Schöpfungstheologie verknüpft als mit dem genuin christlichen Gedanken einer universalen Errettung. Mit dem Gnostiker Marcion gesprochen, ist hier zunächst ein jüdischer Schöpfergott am Werk, der als Ur- und Ungrund zwar die eine unvordenkliche Artikulation besorgt, sich aber durch eine maßlose und irrende Übermacht, durch Gefahr und Drohung auszeichnet und deswegen elementare Angst auslösen muss. Der gütige Christengott hingegen - der in Paulus, wie Marcion sagt, seinen einzig authentischen Apostel hat - ist die Adresse von Erlösungshoffnungen und heilstheologischen Erwartungen. Anders gesagt: Ist der Schöpfergott der einzige Zuschauer jener Schiffbrüche, von denen das Alte Testament handelt, ist der Christengott alles andere „als Zuschauer, als Unbeteiligter, als Nicht-Leidender“. Messianischer Kybernetes oder immanent gewordener Geist, ist er auch und gerade in den abgründigen Augenblicken höchster menschlicher Not zugegen und stiftet jene Allianz der Furchtlosigkeit, von der Paulus kündet - eine Beziehungsform, die weniger das Verhältnis zwi- 17 Saussure 1967: 134. (Mit Dank an Bernhard Siegert für den Hinweis auf diese Stelle.) <?page no="125"?> Schiffbrüche 125 schen Mensch und Gott als das zwischen den Menschen selbst betrifft. 18 Nicht schon im „Eräugnis“ jener fundamentalen Artikulation zwischen zwei Meeren präsentiert sich also die paulinische Gemeinschaft mit und in Christus, sondern erst im so eigenmächtigen wie solidarischen Akt der Selbsthilfe, durch den sich die Besatzung des Schiffs gerade im Schiffbruch als Ganze rettet. Mit diesem Akt ist ein Ereignis gegeben, das - trotz Szenen wie der eines letzten gemeinsamen Mahls - als wiederholtes christliches Gründungsereignis nur sehr ungenau bezeichnet wäre, zumal der Begriff des Christen bei Paulus gar nicht auftaucht. Treffender wäre die Rede von einem „messianischen“ Ereignis, das „die Gründung und Legitimierung eines neuen Gottesvolkes“ bedeutet, einer Heilsgemeinschaft, die sich nicht auf eine exklusive „Solidaritätsgemeinschaft“ und „Verheißungsverwandtschaft“ namens Israel beschränkt, sondern Juden, Nicht-Juden und Christenjuden gleichermaßen umfasst. 19 Ereignet sich hier eine Gründung, dann die Begründung des Universalismus aus der Solidarität der kleseis, der „messianischen Berufungen“, die abseits aller juristischen und weltlichen Zuschreibungen in einem Nu die messianische Gemeinschaft der ekklesia herstellt. 20 Dieses Ereignis ist kein solches ein für allemal, vielmehr umschreibt es einen Ereignishorizont, der im Pronomen des „wir“ und später im Namen der „Christen“ zur Sprache kommt. Und auch des Paulus Ankündigung, dass „keinem von euch wird ein Haar vom Haupte verlorengehen“ (Apg. 27, 34), ist weniger eine genuin christliche (vgl. Lukas 21, 18) Versicherung des Heils als vielmehr eine Bereichsangabe dafür, was durch ein universalistisches Ereignis möglich ist - nämlich die Rettung aller. Die Besatzung dieses Schiffs besteht nicht aus Repräsentanten oder Allegorien ethnisch oder juristisch umschriebener Gruppen. Sie personifiziert eine universalistische Berufung, denn solange eine kontingente Situation (wie die der Strandung) mit einer Wahrheit (wie der des Universalismus) „kommensurabel“ ist, werden „anonyme Individuen immer zu Vektoren der ganzen Menschheit.“ 21 Was Badiou „Vektor“ nennt, meint das, was zur Möglichkeit eines Ereignisses weist, was weder im Ganzen - etwa der Katholischen Vereinigung - noch im Singulären - etwa des Jüdischen Bunds - aufgeht und was statt dessen einen neuen gemeinschaftlichen „Ver-Bund“ möglich macht. Dieser Ver-Bund ist mit keinem Gesetz vereinbar, sei es das Gesetz der jüdischen Thora, das des griechischen Kosmos oder der römischen Welt. Das Gesetz nämlich bewahrt die Transzendenz des Vaters und ist im selben Zug nur eine Chiffre der Endlichkeit. Das Ereignis hingegen ist die Möglichkeit zur Überschreitung der Endlichkeit, womit es das Gesetz als 18 Barth 1984: 319. Vgl. zudem Badiou 2002 68, 131. 19 Taubes 2003: 42. 20 Agamben 2006: 33. 21 Badiou 2002: 41. Zum Folgenden vgl. auch ebd.: 81 und Agamben 2006: 67. <?page no="126"?> Burkhardt Wolf 126 politische - sei es theokratische oder imperiale - Ordnungsmacht und als Macht einer fundamentalen Teilung oder Verteilung einfach ignoriert. Mit Blick auf die Situation des Schiffbruchs und deren Wiederholung von Homer bis Paulus könnte man auch sagen: Das griechische Denken, das sich in Epen so sehr wie in der Kosmologie artikuliert, kennzeichnet das „Begehren, den Ort adäquat einzunehmen, der einem zugeteilt ist und dessen Prinzip das Denken wieder ergreifen kann. […] Für Paulus dagegen verweist das Christusereignis, das die kosmische Totalität zerschneidet und auflöst, gerade auf die Nichtigkeit der Orte.“ 22 Ist der Sinn der griechischen kybernésis und römischen gubernatio das fortwährende oder definitive Am- Ort-Sein, erfüllt sich das paulinische Ereignis in der Bagatellisierung des Orts. Oder, mit Karl Barth gesprochen: Es erfüllt sich in einem „Ort, der überhaupt kein Ort ist, sondern nur das Moment der Bewegung des Menschen durch Gott.“ 23 Deshalb findet das paulinische Ereignis auch keinen ursprünglichen Ort, wie er in der einmaligen Artikulation zwischen zwei Meeren gegeben scheint. Vielmehr desartikuliert es diesen Ursprung, indem es die unvordenkliche Schöpfung erst in der Rettung aller zum universalistischen Ereignis werden lässt, den Ursprung also erst in seiner Wiederholung möglich macht. Wie Saussure sagt, ist nämlich die lebendige Artikulation ein dynamischer Prozess, eine Überlagerung von antizipativen und retroaktiven Ereignissen der Lautung und des Gedankens. Wie Sprach-Ereignisse, so sind auch Ereignisse des Glaubens ein fortgesetzter „Wirbel der Zeichen“ 24 - die dauernde Verwirbelung überlieferter Topoi, aber auch die dauernde ‚symbolische’ Zusammenfügung dessen, was getrennt oder zertrümmert wurde. Das paulinische Ereignis und die kirchliche Institution Überlieferung ist bei Paulus - und auch beim Paulus der Apostelgeschichte - keine Institution der Erinnerung, Wahrung oder Sicherung. Sie ist ihrerseits ein Ereignis. Und das betrifft zunächst das Verhältnis zur heidnischen wie zur biblischen Tradition: Zwar ist der lukanische Bericht in den Begriffen und Bildern der Odyssee und besonders der Schiffbrüche ihres 5. und 12. Gesangs gehalten. Doch werden mythologische Figuren wie die See-Göttin Ino, des Odysseus Helferin in Seenot, zu christlichen Engeln; Seestürme sind nicht mehr göttliche Strafaktionen, vielmehr haben sie natürlich-kontingente Ursachen, deren Mächtigkeit dann der christliche Gott überwältigt; und schließlich wirkt hier jene Hoffnung im Glauben, von der bei Homer noch keine Spur existiert, die aber das Ereignis zu einer Frage der Wiederholung macht. Zahlreich sind auch die typologischen Bezüge vor allem in dieser Episode der Apostelgeschichte: Die Genesis und Arche Noah, Moses’ Begründung eines Volks, das er durch die Teilung des Meers rettet, und 22 Badiou 2002: 107. 23 Barth 1984: 85. 24 Saussure 1997: 135. <?page no="127"?> Schiffbrüche 127 schließlich die Jonas-Figur finden in des Paulus letzter Reise ebenso ihren antitypos, wie hier ältere Verheißungen vom Ende der Seefahrt anklingen. Nicht, dass das paulinische Ereignis allein in der Erfüllung überlieferter typoi bestünde. Sein ‚messianischer’ oder ‚politisch-theologischer’ Vektor liegt in der typologischen Beziehung selbst - in der Wiederholbarkeit und Rückläufigkeit des Ereignisses, das die Universalität einer Wahrheit allererst herstellt. 25 Weil dieses wahre Ereignis Heilsgeschichte stiftet, d.h. die Möglichkeit historischer Erfüllung allererst eröffnet, ist es kein Ereignis der Geschichte oder Überlieferung (Paulus’ Schiffbruch hat nicht den Rang eines kanonisch heilsgeschichtlichen Paradigmas 26 ), sondern eins der Gnade. Badiou spricht auch von einer „universalen Mannigfaltigkeit“, deren Möglichkeit das Ereignis vorschreibt, und von der Überzähligkeit, die die Gnade im Horizont von Geschichte und Tradition selbst ist. 27 Man könnte auch sagen, die charis, die als Begriff und Akt ja aus der juristischen Welt der Sklaverei und des Gerichts stammt, reißt das Gesetz aus der Endlichkeit von Überlieferung und Geschichte. Indem sie Loslassung und Befreiung aller, ungeachtet ihrer Herkunft und Verdienste, vorschreibt, gibt sie auf nicht-buchstäbliche Weise das universale Gesetz der Liebe und ermöglicht somit unterschiedslos allen eine Subjektivität im Glauben. Dieses Ereignis der Gnade macht die Liebe zum einzigen Gebot und stellt sie daher noch über den Glauben und die Hoffnung. 28 Der Glaube nämlich (wie ihn Paulus auf dem Schiff in Seenot artikuliert) weist zur universalen Wahrheit; die Hoffnung bezeichnet die Ausdauer und Treue auf diesem Weg (was die Bordmannschaft nicht umsonst ohne jedes Schiffsgerät vorführt); die Liebe aber umschreibt die universale Wirksamkeit der Wahrheit selbst (eine Wirksamkeit, wie sie die gemeinsame Rettung aller vor Augen führt). Wozu der Glaube fähig ist und was die Hoffnung wider das Gesetz der Realität möglich macht, dafür liefert die Liebe eine Bereichsangabe. 29 Das Ereignis der gnadenhalber erfolgten Rettung ist eine Verdichtung und spezifische Modalität jenes Heilsgeschehens, das man verfehlen muss, wenn man es in eine Tradition und Geschichte übersetzen oder gar in einer institutionellen Gründung monopolisieren will. Einerseits ist die Kirche, wie Karl Barth sagt, „der mehr oder weniger umfassende und energische Versuch, das Göttliche zu vermenschlichen, zu verzeitlichen, zu verdinglichen, zu verweltlichen, zu einem praktischen Etwas zu machen, und das alles zum Wohl der Menschen, die nicht ohne Gott, aber auch nicht mit dem lebendigen Gott leben können“. 30 Andererseits geht die Kirche, sobald sie sich der Verwaltung des Heils annimmt und die Vorstellung einer dauernd gewähr- 25 Vgl. Badiou 2002: 153 und Agamben 2006: 88. 26 Vgl. Göttlicher 1999: 250. 27 Badiou 2002: 86, 119. 28 Vgl. Taubes 2003: 74, 77. 29 Vgl. Badiou 2002: 168, 174, 178f. 30 Barth 1984: 316f. <?page no="128"?> Burkhardt Wolf 128 ten Gnade und damit garantierten Sicherheit propagiert, ihres ereignishaften Gehalts immer schon verlustig. An der Kirche zeigt sich die Dynamik zwischen Institution und Ereignis in aller Schärfe: Diese Institution existiert nur im Rekurs auf das instituierende Ereignis, das seinerseits nur in der Möglichkeit seiner Wiederholung und rückläufigen Aktualisierung insistiert. Sie ist keineswegs auf das Symbolische zurückzuführen, kann ohne dieses aber nicht bestehen. Mit Cornelius Castoriadis gesprochen, verschränken sich in einer Institution wie der Kirche „ein funktionaler und ein imaginärer Anteil in wechselnden Proportionen“, und zugleich ist sie „nichts als die Form, die Regel und die Bedingung des noch nicht Seienden“. 31 Keineswegs die unmittelbare Konsequenz eines Ereignisses (wie dem der Universalitäts-Begründung), ist die Institution bestenfalls das verstetigte Bemühen, es rekursiv aufzufassen und die mit ihm eröffneten Möglichkeiten (etwa in der Universalisierung) zu aktualisieren. Sie wird indes zu einer reaktiven Folge der Folge, wenn sie die Möglichkeiten des Ereignisses in einer voraus liegenden Ganzheit, einer einmaligen Stiftung oder einem Vermächtnis ein für alle Mal zu fassen trachtet. Das Ereignis selbst aber wahrt auch in seiner Rückläufigkeit die Potenz des Nicht-Seins. Handelt es sich bei Paulus, wie Jacob Taubes sagt, um ein Ereignis der „politischen Theologie“ und damit um eine Kampfansage gegen den exklusiven jüdischen Bund und besonders die übermächtige Verfassung des römischen Imperiums, so setzt dieses Ereignis keineswegs die Metastruktur und abgeschlossene Einheit eines neuen, universalen Ver- Bunds fest. Es umschreibt lediglich den Bereich seiner Möglichkeiten, der auch das Nichtsein-Können umfasst. Das Ereignis bietet mithin keine Garantie zur Erlösung oder dafür, ein Problem bestehender Verfassungen zu beseitigen. Allerdings artikuliert es ein Problem und eröffnet damit allererst die Möglichkeit zu seiner Lösung. Was Paulus klesis oder „Berufung“ nennt, organisiert die Treue zum Ereignis. Giorgio Agamben spricht in diesem Zusammenhang auch von dem „Erfordernis“, das als spezifisch messianische Modalität neben die modalen Kategorien von Möglichkeit, Unmöglichkeit, Notwendigkeit und Kontingenz trete: „Die [sic] Erfordernis ist eine Beziehung zwischen dem, was ist oder gewesen ist, und seiner Möglichkeit, und diese geht der Wirklichkeit nicht voraus, sondern folgt ihr.“ 32 Mit Blick auf den Paulus der Apostelgeschichte, welchem Hauptmann, Steuermann und Schiffsherr auf seine Gefahrenwarnung hin erst keine, in wirklicher Seenot dann aber treue und zugleich selbständige Folge leisten, um so die Rettung aller zu ermöglichen, mit Blick auf diese Situation des Schiffbruchs könnte man die ‚messianische’ Möglichkeit auch ‚kybernetisch’ fassen: Paulus nämlich hat, in den Begriffen der modernen cybernetics gesprochen, die Gläubigen erstmals aus der starren ,Festwertregelung’ des jüdischen Ritualgesetzes befreit und an dessen Stelle eine nicht-deterministi- 31 Castoriadis 1997: 226, 370. 32 Agamben 2006: 51. <?page no="129"?> Schiffbrüche 129 sche Teleologie gesetzt. Mit ihr wird nicht nur eine kybernetische Modellierung dessen möglich, was man Zufall oder Kontingenz nennen mag. Diesen regelgeleiteten Bezug zur Freiheit, der die Nachfolge aller gestattet und dennoch zu nichts anderem anweist, als Möglichkeiten zu eröffnen, kann man auch als ‚Folgeregelung’ beschreiben, deren ‚Führungsgröße’ dann die Gegenwart Christi im Geiste darstellt. „Erst hierdurch war die für die christliche Mission unerläßliche Anpassung an die verschiedenen Völker und ihr soziales und religiöses Vorverständnis möglich, eine Anpassung, die jedoch nicht zur Ziellosigkeit führte.“ 33 Diese sowohl universalistische als auch offene Vorstellung von kybernésis war für das Frühchristentum und seinen eschatologischen Erwartungshorizont von immenser Bedeutung. Sobald institutionalisiert, orientierte sich die Kirche allerdings weniger an kybernetischen Regelungsabläufen, als dass sie nach einer festen Repräsentationsform suchte. Sie begriff sich zwar als Schiff, setzte sich aber immer weniger jener ‚Er-fahrung’ aus, die durch einen fortwährenden „Wirbel der Zeichen“ führt. Und wenn die Kirchenväter die Verfassung dieser ein für alle Mal begründeten Heilsinstitution als „Schiff der Kirche“ verbildlicht haben, dann nur mehr in einer festen allegorischen Fügung. Diese reichte von der Antenne (gleichsam dem Empfangsgerät himmlischer Botschaften) über den Mast (das Kreuz Jesu) bis hin zum Steuerruder. Als Steuermann der Schicksalsgemeinschaft Kirche begriff die Patristik den gläubig erleuchteten sensus, der von Christus selbst gelenkt sei, während dieser mit den Winden des Pneuma im göttlichen Logos, der letzten Instanz des regere et gubernare, in der waltenden Vorsehung also des Steuermanns und Vaters aufgehe. 34 War in Paulus’ Korintherbrief (1. Korinther 12, 28) die kybernésis noch als Gnadengabe Gottes begriffen worden, so übertrug man sie nun als geregelte Gemeindeleitung endgültig auf das Amt des Pastorats. Seither galt die kybernetische Berufung entweder als ein geregelter Beruf namens Gemeindeleitung, der den Glauben weniger im Horizont seiner Möglichkeiten als im Sinne seiner Sicherung zu verwalten hat; oder sie galt, bis hin zu Justinians gubernatio, als imperiale „Verwaltung im höheren Auftrag“ 35 - und damit als schiere Berufung zur Macht. Ereignisse wider den Kult der Sicherheit Sei es die imperiale gubernatio zur Sicherung des Reichs, sei es die kirchliche kybernésis zur Sicherung des Heils - von der Spätantike bis ins Hochmittelalter stiften weltliche und kirchliche Institutionen einen regelrechten Kult der Sicherheit. Die Besorgung politischer Angelegenheiten und die Bewältigung unterschiedlicher Gefahrenlagen stehen unter den Vorzeichen von Vorsehung oder Providenz. Denn mit der praevidentia und praescientia sup- 33 Rapp 1967: 99. 34 Vgl. Rahner 1964: 365, 328, 332. 35 Classen 1972: 9. <?page no="130"?> Burkhardt Wolf 130 poniert man eine göttliche Instanz, die die unterschiedlichen Zeitstufen schon vor Augen hat und dabei auch das Kontingente besser erkennt, als es dessen Natur entspricht. Die Aufhebung kontingenter Futurabilien sollte jedoch nicht allein durch die Theorie und Praxis politischer Theologie erfolgen. Mit dem Ereignis zu rechnen, war seit dem Spätmittelalter auch im Wortsinne möglich, und abermals waren es der maritime Raum und die Gefahr des Schiffbruchs, angesichts derer ein neues Denken und Handeln im Zeichen der Kontingenz entstehen sollte. Schließlich wurde seit dem 14. Jahrhundert an oberitalienischen Seeplätzen zur Absicherung des mediterran expandierenden Handelskapitalismus das vormalige Seedarlehen als geregelte Seeversicherung betrieben, und es war diese Art von Gefahrenübernahme, die das drohende Ereignis erstmals als Risiko (abgeleitet von risco, „Klippe“) und damit als Handelsgut begriff. Kalkulierte man erstmals eine Versicherungsprämie entsprechend der Erfahrungswerte und Marktbedürfnisse, so stellte man auch erstmals eine Berechenbarkeit von Risiken und damit von drohenden Ereignissen in Aussicht. Die vormalige securitas, die stoizistische Sorgenfreiheit und christliche Sicherung des Seelenheils, war zur Angelegenheit der ersten assicurazione überhaupt geworden. Widerstand leistete gegen dieses institutionalisierte Rechnen mit dem Ereignis und der Sicherheit indes niemand anderes als die Heilsinstitution Kirche. Dass man Seedarlehen, wie seit der Antike üblich, mit einer 30-prozentigen Gefahrenzulage vergab, verstieß schließlich eklatant gegen das christliche Wucherverbot. Und der Wucher war verpönt, weil er Sachgüter weder produziert noch tauscht, sondern allein bewirkt, dass sich das unfruchtbare Geld von selbst vermehrt. Er verstieß damit gegen die Natur, den gerechten Preis und Lohn, er war mehr als ein Verbrechen, er war eine Sünde, weil die Erweckung falscher Hoffnungen. Mutuum date, nihil inde sperantes las man im Lukasevangelium, woraus bereits Ambrosius die Definition entwickelte: „Wucher heißt, mehr erhoffen und erhalten als man gab“. 36 Mit dem Seeverkehr avancierten jedoch Zins und Wucher, ganz wie es bereits Aristoteles befürchtet hatte, zur erfolgreichen Praxis. Als zudem unbestreitbar wurde, dass Gefahr, Schaden und Interesse grundlegende Parameter des Handels darstellen und dass Kapital durchaus fruchtbar sein kann, hielt die Kirche den Wortlaut des kanonischen Rechts, der den Zins auch im Assekuranzgeschäft verbot, zwar de jure aufrecht. De facto aber duldete sie, dass man hier die Darlehensform kurzerhand umkehrte: dass man einen Kaufvertrag mit dem Versicherer fingierte und behauptete, er habe den Kaufpreis im erhofften Fall einer glücklichen Schiffsreise nicht zu entrichten. Je duldsamer die Kirche gegen diese Praxis des Darlehens und Versicherungsgeschäfts wurde, was heißt: je mehr sie zum Ämterkauf selbst auf Kapital angewiesen war, desto unverhohlener verzichtete man unter den Kaufleuten auf derlei Fiktionen und vereinbarte schließlich die Verpflich- 36 Zit. nach Le Goff 1988: 21, 24. <?page no="131"?> Schiffbrüche 131 tung des Versicherers, im Falle des Schiffs- und Warenverlusts den Schaden zu ersetzen, für welche Leistung er ein bestimmtes Entgelt, nämlich die premio, erhielt. Diese Assekuranz war das Urbild aller künftigen Versicherungen. Und obschon sie - ganz konträr zu Paulus - statt Menschen nur Schiffe und Waren versicherte, war sie eine Assekuranz gegen jedwede Kontingenz, selbst gegen die göttlich verhängte. Sie übernahm nämlich „jede Gefahr“, wie es in einer Pisaner Police von 1384 heißt, „die Gott schickt oder vom Meere oder von Menschen herkommt und jeden Zufall oder jede Gefahr oder jeden Schicksalsschlag und jedes Unglück, welches auf irgendeine Weise entstehen könnte, möge die Gefahr oder der Schicksalsschlag oder der Unfall entstanden sein, wie und unter welchen Umständen er wolle.“ 37 Als die Kirche auch noch die Assoziation von Kapital und Arbeit und schließlich die von Kapital und Kapital gestattete, war die Geburt des Kapitalismus aus dem Geiste der Seefahrt, der Versicherung und der kirchlichen Habgier erfolgt. „Hoffnung“ ist seither nicht nur ein theologischer, sondern ebenso ein kaufmännischer Begriff, ist doch mit dem Risiko auch die Gewinnerwartung kalkulierbar geworden. Versicherungstechnisch operationalisierbar, ist die Hoffnung nun auf „Teilungen oder Verteilungen“ festgelegt und „auf das Imaginäre einer Bezahlung“ ausgerichtet. 38 Es kann nicht verwundern, dass das Zinsverbot erstmals durch Calvin für nicht mehr bindend erklärt wurde. Calvin markiert einen Wendepunkt in der abendländischen Auffassung von Ökonomie und Providenz, aber auch in der Modellierung von Zufall und Kontingenz. Seine Lehre vom verborgenen Ratschluss der Prädestination formuliert unser Noch-Nicht- Wissen als Auftrag zum wirtschaftlichen Erfolg ebenso wie zur geregelten Vorsorge - die Berufung geht im Ethos eines Berufs auf, dessen ökonomische Bilanz als Heilsbilanz zu lesen ist. Dass in der Neuzeit ausgehend von einer unergründlichen, aber doch glaubwürdigen Providenz eine regelrechte Kontingenz-Politik und ein programmatisch riskanter Kapitalismus institutionalisiert wurden, davon zeugen einerseits die Physikotheologen, die Zufallsereignisse als Zeichen eines providenziellen designs verstanden und an der „Hand des verborgenen Regierers aller Dinge“ 39 etliche Sozialreformen auf den Weg brachten; und davon zeugt andererseits der Liberalismus eines Adam Smith, dessen unsichtbare Hand für die selbstregulativen Kräfte eines autonomen Marktgeschehens steht. In Smiths Entwurf einer freien Handelsgesellschaft sind der Handelsverkehr, die Handelsassekuranz und der Handelsplatz der Börse untereinander rückgekoppelt. Assekuranzen, zu denen zusehends auch Lebensversicherungen zählen, gelten deswegen als Institutionen, die durch gemeinschaftliche Risikotragung die Rettung aller - und vor allem die Rettung allen Vermögens - in Aussicht stellen. Mit ihnen ent- 37 Zit. nach von Liebig 1914: 52. 38 Badiou 2002: 178. 39 Süßmilch 1761: 63. <?page no="132"?> Burkhardt Wolf 132 hüllt der Liberalismus sein Janusgesicht: das Versprechen unendlicher Freiheit und das Erfordernis unendlicher Sicherheit. Mit der Kontingenzpolitik und dem liberalen Kapitalismus setzt sich der Homo oeconomicus als universaler typos durch. Zugleich scheint hier eingelöst, was Leibniz als Kontingenztheoretiker wie Sozialreformer vorgezeichnet hatte: eine Providenz ohne gubernatio, die Gottes Eingreifen in referenzlosen symbolischen Operationen aufgehoben hat. Was mithin Badiou über Leibniz sagt, könnte man auch als Diagnose zur durchweg versicherten Risikogesellschaft, zum sogenannten État-providence, verstehen: Hier „gibt es kein Ereignis“ im strengen Sinne mehr. Wahrheitsprozeduren beschränken sich ebenso auf die Reichweite konstruktivistischer Operationen, wie diese der Instanz des Subjekts ihre Grenzen anweisen. 40 Solche Kontingenzpolitik, die Foucault - abgeleitet von der gubernatio - als „gouvernemental“ bezeichnet hat, bildet einerseits „ein System, in dem der Homo oeconomicus den positiven Charakter seines Kalküls all dem verdankt, was seinem Kalkül entgeht.“ Andererseits ist die liberalistische Devise, „gefährlich zu leben“, völlig abhängig von einem System der Absicherung und Versicherung, dessen letzte Sicherheit tatsächlich im Marktgeschehen mit seinen Rückversicherungen und Retrozessionen liegt. Nicht zuletzt hierin wurzelt die „begriffslose Notwendigkeit der liberalen Ökonomie“. 41 Was Badiou Ereignis nennt, kann aber keinesfalls aus jenem Kalkül der Interessen hervorgehen, der die Kontingenz und das gefährliche Ereignis für die Kapitalisierung von Hoffnung (oder Gewinnerwartung) fruchtbar macht. Badious Subjekt ist eine Schöpfung aus der Möglichkeit der Wahl, während das Individuum ein Produkt des kapitalistischen Markts darstellt. Universalismus ist für Badiou mit der unberechenbaren Ausnahme eines Überschusses der Repräsentation verbunden, die die gegebene Situation, Verteilung und Repräsentation radikal transformiert, wohingegen die Zu- und Unfälle des État-providence nur dem Gesetz der großen Zahl, damit einer berechenbaren Wahrscheinlichkeit und zuletzt einer Rechtsprechung des Selben, der immer gleichen Verteilung, unterstehen. Und während das badiousche Ereignis auf den Feldern von Kunst und Politik stets mit einer rupture und fundamentalen Gefahr, aber auch einer freien Wahl verbunden ist, gewähren die Funktionssysteme von Kultur und Verwaltung nur die rein formale Freiheit, riskante Entscheidungen im Rahmen des Symbolischen und seiner symbolischen Rückversicherung zu fällen. Das - sei es politische, sei es poetische - Ereignis steht gegen „den Verwaltungskult der Realität und der fiktiven Verbindungen, die darin wuchern.“ 42 Von Fiktionen durchsetzt scheint schließlich weniger das (gefährliche) Ereignis als vielmehr der Verwaltungskult (der Sicherheit): Die Versicherung war von Anfang an eine Spekulation auf die fortuna di mare. In ihrer neuzeitlichen 40 Badiou 2005: 360, 364. 41 Foucault 2004: 382, 101 und Badiou 2003: 158. 42 Badiou 2005: 226. <?page no="133"?> Schiffbrüche 133 Form ist sie aus einer Darlehensfiktion und der Fiktion unbegrenzter Versicherbarkeit hervorgegangen, und zu betreiben ist sie nur am Leitfaden praktischer Fiktionen (etwa wenn Versicherte sich so verhalten müssen, als wären sie nicht versichert), fiktiver Ursachen (wie der aus dem unüberschaubaren Ursachengeflecht herausgelösten causa proxima) oder fiktiver Werte, Gewinne und Verluste (wie beim Kredit oder Börsenhandel). Das Ereignis mag sich wie im Falle von Paulus’ Schiffbruch nur ausgehend von tradierten fiktiven Formen artikulieren, es mag sich nur im kritischen Zusammentreffen von Geschichte und Dichtung ausdrücken. Man mag hinter der Maskerade seiner Überlieferung die ‚historischen Orte’ (wie den topos dithalassos) zu lokalisieren und die ‚wahren Sachverhalte’ (wie den nautischen Hergang des Geschehens) zu rekonstruieren versuchen - doch wird man das Ereignis damit nur verfehlen, weil es eben nur in der rückläufigen Zerstörung seiner Stätte und in der Universalisierung der Fakten zu einer Wahrheit besteht. Ein Ereignis steht überdies niemals unter den Vorzeichen eines bloßen ‚als ob’. 43 Denn es ist Apologie, und: „Man macht keine Apologie mit Lügen.“ Das politische Ereignis kann - wie bei Paulus’ Schiffbruch - auf die universelle Rettung aller Lebensformen, und das poetische Ereignis kann - wie bei Mallarmés Würfelwurf - auf den singulären Untergang einer Repräsentationsform weisen. Beide kommen letztlich darin überein, dass hier ein existenzieller und zugleich repräsentativer Einsatz geleistet wird, der die wahre Zufälligkeit der Verteilungen herstellt. „Denn Paulus’ Gott spielt Würfel. Er erwählt und verdammt.“ 44 Und er öffnet den Ort einer Beschreibung auf jene Ereignis-Stätte, die ein Denken und Handeln ohne Situation ermöglicht - und damit erst die Schöpfung einer neuen Welt. Literaturverzeichnis Agamben, Giorgio, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, übers. von Davide Giuriato, Frankfurt am Main 2006. Alkaios, „Das lecke Staatsschiff“ (Frg. 6 LP), übers. von Emanuel Geibel, in: Gsteiger, Manfred (Hrsg.), Schiffe in der Weltliteratur, Zürich 2001, S. 20. Apollonius von Rhodos, Die Fahrt der Argonauten, griechisch/ deutsch, übers. und hrsg. von Paul Dräger, Stuttgart 2002. Aristoteles, Organon II: Lehre vom Satz. Peri hermeneias, 1995 (a), übers. von Eugen Rolfes, in: ders., Bd. I der Philosophischen Schriften, Hamburg 1995. 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Untersuchungen zu den antiken Sakralhandlungen bei Seereisen, Berlin 1967 (Diss.). <?page no="135"?> Felix Ensslin Das Subjekt der Wahrheit und sein Doppel. Einige Notizen zur Paulusrezeption Alain Badious im Spiegel des Paulinismus Martin Luthers 1 Luther und Badiou Es mag auf den ersten Blick überraschen, die Theorien eines dezidiert antireligiösen und atheistischen Philosophen wie Alain Badiou mit dem Denken eines Reformators des 16. Jahrhunderts in Zusammenhang zu bringen. Doch gibt es dafür Gründe, die auch über denjenigen hinausgehen, dass Martin Luther gerade aus der Pauluslektüre heraus die radikale Sprengkraft seines Denkens entwickelte. 1 Die Gründe liegen in der Renaissance der Paulusinterpretation in der gegenwärtigen Philosophie. Infolge der ‚unheimlichen’ Präsenz der Politischen Theologie Carl Schmitts 2 haben sich sehr unterschiedliche Denker mit dem Apostel beschäftigt. 3 Dieses neue Interesse bezieht sich hauptsächlich auf den „Brief an die Römer“. Es ist schon von daher interessant, sich daran zu erinnern, dass auch das große Schisma in der westlichen Kirche durch eine erneuerte Betonung paulinischer Themen aus dem Römerbrief inauguriert wurde. Aus der Reihe derjenigen, die sich dem Denken und Wirken des Apostels in den letzten Jahren gewidmet haben, hat keiner diesen Zusammenhang weiter thematisiert oder die Frage gestellt, was ihr eigenes Interesse für Paulus mit dem Ereignis der Reformation zu tun haben könnte. Jacob Taubes hat die beiden Traditionslinien, die von Paulus ausgehen, sinngemäß so zusammengefasst: Auf der einen Seite gibt es diejenige, die am besten mit dem Begriff der „politischen Theologie“ begriffen wird. Dies ist ein Denken, das auf die eine oder andere Weise einen „transzendenten“ Aspekt in der Konzeptualisierung des Menschen, seiner Wahrheit und seiner Politik für unverzichtbar hält. In dieser Allgemeinheit gefasst, ist 1 Es ist hier nicht der Ort, die Diskussion zu führen, um ‚welchen’ Luther es sich dabei handelt bzw. wie die hier aufgeführten Argumente Luthers im Kontext seiner weiteren Entwicklung zu verstehen sind. Zur Frage der Entwicklung in Luthers Denken und der damit verbundenen Frage des „reformatorischen Durchbruchs“, die zum hier erörterten Thema in Bezug steht, vgl. u.a. Vogelsang 1929, Aland 1965, Bitzer 1966, Bornkamm 1961 sowie Obermann 1977 und Obermann 1982. 2 Vgl. Schmitt 2004 und Schmitt 1996. 3 Vgl. Agamben 2006, Badiou 2002, Taubes 2003, Žižek 2003. Damit verbunden, wenn auch meistens ohne direkten Bezug, sind neuere Diskussionen um die „Jewishness“ des Apostels, vgl. u.a. Santner 1991. <?page no="136"?> Felix Ensslin 136 es erst einmal unerheblich, ob dieses „Transzendente“ seinerseits immanent strukturiert wird oder nicht. Andererseits geht von Paulus eine existenziellontologische Traditionslinie aus, die üblicherweise über Augustinus zu Luther und von dort über Kirkegaard bis Heidegger geführt wird. Mein Interesse, Badiou mit Luther zu lesen, ist aus der Frage heraus entstanden, ob es heute nicht notwendig wäre, diese beiden Linien zusammenzuführen. Dabei sollen nicht etwa die zwischen diesen beiden Traditionslinien angelegten Antinomien aufgelöst werden, die z.B. darin zum Ausdruck kommen, dass die existenzial-ontologische Tradition zu existenzialistischen Konzeptionen des Individuums geführt hat, während die andere Linie sich gerade durch eine Subsumtion des Individuums unter eine transzendente oder eine nicht vom Individuum her zu konstruierende Allgemeinheit, absolute Gültigkeit oder Wahrheit auszeichnet; vielmehr gilt es, diese Antinomien ausgehend von einer aus der sprachlichen Konstitution des Subjekts zu fassenden Ursprünglichkeit zusammenzudenken. Dabei ist klar, dass Badiou eindeutig mit der ersten dieser Möglichkeiten verbunden ist. Diese Einschätzung fußt auf der unten genauer diskutierten Beobachtung, dass seine Vorstellung, ein Subjekt konstituiere sich in der Treue zu einem Wahrheitsereignis bzw. zu der darin artikulierten Wahrheit, einen rationalistischen Kern enthält. Rationalistisch ist dieser Kern deswegen, weil es zwischen dem Subjekt, das sich durch diese Treue artikuliert, und dem, was vorher war, keine Verbindung gibt - außer durch den Horizont einer im nominalistischen Sinne des semel verum semper verum verstandenen „ewigen Wahrheit“. Es gibt aber bei Badiou kein Subjekt vor der Wahrheit, etwa eines, dessen Wahrheit in Symptomen lesbar würde. Das Subjekt der Wahrheit im Verhältnis zu sich selbst und in der Position vor dem Ereignis hat daher auch kein Gedächtnis. Dies wird in der Polemik, die Badiou beständig gegen das „Gedächtnis“ artikuliert, deutlich. Dagegen wird es am Ende dieser Überlegungen darum gehen, aufzuzeigen, dass 1. zwischen Formen des Gedächtnisses unterschieden werden muss und dass 2. mit der Pauluslektüre Luthers und einer Korrektur der Lacanrezeption Badious diese Unterscheidung getroffen werden kann. Eine solche Verbindung scheint auf den ersten Blick ungewöhnlich, da für die Gegner der existenziell-ontologischen Interpretation des Apostel Paulus traditionell neben Augustinus der Reformator als Hauptschuldiger ausgemacht wird, der diese aufgegriffen und vertieft, ja hypostasiert habe. Alain Badiou hat 1997 in seinem Buch Paulus: Die Begründung des Universalismus den Apostel zum Modell des militanten Subjekts der Wahrheit gemacht. Gegen eine lange Tradition hat Badiou dabei Paulus’ Beschreibung des Konflikts zwischen Gesetz und Gnade nicht dialektisch gelesen. Der Tod - die Negativität - soll bei der Entstehung des Subjekts der Wahrheit oder dessen, was dieses Subjekt als Wahrheit konstituiert, keine Rolle spielen. In seiner Diskussion bezieht er sich dabei zugleich positiv und kritisch auf Jacques Lacans Reflexionen zur Psychoanalyse und wie diese das Subjekt zu denken gibt. Positiv, weil mit diesen Reflexionen zu verstehen ist, dass die <?page no="137"?> Das Subjekt der Wahrheit 137 Sünde, die durch das Gesetz in die Welt kommt, nicht „dasselbe“ ist wie das „Begehren“ 4 . Kritisch ist der Bezug zu Lacan bzw. zur Psychoanalyse aber, weil vor dem Subjekt, das die Wahrheit konstituiert, indem es ein Ereignis benennt, und das sich selbst konstituiert, indem es dieser Wahrheit treu bleibt, keine andere, z.B. eine verdrängte oder verworfene Daseinsweise dieser Wahrheit und dieses Subjekts gedacht werden soll. Die Entdeckung der Psychoanalyse, dass z.B. im Symptom die Wahrheit des Subjekts und damit das Subjekt der Wahrheit insofern lesbar werden, als Letzteres die Ursache von Ersterer ist, stellt für Badiou einen Irrtum dar. Um diese beiden Aspekte der badiouschen Pauluslektüre soll es im Folgenden gehen, um die Antidialektik, die er Paulus zuschreibt, und um die Frage, ob Badiou die Funktion des „Gedächtnisses“ nicht zu einseitig fasst. Der erste Aspekt wird mithilfe einer Spiegelung dieser Badiouinterpretation in der Paulusrezeption des jungen Martin Luther diskutiert. Es ist häufig - zuletzt von Giorgio Agamben 5 - auf Luthers Entdeckung der Dialektik und der „Aufhebung“ hingewiesen worden. Wie wir sehen werden, hat dies sogar die Übersetzungen der lutherschen Texte beeinflusst. Aber es soll nicht darum gehen, mithilfe Luthers den badiouschen Ansatz zurückzuweisen und den Apostel als Dialektiker zu affirmieren. Es soll aufgezeigt werden, wie Badious Denken an entscheidenden Stellen - der Stelle der Rolle des Todes oder der Negativität und der Stelle des Gedächtnisses - möglicherweise selbst einer Revision unterzogen werden kann. 2 Aspekte der Subjektivierung in Luthers Römerbriefvorlesung Das Hauptanliegen und die Absicht des Apostels in diesem Brief ist es, alle eigene Gerechtigkeit und Weisheit zu vernichten und die Sünden und Torheit, die es nicht gab (d.h. von denen wir eben wegen solcher Selbstgerechtigkeit meinten, dass es sie nicht gäbe), uns wiederum in ganzer Größe und Mächtigkeit vor Augen zu führen (d.h. uns dahin zu bringen anzuerkennen, dass es sie immer noch, und zwar in großer Zahl und gewaltigem Umfang gibt), um so dann schließlich zu erkennen, dass wir Christus und seine Gerechtigkeit brauchen, damit sie ganz vernichtet würden . 6 4 Badiou 2002: 143. Vgl. auch den folgenden Abschnitt „Badious antidialektischer Paulus“. 5 Agamben 2006: 113f. 6 Luther 1991: 107. Summa et intentio Apostoli in ista Epistola est omnem Iustitiam et sapientiam propriam destruere et peccata atque insipientiam, que non erant id est propter talem Iustitiam non esse putabantur a nobis) rursum statuere, augere et magnificare, id est facere, vt agnoscantur adhuc stare et multa et magna esse, ac sic demum pro illis vere destruendis Christum et Iustitiam eius nobis necessarios esse)“, Luther 1883ff., Band 56: 5. Vgl. auch Luther 1987: 99. Die etwas ungewohnte Schreibweise ist hier und an anderen Stellen vom Original übernommen. <?page no="138"?> Felix Ensslin 138 Luther beginnt seine Römerbriefvorlesungvon 1515/ 16 mit der Verkündung einer Wahrheit, die zerstörerisch wirkt: omnem Iustitiam et sapientiam propriam destruere. Was zerstört wird, ist das uns Eigene, die eigene Gerechtigkeit, d.h. historisch und innerhalb der judäo-christlichen Dialektik: das jüdische Erbe, und die eigene Weisheit, d.h. historisch und innerhalb der philosophischtheologischen Dialektik: das griechische Erbe. 7 Was zerstört wird, ist uns eigen, aber es ist auch in dem Sinne auf der Ebene des Symbolischen, dass es sich um im weitesten Sinne sprachlich und textuell vermittelte Erbschaften der Geschichte handelt. Darin taucht schon auf, dass es immer auch um die Effekte oder die Interpretation des bereits Vorhandenen gehen wird. Nämlich um die Frage nach dem Status dessen, was durch die Wahrheit zerstört wird. Die Zerstörung dieser Erbschaften oder ihrer Effekte ist jedoch nicht alles. Durch die Transposition bestimmter Elemente einer signifikanten Reihung bzw. einer Kette vorhandener Signifikanten spricht Luther davon, dass der Akt der Zerstörung dazu führt, dass die peccata atque insipientiam, que non erant, also die Sünde und die Torheit, die nicht waren, die es nicht gab, vor unser Augen - augere et magnificare - gestellt und vergrößert würden. Das heißt, dass es sie in einem nachträglichen Sinne doch gab bzw. gegeben haben wird. Festzuhalten bleibt hier die Einführung der Bewegung der Nachträglichkeit. Diese gilt es anzuerkennen, so Luther weiter in seiner Einführung. Die Tendenz des Apostels ist nach Luther, dass die Wirkung, von der wir sprachen, nämlich facere, ut agnoscantur, dazu führt, dass wir anerkennen, dass sie, diese Sünden, stare esse, also im Infinitiv verweilen, und zwar magna et multa, in ihrer ganzen Größe und Mächtigkeit. Die Bewegung verläuft also folgendermaßen: 1. Die Sünde und die Torheit gibt es nicht. 2. Sie erscheinen im Akt der Zerstörung des Eigenen. 3. Darin eröffnet sich, dass sie verweilen, im Infinitiv also immer schon gewesen sein werden. Um dies in etwas forcierter Weise umzuformulieren: ‚Sünde’ und jüdische Gesetzeslogik sowie ‚Torheit’ und griechisches philosophisch-kosmologisches Denken sind nicht an sich identisch, sondern werden in einem Akt der 7 Da weder Badiou selbst noch Luther in ihrer Paulusrezeption diese Gewichtung vornehmen, ist in den folgenden Betrachtungen eine Sichtweise außer Acht gelassen, wie sie in jüngster Zeit z.B. Pierre Legendre artikuliert hat und in gewisser Weise auch Giorgio Agamben. Nämlich diejenige, nach der die Position, die Paulus in der Frage „Taufe“ oder „Beschneidung“ in der Auseinandersetzung auf dem Jerusalemer Konzil bezieht, der Einführung eines römisch-rechtlichen Denkens gleichkommt. Vgl. dazu Legendre 1989: 21: „Das Neue Gesetz des Paulus, F.E. instituierte die genealogische Bindung anders, auf die entmaterialisierte Weise der Römer nämlich, deren Recht, wie die Apologeten nicht zu wiederholen aufhören, zur Vorsehung der Christen wurde.“ Legendre verweist dabei auch auf einen der Traditionsstränge, der von Augustinus aus diese legalistische Interpretation der Einführung des Universalismus durch Paulus weiterführt. Es ist leicht ersichtlich, dass weder Luther noch Badiou dieser formalen Position nicht gänzlich folgen können. Beider Paulusrezeption sind sich darin einig: Der Universalismus oder die „andere Gerechtigkeit“ ist nicht, oder nur in einem sehr veränderten Sinne des Begriffs, eine bloß andere Form des Gesetzes. <?page no="139"?> Das Subjekt der Wahrheit 139 Nachträglichkeit zusammengeführt. Indem „Sünde und Torheit“ quasi durch den Effekt der signifikanten Gesetzeslogik und des ebenfalls signifikanten philosophisch-kosmologischen Denkens selbst als Signifikanten in die durch diese Logiken konstituierten Signifikantenketten eingefügt werden bzw. sich als deren Verankerung zeigen, wird eine Art Kurzschluss erzeugt: Das so in die Kette oder Reihung Eingefügte „vernichtet“ die „Gerechtigkeit und Weisheit“ und wird selbst sag- oder zählbar, taucht selbst auf. Dieser Effekt ergibt sich allerdings niemals automatisch. Er hängt ab von einer Begegnung, die durch augere und magnificare dazu führt, dass dieser Effekt anerkannt wird - facere, ut agnoscantur. Es ist aber in diesem ersten Schritt nicht so, dass mit dem Eigenen die Sünden und die Torheit mit-destruiert würden, sondern, im Gegenteil, erst durch die Destruktion des Eigenen - der oben beschriebenen Erbschaften - erscheinen sie in einer Weise, dass sie anerkannt werden könnten. Sie gehören also nicht per se zum „Eigenen“, den Erbschaften. Es folgt noch ein weiterer Schritt: 8 Damit jene Sünde und jene Torheit, die in der Destruktion des Eigenen erst zur Anerkennung gelangen, wahrhaft zerstört werden (vere destruendis) - was ein zweites Moment der Zerstörung, nicht identisch mit dem ersten, mit sich bringt -, müssen wir erkennen, dass zwei weitere Instanzen, nämlich Christus und seine Gerechtigkeit, die justitia oder auch sapientia aliena, für diesen Prozess notwendig sind: also eine andere Weisheit - anders in Bezug auf die Erbschaft Athens; und eine andere Gerechtigkeit - anders in Bezug auf die Erbschaft Jerusalems. Und diese anderen kommen von einem Anderen: Christus. Im Weiteren wird es um die Untersuchung der Frage gehen, ob dieses alienus eben kein ‚ganz anderes’ ist und ob eine Verbindung zum proprius konstatiert werden kann. Das ist die Frage nach dem Gedächtnis im Prozess der zwei Akte der Zerstörung. Die Frage nach dem Gedächtnis ist die Frage nach dem Verhältnis von proprius zu alienus. Wenn man zu den zwei beschriebenen Schritten der Zerstörung jetzt die Nachträglichkeit und ihre Setzung mit hinzunimmt, schreibt Luther der „Intention und Summe“ des Paulus also drei Aspekte oder drei Schritte zu. Fraglich wird dabei, ob diese logisch sequenziell, temporal sequenziell oder tatsächlich nur unter dem Aspekt des Aspekts, unter der Frage der Perspektive zu sehen sind. Es ist hier nicht der Platz, die Argumentation Jacques Lacans zu der Frage der „logischen Zeit“ im Einzelnen nachzuzeichnen 9 . Im Folgenden wird deutlich genug werden, dass die hier bei Luther nachgezeichnete Nachträglichkeit, wie bei Lacan auch, eine Temporalisierung der 8 Ich nenne dies hier den ersten und zweiten Schritt, um in der Analyse die Klarheit nicht zu verlieren. Dabei ist zu bedenken, dass durch die nachträgliche Einfügung von „Sünde und Torheit“ natürlich ein dritter Schritt zu denken gegeben ist. Gerade dadurch sind ja die beiden Erbschaften Jerusalems und Athens nicht an sich „Sünde und Torheit“, sondern nur im Lichte der Effekte der Begegnung, die zu dieser Anerkennung führt. 9 Vgl. Lacan 1986: 101ff. Für eine jüngere Darstellung des komplexen „Sophismas“ in der deutschen Diskussion siehe Langlitz 2005: 62ff. <?page no="140"?> Felix Ensslin 140 Logik bedeutet, und demnach die ersten beiden Möglichkeiten sich nicht mehr einfach unbewegt gegenüberstehen. Die dritte - die Frage nach dem Aspekt - ist etwas schwieriger zu beantworten: Vom Standpunkt der sapientia aliena lässt sich zwar sagen, dass es um Perspektiven geht, z.B. um die Perspektive des griechisch-philosophischen Erbes oder die Perspektive des jüdisch-legalistischen. Aber jede dieser Perspektiven kann ihre eigenen Voraussetzungen nicht abschließend artikulieren, sodass sich der Kreis wieder schließt: Durch die Temporalisierung der Logik - die nicht identisch ist mit der Verendlichung der Wahrheit - zeigt sich eine dritte Dimension des Subjekts zwischen Gesetz und Wahrheit, die selbst die Möglichkeitsbedingung für jede sapientia propria oder iustitia propria ist. 10 Es gibt also erstens die Zerstörung der „eigenen Weisheit und Gerechtigkeit“, diese öffnet zweitens den Weg zur (An-)Erkennung der Sünde und Torheit, und zwar weil sich die Abhängigkeit des ‚Eigenen’ von etwas durchaus nicht Eigenem zeigt. Drittens werden Sünde und Torheit wiederum durch den Glauben an die andere Wahrheit ebenso zerstört bzw. nicht mehr angerechnet. Wir werden im Folgenden darauf kommen, dass diese Bewegung sich nicht auf ein und derselben Ebene artikuliert. Der zweite Schritt besteht in gewissem Sinne darin, dass ein Nicht-Sprachliches oder besser ein Unausgesprochenes sich in die Reihe der Signifikanten drängt und dort seinen Platz einnimmt. Reiner Schürmann unterscheidet in Des hégémonies brisées 11 ebenfalls drei modi, durch die das Subjekt bei Luther bezüglich dessen, was wirksam sei, eingeordnet werden könne: erstens „vor dem Wort,“ zeitlich verstanden, dann zweitens „im Angesicht des Wortes “ oder „dem Wort gegenüber“ und drittens „im Wort.“ Übernimmt man diese „Topologie des Wortes“ 12 , wird deutlich, dass in der angeführten Einleitung zur Römerbriefvorlesung Luthers der erste Zustand nur indirekt, über eine Abwesenheit, angeführt wird. Er taucht auf in dem Satz: Peccata que non 10 In seiner sehr sorgfältigen Rekonstruktion Luthers (auf Kant hin) hat Rudolf Malter dies als die zwei Verstehensweisen des Menschen in Bezogenheit auf die Wahrheit (bzw. im ersten Fall im Mangel dieses Bezugs) mit den Begriffen „ichhaftes Verstehen“ und „spirituelles Verstehen“ gefasst. Damit ist aber noch nicht geklärt, wie und in welcher Weise es eine effektive Verbindung zwischen beiden gibt. Diese wird weiter im Kontext der lacanschen Neufassung der tyche des Aristoteles als „Ursache“ (eben im Sinne psychischer Kausalität) diskutiert, die Badiou verdrängt. Im Kontext der hier ausgeführten Notizen heißt das: Auch Malters Lutherinterpretation kann, wie Badious Paulusinterpretation, den Status des symbolischen Gedächtnisses nicht fassen. Vgl. Malter 1980: 117ff. 11 Schürmann 1996, hier zitiert nach der amerikanischen Ausgabe: Schürmann 2003: 376. Die hier dargestellten Überlegungen sind sehr dem Denken meines Lehrers Reiner Schürmann verpflichtet. Allerdings liest er Luther als „Luther mit Kant“ und so als eine Epoche auf dem Weg hin zum Ende jeder epochalen Geschichte. Damit steht er in der Tradition der Seinsgeschichte. Meine eigene Interpretation Luthers nimmt von dieser Betrachtungsweise Abstand und ersetzt, wenn man so will, methodologisch Heidegger durch den analytischen Diskurs, wie er von Jacques Lacan artikuliert worden ist. 12 Schürman 2003: 376. <?page no="141"?> Das Subjekt der Wahrheit 141 erant, Sünden, die es nicht gab. Nach diesem Modus, der entgegen der Weise, wie Schürmann diese Topologie selbst interpretiert, erst nachträglich artikuliert werden kann, wird das Subjekt durch das Gesetz an den Ort „dem Wort gegenüber“ gestellt. Hier ist zu beachten, dass das Gesetz als sapientia propria oder justitia propria missverstanden werden kann, d.h. als dem Subjekt ‚eigen’. Und zwar nicht nur auf der Ebene bewusster Argumentation, sondern auch bezüglich des Status, den das Subjekt „dem Wort gegenüber“ einnimmt, und wie es diesen Status lebt, empfindet, denkt. Erst wenn die sapientia propria und/ oder die iustitia propria ‚zerstört’ wird, führt dies zur retroaktiven Anerkennung - man könnte auch sagen: zur Setzung - der Sünde in ein zeitliches ‚Vor dem Gesetz‘, denn sie verweilt ja (stare esse) und entsteht nicht. Angesichts des Wortes oder einer Position ‚dem Wort gegenüber‘, und zwar durch ein nun räumliches und damit noch dinglich gedachtes ‚Vor dem Gesetz‘, entsteht sodann sekundär eine temporale Dimension, die wiederum zur Grundlage einer weiteren Modifikation der Topologie des Wortes wird. Ethisch-theologisches und ethisch-philosophisches Gesetz bestimmen das Subjekt in einer dinglichen Denkweise, weil sie sich als attributive Bestimmungen dem Subjekt gegenüberstellen. Diese Gegenwärtigkeit der Bestimmung führt zu der scheinbaren Möglichkeit, sich diese Bestimmungen anzueignen und so zur iustitia propria und zur sapientia propria zu machen. Aber weil sich gerade durch das Gesetz eine Spaltung einträgt, die sich als unaufhebbar erweist, nämlich zwischen Subjekt und Gesetz oder zwischen Bestimmbarem und Bestimmung, entsteht in dieser Spaltung auch eine Bewegung, die den Vorgang temporalisiert. In der sapientia propria wird diese verkannt, weil sich die Spaltung durch das Phantasma im Modus des automaton verdeckt. Gleichzeitig gibt es ein Unbehagen, denn es zeigt sich die Unmöglichkeit der Bestimmung durch das Gesetz. So bleibt im Herzen des proprius doch ein alienus. Wo dieses auftaucht, entsteht eine Lücke, weil die temporale Dimension das Getrennte niemals zu einem endgültig Bestimmten werden lässt. Der dritte Schritt und damit der dritte Modus des Wortes artikuliert sich in dieser Lücke als verzeitlichter. In Luthers summarischem Eingang zur Vorlesung über den Römerbrief kommt dieser dritte Modus des Wortes durch die Anerkennung der Wahrheit, die für ihn Christus heißt, also durch den Anderen und „seine Gerechtigkeit“ vor. Durch ihre Wirksamkeit kommt das Subjekt zuletzt (in Schürmanns Terminologie) „in das Wort“. Im Gegensatz zu mystischen Aufstiegen, zur Anagoge der Seele zum Gott-Einen, oder zu negativen mystischen Praktiken, die das Kreatürliche schrittweise ablegen, gibt es hier keine Technik, die erlernt, weitergegeben und angewandt werden könnte. Da es modi des Wortes sind, bleibt die Bewegung abhängig von der Begegnung mit dem Wort. Weitergegeben wird immer das Wort, die Verkündung, und diese ist in sich gespalten: Es gibt das Wort als Gesetz und als Evangelium oder „andere Weisheit“. Wir haben in der „Topologie des Wortes“ allerdings von drei Positionen gesprochen. Es gibt das Gesetz („dem Wort gegenüber“), und es gibt die Wahrheit („im <?page no="142"?> Felix Ensslin 142 Wort“) - aber es gibt auch „vor dem Wort“. An dieser Stelle möchte ich die Frage festhalten, ob der erste Modus des Wortes als Teil einer Reihung, die sich auf einer Ebene abspielt, verstanden werden kann oder ob die retroaktive Setzung, die ihren Platz am Anfang dieser Reihung nachträglich einnimmt, nicht gerade dadurch auch einer anderen Ebene entspricht. Die Nachträglichkeit unterliegt selbst einer Art Doppelung: Einerseits wird das Wort nachträglich an den Anfang der Reihe gestellt, andererseits wird aber deutlich, dass es als locus des Bruchs, zwischen dem Subjekt des Gesetzes, das dem Wort gegenüber steht, und dem Subjekt der Wahrheit, das im Wort ist, verstanden werden muss. In dieser zweiten Lesart kann es sich nicht bloß um einen Modus auf der gleichen Ebene wie die der anderen beiden Modi handeln. Die Doppelung von „erster Modus in der Reihe“ und „Bruch“, also von Begründung und Negation, weist darauf hin, dass die Ebene des Bruchs eine andere ist als die der Artikulation der Modi, wie sie Schürmann in seiner Reihung aufführt. Die Retroaktivität wäre dann eine doppelte, als Ursprung am Anfang der Reihung und als Bruch zwischen den Gliedern der Reihung oder Kette, die durch das Gesetz und die Wahrheit benannt sind. Für Ohren, die Badious Denken erwarten, ist diese Topologie ein Trick. „Das Subjekt ist selten“, sagt er in Das Sein und das Ereignis 13 , gerade weil es für ihn erst dann da ist, wenn es Wahrheit gibt, wenn diese benannt wird. Versucht man, dies mit Luther zu analogisieren, geht es dabei um den dritten Schritt, der das Subjekt durch Bezug auf den zweiten, der die iustitia oder sapientia aliena hervorbringt, strukturiert und von dort aus die iustitia oder sapientia propria negativiert. Wenn man es von Badiou her versteht, gibt es dabei keine Verbindung zwischen dem Moment der sapientia propria und dem der sapientia aliena. Diese Letztere wäre vielleicht in der Terminologie Badious am besten durch den Begriff der Treue zum Ereignis benannt, die das Subjekt konstituiert. Zu sagen, dass das Subjekt selten ist, heißt dann, dass es vor der Treue zur Wahrheit kein Subjekt gibt. Daraus folgt seine Polemik gegen das Gedächtnis, denn dieses wäre dann immer nur eine Verwirrung, eine Ablenkung vom Ereignis und der Konstitution des Wahrheitsprozesses, der vom Ereignis her gedacht werden muss. Der Prototyp einer solchen Wahrheitsmilitanz ist für Badiou der Apostel Paulus. Doch die Paulusrezeption Luthers gibt wie gesehen eine komplexere Struktur zu denken, eine Struktur, in der das Subjekt nicht nur da ist, wenn der dritte der beschriebenen Schritte vollzogen ist, sondern auch schon gerade in seiner Selbstverkennung, „angesichts des Gesetzes“. Aber ein dadurch impliziertes Wissen, dass sich in Form einer Verkennung artikulieren würde, muss Badiou von sich weisen: Jede Definition, die voraussetzt, dass das Subjekt die Wahrheit kennt oder ihr angepasst ist, muss streng zurückgewiesen werden [...]. Jede Wahrheit transzendiert 13 Badiou 2005. Vgl. dort Meditation 35, „Theorie des Subjekts“: 439ff. <?page no="143"?> Das Subjekt der Wahrheit 143 das Subjekt, gerade weil sein ganzes Sein darauf beruht, sie zu verwirklichen. Das Subjekt ist weder das Bewusstsein noch die Unbewusstheit des Wahren. 14 Badiou müsste also die Formulierung, dass es in der Reihung der Topologie vor dem „Subjekt der Wahrheit“ auch ein „Subjekt des Gesetzes“ gibt, aus zwei Gründen zurückweisen. Erstens, weil „dem Wort gegenüber“ (die topologische Bestimmung des Subjekts des Gesetzes) eben gerade bedeutet, dieses zu (er-)kennen. Das verneint Badiou hier. Die Spaltung in Subjekt und Objekt, in Bestimmbares und Bestimmtes, in Erkennbares und Erkanntes ist nicht zuletzt eine epistemologische. Das Gesetz ist das, was erkannt oder gewusst werden kann; darum schützt auch Ignoranz nicht davor, seinem Gericht zu unterliegen. 15 Und zweitens, weil durch diese Formulierung eine Kontinuität oder ein wesentlicher, wenn vielleicht auch kontingenter Bezug zwischen dem Subjekt des Gesetzes und dem Subjekt der Wahrheit hergestellt wird. 16 Erstaunlicherweise schreibt auch Luther in der Römerbrief- 14 Badiou 2005: 445. 15 Dies folgt aus der Nachträglichkeit der Setzung der ersten Position in der Topologie des Wortes, wie wir sie hier bei Luther nachgezeichnet haben. Da Schürmann diese Nachträglichkeit auch nicht denkt, kann er den Topos „vor dem Wort“ auch mit den Worten beschreiben, wonach Luther eine Position bezeichne, die „ignorant of the law“ sei. 16 Es ist gerade die Entdeckung, dass „wesentlich“ und „kontingent“ kein Widerspruch sein muss. Die Spannung zwischen „wesentlich“ und „kontingent“ ist in die christlichabendländische Metaphysik u.a. durch die Spannung zwischen dem aristotelischen „unbewegten Beweger“ und dem judäo-christlichen Schöpfergott eingeführt worden. Terminologisch hat das Mittelalter spätestens seit dem 13. Jahrhundert dies in der Spannung der zwei Mächte Gottes diskutiert, der potentia dei ordinata und der potentia dei absoluta. Ursprünglich war diese Unterscheidung nur dazu da, einen logischen Ort zu schaffen, der aufzuzeigen half, dass es eine potentia absoluta Gottes geben müsse, die jenseits der in und durch die potentia ordinata verwirklichten, d.h. durch Schöpfungsakt bewirkten Welt anzusiedeln ist. Durch den Voluntarismus von Duns Scotus und den Nominalismus Ockhams hat sich die Unterscheidung aber dahingehend verschoben, dass sich beide als kontingent erwiesen. Während es immer klar war, dass die geschaffene Welt qua Geschaffensein kontingent war, wurde ein Denken, dass immer mehr nach dem Einbruch der absoluten Macht Gottes in den Verlauf der durch Sekundärursachen strukturierten Welt fragte, darauf aufmerksam, dass sich auch diese „Macht“ Gottes nicht als notwendige artikulieren ließ. Sonst müssten ja Gesetze denkbar sein, die ihr Eingreifen zu fassen wüssten. Luther steht am Ende dieser Entwicklung und radikalisiert sie. Es ist am Ende die potentia absoluta, die durch ihr Eingreifen in der Welt kontingent ist, und es sind ihre Effekte in der potentia ordinata, die als notwendige zu verstehen sind. Mit dieser Denkweise kommt er dem Verständnis psychischer Kausalität, wie sie von der Psychoanalyse gedacht wird, sehr nahe. Es ist gerade die Akzeptanz eines radikal kontingenten und damit dunklen (weil nicht notwendig ableitbaren und so der Vernunft offenen) Schöpferwillens, die zu sehen ermöglicht, dass weder das ethisch-theologische Erbe (die iustitita propria) noch das ethisch-philosophische Erbe (die sapientia propria) zu einem Wissen um die Erfüllung der Anforderungen dieser Gesetze führen kann. Es kann nur ein Wissen um die Verfehlung der Bestimmung durch diese Gesetze geben, eben weil es kein Wissen um die Weise, wie sie adäquat erfüllt werden könnten, geben kann. Ich kann und muss ablassen von dem Versuch, diese Be- <?page no="144"?> Felix Ensslin 144 vorlesung, nachdem er aufzeigt, dass das opus alienum allein zum Bekenntnis der Wahrheit und zur richtigen Betrachtung des Bezugs zum Wort, zur richtigen Selbstkenntnis (im Sinne des „spiritualen Verstehens“) führe: „Deswegen ist es sehr selten, dass ein Mensch sich als Sünder anerkennt und glaubt“ 17 , d.h., das „Subjekt der Wahrheit“, das gerade als dritter Schritt in der Anerkennung der Effekte des zweiten Schrittes (des Gesetzes) sich artikuliert, ist in dem Sinne ebenso „selten“. Diese Ähnlichkeit bei Badiou und Luther hat mit einem Aspekt ihres Denkens zu tun, den man ihren Nominalismus nennen könnte. Was einmal wahr ist, ist immer wahr. Im Folgenden werde ich kurz auf diese Dimension eingehen, bevor ich dann auf die unterschiedlichen Konsequenzen im Zusammenhang mit der Frage des Gedächtnisses eingehe. Während für Luther in der Pauluslektüre - ebenso wie dies in der Psychoanalyse gedacht wird - auch in der Verkennung die Dimension der Wahrheit am Werk ist, ist dies für Badiou in seiner Paulusinterpretation nicht der Fall. Mit Lacan lässt sich denken, wie die Konzeption Luthers in ihrer Konsequenz zu einer Position führt, die dem symbolischen Gedächtnis eine notwendige Rolle zuspricht. Allerdings handelt es sich um eine Auffassung von Gedächtnis, durch die in der Unterscheidung des symbolischen Gedächtnisses von der imaginären Erinnerung das Erstere gerade als ein immer in Fragwürdigkeit oder als Fragwürdigkeit verweilendes, nicht auszufüllendes, zu wissendes Gedächtnis beschrieben wird. 3 Über den Nominalismus wahrer Namen Welche formale Struktur der sapientia aliena, des opus alienum oder des ‚anderen Wissens’ - sie sind in gewissem Sinne bei Luther Synonyme für das agens des Subjekts der Wahrheit - lässt sich aus Luthers Vorlesung extrahieren? Und was kann uns dies heute sagen oder lehren? Luther kann den Bezug des Gesetzes und seiner Effekte zur Wahrheit nicht abschaffen, denn dann müsste er das Wort abschaffen, die einzige Potenz - vom Menschen aus gesehen -, die es in der Frage der Seinsbestimmung des Subjekts gibt. Denn die drei Modi des Wortes sind nicht drei unterschiedliche Wörter. Daher sind auch alle Worte Gottes eins, sie sind einfach, sich (immer) gleich und wahr, weil sie sich alle auf eines beziehen, soviel es ihrer auch sein mögen. Und alle Worte, die auf ein Ziel gerichtet sind, sind wie ein einziges Wort. Und alles, stimmung zu kennen, und mich öffnen für die sapientia aliena, für die Rechtfertigung „im Wort“ als Subjekt der Wahrheit. Aber der Moment des Ablassens vom ethisch-religiösen und vom ethisch-philosophischen Gesetz ist ein notwendiger Schritt. Es muss diesen Moment der subjective destitution geben, um es mit dem von Slavoj Žižek stark gemachten Begriff zu fassen. Darin ist die Differenz - in a nutshell - zu Badious Rezeption der paulinischen Einführung des Universalismus zu sehen. 17 Luther 1991: 133. <?page no="145"?> Das Subjekt der Wahrheit 145 was auf verschiedene Dinge gerichtet ist, ist dennoch zweierlei oder mehrerlei, selbst wenn es dem Wort nach eins ist. 18 Dies ist eine die nominalistische Lehre aufgreifende Aussage Luthers, die aus der ebenfalls frühen Auslegung der Psalmen stammt. In Frage steht, ob bei Luther das Nomen dabei noch selbst eine symbolische Einheit bezeichnet oder eher etwas Reales, Signifikantenartiges, das aber noch kein Begriff oder Eigenname ist. Jedenfalls gibt es eine Dimension, in der das Wort sich immer gleich bleibt und unveränderbar ist, und diese Dimension kann nur durch ihre Effekte gelesen werden. Das Wort ist sich gleich, gerade indem es auf ein ‚Ziel’ hin orientiert ist. Dabei darf dieses Ziel nicht als substanzieller terminus ad quem gelesen werden, sondern es ist gerade umgekehrt so, dass ein solch dinglicher Bezug die Einheit des Wortes spaltet - und so auch das Subjekt, das durch diesen Bezug konstituiert wird. Das Ziel wird erst als Effekt dieser Spaltung erkennbar. Dies hat es mit dem Ursprung, der oben beschriebenen ersten Position in der Topologie des Wortes, gemein. Daran kann sich die Frage anschließen, ob diese Gemeinsamkeit nicht weiter geht und „Ursprung“ und „Ziel“ nicht auf gewisse Weise identisch sind. In seinem Ausgerichtetsein auf das Wort ist das Subjekt demnach keine autonome, schöpferische oder gar spontane Potenz, sondern konstituiert sich entweder als gespaltenes Subjekt durch einen dinglichen Bezug zum Gesetz oder als Annahme, Aufnahme, Bejahung eines heteronomen Wortes. Diese Annahme oder Aufnahme geschieht in der Lücke, die durch die Spaltung vollzogen wird. Trotz Luthers antijüdischer Tendenz 19 ist ihm ein marcionitischer Weg nicht gangbar, d.h. ein Weg, der die beiden Schritte auf je andere, voneinander unabhängige Ursachen beziehen würde. Es gibt keine zwei Quellen, aus denen Gesetz und Sünde auf der einen Seite und Wahrheit auf der anderen Seite entspringen würden. Die Topologie des Wortes bezieht sich auf ein Wort, das in sich selbst identisch bleibt. 20 Die sapientia aliena des dritten Schritts, den Luther in Paulus nachzeichnet, ist kein Hinweis auf einen deus alienus. Der deus alienus des marcionitischen 18 Luther 1991: 64. Luther bezieht sich hier eindeutig auf die ersten Punkte der „Kategorien“ des Aristoteles, so in der Unterscheidung von Homonymen und Synonymen, wie sie in der letzten Zeile anklingen. Gleichzeitig wird hier seine nominalistische Ausrichtung deutlich. 19 Es wäre interessant zu fragen, ob nicht Luthers Antisemitismus erst durch seine eigene Abschwächung der radikalen Dialektik, die er in seinem frühen Denken artikuliert, zu seiner spezifischen und unheilvollen Ausformung kommt. Indem er die Dialektik von Wahrheit und Trauma wieder auf eine von Wahrheit und Schein reduziert, substanzialisiert er Erstere. Vgl. zu diesem Unterschied Lacan 1996: 77. 20 So wie Gott „in sich“ immutabilis ist, ist auch das Wort „in sich“ identisch. Luther spricht davon sehr oft. Die Einheit des Wortes ist identisch mit der Einheit Gottes, gerade auch dort, wo sie, phänomenal geworden, aufgenommen, vervielfältigt werden kann und damit zur Ursache geworden ist. Dagegen ist die Homonymie eines Wortes kein Garant für die Einheit dessen, was darin wirksam wird. <?page no="146"?> Felix Ensslin 146 Weges und die sapientia aliena oder iustitia aliena Luthers sind in keiner Weise identisch. Ersterer substanzialisiert die Effekte der Modi des Wortes, Letztere entsubstanzialisieren sowohl das Wort als auch das Subjekt, das sich durch dieses Wort konstituiert. Wenn der jüngere Harnack meinte 21 , das alte Testament aus dem protestantischen Kanon entfernen zu müssen, weil dieser Schritt in der Tendenz in Luther schon angelegt sei und nur aus historischen Gründen noch nicht hätte verwirklicht werden können, dann verkennt er diesen Unterschied. Der Unterschied bleibt auch dann wesentlich, wenn selbst ein Denker wie Jakob Taubes Harnack recht zu geben scheint, indem er in sehr ambivalenter Weise darauf verweist, dass mit dieser Haltung eben doch eine „Tendenz“ Luthers ausgearbeitet würde. 22 Harnack hat unrecht, und zwar aus dem gleichen Grunde, durch den auch Dominik Finkeldes Behauptung widerlegt wird, „Badious Beschreibung von Paulus“ treffe „besser auf Marcion zu“. 23 Weder Luther noch Badiou theoretisieren zwei Quellen des Wortes. Badious Beharren, dem Effekt des Gesetzes keinen Subjektstatus zu verleihen, verleitet Interpreten wie Finkelde zu dieser Fehlinterpretation. Verkennung der Wahrheit und Treue zur Wahrheit sind nicht auf zwei unterschiedliche Termini ausgerichtet, sondern nur eine „inkohärente Reihe von enzyklopädischen Determinanten“ 24 . Gerade weil Luther in seiner Interpretation des Apostels auch der Verkennung selbst Kohärenz zuschreibt, sind diese beiden Reaktionen oder Aneignungen des paulinischen Denkens in Bezug zu bringen. Finkelde leitet seine Behauptung, Badiou hätte besser Marcion als Paulus zu seinem exemplum des militanten Subjekts der Wahrheit erhoben, von Jakob Taubes Beschreibung des Marcion ab: „Der Schöpfer von Himmel und Erde spricht sich aus im Alten Testament und ist der gerechte Gott, nicht der böse Gott. Und weil er gerecht ist, ist er nicht der Vater Jesu Christi.“ 25 Für Marcion ist undenkbar, wie der Überschuss der Gnade in der Situation 26 der Schöpfung mit der in ihr mitgeschöpften, der ihr eigenen Vorstellung von „Gerechtigkeit“ zusammengedacht werden könnte. Daher zieht er den Schluss, dass zwei transzendente Quellen oder Wirkungsprinzipien zu denken seien, die nichts miteinander zu tun haben. Marcion muss also den jüdischen Schöpfergott als den „anderen Gott“ aus der Gnadenlehre - der Wahrheitslehre - verbannen. Gerade durch die Aufteilung Gottes in zwei Götter, beide transzendent und beide vollkommen unabhängig voneinan- 21 Harnack 1985. 22 Taubes 2003: 79ff. 23 Finkelde 2007: 37. 24 Badiou 2005: 483. 25 Taubes 2003: 83. 26 Hier kann man an Badiou denken, der den Überschuss auch als „Differenz zwischen dem Sein (in der Situation) und dem (ultra-einen) Ereignis“ verstanden wissen will. Vgl. Badiou 2005: 101ff. (Meditation 7. Der Überschusspunkt.) und 314ff. (Meditation 26. Der Begriff der Quantität und die Sackgasse der Ontologie. Abschnitt 7: „Das vollständige Umherirren der Verfassung einer Situation: Der Satz von Easton“). <?page no="147"?> Das Subjekt der Wahrheit 147 der, wählt Marcion die Möglichkeit, den Ort oder das Ereignis der Wahrheit struktural so zu fassen, dass er oder es in Immanenz überführt werden oder eben dort als überzählig lokalisiert werden könnte. Um der Reinheit der Wahrheit willen muss Marcion die Verbindung von Unwahrheit zur Wahrheit auflösen. So ist es verständlich, wie Finkelde zu diesem Fehlschluss kommen kann: Der Grund liegt in der Polemik Badious gegen das Gedächtnis. Sowohl Luther als auch Badiou sind - buchstäblich - Nominalisten: semel est verum, semper est verum. Aber die Frage nach dem Status dessen, worauf sich das semel bezieht, bleibt problematisch. Bei Luther ist es etwas, das nie selbst zugänglich sein kann. Nur die Effekte, die es in der Sprache und durch die Sprache in den Subjekten hat, sind jeweils sein Index. Badiou dagegen kann nur die „Namen über alle Namen“ als bereits ausbuchstabierte Referenzen auf diese ewigen Wahrheiten bejahen. Der Nominalismus versucht die Frage zu lösen, wie es sein kann, dass durch den Wechsel der (grammatikalischen) Fälle oder der (grammatikalischen und historischen) Zeiten die Bezeichnung einer Wahrheit sprachlich attestiert werden kann. Er löst dies in der Hauptsache mit Bezug zum Gebrauch von Worten in einem Bedeutungszusammenhang. Dieser wiederum erschließt die Bedeutung des Wortes selbst, ohne den Verweis auf eine ‚realistische’ Referenz. Allerdings wird im Nominalismus eben diese Referenzlosigkeit unterschiedlicher Zeiten und Gebräuche durch die zeitlose Gültigkeit der ihr zugrunde liegenden einen Referenz verankert: dem jeweiligen nomen. In diesem Sinne kann man verstehen, warum aus heutiger Sicht die Befreiung vom Realismus auch zu einer noch rigideren Form von Wahrheitsdogmatik führen kann. Zuerst gibt es nur noch den Bezug auf das eine nomen, der Anspruch auf Wahrheit erhebt. Dann später gibt es auch diesen Bezug nicht mehr. Dadurch wird die Wahrheit selbst zum reinen Dogmatismus, gestützt durch Macht. Sowohl Luther als auch Badiou argumentieren gegen diese ‚perverse’ Lösung. Aber Luthers Lösung, die jener der Psychoanalyse nahekommt, ist radikaler, weil sie das Reale, auf das die Wahrheit Bezug nimmt, weder bereits in Signifikanten verpackt noch für unwirksam im ‚normalen’ Vollzug menschlicher Existenz erklärt. In Badious Denken verbleibt eine Spannung oder Ambivalenz: Ist das Subjekt das, was sich in Treue und durch Treue zum Ereignis konstituiert? Oder konstituiert das Subjekt das Ereignis als Ereignis, indem es dieses benennt? Dass der Bezug des Subjekts zu Wahrheiten, deren Status ewig, d.h. im nominalistischen Sinne zeitlos ist, verstärkt diese Ambivalenz. Der Name des Ereignisses kann nicht ohne Bezug bleiben zu einer zeitlosen Wahrheit. Aber damit stellt sich eben sehr entschieden die Frage, wie der Bezug zu dieser Wahrheit zu denken ist, solange er nicht im Ereignis benannt ist. Da er keine Verbindung denken will, die ein Subjekt vor der Wahrheit mit einem Subjekt der Wahrheit verknüpfen würde, bleibt diese Spannung zwar produktiv, aber letztlich unlösbar. <?page no="148"?> Felix Ensslin 148 Das Subjekt der Wahrheit Badious und das Subjekt durch und in Christus (d.h. der Wahrheit) Luthers sind beide Subjekte, die durch Glauben, Bekenntnis und Treue mit der Wahrheit durch ein dictum, ein enuntiabile, verbunden sind bzw. die gerade durch das dicere des Dictum oder die Enuntiation des enuntiabile weiter und weiter subjektiviert werden. Nachdem Badiou auf den Philipperbrief und die Beschreibung des Namens Christus in unserem Sinne als enuntiabilium oder dictum, nämlich als „Name über alle Namen“, eingegangen ist, führt er folgenden Gedanken aus: Immer sind es solche Namen, und nicht die geschlossenen der partikularen Sprachen und Entitäten, auf die das Subjekt einer Wahrheit Anspruch erhebt. Alle wahren Namen sind ‚über alle Namen.’ Wie das mathematische Symbol lassen sie sich in allen Sprachen, gemäß allen Gebräuchen und durch alle Differenzen hindurch deklinieren [sic! ] und bekennen. Jeder Name, aus dem eine Wahrheit hervorgeht, ist ein Name, der älter ist als der Turm zu Babel. Aber er muss im Turm zirkulieren. 27 Die Ambivalenz, ob der „Name über allen Namen“ selbst das Analogon eines mathematischen Symbols ist oder ob er - wie ein solches Symbol in einer algebraischen Funktion - auf etwas noch Fundamentaleres verweist, bleibt unaufgelöst. Für Luther sind sowohl Gesetz als auch Wahrheit solche „Symbole“, die innerhalb einer Funktion eingesetzt werden und auf diese verweisen. Luther hätte wie gesagt das Gesetz nicht abschaffen können - er kämpft ganz folgerichtig auch gegen die Antinomer, so wie Badiou sich gegen Marcion ausspricht (trotz seines deutschen Interpreten), weil das Gesetz einfach ein Modus des Wortes ist. Das verbum kann dann verstanden werden als das Vehikel, in dem Aussage und Ausgesagtes an sich verbunden werden, das aber - daher die Modi des Wortes - durch und als lex diese auch trennt. Die Subjektivierung ruht nicht, wenn sie einmal benannt und Treue zu diesem Namen möglich geworden ist. Dass dies möglich wird, ist kontingent. Es hängt sekundär vom Hören ab, primär von der Existenz der Diskurse des Wortes („im Turme Babels zirkulieren“) mit seinen konstitutiven Lücken. Zu dieser sekundären Bedingung kann man an Luthers fides ex auditu denken, aber auch an Badious Beispiel am Ende des Paulus-Buchs, wenn er davon spricht, dass die Verbreitung der Wahrheit des Subjekts nichts mit dem Bildungsgrad des Hörers zu tun hat. In beiden Fällen hängt die Wirksamkeit des Hörens von der darunterliegenden Wirksamkeit des Wortes ab. Aber vielleicht besteht die Differenz darin, dass diese Wirksamkeit bei Badiou auf die „Namen über alle Namen“ beschränkt bleibt, während sie bei Luther in allen Modi des verbums gegenwärtig ist. Was bewirkt die Wirksamkeit? Sie bewirkt entweder ein Spiel zwischen den Namen oder 27 Badiou 2002: 202f. <?page no="149"?> Das Subjekt der Wahrheit 149 eine Veränderung in der „Subjektposition“, die der Bezug auf die Namen definiert. Die Topologie des Wortes soll bei Luther diesen Zusammenhang artikulieren. Bei ihm finden wir hier eine insofern unerwartete Bezugnahme auf die Naturphilosophie des Aristoteles, als es ja gerade um das Wesentliche des Menschen geht: seinen Bezug auf Gott in den Modi des Wortes: Denn wie es im Bereich des Natürlichen fünf Stufen gibt: nämlich Nichtsein, Werden, Sein, Tätigsein und Erleiden - oder in der Terminologie des Aristoteles Unvorhandenheit, Stoff, Form, Wirken, Erleiden - so auch im Bereich des Geistes: ‚Nichtsein’ bezeichnet eine Sache ohne Namen und den Menschen in Sünden. 28 Man sollte hier eingedenk der Eingangsworte der „Römerbriefvorlesung“, die wir anfangs analysiert haben, dies mitdenken: „Menschen in Sünden“ bezeichnet diejenigen Menschen, die durch die Wirkung des Wortes im Modus des Gesetzes getroffen sind, die die Wirksamkeit des Wortes im Modus des lex erleiden. „Nichtsein“ ist also ein nachträglicher Effekt der Konstitution des Subjekts des Gesetzes. Es ist nicht das „seltene“ Subjekt aus dem obigen Zitat, oder es ist es nur „an sich“, (noch) nicht in Potenzialität. 29 Luther schreibt weiter: „Werden bezeichnet dessen Rechfertigung“, also das Subjekt des Gesetzes auf dem Weg zu dem Namen über alle Namen, ein Subjekt der Wahrheit im Werden. Dies ist wichtig, wie es auch wichtig ist, davon abzusehen, hier unmittelbar „Werden“ als den Status des Subjekts der Wahrheit anzusehen. Vielmehr ist es die Spaltung zwischen dem Subjekt der Wahrheit und dem Subjekt des Gesetzes, die selbst das „Werden“ ist. So sagt Luther weiter: ‚Sein‘ bezeichnet seine des Subjekts Gerechtigkeit; ’Wirken‘ bezeichnet sein Handeln und Leben in Gerechtigkeit und ‚Erleiden‘ bezeichnet sein Vollkommen- und Vollendet werden. Und diese fünf sind beim Menschen gleichsam in ständiger Bewegung. Und alle menschlichen Vorfindlichkeiten - bzw. alle bis auf das uranfängliche Nichtsein und das endgültige Sein. 30 28 Luther 1991: 229. 29 Potenzialität meint hier nicht das passive Vermögen, das auf einen Akt warten muss, um verwirklicht zu werden, sondern ein Vermögen, das durch die Wirksamkeit des Wortes in einem anderen Modus eben von der „Verwirklichung“, vom ewigen Spiel der Reproduktion des Gleichen, abgehalten wird. Dieses Verständnis - ohne den ausdrücklichen Bezug zum Wort - geht auf Agamben zurück. Vgl. u.a. Agamben 1999, dort vor allem S. 177ff. („On Potentiality“) sowie Agamben 2002: 53f. 30 Luther 1991: 229. <?page no="150"?> Felix Ensslin 150 Hier werden aus dem Bereich menschlicher Zuschreibung und „Bewegung“ sowohl der Ursprung als auch das Ende ausgeschlossen - dies kann zugleich als eine Anmerkung zu der Frage gelten, ob Luther als Apokalyptiker gelesen werden muss oder nicht. Hier geht dies eindeutig nicht, denn das Ende ist konstitutiv aus der möglichen Seinsbestimmung des Menschen ausgeschlossen (was nicht heißt, dass es „an sich“ nicht im Verbum schon mit eingeschlossen, mit beschlossen ist). Der Text fährt fort: „denn die drei, nämlich ‚Werden’, ‚Sein’, ‚Tätigsein’ bewegen sich ja ständig zwischen den beiden (anderen), nämlich ‚Nichtsein’ und ‚Erleiden’ hin und her - gehen auf dem Weg der Neuwerdung vom Stadium der Sünde in das der Gerechtigkeit über und (gelangen) somit vom Nichtsein über das Werden zum Sein. 31 Noch einmal: Gerade durch die Bewegung zwischen diesen Grenzfällen sind Ursprung und Ende ausgeschlossen, was die protestantische und vor allem die calvinistische Prädestinationslehre wieder vergessen wird. 32 Wenn Luther schreibt, dass die mittleren drei Weisen (‚Werden’, ‚Sein’, ‚Tätigsein’) „auf dem Weg der Neuwerdung vom Stadium der Sünde in das der Gerechtigkeit über gehen “, dann sollten wir uns an die Diskussion des ersten Teils erinnern. Was Luther anhand der Prozesse der aristotelischen Naturphilosophie beschreibt, ist ein Vorgang im Verhältnis zum Wort. Indem die Sünde a) nachträglich gesetzt wird und b) dann auf der gleichen Ebene auch die sapientia propria oder iustitia propria artikuliert wird, kommt sie in die Reihe der Signifikanten. Sie wird von etwas Unausgesprochenem oder Unsagbarem oder Ausgeschlossenen zu etwas, was in die Reihung der Artikulationen eingereiht wird. Wenn man sich zwei horizontal parallel verlaufende Linien vorstellt, kann man vielleicht ein Bild dafür finden. Die Sünde wird von der unteren auf die obere Linie gehoben. Aber dies ist nicht ein einmaliger und somit fast statischer Vorgang. Indem dies geschieht, bereitet sich vielmehr ein Austausch vor. Luther schreibt weiter: „So gelangen alle menschlichen Vorfindlichkeiten [... vom Nichtsein über das Werden zum 31 Luther 1991: 229. 32 Genauer müsste man sagen: Luthers Beharren auf der Prädestination in seiner Auseinandersetzung mit Erasmus muss so gelesen werden, dass durch die Prädestination und nur durch sie die „schlechte“ Unendlichkeit einer unaufhörlichen Positionierung des Subjekts gegenüber dem Anderen durch die Frage „Was willst Du (von mir)? “ unterbunden werden kann. Die Frage ist sinnlos, weil sie immer schon beantwortet ist, nämlich durch die Haltung des Subjekts zum Anderen, aber diese Antwort niemals Gegenstand eines „Wissens“ sein kann. Die calvinistische Variante - und auch Luthers eigene, späte Version in den „Genesisvorlesungen“ der 1530er-Jahre - verdeckt diese befreiende, radikale Funktion der Prädestination. Sie wird ihrer Funktion als „reiner Signifikant“ entledigt und zum Zeichen degradiert, bzw. die Welt, die Arbeit in ihr und die Effekte dieser Arbeit werden zum „Zeichen“ der Prädestination. Da, nach Jacques Lacan, ein Zeichen immer ein Zeichen „für jemanden“ ist, aber ein Signifikant nur ein Subjekt für andere Signifikanten repräsentiert, ist das ein Unterschied ums Ganze. (Dieser Zusammenhang führt in diesem Kontext über das Ziel hinaus. Er wird an anderer Stelle weiter ausgeführt werden.) <?page no="151"?> Das Subjekt der Wahrheit 151 Sein.“ Somit tauscht er das „Werden“ aus dem ersten Dreischritt durch „Nichtsein“ aus. Er kann dies tun, weil er gerade beschrieben hat, wie das „Nichtsein“ - nämlich die Sünde, von der wir uns erinnern, dass sie non erant und erst nachträglich gesetzt worden sein wird - in die Artikulation auf der Ebene des Gesetzes, auf der Ebene der Signifikantenkette, eingefügt wird. Aber in der Nachträglichkeit verliert sie nicht vollständig die Qualität, die ihr ursprünglich einen Status als „non esse“ zuschrieb. So gelangt die ausgeschlossene Ursprungssituation vermittels der Setzung, die durch das Gesetz möglich wird, in die Reihe der Signifikanten auf der Ebene des Gesetzes selbst. Durch die Einfügung des Ausgeschlossenen, der Position des „Nichtseins“, in die Zirkulation entsteht etwas Neues. Die mittlere der ursprünglichen drei zirkulierenden Positionen wird somit auf die letzte Position geschoben, also die des Seins. Das Entscheidende ist, dass dieser ‚Tausch’ nicht einfach ein Vertauschen der Plätze auf einer Ebene ist, sondern dass in diesem Ereignis die Reihe sich zu einer anderen Dimension oder Ebene hin öffnet und dadurch eine andere wird, jedoch ohne eine substanzielle Änderung. Die Reihe selbst wird eine andere, weil alle ‚bewegten’ Positionen (Werden, Sein, Tätigsein) ihren Bezugsstatus zur „Ursache“ oder zum „Ursprung“ verändern und dadurch vom „Stadium der Sünde in das der Gerechtigkeit übergehen“. Indem der unzugängliche Ursprung selbst in nichtsubstanzieller Weise in der Reihe auftaucht, indem „Werden“ durch „Nichtsein“ ersetzt wird, verändert sich die Situation ums Ganze. Nachträglich wird so, was auf der Ebene des Gesetzes als substanzielle Bestimmung erschien, entsubstanzialisert. Aber dies ist und bleibt abhängig von einem Bezug zum Wort, in einem anderen Modus. Die sapientia propria wird durch die sapientia aliena ersetzt. Aber substanziell ändert sich gar nichts - außer vielleicht, dass die Vorstellung oder das Phantasma der Substanzialität selbst fragwürdig wird, denn was auf die andere Ebene übernommen wird, ist ein „Nichtsein“. Ist dies geschehen, so ist auch sein Wirken gerecht. Von diesem neuen Sein aber, das in Wahrheit ein Nichtsein ist - sed ab hocipso esse nouo, quod est verum non esse - gelangt er fortschreitend über das ‚Erleiden‘ zu einem weiteren neuen ‚Sein‘, d.h. durch ein ‚Anderswerden‘ in ein besseres Sein und von hier aus in ein weiteres - aliud fieri, in esse melius, Et ab illo iterum in aliud. 33 Es ist aufschlussreich, parallel ein Zitat aus Badious „Ethik“ zu lesen: Dem Ereignis treu sein, das ist das Sich-Bewegen in der Situation, die zu diesem Ereignis einen Zusatz bringt, indem man die Situation ‚gemäß‘ dem Ereignis dachte [...]. Die Treue zum Ereignis ist wirklicher (gedachter und praktizierter) Bruch innerhalb meine Hervorhebung, F.E. der Ordnung, in der das Ereingis 33 Luther 1991: 229, lateinisch in Luther 1987: 146. <?page no="152"?> Felix Ensslin 152 stattfand [...]. Man nennt ‚Wahrheit‘ (eine Wahrheit) den wirklichen Prozess der Treue zu einem Ereignis. Das, was diese Treue in der Situation hervorbringt. 34 Hier ist der „Bruch“ das, was der „Situation“ (der Reihe) hinzugefügt wird. Er ist nicht bereits da, er existiert nicht in anderer Weise (als die Ursache verkleidendes Phantasma), bevor er zum Bekenntnis bzw. zum Namen als Bedingung der Treue führt. Bei Luther haben wir gesehen, dass es eine Transposition gibt, sofern man mit diesem Begriff die Übernahme in die Reihe der Artikulation, wie sie vom Gesetz anfänglich strukturiert ist, bezeichnet. Das „Nichtsein“, das aber auf der Ebene der ausgeschlossenen „Ursprungselemente“ schon logisch da war - Luther hat es mit den Worten „alle bis auf das uranfängliche Nichtsein und das endgültige Sein“ zuerst ausgeschlossen - , ist in die Reihe der sich bewegenden, zirkulierenden Positionen transponiert worden. Bei Badiou ist dies anders. Es gibt einen Zusatz, ein Supplement, das wirklich hinzugefügt, nicht transponiert oder transformiert wird. 35 4 Übersetzungen Ich glaube, dass die Interpretation, die Badiou fälschlich einen Marcionisten nennt, hier ihren Ursprung hat. Denn das „seltene Subjekt“, der „wirkliche Bruch“, soll keine Negation der Situation sein, sondern ein reiner Zusatz, eine Ursache einer vollkommen anderen Ordnung, die nicht darauf bezogen ist, sondern erst im Nachhinein die Situation auf sich bezieht. Wenn Badiou schreibt, dass die Situation dem Ereignis „einen Zusatz bringt“, wird dies noch deutlicher. Ich denke, dass dies in dieser Form nicht möglich ist und 34 Badiou 2003: 62f. 35 In einer Diskussion im Anschluss an diese Überlegungen wurde von dem Badiouübersetzer und -kenner Gernot Kamecke der folgende Kommentar zu dieser Problematik gegeben: „Dieser ‚Zusatz‘ ist eine ‚Erweiterung‘ (extension), welche die leeren Teilmengen der Ursprungssituation schneidet und insofern nicht absolut beziehungslos hinzukommt“. Dies führt in das Herzstück der hier vorliegenden Überlegungen. Wenn es so ist, dann bleibt die Frage, wie dieses „nicht absolut beziehungslos“ zu denken ist. Die Frage des Gedächtnisses und die Unterscheidung von „symbolischem Gedächtnis“ und „imaginärer Erinnerung“ scheint mir eine gute Weise zu sein, dieses Problem zu thematisieren. In der Insistenz auf besetzte Begriffe wie „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ liegt die Vermutung, dass es nicht unerheblich ist, dass die „Erweiterung“ der Situation im Modus einer Bewegung oder Durchquerung des Phantasmas des Subjekts geschieht. Das heißt, es muss immer eine Möglichkeit geben, zwischen dem Genießen, das gewiss ist und im Phantasma als Rest Eingang findet, und dem Begehren, das sich von der Schwere dieser Gewissheit zumindest teilweise löst, zu unterscheiden. Dies ist nicht Badious Position. Ich werde weiter unten darauf zu sprechen kommen, dass er zwischen jouissance und désir nicht unterscheidet. Wie aber ist dann der Bezug vom Subjekt der Wahrheit zu seiner „Vorzeit“ in der Situation zu denken? <?page no="153"?> Das Subjekt der Wahrheit 153 dass Badiou diese Bedingung 36 in zu abstrakter Weise affirmiert, indem er einen Gedanken Jacques Lacans unvollständig übernimmt. Dies macht Badiou allerdings noch nicht zum Marcionisten. Es verlangt eher nach einer anderen Positionierung der Wirksamkeit des Gesetzes innerhalb der badiouschen Interpretation des Apostels Paulus, einer Positionierung, die seine Interpretation näher an Luther und, wichtiger vielleicht, näher an Lacan heranbringt. Die Übersetzer der Ausgabe Luther Deutsch, die von Kurt Aland herausgegeben wird, gehen in der Deutung vielleicht einen Schritt zu weit, wenn sie den dem obigen Zitat nachfolgenden Satz - Quare verisime homo semper est in priuatione - mit „Der Mensch ist in Wirklichkeit und Wahrheit unausgesetzt im Stadium des Aufgehobenseins“ 37 übersetzen. Immerhin haben sie die scholastisch-aristotelische privatio vorher auch mit „Nichtsein“ übersetzt und nicht mit „Aufgehobensein“. Aber sie liegen nicht ganz falsch, auch wenn für alle, die zu schnell einen falschen Hegel zu einem falschen Luther machen wollen, angemerkt sei, dass die dem ursprünglichen „Nichtsein“ gegenübergesetzte vollendete Subjektposition des „Erleidens“, passio, bei Luther eindeutig im Kontext der Passion Christi auftaucht. Es kann keine beruhigende Überführung in eine substanziell zu denkende „Aufhebung“ geben. Wenn das „Nichtsein“ mit Vollendung identisch wird, dann nicht durch einen terminus ad quem, eine als substanzielle Endursache verstandene Absolutheit. Die Substanzialisierung der Berufung und des deus absconditus, von dem sie ausgeht, ist innerhalb der Geschichte des Protestantismus genau jener Schritt, durch den diese radikale Kontingenz, wie sie in den eigenen Anfängen gedacht wird, vergessen wird. Denn die Vollendung, die Luther beschreibt, ist als „Bewegung in der Situation der Ordnung“ zu verstehen, und zwar unter der damit eingegangenen Voraussetzung, dass, wie Badiou schreibt, „Gott nicht der Gott des Seins ist, dass er nicht das Sein 36 Die Bedingung wird hier nicht im badiouschen Sinne der vier Wahrheitsbereiche Liebe, Wissenschaft, Politik und Kunst verstanden, sondern als die Bedingung der Möglichkeit der Transposition des „Nichtseins“ von der ausgeschlossenen zur eingeschlossenen Reihe der Bewegung. Im lacanschen Sinne wäre diese Transposition paradoxerweise äquivalent mit dem Wechsel des objet a von der Position des Objekts zur Position der Ursache. Paradox deswegen, weil auf den ersten Blick ja gerade das Objekt des Phantasmas nicht ausgeschlossen ist. Dadurch, dass das Subjekt sich mittels des Phantasmas in der artikulierten Welt des Gesetzes, in der Reihe der Signifikanten auf der Ebene des Gesetzes hält, ist es nicht ausgeschlossen. Aber es ist ja eben das Objekt des Phantasmas, weil es durch das Element der Verwerfung Konsistenz und Gewissheit produziert. Darin ist etwas ‚Gewisses’ oder ‚Unauflösliches’. Dies ist der Grund, warum es klinisch gesprochen „stuckness“ (Eric Santner) gibt, ein Verharren in einer Situation. Dieses Verharren aufzulösen, ist ein Effekt, der eintritt, wenn das Objekt des Phantasmas in die Position der Ursache kommt. Dies ist eine Beziehung zwischen dem Subjekt der Wahrheit und dem Subjekt des Gesetzes, wie sie hier thematisiert wird. 37 Luther 1991: 230, lateinisch Luther 1987: 146. <?page no="154"?> Felix Ensslin 154 ist 38 . Das „Sein“, wie wir gesehen haben, das durch die Transposition des „Nichtseins“ in die Reihung der Signifikanten - und somit in die Reihe der Phänomene, der Bestimmungen des Menschen, seiner „Vorfindlichkeiten“ - fassbar wird, ist eben nicht das Sein Gottes, an dem die Menschen dadurch teilhätten. Es ist eine privatio, Nichtsein, und wenn man das homo semper est mitliest und eine substanzialisierende Interpretation vermeidet, dann kann es auch als „Aufgehobensein“ übersetzt werden. Denn dann ist ein Missverständnis nicht mehr möglich. „Semper“ heißt nicht: bis zur Aufhebung, es heißt: in der Aufhebung. Der terminus ad quem in der Reihe, die Luther zu Beginn seines Arguments aufgemacht hat, ist passio, Erleiden. 39 Der Gott, den die „Bewegung in der Situation“ nicht erreichen kann, weil er nicht substanziell „ist“, weil er keine substanzielle Endursache, kein „Gott des Seins“ ist, muss aber dennoch in die Reihe der Signifikanten aufgenommen werden: zuerst als Gesetz, d.h. als Metapher, dann als der Gott der Passion, d.h. als der sterbende, der tote Gott - vielleicht kann man hier sagen: als Sublimation im radikalen, zwar nicht vorraussetzungslosen, aber grundlosen Sinne. Dass Gott nicht der Gott des „Seins“ ist, heißt nicht, dass er einfach nicht ist. Als „Christus“ kann er in die Signifikantenkette aufgenommen werden 40 ; als Position der „passio“, des „Erleidens“, ist die Position gleichzeitig entsubstanzialisiert, weil sie so mit der privatio oder dem non esse in Verbindung steht. Das heißt: Während er in die Kette der Signifikanten aufgenommen wird, gibt es dabei einen Überschuss, der zwar damit verbunden ist, aber im Signifikanten nicht aufgeht. So ist der Gott selbst ein schattenhaftes Doppel des Gottes des Seins oder - um es mit der scholastischen Figur zu benennen - des Gottes, wie er „an sich“ ist. Da dieses „an sich“ aber in dieser Bewegung immer ausgeschlossen bleibt - Anfang und Ende wurden von Luther ausgeschlossen, um nur als durch das Gesetz nachträglich gesetzt wieder aufzutauchen -, bleiben die Modi des Wortes Schatten des einen Wortes, so wie der sterbende Gott ein Schatten des einen Gottes ist. Aber, und dies ist entscheidend, weil es über die Mystik und andere obskurantistische Weisen, diesen Gedanken 38 Badiou 2002: 90. Die Scholastik hatte Unterscheidungen wie die zwischen der potentia dei absoluta und der potentia dei ordinata eingeführt, den „Gott des Seins“, um damit in der Lage zu sein, einen kosmologisch-aristotelischen Gott, der eine Metaphysik der Präsenz gründet, mit einem „Gott des Willens“ zusammenzudenken, der eine Metapysik der Subjektivität begründet. In der Lücke dieses Widerspruchs artikuliert die anfängliche Reformation ihr Denken. Wenn Badiou sich auf Paulus bezieht, bezieht er sich auch auf diese in seiner Rezeption entscheidende Dialektik, auch wenn er sie nicht eigens anführt. 39 Luther 1987: 146: „Nam Sicut in Naturalibus rebus quinque sont gradus: non esse, fieri, Esse, Actio, passio, i(d) e(st) priuatio, Materia, forma, operatio, passio, secundum Aristoteles.“ 40 Luther fasst dies in der Erläuterung zur ersten philosophischen These der Heidelberger Disputation sehr genau und wörtlich: „Christus autem est in deo absconditus...“ Der Name über allen Namen taucht also an einem Platz auf: am Ort des Anderen. Vgl. Luther 2006: 63. <?page no="155"?> Das Subjekt der Wahrheit 155 zu adoptieren, hinausführt: Gerade darin scheint auch die Möglichkeit auf, diesen „einen“ Gott, dieses „eine Wort“ insofern sein zu lassen, als es konstitutiv ausgeschlossen bleibt. Die Gefahr dabei ist, dass gerade dieser Ausschluss ihn, Gott an sich, oder es, das Wort an sich, zum Objekt eines Phantasmas macht. Ein Phantasma interpretiert immer eine Abwesenheit, aber im Modus einer - möglichen oder tatsächlichen - Anwesenheit. Diese Gefahr will Luther vermeiden. In Luthers Diskussion wird die Stelle des „Nichtseins“ (non esse oder privatio) 41 verdoppelt: als Ort des „Seins“, den man jetzt als Ort des Anderen fassen kann - durch die Bewegung in der Situation, die das „Ziel“, der terminus ad quem ist - und als Gott, der diese Stelle ermöglicht, d.h. als erste Kette im Glied und als terminus a quo. Er ermöglicht sie durch sein Nichtsein, das aber erfahren werden muss als Negativität, als seinen Tod, der die Stelle eröffnet, in der die „Bewegung in der Situation“ statthaben kann. Man kann auch sagen, dass er an der Stelle der Notwendigkeit, gerade durch die Abhängigkeit vom Wort, die Stelle der Kontingenz eröffnet. Aber dieser Vorgang ist in ständiger Wiederholung, er hat nicht einfach ein für alle Mal statt. Dies ist die Bedingung, die Luther erlaubt, die zuerst ausgeschlossene Position des Nichtseins in die Kette derjenigen Glieder aufzunehmen, als privatio, die „Werden und Vergehen“ und damit die Phänomene in der Zeit bestimmt. Dies erklärt Luthers anfänglich überraschenden Rückgriff auf De generatione et corruptione (eine Schrift der Naturphilosophie), um ein eminent religiös-metaphysisches Argument zu stützen. 42 Durch diese Anwendung naturphilosophischer Überlegungen auf seine metaphysisch-theologischen Fragestellungen kann Luther zum Schluss kommen: Semper homo est in Non Esse, in fieri, in esse, Semper in priuatione, in potentia, in acut, Semper in peccato, in justificatione, in iustitia, i(d) e(st) Semper peccator, semper penitens, semper Iustus. 43 41 Nicht weil er sie in den zwei Reihungen: „non esse, fieri, Esse, Actio, passio“ und „privatio, Materia, forma, operatio passio“ zweimal in unterschiedlichen Terminologien aufführen würde. Sondern weil er, wie beschrieben, die mittleren Termini „esse“ und „forma“ durch „privatio“ bzw. „non-esse“ ersetzt. 42 Zu dieser Fragestellung vgl. die exzellente Arbeit von Dieter 2001, insbesondere das Kapitel 4 „Der aristotelische Bewegungsbegriff in der Theologie Luthers“. Dieter zeichnet detailreich die theologische Verwendung naturphilosophischer Argumente nach. Er macht allerdings dabei nicht den Schritt, diesen „Materialismus“ im Denken Luthers konsequent mit einer Theorie des Signifikanten zu verbinden und so die Aktualität dieser Problematik herauszustellen, auch wenn er dem Anstoß Gerhard Ebelings folgt, nach der Beziehung „zwischen der aristotelischen Philosophie der Bewegung und Luthers Theologie des Wortes“ zu fragen. Zitiert bei Dieter 2001: 276. 43 Luther 1987: 146/ 7. Luther 1991: 230: „Stets ist der Mensch (zugleich) im Stadium des Nichtseins, des Werdens und des Seins, (bzw.) stets (zugleich) im Stadium des Aufgehobenseins, des Seins als bloßer Möglichkeit und des tätigen Seins, (bzw.) stets <?page no="156"?> Felix Ensslin 156 Dies kann nur aufgrund der drei beschriebenen Bedingungen sinnvoll sein: 1) aufgrund der Entsubstanzialisierung der Bestimmungen auf der Ebene des Gesetzes (der Gerechtigkeit), wie sie dem Menschen als eigene oder anzueignende erscheinen; 2) dadurch, dass diese Entsubstanzialisierung durch die nachträgliche Einfügung der „Sünde“ in die Reihung der Signifikanten des Gesetzes stattfindet; und 3.) dadurch, dass diese Einfügung die Öffnung, die durch die Nachträglichkeit geschaffen wurde, im Signifikanten auflöst. Zusammen ergeben diese Bedingungen im Kontext der hier untersuchten Frage die folgende Beobachtung: Das Subjekt der Wahrheit, als Subjekt dieser Bewegung, kann nicht ohne Bezug zu dem Subjekt des Gesetzes, auf dessen Ebene die Artikulation der Signifikanten stattfindet, gedacht werden. Es muss eine Form des Gedächtnisses geben, die diese Beziehung denkt und ist. Auch Theodor Dieter erkennt, dass es eine Weise geben muss, die „Einheit“ dieser Bewegung zu denken; allerdings ist dabei die Falle zu vermeiden, diese Einheit wieder in imaginärer Weise zu denken. Der Grund dafür, dass sich bei Luther an zahllosen Stellen das ‚semper’ in Verbindung mit einem Ausdruck des Tuns oder Leidens findet, liegt darin, dass er die Dauer des Seins in der Gnade nicht mehr durch eine Form oder qualitas oder habitus denken kann. Wir haben bereits gesehen [...], dass sich der Konflikt von Gerecht- und Sündersein bei Luther dynamisiert zur Bewegung von Gerechtigkeit zu Gerechtigkeit, die zugleich als Bewegung von Sünde zu Gerechtigkeit zu verstehen ist. Wenn nun die Dauer des Seins in der Gnade gedacht werden muss, dann ist dies nur so möglich, dass diese Dauer als Einheit der eben erwähnten Bewegung verstanden wird. 44 Übersetzt in die Fragestellung dieser Überlegungen heißt das: Eine adäquate Konzeption des Subjekts der Wahrheit muss auch das Subjekt des Gesetzes mit diesem Denken und seinen Bezug in der beiden eigenen Bewegung umfassen. Das heißt allerdings nicht, dass sie einfach äquivalent wären, nur dass sie nicht beziehungslos zu denken sind. Die Doppelung Gottes erscheint ausschließlich als eine Doppelung der Modi der „Topologie des Wortes“. Das Wesen Gottes taucht nur in der Bestimmung der Existenz des Gläubigen auf, in ihrem Zugang zum Wort. Es ist diese Verbindung, die durch ihre Bestimmung der Existenz (der Phänomene) durch das Wort das existenziell-ontologische Erbe des Apostels Paulus darstellt. Gleichzeitig öffnet sie eine Möglichkeit, die andere Traditionslinie, nämlich die politische Theologie, mit aufzugreifen. Denn die Einheit dieser Bewegung ist nur zu gewährleisten durch die Einheit eines bestimmten ‚Gedächtnisses’. Es ist ein Gedächtnis an der Stelle des Transzendenten, jenes Transzendenten, das in der Tradition der politischen Theologie artikuliert wird. Aber es ist sein Ort, nicht sein Inhalt. Denn es ist, wie gesehen, ein (zugleich) im Stadium der Sünde, der Rechtfertigung und der Gerechtigkeit, d.h. immer Sünder, immer Büßer, immer gerecht.“ 44 Dieter 2001: 315. <?page no="157"?> Das Subjekt der Wahrheit 157 entsubstanzialisiertes Transzendentes, bzw. es ist eben bloß die ‚Stelle’ dieses Transzendenten, der Ort des Anderen, in der die Transposition von Nicht-Sein in Werden stattfindet. In seiner Paulusinterpretation macht Badiou diesen Schritt der Doppelung nicht. Er tut dies weder in der Weise einer marcionistischen geschichtsphilosophischen These, nämlich durch die Behauptung, dass eine neue Wahrheit einer alten gegenüberstehen würde - dagegen steht sein Nominalismus -, noch durch eine existenziell-ontologische Verdoppelung des Wortes in zwei Modi, nämlich Gesetz und Wahrheit 45 , und in zwei Effekte, nämlich das Subjekt des Gesetzes und das Subjekt der Wahrheit. Die Fragestellung hier ist keine philologische. Ich möchte Luther und Badiou nicht gegen den „authentischen“ Paulus abwägen. Es ist die Prämisse dieser Untersuchung, dass Badious Rückgriff auf Paulus nicht beliebig ist, sondern vom Denken der Militanz, wie er sie versteht, erzwungen wird. Doch dann stellt sich die Frage, ob es nicht (nicht-religiöse) Reste der paulinischen Denkweise gibt, die Badiou nicht denkt, und die in der Konzeption des Protestantismus gedacht wurden - auch wenn sie dort selbst wieder vergessen oder verdrängt worden sind. Dieser Rest bezieht sich auf das Verhältnis von Gedächtnis zur Wahrheit und, daraus folgend, auf das Verhältnis des Subjekts der Wahrheit zu seinem paulinischen Doppel, dem Subjekt des Gesetzes. Vielleicht ist Luthers Interpretation trotz der ganz anderen Geschichte, die sie bewirkt oder mitbewirkt hat, eine Hilfe dabei, ein Modell zu beschreiben: das Modell einer „universalisierbaren Singularität“ 46 , die durch und in der Ordnung, der „generischen Situation“, auftauchen kann - eben weil Luther dem Subjekt der Wahrheit sein Double, das Subjekt des Gesetzes, nicht verweigert. 5 Badious antidialektischer Paulus Für Badiou ist die nicht-dialektische, ja anti-dialektische Konzeption des Ereignisses zentral. Und die Antidialektik beweist sich gerade durch die 45 Aus dem bis hierher Dargestellten wird deutlich, dass die Verdoppelung in gewissem Sinne immer eine Verdreifachung bedeutet. Damit Gesetz und Evangelium getrennt sein können, muss zwischen ihnen eine Lücke auftauchen, die aber nicht bloß formaler oder logischer Natur sein darf. Es muss eine Art „Subjektil“ geben, so wie in der Malerei die Farbe bzw. die Pigmente von einem „Subjektil“ getragen werden. Dieses kann nicht auf der Ebene der Reihung der Signifikanten vollständig präsent sein: Dann wäre es ganz der Logik des Gesetzes zugeschrieben. Und es kann nicht vollständig der Logik der Gnade oder der Wahrheit zugeschrieben werden: Dann gäbe es wieder das Problem der Verbindung oder der Einheit. Als Lücke zwischen Gesetz und Wahrheit, aber auch als „Subjektil“, das diese Differenz trägt, taucht es wiederum zweimal auf. Auch hier hilft ein Verweis auf Jacques Lacan: Als Lücke taucht es auf, in der Weise eines dort zu platzierendes Objekts. Als Subjektil taucht es auf als Ursache, die dieses Objekt niemals ganz den Platz einnehmen lassen wird. 46 Badiou 2002: 23. <?page no="158"?> Felix Ensslin 158 Verneinung der Beziehung des Subjekts der Wahrheit zu seinem Doppel. Daher beharrt er so vehement auf der Aussage: „Ich behaupte, dass die Ursache für die falsche Fülle, in der ein Subjekt sich ängstigt, nicht die Wahrheit ist“. 47 Übersetzt in das Vokabular der Diskussion Luthers heißt das: Es gibt keine Verbindung zwischen der „Sünde“, die durch das Gesetz erst gewesen sein wird, und dem Subjekt der Wahrheit, ob es nun zu diesem werden wird, indem es das Ereignis benennt oder indem es dem Namen des Ereignisses die Treue hält und sich so in eine Folge der Subjektivierung begibt. Es gibt keine Faktizität des „Nichtseins“, das trotzdem nicht nichts ist, das kein Signifikant ist oder in keinem ganz aufgeht, das aber trotzdem nicht nur formal-mathematisch eine Leerstelle ist, sondern der Effekt eines Modus des Wortes ist, das eben als diese „Privation“ oder dieses „Nicht-Sein“ auf der Ebene der Signifikanten eine Unterbrechung bewirkt und damit ja gerade der Ort sein könnte, ja müsste, an dem ein Umschlag, eine Subversion oder Wendung eintreten könnte. Die Stätte des Ereignisses ist formal-mathematisch bestimmt. Paradoxerweise treibt Badiou in seiner Lektüre des Paulus mit dem Tod und seiner Negativität auch das Gesetz aus: Denn es ist das Gesetz, der Buchstabe, der tötet - und dadurch die Transposition des „Nichtseins“ vom bloßen Negativ des Seins zu einem Nichtsein ermöglicht, das in der Artikulation der Signifikanten, des Gesetzes und der Wahrheit selbst wirksam ist. Diese Bewegung öffnet hin zu etwas, das in der Bewegung von Werden und Vergehen nicht wird und nicht vergeht und trotzdem immer abhängig bleibt von einem Modus der Namen 48 bzw. des Wortes. Wenn es aber stimmt, dass Badiou in der Hinsicht Nominalist ist, dass die Wahrheit nicht historisch ist, sondern sich nur historisch ereignet, dann kann er ebenso wenig wie Luther das Gesetz außen vor halten. Denn dieses ist dann entweder immer nur eine kontingente „Nicht-Wahrheit“ („eine inkohärente Reihe von enzyklopädischen Determinanten“) und dann ist es kein Gesetz - oder es ist selbst in irgendeiner Weise mit der Wahrheit verbunden. Das muss nicht heißen, dass das Reale rational, die Realität wahr wäre, sondern dass es einen Einsatz gibt, der umgesetzt bzw. transponiert werden kann. Bei der Transposition des „Nicht-Seins“ aus dem ausgeschlossenen Ursprung (oder Ende) in die Zirkulation der Positionen im Werden selbst geht es genau darum. Die Transposition findet auf der Ebene des Gesetzes statt, welches die Ebene der Signifikanten ist. Und sie wird dabei gestützt durch das Phantasma, das für die Konsistenz der Realität und des Subjekts in der Realität sorgt. Der dritte Schritt, den Luther bei Paulus beschreibt, zeigt dann, dass das „Nicht-Sein“ und das Phantasma identisch sind. Dies kann geschehen, weil eine Art Umsetzung stattfindet. 49 Das er- 47 Badiou 2005: 483. 48 „Wir halten fest, dass es die Namen sind, die die Dinge erzeugen“, so Alain Badiou in der Kurzfassung seiner Definition dessen, was er die „generische Erweiterung einer fast vollständigen Situation“ nennt. Badiou 2005: 542. 49 Wenn Badiou sagt, dass jeder geschichtlichen Situation „mindestens eine Ereignisstätte“ zugehört, meint er dann nicht etwas ganz Ähnliches? <?page no="159"?> Das Subjekt der Wahrheit 159 kennt auch Badiou, darum spricht er von der „Zäsur des Gesetzes.“ Aber er will diese Zäsur denken, ohne den beiden Seiten des Bruchs eine Kontinuität zuzusprechen: Ich behaupte jedoch, dass die paulinische Position antidialektisch und der Tod darin in keiner Weise das notwendige Exerzitium der immanenten Macht des Negativen ist. Die Gnade ist dann kein ‚Moment‘ des Absoluten mehr. Sie ist Bejahung ohne vorherige Negation, ist das, was in der Zäsur des Gesetzes auf uns zukommt, ist reine und einfache Begegnung. 50 Geht das? Wenn das Gesetz ein Modus des einen Wortes ist, das für uns vielleicht komplex, aber trotzdem per se immutabilis ist - und dies ist auch Badious Position vis-à-vis der Namen der Wahrheit -, kann dann von seiner Wirkung - der Buchstabe tötet - so weit abstrahiert werden, dass es als „Schnitt“, Zäsur, ohne Negativität verstanden werden kann? Badiou selbst schreibt: Die paulinische Grundthese ist die, dass das Gesetz und nur das Gesetz das Begehren mit einer Autonomie ausstattet, die hinreicht, das Subjekt dieses Begehrens im Hinblick auf diese Autonomie den Platz des Toten einnehmen zu lassen. Das Gesetz ist es, welches dem Begehren Leben verleiht. Dadurch aber versetzt es das Subjekt in die Lage, nur noch den Weg des Todes einschlagen zu können. 51 Den Platz des Toten einzunehmen, ist das Phantasma der Zwangsneurose. Badiou will darauf hinaus, dass dieser Platz des Toten keine Negativität bezeichnet, sondern die Positivität des Triebes (seiner „Autonomie des Begehrens“) im Register eines dem Gesetz unterworfenen Genießens. 52 Allerdings verwendet er den Begriff des Todes in doppeltem Sinn, ohne diese Doppelung zu markieren oder zu realisieren. Den Platz des Toten einzunehmen, ist zuerst einmal ein neurotisches Begehren. Dagegen ist der „Weg des Todes“, den das Subjekt „einschlagen“ kann, auch die Annahme der Kastration, und damit eine gewisse Befreiung vom Automatismus des Phantasmas. Aber 50 Badiou 2002: 124. 51 Ebd.: 148. 52 Badiou verwendet den Begriff der jouissance in diesem Kontext nicht. So weit er hier ein neurotisches Genießen beschreibt - das Genießen des Zwangsneurotikers, der auf sich selbst und andere auf der Bühne der Welt von der phantasmatischen Position des Anderen (Gottes) aus sieht, ist der Begriff des „Begehrens“, den er hier verwendet, irreführend. Das Ganze im Blick zu haben, dies ist das Phantasma, schließt das Begehren aus. Denn das ist niemals „Eins“. Das Begehren, zumindest, auch wenn es nie rein ist, ist eben keines, das nur im Automatismus der Neurose gefangen sein kann. <?page no="160"?> Felix Ensslin 160 genau diese Doppelung des „Todes“ kann Badiou nicht fassen, obwohl er beide Aspekte anführt. Denn dann wäre die Negativität ein notwendiger Teil der Dialektik, die das Subjekt der Wahrheit konstituiert. Die Weigerung Badious, diese Doppelung begrifflich zu artikulieren, führt folgerichtig auch dazu, dass er nicht denken kann, dass von dieser Negativität noch etwas bleibt, auch wenn es nicht vollständig in die Reihung des Gesetzes aufgenommen wird, obwohl es dort „existiert“ und benannt werden kann. Dieses Etwas hat bei Jacques Lacan einen Namen: objet a. Dieser Rest der Negativität oder die Negativität als Rest hat einen festen begrifflichen Ort in Lacans Psychoanalyse, zumindest seit der Einführung des objet a im Seminar XI. 53 Badiou scheint von Lacan die Erkenntnis zu übernehmen, dass die Sünde nicht das Begehren als solches ist, denn dann wäre nicht klar, dass sie ans Gesetz und an den Tod gebunden ist. Die Sünde ist das Leben des Begehrens als Autonomie, als Automatismus. 54 Diese Sichtweise des Begehrens ist von Lacan übernommen, aber falsch oder unvollständig übernommen. Weit davon entfernt, dem Begehren, das durch das Gesetz in seiner Automatik strukturiert wird, ein „Begehren als solches“ entgegenzusetzen 55 , ist für Lacan der Gegenbegriff des automaton vielmehr die tyche. Beide sind Aspekte bzw. Effekte des Signifikanten im Modus des Gesetzes: das eine Mal als Restitution, das andere Mal als (reine) Repetition, Wiederholung. Tyche kann man hier übersetzen mit „das durch den Signifikanten verursachte Schicksal des Subjekts“. Und automaton mit „dem Lustprinzip erlegen“. Das automaton richtet sich am objet a als Objekt auf, aber „beschützt“, d.h. domestiziert es auch. Tyche produziert und reproduziert das objet a als Ursache und wird von ihm und durch es wiederholt. Man kann sagen, dass es zwei Weisen des Wissens sind: das Wissen des Gesetzes und das Wissen durch das Gesetz. Sie sind durch einen Abgrund getrennt, so wie Todestrieb und Eros durch einen Abgrund getrennt sind. Dies ist auch dann richtig, wenn man bedenkt, dass gerade als objet a die „Nichtigkeit“ nicht nichts ist, sondern als Objekt immer „etwas vom Eins“ am Rande der Symbolisierbarkeit enthält. So ist das objet a hier in zwei Registern anzu- 53 Lacan 1987. 54 Badiou 2002: 148. Indirekt führt Badiou hier doch die Unterscheidung von Genießen und Begehren an, aber er macht sie nicht begrifflich fruchtbar. Im Kontext der weiter oben angeführten Überlegungen kann man noch anführen, dass es eben diese Differenz von Begehren und Genießen ist, die im Objekt des Begehrens das Element der Gewissheit einführt. Und das es diese Gewissheit ist, die in der Angst auftaucht, die Badiou anführt, wenn er vom „Subjekt, das sich ängstigt“ spricht. 55 Zumindest gilt dies, seit Lacan in Seminar XI seine Position aus der „Ethik der Psychoanalyse“ revidierte, indem er sagte, dass das Begehren des Analytikers kein „reines Begehren“ sei. <?page no="161"?> Das Subjekt der Wahrheit 161 treffen: real als Ursache, imaginär-symbolisch als Objekt. Badiou scheint mit seiner Formulierung diese Ambivalenz anzudeuten, die auszuformulieren ihn zu einer anderen Bewertung der Negativität im Denken des Apostel Paulus geführt hätte: „Das Gesetz ist erforderlich, um das automatische Leben des Begehrens zu befreien.“ 56 Die Doppelung ist hier von Badiou benannt, aber nicht theoretisch gefasst. Es sind zwei Aspekte eines Modus des Wortes, des Gesetzes, die hier auftauchen. Zum einen bindet es „an den Platz des Toten“. Zum anderen befreit es das Begehren vom „automatischen Leben“ und wird so zum Leben „im Wort“ oder zum Subjekt der Wahrheit. Durch den zweiten Aspekt des Modus des Gesetzes geschieht aber - potenziell - auch das, was ich oben in der Diskussion von Luther als Transposition beschrieben habe. Das „Nicht- Sein“ (non-esse; privatio) des Ursprungs, der ausgeschlossen ist, kommt in die Reihe der zirkulierenden Positionen, und zwar als „Nichtsein“ in den Signifikanten selbst. Erinnern wir uns an die einleitende Diskussion zu Luthers Beschreibung, was im Römerbrief zu verhandeln sei: die Sünde, die nicht da war - quod non erat - , die aber doch da gewesen sein wird im Modus des stare esse, eines Verweilens. Dies geschieht im Durchgang durch das Gesetz oder als Effekt des Gesetzes, weil dieses die „Sünde“ in die Reihe der Signifikanten, des Sagbaren mit überführt und gleichzeitig zwischen Gesetz und Wahrheit eine Lücke aufreißt. Dies habe ich die Transposition genannt. Badiou fährt fort: „Denn einzig das Gesetz fixiert den Gegenstand des Begehrens und bindet an ihn, ganz unabhängig vom ‚Willen‘ des Subjekts.“ 57 Was Badiou hier nicht durchdekliniert, obwohl er schreibt, es sei unverkennbar, dass hier das Problem des Unbewussten ins Spiel komme, ist, dass Tyche, Stachel und Anstoß zur Wiederholung, und Automaton, Abfuhr durch das fixierte Objekt, nicht dasselbe sind und doch dasselbe sind: objet a. Sehen wir, wie Jacques Lacan selbst davon spricht: Tyche. Ich habe Ihnen das letzte Mal gesagt, dass ich das Wort dem Vokabular von Aristoteles entnommen habe, als ich nach seiner Erforschung der Ursache fragte. Wir übersetzten: La recontre du reel/ die Begegnung mit dem Realen. Das Reale ist jenseits des automaton, der Wiederkehr, des Wiedererscheinens, des Insistierens der Zeichen, auf die wir durch das Lustprinzip verpflichtet sind. Das Reale liegt stets hinter dem automaton. Ihm gilt Freuds Sorge, seine ganze Forschung hindurch. 58 56 Badiou 2002: 148f. 57 Ebd.: 149. Es ist unverkennbar, dass Badiou zwischen „Gegenstand des Begehrens“, also objet a als Objekt des Begehrens, und Trieb, also objet a als Ursache, hin und herchangiert. Vgl. zur Frage der Identität dieser beiden Aspekte des objet a in der Modalität der Unmöglichkeit Ensslin 2007. 58 Lacan 1987: 60. <?page no="162"?> Felix Ensslin 162 Für unsere Betrachtungen gilt festzuhalten, dass Automation und Tyche nicht nur unhintergehbar zusammenzudenken sind, sondern auch, dass kein Übergang von einem Aspekt des objet a zum anderen denkbar ist, ohne die Auflösung, den Bruch zu denken, als Tod des Subjekts des Gesetzes, und zwar präzise als Tod dieses Subjekts als Automaton. Es ist der Tod desjenigen Subjekts, das die Situation selbst als „Eins“ zählt, was in anderen Worten bedeutet, das objet a als Ursache in einem Objekt des Begehrens, das die Präsenz des Subjekts in der Reihe der Signifikanten stützt, verschwinden zu lassen. Badiou kennt diese Überlegung auch und wendet sich daher ausdrücklich gegen diese Betrachtungsweise, um so seine Position zur Negativität aufrechtzuerhalten: Lacan fragt: ‚Ja oder Nein, hat, was Sie (die Psychoanalytiker) tun, den Sinn, zu bestätigen, dass die Wahrheit des neurotischen Leidens darin besteht, die Wahrheit zur Ursache zu haben? ’ [Lacan, Die Wissenschaft und die Wahrheit, S. 243)]. Ich behaupte, dass die Ursache für die falsche Fülle, in der ein Subjekt sich ängstigt, nicht die Wahrheit ist meine Hervorhebung, F.E. . Eine Wahrheit ist jene ununterscheidbare Vielheit, deren endliche Annäherung von einem Subjekt getragen wird, so dass ihre kommende [sic! ] Idealität - das namenlose Korrelat der Tatsache, dass ein Ereignis benannt worden ist - dasjenige ist, von dem ausgehend man rechtmäßig als Subjekt jene zufällige Gestalt bezeichnen kann, die ohne das Ununterscheidbare nur eine inkohärente Reihe von enzyklopädischen Determinanten wäre. 59 Was weiter oben die Reihung der Signifikanten genannt wurde, ist hier als „inkohärente Reihe von enzyklopädischen Determinanten“ angeführt. Aber Badiou kann und will nicht denken, dass in dieser Reihe etwas identisch wäre - und sei es auch verdeckt, und zwar mit dem, was auch die Wahrheit „trägt“. Um die Dimension der Tyche, der Begegnung mit dem Realen, als solche zu greifen und damit als das, was immer schon „hinter dem Automaton“ liegt, müsste Badiou seine Polemik gegen das Gedächtnis differenzieren. Es ist klar, worum es ihm bei seiner Polemik geht. Er will nicht, dass nur der Name des Opfers als Wahrheit zirkuliert, dass nur die imaginäre Bindung an die Situation, die selbst „als Eins gezählt“ wird, mit der Wahrheit verwechselt wird. Aber indem er Gedächtnis und imaginäre Erinnerung nicht unterscheidet 60 , muss er die Ursache, die zum Bruch mit der Situation 59 Badiou 2005: 483. 60 Dass er dies nicht tut, kann man auch in der Ethik lesen. Dort führt er den Gedanken des ethischen Imperativs des „Weitermachens“ aus und grenzt ihn von der „journalistischen Ethik des Erinnerns“ ab. Immer das Unsterbliche in der „Anordnung meines Vielfach-Seins“ zu „denken“ und zu „praktizieren“, dies ist ihm Inhalt der Maxime. <?page no="163"?> Das Subjekt der Wahrheit 163 führt, mit ausstreichen: „Ein Apostel ist weder ein Zeuge von Tatsachen noch ein Gedächtnis“. 61 Die Stoßrichtung dieser Kritik ist aus der Perspektive, die hier mit Luthers Paulusinterpretation und der Berufung auf Lacan dargestellt wurde, vollkommen nachvollziehbar. In der anfänglichen Auslegung Luthers haben wir gesehen, dass es nach der Zerstörung der selbstgefälligen sapientia propria eine zweite vera destructio, eine wahrhafte Destruktion oder Destitution, geben muss. Und mit Lacan kann - und muss - man zwei Dinge unterscheiden: imaginäre Erinnerung und symbolisches Gedächtnis. Diese Unterscheidung erlaubt zu erkennen, dass der auf Objekte fixierte Automatismus nicht der einzige Effekt ist, der durch das Gesetz ermöglicht und vorbereitet wird: Die Gesetze des Unbewussten bestimmen die analysierbaren Symptome jedoch nicht wegen eines Geheimnisses, nämlich jenes von der Unzerstörbarkeit bestimmter kindlicher Wünsche... Die imaginäre Modellierung des Subjekts durch seine mehr oder weniger fixierten oder in ihrer Objektbeziehung regressiven Wünsche ist unzureichend und partiell und kann nicht als Schlüssel dienen. 62 Mit dieser Beobachtung führt Lacan die Überlegungen zur Unterscheidung von symbolischem Gedächtnis und imaginärer Erinnerung ein. Er sagt, dass dabei jenseits der Fixierung noch ihre Ursache (oder der Aspekt des objet a als Ursache) zu denken bleibt: Das wiederholte Insistieren dieser Wünsche in der Übertragung und ihr permanentes Erinnertwerden in einem Signifikanten, dessen sich die Verdrängung bemächtigt hat, das heißt, wo das Verdrängte wiederkehrt, sind zwangsläufig begründet, wenn man annimmt, dass das Begehren nach Anerkennung in diesen Formen das anzuerkennende Begehren dominiert, indem es dieses nicht aufgibt, bis es anerkannt wird. 63 In der Terminologie Badious könnte man das „Begehren nach Anerkennung“ auch die Logik der „identitären Singularität“ 64 nennen. Dagegen liegt die universelle Singularität 65 in dem anzuerkennenden Begehren, also der Nur kann er in seinen Begriffen nicht nachvollziehen, dass genau dies der Einsatz dessen ist, was „symbolische Erinnerung“ ist. Badiou 2003: 74. 61 Badiou 2002: 84. 62 Lacan 2005: 64. 63 Ebd. 64 Badiou 2002: 23. 65 Die „universelle Singularität“ ist bei Badiou der Gegenbegriff zu „identitärer Singularität“. Diese zwei Begriffe sind der Sache nach eng mit der Unterscheidung von „imaginärer Erinnerung“ und „symbolischem Gedächtnis“ verbunden. <?page no="164"?> Felix Ensslin 164 „Frage des Subjekts“, wie Lacan in Seminar II sagt. Als solche - und als unmögliche 66 - ist sie nicht nur universell in und für eine Singularität, sondern für und in Singularitäten universalisierbar. Darin liegt der Bruch mit der „identitären Singularität“ des Begehrens nach Anerkennung. Und dieser Bruch ist die Negation dieses Begehrens. Badious Unterscheidung von „identitärer Singularität“ und „universalisierbarer Singularität“ muss vor diesem Hintergrund neu - und in gewissem Sinne gegen Badiou selbst - gelesen werden: Auf der anderen Seite aber kann sich auch kein Wahrheitsprozess in Identitäten verankern. Denn wenn es stimmt, dass jede Wahrheit als singuläre auftritt, ist ihre Singularität unmittelbar universalisierbar. Die universalisierbare Singularität aber vollzieht mit der identitären Singularität notwendig einen Bruch. 67 Badiou ist zuzustimmen, wenn er sich gegen Identität als Wahrheitsanker ausspricht, aber nicht, wenn er dabei die Frage nach der Identität bzw. die Erfahrung ihres Mangels, also die Fragwürdigkeit schlechthin, mit ausschließt. Man kann den Weg einer Psychoanalyse als einen Weg bezeichnen, der vom Primat der Antwort zum Primat der Frage führt. Ohne dass damit einer Metaphysik des „ewigen Gesprächs“ die Tür geöffnet wäre, ist dies auch der Weg, durch den sich das Subjekt der Wahrheit begreifen lässt. Literaturverzeichnis Agamben, Giorgio, Potentialities, Stanford 1999. Agamben, Giorgio, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. von Hubert Thüring, Frankfurt am Main 2002. Agamben, Giorgio, Die Zeit die bleibt. 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Badious Grenzgänge zwischen Philosophie und Mathematik Philosophie und Mathematik haben nach Auskunft der Historiker von ihren griechischen Anfängen bis in die Moderne in einem engen Verhältnis gestanden. Vermutlich wäre diese Aussage dahingehend zu präzisieren, dass eine solche Formulierung unserer heutigen Perspektive geschuldet ist, weil Mathematik und Philosophie lange Zeit kaum zu trennen waren und von einem Verhältnis deshalb allein in einem ungenauen Sinne die Rede sein kann. Erst als sich die beiden Disziplinen voneinander zu differenzieren begannen, wurde ein Verhältnis im engeren Sinne möglich, das aber zugleich umso fragiler sein musste, je mehr sie sich unterschieden. Die mathematische Erkenntnis hat der Philosophie in der Geschichte dabei oft als eine ideale Erkenntnis gegolten, der mitunter nur durch spekulative Formen transzendenter Erkenntnis Konkurrenz erwuchs, für die sie aber selbst wiederum häufig die Vorlage abgab. Bis in das 20. Jahrhundert hat sich ein solches Bild der mathematischen Erkenntnis gehalten, obwohl sie wie andere Disziplinen seit dem 19. Jahrhundert und der Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien oder der sogenannten monströsen Funktionen ihre ‚Krisen‘ zu überstehen hatte. Schließlich erwies sich das optimistische Programm des Mathematikers David Hilbert von 1900 hinsichtlich der axiomatischen Grundlegung als unhaltbar: Nachdem die Russellsche Antinomie 1903 bereits Fragen nach der Sprache und den Objekten von Logik und Mengenlehre aufwarf, zeigten die Arbeiten Kurt Gödels aus den 1930er Jahren, dass die ersten beiden von Hilberts 23 Problemen nicht im erhofften Sinne zu lösen waren. 1 Gödel gelang es nämlich, zwei einschneidende Aussagen zu beweisen: 1. Die Axiomatisierung der Mathematik durch Zermelo und Fraenkel, die bis heute die wesentliche Grundlage des mathematischen Arbeitens darstellt, kann prinzipiell nicht ihre eigene Widerspruchsfreiheit beweisen. 2. Diese Axiomatisierung ist nicht vollständig, d.h. es gibt Aussagen, die ebenso wenig formal zu beweisen wie zu widerlegen sind. Die Mathematik hat aus diesen Befunden Konsequenzen gezogen und in der Folge neue Arbeitsfelder erschlossen, die gerade jenseits der tradierten Idea- 1 Die historische Sachlage von Hilberts berühmter Rede ist natürlich komplizierter, was insbesondere die Anzahl und den unterschiedlichen Charakter der ‚Probleme‘ betrifft, vgl. z.B. Grattan-Guinnes 2000. Für eine ebenso knappe wie präzise und auf Gödel fokussierende Darstellung der Entwicklung der Mengentheorie vgl. Floyd und Kanamori 2006. <?page no="170"?> Arno Schubbach 170 lisierung des mathematischen Wissens von philosophischem Interesse wären. Dennoch hat die Philosophie ihr Bild von der Mathematik kaum revidiert, sodass aus den mathematischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts nur selten philosophisches Kapital geschlagen wurde. 2 Dies liegt unter anderem wohl darin begründet, dass schon der Nachvollzug mathematischer Erkenntnisse äußerst voraussetzungsvoll ist, sodass jedem Grenzgang enorme Hindernisse im Weg stehen. Zudem ist aber auch unklar, worin der philosophische Ertrag von hoch spezialisierten mathematischen Erkenntnissen jenseits der Philosophie der Mathematik überhaupt bestehen könnte. Vor diesem Hintergrund stellt das Werk Alain Badious eine der bemerkenswerten Ausnahmen dar. Denn Badiou setzt sich mit den angedeuteten Entwicklungen der Mathematik und ihren Konsequenzen auseinander. 3 Er entwickelt seine Gedanken ebenso durch die philosophische Deutung mathematischer Erkenntnisse und Methoden des 20. Jahrhunderts wie in mitunter eigenwilligen Lektüren der Klassiker der abendländischen Philosophie. Auf diese Weise bringt er philosophisches Denken und mathematische Theorien in einen ungewöhnlichen wechselseitigen Zusammenhang: Ein jedem Mathematiker eher banal erscheinendes Axiom wie die Existenz der leeren Menge stellt Badiou in eine philosophische Tradition von den platonischen Paradoxien des Einen und Vielen bis hin zu Martin Heideggers Denken des Seins; die philosophische Frage nach dem Verhältnis der sozialen Wirklichkeit zur politischen Repräsentation sieht er durch mathematische Untersuchungen zum Verhältnis einer Menge zu ihrer Potenzmenge behandelt. Für solch gewagte Grenzgänge bedarf es zum einen einer anspruchsvollen philosophischen Deutung der mathematischen Erkenntnis, die sich kaum von selbst verstehen wird. Zum anderen erfordern sie eine intensive Kenntnis der Mathematik, weshalb Badious Philosophie mitunter schwierig nachzuvollziehen ist und ihre Leser vor erhebliche Probleme stellt. Die Sekundärliteratur widmet sich wohl auch deshalb weniger der Rolle der Mathematik in Badious Philosophie als seiner politischen Theorie, die sich nach der Darstellung Badious allerdings wesentlich auf die Mathematik stützt. 4 Badious Philosophie zeichnet sich dadurch aus, dass er immer wieder autoritativ auf mathematische Erkenntnisse verweist und sich zugleich die 2 Obwohl es durchaus naheliegt, wurden Gödels Arbeiten bspw. im Poststrukturalismus meines Wissens selten aufgegriffen und dann meist nur in oberflächlichen Anspielungen. Vgl. exemplarisch Derrida 1995: 245f. Er nennt die Möglichkeit unentscheidbarer Aussagen und spitzt sie auf ein Tertium datur zu, in dem die Einsichten und Verfahren Gödels tatsächlich allerdings eher verspielt als erfasst wären. Lyotard geht dagegen etwas detaillierter auf die mathematische Entwicklung ein, seine Konklusionen sind aber ähnlich unspezifisch, vgl. Lyotard 1986: 123ff. 3 Vgl. Badiou 2005: 55ff./ Badiou 1988: 49ff. sowie Hallward 2003: 323ff. 4 Hallwards lesenswerte Gesamtdarstellung stellt sich jedoch der Aufgabe, der zentralen Rolle der Mathematik in Badious Werk Rechnung zu tragen, insbesondere durch einen Anhang zur mathematischen Mengentheorie, vgl. Hallward 2003: 323ff. Wie das gesamte Buch bewegen sich allerdings auch diese Erörterungen in großer Nähe zu Badiou. <?page no="171"?> Von der Menge zur Situation 171 Freiheit nimmt, ihre philosophischen Konsequenzen selbst auszubuchstabieren. Diese doppelte Strategie hat die These zur Grundlage, die Mathematik sei seit den Griechen „die Ontologie - Wissenschaft vom Sein-als-Sein (l ’ ontologie - la science de l ’ être-en-tant-qu ’ être)“ 5 . Diese Behauptung ist nach Badiou aber notwendigerweise zugleich eine „metaontologische These (thèse métaontologique)“ 6 , d.h. eine philosophische Aussage, weil die Mathematik selbst sich der Einsicht versperre, dass ihr eigentlicher Gegenstand das Sein ist. Somit ist die Philosophie zwar hinsichtlich dessen, was sich über das Sein aussagen lässt, auf die Mathematik angewiesen. Die Mathematik findet ihre eigene ontologische Bestimmung aber ihrerseits nur in der Philosophie. In Badious Texten eröffnet sich damit ein Wechselspiel zwischen der Aufnahme von mathematischen Erkenntnissen und ihrer philosophischen Deutung im Hinblick auf unser mögliches Wissen und Nichtwissen vom Sein. Die Mathematik wird dabei stets philosophisch gerahmt, was sich auch darin zeigt, dass Badiou ihre Bedeutsamkeit ausgehend von der gegenwärtigen Lage der Philosophie bestimmt. Im Court traité d’ontologie transitoire - für die Frage nach Badious philosophischem Gebrauch der Mathematik ein zentraler Text - argumentiert er bspw., dass der mathematische Diskurs nicht nur die Anforderungen erfüllt, die mit Heidegger für ein Denken des Seins jenseits der Metaphysik zu stellen sind, sondern auch die Verabschiedung der Metaphysik in Heideggers Texten an Konsequenz überbietet. 7 In dieser Argumentation bezieht er sich wie stets auf die oben angedeutete Entwicklung der Mathematik im 20. Jahrhundert, auf die Axiomatisierung und ihre durch Gödel gezogenen Konsequenzen, aber auch auf Georg Cantors Einführung transfiniter Zahlen. Ich möchte im Folgenden der komplexen Verknüpfung von Philosophie und Mathematik in Badious Texten nachgehen. Es geht mir dabei um den fragilen Status eines Diskurses, der sich zum einen auf die Mathematik stützt, indem er deren jüngere Entwicklung zur Argumentation heranzieht, sie zum anderen aber - aufgrund seines philosophischen Anliegens - mitunter auf eigenwillige Weise deuten muss. Ich werde die Rolle der Mathematik in Badious Philosophie deshalb in drei Schritten erörtern. Zunächst soll ein Versuch zur Begründung philosophischer Argumentationen mit Bezug auf die Mathematik an einem einfachen Beispiel vorgestellt und problematisiert werden. In einem zweiten Teil werde ich auf die Konzeption des Ereignisses eingehen, in der die Selektivität von Badious Zugriff deutlich wird: Er lässt mathematische Erkenntnisse nur unter seinen eigenen Bedingungen gelten und schließt damit auf dezidiert philosophische Weise an die Mathematik an. Schließlich werde ich im letzten Abschnitt auf Badious Deutung des Verfahrens eingehen, das für seine Philosophie von entscheidender Bedeutung ist und in mathematischer Hinsicht als das interes- 5 Badiou 2005: 18/ Badiou 1988: 10. 6 Ebd.: 27/ 20, vgl. zum Folgenden die gesamte Passage ebd.: 25ff./ 17ff. 7 Vgl. Badiou 2002: 23ff. <?page no="172"?> Arno Schubbach 172 santeste Beispiel gelten kann, nämlich Paul Cohens Forcing. Ich werde durch diese Erörterung zu zeigen versuchen, dass die Generalthese von der Mathematik als Ontologie weder philosophische Argumentationen mit mathematischen Erkenntnissen zu begründen vermag noch das komplexe Vorgehen von Badious Texten beschreiben kann. Sein Ansatz, mit der jüngeren Mengentheorie überkommene Ideale der mathematischen Erkenntnis in der Philosophie infrage zu stellen, eröffnet dagegen eine vielversprechende Debatte um die philosophische Bedeutung und den konzeptionellen Nutzen der Mathematik. 1 Die Mathematik als ontologische Grundlage setzen: Präsentation und Repräsentation Alain Badious metaontologisches Großprojekt L ’ être et l ’ événement vertritt von der Einleitung an die These, die Mathematik sei eine Lehre vom Sein, um sich in der Folge immer wieder auf die Mathematik zu stützen, auf einzelne mathematische Erkenntnisse ebenso wie auf ihre axiomatischen Setzungen, ihr deduktives Vorgehen und ihre konkreten Verfahren. Ich möchte in diesem ersten Abschnitt ein Beispiel der philosophischen Aneignung eines mathematischen Zusammenhangs exemplarisch diskutieren: Das Verhältnis der Menge zur Menge ihrer Teilmengen begreift Badiou als Beschreibung des Bezugs von Präsentation und Repräsentation. Dieses Beispiel baut auf einem äußerst simplen mathematischen Zusammenhang auf, weshalb dessen Übertragung auf philosophische Fragestellungen ohne größere Umstände zu erörtern ist. Schildern wir zunächst einmal den mathematischen Zusammenhang. Für die Mengentheorie ist es entscheidend, dass Mengen nur insofern als mathematische Gegenstände in Betracht kommen, als ihre Existenz durch die etablierten Axiome von Zermelo und Fraenkel (meist mit Auswahlaxiom) gewährleistet ist. Es reicht somit nicht aus, die Menge sprachlich definieren zu können. Bspw. lässt sich Russells bekannte Menge aller Mengen, die sich nicht selbst zum Element haben, durch die genannte Formulierung wie auch durch einen formalen logischen Ausdruck ohne Weiteres definieren. Ihre Existenz kann dagegen aus den obigen Axiomen nicht abgeleitet werden, sodass die Mengenlehre von den Antinomien verschont bleibt, die in jener Definition angelegt sind. Die Existenz von Mengen muss somit in jedem Fall aus den genannten Axiomen abgeleitet werden. Unter diesen Axiomen ist in dieser Hinsicht zuallererst das Axiom entscheidend, demzufolge die leere Menge existiert, d.h. die Menge, die keinerlei Elemente hat. In einem zweiten Schritt kann die Existenz vieler anderer Mengen gefolgert werden. Für jede Menge und insbesondere die leere Menge sind ihre Teilmengen dadurch definiert, dass diese nur solche Elemente haben, die auch Elemente jener Menge sind. Nach dem Potenzmengenaxiom existiert nun aber für jede beliebige Menge die Menge ihrer Teilmengen, die sogenannte Potenzmenge. <?page no="173"?> Von der Menge zur Situation 173 Dieses Axiom lässt sich zunächst auf die leere Menge anwenden: 1. Da die leere Menge Teilmenge ihrer selbst ist, , ist sie zugleich Element ihrer Potenzmenge, P ( ), und zwar deren einziges, da die leere Menge keine anderen Teilmengen hat. Es gilt daher P ( ) = { }. 2. Betrachtet man die Potenzmenge dieser Menge, P ({ }), so enthält sie dagegen genau zwei Teilmengen, wiederum die leere Menge, { } - da die leere Menge Teilmenge jeder Menge ist -, aber auch die Menge, die die leere Menge zum Element hat, { } { } - da jede Menge Teilmenge ihrer selbst ist. Entsprechend hat die Potenzmenge diese zwei Mengen zu Elementen: P ({ }) = { , { }}. Dieses Spiel kann immer weiter getrieben werden, sodass die wiederholte Anwendung des Potenzmengenaxioms die Existenz unendlich vieler Mengen begründet. Weitere Axiome von Zermelo und Fraenkel müssten allerdings hinzugezogen werden, um die möglichen Bildungen in all ihrer Komplexität auszuloten. 8 Entsprechend seiner These, die Mathematik sei die Lehre vom Sein, versteht Badiou jede Menge als eine Situation, in der Seiendes als Seiendes zugänglich wird. 9 Die Menge beschreibt demnach eine Situation, in der ihre Elemente als seiend gelten bzw. präsentiert werden. Sie impliziert damit zugleich eine Struktur, die ihre Elemente identifiziert oder „als eins zählt (compter-pour-un)“, wie Badiou in Anspielung auf die parmenideische Metaphysik und ihre platonische Durcharbeitung formuliert. Die Mengentheorie beschreibt dabei nicht so sehr die Gegebenheit von etwaigen realen Dingen. Da sie alle Mengen als Verschachtelungen und Zusammensetzungen aus der leeren Menge aufbaut, beschreibt sie vielmehr die Struktur der Präsentation unabhängig vom konkreten Seienden, das der Situation zugehört. Aus Badious Sicht handelt die Mengentheorie somit von den möglichen Situationen, vom Seienden als solchem und seinen Strukturen. Sie selbst stellt in diesem Sinne die Präsentation der Präsentation dar. Badiou wird aus diesem Ansatz über den Umweg der Mengentheorie weitreichende philosophische Schlussfolgerungen ziehen, vor deren Erörterung sich aber ein Blick auf sein Vorgehen lohnt. Sofern die in diesem Falle sehr simple Mathematik nicht verwirrt oder abschreckt, fällt sogleich auf, dass dieser Anschluss mit der Übertragung von mathematischen Begriffen in ein abstraktes philosophisches Vokabular arbeitet: Die Menge hat mathematisch gesehen Elemente - sie ist Badiou zufolge damit eine Situation, die Seiendes präsentiert, und stellt sich zugleich als eine Struktur dar, die diese Seienden als eins zählt. 10 Es wird dadurch eine spezifische Überdetermination der mathematischen Begriffe praktiziert, die innerhalb einer formalen 8 Es ist dabei vor allem an die Axiome der Vereinigung, der Ersetzung und der Aussonderung zu denken, die die Existenz von weiteren Mengen gewährleisten. Schließlich führt Cantors Unendlichkeitsaxiom auf äußerst folgenreiche Weise die Existenz einer unendlichen Menge ein, die nicht aus jenen Axiomen abgeleitet werden kann. Hierauf wird weiter unten ein wenig ausführlicher einzugehen sein. 9 Vgl. zum Folgenden Badiou 2005: 38ff./ Badiou 1988: 32ff. 10 Vgl. dazu auch die Tabelle ebd.: 122/ 119. <?page no="174"?> Arno Schubbach 174 Sprache definiert werden und insofern ausschließlich innerhalb eines geschlossenen Systems eine präzise Bedeutung tragen. Sie bekommen auf diese Weise einen Sinn verliehen, der aus ganz anderen - philosophischen, zugleich historischen und subjektiven - Quellen schöpft. Diese Neubesetzung mathematischer Begriffe spitzt sich in deren auffälligen und schwer fassbaren Doppelungen zu. Als Beispiel möchte ich wiederum den Begriff der Menge (ensemble) wählen: Wenn Badiou die philosophische Sicht auf die Mathematik markieren möchte, dann bezeichnet er eine Menge als Vielheit (multiple), die Seiendes präsentiert, oder auch als reine Vielheit (multiple pur), wenn er zudem hervorheben will, dass die Mathematik von der Struktur der Präsentation als solcher handelt, also die Präsentation der Präsentation darstellt. 11 Diese gedoppelten Begriffe scheinen zugleich unterschieden, da sie verschiedene Hinsichten akzentuieren, und werden von Badiou doch zugleich synonym benutzt, da sie auch dasselbe bezeichnen müssen. Dieses Vorgehen ist wohl unvermeidlich, wenn sich Philosophen und Mathematiker nicht in der methodischen und inhaltlichen Kluft zwischen ihren Disziplinen einrichten, die in der Regel die Mathematik von allen philosophischen Fragestellungen fernhält und die Philosophie längst der mathematischen Entwicklung entfremdet hat. Die Mathematik stellt sich zumindest in ihrem Lehrgehalt als ein komplexer Zusammenhang von logischen Aussagen dar, der sich auf der Grundlage von wenigen Axiomen deduktiv entfaltet und sich in den wichtigen Theoremen bündelt. Sie schließt sich damit zu einem formalen System und kappt alle Bezüge auf die Gegenstände unserer alltäglichen Erfahrung, anderer wissenschaftlicher Disziplinen oder der philosophischen Reflexion. Um die Mathematik für eine Diskussion philosophischer Probleme dennoch nutzbar zu machen, bedarf es daher ihrer Öffnung. Die Überdetermination und Doppelung mathematischer Begriffe in Badious Text ist deshalb wohl als eine notwendige Bedingung für die philosophische Bezugnahme auf die Mathematik und die Schaffung vielfältiger Anschlussstellen für die philosophische Diskussion zu betrachten. Jedoch wird ein solcher Übergang stets riskant sein, weil er sich von der Mathematik her prinzipiell nicht begründen lässt und in der Philosophie notwendigerweise bestritten werden kann. Wie ungesichert ein solcher Grenzgang sein kann, zeigt sich im weiteren Gedankengang Badious. Denn er betrachtet in einem zweiten Schritt die Teilmengen bzw. Teile einer Menge bzw. Situation, um aus der genaueren Bestimmung des Verhältnisses der Menge zur Menge ihrer Teilmengen, d.h. ihrer Potenzmenge, philosophisches Kapital zu schlagen. 12 Mathematisch gesehen ist die Potenzmenge größer als die Menge selbst, zunächst nämlich in einem sehr einfachen Sinn: Eine Situation kann nicht alle ihre Teile zum Element haben bzw. präsentieren. Es gibt also Teile, die in der Situation enthalten, ihr aber selbst nicht zugänglich sind. Badiou deutet diesen Um- 11 Vgl. exemplarisch Badiou 2005: 215/ Badiou 1988: 209. 12 Vgl. zum Folgenden ebd.: 113ff./ 109ff. <?page no="175"?> Von der Menge zur Situation 175 stand dahingehend, dass die Situation ihren eigenen Aufbau im Allgemeinen nicht selbst zu präsentieren vermag. 13 Dies gelingt erst der Potenzmenge, die ihrerseits als Situation betrachtet alle Teilmengen präsentiert und in diesem formalen Sinn die Menge in ihrer Struktur repräsentiert. Badiou begreift daher die Potenzmenge als eine Metastruktur der Menge bzw. der Situation. Wiederum wird deutlich, wie Badiou mathematische Begriffe auf spezifische Weise überdeterminiert und verdoppelt: Die Menge enthält Teilmengen, die sie nicht selbst, die aber ihre Potenzmenge zum Element hat - und präsentiert deshalb nach Badiou nicht ihre eigene Struktur, die stattdessen mit all ihren Teilen durch ihre Metastruktur repräsentiert wird. Aus diesem Verhältnis von Menge und Potenzmenge bzw. der Situation als strukturierter Präsentation und der Repräsentation ihrer Struktur versucht Badiou Argumente für die Diskussion der marxistischen Staatstheorie zu gewinnen. Er begreift dazu die Situation bzw. Menge als historisch-soziale Wirklichkeit und ihre Metastruktur bzw. Potenzmenge in aller Mehrdeutigkeit als Zustand, Verfassung oder Staat (état). Ein erstes Argument entwickelt Badiou aus einer mathematisch sehr banalen Beobachtung: Die Potenzmenge hat zum Element die Teilmengen der Menge und ist dadurch im Grunde schon durch die Menge selbst gegeben, auch wenn sie gegenüber der Menge neue Elemente hat. Daraus folgert Badiou, dass der Staat gegenüber der historisch-sozialen Situation keine neuen Wirklichkeiten schafft, sondern lediglich ihre Struktur re-präsentiert und in diesem Sinne als ihre Metastruktur gelten kann. Diese philosophische Deutung einer mathematischen Banalität soll die marxistische Behauptung untermauern, der Staat sei stets ein Klassenstaat, da die Klasse in der sozioökonomischen Wirklichkeit und nicht durch den Staat definiert wäre. Mathematik und Marxismus würden demnach in der Behauptung konvergieren, „dass der Staat immer re-präsentiert, was schon präsentiert worden ist“ 14 . Die Menge selbst scheint deshalb für ein „Unmittelbares der Gesellschaft (l ’ immédiat de la société)“ 15 stehen zu können, in das der Staat nicht je schon eingegriffen hätte oder auch nur intervenieren könnte. Der Staat ist gebunden (lié), wie Badiou formuliert, an die Gegebenheiten der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die er lediglich zu verwalten hat. 16 Diese Argumentation wirft jedoch grundlegende Fragen auf. Zunächst einmal ist festzustellen, dass Badious Argument unabhängig ist von dem gewählten mathematischen Zusammenhang. Denn die Beobachtung, dass eine Menge in keiner Weise dadurch verändert wird, dass sie im Bezug auf ihre Potenzmenge betrachtet wird, gilt auch in verallgemeinerter Form: Die 13 Dies gelingt nur den von Badiou sogenannten natürlichen Situationen, d.h. transitiven Mengen im Sinne der Mathematik, vgl. dazu die Meditation 12, ebd.: 151ff./ 149ff. 14 Badiou 2005: 125; „L’énoncé marxiste a un autre avantage, si on le saisit dans sa pure forme, c’est qu’en posant que l’État est celui de la classe dominante, il indique que l’État re-présente toujours ce qui a déjà été présenté“, Badiou 1988: 122f. 15 Badiou 2005: 124/ Badiou 1988: 122. 16 Ebd.: 125f./ 123f. <?page no="176"?> Arno Schubbach 176 Gegenstände der Mathematik existieren oder nicht und verändern sich jedenfalls nicht durch die Tätigkeit eines Mathematikers oder hinzukommende Bezüge. Zudem drängt sich die Frage auf, warum gerade dieser und kein anderer mathematischer Sachverhalt zur Beschreibung des Staates und seines Bezugs zur sozioökonomischen Wirklichkeit herangezogen wird. Badiou versucht, seinen Grenzgang zwischen Mathematik und Philosophie zwar durch die Generalthese abzusichern, jene sei die Lehre vom Sein, die als solche erst durch die metaontologische Reflexion der Philosophie gleichsam zu sich komme. Aber selbst unter Voraussetzung dieser These steht noch in Frage, welcher Zweig der Mathematik für welche philosophische Debatte überhaupt maßgeblich wäre. Die Öffnung der Mathematik durch die Philosophie kann nur ungesicherte Grenzgänge eröffnen, die Schritt für Schritt zu rechtfertigen wären. Obwohl sich eine gewisse Plausibilität für die skizzierte Übertragung aus der Entwicklung von Badious Gedankengang ergeben mag, bleibt es somit durchaus fraglich, ob auf diese Weise über die Mathematik autoritative Argumente für eine Debatte rekrutiert werden können, ohne sie mit Bezug auf deren Gegenstand erneut auszuweisen. Schließlich stellt sich die Frage, inwieweit der gewählte mathematische Sachverhalt für die staatstheoretische Diskussion überhaupt nützliche Begriffe und Bezüge bietet. Es wäre nämlich mit guten Gründen zu behaupten, dass die Mathematik hier falsche Argumente nahelegt, da der Staat nicht - wie die Potenzmenge an die ursprüngliche Menge - an die vorgängige „unmittelbare soziale Verbindung (le lien social immédiat)“ 17 gebunden ist, sondern die gesellschaftliche Wirklichkeit zugleich verändert, indem er sie repräsentiert. 18 Auch Badious weitere Überlegungen lassen durchaus Zweifel aufkommen am philosophischen Nutzen des an der Mathematik entwickelten Vokabulars. Nach Badiou ist der Staat zwar im angedeuteten Sinne an die Wirklichkeit, die er repräsentiert, gebunden, zugleich geht er aber auch über sie hinaus, weil er die Teilmengen der Menge zu Elementen hat, die die Menge selbst nicht alle zum Element haben kann. Deshalb repräsentiert der Staat Teilmengen oder Gruppen, die in der historisch sozialen Situation gegeben sein mögen, aber nicht als solche präsentiert werden. Dies bedeutet aber auch andersherum, dass der Staat normalerweise nicht die Elemente jener Situation repräsentiert. Die Potenzmenge enthält die Elemente der Menge selbst nämlich nur insofern, als diese Elemente zugleich Teilmengen der Menge sind. Abgesehen von diesem Sonderfall repräsentiert die Potenzmenge aber stets die sogenannte Einermenge jedes Elements, denn es gilt: x M impliziert {x} M, d.h. {x} P (M). Badiou folgert daraus, dass 17 Badiou 2005: 126/ Badiou 1988: 124. 18 Hallward scheint in dieser Hinsicht eine gewisse Distanz zu Badiou einzunehmen, wenn er betont, dass zumindest in der Praxis die sozioökonomische ‚Unmittelbarkeit‘ nicht gegeben ist, sondern der staatlichen Repräsentation gleichsam abgerungen werden muss, vgl. Hallward 2003: 97. <?page no="177"?> Von der Menge zur Situation 177 der Staat keinen Bezug zu Individuen als solchen hat, sondern nur zu Gruppen oder zum Individuum überhaupt, und sieht darin die „Zwangsausübung (fonction coercitive)“ 19 eines Staates, der Individuen als solche verkennt. 20 Badiou greift damit affirmativ marxistische Positionen auf, gerät aber auch in die Nähe phänomenologischer Positionen, die die soziale Repräsentation und insbesondere den Staat gegenüber dem Ich und seinen intersubjektiven Beziehungen als sekundäre, abstrakte und gewaltsame Wirklichkeit verstehen. Badiou lotet das Verhältnis der Menge zur Potenzmenge noch weiter aus, dennoch soll der Nachvollzug seines Gedankengangs an dieser Stelle abgebrochen werden. 21 Denn schon die angedeutete Diskussion dieses exemplarischen Falls wirft grundlegende Fragen nach der Übertragung mathematischer Beobachtungen auf philosophische Zusammenhänge auf. Zunächst kann mit guten Gründen Skepsis erregen, dass sich die philosophische Argumentation auf Mathematik stützt und dazu deren Erkenntnis in autoritativer Absicht in Anspruch nimmt. Badiou läuft dadurch des Öfteren Gefahr, der Mathematik eine Autorität zuzuschreiben, die er letztlich selbst für seine Philosophie in Anspruch zu nehmen versucht. Sodann bleibt im konkreten Fall unklar, warum die gewählte mathematische Beobachtung gerade auf die Debatte um die Rolle des Staates zu beziehen ist. Die allgemeine These von der Mathematik als Lehre vom Sein reicht kaum aus, um diesen konkreten Bezug systematisch zu begründen. Dieser Bezug wird zudem durch die begriffliche Nähe von Mengen- und Staatstheorie, die Badiou von der Menge als Versammlung über die Zugehörigkeit der Elemente und den Einschluss der Teile bis hin zum Staat als Verfassung evoziert und nutzt, weniger begründet als suggeriert. Schließlich erscheint der gewählte mathematische Zusammenhang als zu simpel, um für eine komplexe staatstheoretische Debatte von Nutzen sein zu können. 22 19 Badiou 2005: 126/ Badiou 1988: 123. 20 „Es geht nicht um Anton Müller, den Eigennamen einer unendlichen Vielheit, sondern um {Anton Müller}, die gleichgültige Figur der Einzigkeit durch die In-Eins-Setzung des Namens“, Badiou 2005: 126. „Non pas Antoine Dombasle, nom propre d’un multiple infini, mais {Antoine Dombasle}, figure indifférente de l’unicité, par la mise-en-un du nom“, Badiou 1988: 124. 21 Badiou unterscheidet nämlich auf der Ebene der Elemente von Menge und Potenzmenge drei Fälle: 1. Ein Element der Menge ist auch Element der Potenzmenge. 2. Ein Element der Menge ist nicht Element der Potenzmenge. 3. Eine Teilmenge ist nicht Element der Menge, per definitionem aber Element der Potenzmenge. Badiou spricht im ersten Fall von Normalität, im zweiten Fall von Singularität, im dritten von Auswuchs. Den ersten Fall entwickelt Badiou in seiner Definition der Natur, vgl. Meditation 11 und 12 in Badiou 2005: 143ff./ Badiou 1988: 141ff; der zweite Fall impliziert, wie bereits besprochen wurde, den Zwang gegenüber dem Individuum; den dritten Fall führt Badiou gegen die marxistische Utopie der Abschaffung des Staates an, denn es gäbe zwar Auswüchse des Staates gegenüber der historisch sozialen Situation, der Staat ist aber nicht als solcher ein Auswuchs, der abzuschaffen wäre, vgl. ebd.: 127ff./ 125ff. 22 Auch Hallwards Kritik, Badiou trage der konstitutiven Rolle von Relationen im Allgemeinen und von konkreten Umständen in historisch-sozialen Situationen im Be- <?page no="178"?> Arno Schubbach 178 In der Konsequenz ist die Frage aufzuwerfen, ob nicht ein differenzierteres Vorgehen angezeigt wäre, um die Mathematik philosophisch nutzbar zu machen. Badious These zu Mathematik und Ontologie blendet nämlich die prinzipielle Fragwürdigkeit einer Begründung von philosophischen Argumenten durch eine autoritativ wirkende mathematische Beobachtung ebenso aus, wie sie die Frage nach der Bezugnahme auf die Mathematik und deren philosophischen Wert im konkreten Fall kaum zu beantworten hilft. Der Grenzgang zwischen Mathematik und Philosophie ist nur Schritt für Schritt zu rechtfertigen und lässt aufgrund der Deutungsbedürftigkeit der Mathematik kaum eine Begründung philosophischer Argumente zu. Was die Mathematik der Philosophie dagegen bieten kann, ist ein reichhaltiges Repertoire von komplexen Definitionen, möglichen Beziehungen von Gegenständen und Abhängigkeiten zwischen Aussagen, die unter Umständen auch im philosophischen Feld dazu dienen könnten, Beziehungen zu schaffen und zu klären, ohne allerdings philosophische Argumente begründen zu können. Die Mathematik könnte daher innerhalb des philosophischen Zusammenhangs vielleicht eine heuristische Funktion einnehmen, wie sie Kant in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft umreißt. Denn er bezeichnet als heuristisch gerade solche Begriffe oder Ideen der Vernunft, die regulative, aber nicht konstitutive Prinzipien der Erfahrung darstellen. Sie schaffen Verknüpfungen, um Erfahrungen zu ordnen, ohne sie im transzendentalen Sinne zu bestimmen, sodass diese Heuristik nach der strengen Maßgabe von Kants Deduktion letztlich unbegründbar bleiben muss. 23 Der Bezug zwischen bestimmenden und heuristischen Dimensionen kann aber im Allgemeinen kaum mehr wie bei Kant durch das Zusammenspiel subjektiver Vermögen begründet werden, und insbesondere nicht hinsichtlich Badious Philosophie, der sich mit seiner mathematisierenden Ontologie gerade auch gegen das transzendentale Subjekt Kants richtet. 24 Es bedarf daher für einen philosophischen Anschluss an die Mathematik zudem einer Theorie der heuristischen Übertragung. Eine solche Theorie könnte sich fern jeder autoritativen Begründung philosophischer Argumente durch die Mathematik bspw. an Positionen aus den Debatten um den Begriff der Metapher orientieren. Denn die Metapher muss nicht als eine übertragene Rede begriffen werden, die es durch den Rückgang auf den sonderen nicht in ausreichendem Maße Rechnung, hängt damit zusammen, dass ein mathematischer Begriff - hier der Begriff der Menge als Sammlung an sich existierender Elemente - auf ein anderes Feld übertragen wird, ohne dort ausgewiesen zu werden, vgl. Hallward 2003: 275ff. 23 „Alsdenn heißt es z.B., die Dinge der Welt müssen so betrachtet werden, als ob sie von einer höchsten Intelligenz ihr Dasein hätten. Auf solche Weise ist die Idee eigentlich nur ein heuristischer und nicht ostensiver Begriff, und zeigt an, nicht wie ein Gegenstand beschaffen ist, sondern wie wir, unter der Leitung desselben, die Beschaffenheit und Verknüpfung der Gegenstände der Erfahrung überhaupt suchen sollen“, Kant 1974: 583f. bzw. A 670f./ B 698f. Vgl. auch ebd.: 653 bzw. A 771/ B 799. 24 Vgl. Badiou 2005: 19/ Badiou 1988: 11f. <?page no="179"?> Von der Menge zur Situation 179 Gebrauch des übertragenen Begriffs zu decodieren gilt. Vielmehr kann sie auch als produktive Heuristik verstanden werden, die zwei Begriffe aus unterschiedlichen Feldern von Assoziationen und Bezügen miteinander kommunizieren lässt, wodurch ein Gegenstand in einem neuen Netz von Beziehungen und Hinsichten auf produktive Weise betrachtet werden kann und zugleich beide aufeinander bezogenen Felder Veränderungen erfahren. 25 Im vorliegenden Falle spräche für einen solchen Ansatz auch, dass die Übertragungen zwischen Mathematik und Philosophie wohl niemals ‚uneigentlich‘ waren: Die Philosophie war seit ihren Anfängen mit Idealen von mathematischer Erkenntnis verknüpft. Sofern am Ideal theoretischer Erkenntnis festgehalten wird, scheint eine philosophische Rede unabhängig von der Mathematik daher ebenso unwahrscheinlich, wie die Mathematik trotz ihrer modernen disziplinären Ausdifferenzierung nach wie vor und vor allem in ihren theoretischen Teilen mit philosophischen Fragen verwoben ist. Übertragungen und Heuristiken haben zwischen Mathematik und Philosophie wohl je schon stattgefunden. Vor diesem Hintergrund ließe sich Badious Text als ebenso komplexer wie spannender Versuch lesen, mit der Bezugnahme auf die Mathematik einen ungewohnten und aufschlussreichen philosophischen Einsatz zu verbinden. Er versieht die Mathematik mit einer neuen systematischen Perspektive und setzt sie auf unübliche Weise heuristisch ein. Denn Badiou lässt in seiner mathematisierenden Ontologie nicht so sehr das Unbekannte vertrauter erscheinen, sondern versetzt vielmehr das vermeintlich Vertraute in eine oft überraschende Perspektive. Er nutzt in dieser Deutung mathematische Begrifflichkeiten, um philosophische Probleme auf ungewohnte und erhellende Weise zu artikulieren, neu zu gliedern und idealiter zu schärfen, wobei er zugleich eine mitunter interessante, manchmal auch verwunderliche Sicht auf die Mathematik eröffnet. Eine solche Lektüre der heuristischen Übertragungen zwischen Mathematik und Philosophie durch Badious Text muss aber den autoritativen Charakter der mathematischen Erkenntnis für den philosophischen Diskurs gerade auch deshalb infrage stellen, weil mit dem konkreten heuristischen Mehrwert zugleich die Komplexität der Bezugnahme auf mathematische Begriffe und Erkenntnisse in den Vordergrund zu rücken ist. 2 Der Mathematik philosophisch (un-)treu sein: Badious „Mathem“ des Ereignisses Eine differenziertere Reflexion auf die Rolle der Mathematik in Badious Gedankengang ist somit auch deshalb notwendig, weil Badious eigener Zugriff komplexer ist, als seine These der mathematischen Lehre vom Sein nahelegt. Er übernimmt nämlich keineswegs unhinterfragt jede mathemati- 25 Vgl. bspw. Black 1968: 38ff. <?page no="180"?> Arno Schubbach 180 sche Erkenntnis, vielmehr interveniert er mitunter in mathematische Fragen, um seinen philosophischen Einsatz zu markieren. Dies zeigt sich vor allem am zweiten Hauptbegriff von L ’ être et l ’ événement. Denn Badiou zufolge muss die Mathematik das Ereignis zwar streifen, weil sie vom Sein handelt, das Ereignis als solches zählt jedoch nicht zu ihren Gegenständen. Das Ereignis liege jenseits der mathematischen Ontologie. 26 Badiou nähert sich dem Begriff des Ereignisses ausgehend vom Bezug der ontischen Situation in der Gestalt einer Menge zu ihrer Potenzmenge, die die Struktur der Situation repräsentiert. Er folgt der Intuition, dass ein Ereignis auf gewisse Weise nicht vollständig zu erfassen sein kann. Es soll deshalb weder zu präsentieren noch zu repräsentieren sein, was nichts anderes heißt, als dass es weder ein Element der Menge bzw. der Situation ist, in der es möglicherweise stattfindet, noch ein Element ihrer Potenzmenge, also keine Teilmenge. Die letzte Bedingung ist leicht zu erfüllen: Wenn ein Element der Menge Elemente enthält, die ihr nicht selbst zugehören, dann ist es auch keine Teilmenge und somit kein Element der Potenzmenge. Eine solche - im mathematischen Sprachgebrauch intransitive - Menge wird weder einen Mengentheoretiker erstaunen noch als ein Ereignis gelten können. In Badious Gedankengang stellt sie aber den Ausgangspunkt für die Definition des Orts eines Ereignisses dar: Als „Ereignisstätte (site événementiel)“ einer Menge bestimmt er ein Element der Menge, dessen Elemente allesamt nicht Element der Menge selbst sind. 27 Ein Ereignis hat eine solche Ereignisstätte zur notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingung: Es wird nur durch eine Ereignisstätte möglich, findet aber nicht notwendigerweise statt. Badiou definiert das Ereignis nun wie folgt: „Ich nenne Ereignis der Stätte X eine Vielheit, die sich zum einen aus den Elementen der Stätte und zum anderen aus sich selbst zusammensetzt.“ 28 Und er spitzt seine Intervention in die Mathematik und seinen Schritt über die Mathematik hinaus zu, indem er diese Definition in pseudo-mathematischer Form fasst und ihr den Namen des „Mathems des Ereignisses (mathème de l ’ événement)“ verleiht: „Sei S die Situation und X S (X gehört zu S, X wird durch S präsentiert) die Ereignisstätte. Ich schreibe e X für das Ereignis [...]. Meine Definition lautet: e X = {x X, e X }.“ 29 Das Ereignis besteht also aus Elementen der Stätte, die die Menge, in der es stattfindet, nicht kennt, und aus sich selbst. Diese Definition hat zunächst zur Pointe, dass das Ereignis Element seiner selbst ist, weshalb es nicht durch gegebene Elemente bestimmt sein kann und die Mathematik es 26 Vgl. Badiou 2005: 211 und 217f./ Badiou 1988: 205 und 211f. 27 Vgl. ebd.: 200ff./ 195ff. 28 Badiou 2005: 206; „J’appelle événement de site X un multiple tel qu’il est composé d’une part des éléments du site, d’autre part de lui-même“, Badiou 1988: 200. 29 Ebd. Die Übersetzung wurde korrigiert, da im Index wie in der französischen Ausgabe ein ‚X‘ statt ein ‚x‘ stehen muss: „Soit S la situation, et X S (X appartient à S, X est présenté par S) le site événementiel. Je noterai e X l’événement [...]. Ma définition s’écrit alors: e X = {x X, e X }“, Badiou 1988: 200. <?page no="181"?> Von der Menge zur Situation 181 durch das Fundierungsaxiom aus dem Bereich der erlaubten Mengen ausschließt. Zudem macht es einen großen Unterschied, ob ein solches Ereignis zur Situation gehört oder nicht: Wenn es zur Menge gehört, dann ist es selbst absolut neu, da die Menge weder es selbst noch seine anderen Elemente kennt, nämlich die Elemente der Stätte des Ereignisses. Wenn es dagegen nicht zur Situation gehört, dann hat dies dagegen keinerlei Auswirkungen, da das Ereignis in dem Sinne keine Verbindung zur Menge selbst hat, dass sie wiederum weder es selbst noch seine anderen Elemente zum Element hat. 30 Entweder hat also mit dem Ereignis nichts stattgefunden - oder es tritt etwas Neues gleichsam aus dem Nichts auf. Badiou spitzt in dieser Konstruktion die Notwendigkeit und die einschneidenden Folgen eines „interpretierenden Eingriffs (intervention interprétante)“ 31 zu, einer Entscheidung darüber, ob ein Ereignis stattgefunden hat und welche Konsequenzen aus ihm zu ziehen sind. Weder in der Menge noch durch die Potenzmenge, weder im Vorhinein noch im Nachhinein ist eine solche Entscheidung dadurch zu legitimieren, dass das Ereignis zu beweisen wäre oder zum Faktum würde. 32 Es wird insofern nicht tatsächlich der Situation hinzugefügt, eher wird es benannt, ohne es durch seinen Namen referenzieren zu können. Es wird dadurch markiert als etwas, über das zu entscheiden ist und bleibt, um in der Treue (fidélité) gegenüber diesem Ereignis Konsequenzen zu ziehen - oder es ebenso wie etwaige Folgen zu bestreiten. Eine solche Entscheidung ist in letzter Instanz somit zu wiederholen, zu bejahen oder zu bestreiten und schreibt dem Ereignis eine zugleich irreduzibel soziale und subjektive Dimension ein. 33 Diesen Gedanken wird Badiou durch eine konzeptionelle Anleihe bei der Mathematik präzisieren, wie der folgende Abschnitt zeigen wird. Zuvor muss jedoch die Definition des Ereignisses nochmals mit Hinblick auf die Frage nach der Rolle der Mathematik in Badious Philosophie diskutiert werden. Denn diese zirkuläre Definition verstößt zunächst einmal gegen die übliche Axiomatisierung der Mengentheorie, weil das Ereignis sich selbst zum Element hat und daher nicht fundiert ist. Ein solches Vorgehen erscheint auf der Grundlage von Badious These, die Mathematik sei die Ontologie, von der die Philosophie auszugehen habe, durchaus fragwürdig. Denn er nimmt sie als unabdingbare Grundlage für das Denken in Anspruch und scheidet doch zugleich aus der Mathematik aus, was seinem eigenen philosophischen Einsatz nicht zupasskommt. Um diesen selektiven Zugriff zu legitimieren oder doch zumindest das mathematische Axiom, dass keine 30 Vgl. Badiou 2005: 208ff./ Badiou 1988: 202ff. 31 Ebd.: 210/ 204. 32 „Es wird immer zweifelhaft bleiben, ob es ein Ereignis gegeben hat, außer für den Eingreifenden, der über dessen Zugehörigkeit zur Situation entscheidet“, Badiou 2005: 235. „Il restera donc toujours douteux qu’il y a eu l’événement, sauf pour l’intervenant, qui décide son appartenance à la situation“, Badiou 1988: 229. 33 Dieser Punkt kann hier nicht weiter verfolgt werden, vgl. daher die ausführlichen Darlegungen von Hallward 2003: 107ff. <?page no="182"?> Arno Schubbach 182 Menge Element ihrer selbst ist, außer Kraft zu setzen, greift Badiou auf die Unterscheidung von mathematischer Ontologie und ihrer metaontologischen, d.h. philosophischen Deutung zurück und führt sie in die Mathematik selbst ein. 34 Das Fundierungsaxiom wäre demnach keine Gegebenheit der mathematischen Ontologie, sondern wie seine eigene Definition des Ereignisses lediglich ein metaontologischer und letztlich philosophischer Zug in der Mathematik. Was Badious Philosophie nicht entgegenkommt, stellt er damit als eine andere Metaontologie dar, die aus philosophischen Gründen zu verwerfen ist. Indem Badiou auf diese Weise in die Mathematik eingreift, ohne auf die Folgen dieses Eingriffs innerhalb der Mathematik zu reflektieren, lässt er aber zwangsläufig auch alternative Eingriffe möglich erscheinen, sodass sein Postulat einer gegebenen einheitlichen mathematischen Ontologie wie auch seine mitunter autoritative Bezugnahme auf deren Erkenntnisse zunehmend fraglich wird. Worin der Philosoph eingreifen kann, wird wohl kaum als unbestreitbare Grundlage des philosophischen Diskurses gelten können. Es kommt hinzu, dass das Fundierungsaxiom durchaus auch in der Mathematik diskutiert werden kann. 35 Die Mathematik kann sogar, genauer gesagt, ihr Geschäft ohne Fundierungsaxiom zu betreiben versuchen - und hat dies auch versucht: In demselben Jahr, als Badiou mit seinem „Mathem des Ereignisses“ in pseudo-mathematischer Form einführt, was die Mathematik in ihrer klassischen Axiomatisierung verbietet und ihr nach Badiou undenkbar bleiben soll, veröffentlicht der Mathematiker Peter Aczel sein Buch Non-well-founded Sets, das einer Mengentheorie ohne Fundierungsaxiom gewidmet ist. 36 Dieser Ansatz, den Badiou zur Zeit der Veröffentlichung von L ’ être et l ’ événement nicht kennen konnte, wäre wohl ein interessanter Gegenstand für eine philosophische Reflexion in Badious Spuren. Für die hier verfolgte Frage nach der Rolle der Mathematik in Badious Philosophie zeigt das Aufkommen eines solchen neuen Ansatzes aber jedenfalls, wie fragwürdig es ist, eine sich wandelnde Wissenschaft wie die Mathematik oder Mengentheorie als Grundlage für die philosophische Argumentation in Anspruch zu nehmen. 3 Die Mathematik als konzeptionelle Heuristik nutzen? Erzwingung und Subjektivierung Es hat sich in den letzten beiden Abschnitten herausgestellt, dass die Rolle der Mathematik in Badious L ’ être et l ’ événement komplexer ist, als seine These, die Mathematik sei die Lehre vom Sein, erahnen lässt. Um den operativen Einsatz der Mathematik in Badious Text zu beschreiben, ist daher 34 Vgl. zum Folgenden Badiou 2005: 211ff./ Badiou 1988: 205ff., insbesondere 214/ 208f. 35 Vgl. bspw. die nüchternen Abwägungen von Kunen 1980: 94ff. 36 Vgl. Aczel 1988. Diese Passage des Textes verdankt den Hilfestellungen durch Gunter Fuchs nicht nur diesen Hinweis. <?page no="183"?> Von der Menge zur Situation 183 eine differenziertere Theorie notwendig, die die mathematischen Begriffe und Verfahren bspw. als eine Heuristik für traditionelle philosophische Fragestellungen zu begreifen hilft. Ohne eine solche Theorie hier ausarbeiten zu wollen, kann jedenfalls vermutet werden, dass ein etwaiger heuristischer Mehrwert wesentlich von der Komplexität des herangezogenen mathematischen Sachverhalts abhängt. Der erste Abschnitt hat so gezeigt, dass insbesondere Badious Versuch, das Verhältnis der sozioökonomischen Wirklichkeit und ihrer staatlichen Repräsentation durch den Bezug von Menge und Potenzmenge zu beschreiben, neben anderem auch wegen der mangelnden Komplexität der mathematischen Beobachtung scheiterte. Es finden sich nun aber zahlreiche argumentative Zusammenhänge, in denen der herangezogene mathematische Sachverhalt komplexer ist und auch im Hinblick auf den zu diskutierenden Gegenstand differenzierter vorgegangen wird. Diese Erörterungen versprechen eher einen systematischen Gewinn als das im ersten Abschnitt diskutierte Beispiel. Zudem sind sie auch deshalb von größerem Interesse, weil sie meist an jüngeren Entwicklungen der mathematischen Mengenlehre seit Cantor ansetzen und diese philosophisch zu begreifen versuchen. Schließlich verfolgen sie einen philosophischen Einsatz, der sich von der klassischen Verknüpfung der Mathematik mit einem Ideal der Erkenntnis markant absetzt. Das wohl interessanteste und komplexeste Beispiel ist Badious Deutung von Forcing. Dieses mathematische Verfahren muss abschließend zumindest in Ansätzen erörtert werden, weil es für Badious philosophische Position von wesentlicher Bedeutung ist, denn er verwebt in seiner Deutung dieses Verfahrens die Konzeption des Ereignisses mit der Frage der Entscheidung und ihrer Konsequenzen. Darüber hinaus soll diese Erörterung der Rolle der Mathematik in Badious L ’ être et l ’ événement nicht um das wohl anspruchsvollste und schwierigste Beispiel verkürzt werden. Cohens Forcing setzt an einem Problem an, das sich mit Gödels Theoremen aus den 1930er-Jahren gestellt hat. Wie bereits in der Einleitung angerissen wurde, hatte Gödel gezeigt, dass es Aussagen gibt, die auf der Grundlage der Axiome von Zermelo und Fraenkel nicht entschieden werden können, also formal weder zu beweisen noch zu widerlegen sind. Dieses Theorem betrifft keineswegs nur künstlich konstruierte Aussagen, sondern zentrale Probleme der Mengenlehre seit Georg Cantor. Dieser hatte ein Axiom eingeführt, das zahlreiche ebenso faszinierende wie erstaunliche Probleme zur Folge hat, nämlich das sogenannte Unendlichkeitsaxiom. Ausgehend von der Existenz der leeren Menge kann zunächst die Folge der natürlichen Zahlen ohne Umstände konstruiert werden, indem die leere Menge als 0 gesetzt und 1 wie auch die weiteren Nachfolger als Vereinigung der Menge mit ihrer Einermenge definiert wird, d.h.: 1 = { } bzw. S n+1 = S n {S n }. Auf diese Weise werden die natürlichen Zahlen Schritt für Schritt aufgebaut, und ihre Ordnung ist dadurch gegeben, dass eine Zahl <?page no="184"?> Arno Schubbach 184 kleiner ist als eine andere, wenn sie deren Element ist. 37 Aus den Axiomen von Zermelo und Fraenkel folgt aber nicht die Existenz einer Menge, die alle diese natürlichen Zahlen enthält. Das Unendlichkeitsaxiom von Cantor postuliert die Existenz genau dieser unendlichen Menge aller natürlichen Zahlen. Diese Existenzaussage hat weitreichende Konsequenzen. Es folgt z.B. unmittelbar, dass es eine unendliche Folge von Unendlichkeiten gibt. Denn nach dem Potenzmengenaxiom existiert nun auch die Potenzmenge jener Menge und wiederum deren Potenzmenge, für die dasselbe gilt - und so fort. Eine Potenzmenge hat aber mehr Elemente als die Menge selbst, nämlich in dem Sinne, dass es nicht möglich ist, die Elemente der Menge und ihrer Potenzmenge vollständig und eindeutig einander zuzuordnen. Definiert man die Mächtigkeit dadurch, dass zwei Mengen gleich mächtig sind, wenn sie Element für Element vollständig aufeinander abgebildet werden können, dann ist mit dem Potenzmengenaxiom somit eine aufsteigende Folge der unendlichen Mächtigkeiten bzw. Kardinalzahlen gegeben, die in der Menge der natürlichen Zahlen fußt und immer größer werdende Unendlichkeiten aufzählt. Es stellen sich auf der Grundlage dieser Hierarchie von Kardinalzahlen dann aber zahlreiche Fragen. Entspricht z.B. die Mächtigkeit der Potenzmenge der natürlichen Zahlen der nächst höheren, ersten überabzählbaren Unendlichkeit? Bereits Cantor hat diese Vermutung formuliert, die Kontinuumshypothese genannt wird, weil die Potenzmenge der natürlichen Zahlen im definierten Sinne gleich groß bzw. mächtig ist wie die Menge der reellen Zahlen bzw. das Kontinuum. Sie gehört aber genau zu den Aussagen, die im formalen Sinne weder zu beweisen noch zu widerlegen sind. Die Kontinuumshypothese ist aber nicht nur deshalb interessant, weil sie ein erstes wichtiges Beispiel für die Unentscheidbarkeit mathematischer Aussagen bzw. ihrer Unabhängigkeit von den Axiomen von Zermelo und Fraenkel ist. Ihre Erörterung hat auch entscheidende methodische Innovationen hervorgebracht. Gödel selbst hatte bereits 1938 gezeigt, dass die Kontinuumshypothese sich nicht widerlegen lässt. Der zweite Teil der Aussage, dass diese Hypothese nämlich nicht formal abgeleitet werden kann, wurde aber erst in den 1960er-Jahren von Paul Cohen bewiesen, der dazu ein neues technisches Verfahren einführte, das bis heute als Standardmethode für Beweise der Unabhängigkeit von Aussagen gelten kann: Das sogenannte Forcing setzt dabei nicht schlicht an den Axiomen an, um mögliche formale Deduktionen zu untersuchen, sondern betrachtet mathematische Aussagen mit Bezug auf konkrete Mengen, in denen sie gelten können oder nicht. Es arbeitet daher mit Mengen, in denen bestimmte Aussagen gültig sind, sogenannten Modellen, deren Konzeption Badiou seine erste Monografie ge- 37 Badiou führt diese Konstruktion genauer aus in der Meditation 12, Badiou 2005: 151ff./ Badiou 1988: 149ff. <?page no="185"?> Von der Menge zur Situation 185 widmet hat. 38 Mithilfe von Modellen ist die Unabhängigkeit von Aussagen deshalb zu beweisen, weil die Existenz eines Modells für eine Menge von Aussagen bedeutet, dass diese Aussagen konsistent sind, d.h. keinen Widerspruch enthalten, was insbesondere heißt, dass nicht das Gegenteil einer der gesetzten Aussagen aus den anderen deduktiv abgeleitet werden kann. Wenn also bspw. ein Modell der Axiome von Zermelo und Fraenkel existiert, in dem auch ein Verstoß gegen die Kontinuumshypothese vorliegt, dann folgt daraus, dass die Kontinuumshypothese aus jenen Axiomen nicht formal herzuleiten ist. Cohen ist dieser Beweis gelungen, und er hat dabei das verallgemeinerbare Verfahren Forcing entwickelt. 39 Dieses Verfahren geht von folgendem Grundgedanken aus. In einem beliebigen Modell der Axiome von Zermelo und Fraenkel wissen wir, dass für jede Menge, die Element dieses Modells ist, auch die Potenzmenge existiert. Das Potenzmengenaxiom sagt aber über die Existenz der Potenzmenge hinaus nichts über ihre Konstruktion oder ihre Elemente aus. Sie kann daher, sofern die Menge unendlich ist, in einem größeren oder einem anzunehmenden größten Modell derselben Axiome - letzteres wird oft Universum genannt - mehr Elemente haben. Denn nicht jedes Modell der Mengenlehre muss dieselben Teilmengen einer Menge selbst zu Elementen haben. Es wäre demzufolge möglich, eine Potenzmenge zu ‚vergrößern‘, indem man Teilmengen hinzufügt und dadurch das Modell erweitert. Mit Hinblick auf die Mächtigkeit der Potenzmenge ist damit aber nur ein erster Schritt gemacht. Denn für die Bestimmung der Mächtigkeit dieser Menge ist nicht nur die Existenz der Teilmengen entscheidend, sondern auch die der eindeutigen und vollständigen Abbildungen jener Menge auf andere Mengen. Die Existenz von solchen bijektiv genannten Abbildungen hängt aber wiederum vom jeweiligen Modell ab - und daher auch insbesondere die Folge der Kardinalzahlen, die gerade dadurch definiert sind, dass sie nicht bijektiv aufeinander abgebildet werden. Käme eine bijektive Abbildung zwischen zwei aufeinander folgenden Kardinalzahlen hinzu, so wäre sie keine Kardinalzahl mehr und höchstens noch von der Mächtigkeit der kleineren. Sie wäre kollabiert, wie - nicht nur die amerikanischen - Mathematiker sagen. 40 Aufgrund dieser Einsichten geht Cohen von einem Modell der Axiome von Zermelo und Fraenkel aus, um gezielt ein erweitertes Modell zu konstruieren, das wiederum jene Axiome, aber nicht die Kontinuumshypothese erfüllen soll. Er versucht somit zum einen, Teilmengen der natürlichen Zahlen hinzuzufügen, um die Potenzmenge ‚groß‘ zu machen, und zum anderen zugleich sicherzustellen, dass keine Abbildungen hinzukommen, die die Mächtigkeit der Potenzmenge wiederum auf die Kardinalität des Konti- 38 Vgl. Badiou 1969. 39 Eine kanonische und verständliche Darstellung dieses Verfahrens findet sich in Kunen 1980: 184ff. 40 Vgl. Badious polemische ‚Beobachtung‘ zum vermeintlich exklusiven Sprachgebrauch der amerikanischen Mathematiker in Badiou 2005: 472/ Badiou 1988: 463. <?page no="186"?> Arno Schubbach 186 nuums aus der Sicht des Grundmodells ‚verkleinern‘ würden und damit zur Gültigkeit der Kontinuumshypothese führen könnten. Es besteht jedoch die Schwierigkeit zu formalisieren, wie ausgehend vom Grundmodell Teilmengen der natürlichen Zahlen hinzugefügt werden können, die dieses Modell nicht zu Elementen hat. Cohens ‚Trick‘ besteht darin, die endlichen Anfangsstücke möglicher unendlicher Teilmengen der natürlichen Zahlen zu betrachten, da jede endliche Teilmenge Element des Modells ist. Man kann sich diese Anfangsstücke bspw. so vorstellen, dass eine Folge von n Nullen und Einsen für jedes m n festlegt, ob die Zahl m in einer Teilmenge enthalten ist. Solche endlichen Anfangsstücke können unvereinbar sein in dem Sinne, dass sie auf dem gemeinsamen Beginn dasselbe Element einmal enthalten sein lassen und zugleich ausschließen. Dennoch können sie geordnet werden, indem man als Relation definiert, dass das längere Anfangsstück größer ist als das kürzere und sie auf dem gemeinsamen Teil zu Beginn nicht unvereinbar sind. 41 Diese ‚Ordnung‘ ist zwar lediglich partiell, weil es stets unvereinbare und damit unvergleichbare Elemente geben kann. Sie hat aber ein kleinstes Element, nämlich die leere Menge, und bildet damit eine Art Baum, dessen Wurzel die leere Menge ist und der an den Punkten verzweigt, wo die Zugehörigkeit einer natürlichen Zahl zur möglichen Teilmenge festgelegt wird. Der nächste Schritt besteht darin zu zeigen, dass für eine solche Ordnung eine sogenannte generische Menge existiert, die in gewisser Weise eine unendliche Teilmenge der natürlichen Zahlen beschreibt. Eine solche generische Menge ist im Wesentlichen dadurch ausgezeichnet, dass sie 1. das kleinste Element der Ordnung enthält, also die nichts festlegende leere Menge; 2. nach unten abgeschlossen ist, d.h. für jedes Element, das sie enthält, auch alle Elemente unterhalb enthält, d.h. alle kürzeren Anfangsstücke dieses Elements; 3. für zwei Elemente, die sie enthält, wiederum ein Element enthält, das größer bzw. länger als beide ist, sodass sie keine unvereinbaren Anfangsstücke zum Element haben kann. Zudem muss gelten, dass sie 4. alle dichten Teilmengen schneidet, d.h. mindestens ein gemeinsames Element mit jeder Menge hat, die oberhalb eines beliebigen Elements ein Element hat, also ein längeres Anfangsstück, das kohärent ist zu jenem beliebigen Element. Diese Bedingungen haben zur Folge, dass die generische Teilmenge eine unendliche Menge der natürlichen Zahlen bestimmt. Denn aufgrund der ersten drei Bedingungen sind unvereinbare Anfangsstücke ausgeschlossen und enthält die generische Menge von jedem Anfangsstück, das sie zum Element hat, auch alle kürzeren Anfangsstücke. Die vierte Bedingung garantiert darüber hinaus die notwendige Größe der Teilmenge der natürlichen Zahlen, denn ich kann für jede natürliche Zahl n eine dichte Teilmenge so definieren, dass sie alle Anfangsstücke enthält, die festlegen, 41 Im Folgenden benutze ich - anders als etwa Kunen in Set Theory - die intuitivere Definition der Relation, derzufolge die längere Bedingung die größere ist. Diese Definition wurde vor allem von Saharon Shelah geprägt. <?page no="187"?> Von der Menge zur Situation 187 ob n zur möglichen Teilmenge gehört oder nicht. Da diese dichte Teilmenge von der generische Menge geschnitten werden muss, gibt es ein Element in der generischen Menge, das festlegt, ob n ein Element der etwaigen Teilmenge ist. Der Grundgedanke der angedeuteten Konstruktion ist somit, im Ausgangsmodell eine unendliche Teilmenge der natürlichen Zahlen, die nicht Element des Modells ist, durch ihre endlichen Anfangsstücke zu beschreiben. Sie soll dem Modell hinzugefügt werden, um im erweiterten Modell einen Verstoß gegen Cantors Kontinuumshypothese zu erreichen, wofür jedoch eine einzige Teilmenge nicht ausreicht. Eine leichte Modifikation der Konstruktion erreicht das Ziel aber ohne Weiteres: Man betrachtet im Ausgangsmodell nicht nur die endlichen Anfangsstücke einer möglichen Teilmenge der natürlichen Zahlen, sondern für viele mögliche Teilmengen, nämlich im Sinne der zweiten überabzählbar unendlichen Mächtigkeit im Ausgangsmodell, die für den angestrebten Verstoß gegen die Kontinuumshypothese die zu erreichende Größe der Potenzmenge der natürlichen Zahlen markiert. Die Konstruktion wird in der Konsequenz ein wenig komplizierter, aber die methodischen Schritte sind dieselben: Wiederum baut man eine entsprechende Ordnung der endlichen Anfangsstücke auf und betrachtet eine generische Menge, die nun allerdings nicht nur eine, sondern sehr viele Teilmengen der natürlichen Zahlen beschreibt, nämlich von der Anzahl der zweiten überabzählbaren Mächtigkeit. Es muss nun nur noch gezeigt werden, dass keine neuen Abbildungen hinzukommen, durch die die Mächtigkeit der Menge der Teilmengen wiederum verkleinert würde, was aufgrund einer kombinatorischen Eigenschaft der Ordnung aller Anfangsstücke aber gewährleistet ist. 42 Schließlich ist bewiesen, dass die Potenzmenge der natürlichen Zahlen in der Erweiterung mindestens so groß ist wie die zweite überabzählbare Mächtigkeit und die Kontinuumshypothese somit nicht gilt. Da die Erweiterung wiederum ein Modell der Axiome von Zermelo und Fraenkel ist, ist dieser Verstoß gegen die Kontinuumshypothese mit diesen Axiomen konsistent und kann folglich aus ihnen nicht formal hergeleitet werden. Um den Beweisweg in gekürzter Form verständlich zu machen, wurde aber der zentrale technische Zug des Verfahrens in der bisherigen Darstellung ausgelassen. Denn Forcing formalisiert den Bezug des Ausgangsmodells zum erweiterten Modell äußerst präzise. Im Ausgangsmodell werden Mengen konstruiert, die als Namen für jede hinzugefügte Menge aufgefasst werden können. Genauer gesagt, wird die gesamte Erweiterung durch die Auswertung von solchen Namen konstruiert, die anders als die benannten und hinzugefügten Mengen Elemente des Ausgangsmodells sind. Diese Auswertung hängt wesentlich von der generischen Menge ab, weshalb die Erweiterung auch als generische bezeichnet wird. Die generische Menge ist 42 Vgl. die Definition der countable chain condition in Kunen 1980: 53 und für ihre Verallgemeinerungen ebd.: 211ff. <?page no="188"?> Arno Schubbach 188 jedoch nicht Element des Ausgangsmodells. Denn ihre Existenz kann nicht im Ausgangsmodell selbst bewiesen werden, sondern nur in einem größeren Modell, das die generische Menge zum Element hat. Unter der Annahme, dass eine solche generische Teilmenge existiert, kann das Ausgangsmodell jedoch ein, allerdings stets hypothetisches Wissen über die generische Erweiterung erlangen. Es können nämlich nicht nur die Aussagen betreffs der neuen Elemente in der Erweiterung mithilfe von Namen in der sogenannten Forcing-Sprache im Ausgangsmodell korrekt formalisiert werden. Es kann auch gezeigt werden, dass die Gültigkeit von Aussagen in der Erweiterung eng mit der Gültigkeit von Aussagen der Forcing-Sprache im Ausgangsmodell verknüpft ist. Wenn nämlich eine beliebige Aussage in der generischen Erweiterung gilt, so muss in der generischen Menge ein endliches Anfangsstück existieren, das das Pendant dieser Aussage im Ausgangsmodell erzwingt. Unter der Annahme, dass ein bestimmtes endliches Anfangsstück in der generischen Erweiterung enthalten ist, kann aber auch andersherum über die Erzwingung der entsprechenden Aussage der Forcing-Sprache bereits im Ausgangsmodell über die Gültigkeit von Aussagen in der Erweiterung entschieden werden. Die endlichen Anfangsstücke bilden also Bedingungen (conditions) für die Erzwingung gültiger Aussagen innerhalb des erweiterten Modells. Im Ausgangsmodell kann daher durchaus einiges über die generische Erweiterung gesagt und gewusst werden, aber nur unter der Annahme, dass die zugehörige generische Menge bestimmte Bedingungen zum Element hat. Diese Annahme ist zwar kein Gegenstand des Wissens im Ausgangsmodell, aber sobald sie getroffen ist, sind die Konsequenzen für das erweiterte Modell notwendig. Dieser Punkt ist es, den Badiou aufgreift und zum Dreh- und Angelpunkt seiner Philosophie macht. Nachdem er die Mathematik kritisiert hatte, weil sie jedes Ereignis ausschließt, führt er in seiner Deutung von Forcing seine Auffassung des Ereignisses als Moment zur Überwindung der gegenwärtigen Situation aus. Denn ein Ereignis soll zwar dadurch ausgezeichnet sein, dass es nur jenseits des Wissens in einer konkreten Situation stattfinden kann, dennoch muss es Konsequenzen zeitigen - Konsequenzen, die aus Badious Sicht nur im Bezug auf die Wahrheit gezogen werden können. 43 Seine Deutung von Forcing soll diesen Gedanken begründen und schärfen. Sobald im Ausgangsmodell über das gegebene Wissen hinaus gefragt wird, müssen mögliche Bedingungen angenommen und implizit als Elemente der generischen Menge gesetzt werden. Diese Annahme kann in der Ausgangssituation zwar niemals verifiziert werden, weil ihr die generische Menge nicht zugehört. Sie muss aber getroffen werden, um zumindest auf hypothetische Weise etwas über die Erweiterung in Erfahrung zu bringen. Jede solche Annahme steht somit unter der Bedingung einer existierenden gene- 43 Da die Mathematik das Ereignis ausschließt, kann sie Badiou zufolge aber auch nicht denken, was hier mit dem Begriff der Wahrheit auf dem Spiel steht, vgl. Badiou 2005: 401/ Badiou 1988: 391. <?page no="189"?> Von der Menge zur Situation 189 rischen Menge, erlaubt aber den hypothetischen Schluss auf eine Aussage im erweiterten Modell. Badiou konzipiert diesen Bezug deshalb als komplexe Verschränkung von Wissen und Unwissen. Beim Forcing besteht im Ausgangsmodell zunächst ein radikales Unwissen hinsichtlich der generischen Menge und ihrer Elemente, die dort aber dennoch als hypothetische Bedingungen möglicher Aussagen im erweiterten Modell konzipiert werden können. Deshalb ist jenes Unwissen aus Badious Sicht von vornherein auf die Wahrheit in einem erweiterten Modell ausgerichtet. Es impliziert ein hypothetisches oder bedingtes Wissen um eine zukünftige Wahrheit, das seine Bedingungen genau in dieser Wahrheit hat. Mit diesem philosophischen Anschluss an Cohens Forcing zielt Badiou somit auf die Behauptung ab, dass jedes Hinausgehen über eine gegebene Situation zwar bedingt ist, aber eben nicht von den gegenwärtigen Umständen, sondern durch eine zukünftige Wahrheit. Dieser Bezug auf die Wahrheit muss Badiou zufolge als Bedingung der Veränderung oder Überwindung von historischen Situationen begriffen werden. 44 Die philosophische Deutung von Forcing oder des Generischen ist für Badious Denken folglich zentral 45 , weil sie die Ungewissheit des Ereignisses mit dem Bezug auf eine zukünftige Wahrheit verbindet. 46 Indem sie zugleich den unendlichen Abstand und den notwendigen Bezug zwischen der Gültigkeit von Aussagen in der Ausgangssituation und der durch die ungreifbare generische Menge geschaffenen Wahrheit akzentuiert, bestimmt sie den Ort eines Handelns, das sich zwischen einem Ereignis, dessen Stattfinden 44 Vgl. Badiou 2005: 444ff./ Badiou 1988: 434ff. Dieser Bezug auf die Wahrheit ist zentral für Badious philosophischen Einsatz der Mathematik, aber auch für sein Selbstverständnis als Platoniker, vgl. Hallward 2003: 51ff. und 138f. Ebenso ist Badious Verständnis von Geschichte durch den Bezug historischer Situationen auf eine Wahrheit, die er als wesentlich zukünftig fasst, geprägt. Dies zeigt sich in aller Radikalität, wenn er die historischen Kulissen von Heideggers Seinsgeschichte verrückt. Denn Badiou verknüpft seine Annahme, die Mathematik sei die Lehre vom Sein, mit der These, dass die ontologische Frage nicht in den von Heidegger bevorzugten rätselhaft poetischen Texten der Vorsokratiker, sondern in Platons Lehre von den Ideen gestiftet wäre. Badiou betrachtet daher nicht nur die Sehnsucht nach einem Sein, das Heidegger zufolge mit Platon in Vergessenheit geraten sei, als Reaktion auf den Einbruch der Mathematik, der das eigentliche seinsgeschichtliche Ereignis darstellt, vgl. Badiou 2005: 145ff./ Badiou 1988: 143ff. Er vertraut es auch einem mathematischen Diskurs und der nüchternen Arbeit der Mathematiker an: Sie entfalten die Inkonsistenzen des Seins in kohärente mathematische Zusammenhänge, bauen ihre Erkenntnisse fortwährend aufeinander auf und artikulieren damit das Sein auf zunehmend differenzierte Weise. Seinsgeschichte ist bei Badiou somit der unendliche Fortgang der mathematischen Erkenntnis. Hierin liegt auch begründet, dass Badious Charakterisierung der Mathematik sehr wenig um historische Korrektheit bemüht ist, wenn er die Mathematik als solche und insbesondere ihre griechischen Ursprünge immer wieder von den Entwicklungen des 20. Jahrhunderts her versteht. Vgl. dagegen z.B. die skrupulösen Erörterungen zur ‚Rückfrage‘ nach den griechischen ‚Ursprüngen‘ in Derrida 1987. 45 So Badiou selbst bspw. in Badiou 2005: 30/ Badiou 1988: 22f. 46 Vgl. ebd.: 369/ 361 sowie für Badious eigene Zusammenfassung des philosophischen Einsatzes seiner Deutung von Forcing ebd.: 385/ 376f. <?page no="190"?> Arno Schubbach 190 nicht zu beweisen ist, und dessen Konsequenzen aufspannt, die es im Hinblick auf eine ungreifbare Wahrheit zu ziehen gilt. Es ist ein Handeln, das von den Beschränkungen seiner konkreten Situation ausgehen und daher riskante Annahmen treffen muss, sich in diesen beschränkten Annahmen aber zugleich auf eine künftige Wahrheit bezieht. Die Fraglichkeit des Ereignisses und die Lokalität des Handelns erscheinen bezogen auf eine Wahrheit, die die gegenwärtige Situation übersteigt. Badiou setzt sich damit seiner erklärten Absicht nach ebenso vom heutigen Verständnis des Menschen und seiner Rechte ab wie von der Subjektkritik und -rekonzeption seitens anderer poststrukturalistischer Theoretiker. 47 Er umreißt nämlich den Zwischenraum eines Subjekts, das zwischen einem ungewissen Ereignis und dessen Wahrheit, zwischen der Notwendigkeit der Entscheidung über mögliche Konsequenzen und ihrer zukünftigen Bewahrheitung steht. 48 Das Subjekt partizipiert aber auch an dieser Wahrheit. Denn es ist für Badiou nicht zuallererst Bewohner einer Situation. Es hat seine wesentliche Bedingung nicht in der Zugehörigkeit zur gegebenen Situation, sondern in einer künftigen Wahrheit, auf die es vorgreift, wenn es über das Stattfinden eines Ereignisses entscheidet und dessen Konsequenzen zieht. Es muss so zwar im Glauben an ein Ereignis und in der riskanten Annahme von dessen endlichen Konsequenzen handeln, kann dadurch aber an der Erzwingung einer unendlichen Wahrheit mitwirken, die seine eigenen Annahmen allein abstützen könnte. Das Subjekt ist für Badiou somit ein Kämpfer für die Überwindung des Gegebenen und eine zukünftige Wahrheit, gleichsam ein Agent oder Aktivist eines Forcings bzw. der Erzwingung. Indem es im Vorgriff auf eine neue unendliche Wahrheit über ein Ereignis und dessen endliche Konsequenzen entscheidet, erzwingt es diese Wahrheit. 49 Es führt sie mit herbei, kann sie aber genauso wenig wie alle anderen Subjekte erreichen, die sich ebenso im Glauben an ein Ereignis, dessen Stattfinden stets fraglich bleibt, für die Wahrheit engagieren. Es stellt sich abschließend jedoch erneut die Frage nach der Rolle der Mathematik in diesem Gedankengang. Mit Hinblick auf die Überwindung gegebener Situationen in einer transzendenten Wahrheit lässt Badiou in den Hintergrund treten, dass das Verfahren für die Mathematik in erster Linie von Interesse ist, um durch die gezielte Erweiterung des Modells bestimmte Aussagen zu erzwingen und damit ihre Konsistenz zu den Axiomen von Zermelo und Fraenkel zu beweisen. Er arbeitet in seiner Deutung dagegen in erster Linie Aspekte heraus, die den Bezug des Ausgangsmodells auf die Erweiterung betreffen, und geht dabei stets davon aus, dass eine solche generische Erweiterung und die durch sie geschaffene Wahrheit existieren. 47 Vgl. Badiou 2003: 22ff. Vgl. z.B. hinsichtlich Jacques Derrida meine Ausführungen im dritten Teil von Schubbach 2007: 135ff. Vor allem hinsichtlich der Konzeptionen von Ereignis und Subjektivität wäre m.E. eine differenziertere Auseinandersetzung zwischen Positionen Derridas und Badious dringlich. 48 Vgl. zum Folgenden Badiou 2005: 440ff./ Badiou 1988: 430ff. 49 Vgl. exemplarisch ebd.: 371/ 363. <?page no="191"?> Von der Menge zur Situation 191 Jedoch gilt es in dieser Hinsicht zu bedenken, dass die spezifische Ordnung der Bedingungen, die im Ausgangsmodell konstruiert wird, von der konkret zu erzwingenden Aussage abhängt. Denn Forcing ist kein Verfahren, das für jede beliebige Aussage einfach durchzuführen wäre. Vielmehr muss eine geeignete Ordnung von Bedingungen gefunden werden, um die konkrete Aussage zu erzwingen. Die durchaus schwierige technische Kunst besteht darin, diese Bedingungen und ihre Ordnung so zu konstruieren, dass bestimmte Mengen, aber nicht zu viele andere hinzugefügt werden. In Badious Umdeutung würde dies zur Folge haben, dass nicht nur das Stattfinden des Ereignisses und seine Konsequenzen ungewiss sind. Auch die Form der Konsequenzen und der Weg zu ihrer Erzwingung sind fraglich, da der technische Apparat eines Forcings in Abhängigkeit von der spezifischen zu erzwingenden Aussage und also im Vorgriff auf die mögliche zukünftige Wahrheit neu eingerichtet werden muss. In der zu überwindenden Situation ist deshalb keineswegs die Frage beantwortet, in welcher Form sich die endlichen Konsequenzen des mutmaßlichen Ereignisses darstellen können und wie sie ausgehend von den Gegebenheiten der gegenwärtigen Situation tatsächlich zu ziehen sind. Schließlich gilt es zu berücksichtigen, dass die Existenz der generischen Menge nicht im Ausgangsmodell bewiesen werden kann, sondern nur in einem größeren Modell, das jenes zum Element hat. Es greifen damit gleichsam verschiedene ‚Perspektiven‘ ineinander: Zunächst gibt es das Ausgangsmodell, in dem die Bedingungen und ihre Ordnung zu konstruieren sind; sodann wird dieses aber als ein Element in einem größeren Modell der Axiome von Zermelo und Fraenkel betrachtet, um die Existenz einer generischen Menge zu beweisen. Allein durch dieses größere Modell kann die Existenz der generischen Erweiterung und damit die Möglichkeit der Erzwingung bzw. die Gültigkeit von erzwingenden Aussagen in der Erweiterung sichergestellt werden. Stellt das Ausgangsmodell jedoch eine politischhistorische Situation dar, bleibt rätselhaft, wie ein solches größeres Modell zu konkretisieren wäre, und scheint dessen Existenz letztlich fragwürdig. In der Folge steht aber die Möglichkeit zur Überwindung der Situation wie der Erzwingung ihrer Wahrheit in Frage. Das Subjekt läuft demnach stets Gefahr, zumindest nach badiouschen Voraussetzungen, vergeblich zu handeln, weil es eine Wahrheit, die es im Glauben an ein Ereignis zu erzwingen gälte, schlicht nicht geben muss. Genauer gesagt, wäre ein Handeln, das seine wesentliche Bedingung im Bezug auf eine zukünftige Wahrheit hätte, prinzipiell in Frage gestellt. Denn diese zukünftige Wahrheit steht nicht nur als konkrete Aussage auf dem Spiel, sondern als Bezug des Ausgangsmodells auf die mögliche Erzwingung überhaupt und damit als Wahrheit im badiouschen Sinne. Es soll hiermit nicht behauptet sein, dass ein solcher alternativer Zugang eine angemessenere philosophische Deutung von Forcing wäre. Es sollte jedoch angedeutet werden, dass auch andere Züge des Verfahrens hervorgehoben werden könnten und dadurch zentrale philosophische Pointen von <?page no="192"?> Arno Schubbach 192 Badious Anschluss sogleich infrage gestellt wären. Seine Deutung scheint insofern fragwürdig, als die Mathematik eine philosophische Argumentation begründen soll und dabei die bereits vorangegangene philosophische Deutungsleistung unterschlagen wird. Sobald dieser Begründungsanspruch zurückgeschnitten und die Übertragung der Mathematik auf philosophische Fragestellungen reflektiert wird, kann Badious Metaontologie aber als ein hochgradig komplexer und entfalteter Versuch zur mathematischen Heuristik von politischen Situationen und menschlicher Existenz diskutiert werden. Nachdem sich Philosophie und Mathematik längst ausdifferenziert haben, hat er damit den philosophischen Nutzen der Mathematik erneut zur Diskussion gestellt. Diese Diskussion scheint insofern nicht vergeblich, als mathematische Begriffe, Zusammenhänge und Verfahren ein hohes Maß an Komplexität und Strenge zugleich zur Verfügung stellen können, um Verhältnisse in anderen Feldern zu beschreiben. Die von Badiou verfolgte Konzentration auf die jüngeren Forschungen aus der Mengentheorie scheint dabei auch jenseits von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie von philosophischem Interesse. Denn die Mathematik arbeitet hier mit aller Strenge ihrem klassischen Verständnis entgegen und stellt damit ein Ideal von Erkenntnis infrage, in dem sich die Philosophie mitunter bis heute wiederzuerkennen glaubt. Literaturverzeichnis Aczel, Peter, Non-well-founded Sets, Stanford CA 1988. Badiou, Alain, Le concept de modèle. Introduction à une épistémologie matérialiste des mathématiques, Paris 1969. Badiou, Alain, L’être et l’événement, Paris 1988. Badiou, Alain, Gott ist tot. Kurze Abhandlung über eine Ontologie des Übergangs, übers. von Jürgen Brankel, Wien 2002. Badiou, Alain, Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, übers. von Jürgen Brankel, Wien 2003. Badiou, Alain, Das Sein und das Ereignis, übers. von Gernot Kamecke, Zürich/ Berlin 2005. Black, Max, Models and Metaphors. 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Ein Bericht, übers. von Otto Pfersmann, Graz/ Wien 1986. Schubbach, Arno, Subjekt im Verzug. Zur Rekonzeption von Subjektivität mit Jacques Derrida, Zürich 2007. <?page no="195"?> Mark Potocnik Das Poem als Verfahren. Mallarmé mit Badiou Unter den Dichtern, auf die sich Alain Badiou immer wieder bezieht, kommt Stéphane Mallarmé eine besondere Stellung zu. Dieser Umstand ist wohl weniger darauf zurückzuführen, dass Mallarmé gemeinhin als ein rätselhafter und damit schwieriger Dichter gilt, als vielmehr darauf, dass es bei Badious Bezugnahmen auf Mallarmé immer auch um das Rätsel selbst zu gehen scheint. Denn es gibt einen Zug an den Gedichten von Mallarmé, der Alain Badiou besonders interessiert: das Detektivische. Da das Poem nach Badiou eine Aufgabe des Denkens ist, besteht die poetische Arbeit nicht zuletzt darin, aus dem Poem eine Übung zu machen, die den zufälligen Ereignissen auf die Spur kommen will. Diese Übung vollziehen die Gedichte Mallarmés. Sie sind Stätten der Wahrheit, Stätten, an denen das ausgelöschte Ereignis hervorgetreten ist. In den Gedichten Mallarmés verweisen so die Zeichen stets auf ein Rätsel: „Von welchem Verbrechen, welcher Katastrophe, welcher großen Verfehlung zeugen die Zeichen dieses leeren Salons, dieser Vase, dieses dunklen Meeres? “ 1 Was das Poem für die philosophische Reflexion eröffnet, ist ein Raum, der von Spuren und Zeichen durchzogen ist, eine dramatische Konstellation, die auf ein Ereignis in seinem Verschwinden verweist. Es geht dem Poem also darum, ein Ereignis im Moment seines Verschwindens aufzuspüren und das flüchtige „Es gibt“ 2 des Ereignisses in der Sprache zu verewigen. Damit gleicht es einem Detektiv, der, noch bevor er etwas weiß und noch bevor er den Tatort untersucht hat, darauf wettet, etwas sei geschehen. Gesetzt, die Philosophie Badious bleibt dem Poem treu, so bleibt sie ihm treu, indem sie einem Spurensucher gleicht. Es gibt auch etwas Detektivisches in Badious Philosophie. Denn auch Philosophie ist eine Übung des Denkens, oder besser: Sie ist eine Übung im Denken des Denkens. Ihre Aufgabe besteht darin, Denken als Denken des Denkens in den vier Bedingungen Liebe, Wissenschaft, Politik und Kunst aufzuspüren und zu identifizieren. So ist die Philosophie jenseits des etablierten Wissens auf der Suche nach jenen Ereignisstätten in den vier Bedingungen, aus denen Wahrheitsprozeduren hervorgehen. Denn mögen die Wahrheiten in den vier Bedingungen auch „seltene, oft kurze Versuche“ sein, sie sind „die einzigen, unter deren Bedingung Philosophie denken kann“. 3 Nur dadurch, dass der Philo- 1 Badiou 2005: 219. 2 Ebd. 3 Badiou 2003: 110. <?page no="196"?> Mark Potocnik 196 soph die Wahrheiten in den Bedingungen aufspürt und in ihnen die seltenen Versuche einer Wahrheitsprozedur erkennt, kann überhaupt Wahrheit als Wahrheit gedacht werden. „A Truth must find its philosopher, in whatever guise, in order to be identified and affirmed as truth.“ 4 Wie kommt man einer Wahrheit also auf die Spur? Es scheint diese Frage zu sein, die Badious Philosophie umtreibt und die sein Denken der Kunst anleitet. Im Fall des Poems heißt das, sich den Operationen und Verfahren zuzuwenden, aus denen man ablesen kann, dass das Poem ein Ort der Wahrheit ist. Der Schnitt durch das Poem: Einer der Orte, an denen der Philosoph eine Wahrheit aufspüren kann, ist also das Poem. Es ist dieser Grundsatz, dem sich die Philosophie Alain Badious verpflichtet fühlt und aus dem sie die Konsequenzen zieht. Denn wenn das Poem die generische Wahrheit des Sinnlichen als Sinnlichen ausstellt 5 , dann schneidet es alle Linien der Kommunikation ab und schlägt ein Loch ins Gewebe des Wissens. Es unterbricht die Macht der Kommunikation und des Wissens, indem es eine „poetische Diagonale“ 6 durch den alltäglichen, ökonomischen und gewöhnlichen Gebrauch der Sprache zieht: Was das Poem so zu kommunizieren hat, ist, dass es nichts zu kommunizieren gibt. Es ist isoliert und ohne Vermittlung. Erst indem es Wörter nicht mehr auf Dinge bezieht oder die Sprache nicht mehr auf Welt, wird es ihm möglich, die Macht der Sprache von jedem existierenden Regime der Repräsentation zu befreien. Das Poem erweist so die Mächtigkeit der Sprache als solcher und subtrahiert die Sprache vom Wissen. Damit deklariert es vom einen zum anderen Ende sein eigenes Universum. Und seine Deklaration verkündet: Alle Wörter sind gleich. Was Badiou aus diesem Grund bemerken kann, ist, dass die Benennung des Ereignisses immer poetisch ist. 7 Was in allen vier Bedingungen der Philosophie so vorkommen kann, ist ein poetischer Akt. Poetische Akte gibt es insofern auch in den drei Bedingungen diesseits der Kunst. Und es gibt sie in der Politik, in der Liebe und in der Wissenschaft gerade in den Momenten, in denen ein Ereignis durch ein Subjekt benannt wird. Es kann an dieser Stelle nun nicht darum gehen, das Verhältnis der vier Bedingungen Liebe, Wissenschaft, Politik und Kunst untereinander und ihr Verhältnis zur Philosophie zu klären - eine solche Analyse hätte sicherlich beim Begriff der Subtraktion anzusetzen 8 -, entscheidend ist vielmehr, dass aus der Deklaration des Poems: „Alle Wörter sind gleich“ auf den poetischen Charakter der Benennung eines Ereignisses geschlossen werden kann. Denn Poesie ist laut Badiou eine Tätigkeit, die die Leere selber ausdrückt und die eine Sprache ohne Referenz und Objekt gebraucht. Und sie ist die Sprache der Erfindung. Die ereignis- 4 Hallward 2003: 243. 5 Vgl. zu dieser Formel Badiou 1989: 266. 6 Badiou 1992 (f): 32. 7 Vgl. Badiou 1992 (a): 100. 8 Zum Begriff der Subtraktion vgl. Badiou 1992 (d) und Wahl 1992. <?page no="197"?> Das Poem als Verfahren 197 hafte Benennung eines Ereignisses besteht in diesem Sinne in einer Schöpfung von Termen, die „im Allgemeinen keinen Referenten in der Situation“ 9 besitzen. Vielmehr generiert das Poem in einer Situation Terme, deren Referenten im Futur II stehen. Rimbauds „Nous t’affirmons, méthode! “ 10 oder die Formel von den „révoltes logiques“ 11 legen davon Zeugnis ab. Aber auch die Künstler des 20. Jahrhunderts haben „Schritt für Schritt Konfigurationen geschaffen, die erst heute lesbar sind“. 12 Insofern bekundet das Poem die Macht der Sprache, indem es sowohl Namen oder Terme schafft für etwas, das noch nicht existiert, als auch indem es für immer das Vergehen des Ereignisses festzuhalten vermag, dem es einen Namen verleiht. Und weil es die Macht der Sprache kundtut, ist das Poem die Unterbrechung all dessen, auf das sich die Enzyklopädie der Situation stützt. 13 Kunst ist für Badiou eine der vier Bedingungen der Philosophie, in denen sich Wahrheitsprozeduren entfalten. Wie jede politische, wissenschaftliche oder amouröse Wahrheit ist auch eine artistische Wahrheitsprozedur an ein Ereignis gekoppelt und wird als solche von einem Subjekt aufrechterhalten. Was in einer historischen Situation formlos und das heißt inexistent ist, ist in eine Form und damit in eine Existenz zu überführen - darin besteht das künstlerische Ereignis. Da die Kunst sich im Feld des Sinnlichen situiert, legt das künstlerische Ereignis so die Möglichkeit dar, was bisher als monströs oder formlos betrachtet wurde, als formbar oder als Material für eine neue Formgebung oder als ein In-Form-Bringen zu begreifen. 14 Das Ereignis im Feld der Kunst ist also die Darlegung der Möglichkeit eines In-Form-Bringens des Formlosen. Als Möglichkeit ist es von daher weniger ein einzelnes Werk, z. B. Mallarmés L’àprès-midi d’un faune, als vielmehr ein Cluster von Werken, die alle mehr oder weniger in der gegebenen historischen Situation unverortbar sind. 15 Aber eine Wahrheitsprozedur in der Kunst ist ans Werk gebunden, allerdings nicht in der Form, dass sich die künstlerische Wahrheit in einzelnen Kunstwerken verorten ließe oder dort gar manifest würde. Werke werden vielmehr durch einen künstlerischen Vorgang hervorgebracht. Das Poem als Werk ist insofern Subjekt der Wahrheitsprozedur. Es ist eine „lokale Instanz“ und damit „der differentielle Punkt einer Wahrheit“. 16 Jedes singuläre Poem konstituiert sich als subjektiver Punkt einer artistischen Wahrheit, und 9 Badiou 2005: 446. 10 Rimbaud 1992: 254. 11 Ebd.: 290. 12 Badiou 2007: 19. 13 Zur Enzyklopädie vgl. Badiou 2005: 369-377. Zugleich aber gibt es kein Poem des Poems, gibt es kein Meta-Poem. Das Poem selbst bleibt für das Poem unnennbar. „Das Poem, dessen einzige Pflicht es ist, die Macht der Sprache kundzutun, ist ohnmächtig, sie wahrhaft zu nennen“, Badiou 1994: 51. 14 Vgl. Hallward 2003: 195f. 15 Vgl. ebd.: 196. 16 Badiou 2001: 21. <?page no="198"?> Mark Potocnik 198 als ein solcher subjektiver Punkt des Wahrheitsgeschehens stellt es eine Untersuchung in die künstlerische Wahrheit der historischen Situation dar, die es aktuell lokalisiert oder von der es endliches Fragment ist. Als differenzieller Punkt und als lokale Instanz ist das Poem die Entfaltung einer unendlichen Wahrheitsprozedur, die es in einer endlichen Untersuchung in die Form des Werks bringt. Damit wird deutlich, dass es eine Dynamik gibt, die sich durch das Poem zieht. Es ist so eher ein Vorgang als ein Zustand, eher ein Prozess als eine Struktur, eher ein Geschehen als ein Gegenstand. Von daher sind zwei Perspektiven auf das Poem möglich. Einmal kann man in ihm einen Gegenstand, eine Struktur oder einen Zustand erkennen und ein anderes Mal einen Vorgang, Prozess oder ein Geschehen an ihm in den Blick nehmen. Denn richtet man den Blick auf das Poem als Werk, so stellt es sich als endlich dar und das aus drei Gründen: Erstens stellt sich das Werk als endlicher Gegenstand in Zeit und Raum dar. Dieser Satz besagt, dass ein Gemälde, eine Installation, eine Aufführung einen bestimmten Platz im Raum/ Zeit-Kontinuum einnehmen kann, und er besagt, dass zum Beispiel ein literarisches Werk sich aus der endlichen Anzahl von Buchstaben oder ein tonales Werk aus der endlichen Anzahl von Noten zusammensetzt; zweitens ist ein Werk stets auf Vollendung angelegt. Es lebt im Erreichen seiner eigenen Grenze, alles in ihm weist darauf hin, dass es die gesamte Perfektion entfaltet, zu der es imstande ist. Jedes Werk ist auf die Perfektion hin angelegt, es weist aus sich selbst auf seine Vollendung hin. Jedes Werk schöpft somit die ihm immanenten Möglichkeiten der artistischen Gestaltung vollständig aus. Goethe Wahlverwandtschaften sind so vollendet wie Musils Mann ohne Eigenschaften. Dieser Satz führt zu dem Paradox, dass jedes Fragment in sich vollendet ist, es ist genauso vollendet wie ein abgeschlossenes Werk. In diesem Sinn kann kein Kunstwerk scheitern, oder anders: noch sein Scheitern offenbart seine Vollendung oder verweist auf seine Vollendung. Entweder verweist das Werk als Fragment auf seine Vollendung oder es ist als Fragment vollendet; und drittens leitet das Werk in sich selbst die Frage nach seinem Zweck an, es stellt überzeugend seine eigene Endlichkeit dar. Dadurch wird es unersetzbar. Jegliche Modifikation oder Überarbeitung ist unwesentlich oder zerstörerisch. Jedes Werk ist in sich selbst ein Zweck. Man kann aus diesem Satz auf die Autonomie des Werks schließen. Es unterliegt nicht politischen, wissenschaftlichen oder amourösen Zwecken, gleich welchen Zweck man mit ihm verfolgen und welchem Zweck man es aussetzen wollte. Mag man ein Werk auch zu einem sakralen Objekt erheben, diese Modifikation ändert nichts an seinem Status als Kunstwerk, mag man es nachträglich zerstören oder mag es nur noch als Torso überliefert sein, nichts an dem ändert etwas daran, dass es ein Kunstwerk ist. Richtet man den Blick dagegen auf die Wahrheitsprozedur, deren lokale Instanz und deren differenzieller Punkt das Werk ist, dann scheint die Wahrheitsprozedur mit dem Vorgang der Schrittfolge des Poems verbunden. Das Poem ist dann kein erratischer Block mehr. Es entfaltet sich viel- <?page no="199"?> Das Poem als Verfahren 199 mehr in Operationen und Vorgehensweisen, die nach und nach in der Situation als formlos erscheinende Elemente aus dem Bereich des Sinnlichen in eine Form überführen. Die Gesamtheit solcher Operationen fasst Badiou unter den Begriff Untersuchung. Eine Untersuchung besteht darin, dass im Vorgang, der das Formlose in die Form bringt, Schritt für Schritt Vorstöße in die Wahrheit des Ereignisses gemacht werden. Diese Vorstöße aber sind selbst rein aleatorischer Natur. Nichts bestimmt und nichts legt fest, welches Element aus der Situation in einem Schritt der Untersuchung daraufhin befragt wird, ob es der Wahrheitsprozedur angehört oder nicht. In diesem Sinne ist jedes Poem ein aleatorisches Verfahren, dessen Sequenzen und Serien als eine Sache des Zufalls erscheinen. Eine solche Untersuchung, die immer nur die endliche Menge einer „unendliche[n] Treueprozedur“ 17 ist, geht in der Kunst schrittweise, das heißt nach und nach, die sinnlichen Vielheiten einer Situation durch und verknüpft sie oder verknüpft sie nicht mittels des „Treueoperator[s]“ 18 mit dem „überzähligen Namen des Ereignisses“ 19 . Durch das Poem geht also ein Schnitt. Oder anders gesagt: Auf der einen Seite ist es eine Instanz, ein Punkt, ein endlicher Gegenstand und auf der anderen Seite ein Vorgang, eine Untersuchung oder Ermittlung, die sich dem Blick des Philosophen nachträglich enthüllt. „Denn eine Untersuchung gilt rückwirkend als reales Kunstwerk in dem Sinne, als es sich um eine Untersuchung handelt, die es noch nie gab, als ein ganz neues Punkt-Subjet eines Wahrheitsfadens.“ 20 Nachträglich, also nachdem das Werk real und manifest geworden ist, kann aus ihm auf den Vorgang seiner Produktion zurückgeschlossen werden. Und das, weil sich im Werk Spuren seiner Produktion verkörpern, weil es eine Untersuchung ist, die Schritt für Schritt vorgeht, und weil seine ‚Realität’ immer auf das futur antérieur seiner Produktion verweist. Der philosophische Blick auf die interne Dynamik, die das Werk durchzieht, ist somit immer einer, der mit dem futur antérieur des Werks rechnet. Es wird sich im Verlauf der Argumentation zeigen, dass in diesem Schnitt, der durch das Poem geht, der Ansatzpunkt liegt für das, was Badiou in Peut-on penser la politique? einmal die „interprétation-coupure“ 21 nennt, einen Interpretationsschnitt, unter dem man ein subtraktives Verfahren der ‚Lektüre’ von literarischen Texten verstehen kann. Indem das Poem sich nachträglich als dynamisch, und das heißt als eine schrittweise Deduktion, deren einzelne Schritte aber ganz dem clinamen der Aleatorik überantwortet sind, identifizieren lässt, kann Badiou sagen: „Ce que dit le poème, il le fait.“ 22 Die performative Dimension des Poems, die man aus diesem Satz ableiten kann, bleibt an die nachträgliche Identifikation 17 Badiou 2005: 379. 18 Ebd.: 268. 19 Ebd.: 371. 20 Badiou 2001: 21. 21 Badiou 1985: 14. 22 Badiou 1982: 99. <?page no="200"?> Mark Potocnik 200 des Poems als Operation gebunden. Damit aber lässt es sich nachträglich als ein Verfahren bestimmen, und zwar als das Verfahren einer schrittweisen Untersuchung der Wahrheit des Ereignisses. Die Gedichte Mallarmés zum Beispiel - und Mallarmé ist laut Badiou der emblematische Name für das artistische Paradigma par excellence, wenn es um das Poem geht - sind in diesem Sinne selbst Spuren eines Vorgangs oder Verfahrens. Was das Poem sagt, macht es. Die performative Dimension des Poems ist also dadurch gekennzeichnet, dass es als Verfahren eine Wahrheit prozessiert. Es ist eine kleine militante Maschine, die Sätze und Aussagen produziert, Spuren, Reste, Materialien einer Wahrheit. Diese sind nicht Segmente einer Bedeutung, vielmehr sind sie von jeglicher Bedeutung abgezogen oder subtrahiert. Zwar produziert das Poem als Verfahren ein Geheimnis (und in diesem Sinne ist Mallarmé hermetisch), aber im Geheimnis liegt nur die Aufforderung verborgen, sich auf den Vorgang des Gedichts einzulassen. Es geht nicht darum, eine Wahrheit aufzufinden, eine Wahrheit, die vor ihrer Dekodierung existieren würde, vielmehr geht es darum, eine Wahrheit zu entfalten, die sich buchstäblich selbst produziert in Form eines Rätsels und in Form einer Grenze der Nicht-Signifikation. Das Geheimnis ist schließlich, dass es kein Geheimnis gibt, da alles, was das Poem zu sagen hat, ausgebreitet vor einem liegt - verstreut, zerstreut und verteilt über das weiße Papier, schwarz auf weiß, in der Konstellation, die der Text für immer ist, wenn die Würfel einmal gefallen sind. Das Poem präsentiert sich selbst, und darin liegt seine wesentliche Natur, dass es wie eine Denkmaschine Blitze der Wahrheit produziert. Die Methode Mallarmés: Die „syntaktische Maschinerie“ 23 , die Badiou in den Gedichten von Mallarmé ausmacht, verweist auf eine spezifische Methode Mallarmés. Dabei ist es wichtig, die Methode nicht mit dem Verfahren des Poems zu verwechseln, da das Verfahren immer partikular und auf das einzelne Werk bezogen ist. Die Methode ist demgegenüber eher das Verfahren der Verfahren, die unter einem singulären Namen auf die Vielzahl der einzelnen Verfahren der einzelnen Werke bezogen werden können. Die Einführung eines Begriffs der Methode, die als solche mit einem Namen, zum Beispiel ‚Mallarmé’, belegt werden kann, erlaubt es Badiou, nicht auf den Autor zurückgreifen zu müssen und damit nicht eine transzendentale Instanz hinter den Gedichten annehmen zu müssen, ein gleichsam ‚schöpferisches Subjekt’, dass mit der realen Person des Autors verschmelzen würde. An Autoren als ‚schöpferischen Subjekten’ sowie am Begriff einer ‚schöpferischen Subjektivität’ ist Badiou nicht interessiert. Vielmehr bringt die Methode den Autor geradewegs zum Verschwinden. Wenn Pierre Macherey gefragt hat 24 , auf welchen Mallarmé Alain Badiou sich eigentlich beziehe, so muss man also antworten, dass der Name ‚Mallarmé’ bei Badiou nicht ein 23 Badiou 2001: 60. Zur poetischen Maschine bei Rimbaud vgl. Badiou 1992 (c): 130. 24 Macherey 2005: 110. <?page no="201"?> Das Poem als Verfahren 201 Autor-Individuum bezeichnet, welches auf eine bestimmte Weise gelebt und dies oder jenes getan hat. Der Mallarmé, auf den Badiou sich bezieht, bleibt dem Anspruch treu, den Mallarmé in einer Vielzahl seiner eigenen poetischen oder theoretischen Produktionen geäußert hat. Purifiziert und insofern in eine Figur seines Werks transformiert, ist der Mallarmé, von dem Badiou spricht, in gewisser Weise ein Mallarmé von Mallarmé. Es ist ein Mallarmé, von dem man, nach der treffenden Einsicht von Pierre Macherey, sagen könnte, dass er der Mallarmé ist, den die Ewigkeit aus ihm gemacht hat, der Mallarmé, der, ganz im mallarméschen Sinn des Wortes, zu seinem eigenen ‚Grab’ geworden ist. 25 Wenn die Methode das Verfahren der einzelnen Verfahren der Werke vorstellt, wenn es also in diesem Sinne eine ‚Methode Mallarmés’ gibt, kann man daraus den Schluss ziehen, dass die Methode selbst eine Sequenz ist, die sich durch einen Korpus hindurch entfaltet und als solche aus einem Körper von Werken besteht, der eine Diagonale durch die Gesamtheit der mallarméschen Schriften zieht. Versteht man unter Korpus sämtliche Schriften, Notizen und Aufzeichnungen Mallarmés, die er hinterlassen hat, so kann der Körper der Methode nicht mit dieser Gesamtheit aller Schriften Mallarmés zusammenfallen, aber zugleich setzt er sich allein aus den Elementen zusammen, die den Schriftkorpus Mallarmés bilden. Der Körper steht dem Korpus also nicht unbedingt entgegen. Vielmehr bildet der Körper eine ‚Diagonale’ aus, die sich durch den Korpus hindurchzieht und ihn teilt. Die Methode garantiert im Körper insofern die Gleichheit der Werke als Punkt-Subjekte eines Wahrheitsgeschehens. Die Methode ist das ‚Diagonalverfahren’ 26 , von dem her man einen Dichter und seinen Korpus rezipieren und denken kann. Und die Methode, „der meist sehr komplexe Prozess, den er [der Dichter, M.P.] ins Werk setzt, um Wahrheiten statt Wissen hervorzubringen“ 27 , erlaubt es, die Dichter und ihre Körper zu unterscheiden, und sie erlaubt damit, eine Konfiguration als Entfaltung einer Wahrheitsprozedur nachträglich zu strukturieren. In diesem Sinne ist die Methode ein Körper, der sich aus dem Korpus der gesammelten Werke zusammensetzt, und in diesem Sinne erlaubt es die Methode, zur Konfiguration überzugehen, da sich jede Konfiguration aus einer Vielzahl von Werken und damit auch aus einer Vielzahl von Körpern zusammensetzt. 25 Macherey 2005: 110. 26 ‚Diagonale’ und ‚Diagonalverfahren’ wären in diesem Sinne philosophische Begriffe. Wenn die Philosophie die Kompossibilität zwischen ihren vier Bedingungen herstellt, dann hat das zur Folge, dass auf der Ebene philosophischer Begriffsbildung ein Term aus einer der vier Bedingungen entnommen, in seinen philosophischen Konsequenzen entfaltet und in seiner Kompossibilität mit den anderen drei Bedingungen ‚angewandt’ werden kann. Der Begriff ‚Diagonalverfahren’ würde insofern auf Georg Cantor und seine Untersuchung „Über eine Eigenschaft des Inbegriffs aller reellen algebraischen Zahlen“ verweisen, ohne dass daraus eine unmittelbare Verbindung zwischen den poetischen Verfahren und den mathematischen Operationen folgt. Vgl. Cantor 1932. 27 Badiou 1998: 74. <?page no="202"?> Mark Potocnik 202 Konfigurationen: Mit dem Begriff der Konfiguration erweitert sich Badious Blick auf die Kunst. Es geht nicht mehr nur um Werke und Methoden, vielmehr wird es mit dem Begriff der Konfiguration möglich, die Frage nach der Einheit der Kunst selbst zu stellen. Für Badiou ist eine Konfiguration dabei weder die Kunst selbst noch eine Gattung noch eine objektive Zeitspanne noch ein technisches Dispositiv. All diese Bestimmungen der Konfiguration würden die Neuheit, die jede Konfiguration als generische Wahrheitsprozedur eines artistischen Ereignisses ist, negieren. Deshalb gilt es, diese Negationen zu negieren. Und doch kann man nicht bei der Negation der Negation stehen bleiben. Es gilt, zu einer affirmativen Aussage über die Konfiguration zu gelangen: „Sie [die Konfiguration, M.P.] ist eine durch Ereignisse ausgelöste identifizierbare Sequenz, die sich aus einem Komplex unendlich virtueller Werke zusammensetzt.“ 28 Jenseits der Methode, oder wie man auch sagen könnte, jenseits der Eigennamen, die eine Konfiguration nachträglich strukturieren, existiert eine unendliche Vielzahl an Werken, existent oder virtuell, die Teil der Konfiguration sind. Als unendliche Wahrheitsprozedur, die sich ausgehend von einem Ereignis entfaltet, setzt sich eine Konfiguration aus einer Vielheit von Vielheiten zusammen, seien diese existent oder virtuell. Die Konfiguration schöpft so die Potenz des Wahrheitsprozesses aus, sie ist ein generisch Mannigfaltiges. „Die Kunstwerke stellen eine Wahrheit auf der Ebene bereits geschehener Ereignisse her, durch die der Drang [contrainte, M.P.] zur künstlerischen Konfiguration geschaffen wird.“ 29 Zwischen den Werken existiert der Zwang (contrainte). Denn es ist der Zwang, durch den die Werke als differenzielle Punkt-Subjekte der Wahrheit eine Einheit zusammensetzen, die Einheit der Kunst. So ist es die Konfiguration, unter der die Einheit der Kunst gedacht werden kann. Doch diese Einheit ist eine, die nur im Modus des Zwischen existiert, im Modus des Zwangs. Die Einheit ist also immer eine zwischen Vielheiten von Vielheiten. Wenn die Werke als Punkt-Subjekte somit den Zwang zur künstlerischen Konfiguration einrichten, wenn sie einen Drang instituieren und zur Institution drängen, so ist der Zwang einerseits nichts anderes als das Auf-Dauer-Stellen des Zwangs zur Einheit selbst, andererseits aber ist diese Einheit nichts als eine inkonsistente Einheit, da sie sich aus nichts anderem zusammensetzt als aus der Vielheit von Werken, d.h. aus einer Vielheit von Vielheiten. Insofern kann Badiou sagen, dass eine Konfiguration durch nichts in sich selbst begrenzt wird und sich in ihrer Endlichkeit darstellt. Eine Konfiguration hat so weder eine abgeschlossene Kontur noch lässt sie sich ausschöpfen noch je vollständig beschreiben. Weil eine Konfiguration nun dieser Drang oder Zwang zur Einheit ist, kann sie, wie Badiou sagt, einen Höhepunkt am Ende nicht zur Kenntnis nehmen. Eine Konfiguration kann nicht ihr Ende 28 Badiou 2001: 22. 29 Ebd.: 21. <?page no="203"?> Das Poem als Verfahren 203 identifizieren, ihr Ende als Ende. Als intrinsisch unendliche Wahrheitsprozedur untersteht sie ja auch dem Imperativ „Weitermachen! “ 30 Man könnte demnach sagen, es bedürfe der Philosophie, um das Ende einer Konfiguration zu identifizieren. Und darum kann Badiou auch sagen, eine Konfiguration komme oft an der Fuge, am Gelenk zwischen Poesie und Philosophie zur Erscheinung. Daraus aber kann man nicht ableiten, dass die Philosophie die Kunst denkt. Denn wäre die Philosophie einzig das Denken der Kunst, so wäre die In-Ästhetik letztlich doch nichts anderes als eine Ästhetik, da die Leistung der Ästhetik gerade darin besteht, die Kunst von der Wahrheit abzutrennen und sie in den Rang eines Wissensobjekts zu erheben. In Wirklichkeit ist es die Konfiguration selbst, die sich denkt. Und sie denkt sich in den Kunstwerken, durch die sie zusammengesetzt wird. Denn ein Kunstwerk ist eine schöpferische Untersuchung in die Konfiguration selbst, unter der Prämisse, die Vollendung der Konfiguration zu denken. Jedes Kunstwerk denkt so, was die Konfiguration gewesen sein wird. In diesem Sinne denkt jedes Kunstwerk die Vollendung der Konfiguration, wobei die Vollendung einer Konfiguration niemals mit ihrem Ende zusammenfällt. Es lässt sich an dieser Stelle bemerken, dass die Logik der Nachträglichkeit, die man am Werk beobachten konnte, wieder ins Spiel kommt. In diesem Sinn lässt sich ein Werk als eine Vielheit von Vielheiten vorstellen, eben weil jedes Werk die Konfiguration denkt. Und die Konfiguration zu denken, bedeutet, dass jedes Werk alle anderen Werke, aus denen die Konfiguration sich zusammensetzt, seien sie existent oder virtuell, denkt. „Die Konfiguration denkt sich im Versuch einer Untersuchung, durch die sie gleichzeitig lokal konstituiert wird, in der künftigen Zeichnung und im rückwirkenden Reflektieren der Zeitkurve.“ 31 Damit aber ist das Subjekt immer schon ein gespaltenes, da es die Identität mit allen anderen Werken der Konfiguration denkt, d.h. denkt, was die Konfiguration nachträglich gewesen sein wird, und da es zugleich deren Differenz von sich selbst denken muss, da es sonst schlicht nichts anderes als die Konfiguration selbst wäre. Diese minimale Differenz zwischen einer identitären Kohärenz und einer inkonsistenten Differenz der Konfiguration, die das Werk in der Zeitlichkeit des futur anterieur denkt, ist seine Methode. Und weil Konfigurationen deshalb Konstellationen sind, die sich selbst denken, ist der Philosoph einzig an den intra-philosophischen Wirkungen der Kunst als Bedingung der Philosophie interessiert. Auch in diesem Sinne ist Badious Poetik keine Ästhetik: „’In-ästhetisch’ ist für mich eine Beziehung der Philosophie zur Kunst, der in keiner Weise die Absicht zu Grunde liegt, Kunst, von der angenommen wird, dass sie aus sich selbst heraus Wahrheit hervorbringt, als Objekt für die Philosophie einzusetzen. Entgegen der ästhetischen Spekulation beschreibt die In-Ästhetik allein die aus der 30 Zum „Weitermachen“ als Imperativ einer Ethik der Wahrheit vgl. Badiou 2003: 65-74. 31 Badiou 2001: 24. <?page no="204"?> Mark Potocnik 204 unabhängigen Existenz bestimmter Kunstwerke hervorgehenden intraphilosophischen Wirkungen.“ 32 Dieser Satz gibt einen Rahmen vor, um weitere Aussagen über die Kunst als Bedingung in ihrer Beziehung zur Philosophie abzuleiten. Emblematisch für das Verhältnis von Philosophie und Poesie ist laut Badiou der Name ‚Mallarmé’. 33 Und das aus zwei Gründen: Denn erstens identifiziert sich im Fall von Mallarmé die Kunst als Denken. ‚Mallarmé’ ist in diesem Sinne der ‚überzählige Name’, der auf ein Ereignis in der Kunst verweist. Wenn es in der Philosophie keine Wahrheiten gibt, sondern ihre Aufgabe darin besteht, die Wahrheitsprozeduren zu denken, die in den vier Bedingungen statthaben, dann benennt der Eigenname ‚Mallarmé’ das Ereignis, in dem in der Kunst zum ersten Mal das Ereignis als solches gedacht worden ist. Aus diesem Grund kann die Meditation 19 in Das Sein und das Ereignis auch schlicht den Namen ‚Mallarmé’ tragen. Zweitens aber verweist der Eigenname Mallarmé auf die Methode, die sich aus diesem Ereignis heraus entfaltet. Es geht also nicht nur um das „Wirken eines im Körper der Sprache dargebotenen Denkens“, sondern um die „Gesamtheit der Verfahren, wodurch dieses Denken sich denkt“. 34 Die großen Figuren, für Mallarmé die Konstellation, das Grab oder der Schwan, für Rimbaud Christus, der Arbeiter oder das Höllengemahl, sind in diesem Sinne keine blinden Metaphern. Sie dienen vielmehr als Grundlage für eine konsistente Aufstellung, in deren Rahmen das Poem die Darstellung eines Denkprozesses bewerkstelligt. Der poetische Vorgang, der sich in der Produktion des Poems verkörpert, offeriert dem Philosophen insofern nicht Segmente einer Bedeutung, sondern Spuren, die der poetische Vorgang im Werk selbst zurückgelassen hat. Der Schnitt in die Interpretation: Wenn sich das Poem damit nachträglich als Vorgang und Verfahren einer Untersuchung in die Wahrheit des Ereignisses erweist, als Verfahren, das Schritt für Schritt Elemente aus der Situation daraufhin befragt, ob sie der Wahrheitsprozedur angehören oder nicht, dann muss laut Badiou jede Interpretation, die das Gedicht einzig auf seine Bedeutung und Semantik hin liest, an ein Ende kommen. Von daher geht es bei der interprétation-coupure auch nicht um „quelque survol herméneutique“ 35 , der immer im Bereich des Wissens verbliebe und flöge er noch so weit, sondern darum, Schnitte durch das Gedicht zu machen. Es geht also um das, was man einen interpretativen Eingriff, einen Interpretationsschnitt und das Verfahren der Lektüre Badious nennen könnte; ein Verfahren, das, um die Spuren des poetischen Vorgangs aufzuweisen, eine Logik entfaltet, die sich 32 Badiou 2001: 6. 33 Badiou 1992 (b): 108. 34 Badiou 1994: 43. 35 Badiou 1992 (b): 108. <?page no="205"?> Das Poem als Verfahren 205 in drei Schritten vollzieht; und ein Verfahren, dem es um eine kritische „Prüfung des Gedichts“ 36 geht: 1. Der erste Schritt - die Passage der Übersetzung: Das Poem ist ein Vektor und Träger der Wahrheit. Badiou liest die Gedichte buchstäblich, aber nicht, um sie Wort für Wort zu kommentieren oder zu glossieren und ihnen so eine Bedeutung abzuringen. Vielmehr durchläuft er sie, um einen neuen Text zu produzieren: „un premier état reconstuit, où le poème est retiré de toute poésie, livré à sa prose latente, pour que la philosophie puisse, cette poésie, y revenir, depuis la prose, à ses propres fins.“ 37 Diese Passage durch die Prosa, die Badiou in Anführungszeichen eine „Übersetzung“ 38 nennt, führt zu nichts anderem als einer „mise à plat“, einer Punktierung des syntaktischen Werdens, der syntaktischen Entwicklung des Gedichts. „Dans l’appropriation philosophique du poème de Mallarmé, qui suppose la restitution du manque (la pensée, sous le signe de la Vérité, des opérations d’une pensée), on commencera toujours par une ‚traduction’ qui n’est que mise à plat, ou ponctuation, du devenir syntaxique.“ 39 Die Passage des Gedichts durch die Prosa bringt das Gedicht auf der einen Seite dazu, das Sujet des Gedichts zu enthüllen, und auf der anderen Seite dazu, die Intelligibilität des Gedichts anzuzeigen. Das Poem ist in diesem Sinne ein Denken, eine Poesie des logos und des Intelligiblen, es ist eine Poesie, die das Ereignis zu benennen und aus dem Erscheinen des Ereignisses eine Wahrheit zu extrahieren vermag. Doch die Passage durch die Prosa stellt selbst nur den Übergang zum folgenden Schritt dar. 2. Der zweite Schritt: In diesem wird den Spuren des poetischen Vorgangs nachgegangen. Für die Lektüre Badious bedeutet dies, weniger der Semantik als der Syntax des mallarméschen Gedichts nachzuspüren. „Quel pivot, j’entends, dans ces contrastes, à l’intelligibilité? Il faut une garantie - La syntaxe.“ 40 Es geht also eher um das grammatische Gefüge, die logische Ordnung des Gedichts, die sich in seiner syntaktischen Maschinerie aufweisen lässt, und weniger um den semantischen Wert der einzelnen Worte; und es geht darum, wie die strenge Anordnung des Poems auf der Seite in Verbindung zur latenten Prosa und zu dem Sujet des Gedichts steht. Mit einem Wort: Es geht um das Verfahren, durch welches das Poem das Ereignis denkt. 36 Badiou 2002: 122. 37 Badiou 1992 (b): 110. 38 Ebd.: 109. 39 Ebd. Dabei gilt die Passage übrigens auch umgekehrt: So ist in der Prosa Becketts ein geheimes Poem zu entdecken: „Il est aussi, dans la chair de la prose, un processus tout à fait flagrant qui va, entre les premiers écrits de Beckett et ses dernièrs, vers une sorte de brisure qui soumet la prose à un poème caché“, Badiou 1992 (e): 332. 40 Mallarmé 1945: 385. Die deutsche Übersetzung spricht von ‚Verständlichkeit’ und nicht von ‚Intelligibilität’: „Was für ein Drehpunkt, wohlverstanden, in diesen Kontrasten, für die Verständlichkeit? Es bedarf einer Garantie - Die Syntax“, Mallarmé 1992: 308. <?page no="206"?> Mark Potocnik 206 Wenn das Poem eine Bedingung der Philosophie ist, so kann der Philosoph dieses Verfahren des Poems nur denken, indem er eine ‚Diagonale’ durch das Gedicht zieht, indem seine Lektüre einem Verfahren entspricht, das die syntaktische Maschine, die logische Syntax des Gedichts freilegt. In seinem Text La méthode de Mallarmé führt Badiou dieses Verfahren am Beispiel einiger Gedichte Mallarmés vor. Der Text beginnt dabei mit einer Analyse von Mallarmés Gedicht „A la nue accablante tu“… A la nue accablante tu Basse de basalte et de laves A même les échos esclaves Par une trompe sans vertu Quel sépulcral naufrage (tu Le sais, écume, mais y baves) Suprême une entre les épaves Abolit le mât dévêtu Ou cela que furibond faute De quelque perdition haute Tout l'abîme vain éployé Dans le si blanc cheveu qui traîne Avarement aura noyé Le flanc enfant d'une sirène. („Verheimlicht träger Wolkenlast/ Basalt und tiefen Lavafalten/ wo keine Echos sklavisch hallten/ erstickten Hornrufs dumpfer Hast/ / welch Untergang - o Gischt du sahst/ was deine Schäume überwallten - / riß mit der Trümmer Ungestalten/ auch ihn hinab den nackten Mast/ / wer weiß es was erzürnten Mutes/ um den Verlust des hohen Gutes/ verschlang des Abgrunds Ohnmacht hier/ / vielleicht auch weißes Haargeranke/ riß noch hinab aus Hassesgier/ des jungen Meeresweibs Schuppenflanke“.) 41 Gemäß der Logik der interprétation-coupure ‚übersetzt’ Badiou das Poem zunächst in seine latente Prosa: 41 Mallarmé 1992: 120f. <?page no="207"?> Das Poem als Verfahren 207 Quel naufrage a donc englouti jusqu’au mât, voiles arrachées, qui était l’ultime débris d’un navire? L’écume qu’on voit sur la mer, trace de ce désastre, le sait, mais n’en dit rien. La trompe du navire, qui aurait pu nous renseigner, ne s’est pas fait entendre, impuissante, sur ce ciel bas et cette mer sombre, couleur de roche volcanique, qui emprisonne l’écho possible de l’appel de détresse. A moins que, furieux de n’avoir eu aucun naivre à faire disparaître, l’abîme (mer et ciel) ait englouti une sirène, dont l’écume blanche ne serait plus que le cheveu. 42 Es geht also um das Ereignis eines Schiffbruchs, eines maritimen und nautischen Risikos, welches das Poem zum Thema hat. Und es geht um die Spuren, die dieses Ereignis zurückgelassen hat. Denn vom Ereignis des Schiffsuntergangs wird einzig im Moment seines Verschwindens berichtet. In seiner Lektüre identifiziert Badiou nun im weiteren Verlauf der Analyse drei Arten der Negation, die spezifisch für Mallarmés Gedicht sind und die das Ereignis im Moment seines Verschwindens präzisieren. Erstens markiert das Poem das Verschwinden des Ereignisses am Ort der Ereignisstätte. Das im Gedicht abwesende Wort ‚navire’ benennt das Ereignis, den Untergang eines Schiffes, es ist der ‚überzählige Name des Ereignisses’, ein Name, der mithin im Gedicht einzig durch eine metonymische Kette anderer Wörter vorgestellt wird. Dabei ist es für die Elemente dieser metonymischen Reihen nicht von Relevanz, welchen Ort sie auf dem weißen Papier einnehmen. Da es um die logische Ordnung der Elemente geht, ausgehend vom Verschwinden des Ereignisses, löst sich die Analyse vom typografischen Arrangement des Gedichts, um ihre logische Syntax zu erschließen. Das Ereignis, von dem das Gedicht spricht, der Schiffsuntergang, wird so im Gedicht als ein verschwindendes Ereignis, als ein (immer schon) bereits verschwundenes Ereignis durch die metonymische Reihe seiner Vertreter markiert. Es ist der überzählige und überschüssige Punkt des Gedichts, den die ‚diagonale’ Analyse des Poems freilegt. Aber die Freilegung dieses überschüssigen Elements ist selbst nur ein vorläufiger Schritt, weil das Poem nicht nur aus einem Thema besteht, der Katastrophe des Verschwindens, sondern aus dem formalen Arrangement, das es auf der Seite produziert. Insofern richtet sich der Blick auf die metonymischen Ketten, die den Namen des Ereignisses vorstellen. Wirft die diagonale Lektüre ihren Blick auf diese Ketten, dann entdeckt sie ein zweites Moment an dem Gedicht. Dieses markiert die Unendscheidbarkeit des Ereignisses. Es handelt sich hier um eine Durchstreichung: Die Spuren, die der Schiffsuntergang auf der Oberfläche des Meeres zurückgelassen hat, können ebenso zurückgelassen worden sein von einer verschwindenden Meerjungfrau. Was das Gedicht freilegt und was die Analyse der metonymischen Ketten zu erkennen gibt, ist, dass auf das Ereignis in seinem ‚Vorhandensein’ oder besser: dass auf das „Es gibt“ des Ereignisses nicht mit Sicherheit geschlossen werden kann. Die Spuren, die auf das Ereignis zu verweisen scheinen, können selbst noch auf 42 Badiou 1992 (b): 110. <?page no="208"?> Mark Potocnik 208 ein anderes Geschehen verweisen. Worauf das Poem also verweist, ist, dass das Ereignis in seinem Verschwinden niemals Teil der Situation ist, an deren Rand es zum Erscheinen kommen kann. Das Ereignis ist in diesem Sinn immer einer doppelten Kontingenz unterworfen: Erstens ist das Erscheinen eines Ereignisses am Rand der Leere einer Situation kontingent, zweitens ist die Entscheidung darüber, ob es ein Ereignis gegeben haben wird, eine Entscheidung, die einzig eine subjektive und selbst kontingent ist, da sie aus dem Inneren jeder Situation heraus getroffen wird. Indem das Verschwinden des Schiffsuntergangs im Poem selbst durchgestrichen wird, stellt das Poem diese doppelte Kontingenz des Ereignisses aus. Badiou gibt dazu folgendes Schaubild: navire (naufragé) mât (dévêtu et aboli) trompe (sans vertu) écume sirène (noyée) cheveu 43 Das dritte Moment des Gedichts, das Badiou ausstellt, ist die Verwerfung: Sie markiert die Absenz sogar der kleinsten Spur, sie ist die paradoxe Markierung einer Unmöglichkeit der Markierung. Die verworfenen Terme sind solche, die von keiner poetischen Wahrheit erzwungen 44 werden können: das Subjekt (der Poet), das Ende (als Ende des Poems), die Sprache (als Sprache selbst - denn kein Poem kann jemals die Sprache als solche ausdrücken). Die drei Operationen des Poems: „évanouissement, annulation, forclusion“ entsprechen so den drei „visées de pensée (l’événement, l’indécidable et l’innommable)“. 45 Damit lassen sich drei Negationen oder Vorgänge an Mallarmés Gedicht isolieren und formalisieren. 46 Eine von Mallarmé bedingte Philosophie begrüßt die Strenge des Poems, das durch sein subtraktives Verfahren eine Logik des Poems offenlegt, die sich allgemein wie folgt zusammenfassen lässt: 47 In einem ersten Schritt wird das Poem Mallarmés durch einen flüchtigen Eindruck oder eine kurze Begegnung angegangen - ein Schiffbruch, ein Traum, eine Vision. Das Ereignis, von dem das Poem berichtet, hat dabei an einem leeren, minimal spezifizierten Ort statt (der Ozean, die Wüste). Das Gedicht ist gleichsam um das Verschwinden des Ereignisses herum angeordnet, es ist die Inszenierung des Erscheinen-Verschwindens des Ereignisses, des kostbaren Moments, in dem das Ereignis geschieht. Es markiert dabei die Unentscheidbarkeit und doppelte Kontingenz, die mit jedem Ereignis einhergeht. Als subjektive 43 Badiou 1992 (b): 111. 44 Zum Begriff der „Erzwingung“ (forçage) vgl. Badiou 2005: 459-479. 45 Badiou 1992 (b): 118. 46 Vgl. Lecercle 2004: 213. 47 Vgl. Hallward 2003: 198f. <?page no="209"?> Das Poem als Verfahren 209 Entscheidung, die aus den Spuren des Ereignisses auf das Sich-Ereignen des Ereignisses schließt, darauf, dass sich das Ereignis ereignet hat, gründet es sich auf der Ungewissheit und der doppelten Kontingenz. Das Poem ist insofern die subjektive Passage, die das Geschehen des Ereignisses erhält und verewigt, da das Ereignis „als absolut Besonderes, als reine Handlung ohne sie in die Nichtswürdigkeit des Ortes zurückgefallen wäre“. 48 Das Poem erhält das Passieren als Passage vom Sinnlichen zum Idealen, vom Wissen zur Wahrheit. Es ist eine konsistent gemachte Passage und „selbst wenn das einmal Aufgetauchte wieder entschwindet, so ist das Gedicht der Garant für die ewige Wahrheit“. 49 3. Der dritte Schritt: „Das Gedicht ist weder Beschreibung noch Ausdruck. Auch keine von der gesamten Welt ergriffene Malerei. Das Gedicht ist ein Vorgang (opération).“ 50 Das Poem besteht nicht aus einem simplen konsistenten Thema, sondern vielmehr in der logischen Syntax, die eine Diagonale zwischen der Typografie des Poems - einer Ordnung, die auf der Ebene des Poems als abgeschlossenem Gegenstand buchstäblich immer verteilt, zerstreut ist, nachdem die Würfel geworfen wurden - und der latenten Prosa zieht, die nach Maßgabe der Übersetzung das Sujet und die Intelligibilität des Poems freilegt. Es handelt sich insofern um eine Logik, die man aufdecken kann, wenn man die inverse Bewegung des Gedichts aufdeckt. In diesem Sinn ist die Operation des Gedichts immer auch die inverse Bewegung der Interpretation: Sie beansprucht nicht, einen Schlüssel zur Bedeutung des Werks bereitzustellen, vielmehr bietet sie einen Zugang zur syntaktischen Maschinerie des Poems an. Denn obwohl äußerlich opak, „la machine poétique de Mallarmé […] ne possède néanmoins qu’un seul sens. Il faut en finir avec le paresseux contournement d’obstacle qui fait dire à beaucoup que la vertu de l’énigme est de tolérer cent réspones tendancielles. Nulle ‚polysémie’ chez cet absolu dialecticien.“ 51 Wenn die poetische Maschine Mallarmés die Polysemie der Bedeutungen vermeidet, wie kann man dann die Relation zwischen dem typografischen und aleatorischen Arrangement des Gedichts und seiner logischen Syntax denken? Diese Frage ist insofern nicht ganz einfach zu beantworten, als sie den Ansatzpunkt für die geläufigen Attacken auf Badious Verfahren bildet, die in der diagonalen Lektüre des Poems ein willkürliches Verfahren zu entdecken meinen. Um zu einer vorläufigen Beantwortung der Frage zu gelangen, muss man sich noch einmal die minimale Differenz in Erinnerung rufen, die die Methode des Werks entfaltet. Diese Differenz betrifft das Moment des Werks, in dem es die Vollendung der Konfiguration im Modus des Futur II denkt. Auf der einen Seite besteht das Denken der Vollendung der Konfiguration darin, dass jedes Werk die Identität mit allen anderen Werken 48 Badiou 2005: 220. 49 Badiou 2001: 162. 50 Ebd.: 44. 51 Badiou 1982: 92. <?page no="210"?> Mark Potocnik 210 der Konfiguration denkt, und auf der anderen Seite besteht es darin, dass das Werk als Teil der Konfiguration gerade seine Differenz von der Konfiguration als solcher denkt. Jedes Werk ist so gespalten durch die Konsistenz und Inkonsistenz seines Denkens der Vollendung der Konfiguration. Man kann dann in einem nächsten Schritt diesen Gedanken einer minimalen Differenz auch auf der Ebene der Relation zwischen typografischem Arrangement des Gedichts und logischer Syntax wiedererkennen, wobei die minimale Differenz sich ebenso in der typografischen Anordnung wie der logischen Syntax selbst wiederholt. In der Typografie des Gedichts wiederholt sie sich insofern, als das Gedicht als vollendetes seine immanenten Möglichkeiten ausschöpft und somit seine Konsistenz ausstellt, während es in der zufälligen Verteilung der Worte auf dem weißen Papier seine Inkonsistenz dokumentiert. Andererseits besteht die logische Syntax des Gedichts aus dem Schritt-für-Schritt der Untersuchung, mit dem das Werk die Wahrheit des Ereignisses entfaltet, und damit untersteht sie dem clinamen der Aleatorik. Jeder Schritt in der logischen Syntax kann insofern zwar nicht aus dem anderen hergeleitet werden, aber nichtsdestotrotz erweist jeder Schritt nachträglich die Konsistenz der Schrittfolge. Es geht also um eine Differenz zwischen der Verteilung der Wörter auf dem weißen Papier und dem clinamen der Untersuchung sowie um eine Differenz zwischen der Konsistenz der Schrittfolge und der Vollendung des Poems. Insofern geht es auch um Differenzen von Differenzen und letzten Endes um den Spalt selbst. Und doch wird die Analyse an dieser Stelle nicht stehen bleiben können. Denn es wäre zu beachten, dass jede Relation ontologisch selbst nur eine Vielheit von Vielheiten ist, wie Badiou im Anhang 2 zu Das Sein und das Ereignis formal bewiesen hat. 52 Die Relation zwischen der Typografie des Gedichts und seiner logischen Syntax wäre von daher nicht ein Riss, sondern selbst nur eine Vielheit von Vielheiten und die Relation zwischen ihnen insofern eine Differenz von Differenzen von Differenzen. Die interprétation-coupure, der Interpretations-Schnitt, ist unter dieser Maßgabe selbst nur ein Eingriff, der die minimale Differenz zwischen der Konsistenz des Gedichts als Gestalt und der inkonsistenten Differenz zwischen dem typografischen Arrangement und der logischen Syntax des Gedichts offenhält. Aus dem Gesagten, so vorläufig es als Antwort auf die Frage nach der Relation zwischen logischer Syntax und formalem Arrangement des Poems bleiben mag, lässt sich insofern schließen, dass die interprétation-coupure die Methode Alain Badious wäre. In diesem Sinne zeugt die Methode Badious davon, dass der Philosoph dem Dichter treu bleibt. Und sie zeugt auch davon, dass das Verhältnis des Philosophen zum Dichter sich in folgender Formel verdichten lässt: Alain Badiou, Mallarméist. 52 Vgl. Badiou 2005: 493-496. <?page no="211"?> Das Poem als Verfahren 211 Literaturverzeichnis Badiou, Alain, Théorie du Sujet, Paris 1982. Badiou, Alain, Peut-on penser la politique? , Paris 1985. 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Wahl, François, „Le soustractif“, in: Badiou, Alain, Conditions, Paris 1992, S. 9-54. <?page no="213"?> Daniel Schulz Revolution und Ausnahmezustand: Ereignis und Institution in der politischen Theorie Aus der Perspektive der politischen Theorie generiert das Begriffspaar Ereignis und Institution eine Reihe von Fragen, die direkt an das grundlegende und ursprüngliche Erkenntnisinteresse der Politikwissenschaft anschließen - jedoch nur, insofern diese Politikwissenschaft nicht allein auf die funktionalen Zusammenhänge innerhalb des politischen Systems reduziert wird, sondern grundsätzlich auf die Möglichkeits- und Unmöglichkeitsbedingungen politischer Ordnung reflektiert. Das Begriffspaar Ereignis und Institution bezeichnet so das jeder politischen Ordnung innewohnende Problem einer dauerhaften Verstetigung politischer und normativer Strukturen bei gleichzeitigem permanentem Wandel, die Spannung also zwischen Statik und Dynamik, zwischen traditionalen Verstetigungen und ihren mannigfaltigen Durchbrechungen. Damit kann dieses Begriffspaar aus der Perspektive der politischen Theorie produktiv in einem anderen Spannungsverhältnis gespiegelt werden, welches für diese Disziplin in letzter Zeit zunehmend an Bedeutung gewinnt: Gemeint ist die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen. Diese Unterscheidung verweist auf eine Erweiterung des politikwissenschaftlichen Fragehorizontes von den innersystemischen Funktionszusammenhängen und Organisationsformen politischer Institutionen - der Politik - auf die Geltungs- und Legitimitätsvoraussetzungen politischer Ordnung, also auf die in einem politischen Gemeinwesen imaginierten fundamentalen Leitideen und Ordnungsvorstellungen sowie auf ein Bewusstsein für deren Kontingenz. Diese letzte Dimension ist es, die mit Claude Lefort als das Politische gekennzeichnet werden kann, bzw. mit Castoriadis als „mise en forme“ eines gesellschaftlichen Kollektivs: Das Politische lässt sich demnach dort verorten, wo ein Möglichkeitsbewusstsein von der grundsätzlichen Wandelbarkeit politischer und gesellschaftlicher Ordnung vorhanden ist, bzw. dort, wo eben jene für die jeweilige politische Ordnung konstitutiven Geltungsansprüche verhandelt werden. 1 Die politische Theorie kennt nun zwei zentrale Begriffe, um die Frage nach dem Verhältnis von Ereignis und Institution zu stellen und - damit zusammenhängend - das Verhältnis des Politischen zur Politik zu konzeptualisieren: die Revolution und den Ausnahmezustand. Während im Begriff der Revolution die Übertragung des Ereignisses in einen Gründungsmo- 1 Vgl. Lefort 1986, Lefort 1994, Castoriadis 1990. <?page no="214"?> Daniel Schulz 214 ment institutioneller Ordnung gedacht wird, so tritt im Ausnahmezustand der ordnungsbedrohende Charakter des Ereignisses in den Vordergrund. Revolution und Ausnahmezustand sind jeweils politische Grenzbegriffe. Sie entwerfen eine Antwort auf die Frage nach der jeweiligen Grenze politischer Ordnungsbildung und tun dies in entgegengesetzter Hinsicht: Die Revolution verweist auf den Beginn, der Ausnahmezustand auf das mögliche Ende einer politischen Ordnung. 2 Im Folgenden soll die Diskussion dieser beiden Grenzbegriffe in der politischen Theorie des 20. Jahrhunderts anhand von zwei ihrer ideen- und wirkungsgeschichtlich zentralen Repräsentanten rekonstruiert werden: Hannah Arendt hat in ihrem Buch über die Revolutionen den engen Zusammenhang herausgestellt, der zwischen dem gewaltförmigen Ereignis der Revolution, dem Moment einer Gründung und dessen dauerhaften Verstetigung in einer politischen Ordnung besteht. In der Revolution findet sich der ereignishafte Kern eines symbolisch überformten Anfangs, der für die Geltungsstabilisierung des politischen Gemeinwesens dauerhaft präsent gehalten, rituell vergegenwärtigt wird. Die andere Theorie, die das Verhältnis von Ereignis und Institution in der Moderne denkt, ist die Theorie des Ausnahmezustands bei Carl Schmitt. Hier ist die Perspektive jedoch verschieden: Der Ausnahmezustand denkt die Ereignishaftigkeit aus der bereits bestehenden institutionellen Ordnung des modernen Anstaltsstaats heraus. Er stellt den Versuch dar, die potenzielle Bedrohung der Institution durch einen außerhalb ihrer selbst liegenden und daher nicht kontrollierbaren Einbruch des Ereignisses zu domestizieren und so zu einem Teil der Ordnung selbst zu machen. Die Positionen von Arendt und Schmitt, so die These, stellen demnach je konträre Antworten auf die Beziehung von institutioneller Ordnung und Ereignishaftigkeit des Politischen dar. 3 Bevor jedoch darauf näher eingegangen wird, soll zunächst - gewissermaßen anstelle einer Einleitung - das Verhältnis von Ereignis und Institution von einer ganz anderen Seite betrachtet werden: Alain Badiou hat in seinem Hauptwerk unter anderem den Versuch unternommen, das Sein der Politik durch eine spezifische „Ereignishaftigkeit“ zu bestimmen. Badiou greift dafür zurück auf die politische Philosophie Rousseaus und interpretiert die Kategorien des Gesellschaftsvertrages neu im Licht der These eines modernen Politikbegriffes. Dieser Politikbegriff, den Badiou bei Rousseau in radikaler Weise artikuliert findet, 2 Zugleich wurde in den politischen Deutungsdiskursen der Gegenrevolution der Begriff der Revolution durchaus auch im Sinne eines ordnungszerstörenden Ausnahmezustands gebraucht, und auch der Ausnahmezustand wurde von der konservativen Revolution nicht nur als Ende, sondern auch als Beginn einer wiedergefundenen „wahren“ Ordnung verstanden. Beide Begriffe bezeichnen daher zu einem gewissen Grad Anfang und Ende politischer Ordnung zugleich, und erst das macht sie zu Grenzbegriffen im genauen Wortsinn. 3 Zur Entgegensetzung von Arendt und Schmitt in der Konzeptualisierung des Politischen siehe Scheuermann 1998, Dubiel 1994: 41ff., Herberg-Rothe 2004, Machart 2007. <?page no="215"?> Revolution und Ausnahmezustand 215 behauptet, dass „die Politik keine im Sein gestützte Struktur ist, sondern eine Prozedur, deren Ursprung auf einem Ereignis beruht“. 4 Was aber ist nun genau ein Ereignis und wie verhält es sich zur Frage der Institutionalisierung politischer Ordnung? Für Badiou ist der rousseausche Gesellschaftsvertrag das Ereignis, welches in geradezu paradigmatischer Weise die Politik institutionalisiert. Ohne Begründung in einer wie auch immer gearteten Notwendigkeit, ohne Verbindung zu einer dem Ereignis vorausgehenden Begründung überhaupt, zugleich aber radikal nicht-transzendent und innerweltlich, stellt der Moment des Vertrages jene ebenso ursprüngliche als auch unwahrscheinliche Übereinkunft dar, welche dem Naturzustand ein Ende setzt und die zugleich den politischen Zustand beginnen lässt. Der Gesellschaftsvertrag erfüllt so die wesentlichen Kriterien, die von Badiou für die Existenz eines Ereignisses reklamiert werden: Es handelt sich um eine Form der Intervention, die als radikale Zäsur „den gewohnten Lauf der Dinge unterbricht und die Karten für alle am gesellschaftlichen Prozess Beteiligten völlig neu mischt“. 5 Dieser irreduziblen, sich gegen jegliche Symbolisierungsversuche sperrenden Singularität des Ereignisses steht jedoch zugleich das Phänomen der begrifflichen Annäherung und der Benennung gegenüber. Im Falle des ereignishaften Gesellschaftsvertrags ist dies der rousseausche Gesetzgeber: Für Badiou manifestiert sich hier der „Eingreifer“, der darauf zurückgeht, dass es ein Ereignis nur dann gibt, wenn es durch einen solchen Eingriff benannt wird. 6 Der ursprüngliche Moment des Vertrags wird damit jedoch selbst nicht präsent - allerdings bildet er nun den nicht verfügbaren Kern innerhalb des durch den Eingriff gestellten Referenzrahmens. Die Vergegenwärtigung dieses ursprünglichen Wahrheitsereignisses liegt in der badiouschen Lesart von Rousseau im Gemeinwillen: Er fungiert als „Treueoperator“, der die Gegenwart des ereignishaften Stiftungsmomentes innerhalb des politischen Gemeinwesens garantiert und auf diese Weise verstetigend auf den Gründungsmoment einwirkt. In dieser Lesart von Ereignis und Institution, so ließe sich hier anmerken, wird hingegen nicht ausreichend geklärt, wie sich die vergegenwärtigende Wirkung des Treueoperators, des Gemeinwillens, zum gestifteten Rahmen, also der Verfassung, verhält und ob der im Gemeinwillen präsente Ereignisbezug diesen konstitutionellen Rahmen nicht vielmehr durch seinen eigenen ereignishaften Charakter wieder durchzustreichen versucht. Die Vermutung liegt daher nahe, dass hier die im Verhältnis von Institution und Ereignis gespiegelte Spannungsbalance der Politik zum Politischen einseitig aufgelöst wird. Eine alternative Möglichkeit, die Beziehung zwischen Ereignis und Institution in politiktheoretischer Hinsicht auf das Verhältnis zwischen Gründung und Verfassung zu übertragen, lässt sich dagegen bei Hannah 4 Badiou 2005: 388. 5 Hetzel 2004: 211f. 6 Badiou 2006: 393. <?page no="216"?> Daniel Schulz 216 Arendt zeigen, bei der die Spannungsbalance zwischen Stiftungsmoment und institutionellem Rahmen anders ausfällt als bei der badiouschen Lesart Rousseaus. Dass dies keineswegs notwendig als ein politikphilosophischer Konservatismus ausgelegt werden muss, ist im Folgenden zu vertiefen. 1 Ereignis und Revolution: Hannah Arendt In der Einleitung zu ihrem Buch „On Revolution“ geht Hannah Arendt der Frage nach, inwieweit Krieg und Revolution das Gesicht des 20. Jahrhunderts geprägt haben. Ganz gleich, was man von der zeitdiagnostischen Feststellung eines „civil war raging all over the earth“ halten mag, die im Jahr 1963 und damit zum selben Zeitpunkt geäußert wird wie die Formel vom Weltbürgerkrieg Carl Schmitts: 7 Von theoretischem Interesse ist der von Arendt hergestellte Zusammenhang zwischen der gewaltförmigen Revolution und der auf Dauer gestellten Gründung eines politischen Gemeinwesens. 8 Der vorpolitische Kern der Revolution (und, was das angeht, des Krieges) liegt für Arendt in der Gewalt. Damit bezeichnet sie ein für die Revolution eigenes Spannungsfeld: Revolutionen sind in der arendtschen Lesart die Gründungsmomente der modernen politischen Ordnung, ohne jedoch dabei selber politische Phänomene zu sein. Vielmehr lassen sich Revolutionen mit Arendt als Grenzerscheinungen begreifen, welche über die sie definierende Gewalt hinaus einen dynamischen Bedeutungsüberschuss entwickeln, der selbst wiederum nicht von dem gewalttätigen Ursprung eingeholt wird. Dieser Bedeutungsüberschuss verweist nun auf den ereignishaften Kern der Revolution und setzt zugleich das frei, was Arendt als den in der politischen Gegenwart des zwanzigsten Jahrhunderts verlorenen Schatz bezeichnet: Aus dem Anfang der Revolution entspringt so die Gründung eines auf Freiheit ausgerichteten Gemeinwesens, eines gemeinsamen und auf Dauer gestellten Raumes, der die Möglichkeitsbedingung von Politik bedeutet. 9 Ihre Theorie der Gründung zeigt dabei eine konzeptionelle Behandlung der Frage von Ereignis und Institution, die das geltungsstiftende Moment des Neuen, des Ereignishaften herausstellt, welches sich an der Wurzel der modernen politischen Ordnungen befindet. Arendt richtet den Blick auf ein die Beziehung von Ereignis und Institution grundierendes Spannungsverhältnis zwischen der sich ereignenden, ihrem Wesen nach stummen ursprünglichen Gewalt und zwischen dem durch das Ereignis instituierten politischen Raum, der für Arendt seiner Bestimmung nach ein Kommunikationsraum ist. Die sich ereignende Revolution ist deswegen unpolitisch, weil 7 Agamben 2004: 9. 8 Die nachfolgende Interpretation Arendts als politische Theoretikerin versucht nicht zuletzt, das Bild Arendts als kantianische Philosophin zu korrigieren, das aus der Deutung Badious hervorgeht. Vgl. Badiou 2003: 25ff. 9 Arendt 1965: Kap. 6 („The revolutionary tradition and its lost treasure“). <?page no="217"?> Revolution und Ausnahmezustand 217 der in ihr liegende Kern der Gewaltförmigkeit stumm ist. Erst nach dieser unwahrscheinlichen Durchbrechung der tradierten Ordnung kommt es zu einer Verdichtung von Kommunikation, die das für Arendt eigentlich politische Moment ausmacht. Gegenstand der politischen Theorie sind daher nicht die gewaltförmigen revolutionären Ereignisse selbst, sondern erst die solchermaßen freigesetzten und durch das Ereignis notwendig gewordenen Artikulations- und Benennungsversuche, also das die Gewalt transzendierende revolutionäre Imaginäre. 10 Arendt bezieht sich dabei zunächst als Negativfolie auf ein Denken des Verhältnisses von Ereignis und Institution, das man die tradierte große Erzählung nennen könnte. Dabei greift sie die von Augustinus erstmals vorgenommene Verknüpfung der biblischen mit der römischen Gründungsgeschichte auf, die auch Machiavelli in den Discorsi zur Erläuterung des republikanischen Gründungsmythos heranzieht: 11 Demnach ist das der sakralen ebenso wie der säkularen Gründungserzählung Gemeinsame, dass sie den dauerhaft gestellten Geltungsanspruch einer transzendenten bzw. einer innerweltlichen Gemeinschaft auf den ursprünglichen Brudermord zurückführen. Die Namen von Kain und Romulus symbolisieren daher für das abendländische Imaginäre eine innere Verbindung von Verbrechen und kollektivem Gründungsakt. Jedoch brechen die neuzeitlichen Revolutionen in Arendts Interpretation aus dieser tradierten Erzählung in einem entscheidenden Punkt aus: Sie bilden die neue Erfahrung, eine ganz neue Geschichte erzählen zu können und einen neuen Anfang in die Welt zu setzen. Mit den neuzeitlichen Revolutionen ist daher die tradierte Erzählung durchbrochen worden, nach der jeder Anfang und jede Gründung in ihrem Kern auf Gewalt beruht. Arendt sieht hier neben diesem Gewaltmythos gewissermaßen gleichursprünglich den Mythos von der Stiftung durch das Wort am Werk, der sich in den Revolutionen Bahn gebrochen hat. Das eigentlich Neue ist hier demnach nicht die Stiftung durch ein gewaltförmiges Ereignis, sondern die Übertragung in eine neue Erfahrung des Anfangenkönnens - eine Erfahrung, die mit den modernen Revolutionen des achtzehnten Jahrhunderts in die Welt gekommen und gleichbedeutend mit der Erfahrung moderner politischer Freiheit ist. Gegen den römisch-christlichen Mythos stellt Arendt damit den Mythos der griechischen Antike - allerdings nicht den platonischen, sondern den aristotelischen in Form eines emphatischen Politikbegriffs als gemeinsames Handeln, der sich mit der kantischen Idee eines Durchbruchs durch die freiheitsauflösenden Kausalketten historischer oder naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit und der antibzw. postheideggerianischen Gebürtlichkeit verbindet. 10 Zum Spannungsverhältnis von Gewalt und ihrer symbolischen Bedeutung vgl. Girard 2006. 11 Arendt 1965: 10f., Augustinus 1977: Bd. 2, Buch 15, Kap. 1 u. 5, Machiavelli 2000: 1. Buch, 9. Kap., 45f. <?page no="218"?> Daniel Schulz 218 Arendt verweist so darauf, dass mit der selbst vorpolitischen Revolution eine kommunikative Dynamik entfaltet wird, welche ihren eigenen Anfang symbolisch einzuholen sucht und um den Anfang als eine kommunikativ zu besetzende und zu benennende Leerstelle kreist. Diese Uneinholbarkeit des Anfanges bei seiner gleichzeitigen symbolischen Präsenz macht hier eine Bedingung der modernen Politik aus. Das Problem dieser einmal aus dem stummen Ereignis freigesetzten Kommunikationsmöglichkeit besteht nun darin, diese Möglichkeit auf Dauer zu stellen. Das Bindeglied zwischen Ereignis und Institutionalisierung ist für Arendt die Gründung. Dieser aus der Revolution freigesetzte Gründungsakt eines politischen Gemeinwesens ist dabei gleichbedeutend mit dem Prozess der modernen Verfassungsgebung. Revolution auf der einen Seite und die Gründung einer konstitutionellen Ordnung auf der anderen Seite gehören so für Arendt unauflösbar zusammen. 12 Der Gründungsmoment wird in die Verfassung übertragen und dort verstetigt. Als symbolisches Zentrum der Republik verweist die Verfassung so auf diesen Gründungsmoment zurück und bezieht aus diesem Verweisungszusammenhang ihre Geltung auch über den Tag der Verfassungsgebung und, wie in den USA, über die Gründergeneration hinaus. In dieser Beziehung von Ereignis, Gründung und Institution liegt dabei noch eine andere Pointe verborgen: Mit der Institutionalisierung des revolutionären Ereignisses und der Übertragung und Benennung der revolutionären Leitideen durch die Verfassung im Moment der Gründung verschwindet auch das ephemere Moment der Souveränität des revolutionären Subjekts und löst sich auf in die Pluralität der Vielen und der Verschiedenen. Der Versuch, die ereignishafte Souveränität in den konstituierten Zustand zu retten, führt dagegen nur zur Errichtung eines neuen Absoluten, wie Arendt am Beispiel Rousseaus zu zeigen versuchte. Darauf wird zurückzukommen sein. Zunächst jedoch soll mit der Position Carl Schmitts eine Art Gegenentwurf vorgestellt werden, der politiktheoretisch in die strukturelle Überforderung einer konstitutionalisierten Ausnahme hineinführt, da er die geltungsstiftende Ausnahme des Ereignisses in den Verfügungsbereich des Souveräns hinüberretten will. 2 Ereignis und Ausnahmezustand: Carl Schmitt Die geltungsstiftende Kraft des Ereignisses wird auch von Schmitt erkannt und in seiner Theorie des Ausnahmezustandes hervorgehoben. Anders als Arendt stellt Schmitt jedoch das Ereignis nicht als einen außerhalb des politischen Gemeinwesens liegenden Punkt dar, sondern verschafft ihm Einlass in die staatliche Ordnung selbst. Damit wird eine Grenze überschritten: Die gewaltförmige Ereignishaftigkeit findet sich diesseits der ordnungsstiften- 12 Arendt 1965: 123. <?page no="219"?> Revolution und Ausnahmezustand 219 den Grenze wieder und soll das Gemeinwesen - oder vielmehr: den Staat - gegen das Unerwartbare, gegen die Durchbrechung der Regel schützen. Der Kern des Politischen liegt für Schmitt demnach genau in der Anerkennung dieser Brechung rechtsgeleiteter Ordnung verborgen. Dabei erscheint es als das fundamentale Paradox, wenn diese ereignishafte Brechung der Ordnung selbst im Namen des Staates eingefordert wird. Schmitt operiert dabei mit zwei Ordnungsbegriffen: der rechtlichen Ordnung der Verfassung mitsamt den Grundrechten sowie der politischen Ordnung des Staates. Während nun der Ausnahmezustand in der rechtlichen Ordnung aufgrund ihrer Normfixiertheit keinen Platz erhalten kann, ohne diese Ordnung selbst zu zerstören, so kann auf der Ebene der von Schmitt als politisch apostrophierten Ordnung des Staates die Ausnahme durchaus zum Teil der institutionellen Ordnung werden. Schmitt überführt den so von ihm eingeführten Ordnungsdualismus jedoch alsbald in eine Ordnungshierarchie: Das Kriterium für die höhere Wertigkeit der staatlichen gegenüber der rechtlichen Ordnung ist deren vermeintliche Fähigkeit zur Integration der Ausnahme in den auf Dauer gestellten Rahmen des Staatswesens. Während also das Recht in seiner Geltung auf die unverfügbaren, jenseits seiner selbst liegenden Ressourcen angewiesen bleibt, so versucht der Staat, im Modus der Ausnahme das Unverfügbare verfügbar zu machen und damit seine eigene Transzendenz zu generieren. Die institutionelle Geltung des Staates wird somit gesteigert durch dessen souveräne, auf sein Gewaltmonopol gestützte Fähigkeit zur Intensivierung der Gegensätze und zur Inklusion der Ereignishaftigkeit des Politischen, die in der Rechtsordnung und im liberalen Diskurs nach Schmitt als bloße Bedrohung, nicht aber als symbolischer Ort der Geltungsstiftung erkannt wird. Das schicksalhafte Erleiden ordnungserschütternder Einbrüche von Außen wird so konterkariert durch einen dezisionistischen Staatsvoluntarismus, in welchem die bürgerlichen Freiheiten und die rechtsstaatlichen Normen nunmehr als „Hindernis der staatlichen Selbstverteidigung“ fungieren, die bei „Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, in gefährlichen Zeiten wie Krieg und Aufruhr“ suspendiert werden. 13 Es bleibt so das bekannte Diktum von der Stabilisierung staatlicher Geltungsbehauptungen durch die Inklusion einer als in ihrem Kern politisch verstandenen Ereignishaftigkeit: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. 14 In der Operation der Entscheidung verfügt der Staat damit über einen institutionellen Mechanismus, der die Grenzen des Möglichen stets neu zu verschieben vermag. Und weiter heißt es bei Schmitt: 13 Schmitt 1989: 109f. 14 Schmitt 2004: 13. <?page no="220"?> Daniel Schulz 220 Praktisch hat eine Jurisprudenz, die sich an den Fragen des täglichen Lebens und der laufenden Geschäfte orientiert, kein Interesse an dem Begriff der Souveränität. Auch für sie ist nur das Normale das Erkennbare und alles andere eine ‚Störung’. Dem extremen Fall steht sie fassungslos gegenüber. Denn nicht jede außergewöhnliche Befugnis, nicht jede polizeiliche Notstandsmaßnahme oder Notverordnung ist bereits Ausnahmezustand. Dazu gehört vielmehr eine prinzipiell unbegrenzte Befugnis, das heißt die Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung. Ist dieser Zustand eingetreten, so ist klar, dass der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt. Weil der Ausnahmezustand immer noch etwas anderes ist als eine Anarchie und ein Chaos, besteht im juristischen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung. Die Existenz des Staates bewährt hier eine zweifellose Überlegenheit über die Geltung der Rechtsnormen. Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut. Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft eines Selbsterhaltungsrechts, wie man sagt. Die zwei Elemente des Begriffs ‚Rechts-Ordnung’ treten hier einander gegenüber und beweisen ihre begriffliche Selbstständigkeit. 15 Die Ausnahme wird so bei Schmitt zum symbolischen Zentrum der staatlichen Ordnung, weil nur von diesem Punkt aus deren Behauptung gegenüber konkurrierenden Ordnungsvorstellungen in der gegebenen Machtfülle aufscheint und die damit verbundenen Ansprüche auf Geltung eine im Normalfall nicht mögliche Präsenz erhalten. Daher adelt Schmitt die Ausnahme auch erkenntnistheoretisch gegenüber einem auf regelhafte Universalisierbarkeit fixierten Rationalismus: „Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik“. 16 Es drängt sich jedoch die Frage auf, ob das solchermaßen integrierte Ereignis in Gestalt des Ausnahmezustands überhaupt noch als Ereignis verstanden werden kann. Droht hier nicht vielmehr durch die Zentrierung politischer Ordnung um die Möglichkeit des Ausnahmezustandes genau die Qualität der Nichtverfügbarkeit des Ereignisses zu einem Steuerungsinstrument staatlicher Legitimität und damit zu einer quasiideologischen Kategorie zu degenerieren? Die vermeintliche Offenheit für das genuin Politische, die mit der souveränen Integration des Ausnahmezustandes erreicht werden soll, schlägt vielmehr um in das Gegenteil einer solchen politischen Öffnung: Der politische Raum wird auf diese Weise nicht von seiner pluralen und prozesshaften Seite in den Blick genommen, sondern von einer exzentrischen, ja ekstatischen Seite, die für Schmitt als paradoxe Möglichkeitsform die zentrierte und statische Ordnung gerade stabilisieren soll. 15 Schmitt 2004: 18f. 16 Schmitt 2004: 21. <?page no="221"?> Revolution und Ausnahmezustand 221 3 Eine politische Theorie des Ereignisses? Hannah Arendt und Carl Schmitt liefern zwei entgegengesetzte Theorien, wie das überschießende, normalitätsdurchbrechende Moment sozialer Interaktion institutionell gestaltet werden kann. Die institutionelle Ordnung kann an ihren ereignishaften Ursprung in zweifacher Hinsicht zurückgebunden werden: Einmal durch die Brückenfunktion des Gründungsmomentes, der das Ereignis als Grenzbegriff umreißt und dieses so in Form eines Gründungsmythos zum symbolischen Bezugspunkt außerhalb der politischen Ordnung einsetzt. Zum anderen dagegen als geltungssteigerndes Moment durch die Integration der Ereignishaftigkeit in die institutionelle Ordnung selbst, wo das Sich-Ereignende als Ausnahme eines normalitätszentrierten Regelvollzugs seinen intensitätssteigernden Bedeutungsüberschuss freisetzen und so zur dauerhaften Stabilisierung der Ordnung beitragen soll. Bei Hannah Arendt steht das Ereignis am Anfang der politischen Ordnung und kann selbst nur symbolisch präsent gehalten werden. In positiver Hinsicht steht die symbolische Präsenz des Gründungsmythos für die Bindungswirkung der republikanischen Kultur politischer Freiheit, die sich ihres Anfangs versichert als etwas, dass in seiner Singularität nicht wiederholbar, aber dennoch präsent in einem republikanischen Freiheitsbewusstsein der Bürger und der republikanischen Selbstverständigungsdiskurse ist. Umgekehrt baut aber auch die Totalitarismustheorie auf diesem Zusammenhang auf: In den totalitären Regimen des zwanzigsten Jahrhunderts sieht Arendt die Ereignishaftigkeit selbst in die politische Ordnung eingewandert, die dort das Gemeinwesen von Innen heraus bestimmt und einer Auslöschung des Politischen gleichkommt. Nicht mehr der republikanischkonstitutionelle Gründungsmoment als Unverfügbarkeitsnarrativ der eigenen Geltungsressourcen, sondern das Lager als Ort der totalen Verfügbarmachung wird zum symbolischen Zentrum einer Ordnung, in der sich die singuläre und sprachlose Gründungsgewalt institutionell perpetuiert. Die Ausnahme wird hier zu einer auf Dauer gestellten Normalität. Schmitts Versuch, die Ausnahme als Kern der modernen Staatlichkeit gegen die konstitutionelle Ordnung in Anschlag zu bringen, sieht sich so mit dem Problem konfrontiert, wie denn die Singularität der Ausnahme zum einen die herausgehobene Potenz des staatlichen Souveränitätsanspruches untermauern soll, wie zugleich aber diese uneinholbare und unzurechenbare Singularität in ihrer jede soziale und politische Ordnung in Frage stellenden Kraft nicht wiederum selbst zum Sprengsatz dieser exzentrisch behaupteten Souveränität wird. Als Theoretiker einer Grenzüberschreitung, die den Ausnahmezustand in die politische Ordnung integriert, steht Schmitt mit seinem Modell so vor derselben strukturellen Überforderung wie alle Versuche, die ein Moment absoluter Voraussetzungslosigkeit innerhalb einer auf Voraussetzungen beruhenden Ordnung verstetigen wollen. Nicht zufällig spielt Schmitt so mit <?page no="222"?> Daniel Schulz 222 der Unterscheidung zwischen konstituierender und konstituierter Gewalt, um dem liberalen Denken seinen Mangel an Konsequenz vor Augen zu führen - ohne auch nur zu bemerken, dass ihm diese Konsequenz bei der Wiedereinschreibung der Ausnahme in den einmal konstituierten Zustand selbst verloren gegangen ist. „Revolution“ und „Ausnahmezustand“ können also als Domestizierungsversuche des politischen Ereignisses gedeutet werden und verweisen damit, wie eingangs bemerkt, auf die Spannungsbalance der Politik und des Politischen: Während Arendt den ereignishaften Konstitutionsakt als gewissermaßen transzendentale Möglichkeitsbedingung der Politik versteht, geht es Schmitt umgekehrt um die Transzendierung der Politik durch das Politische. Die Frage wäre nun, ob nicht auch der badiousche Versuch, das Verhältnis von Ereignis und Institution mit politischen Vorzeichen zu denken, in eine Auflösung der Spannungsbalance zwischen der Politik und dem Politischen mündet - gerade insofern er sich deutlich in die jakobinische Traditionslinie und ihre präsenzmetaphysische Deutung der Volkssouveränität als sich ereignender Körper des Politischen einschreibt. An dieser Stelle wäre dann auch auf seine Deutung Arendts als Vertreterin der „politischen Philosophie“ einzugehen - ein Bild, das dieser Beitrag mit Verweis auf ihr durchaus komplexes Verständnis politischer Ereignishaftigkeit zu korrigieren versuchte. Arendts Position auf ihre kantianischen Elemente zu reduzieren hieße, ihre sehr viel weiter gehenden Überlegungen zu ignorieren, die sich mit dem Aspekt der geltungsstiftenden Gründung politischer Ordnung befassen. Zudem wäre hier auch auf ihre Theorie des Parias zu verweisen, die mit ihrem Argument der Nicht-Identität der Verschiedenen den politischen Pluralismus existenziell ausdeutet und ihn gerade nicht als ein beliebiges Spiel der Meinungen versteht. Badiou und Arendt, so lässt sich daher zuspitzen, verkörpern zwei unterschiedliche Strömungen republikanischen Denkens: Während Arendt das Politische unter dem aristotelischen Gesichtspunkt der Vielheit thematisiert und die konstitutionelle Gründung der amerikanischen Republik als die Möglichkeit des Politischen in der Moderne präferiert, so steht Badiou dagegen in der pluralismusskeptischen Tradition des Platonismus und verweist auf die französische Gründung von 1793. Während Arendt einen offenen, liberalisierten Republikanismus vertritt, verteidigt Badiou unter rousseauistischen Vorzeichen zwar keine monistische, in sich geschlossene Republik, seine Kritik etatistischer Institutionalisierungsphänomene hindert ihn jedoch nicht an der Konzeptualisierung einer monistischen, an der volonté générale ausgerichteten Willensbildung. Eine solche „Treue zum Ereignis“ ist nun aber gerade deshalb zu eng gefasst, weil sie die Polyvalenzen der demokratischen Geltung ausschließt und so das Problem einer konstitutiven Offenheit demokratischer Ordnungsbildung nicht angemessen berücksichtigt. Damit geht Badiou hinter die innerfranzösischen Versuche zurück, dem Ereignis der Revolution seine Deutungsoffenheit zurückzugeben und <?page no="223"?> Revolution und Ausnahmezustand 223 so die Verhärtung aufzubrechen, die in den republikanischen Selbstbeschreibungen zu einer antipolitischen Einheitsfixierung geführt hatte. 17 Sinnvoll wäre es jedenfalls für eine genuin politiktheoretische Frage nach dem Zusammenhang von Institution und Ereignis, die spekulative und normative Analyse - dies gilt sowohl für die politische Theologie Schmitts als auch für die republikanischen Ansätze bei Arendt und Badiou - durch eine kulturwissenschaftlich informierte Untersuchung zu verlängern, die sich der institutionellen Geltungsfiktion mitsamt ihren Bezügen auf eine als außeralltäglich konstruierte Ereignishaftigkeit aus einer neutraleren Perspektive nähert und so die Mechanismen aufdecken könnte, nach denen institutionelle Ordnungsversuche auf einen solchen außeralltäglichen, geschichtsmythologischen Bedeutungsüberschuss zu ihrer eigenen Distinktion zurückgreifen. Eine politische Theorie des Ereignisses müsste daher weniger auf eine ontologische Bestimmung abzielen als vielmehr auf eine Analyse der diskursiven und symbolischen Kontexte, der ereignisbasierten Deutungen und Geltungsgeschichten, über die sich jegliche institutionellen Ordnungsentwürfe zu verstetigen suchen. Literaturverzeichnis Agamben, Giorgio, Ausnahmezustand, übers. von Ulrich Müller-Schöll, Frankfurt am Main 2004. Arendt, Hannah, On Revolution, New York 1965. Augustinus, Aurelius, Vom Gottesstaat, übers. von Wilhelm Thimme, eingeleitet u. kommentiert von Carl Andresen, München 1977. Badiou, Alain, Über Metapolitik, übers. von Heinz Jatho, Zürich/ Berlin 2003. Badiou, Alain, Das Sein und das Ereignis, übers. von Gernot Kamecke, Zürich/ Berlin 2005. Castoriadis, Cornelius, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, übers. von Horst Brühmann, Frankfurt am Main 1990. Dubiel, Helmut, Ungewißheit und Politik, Frankfurt am Main 1994. Girard, René, Das Heilige und die Gewalt, übers. von Elisabeth Mainberger-Ruh, Düsseldorf 2006. Herberg-Rothe, Andreas, „Hannah Arendt und Carl Schmitt - ‚Vermittlung von Freund und Feind’“, in: Der Staat 43 (2004), S. 35-55. Hetzel, Andreas, „Politik als Wahrheitsereignis. Alain Badiou“, in: Flügel, Oliver/ Heil, Reinhard/ Hetzel, Andreas (Hrsg.), Die Rückkehr des Politischen, Darmstadt 2004, S. 211-229. Lefort, Claude, Essais sur le politique, Paris 1986. Lefort, Claude, L’invention démocratique, Paris 1994. Machart, Oliver, Post-Foundational Political Thought, Edinburgh 2007. Machiavelli, Niccolò, Discorsi, übers. von Friedrich von Oppeln-Bronikowsk, hrsg. und mit einem Nachwort vers. von Horst Günther, Frankfurt am Main 2000. 17 Stellvertretend sei hier nur auf die Arbeiten von Pierre Rosanvallon verwiesen. Vgl. dazu Schulz 2008. <?page no="224"?> Daniel Schulz 224 Scheuermann, William E., „Revolutions and Constitutions: Hannah Arendt’s Challenge to Carl Schmitt“, in: Dyzenhaus, David (Hrsg.), Law as Politics: Carl Schmitt’s Critique of Liberalism, Durham NC u.a. 1998, S. 252-280. Schmitt, Carl, Verfassungslehre, Berlin 1989. Schmitt, Carl, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 2004. Schulz, Daniel, „Minderheit, Mehrheit, Allgemeinheit: Die Krise der Repräsentation im Spannungsfeld des französischen Republikanismus bei Pierre Rosanvallon“, in: Nour, Soraya (Hrsg.), The Minorities Question. Law and the Crisis of Representation, Berlin 2008 (im Erscheinen). <?page no="225"?> IV. Kontrapunkte: Soziologie, Psychoanalyse <?page no="227"?> Heike Delitz Institution und Ereignis aus lebenssoziologischer Perspektive Der Mensch ist ein Tier, das im Begriff ist, die Gattung abzustreifen. Somit würde der Instinkt die dringenden Bedürfnisse des Tieres und die Institution die Erfordernisse des Menschen zum Ausdruck bringen [...]. 1 Das Projekt der Philosophie der Differenz scheint nun darin zu liegen, die Differenz ihrem Stand der Verfluchung zu entreißen. 2 Im Folgenden wird eine soziologische Institutionentheorie entfaltet, und zwar aus der Perspektive einer vitalistischen Soziologie oder einer Lebenssoziologie. 3 In dieses Paradigma soziologischer Theorie kann man Georges Bataille, Cornelius Castoriadis, Gilles Deleuze und auch Michel Foucault einordnen. Es handelt sich um ein Denken, das sich aus der nietzscheanischen respektive der bergsonianischen Lebensphilosophie speist und das am raffiniertesten von Deleuze formuliert wurde. In dieser Denkbewegung werden das stetige faktische Anders-Werden des Sozialen (Ereignis) und die gegenläufigen imaginären Feststellungen des Sozialen (Institutionen oder Instituierungen) betont. Sicherlich handelt es sich dabei um eine andere Perspektive als die, welche Alain Badiou mit den Begriffen des Ereignisses und der Institution vorschlägt. Eher geht es in der folgenden lebenssoziologischen Position also um eine Überlegung zur Philosophie Badious ex negativo als um eine Exegese. Einer der ersten Texte von Deleuze widmet sich dem Begriff der Institution, und in seinem gesamten Werk ist die Bemühung zu spüren, das Ereignis und seine Affektivität zu fassen. Das Ereignis ist für Deleuze in der Tat der einzige Begriff, der in der Lage ist, den Begriff des Seins zu entmachten. Die Idee ist also, angesichts zweier Denkweisen, die beide den Anspruch haben, dem Ereignis gerecht zu werden, nicht bei Badiou anzufangen, sondern bei der vitalistischen Differenzphilosophie, bei Bergson-Deleuze: um daraus etwas über Badiou zu lernen. Die Konfrontation zwischen Badiou und Deleuze ist grundlegend. Sie betrifft nicht nur das Denken des Ereignisses, 1 Deleuze 2003: 24-27. Es handelt sich um das Vorwort in Deleuze 1955. 2 Deleuze 1997: 50. 3 Die Lebenssoziologie betont die Vitalität im Sozialen gegenüber der Reduktion auf ‚Sinn‘ oder ‚Nützliches‘. Werke der Lebenssoziologie sind: Bataille 1985, Deleuze/ Guattari 1992, Castoriadis 1984, Maffesoli 1986. Vgl. dazu auch Keller 2004: 355- 378, Seyfert 2008. <?page no="228"?> Heike Delitz 228 sondern tiefer noch die Begriffstraditionen und das Philosophieverständnis insgesamt. Badious Begriffe verdanken sich nicht dem „wilden Tanz“ Nietzsches oder dem „Spazierschritt der schöpferischen Entwicklung“ Bergsons 4 ; Badiou wird der Philosophie die Aufgabe einer „Treue“ zum Ereignis zuweisen, während nach Deleuze die Philosophie dazu da ist, Konzepte und Begriffe zu ‚erfinden’ (ohne deshalb die Ernsthaftigkeit der Philosophie in Zweifel zu ziehen). Am deutlichsten zeigt sich die tief greifende Gegensätzlichkeit beider Denker in dem Text von Badiou über Deleuze: Das Geschrei des Seins. 5 Nach dem Blick auf diesen Text wird die Denkweise der vitalistischen Differenzphilosophie und ihrer Soziologie skizziert: ein Denken, das von Deleuze am elaboriertesten entfaltet worden ist, im Anschluss insbesondere an Bergsons innovative und präzise Philosophie des Lebens. 6 Daraus ergibt sich ein Konzept der Institution, welches diese nicht als Ordnung, Regel und Dauer auffasst, sondern in Hinsicht auf das Ereignis. Genauer gesagt, wird ein zweifacher Blick auf das Verhältnis von Institution und Ereignis ermöglicht: Die Institution ist einerseits selbst das Ereignis. Das instituierte Soziale ist ein unintendierter Effekt, eine Emergenz, die sich nicht aus einem Nutzen erklärt. Andererseits wird die Institution (einmal entstanden) als Feindin des Ereignisses verstanden werden müssen, als Fixierung der fluktuierenden Aktionen in der Einführung einer Routine, während das Leben stets zur Überschreitung tendiert. Der Vitalismus führt dabei nicht zur Auffassung, das Ereignis sei ein Abbruch der sozialen Ordnung überhaupt, ein Einbrechen des Chaos, wie die soziologische Theorie von Durkheim bis Luhmann anzunehmen pflegt. Vielmehr handelt es sich - wie im Leben insgesamt so auch im Sozialen - um ein permanentes Anders-Werden, um stetige Differenzierungen, singuläre schöpferische Ereignisse. In diesem Denken werden Maurice Hauriou, Arnold Gehlen und Cornelius Castoriadis Konzepte der Institution entfalten, wobei ihre Theorien sicher in unterschiedlichem Maß selbst noch mit dem Seins- und Ordnungsdenken der Identitätsphilosophie belastet sind. Hauriou legt den Schwerpunkt auf das Imaginäre in seiner schöpferischen Kraft (und bleibt einem gewissen Platonismus verpflichtet); Gehlen denkt die Institution von der vitalen Verfassung des Menschen her, seinem „Antriebsüberschuss“ (und bleibt einer Ordnungsfixierung verpflichtet). Demgegenüber hat insbesondere Castoriadis die Idee des Werdens und der dies verleugnenden imaginären Instituierung der Gesellschaft entfaltet. Diese Denkweise erlaubt schließlich Überlegungen zur Kunst und Literatur. Lebenssoziologisch betrachtet schafft die Kunst ein vielfältiges 4 Foucault 2001: 704. 5 Badiou 2003. Vgl. zum Verhältnis von Badiou zu Deleuze z.B. Badiou 2002, ders. 1988- 1989: 161-184, ders. 2006: 403-410, Wahl 1992. 6 Bergson 1994, ders. 1912. Bergson hat selbst bereits eine Lebenssoziologie entfaltet: Vgl. ders. 1992. <?page no="229"?> Institution und Ereignis 229 Werden, erfindet (subjektlos gedachte) Affekte, die der Logik der Institution (der Fixierung von Identitäten) entgehen. 1 Deleuze und Badiou: ein ‚seltsames Nichtverhältnis‘ 7 Badiou hat Deleuze einen Essay gewidmet, in dem sich - statt der Einführung in das Denken von Deleuze, das man erwarten wird, statt der „äußerst klaren Darstellung des Denkens von Gilles Deleuze“, die im Klappentext versprochen ist, und statt des „seltsamen Nichtverhältnisses“, das Badious Vorwort gesteht - die Gegensätzlichkeit zum deleuzianischen Denken offenbart. Die Bezugsautoren sind die entgegengesetzten (statt Platon und Hegel liest Deleuze Nietzsche und Bergson); und selbst wenn beide denselben Autor lesen, wird es ein entgegengesetzter sein: Der deleuzianische Spinoza ist für Badiou eine „unkenntliche Kreatur“. 8 Badious Deleuze-Buch stellt eine ‚Umkehrung‘ des Deleuzianismus dar, nachdem Deleuze die „Umkehrung des Platonismus“ vorschlug. 9 Deleuze, so wird Badiou nun argumentieren, denke stets das Gegenteil von dem, was er vorgibt zu denken: Statt die Mannigfaltigkeit zu denken, wie man gemeinhin zu verstehen glaubt, denke Deleuze im Grunde nichts anderes als „das Sein als Eines“, statt der „Apostel des Fließens“ zu sein, handele es sich in Wahrheit um einen „Platoniker“, statt das Leben zu denken, denke Deleuze den Tod, und statt eines anarchistischen Denkers handele es sich um einen „Aristokrat“. 10 Eher als die Kritik an dieser Deleuze-Lektüre ist ihr Anlass interessant: die grundlegend andere Denkweise. Man hat es bei Deleuze mit einem aktuellen Vitalismus, bei Badiou mit einem aktuellen Platonismus zu tun. Es handelt sich bei der vitalistischen Differenzphilosophie um ein Ereignisdenken, das aus der Lebensphilosophie herrührt. Dieses Denken operiert nicht mit den Termini der „Treue“ oder der „Wahrheitsprozedur“. Und während für Badiou die Philosophie die „allgemeine Theorie des Seins und des Ereignisses“ ist, die von der Frage nach der „Wahrheit“ zusammengehalten wird: ein Denken, dass dem „Ereignis treu“ bleiben muss, was eine mathematische Genauigkeit erfordert und einen „andauernden Zwang“ 11 , so ist das (philosophische) Denken für Deleuze stets „Schöpfung, nicht Wille zur Wahrheit, wie Nietzsche deutlich zu machen wußte.“ 12 Im ebenso „tiefsitzenden Nietzscheanismus“ wie Bergsonismus wäre die Annahme von ‚Wahrheit‘ in der Tat merkwürdig. 13 Für Deleuze stellt sich statt dieser Frage die der Ermöglichung eines je neuen Lebens: Die Philosophie erschafft Kon- 7 Vgl. Badiou 2003: 7. 8 Ebd.: 7f. 9 Deleuze 1993: 311f. 10 Badiou 2003. Vgl. Balke 2001. 11 Badiou 1994: 52. 12 Deleuze/ Guattari 1996: 63. 13 Deleuze 1987: 100. <?page no="230"?> Heike Delitz 230 zepte und Begriffe, erfindet neue Verständnisse und Lebensweisen. Und hinsichtlich der Institution zeichnet sich das vitalistische Denken nicht als Anerkennung einer ‚Normalität‘ aus, vielmehr versteht es diese als produktive Selbstformierung des „nicht festgestellten Tieres“ (Nietzsche), das nicht umhin kommt, sich zu fixieren und das Leben ‚einzusperren‘ - und andererseits stets erneut die Routine zu durchbrechen in Richtung auf das „Mehr an Leben“, von dem Bergson ebenso wie Nietzsche sprechen. 14 Grundlegend scheint auch der Gegensatz zwischen Castoriadis und Badiou zu sein: Die Mengenlogik, um die sich der Nachweis der „imaginären Institution“ der Gesellschaft dreht, ist für Castoriadis weit davon entfernt, die ‚wahre‘ Logik zu sein. Diese wäre vielmehr als eine ‚magmatische‘ Mannigfaltigkeit statt als Menge zu denken. Die Mengen- oder Identitätslogik ist für Castoriadis im Gegenteil keine ewige Wahrheit, sondern eine interessierte Leistung des Gesellschaftlichen: eine Verleugnung der Fluidität zugunsten der imaginären Instituierung einer mit sich identischen Gesellschaft, was stets mit Einteilungen und Klassifizierungen der Individuen verbunden ist. Ebenso wenig wird Castoriadis die antike Polis als ein politisches Ereignis verstehen können, welchem zeitliche und räumliche Universalität zukommt: Vielmehr handelt es sich um eine kontingente Erfindung, die von der nächsten Erfindung im Sozialen abgelöst worden ist - und stets erneut abgelöst werden wird. 2 Die vitalistische Philosophie der Differenz oder des Ereignisses In der vitalistischen Differenztheorie fällt das Sein mit dem Ereignis zusammen: Die ontologische Frage nach dem Sein beantwortet sich mit dem ständigen Werden, dem Ereignis, der Differenz. Das Letzte, was man aussagen kann, ist also nicht das Sein, sondern das Ereignis, vielmehr: eine Vielzahl von Ereignissen. Deleuze entfaltet in seiner Relektüre Bergsons (Humes, Spinozas, Nietzsches, Tardes) eine Ontologie, die die klassische Identitätslogik und ihre Ontologie - die „grobschlächtigen Dualismen“ 15 - zugunsten eines Denkens der Immanenz zu verlassen sucht, um sich dem stetigen Anders-Werden als adäquat zu erweisen. Es geht, weit entfernt von einem neuen Platonismus, um eine Neuverteilung der ‚Wesen‘, was neue Begriffe erforderlich macht. Ontologisch wird eine einzige Ebene angenommen, auf der sich alles abspielt: die Immanenz des „einen Lebens“ 16 , während die Philosophie immer nach dem Sein und dem Allgemeinen suchte und das Akzidentielle und Ephemere vernachlässigte. Deleuzes Philosophie hingegen ist eine Philosophie der „Oberfläche“: Das „Tiefste“ ist für sie die 14 Das Leben ist „eine Kraft, die sich immer zu überwachsen begehrt“, Bergson 1912: 132. 15 Deleuze 1980: 85. 16 Deleuze 1996 (a): 20-33. <?page no="231"?> Institution und Ereignis 231 „Haut“. 17 Die neue Ontologie, die Deleuze vorschlägt, ist das Denkmodell einer Oberfläche, unter der es nichts gibt: keine Teilhabe an einem Identischen, Wesentlichen. Es geht darum, zu zeigen, dass alles, was geschieht, und alles, was gesagt wird, an der Oberfläche geschieht und gesagt wird, dass man es also nicht mit einem dualistisch zu trennenden Sein zu tun hat, nicht mit Wesen und Akzidentien, wie insgesamt nicht nur das substanzialistische, cartesianische, dualistische Denken, sondern auch das hylemorphistische Denken - die Vorstellung, man habe es bei allem Seienden mit einer Materie zu tun, der eine Form aufgeprägt ist - außer Kraft gesetzt wird. Von daher erklärt sich auch die Prominenz der Kategorie „Falte“ im Denken von Deleuze, die eine Oberflächenkategorie ist, eine Immanenzkategorie. Das Ausgedrückte existiert nicht unabhängig von seinem Ausdruck; das, was eintritt, und das, was gesagt wird, sind dasselbe: Es bewegt sich alles in einer Immanenzebene (allerdings auf vielen verschiedenen „Plateaus“). Entsprechend bezeichnen die Kategorien des Ausdrucks oder Ereignisses nicht etwas anderes, das sich in ihnen manifestiert: Das „Ereignis“ ist nicht unabhängig von seinem Ausdruck. In der Immanenzontologie gibt es „eine Stimme“: Das heißt nicht, dass alles dasselbe wäre, sondern, dass es keine wesentlicheren oder unwesentlicheren Stimmen gibt. Entsprechend geht es in der „Univozität des Seins“ nicht - wie Badiou Deleuze vorwirft - um das Sein. Die Betonung liegt vielmehr auf der Univozität. 18 Deleuze wird weiterhin das Denkbare oder Wahre der Intensität der Ereignisse unterordnen; im Blick steht die Affektivität. Das „transzendentale Feld“ 19 von Kräften ist entsprechend keines, das Wahrheit ermöglicht, sondern eines, welches das Denken affiziert. Deleuze nennt das Neue das „‚Ereignis’ der Aktualität“, entlang dem Vorschlag Bergsons, das Virtuelle/ Aktuelle statt das Mögliche/ Wirkliche zu denken. Bergson zufolge zeichnet sich das Denken des Möglichen nämlich dadurch aus, dass es die Antwort bereits kennt: Das Mögliche wird als Wirkliches minus seiner Existenz statt als das unvorhersehbare Aktuelle vorgestellt 20 ; und dieses Denken des Kontingenten betrifft nicht zuletzt das Verständnis des menschlichen Lebens, des Sozialen in seinen Institutionen, die ‚schöpferische’ Ereignisse, Emergenzen sind. Die vitalistische Differenzphilosophie kann sich insgesamt auf die Philosophie Bergsons stützen. Bei Bergson heißt es bereits 1907, das Leben sei als Werden, als eine Kette unvorhersehbarer Differenzierungen, als nicht in Abschnitte zerlegbare einzige Bewegung zu verstehen. 21 Für Bergson erweisen sich sowohl die klassische philosophische Denkweise in ihren statischen Trennungen als auch die 17 Deleuze 1993: 26. 18 Ganz im Sinn dieser Immanenztheorie wird Maffesoli eine „formistische“ Soziologie vorschlagen, welche die Gesellschaft in der „Deskription ihrer Haut“ verfolgt: Vgl. ders. 1987. 19 Deleuze 1993: 143, 160, 341ff. 20 Bergson 1948, Deleuze 1997: 268. 21 Bergson 1912. <?page no="232"?> Heike Delitz 232 Evolutionsbiologie in ihrem Anpassungsgedanken als verfehlt. Weit entfernt davon, eine irrationalistische Metaphysik oder einen metaphysischen Irrationalismus einzuführen, geht es Bergson in Auseinandersetzung mit Spencer/ Darwin und der gesamten Philosophie um das adäquate Denken des (menschlichen) Lebens. In der Grundfrage, was das Leben auszeichnet, wird er eine differenzierende Kraft annehmen (élan vital), eine Kategorie, welche die unvorhersehbare Bewegung des Lebens zu denken erlaubt. Die ganze philosophische Tradition stellt sich nach Bergson in ihren Dualismen und den aus ihnen entspringenden metaphysischen Fragen - wie Ordnung möglich sei, wie es kommt, dass etwas sei und nicht vielmehr nichts - Scheinprobleme. Die ontologische Dualität (Ordnung/ Chaos, Wirkliches/ Mögliches, Sein/ Nichts), welche die Philosophie seit Platon zu denken pflegt, zwingt stets zur Annahme statischer Zustände, statt das Werden zu sehen. 22 Ebenso erweist sich das Denken der Zeit als ein statisches Denken, das in der Aufteilung von Zeitintervallen unfähig ist, die wirkliche Bewegung zu denken. Weit entfernt, in diesem Dualismus und in diesem Denken der Zeit eine bloße „Bequemlichkeit des Denkens“ zu sehen 23 , wird Bergson darin ein soziales Motiv entdecken: Die Philosophie bemäntelt ein Interesse an der bestehenden Einrichtung des sozialen Seins. Bergson zufolge gilt es demgegenüber, das stetige Anders-Werden zu denken, die faktische Fluidität der Wirklichkeit. Diese Fluidität wird in der klassischen Soziologie neben Georg Simmel wohl einzig Gabriel Tarde denken: Gegenspieler Durkheims und früher Differenzdenker. 24 Mit dem Plädoyer für das Denken des Werdens und der Bewegung verbindet sich für Bergson eine zweite, diesmal antidarwinistische Grundannahme: Das Leben geht nicht in der ‚Nützlichkeit‘ auf. Vielmehr ist es grundlegend als eine Tendenz nach Mehr-Leben zu verstehen. Angesichts dieser Charakteristik der lebendigen Realität erweisen sich für Bergson physikalische und mathematische Kategorien für das Denken des (sozialen) Lebens als verfehlt: Sie neigen stets dazu, identische Teilmengen abzutrennen und die Zeit in einem überschaubaren Nebeneinander zu bändigen, statt ihre unvorhersehbare „Dauer“ zu sehen. Das Lebendige und damit auch das Soziale sind einer anderen Methode zugänglich als der, mit der die anorganische Materie untersucht wird; man muss die dualistische und die kausale Denkweise verabschieden, das Denken, welches die Prozesse in Ursache/ Wirkung, Subjekt/ Objekt, Materie/ Form teilt. Indem der Bergsonismus versucht, dem ‚Leben‘ gerecht zu werden, erfasst er ein Schlüsselthema des Denkens zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie auch zu 22 Deleuze 1989. 23 „Und weil uns besonders angenehm ist, was wir uns leicht vorstellen können, ziehen die Menschen die Ordnung der Verwirrung vor“, de Spinoza 1977: 104. 24 Balke 1998: 55-79. <?page no="233"?> Institution und Ereignis 233 Beginn des 21. Jahrhunderts - was nicht zu unterschätzen ist, wenn man sich die Frage der Fruchtbarkeit einer Philosophie erlaubt. 25 Bergsons Philosophie des Organischen unterscheidet nun - genauer besehen - drei Lebensformen als divergente Lösungen des einen Grundproblems: des Widerstands des Lebens gegen die Trägheit der Materie. Diese drei Lösungen sind das, was mit Pflanze, Tier, Mensch bezeichnet wird. Das Werden differenziert sich zuvor, grundlegend in „Leben“ und „Materie“, biologische und physikalische Systeme. Deleuze wird in beiden Punkten die Differenzphilosophie radikalisieren: sowohl in der Auflösung der drei Grundformen des Lebens in unendlich viele Singularitäten als auch in der Annahme eines „anorganischen Lebens“ im Anschluss an den „technologischen Vitalismus“ der Bergsonianer Gilbert Simondon und André Leroi- Gourhan. 26 Die Materie besitzt nach Bergson weder Kräfte noch Virtualitäten. Demgegenüber zeichnet sich das Lebendige durch eine permanente Differenzierung, eine Spaltung, aus. Pflanzen- und Tierwelt, dezentrale und zentrale Nervensysteme, Tier und Mensch, offene und geschlossene Gesellschaften sind solche Differenzierungen; ebenso ist die Differenzierung der Tiere in Glieder- und Wirbeltiere und Stachelhäuter und Weichtiere oder die der Pflanzen in Mikroorganismen und höhere Pflanzen eine schöpferische ‚Spaltung‘ des Lebens. Dabei ist die Differenzierungstendenz zugleich eine Tendenz zu innerer Komplikation und stärkerer Abgrenzung nach außen: Das Leben tendiert zur Zunahme innerer und äußerer Falten. Differenzierung bedeutet Steigerung: Die zunehmende innere Faltung von Pflanze, Tier und Mensch geht einher mit der Erhöhung des energetischen Niveaus, einer Erhöhung der Beweglichkeit und damit der Bewusstheit und Kreativität des Lebens. Pflanzliches Leben hat aufgrund seiner Ernährungsweise und seiner fixierten Einbettung in die „Umwelt“ 27 ein vermindertes Maß an Aktivität; das tierische Leben hingegen besteht darin, sich zunehmend explosive Energievorräte zu verschaffen, wobei das Leben aber eingesperrt in Instinkte und Gewohnheiten bleibt, während es nur im ‚Menschen‘ dazu gelangt, in den Individuen selbst kreativ zu werden. 28 Die Differenztheorie des Lebens wird also ergänzt durch eine Energietheorie, welche die differenten Formen verbindet und deren Kontraste bewahrt. Leben ist insgesamt die Tendenz, Energie zu sammeln und zu verausgaben; dabei schmarotzt das tierische Leben an der Pflanze, die allein Sonnenenergie sammelt, die einzelnen tieri- 25 Plessner 1975: 4. 26 Deleuze/ Guattari 1992: 562ff., Simondon 1958, ders. 1964, ders. 1989, Leroi-Gourhan 1945. Deleuze bezieht sich zudem auf Worringer 1911. Das Konzept des ‚anorganischen Lebens‘ trifft einen Punkt bei Bergson, den auch Merleau-Ponty traf: den Einschnitt zwischen dem Leben und der Materie, der statt der Immanenz erneut einen Dualismus einzuführen scheint. Vgl. Merleau-Ponty 1976: 181f., Deleuze 1997: 176. 27 Vgl. zu diesem Begriff (jenseits der Pflanze) von Uexküll 1909. 28 Ähnliche Differenzierungen bei Plessner 1975 und Brock 2005. <?page no="234"?> Heike Delitz 234 schen Lebensformen schmarotzen aneinander, und das menschliche Leben ist der Parasit sowohl des tierischen als auch pflanzlichen Lebens. In der Form des Lebens, die der Begriff ‚Mensch‘ bezeichnet, hat die Tendenz zur Differenzierung eine „Sonderstellung“ erreicht. 29 In ihm richtet sich das Bewusstsein in freier Aufmerksamkeit auf die Materie, es ist das phantasiebegabte Wesen; das Leben ist sich hier gleichsam selbst vorweg, es steht mit einem Fuß im Virtuellen. Möglich ist dies durch ein „zerebrales Charakteristikum“, einen Spalt zwischen Reiz und Reaktion: Nur dieses Lebewesen ist „imstande, sich jede Bewegung anzugewöhnen“. Während das Nervensystem im Tier motorischen Mechanismen dient, kommt es hier zu „inkommensurablen Ergebnissen“ 30 , insbesondere in der Sprache, in der sich das Bewusstsein selbst ergreift und eine innere Welt schafft. Entsprechend hat nur der menschliche Körper die Möglichkeit, auf Stimuli nicht zu reagieren und stattdessen etwas Neues zu unternehmen. Bergson kennzeichnet die menschliche Lebensform zutiefst durch die Fähigkeit der Fabulation. Nicht nur homo faber (das von Natur aus künstliche Wesen), sondern die Wirklichkeit schaffende fabulatorische Imagination ist das, was die „Form ‚Mensch‘ kennzeichnet“. 31 Bergson wird in seinem letzten Werk diese grundsätzliche fabulatorische Fähigkeit in Hinsicht auf eine Institutionen- und Gesellschaftstheorie entfalten. Die Fabulation ist ihm zufolge zunächst die gegen die Gefahren der Intelligenz gerichtete Fähigkeit menschlichen Lebens, seine Existenz an „unvernünftige Dinge zu hängen“. In ‚geschlossenen Gesellschaften‘ erschafft sich der Mensch eine Wirklichkeit, in der er sich als ewig fortbestehend denkt, in der es einen Mechanismus gibt, nach dem die unvorhersehbaren Ereignisse ablaufen und sich die Individuen einordnen, in dem das Denken durch Mythen und Dogmen begrenzt ist. 32 Die durch die Fabulation geschaffene Institution ist in solchen Gesellschaften das Ergebnis einer Kollektivierung, die im Ameisenkollektiv im Grunde ebenso abläuft: begrenzend, fixierend, statisch. Die Institution ist hier eine Abwehrmaßnahme der Natur in ihrem instinktiven Aspekt gegenüber der individuellen Kreativität. Es gibt aber auch ‚offene Gesellschaften‘, in denen die Fabulation auf andere Weise funktioniert, in denen der schöpferische Aspekt instituiert wird. Solche Gesellschaften nutzen die erfinderische Kraft der Imagination oder Fabulation, lassen Kontingenz zu, integrieren sich nicht durch Dogmen, sondern durch die faszinierenden Ideen Einzelner. Bergson wird diese von der Natur angelegte Fähigkeit, die zu zwei Gesellschaftsformen führt, als (spinozistische) Differenz von natura naturata und natura naturans darstellen. 33 Die geschlossene Gesellschaft ist die Gesellschaft der Fabulation von Me- 29 Deleuze 1989: 134. Vgl. Bergson 1912: 187, 273. 30 Bergson 1912: 188. 31 Ebd.: 270. 32 Bergson 1992: 80, 104. 33 Ebd.: 46. <?page no="235"?> Institution und Ereignis 235 chanismen hinter den schöpferischen Ereignissen, während die offene Gesellschaft die individuelle Kreativität zulässt, wobei sich die Fabulation als emanzipativ erweist, als ständige Erfindung neuer Lebensformen und Selbstverständnisse. Die Botschaft dieses 1932 entstandenen Werks ist: Die „Tür wird offen bleiben für immer neue Schöpfungen“, für neue, unvorhersehbare Ereignisse. 34 Wie Bergson selbst ist auch Deleuze sicherlich eher der Denker des Ereignisses als der Institution. Gleichwohl gibt es einen frühen Text, in dem noch vor der Entfaltung der Differenzphilosophie eine anthropologische Institutionentheorie skizziert wird: „Der Mensch hat keine Instinkte, er hat Institutionen. Der Mensch ist ein Tier, das im Begriff ist, die Gattung abzustreifen [...] Letztlich wird das Problem des Instinkts und der Institution an seinem akutesten Punkt erfaßt [...] in den Beziehungen zwischen Tier und Mensch, wenn die Erfordernisse des Menschen das Tier betreffen“, oder „wenn die Dringlichkeiten des Tieres dem Menschen begegnen“. 35 3 Die Institution als Ereignis Maurice Hauriou hat im unmittelbaren Anschluss an Bergson eine vitalistische Theorie des Sozialen entfaltet: eine Institutionentheorie, deren Aufmerksamkeit auf der unergründlichen Emergenz der Institution liegt. Hauriou versteht seine „Theorie der Institution und ihrer Gründung“ explizit als einen Versuch über den „sozialen Vitalismus“. Diesem Vitalismus geht es nicht so sehr um die Dauer als vielmehr um den Akt der Schöpfung der Institution; er fragt nach der „schöpferischen Macht“ in der Gesellschaft. Wie der élan vital sich durch die Schöpfung von Neuem in der organischen Natur auszeichnet, will Hauriou den élan vital im Sozialen aufspüren. Zentral ist dabei die Annahme der idée directrice: Die Institution ist nichts anderes als die organisierende Idee eines Vorhabens, die in einem sozialen Milieu Unterstützung und Veranschaulichung findet, wofür verschiedene Medien in Frage kommen: Architektur, Text, Kunst. 36 Entscheidend ist: Das Imaginäre ist für die Entstehung der Institution als Organisation des individuellen Handelns, Fühlens und Denkens zentral. Und diese Wertschätzung des Imaginären als ‚Wirklichkeit‘ ist erneut ein (sicher nicht exklusives) Merkmal des Bergsonismus: die Idee, die ‚Wirklichkeit‘ bestehe in der Imagination - die nichts repräsentiert, sondern „unaufhörliche und indeterminierte Schöpfung von Realität“ ist. 37 Der Ausgang von der Imagination ist gleichermaßen für die Institutionentheorie von Castoriadis und Gehlen charakteristisch: Letztere unterscheidet sich vom Vitalismus in der Tat nicht in der vitalistischen Annahme 34 Bergson 1992: 60. 35 Deleuze 2003. 36 Hauriou 1965: 27-66. 37 Castoriadis 1984: 12. Vgl. Bergson 1991. <?page no="236"?> Heike Delitz 236 der Tendenz des Lebens zu Überschreitungen, zu Mehr-Leben, als durch die äußerst skeptische Haltung gegenüber dieser Tendenz. Der Institutionentheorie Gehlens liegt eine explizit anthropologische These zugrunde, wie sie implizit bereits Bergson entfaltet. Ausgegangen wird von der unvergleichlichen Plastizität der Lebensformen des Menschen und seiner „Antriebsüberschüssigkeit“. Es handelt sich um eine vitalistische Anthropologie wider Willen, die das Wesen menschlichen Lebens darin versteht, dass es sich zu formen gezwungen ist, während das Tier seinen Instinkten folgt, und die den Menschen darin als zutiefst riskiert versteht. Im Gegensatz zu Bergson und der Differenzphilosophie ist Gehlen interessiert an der Institution als Herstellung von ‚Ordnung‘. Entsprechend stellt sich die Ereignishaftigkeit menschlichen Lebens als Kontrapunkt der Institution dar. Institutionen erweisen sich für Gehlen als existenznotwendig, insofern sie gegen das Ereignis das Denken und Handeln stabilisieren und routinisieren. Expliziter als in der Lebensphilosophie dreht es sich hier um die „Sonderstellung“ des Menschen. 38 Ein Merkmal dieses Lebewesens ist die Institution, die an Stelle der tierischen Instinkte steht. Die Singularität menschlichen Lebens liegt bereits im Organischen, in der spezifischen organischen und nervösen Variabilität, mit der die „Unergründlichkeit“ des ‚Inneren‘ und die Überschüssigkeit der vitalen Antriebe einhergehen. Nur das nicht festgestellte Tier ohne Instinkte muss sich selbst auf Dauer stellen, es muss sich formieren oder institutionalisieren. Es muss sich sowohl ein dauerhaftes Bild der Außenwelt als auch der Innenwelt schaffen und sich bis in die Verhaltens- und Denkweise, bis in die Motive und Interessen hinein feststellen. Damit kommt die Institution ins Spiel, die auf eine symbolische Darstellung angewiesen ist. Verhaltensweisen und Interessen dauern, so Gehlen, nicht ohne einen anschaulichen „Außenhalt“: ohne die symbolische Darstellung einer Leitidee (idée directrice). 39 Die Institution stellt sich in symbolischen Mechanismen (Riten, Uniformen, Bauwerken) nicht nur dar, sondern her; ihre Objektivität, ihre Sollgeltung hat sie nur, indem sie sich verkörpert. Die Institution stabilisiert das strömende Innere in Rollen und Identitäten und ermöglicht erst soziales Verhalten: Sie stellt Handlungen im „Intitialzustand“ auf Dauer, fixiert sie unter der bewussten Entscheidungsschwelle. 40 Institutionialisierungen ermöglichen derart erst Erwartungserwartungen, Interaktionen. Also muss alles, was die Routine stört, vermieden werden: das Ereignis. 41 Die Institutionen routinisieren aber nicht nur. Vielmehr treiben sie zugleich - indem sie Bedürfnisse in die Hintergrunderfüllung schieben und elementare Verrichtungen von Entscheidungen entlasten - die menschliche Vitalität erneut in das Unwahrscheinliche, zur Durchbre- 38 Zum Paradigma philosophischer Anthropologie vgl. Fischer 2008. 39 Gehlen 2004: 47. 40 Ebd.: 119, 133, 299. 41 Dieser Gedanke findet sich als „doppelte Kontingenz“ bei Luhmann; der Gedanke der Stabilisierung durch die symbolische Ordnung ist Ausgangspunkt des Dresdner SFB 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“. <?page no="237"?> Institution und Ereignis 237 chung der Routine, zu neuen Ereignissen. Daraus speist sich die Kultur. Die kulturelle Evolution ist für Gehlen eine unbestimmte „Gesetzlichkeit nach aufwärts“, die man nicht theoretisch fassen könnte und die allenfalls im „Vorgriff auf mehr Leben“ zu fassen sei, welches sich in der Kunst zeigt. Die Kunst ist demnach eine produktive Verausgabung, in der die „Steigerung des Menschen zu sich selbst“ gelingt. 42 Die entscheidende Frage hinsichtlich der Institution ist zunächst aber die Frage, wie sie entspringt. Es handelt sich auch für Gehlen um ein Emergenzgeschehen: Soziale Ordnungen entstehen eigengesetzlich, sie sind nicht als Ergebnis einer Kalkulation denkbar. 43 Sie mögen zwar immer einen „direkten Erfüllungswert“ für vitale Bedürfnisse haben, wesentlich ist aber ihre Verselbständigung, ihre Objektivität, sodass man von der Institution her handelt. 44 Die Riten beispielsweise stabilisieren sich, sie gewinnen ein Eigenleben, werden zu Gewohnheiten, die sich uns aufzwingen. Selbst die am zweckvollsten anmutenden Institutionen Tierzucht und Pflanzenanbau sind nicht zweckrational zu erklären; vielmehr entstammen sie nach Gehlen dem „darstellenden Verhalten“. 45 Das Tier war nach Gehlen zunächst das heilige, rituell verkörperte Tier, bevor man es zielgerichtet domestizierte. Die erste Institution, die den ‚Menschen‘ als solchen (Sich-reflexiv-Gewordenen) hervorbringt, erklärt sich Gehlen entsprechend als totemistische Identifikation. Der Mensch hat sich zunächst vom Tier her seine Identität geschaffen, vom Totem mit bestimmten Handlungsanweisungen, Tabus und Riten - was „moralisch produktiv“ war. Zum ersten Mal handelt es sich hier um eine Selbstformierung, um die Umschaffung des eigenen Inneren zum ‚Tier-Werden‘. 46 Diese Institutionentheorie ist doppelt lebenstheoretisch begründet: einerseits in der Annahme eines Lebendigen, das sein Leben künstlich stabilisieren muss; andererseits in der Annahme seiner Überschüssigkeit, seinem Drang nach mehr Leben, die insbesondere in seiner Imagination steckt. 4 Institution und Ereignis als ‚Feind-Verhältnis‘ Cornelius Castoriadis wird den Aspekt der Imagination sicher am stärksten betonen und dabei das Ereignis als stetiges Anders-Werden (vermittelt über Merleau-Ponty) sehr nahe an Bergson entfalten. 47 Die Institution oder Instituierung verleugnet die ständige Ereignishaftigkeit des Sozialen, sie ist 42 Gehlen 1993: 378ff. und 422ff. Vgl. Gehlen 2004: 9. 43 Gehlen 1971: 196-231, 213. Auch Durkheim hat bekanntlich diese Eigengesetzlichkeit beschrieben, die Entstehung der Institution aus der kollektiven Erregung: Vgl. ders. 1994. 44 Gehlen 2004: 18. 45 Ebd.: 166-180. 46 Ebd.: 236. 47 Zum impliziten Bergson-Bezug bei Castoriadis siehe Cassinari 2006: 135-168. <?page no="238"?> Heike Delitz 238 der Feind des Ereignisses. Die erste Instituierung und damit die Geschichte des Menschen setzt nach Castoriadis an dem Punkt ein, an dem man zum ersten Mal Bedeutungen, eine Sprache und das Gesellschaftliche erfunden hat. Dieser Anfang war ganz sicher ein unvorhersehbares Ereignis: durch nichts verursacht, auch nicht (im Unterschied zu Gehlen) durch vorgebliche ‚Mängel‘ der menschlichen Vitalität. 48 Es handelt sich um einen kontingenten Bruch im lebendigen Sein. Bei der Theorie der imaginären Institution der Gesellschaft hat man es mit einem affirmativen Vitalismus (dem Vitalismus im engeren Sinn) zu tun: der aufmerksam macht auf die Fluidität des Sozialen und auf die gegenläufigen Fixierungen und Einteilungen, die die „Gesellschaft“ für sich selbst herstellt, nicht zuletzt übrigens durch ihre Soziologie. Die Realität des Gesellschaftlich-Geschichtlichen ist für Castoriadis (wie die Realität insgesamt für Deleuze und wie das Organische für Bergson) ein stetiges Anders-Werden. Das Gesellschaftliche ist als sich immer wieder neu schöpfend zu verstehen; es gibt weder eine Entwicklungslogik noch eine Wahrheit der Vergesellschaftung. 49 So ist etwa die kapitalistische Gesellschaft irreduzibel anders als die feudale; sie geht nicht aus dieser hervor, entwickelt sich nicht aus ihren Widersprüchen, sondern ist eine Erfindung. Ebenso ist die hierarchische Ordnung in der Antike, ihre Konzentration von Macht in asymmetrischen Kräfteverhältnissen, eine Erfindung. In dieser Weise ist die gesamte Gesellschaft und die Geschichte als „wesentliche Unbestimmtheit“ zu denken, als „Andersheit und Anderswerden“ oder als Serie schöpferischer Ereignisse. 50 Das Soziale ist auf seiner elementaren Ebene ein (unproduktives) Auftauchen von Anderem. Jede Gesellschaft, selbst die, die am meisten auf ihre Konservierung bedacht ist, wie das alte Ägypten, besteht faktisch nur, indem sie sich unaufhörlich verändert. Dieser fluide Charakter des Sozialen drängt die Frage auf, wie sich eine Gesellschaft als solche durchhält: durch die imaginäre Instituierung. Die Instituierung der Gesellschaft ist zutiefst ein Feind des Ereignisses. Denn das Gesellschaftliche muss sich sein faktisches Anders-Werden stets verschleiern, sich ihm gegenüber als eine fixe Gestalt instituieren, um sich identifizieren zu können und die Individuen entsprechend einzuteilen, zu identifizieren, zu klassifizieren, zu behandeln. Faktisch ist das Gesellschaftliche stets in sich verschoben, stets anders-werdend. Die Institution, durch die das Gesellschaftlich-Geschichtliche Gestalt annimmt, ist die Form, in der es versucht, sein Jetzt zu überschreiten und es mit dem Vergangenen und Zukünftigen koexistieren zu lassen. Die Gesellschaft verdeckt sich in ihrer Institution den Blick auf das, was sie ist: Alles „spielt sich so ab, als könne sich die Gesellschaft nicht als sich selbst erschaffende, als Institution ihrer selbst“ erken- 48 Castoriadis 1984: 217 (Schöpfung der Bedeutung und Gesellschaft), 232 (Unbestimmtheit der Bedürfnisse). 49 Das gilt mit Ausnahme der kommunistischen, „unentfremdeten“ Gesellschaft, die aber unbenennbar bleibt. 50 Castoriadis 1984: 341. <?page no="239"?> Institution und Ereignis 239 nen. Die Gesellschaft ist also nichts anderes als die Institution: Setzung von Gestalten, Schöpfung von Bedeutung. Begründet ist das Gesellschaftliche hier ersichtlich nicht in Ökonomie oder Kommunikation (Marx, Luhmann), vielmehr im radikalen Imaginären: dem menschlichen Vermögen, sich etwas vorzustellen, was nicht ‚ist‘. Diesem Vitalismus geht es um die Aufdeckung der „Ausblendung des Imaginären und des Gesellschaftlich-Geschichtlichen, die sich aus der Verleugnung der Schöpfung und aus der gewaltsamen Reduktion der Geschichte auf Wiederholung ergeben“. 51 Die Gesellschaft existiert also nur, indem sie sich außerhalb der Zeit - des Werdens - stellt. Weder kann sie sich vorstellen, ganz anders zu werden, noch, ganz anders gewesen zu sein. Stets will sie die Zeit kontrollieren. Castoriadis spricht daher vom „Gesellschaftlich-Geschichtlichen“. Das Gesellschaftliche erschafft sich als Geschichte. Die Koexistenz der Einzelnen wird erst in dieser Imagination zur Gesellschaft. Sie ist nicht in einer Geschichte oder wird von ihr affiziert. Vielmehr sind Gesellschaft und Geschichtlichkeit eins. 52 Damit wird die Art, Zeit zu erschaffen, zur Signatur einer Gesellschaft: Der Kapitalismus besteht in der „effektiven“ und „unendlichen Zeitlichkeit“. 53 Die Gesellschaft existiert aber auch nur, indem sie sich eine spezifische Ontologie und Logik gibt, die bis in die Grammatik hineinreicht. Wie das Sein identitätslogisch jenseits der Zeit vorgestellt wird, begreift sich das Soziale mengentheoretisch jenseits des vitalen, überschüssigen Werdens: indem es sich zählt, ordnet und klassifiziert. Es begreift sich jenseits des „Magmas“, das es ‚ist‘, als Menge. 54 5 Die Kunst als Ereignis gegenüber der Institution Fragt man nun nach dem Status der Kunst und der Literatur in der lebenssoziologischen Konzeption von Ereignis und Institution, so wird man wohl zunächst an Georges Bataille denken, der die - instituierte - Kunst als einen Teil der für die menschliche Sozialität konstitutiven Verausgabung und als Teil der Verschwendung in der „universalen Ökonomie“ des Lebens insgesamt versteht. Vom „partikularen“ menschlichen Gesichtspunkt aus scheint es stets einen Mangel an Energie zu geben; vom „allgemeinen Gesichtspunkt“ aus ist das entscheidende ökonomische Problem nach Bataille aber das „Vorhandensein von Überschüssen“. 55 Dieses ‚Problem‘ bestimmt grundlegend jede menschliche Aktivität, die dem Leben einerseits fulminant erweiterte Möglichkeiten schafft und andererseits die vorhandenen Energien „erheblich vergrößert“. 56 Hinsichtlich des Ausgleichs des Energiehaushalts (der globalen Temperatur) ist das Leben hier auf eine immer größere Ver- 51 Castoriadis 1984: 337. 52 Ebd.: 349, 363f. 53 Ebd.: 350. 54 Ebd.: 310, 372ff. 55 Bataille 1985: 66. 56 Ebd.: 62. <?page no="240"?> Heike Delitz 240 ausgabung angewiesen. In diesem sicher etwas obskur erscheinenden lebenstheoretischen Blick ist die Kunst in ihrer Unnützlichkeit eine lebensnotwendige Institution, bei Strafe der Energiestauung und des folgenden Untergangs ganzer Gesellschaften. Das hatte der Feudalismus erkannt, für den die Verschwendung noch nicht der ‚verfemte Teil‘ der Ökonomie war. Gleichwohl ist die Verausgabung auch gegenwärtig wirksam in Fest, Erotik, Gewalt, Krieg, Spiel, und Kunst: in den vielfältigen kleinen Verausgabungen, auf die sich die vitalistische „Soziologie des Alltags“ richtet. 57 Wie Feuerwerke und Prachtbauten ist die Kunst die partielle Preisgabe des Nützlichen zugunsten des vollen Lebens. Architektur, Tanz, Musik sind dabei „tatsächliche“, die Poesie eine „symbolische“, darstellende Verausgabung 58 : Sie alle begründen zudem soziales Prestige nach dem Modell der agonalen Gabe bei Marcel Mauss und stiften damit eine instituierte, hierarchisierte Sozialität, die imaginäre Einteilung des sozialen Seins. Schließlich ist die Kunst lebenssoziologisch nicht nur allgemein-ökonomisch notwendig und nicht nur sozial einteilend. Sie bedeutet auch die Emergenz des Menschen als solchem. Denn die Kunst führt eine entscheidende Differenz zur Welt der Arbeit ein, in der sich der Mensch nach Bataille erst grundlegend vom Tier unterscheidet. Nicht die Entstehung des Werkzeuges, sondern erst die Kunst als Übertretung des Nützlichen kennzeichnet den ‚Menschen‘ im Unterschied zum Tier. Erst im Unnützlichen - der Kunst - „bricht“ das menschliche Leben aus, das sich „immer übersteigern muß“. 59 Die Kunst wäre lebenssoziologisch wohl zugleich selbst eine Institution als auch der Institution feindlich: Letztlich dient diese dem Nützlichen - der Ordnung, Einteilung, Identifizierung, dem Erwartbaren -, während sie zugleich (insbesondere in der funktional differenzierten Gesellschaft) auf die Überschreitung, auf das Ereignis angelegt ist: auf die Erfindung des Neuen. Und was erfindet sie Neues? „Von aller Kunst wäre zu sagen: Der Künstler ist Zeiger von Affekten, Erfinder von Affekten, Schöpfer von Affekten“. 60 Deleuze wird die Aufgabe der Kunst darin sehen, das „Perzept“ und den „Affekt“ dem Subjekt zu entreißen und einen reinen Empfindungskomplex herzustellen. Es geht um die Idee einer subjektlosen Affektion, einer erhebenden Erregung, von der das Subjekt ergriffen wird, jenseits der Versprachlichung, Zurechtstellung, Fixierung, jenseits der Subjektivierung, der Verfügbarkeit. ‚Subjektivität‘ ist lebenssoziologisch immer schon ein Fixieren, Bändigen, Einsperren des Anders-Werdens, der reinen Vitalität. Große Literatur schaffe es demgegenüber, die Landschaft unabhängig vom Subjekt, unabhängig von sich selbst wahrzunehmen; sie schaffe es, dass man ganz in sie eingeht. Die große Kunst verschafft ein „Nicht-Menschlich-Werden des Menschen“, ein Wal-Werden und ein Bartleby-Werden bei Melville, 57 Maffesoli 1986. 58 Bataille 1985: 14f. 59 Bataille 1986: 27, 38f. 60 Deleuze 1996 (b): 207. <?page no="241"?> Institution und Ereignis 241 ein Käfer-Werden und K.-Werden bei Kafka. 61 Die Literatur hat es wie alle Kunst also weder mit Erinnerungen noch mit Phantasmen zu tun: Es geht nicht darum, etwas zu schildern. Es geht um das reine Leben, um das reine Ereignis, um das Gegenwärtige, Aktuelle gegenüber der Instituierung, der Feststellung des ständigen Werdens. In dieser Kreativität, in der Schaffung neuer, berührender Gestalten in jedem Einzelnen wird die Kunst auch das Gesellschaftlich-Geschichtliche insgesamt ein Stück weit zu einem anderen machen: zu etwas, das sich auf andere Weise imaginär instituiert. Entlang einer vitalistischen Differenzphilosophie denken, heißt, das Leben philosophisch und soziologisch ernst zu nehmen: als Bewegung oder kontingente Serie von Ereignissen, nicht ohne zugleich die Institution zu denken, ihre Produktion von Subjekten und ihr Verleugnen des Ereignisses. Während die Institution das fluktuierende menschliche Leben fixiert, ihm aber auch einen Ausdruck ermöglicht, können Kunst und Poesie demgegenüber ein reines Werden verschaffen. Die Kunst in ihrer Möglichkeit, etwas zu schaffen, was bisher nicht existiert, erschließt sich dann sowohl diesseits als auch jenseits der Frage der Institution: Sie verschafft dem Gesellschaftlichen nicht nur eine symbolische Gestalt, sondern überschreitet immer auch das Instituierte. Weit entfernt, eine Gesellschaft und ihre Lebensform zu reproduzieren oder zu repräsentieren, setzt die Kunst - vor allem die visionären Künste wie Architektur und Roman - andere Formen des Gesellschaftlichen. In seiner Architektur und Literatur forciert sich das Gesellschaftliche, schafft es sich selbst eine neue Gestalt, in der es sich mit anderen Augen zu sehen lernt - und damit anders wird. Literaturverzeichnis Badiou, Alain, „Gilles Deleuze, Le Pli: Leibniz et le Baroque“, in: Annuaire philosophique 1 (1988-1989), S. 161-184. Badiou, Alain, „Philosophie und Poesie: am Ort des Unnennbaren“, in: Dubost, Jean- Pierre (Hrsg.), Bildstörung. Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung, Leipzig 1994, S. 39-54. Badiou, Alain, Gott ist tot. Kurze Abhandlung über eine Ontologie des Übergangs, übers. von Jürgen Brankel, Wien 2002. Badiou, Alain, Deleuze. Das Geschrei des Seins, übers. von Gernot Kamecke, Zürich/ Berlin 2003. Badiou, Alain, Das Sein und das Ereignis, übers. von Gernot Kamecke, Zürich/ Berlin 2005. Badiou, Alain, „L’événement selon Deleuze“, in: ders., Logiques des mondes, Paris 2006, S. 403-410. Balke, Friedrich, „Eine frühe Soziologie der Differenz: Gabriel Tarde“, in: Binczek, Natalie/ Zimmermann, Peter (Hrsg.), Eigentlich könnte alles auch anders sein, Köln 1998, S. 55-79. 61 Deleuze 1996 (b): 204. <?page no="242"?> Heike Delitz 242 Balke, Friedrich, „Eine andere Erneuerung der Ontologie. Gilles Deleuzes Ethik des Seins“, in: Abel, Günter (Hrsg.): Französische Nachkriegsphilosophie. Autoren und Positionen, Berlin 2001, S. 251-280. Bataille, Georges, Die Aufhebung der Ökonomie, übers. von Heinz Abosch/ Gerd Bergfleth/ Traugott König, München 1985. Bataille, Georges, Die vorgeschichtliche Malerei: Lascaux oder Die Geburt der Kunst, übers. von Karl Georg Hemmerich, Stuttgart 1986. Bergson, Henri, Schöpferische Entwicklung, übers. von Gertrud Kantorowicz, Jena 1912. Bergson, Henri, „Das Mögliche und das Wirkliche“, in: ders., Denken und Schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, übers. von Leonore Kottje, Meisenheim 1948, S. 110-125. Bergson, Henri, Materie und Gedächtnis. 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Denn evident ist das, wozu keine Entscheidung nötig oder überhaupt angemessen ist; und entschieden wird da, wo eine solche Evidenz fehlt. Die Philosophie Badious legt beides in eins und beginnt da, wo das Evidente sich mit einer Entscheidung doppelt. Damit hat sie für sich - und somit für alles, was ihr Anderes sein mag - eine klare Linie gezogen, eine Grenze, hinter die sie nicht zurückgehen will. Man kann diese Grenzlinie als die axiomatisch-evidente bezeichnen. Denn auf ihr versucht sich eine möglichst „reine“ Axiomatik unter Affirmation ihres irreduziblen „Entscheidungselements oder ... des Elements einer bedingungslosen Annahme, deren Gültigkeit immer nur retroaktiv geklärt werden kann“, mit ihrer „unmittelbaren Rechtfertigung (einer ‚Evidenz’, wenn man will)“ 1 zur Deckung zu bringen. Sie ist Grenze, weil vor ihr nichts für diese Philosophie Denkwürdiges liegen kann und weil von ihr aus das Denken sich bildet. Sie ist Linie, weil sie zudem die Doppelung von reiner Idealität und Materialität darstellt. Die wichtigsten Konstituenten der badiouschen Philosophie - Ontologie als Mathematik bzw. reine Mannigfaltigkeitslehre und Subjekt als Modus eines Formalismus (Loqiques des mondes) oder als lokale Anordnung von Endlichkeit und Unendlichkeit (L’être et l’événement) - entstehen in ihrem Zusammenhang auf dieser Grenzlinie. Als Paradoxes kommen dieser Grenzlinie verschiedene Bestimmungen zu: Es ist die Linie, die die eine Linie dieser beiden - Entscheidung und Rechtfertigung, Nachträglichkeit und Unmittelbarkeit - auf ungeschiedene Weise sein will; die Linie, die vor jedem axiomatisch begründeten Quantum liegen will und ihr Einssein darin vergessen muss; sie ist die Linie nicht einer Entscheidung, sondern eines Willens: Es ist die Linie des klassischen Rationalismus, die auf ihren Verlauf zwischen Axiom und Evidenz, Setzung und Affizierung durch Notwendigkeit dergestalt zurückgeführt wird, dass sie zum an sich selbst unproblematisch erklärten Umriss der Form an sich werden solle, sowie dergestalt, dass dieser Verlauf Träger eines Subjekts werde. Die folgenden Ausführungen versuchen, sich vor dieser Grenzlinie zu halten: In dieser Hinsicht sind sie präliminär; sie tun dies in einer notwendig 1 Badiou 2006 (b): 19f. (eigene Übersetzung, M.C.). <?page no="246"?> Marcus Coelen 246 unfertigen Weise, da allein dem Gebiet auf und innerhalb der Grenze, um die es geht, die Bestimmung über das Ganze zukommt: In dieser Hinsicht sind sie vorläufig. Auch nur annähernd von einem Platz vor dieser Grenze zu sprechen, kann einem den Vorwurf des Irrationalismus einbringen. Aber viel gravierender ist die Frage des Sprechens von dort aus: die Frage nach den Formen, Weisen und Aussetzern dieses Sprechens, von denen die Form der Frage selbst noch eine einfache Erscheinung ist. So hat die Suche nach der Formulierung sich zunächst mit der Frage auseinanderzusetzen. Das, was sich da in der Nähe zur Frage formuliert, betrifft die Frage selbst, das Subjekt und die Formulierung. Aus der Mannigfaltigkeit dieser Formulierungen sind im Folgenden die psychoanalytische Antwort auf die Frage des Subjekts (Lacan) und die fraglose Schrift einer Literatur (Blanchot) ausgewählt. Unbestreitbar ist, dass das Subjekt für Badious Philosophie von zentraler Bedeutung ist. Der Bereich dieses Schlüsselbegriffs geht allerdings weit über die präliminäre Frage hinaus, lässt sie sogar gänzlich unberührt. Denn das Subjekt beginnt für Badiou erst mit der Entscheidung zur Doppelung von Entscheidung und Evidenz, welche die badiousche Grenze markiert. Die Unverbundenheit mit dieser Frage ist genau dem Anspruch gemäß, den Badious Philosophie in Bezug auf die „Frage des Subjekts“ formuliert. Hat doch die in einer bestimmten Logik und Praxis der Begrenzung und Setzung in hellem Licht erscheinende Behauptung und Bestärkung des Subjekts in dieser Philosophie zum Effekt - und diese Behauptung mag überraschen -, dass die Frage des Subjekts für Badious Philosophie gerade nicht von Interesse ist, von ihr vielleicht nicht einmal als würdig erachtet wird. Allerdings wäre schon gar nicht „die Frage nach der Frage“ (des Subjekts) für diese Philosophie von Interesse. Denn es gehört zu dem, was man an diesem Denken und an den Formulierungen, die von ihm ausgehen, in verschiedener Weise - affirmativ, kritisch oder gar polemisch - respektieren, zumindest anerkennen muss: Dieses Denken scheint zu fordern, dass ein derartiges Zögern, Sich-hin-und-her-Bewegen vor der Philosophie, vor jedem Einsatz der Philosophie und in die Philosophie, dass jedes Fragen, das in irgendeiner Weise dazu kommt, die Position der Stimme, die fragt oder die anderes fragwürdig erscheinen lässt, verschwinden möge. Anstelle der Frage - auch der Frage der Frage - steht hier etwas, das sich als Ergebnis einer Entscheidung benennt. Und ‚anstelle’ ist natürlich ein ungenauer Ausdruck, denn es kann sich nicht um dieselbe Stelle handeln, von der ein Fragen ausgeht oder an der ein Entscheiden sich manifestiert. Badiou hat, unter Affirmation der dezisionistischen Geste, die damit einhergeht, eine bestimmte Diagnose gestellt, und viele, die ihm folgen, formulieren ihre Gefolgschaft durch die Wiederholung dieser Diagnose: Sie lautet, dass ein Für oder Gegen das Subjekt, ein Für oder Gegen die Kategorie des Subjekts oder den Begriff des Subjekts, als im starken Sinne des Wortes entscheidend für das Denken anzusehen sei. Mit der Akzeptanz dieser Diagnose <?page no="247"?> Noch einmal die Frage des Subjekts? 247 und der irreduziblen Zweiwertigkeit der Situation, die sie beschreibt, ist nicht nur eine Entscheidung für eine dieser beiden Seiten gefallen, sondern im selben Zug hat sich mit der Diagnose dieser philosophischen Situation die Entscheidung für diese Entscheidungssituation selbst und für die Konfrontation mit der so bestärkten Unentrinnbarkeit vollzogen. Was sich so aber analytisch trennen lässt - zum einen die Entscheidung, das Denken in die Diagnose einer zweiwertigen Situation zu zwingen, die durch die Opposition Subjekt oder Nicht-Subjekt bestimmt ist, und, zum zweiten, die darauf folgende Entscheidung für die Subjektseite -, ist aus der Sicht dieses Subjekts dasselbe. Jedenfalls für das Subjekt, das sich entschieden hat oder für das entschieden wurde, dass mit ihm allein eine bestimmte Verbindung von Denken und Politik möglich ist. Diese Konstante Badious ist seit Théorie du sujet formuliert: „Wenngleich das Subjekt weder Transparenz noch Zentrum noch auch Substanz ist; wenngleich nichts belegt, dass es notwendig ist, um die Erfahrung zu organisieren, so bleibt nichtsdestoweniger, dass es der Schlüsselbegriff ist, aus welchem allein die Entscheidung, die Ethik und die Politik als denkbare resultieren.“ 2 Die abgearbeitete Version des Subjekts, das Badiou in seiner Philosophie zu denken versucht, hat an diesem Punkt ihre undurchdringliche Härte: Es ist eine Entscheidung zur Entscheidung, oder genauer: die Folge einer Entscheidung zur Entscheidung, welche selbst Entscheidung ist; der Kern einer Subjektivierung, die klassischer nicht sein könnte. Das Subjekt ist dem, was es nicht ist, absolut unterworfen, um zu sein, was es ist, ohne dass es allerdings selbst - als „Ich“ oder „Selbst“ - dieses Unterworfene wäre. 3 Die Anstrengung um „Konsistenz“ und „Insistenz“, welche das Subjekt in seiner Subjektivierung und seinem Subjektprozess ausmacht 4 , ist an diesem Punkt, der als Beginn und Grundlage dieser Arbeit zugleich dem Bereich, in dem sie stattfindet, gänzlich entzogen ist, mit sich selbst verschweißt. Eine solche Sicht auf das badiousche Subjekt bezieht sich nicht auf die Analysen und Konstruktionen, die Badiou selbst für den Begriff des Subjekts vorgelegt hat; auf die Operationen, Formalisierungen und Prozeduren, die mit diesem Begriff in Verbindung stehen. Das Präliminäre hat vielmehr Bezug auf diese Entscheidungssituation selbst, aber vor allem auf einen gewissen Sprachnotstand und den Grundaffekt der Hilflosigkeit, die man an diesem Punkt konstatieren kann. Wenn für Badiou die Schrift der Axiomatik als Extremform einer Deckung von Markierung und Markiertem (und seien es Mangel und Exzess) mit einer Affekttopik von Mut und Angst einhergeht 5 - und diese Verbindung liegt im Bereich nach der Entscheidung, im Bereich des Subjekts -, dann kann man sagen, dass im Nichtbereich vor 2 Badiou 1982: 295 (eigene Übersetzung, M.C.). 3 Fichte ohne Ich wäre eine mögliche Namensgebung für den Autor einer solchen Subjektkonzeption. 4 Vgl. - auch zu den Begriffen der Konsistenz und Insistenz - Badiou 1982: passim. 5 Ich beziehe mich auf Théorie du sujet, die in dieser Hinsicht die Schablone für die späteren Werke L’être et l’événement und Logiques des mondes abgibt. <?page no="248"?> Marcus Coelen 248 dieser Grenze Sprachnotstand als Markierungsnotstand herrscht und dass das ihm Korrespondierende die Affektdisposition schlechthin ist oder das Ausgesetztsein in Affizierung als solcher, wenn man die heideggersche „Befindlichkeit“ mit einem Aspekt ergänzen will, der, ohne voreilig psychoanalytische Kategorien einführen zu wollen, näher am Trieb ist als die „Stimmung“, die aus der Befindlichkeit resultiert. 6 „Hilflosigkeit“ ist der Begriff, den Freud für diese Disposition oder De-position gewählt hat, und es geht vor der Frage, an der Grenze zur Frage nach dem Subjekt, darum, darüber nachzudenken, wie dieser freudsche Begriff und einige andere die Situation bearbeiten, in der es einen philosophischen Entscheidungsnotstand in Bezug auf das Subjekt zu geben scheint. Und dies betrifft insbesondere die Psychoanalyse, ist doch Lacan von Badiou als einer von zweien (neben Sartre) ausgewiesen, die in einer Zeit, da eine ‚Verabschiedung’ oder gar ‚Liquidierung’ des Subjekts die allgemeine Forderung gewesen sei, an diesem festgehalten haben. Und Lacan hat das tatsächlich getan, unter dem Zeichen all dessen, was man die Dezentrierung und Subvertierung dieses Subjekts nennt. Die Hilflosigkeit richtet sich auf den Sprachnotstand und betrifft das Fragen selbst. Um es dennoch als Frage zu formulieren: Ist die Frage nach dem Subjekt die richtige, wenn es heute um eine Auseinandersetzung von Psychoanalyse, Philosophie und jenem Dritten geht, das man Schreiben oder Literatur genannt hat? Ist die Frage die richtige? Ist die Frage überhaupt? Worum es geht, scheint mir wesentlich diffuser, konfuser und mannigfaltiger zu sein als diese Frage, nämlich präliminär, ausgesetzt vor jeder Grenze, an der sich eine Entscheidung stellt und an der sie sich vorstellt, jede Frage, die sie selbst absolut betrifft, hinter sich gelassen zu haben; es lässt sich nicht mir einem Wort, für das man sich entschieden hätte, nennen, mit einem Begriff belegen, mit einer Frage oder überhaupt mit einer Frage angehen. Was ist die Markierung des Subjekts, die Markierungsmöglichkeit, aber auch Markierungsaktualität des Subjekts und dessen, was sich nicht auf es bezieht, noch nicht einmal als Mangel? Ist es Aktualität, in der das Subjekt von der Markierung affiziert wäre? Es geht - vor dem Subjekt, durch das Subjekt - um das Verhältnis von Sprache und Affekt; um den Affekt diesseits jeder Rebiologisierung oder Wiederaffirmation des Emotionalen; um einen Sprachaffektkomplex, der anders ins Symbolische schneidet als der Signifikant. Dies ist die weitere Perspektive des Fragekomplexes. Ich werde im Folgenden nicht mehr tun, als auf sehr vorläufige und schematisierende Weise solche ‚Punkte’ zu nennen. Der erste Punkt betrifft die Frage der Formalisierung, genauer gesagt die Frage, ob wirklich alles, was nicht mathematisch formalisierbar ist, unter Ideologie-Verdacht steht, wie die Logiques des mondes nahelegen. 7 Hieran schließt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Formalisierung, Logos 6 Vgl. Heidegger 1957: 134-140 (§ 29 „Das Da-sein als Befindlichkeit“). 7 Vgl. Badiou 2006 (a): insbes. 9-49. <?page no="249"?> Noch einmal die Frage des Subjekts? 249 als Logik (klassisch oder nach-klassisch), und dem, was man Affekt nennt, an - und die Frage danach, ob der Affekt (wenngleich fraglich ist, ob es sich um den richtigen Begriff handelt) der Ideologie mehr oder weniger entweicht als anderes, das sich der Formalisierung entzieht. Dieses Problem wird in den Logiques des mondes angerissen, aber nicht weiterentwickelt. Sodann stellt sich die Frage nach dem Verhältnis - oder Unverhältnis - der Formalisierung und dem ihr entzogenen Affekt zur Literatur, genauer zum literarischen Schreiben als Autobiografie, oder noch genauer, um den Begriff zu verwenden, den Philippe Lacoue-Labarthe dafür gefunden hat: der Autothanatographie als einem Irreduziblen des nicht nur literarischen Schreibens. Badiou hat etwas von diesem Bereich, worin er einen „Fetischismus der Literatur“ erkennen musste, verdammt, nicht nur im Manifeste pour la philosophie. Hier fällt der Name Blanchot - und die Prosa, die er, wie diejenige Natacha Michels, der écriture Blanchots entgegenhalten will, müsste sich diesem Schreiben entziehen können. 8 Um Markierungen für die mögliche Entwicklung der genannten Punkte zu geben, erinnere ich an einige Formulierungen von Badiou: „Man kann ... den Zeitraum der modernen Philosophie durch die Verwendung definieren, die in ihr von der Kategorie des Subjekts gemacht wird.“ 9 Die polemische Anlage des Manifests für die Philosophie schnürt einen Gegensatz zwischen der Fortsetzung der rationalistischen und epistemologischen Philosophietradition und einem Denken, welches sich mit dem Ereignis des heideggerschen Werkes auseinandersetzt, auf die Kategorie des Subjekts zusammen. Es heißt aber auch - in einer rhetorischen Frage -, dass es nicht um diese Kategorie allein geht, sondern eben auch um den Begriff der Vernunft: „Sind Vernunft und Subjekt noch in der Lage, den Konfigurationen der Philosophie als Vektoren zu dienen, oder nicht, und dies selbst, wenn das Subjekt dezentriert sowie leer und die Vernunft dem übernumerischen Zufall des Ereignisses unterworfen ist? “ 10 Die Antwort liegt für Badiou in der Setzung eines Subjekts „enfin sans objet“ - „endlich ohne Objekt“. Diese Antwort hat Badiou als Reaktion auf die von Jean-Luc Nancy gestellte Frage Après le sujet, qui vient? 11 in einer Verdichtung und Erweiterung der achten Meditation von L’être et l’événement gegeben. Gerade aufgrund der Verdichtung und Direktheit, die diesen Text auszeichnet, mag es genügen, sich mit ihm hier auseinanderzusetzen. Die Vorgaben sind für Badiou in diesem Moment: Einen weiteren Schritt in der Moderne tun und den lokalen Status des Subjekt herausarbeiten 12 8 Vgl. Badiou 2006 (b): 362-369 sowie u.a. Michel 1998. 9 Badiou 1989 (a): 24 (eigene Übersetzung, M.C.). 10 Ebd.: 25. 11 Vgl. Badiou 1989 (b). 12 Vgl. ebd.: 13: „Je propose plutôt cette hypothèse: ce qui nous est prescrit est un pas de plus [...] faire un pas de plus représente une tâche difficile singulièrement complexe, <?page no="250"?> Marcus Coelen 250 und den Raum des Subjekts desobjektivieren 13 , um ein Subjekt zu denken, dem gerade alle Eigenschaften und Züge, die dem Subjekt nach seinen klassischen Bestimmungen zukommen, entzogen sind. 14 Das Subjekt ist demnach zunächst negativ bestimmt: Es ist weder Substanz noch Leere, noch die transzendentale Anordnung des Sinns von Erfahrung, noch das Invariante der Präsentation, noch ein Resultat. Um es schematisch zu formulieren: Das Subjekt ist das, was aus der folgenden gegliederten Operation hervorgeht: Man entzieht erstens dem Subjekt alles, was ihm klassischerweise zugehört (vor allem die drei Elemente: Punkt einer evidenten Erkenntnisaussage, Reflexivität, Substanzielles); zweitens fragt man „Was bleibt? “ und gibt drittens die Antwort: das Subjekt - nämlich als das, was bleibt. Nur ist dieses Was kein Was mehr, sondern die bestimmte Form eines Wie. Die Subtraktion der drei Elemente, Punkt der evidenten Erkenntnisaussage, Reflexivität und Substanz, führt durch und in dieser formalen Operation, die sich nun „reflexiv“ in einem ganz neuen Sinn auf sich wendet, zu einem „substanzlos“ Bleibenden oder Beharrenden: nämlich zu dieser Operation selbst. Für Badiou ist diese Operation der Prozess aller Prozesse, und er soll erlauben, das Subjekt als lokalen Zustand eines Wahrheitsprozesses zu begreifen: 15 „Ich nenne Subjekt den lokalen oder endlichen Status einer Wahrheit. Subjekt ist das, was sich lokal erweist.“ 16 Man könnte - eine überraschende Anknüpfung vielleicht - Cassirers Schema von Substanzbegriff vs. Funktionsbegriff heranziehen, um das Projekt der „Affirmation und Fortsetzung der Moderne“, wie Badiou es formuliert, zu durchdenken. Auch ist diese Subtraktionsoperation, die dem Subjekt das entzieht, was es ist, um es zum Zustand dieser Operation selbst gerinnen zu lassen, der Versuch, den Badiou unternimmt, um einen Einschnitt in diese Geschichte des Denkens vorzunehmen. Denn der Grund dafür, dies, was da als ein ‚Wie’ bleibt, ‚Subjekt’ zu nennen, ist einerseits selbst subjektiv im durch diesen Begriff des Subjekts gemeinten Sinne, nämlich lokal und genealogisch: Es handelt sich um das weitere Element einer Folge, die Badiou mit Descartes beginnen und mit Kant, Husserl, Heidegger fortsetzen lässt. Anders gesagt: Der Name ‚Subjekt’ ist nicht die Spur eines Ereignisses, sondern die Fort-Setzung - in diskontinuierlicher Kontinuität - eines sehr klassischen Konzepts des Subjekts: Das Subjekt ist das, was bleibt, wenn der Abbau des Subjekts vorangetrieben wird. Das ist die historische Sichtweise, parce que le statut local des problèmes est souvent plus difficile et embrouillé que leur statut global.“ 13 Ebd.: „desobjectiver l’espace du sujet“. 14 Vgl. auch Badiou 1982: passim und insbes. 291ff. 15 Badiou 1989 (b): 13: „Si nous est ouvert une telle possibilité, quoi dès lors au-delà du sujet, sinon le sujet même, tel que soustrait à la juridiction réflexive, in-constituant, délié de tout support qui ne soit le procès d’une vérité, dont le sujet sera seulement un fragment fini? “ 16 Ebd.: 14. Die 35. Meditation in L’être et l’événement ist die Entfaltung dieser Sätze; vgl. Badiou 1988: 429-447. <?page no="251"?> Noch einmal die Frage des Subjekts? 251 die Badiou formuliert - un pas de plus dans la modernité -, aber als Wahrheit ablehnt, denn „in Wahrheit“ liegt vor dem Subjekt nicht der historische Abbau, sondern die Wahrheit selbst, zu der es keinen historischen Bezug gibt. Und genau das ist die Logik des Ereignisses: historischer Nicht-Bezug. Im oder am Subjekt, vor oder im Subjekt, im Signifikanten ‚Subjekt’ vollzieht sich das, was es für Badiou nicht gibt, nämlich etwas, das seiner Struktur nach als Ereignis des Ereignisses bezeichnet werden müsste. Badiou verweist indirekt darauf, wenn er sagt, das Subjet sei gewebt: ‚Subjekt’ ist also nicht länger der Punkt des Ausgangs oder der Bestimmung von legitimen Aussagen. Auch ist es nicht mehr - und dabei handelt es sich um die Auflösung des Gegenstandes, insofern er als objektiv verstanden wird - dasjenige, wofür es Wahrheit gibt, und dies nicht einmal als die vom Begehren bestimmte Unterbrechung der Auferstehung der Wahrheit. Immer geht ihm eine Wahrheit voraus. Das Subjekt ist aus einer Wahrheit gewebt, es ist das, was von ihr als begrenzte Fragmente existiert. Ein Subjekt ist das, was durch eine Wahrheit zum innehalten gebracht wird, oder derjenige endliche Punkt, durch den sie in ihrem unendlichen Sein hindurchgeht. 17 Nicht für das Subjekt, aber für ‚Subjekt’ hängt alles an einem Ereignis, das nicht mehr durch einen übernumerischen Namen benannt wird, sondern durch die infra-numerische Markierung seiner Schreibung auf der Paradoxallinie, die erst diese Theorie des Namens ermöglicht: am Ereignis der Doppelung von Axiomatik und Evidenz, die im Namen ‚Subjekt’ liegt, vor jeder Namensgabe für ein Subjekt; eine Nicht-Operation und ‚Dreingabe’ vor jeder Wahrheitsoperation, die sich auf ein Ereignis bezieht. „Ich gebe gerne zu, dass der Sinn des Wortes ‚Wahrheit’ an der Frage des Seins hängt, aber man muss diesen Sinn noch mehr von dieser Supplementierung, von diesem Seins-Exzess, den ich als Ereignis bezeichne, abhängig machen.“ 18 Neben der Konfrontation mit Cassirer, dessen Gegensatz von Substanz und Funktion man mit diesem Gewebe von Sein und Ereignis (als Seins- Exzess) interpretieren könnte, wäre hier eine genaue Konfrontation von Heideggers Beiträgen zur Philosophie und den beiden Bänden Badious L’être et l’événement und Logiques des mondes notwendig. („Vom Ereignis“ ist ja bekanntlich der Untertitel der Beiträge zur Philosophie und ‚Seyn und Ereignis’ 17 Badiou 1989 (b): 14: „‚Sujet’ cesse donc d’être le point inaugural, ou conditionnant, des énoncés légitimes. Il n’est pas non plus - c’est la résiliation de l’objet, cette fois en tant qu’objectif - ce pour quoi il y a vérité, pas même l’éclipse désirante de sa surrection. Une vérité toujours, le précède. Non qu’elle existe ‚avant’ lui, car elle est pour toujours au suspens d’un futur indiscernable. Le sujet est tissé d’une vérité, il est ce qui existe d’elle en fragments limités. Un sujet est ce qu’une vérité transit, ou ce point fini par lequel, dans son être infini, elle transite. Ce transit exclut tout moment intérieur.“ 18 Ebd. <?page no="252"?> Marcus Coelen 252 wäre einer ihrer denkbaren Haupttitel.) Badiou führt diese Auseinandersetzung selbst, weniger mit dem gesamten Entwurf der Beiträge als mit dem „Heidegger envisagé comme lieu commun“, wie es im Manifeste pour la philosophie heißt. 19 Die Ontologie Badious setzt sich von derjenigen Heideggers ab, insofern diese eben keine mehr ist oder sein will, jene Badious hingegen beide Teile des Namens - das Sein und den Logos - affirmiert. Heideggers „Zerklüftung des Seyns“ wollte genau davon Abstand nehmen: Sie hat in das Innere des Seins die Spaltung eingeführt und sie mit dem stummen „griechischen i“ markiert. Die Weitung und Zerklüftung des Seins als Seyn aber markiert für Heidegger eine bestimmte Sprachform: die der Frage. Für Badiou hingegen liegt in der Frage keine Frage oder sonst etwas Bedenkenswertes, an der Frage interessiert allenfalls die Operation. Ganz anders natürlich bei Heidegger. In den Beiträgen liest man unter „4. Vom Ereignis“: „Hier ist alles auf die einzige Frage nach der Wahrheit des Seyns gestellt: Auf das Fragen. Damit dieser Versuch ein Anstoß werde, muss das Wunder des Fragens im Vollzug erfahren und zur Weckung und Stärkung der Fragekraft wirksam gemacht werden.“ 20 Der Gemeinplatz ist nicht ganz so weit entrückt: Das Schema von Seins-Zerklüftung und Frage scheint ersetzt durch das Schema von reiner Mannigfaltigkeit und formalem Prozess. Und Badious Affirmation der Ontologie, trägt in sich das infra-operationelle Ereignis, das nicht das Sein exzediert, sondern das Subjekt im ‚Subjekt’ vor jeder Entscheidung deponiert hat. Philosophiegeschichtlich konsequent ist das Aufrechterhalten der Kategorie des Subjekts bei gleichzeitiger Affirmation einer Ontologie - „philosophiegeschichtlich konsequent“ oder einfacher: aristotelisch. 21 Denn aristotelisch ist die strenge und unauflösbare Korrelation des Subjekts und einer Anlage weiterer Kategorien, welche die unhintergehbaren Einteilungen und „Zusagen“ des Seins bilden. In der ersten Kategorie gehen das Subjekt als Zugrundeliegendes (hypokeimenon) und das Subjekt als Bestehendes (ousia) ineinander; allen weiteren Kategorien (räumlich, zeitlich, modal etc.) liegt sie in der Aussage zugrunde und besteht im Ausgesagten fort. Diese anderen Kategorien sind Bestimmungen des Seins oder aber genauer des Seienden, und als solche Einteilungen des Seienden, „Zergliederungen“ 22 , hat Heidegger sie auch abgelehnt. Freilich erst hier, in den Beiträgen, bis zu denen hin Heidegger die Kategorienfrage sehr systematisch und intensiv durchgearbeitet hat. „Die Modalitäten bleiben somit hinter der Zerklüftung zurück wie die Seiendheit hinter der Wahrheit des Seyns; und die Frage nach den Mo- 19 Vgl. Badiou 1989 (a): 27-33. 20 Heidegger 1989: 10. 21 Zur Auseinandersetzung mit Aristoteles vgl. die sechste Meditation in Badiou 1988: 85- 92, welche allerdings die Frage der Kategorien nicht berührt. 22 Heidegger 1989: 280. <?page no="253"?> Noch einmal die Frage des Subjekts? 253 dalitäten bleibt notwendig im Rahmen der Leitfrage verhaftet, wogegen der Grundfrage allein das Erfragen der Zerklüftung zusteht.“ 23 Die Verbindung von Subjekt und Ontologie ändert sich auch da nicht wesentlich, wo Name und Projekt der Ontologie verabschiedet werden und an ihre Stelle eine Transzendentalphilosophie tritt - sei sie kritisch-reflexiv wie bei Kant oder phänomenologisch-essenzialistisch wie bei Husserl; auch Hegels oder Fichtes logisch-subjektive Umwandlung der Kategorien als „reine Denkbewegungen“ ändert an diesem Schema nichts. Die Frage ist eher, wie weit seine Macht reicht. Für jede dieser Verbindungen braucht es eine mehr oder weniger spezifische Sprachform (oder Formsprache): die Prädikation bei Aristoteles, das Urteil bei Kant, den spekulativen Satz bei Hegel; bei Husserl wird es etwas komplizierter, aber es ist letztlich auch eine Form des Urteils; erst bei Heidegger zerfällt das Kategoriale mit der „Rückführung“ der Urteilsform und der Prädikation auf die „Als-Struktur“. Badiou überträgt nun dieses Schema von der Sprache auf den Formalismus der Mengentheorie und konsequenterweise ist das Subjekt nun der Modus eines Formalismus. Nicht ausgehend von der ousia gedacht, sondern vom hypokeimenon, ist das Subjekt das, was Formalismen des Seins qua Sein begleitet, nämlich die Form selbst. „Die Tatsache, dass die Theorie des Subjekts formal ist, heißt genau, dass mit ‚Subjekt’ ein System von Formen und Operationen bezeichnet wird.“ 24 Im Dictionnaire des concepts wird das Subjekt als „Modus“ definiert, „in dem sich ein Körper in einen subjektiven Formalismus im Hinblick auf die Produktion einer Gegenwart einfügt.“ 25 Stellt man also die Frage, ob aus der systematischen Konstellation von Ontologie als Wissenschaft des Seins qua Sein, welche für Badiou identisch mit einer bestimmten Mathematik ist, und der „Großen Logik“, welche die Theorie des Erscheinens als solchem darstellen soll (und deren Grundbegriff „Welt“ ist), eine Philosophie denkbar wäre, die ohne das Subjekt entweder auskäme oder sogar gegen diesen Begriff vorginge - also eine im weitesten Sinne spinozistische Philosophie -, dann muss diese Frage verneint werden, jedenfalls solange man sie zum aristotelischen Entwurf in Bezug setzt. ‚Subjekt’ markiert immer den Überschuss eines Kategorialen als Einschuss einer Markierung: Überschuss und Vorgriff. Es geht also nicht um das Subjekt selbst, es ist vielmehr das, was im Entwurf des Aristotelismus die Kategorie des Subjekts mit den anderen Kategorien verbindet, ihren gemeinsamen Grund ausmacht. Was immer es ist, es wird sich zumeist über das Leben oder das Erscheinen schreiben wollen: als ein signifikanter oder 23 Heidegger 1989: 279. Vgl. die Auseinandersetzung mit Heidegger in der elften Meditation in Badiou 1988: 141-147, welche über den Gegensatz von Mathem und Gedicht als Interpretationen der Natur (oder des Seins) organisiert ist. 24 Badiou 2006 (a): 55: „Que la théorie du sujet soit formelle veut dire, très précisément, que le ‚sujet’ désigne un système de formes et d’opérations“. 25 Ebd.: 617: „Mode sur lequel un corps s’insère dans un formalisme subjectif au regard de la production d’un présent“. <?page no="254"?> Marcus Coelen 254 dechiffrierender Formalismus oder ein Formalismus, der auf eine andere Weise in seinen Bedeutungselementen das in ihnen Bedeutete anwesend machen will: Leben, Anwesen, Sprache (als das Bedeutende). Um es in einem mittlerweile überholt anmutenden Register auszudrücken, handelt es sich um den Konflikt zwischen einer Präsenz-Philosophie und einem anderen Denken. Es geht um den Konflikt zwischen dem Grund als gründendem und begründetem Erscheinen, Anwesen - und die Begriffe Erscheinen als apparaître, présentation und représentation, présent affirmieren das natürlich, aber auch das Ereignis und die Treue, und selbst die Spur, so wie Badiou sie denkt, tun dies - auf der einen Seite und, auf der anderen, dem Grund als Ab-grund, ohne jede Mystik, als Entsetzen, das nicht immer mit dem Affekt der Angst einhergeht, als De-position. Und die sprachlichen Formen dieses Anderen müssen anders sein als Begriffe, anders als Formen und Formeln - anders als ‚Sprache’. Pointiert gesagt: Alles hängt von der Form ab. Da, wo es Form gibt, gibt es auch ein Verhältnis von Subjekt und Kategorien („Kategorien“ in einem engeren oder in einem weiteren, übertragenen Sinn verstanden); und da, wo es Form gibt, ist dieses Verhältnis anwesend und ist Anwesenheit. In Bezug auf diese Frage der Kategorie des Subjekts scheint es, stark vereinfachend gesagt, neben der aristotelischen nur noch die spinozistisch genannte Tendenz zu geben: die eine, die sich über den Unterschied der beiden Kategorien von Kategorien organisiert - über die Transzendenz jener in Bezug auf diese -, und die andere, die diesen Unterschied in einer anderen Differenzierung absorbiert, als differenzierte Immanenz. Es gibt natürlich auch die Möglichkeit, auf „systematisch-unsystematische“ Art zwischen diesen Positionen zu schwanken oder diese in eine akategoriale Differenz zueinanderzubringen. Diese Möglichkeit muss zunächst empirisch, prinzipienlos erscheinen. Und dieses Schwanken oder Oszillieren beschreibt vielleicht am besten Lacans Verhältnis zur Frage des Subjekts. Lacans Subjekt, so viel ist sicher, trotz der zahlreichen Arbeiten, die mehr oder weniger genau diesen Titel tragen, ist ein komplexes und sehr schwieriges Feld: wahrscheinlich, weil es auf systematisch-unsystematische Weise uneinheitlich ist; weil es die Unterscheidung von Aristotelischem und Spinozistischem, Transzendentem und Immanentem auf eigentümliche Weise weiterdifferenziert. Ich möchte nur kurz auf eine der Thesen Lacans zum Subjekt verweisen. Sie folgt in chronologisch-philologischer Ordnung der These vom Subjekt als „Frage nach dem Sein“, wie es vor allem 1956 im Seminar über die Psychosen heißt, oder der These vom Subjekt als „das, was von einem Signifikanten für einen anderen Signifikanten dargestellt wird“, und deren längere Formulierung wie folgt lautet: <?page no="255"?> Noch einmal die Frage des Subjekts? 255 Dieses Subjekt nimmt im Verhältnis zum Funktionieren der signifikanten Kette durchaus einen festen Platz ein, der fast historisch aufzeigbar ist. Die Funktion des Subjekts, bei seinem Erscheinen, des ursprünglichen Subjekts, des Subjekts, wie es in der Kette der Erscheinungen entdeckt werden kann, ist in einer vollkommen neuen Formel zu erfassen, die auch objektiv ausmachbar ist. Was ein Subjekt ursprünglich repräsentiert, ist nichts anderes als dies - es kann vergessen. Nehmen Sie dieses es weg - das Subjekt ist buchstäblich an seinem Ursprung und als solches die Auslassung eines Signifikanten, der übersprungene Signifikant in der Kette. 26 Dieser These über das Subjekt folgt eine andere, die es nicht als Übersprungenes definiert, sondern vielmehr als das, was es immer schon war, nämlich als Zugrundeliegendes: das sujet supposé savoir. Auch hier liegt eine Subtraktion vor, der Entzug des Subjektiven vom Subjekt. Und dies geschieht unter expliziter Bezugnahme auf Aristoteles, vorgebracht mit einer Bitte in der Proposition de 1964: „Wir bitten um eine Erinnerung an Aristoteles, einen Hauch Kategorienlehre, um vom Subjekt das Subjektive zu entfernen. Ein Subjekt setzt nichts voraus, es wird vorausgesetzt.“ 27 In der Rückkehr zum Subjekt als hypokeimenon liegt eine eigentümliche Verdoppelung: le sujet supposé ist das Subjekt, das supponiert ist, zugrunde gelegt wird. Es liegt also allem Wissbaren zugrunde, das in der Folge kategorial erfasst werden kann und dann modale, relationale, quantitative und qualitative Bestimmungen erfährt (wenn man das kantsche Schema ansetzt). Dies wäre die aristotelische Tendenz. Allerdings ist das Subjekt hier nicht dem Wissen oder Wissbaren zugrunde gelegt: Es ist nicht nur, als es, verdoppelt in seiner Supponiertheit, sondern es ist zudem auch selbst Wissen. Wichtig ist hier die Nominalphrase des Ausdrucks sujet supposé savoir, dem eine Form des Verbs être mangelt und der die eigentümliche - sprachliche - Operation ausmacht, die Lacan hier vollzieht. Das Subjekt ist wiederholt - sujet supposé - und als dieses ist ihm das Wissen - savoir - angehängt, ohne Sein. Das wäre die spinozistische Tendenz als ‚pervertierte’, welche Syntagmen schafft, die nicht mehr wirklich Sätze sind - Prädikationen, Urteile, spekulative Sätze, Fragen -, sondern more geometrico in einem neuen Sinne: die more topologico das Sein, das nicht mehr als Seiendes genannt wird, entfaltet, aber dies ohne erkennbare Gliederung, bis auf die Reihung - die es vielleicht zerklüftet. Das sujet supposé savoir ist ein antiprädikatives und darin antiphilosophisches Syntagma, das in einer Bewegung, die Jean- Claude Milner, „hyperstrukturalistisch“ genannt hat 28 , jede Ersetzbarkeit, jedes Zugrundeliegendes als Latentes in die „Aktualität“ des Minimalsatzes zwingt. Das Subjekt ist kein anderer - metaphorischer, ersetzbarer, zugrunde liegender - Name für das Zugrundeliegende - hypokeimenon -, 26 Lacan 1997: 270, vgl. Lacan 1986: 264. 27 Lacan 2001: 248. 28 Vgl. Milner 2002. <?page no="256"?> Marcus Coelen 256 welches so das Wissen begründete, sondern Subjekt, Zugrundeliegendes und Wissen sind die dreifache Metonymie ihrer selbst. Das sujet supposé ist ein Wortspiel, eine berechnete, aber unberechenbare Verdoppelung und Verschiebung, eine Bildung des Unbewussten, und es steht somit in einem Register mit den klassischen formations de l’inconsient: Witz, Traumrebus, Versprecher, Symptom. Mit gleichem Verfahren wird nun auch gebildet, was sich traditionell auf das Subjekt bezieht, nämlich die Kategorien, insbesondere die Modalitäten. Ich verweise nur, ohne auf diesen Punkt weiter einzugehen, auf die Bildung bzw. die Umbildung der Modalität der Notwendigkeit - nécessité - als ein Nicht-Aufhören-sich-zu-Schreiben - ne-cesse-s’écrire -, aus der sich per Permutation im Seminar XX Encore die übrigen Modalitäten in neuer Form ergeben. Es ist wichtig hervorzuheben, dass eine spezifische Operation, ein Formverfahren, sowohl das Subjekt als auch die Kategorien und ihre Verbindung formuliert. Und die Konfrontation von Badiou und Lacan hängt weniger an der Übernahme des Begriffs des Subjekts und der Definition der Wahrheit als dem, was im Wissen ein Loch reißt. Sie liegt in der viel wichtigeren Konstellation aus Operation qua Operation, die das Subjekt als Ereignis ist bei Badiou, und der Operation qua Nominalphrasenwortspiel bei Lacan. Asemantische Sprache, die nicht auf Wahrheit bezogen ist, sondern vielmehr auf den Affekt in einem technischen Sinne: auf die Affizierung der Sprache nicht mit Bedeutung, sondern mit einer syntaktischen Aufspreizung. Das „sujet-supposé-savoir“ ist kein Satz, vollzieht keine Prädikation, setzt keine Copula, die es der Ontologie näherrücken würde. Maurice Blanchot ist ein Autor, dessen Texte für eine solche Sprachaffizierung stehen könnten. Auch hier beschränke ich mich auf einen kurzen Hinweis: Ein wichtiges Motiv, das den Versuch der Abkehr von jeder Ontologie bei Blanchot begleitet, liegt in dem Verweisen auf etwas - wobei dieses ‚Etwas’ nicht ‚als etwas’ gegeben ist -, das nie Ereignis werden kann, ohne sich jedoch - etwa als ‚reine Mannigfaltigkeit des Seins’ - vom Ereignis getrennt zu halten; etwas, dass sich jeder Form des Denkens entziehen will. 29 Es gibt eine Reihe von mehr oder weniger rätselhaften Namen für dieses Etwas: das Außen, das Neutrale, das Desaster wären die prägnantesten - aber vor allem auch der „notwendige unmögliche Tod [la mort impossible nécessaire]“. 30 Es gibt auch eine Reihe von „Figuren“ - in Anlehnung an Deleuze könnte man von „philosophischen Nicht-Charakteren“ sprechen -, die diese Abwesen- 29 Diese etwas ambitionierte Formulierung von „jeder Form des Denkens“ bedürfte der Erläuterung. Ich kann hier nur anreißen, dass mit der „Form des Denkens“, der sich eine Bewegung im Schreiben Blanchots entziehen will, jede auch noch so schwache oder flüchtige Spur als Zeichen zu verstehen ist - Blanchot will von der „Auslöschung“ schreiben. Die Form des Denkens bezieht sich zudem auf die Form des als, auf die sprachlich-logisch-phänomenale Struktur des Denkens, auf Logik oder logos jeder Art - hier liegt einer der dichtesten Punkte der Auseinandersetzung mit Heidegger. 30 Blanchot 1980: 110. <?page no="257"?> Noch einmal die Frage des Subjekts? 257 heit des Subjekts markieren: le dernier homme, le je devenu il, elle (als „pensée“, „femme“, „idée“); aber vor allem auch eine ganze Reihe von sprachlichen Elementen, die wie Operatoren scheinen, diese „Operationalität“ aber der Formalisierbarkeit zu entreißen suchen: viens! , sans, pas. Ich gebe eine längere Passage aus Le pas au-delà in Übersetzung wieder, um mit etwas zu transkribieren, was für Blanchot eine Unterbrechung der Ontologie sein sollte: eine Unterbrechung aber, die sich nicht auf das Ereignis öffnet, sondern auf eine Art Geräuschaffekt, der in gegliederter Syntax mit der Logik spielt: Das Verhältnis zum ‚es’: Die Vielfalt, die ‚es’ gibt, ist so, dass sie sich nicht durch ein Pluralzeichen markieren lässt; warum? ‚Sie’ würde noch eine Menge bezeichnen, die sich analysieren ließe und die man also zu handhaben wüsste. ‚Sie’ ist eine Art, mit der (es) ihm gegeben ist, sich vom Neutrum zu befreien, der Vielfalt die Möglichkeit zu entlehnen, sich zu bestimmen und dadurch auf einfache Weise zur Unbestimmtheit zurückzukehren, so als könnte (es) ihm hier erlaubt sein, ein Anzeichen zu finden, das seinen Ort bestimmt, diesen sehr bestimmten Ort, in den jedes Unbestimmte eingetragen ist. Wenn ich es schreibe und so dafür sorge, dass ihm eine Bezeichnung gegeben ist, eine verleumderische zumal, weiß ich zumindest, dass, fern davon, ihm einen Rang, eine Rolle oder eine Anwesenheit zu geben, die es ihm erlauben würde, sich über jede mögliche Bezeichnung zu erheben, ich es bin, der von nun an die Beziehung eingeht, in der ‚ich’ es akzeptiert habe, in einer Fiktions- oder Funktionsidentität zu erstarren, damit das Spiel des Schreibens sich ausüben lässt, wo es ihm von nun an gegeben sein wird, sei’s Partner und (gleichzeitig) Produkt oder Gabe, sei’s Einsatz zu sein, das, was auf dem Spiel steht, und als solcher, als Hauptspieler, zu spielen, zu wechseln, sich zu verschieben sowie den Platz des Wechsels selbst einzunehmen, als ortlose und jedem Ort fehlende Verschiebung. 31 Der Psychoanalyse, die sich so sehr um die Lücke, die Spaltung, das Loch und die Unterbrechung bemüht hat, um auf diese Formen die Unmöglichkeit der sexuellen Beziehung abzubilden, hat es noch vor sich, eine andere Unmöglichkeit des Sexuellen im Geräusch und Geschriebenen dieser Sätze anders als abbildend oder formalisierend sich entziehen zu lassen. Um hier einen letzten, parenthetischen Punkt anzuführen: An dieser Stelle könnte eine Meditation ansetzen über den „einzigen Zug“, von dem Freud in Massenpsychologie und Ich-Analyse spricht und den Lacan als „trait unaire“ nicht wirklich übersetzt, sondern transkribiert und seit dem Seminar über L’identification (1961/ 62) als wichtigstes Element seiner Versuche, ein asubstanzialistisches Denken zu entwerfen, verwendet. Eine andere Anordnung von Mannigfaltigkeit, Vereinheitlichung (oder compte-pour-un) würde hier entstehen, vor allem aber ein Zug, in dem Ereignis, Spur und Subjekt 31 Blanchot 1973: 13 (eigene Übersetzung, M.C.). <?page no="258"?> Marcus Coelen 258 ungeschieden bleiben sollten. Auch wäre das ein Ansatzpunkt für eine Konfrontation zwischen dem badiouschen Denken und der Psychoanalyse, welche über das in der Théorie du sujet und in anderen Texten Gesagte die Klink der Psychoanalyse berühren würde, um ausgehend vom Denken qua Mathem, der Definition der Wahrheit als dem, was „ein Loch im Wissen“ macht, und der These fundamentaler und unverbundener Zweigeschlechtlichkeit nach dem Diesseits dieser Abstraktionen zu greifen. Für die Psychoanalyse steht dasjenige auf dem Spiel, was sich nicht mit den „Wahrheitsoperationen“ beschreiben lässt, also alles an der Psychoanalyse, was nicht „Liebe“, „Wissenschaft“, „Kunst“ oder „Politik“ ist. Und vieles, das meiste vielleicht, von ihr und von dem, womit sie es in Erfahrung und Theorie zu tun bekommt, lässt sich mit diesen Kategorien fassen - aber es ist ihr aufgegeben, so die Behauptung, das Andere des Fassbaren und Formalisierbaren anders zu fassen und zu lassen als in diesen Wahrheitsoperationen. Alle diese Punkte müssen einstweilen in ihrer unverbundenen Benanntheit verbleiben. Es ist vielleicht spürbar geworden, dass es gerade an der axiomatisch-evidenten Grenzlinie, in der Kraft des Paradoxons, um die Psychoanalyse geht - nicht um ihre Theorie, sondern um ihr Zögern vor dem Subjekt und seiner Frage. Die wiederholende Beschäftigung mit dem, was meist bereits wiederholt ist - Leben, Tod, Schrift (wohlgemerkt hier und da ausgehend von Badiou) -, würde der Psychoanalyse weiterhin öffnen, was an ihr weder Mathem noch Logik (des Erscheinens) noch Ideologie wäre. Literaturverzeichnis Badiou, Alain, Théorie du sujet, Paris 1982. Badiou, Alain, L’être et l’événement, Paris 1988. Badiou, Alain, Manifeste pour la philosophie, Paris 1989 (a). Badiou, Alain, „D’un sujet enfin sans objet“, in: Cahiers Confrontations 20 (1989 (b)), S. 11-19. Badiou, Alain, Logiques des mondes. L’être et l’événement, 2, Paris 2006 (a). Badiou, Alain, „Vendanges de la nuit“, in: Critique 707 (2006 (b)), S. 362-369. Blanchot, Maurice, Le pas au-delà, Paris 1973. Blanchot, Maurice, L’écriture du désastre, Paris 1980. Cahiers Confrontations 20, Après le sujet, qui vient? (1989). Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 1957. Heidegger, Martin, Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis, in: Gesamtausgabe, Bd. 65, Frankfurt am Main 1989. Lacan, Jacques, Seminaire VII. L’éthique de la psychanalyse, Paris 1986. Lacan, Jacques, Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, übers. von Norbert Haas, Weinheim 1997. Lacan, Jacques, Autres écrits, Paris 2001. Michel, Natacha, L’écrivain pensif, Paris 1998. Milner, Jean-Claude, L’œuvre claire, Paris 2002. <?page no="259"?> Autorenverzeichnis Alain Badiou, geb. 1937, ist Philosoph, Dramaturg und Romancier. Er lehrte Philosophie an der Universität Paris VIII-Vincennes, der Ecole normale supérieure (rue d’Ulm) und dem Collège international de philosophie. Mitbegründer der Organisation politique. Seine Bücher, darunter die Hauptwerke L’être et l’événement (1988) und Logiques des mondes (2006), sind in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Marcus Coelen arbeitet als Literaturwissenschaftler (Juniorprofessor für Romanistik an der LMU München), Übersetzer und Psychoanalytiker. Veröffentlichungen u.a.: Die Tyrannei des Partikularen. Lektüren Prousts (München 2007); Übersetzung und Kommentierung von: Maurice Blanchot: Politische Schriften. 1958-1993, Berlin 2007; Herausgeber von: Die andere Urszene. Texte von Blanchot, Leclaire, Lacoue- Labarthe, Winnicott, Turnheim, Berlin 2008. Heike Delitz, geb. 1974, ist Architektin, Philosophin und Soziologin. Sie arbeitet als Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologische Theorie, Theoriegeschichte und Kultursoziologie der TU Dresden und ist assoziierte Kollegiatin am Europäischen Graduiertenkolleg „Institutionelle Ordnungen, Schrift und Symbole“ Dresden/ Paris. Promotion zum Thema „Architektur als Medium des Sozialen“. Felix Ensslin, geb. 1967, studierte Philosophie in New York. Derzeit wiss. Mitarbeiter am Philosophischen Institut, Universität Potsdam. Seine Schwerpunkte sind Ästhetik, Psychoanalyse und der Protestantismus. Er arbeitet außerdem als Kurator und Dramaturg. Publikationen u.a.: Spieltrieb: Was bringt die Klassik auf die Bühne? Schillers Ästhetik heute (= Theater der Zeit), Berlin 2006; Between Two Deaths, Hatje Cantz, Berlin/ Stuttgart 2007. Oliver Feltham, PhD, ist Philosoph, Literaturwissenschaftler und Übersetzer. Er studierte an der University of Sidney und promovierte an der Deakin University, Melbourne. Derzeit Assistant Professor für Comparative Literature and Philosophy an der American University of Paris. Übersetzte Alain Badiou: Being and Event, London 2005. Zuletzt erschienen: Alain Badiou: Live Theory, London 2008. Gernot Kamecke, Dr. phil., geb. 1970, studierte Romanistik und Philosophie in Montpellier und Berlin. Wissenschaftlicher Koordinator des Europäischen Graduiertenkollegs „Institutionelle Ordnungen, Schrift und Symbole“ der TU Dresden und der EPHE Paris. Übersetzte Alain Badiou: Deleuze. Das Geschrei des Seins (2003) und Das Sein und das Ereignis (2005). Zuletzt erschienen: La codification. Perspectives transdisciplinaires (hrsg. mit Jacques Le Rider), Paris/ Genf 2007. Mark Potocnik, geb. 1973, studierte Deutsch und Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2005 Stipendiat des Graduiertenkollegs Lebensformen und Lebenswissen, Lehrbeauftragter an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/ Oder. Promotion zum Thema: „Mittelmaß. Zur Poetik des Durchschnittsmenschen“. <?page no="260"?> Autorenverzeichnis 260 Frank Ruda ist Lehrbeauftragter des Philosophischen Instituts der Universität Potsdam. Er hat in Bochum und Paris Philosophie und Neuere deutsche Literatur studiert und bereitet eine Arbeit zum Übergang von Hegel zu Marx vor. Mitherausgeber von Alain Badiou: Dritter Entwurf eines Manifests für den Affirmationismus, Berlin 2007. Arno Schubbach studierte Mathematik, Informatik und Philosophie in Darmstadt und Berlin. Seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei eikones, NFS „Bildkritik. Macht und Bedeutung der Bilder“ an der Universität Basel. Forschungsschwerpunkte: Philosophien der Subjektivität und Sozialität, Phänomenologie und Poststrukturalismus sowie Visualisierungen und Bildtheorie. Die Dissertation erschien 2007 unter dem Titel Subjekt im Verzug. Zur Rekonzeption von Subjektivität mit Jacques Derrida. Daniel Schulz, Dr. phil., geb. 1973, studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Rechtswissenschaft in Dresden, New York und Paris. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Dresden. Veröffentlichungen u.a.: Verfassung und Nation. Formen politischer Institutionalisierung in Deutschland und Frankreich, Wiesbaden 2004. Henning Teschke, PD Dr. phil., geb. 1965, Freischwimmer 1972, Studium der Philosophie, Romanistik und Germanistik in Wien, Freiburg/ Breisgau, Frankfurt am Main, Paris und Berlin, lehrt Romanistik an der Universität Augsburg. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Französische Literatur des 20. Jahrhunderts (1998), Proust und Benjamin - Unwillkürliche Erinnerung und Dialektisches Bild (2000), Sprünge der Differenz - Literatur und Philosophie bei Deleuze (2008). Burkhardt Wolf, Dr. phil., geb. 1969, Literaturwissenschaftler, Übersetzer. Derzeit Assistent am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Die Sorge des Souveräns. Eine Diskursgeschichte des Opfers (2004); mit Karin Harrasser und Thomas Macho (Hrsg.), Folter. Politik und Technik des Schmerzes (2007); mit Elisabeth Wagner (Hrsg.), Odysseen (2008).
