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Écriture transculturelle beur

Die Beur-Literatur als Laboratorium transkultureller Identitätsfiktionen

1210
2008
978-3-8233-7461-9
978-3-8233-6461-0
Gunter Narr Verlag 
Karen Struve

"Weder arabisch noch französisch" - so beschrieben sich die sog. Beurs, die als Kinder mit ihren maghrebinischen Familien nach Frankreich immigrierten oder dort geboren wurden. Seit den frühen 1980er Jahren etabliert sich in Frankreich eine Literatur, die jenen komplexen kulturellen Zwischenraum auslotet, in dem sich diese Kinder der Immigration einrichten müssen. In der vorliegenden Untersuchung werden in 18 Erzähltexten, die als "Laboratorien des Transkulturellen" fungieren, hybride Zeit-. Raum- und Selbstkonstruktionen analysiert und ein transkulturelles Schreiben, eine spezifische écriture transculturelle beur, konturiert.

<?page no="0"?> edition lendemains 10 Gunter Narr Verlag Tübingen Karen Struve Écriture transculturelle beur Die Beur-Literatur als Laboratorium transkultureller Identitätsfiktionen <?page no="1"?> Écriture transculturelle beur <?page no="2"?> edition lendemains 10 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück) und Hans Manfred Bock (Kassel) <?page no="3"?> Karen Struve Écriture transculturelle beur Die Beur-Literatur als Laboratorium transkultureller Identitätsfiktionen Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. © 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6461-0 <?page no="5"?> Nous sommes tous de lopins et d’une contexture si informe et divers, que chaque piece, chaque momant, faict son jeu. Et se trouve autant de difference de nous à nous mesmes, que de nous à autruy. Michel de Montaigne: Essais Et vive la littérature! Vive le romanesque! Il n’y a que ça de vrai. Paul Smaïl: Ali le magnifique <?page no="7"?> Inhalt 1 Einleitung 7 1.1 Qui sont les beurs ? Zum Beur-Begriff und zur Soziogenese der Beurs 11 1.2 Qu’est-ce que la littérature beur? Zum Gegenstand und zur Forschungsliteratur 22 1.3 Zum Generationenmodell 33 1.4 ‚(S)Ich-Schreiben’: Literarische Identitätskonstruktionen in Raum und Zeit 38 2 Literarische Identitätskonstruktionen der Beur-Generationen. Synchrone Analysen 51 2.1 Die Erzählungen der ersten Beur-Generation: Die Kinder der Migration. „J’étais un déraciné [du] tiers-monde aux portes de Paris“ 51 2.1.1 In der (kolonialen) Vergangenheit 53 2.1.2 In der Peripherie 58 2.1.3 Identitätskonstruktionen als „déracinés“ 71 2.2 Die Erzählungen der zweiten Beur-Generation: Die Zwischenraumkinder. „Ni arabe, ni français[...], paumé entre deux cultures “ 74 2.2.1 In der Gegenwart 79 2.2.2 Im Exil, im Nirgendwo, im Zwischenraum 86 2.2.2.1 Zwischen Frankreich und Algerien - Orte der Gegensätze und der Ablehnungen 86 2.2.2.2 Das Elternhaus - Ort der Sicherheit und der Restriktion 96 2.2.2.3 Die banlieue und der Freundeskreis - Orte der Solidarität am Rand der Stadt und der Gesellschaft 100 2.2.2.4 Die Schule - Ort des Wissens und der Schrift 105 2.2.3 Identitätskonstruktionen als doppelt Andere 113 <?page no="8"?> 2.3 Die Erzählungen der dritten Beur-Generation: Die Kinder der Spuren. Spiegelbilder und Doppelgänger: „oit et oim“ 131 2.3.1 In der eigenen Zeit: Geschichtsmontagen und fiktive Genealogien 136 2.3.2 In den eigenen Räumen: Heterotopien und inszenierte Heimatlosigkeit 162 2.3.2.1 Urbane Räume im Maghreb, in Europa und den USA - Reisen und Transformationen 162 2.3.2.2 Die Wüste und das Gefängnis - Heterotopien 173 2.3.2.3 Das Elternhaus - Zwischen Zimmern und auf der Türschwelle „un monde utopique“ 175 2.3.2.4 Die banlieue - „La ville des errances“ 178 2.4 Identitätskonstruktionen als ‚Dritte’: „Détaché, je parlais de moi à la troisième personne.“ 185 3 Passagen schreiben - Vom Schreiben ohne Raum zum Schreiben als Raum. Diachrone Analysen 215 3.1 Die Zeit in der Schwebe: „Le temps est en suspens.“ 215 3.2 Der Ort im Fluss: „saisir le flux d’un lieu“ 236 3.3 Transkulturelle Identitätsfiktionen: „Suis du verbe suivre, ou du verbe être“ 259 4 Écriture transculturelle beur - Literatur als Laboratorium des Transkulturellen 283 Danksagung 316 Literaturverzeichnis 317 <?page no="9"?> 1 Einleitung Als im November 2005 in den Vorstädten Frankreichs Unruhen ausbrechen und die Bewohner der Pariser banlieues und die Beurs, jene Kinder der maghrebinischen Immigranten in Frankreich, in allen Medien auftauchen, schaut auch die deutsche Öffentlichkeit gebannt auf die Ereignisse, die sich in Frankreich scheinbar so unvorhersehbar und explosiv ihren Weg bahnen. In ganz Frankreich wehren sich Jugendliche gegen die rassistischen und marginalisierenden Praxen der französischen Polizei und der gesamten französischen Gesellschaft und beginnen, mit ihren Aufständen und Brandstiftungen Frankreich geradezu neu zu kartographieren. Dies ist das eine Stereotyp, dem sich die Beurs ausgesetzt sehen: das der marodierenden Banden in den französischen Großstädten. Die Verzweiflung, die Perspektivlosigkeit und die Wut der jungen Menschen in den banlieues finden jedoch nicht nur Ausdruck in brennenden Autos oder Zerstörungen öffentlicher Gebäude. Die Jugendlichen beherrschen den urbanen Raum auch mit einer spielerischen Leichtigkeit. Lautlos und scheinbar schwerelos laufen und springen sie über Dächer, Geländer und Betonvorsprünge: Die traceurs gestalten ihren eigenen parcours durch die Vorstädte Frankreichs, indem sie die Bewegungsabläufe aus Computerspielen, Kampfsport und Stuntkunst kunstvoll zu der neuen Bewegungskunst des Parkour verbinden. Sie betreiben die Kunst des leichten déplacements, „l’art du déplacement“, wie der Begründer des Parkour, David Belle, diese Sportart bezeichnet. Auf ihren eigenen Wegen durch die banlieues überwinden die Jugendlichen architektonische Schranken und verfolgen ihre eigenen Lebenswege durch die Betonwüsten. Eigene Spuren zu hinterlassen und den eigenen Raum zu markieren, wird zu einem zentralen Motiv einer kulturellen Szene, die sich seit etwa 30 Jahren im Einwanderungsland Frankreich etabliert. Musik, Mode, Film und Literatur sind die kulturellen Gestaltungsformen, in denen sich die Jugendlichen der Vorstädte - und in besonderem Maße die Kinder der maghrebinischen Einwanderer - selbst entwerfen. In vielfältigen literarischen Texten, etwa in Tagebüchern, autobiographischen Romanen und Autofiktionen, beschreiben jene „Kinder der Immigration“ (Ernstpeter Ruhe 1 ) ihre Situation zwischen dem maghrebinischen Elternhaus, der französischen Schule und den banlieues, ihre Konfrontation mit der kolonialen Immigrationsgeschichte der Eltern, der französischen Gegenwart und in einer multimedialen, globalen Welt. Diese Momente treten in den Selbstbildern der literarischen Figuren in eine spannende, aber auch spannungsvolle Wechselwirkung und konturieren einen kulturellen Zwischenraum, der weit mehr ist als eine interkulturelle Konfliktsituation. 1 Vgl. Ruhe 1999. <?page no="10"?> Einleitung 8 Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind die transkulturellen Selbstentwürfe, jene literarischen, noch näher zu erläuternden ‚Identitätsfiktionen‘ in 18 literarischen Texten der Beur-Literatur von den frühen 1980er Jahren bis 2005. Die hybride Disposition der literarischen Subjekte wird mittels eines spezifischen Generationenmodells in synchroner und diachroner Perspektive untersucht. Generationsimmanent werden - zunächst zu heuristischen Zwecken getrennt - die Zeitbzw. Geschichts- und Raumkonstruktionen analysiert, anschließend miteinander verschränkt und mit den Selbstbeschreibungen verbunden. Im Zentrum steht die Analyse der Selbstnarrationen in der Situation des kulturellen Zwischenraums, der aus einer theoretischen Perspektive der Transkulturalität und der Hybridität maßgeblich im Sinne Wolfgang Welschs und Homi K. Bhabhas betrachtet wird. Dieser Blickwinkel auf das „entre-deux“ zwischen französischer und ‚arabischer‘ Kultur ermöglicht eine differenziertere Sicht auf die Prozesse der kulturellen Verhandlungen und erlaubt es, die Bezugnahme auf unterschiedliche Kulturen nicht mehr als einen Kulturkonflikt monolithischer und dichotomer Gegner zu denken (ganz im Sinne des unsäglichen „clash of civilizations“ nach Huntington). Vielmehr werden transkulturelle Identifikationen sichtbar, die die kulturellen Dichotomien zu unterwandern vermögen. Der Ansatz dieser Arbeit liegt folglich in einer dezidierten Gegenposition zu Vorstellungen von essenzialistischen Identitäts- oder Kulturkonzepten und damit in der Annahme, dass die Erzähler und Erzählerinnen „issus de l’immigration maghrébine“ in den literarischen Texten keinen interkulturellen Konflikt zwischen ‚der arabischen‘ und ‚der französischen‘ Kultur oder gar deren multikulturelle Harmonisierung zum Ausdruck bringen. Vielmehr sondern beschreiben sie komplexe transkulturelle, hybride Identitätskonstruktionen, wie sie in poststrukturalistisch und konstruktivistisch ausgerichteten postkolonialen und transkulturellen Theorien konzipiert werden. Dabei stehen Selbstkonzepte und literarische Texte in einem immanenten Zusammenhang: Die transkulturellen Überschreibungen der literarischen Subjekte entsprechen spezifischen literarischen Verfahren in den Texten. Ziel dieser Untersuchung ist demnach die Beschreibung einer spezifischen transkulturellen écriture, wie sie sich in den Beur-Romanen zeigt. Wer aber sind die Beurs und Beurettes? Was wird unter Beur-Literatur verstanden, und wie ist sie für die folgenden Textanalysen zu systematisieren? Welches Verständnis von Identität und Identifikation liegt der Untersuchung zugrunde? Diese Fragen beantwortet das erste Kapitel dieser Arbeit als Hintergrund für meine Analysen: In diesen einleitenden Überlegungen werden die Definition und Geschichte des Terminus „beur“ vorgestellt und durch den politischen, historischen und gesellschaftlichen Hintergrund der Soziogenese der Beurs kontextualisiert. Anschließend wird die literaturwissenschaftliche Forschung zur littérature beur gesichtet und das dieser Arbeit zugrunde liegende Verständnis des Gegenstands präzisiert, das sich maßgeblich an Untersuchungen von Michel Laronde, Cornelia Ruhe und Charles <?page no="11"?> Einleitung 9 Bonn orientiert. Nach der Einführung in das Generationenmodell, das der Systematisierung der literarischen Identitätskonstruktionen auf der Grundlage von „Mentalitäts- und Bewusstseinseinheiten“ (Sigrid Weigel) dient, wird abschließend der theoretische Rahmen gesteckt für die literaturwissenschaftlichen Analysen von Raum-, Zeit- und Identitätskonstruktionen. Hier verbinden sich postmoderne und postkoloniale Identitäts- und Hybriditätskonzeptionen nach Andreas Reckwitz, Homi K. Bhabha und Stuart Hall mit den Untersuchungen zu Zeit- und Geschichtskonzeptionen in literarischen Selbsterzählungen nach Ansgar Nünning und Birgit Neumann, die Relevanz von Raumkonstruktionen nach Doris Bachmann-Medick und schließlich die Verbindung der Ebenen von Zeit und Raum durch die Einführung in das Konzept des Chronotopos in Anlehnung an Michail M. Bachtin. Das einleitende Kapitel wird durch die Reflexion der Spezifik postkolonialer Selbstbeschreibungen beschlossen, die einerseits auf der Ebene des literarischen Genres neuere Theorien der postkolonialen Autobiographie berücksichtigt und andererseits auf der Ebene der Diegese das Verständnis der diskursiven Konstruktionen von Selbstentwürfen verdeutlicht. Das zweite Kapitel ist detaillierten Textanalysen der Beur-Romane in einer synchronen Perspektive gewidmet. Hier werden generationsimmanent zunächst die Zeit- und Geschichtskonstruktionen untersucht und dann die beschriebenen Orte und Räume rekonstruiert und in ihren inhaltlich-thematischen Gestalten und literarischen Gestaltungen in den unterschiedlichen Romanen analysiert. In einem weiteren Schritt werden die Raum-Zeit- Konstruktionen miteinander verschränkt und durch die Analysen der expliziten Selbstbeschreibungen der Protagonisten und Protagonistinnen ergänzt. Der Schwerpunkt der Analysen liegt dabei auf den literarischen Texten der von mir angenommenen dritten Generation, also auf den aktuelleren Romantexten. Das dritte Kapitel stellt die diachrone Zusammenschau der literarischen Identitätskonstruktionen dar. Generationsübergreifend werden die Veränderungen in den Hybridisierungen und transkulturellen Bewegungen in den Texten herausgearbeitet. 2 Wiederum stehen zunächst Zeitbzw. Geschichts- und dann die Rauminszenierungen im Mittelpunkt, die anschließend in der Verschränkung mit den Identitätsfiktionen entfaltet werden. Dabei werden im Hinblick auf die chronologischen Konstruktionen Konzepte des kollektiven Gedächtnisses zur Analyse der Interdependenz von individuellen und kollektiven Aspekten ebenso eingeführt, wie theoretische Reflexionen zur Relevanz von Gedächtnis, persönlicher Erinnerung und der Ebene der Zeit für Selbsterzählungen. Die diachrone Zusammenschau der Raumkonstruktionen rückt Bewegungen, Transgressionen und Passagen statt Verortungen und spatialer Fixierungen in den Blick. Nach einer konzeptuellen Differenzierung von Ort und Raum im Sinne Michel de Certeaus und Gaston 2 Die untersuchten Veränderungen werden dabei nicht im Sinne einer teleologischen Entwicklung verstanden, sondern sind der Reihung der Texte geschuldet. <?page no="12"?> Einleitung 10 Bachelards und einer Einführung in die Begriffe von Utopie und Heterotopie nach Michel Foucault, werden die literarischen Gestaltungen neuer, alternativer und instabiler Räume untersucht. Meine Analysen haben zum Ziel, wie Ottmar Ette es formuliert, „mobile, dynamische Raum-Zeit-Konfigurationen, die sich überschneidende, durch komplexe Grenzlinien charakterisierte Zwischenwelten im Transit“ 3 sichtbar zu machen. Das dritte Kapitel wird durch eine zusammenfassende, generationsübergreifende Analyse der unterschiedlichen identitären Hybridisierungen der literarischen Figuren in kritischer Fortschreibung des Dritten Raums nach Homi K. Bhabha und der rhizomatischen Identität nach Edouard Glissant beschlossen und der aus den Textanalysen generierte Begriff der „Identitätsfiktion“ expliziert. Das abschließende Kapitel untersucht exemplarische literarästhetische Verfahren der Beur-Literatur. Durch die Engführung und Verschränkung der synchronen und diachronen Untersuchungsachsen wird die Komplexität der Identitätskonstruktionen verdeutlicht und schließlich das selbstreferenzielle Moment der literarischen Texte als Ausgangspunkt für die Entwicklung des Konzepts einer écriture transculturelle beur genutzt. Meine Analysen zielen dabei keineswegs auf die Formulierung einer programmatischen Schreibweise, die eine einheitliche Schule, Strömung oder Klassifikation einer homogenen Beur-Literatur ermöglichen soll. Vielmehr schlage ich Modellanalysen von literarischen Beur-Texten als Laboratorium des Transkulturellen vor, die den Schreibprozess als integralen Bestandteil mitreflektieren. So wird mit Monika Schmitz-Emans der „Zusammenhang zwischen der Subjekt-Thematik und dem Interesse am Schreibprozeß“ 4 in der Beur-Literatur in den Blick genommen. Die hybriden Subjekte bedingen eine hybride Schreibweise; die transkulturelle Verfasstheit der Beurs prägt also transkulturelles Schreiben. In diesem Sinne wird eine wechselseitige Reflexion der Begriffe der écriture und der Transkulturalität vorgeschlagen, die in das Konzept der écriture transculturelle beur mündet und an das 2007 vorgeschlagene Konzept der littérature-monde bzw. écriture-monde gebunden wird. 3 Ette 2005, S. 15. 4 Schmitz-Emans 2000, S. 79. <?page no="13"?> Einleitung 11 1.1 Qui sont les beurs ? Zum Beur-Begriff und zur Soziogenese der Beurs Beur: mot désignant une substance alimentaire, grasse et onctueuse (voir Petit Robert). De plus en plus écrit de cette façon par les journalistes (grosse faute d’orthographe ! cf. La Disparition de G. Perec). Voudrait maintenant désigner une population issue de l’immigration maghrébine… on a eu Pain et Chocolat…manquait le Beur. Décidément, l’immigration ça se mange bien au petit déjeuner ! Begag/ Chaouite: Ecarts d’identité Eine Untersuchung der littérature beur kann nicht ohne eine nähere Erläuterung der (Auto)Proklamation „beur“ und ohne eine historische und soziologische Kontextualisierung der Akteure und Akteurinnen vorgenommen werden. Denn sowohl der beur-Begriff als auch derjenige der Beur-Literatur sind in der Forschung sehr umstritten sind und werden darüber hinaus von einigen Beurs und Beurettes selbst abgelehnt. Im Folgenden werden zunächst die Geschichte und die Bedeutung des Begriffs erläutert, um die Verwendung im Rahmen dieser Arbeit zu erklären, und im Anschluss daran die Soziogenese der Beurs skizziert. Das Kapitel beschließt ein Überblick über die kulturellen Repräsentations- und Gestaltungsformen einer „culture urbaine“, wie sie die Beurs entscheidend mitprägen und deren Teil die Literatur ist. Der Begriff „beur“ taucht 1983 erstmals in der öffentlichen Debatte als feststehender Ausdruck im Zuge eines Protestmarsches auf, welcher bald in der Presse als „marche des beurs“ bezeichnet wurde. Die Begriffsentwicklung aber nimmt ihren Ausgang in der pejorativen Bezeichnung der Kinder maghrebinischer Immigranten als „Beurs“, ein Verlan-Ausdruck von „arabe“. Das Verlan ist eine Jugendsprache der Pariser Vororte, in der Silben verdreht werden; so wird, vereinfacht dargestellt, aus „arabe“ - „rabeu“ - „beur“. 5 Wichtiger aber als die Etymologie des Begriffs ist in diesem Zusammenhang die Rekontextualisierung, d.h. die ‚Karriere’ der Bezeichnung vom Schimpfwort zur Selbstbezeichnung. Im Zuge der Politisierung der Beurs in den 1980er Jahren nämlich wird die Bezeichnung zur Autoproklamation und damit zu einem politischen ‚Kampfbegriff’ erhoben. Françoise Gaspard und Claude Servan-Schreiber betonen diesen Selbstermächtigungsaspekt: „Beurs, c’est le nom que se donne une génération, c’est une manière constructive de remplacer le mot ‘bougnoule’.“ 6 Doch diese Autoproklamation 5 In der Forschung gehen die Meinungen zur Genese des beur-Begriffs auseinander. Vgl. zu dieser Debatte exemplarisch die linguistischen Analysen zum Verlan von Vivienne Méla 1997 und Zimmermann 2003 sowie spezifisch zum beur-Begriff Liauzu 1990, bes. S. 133ff. sowie Durmelat 1998. 6 Gaspard/ Servan-Schreiber 1985, S. 194. <?page no="14"?> Einleitung 12 stellt nicht nur eine Selbstbemächtigung dar, in deren Rahmen die Beurs nicht mehr ‚Opfer’ eines Diskurses, sondern dessen Akteure sein wollen. Zugleich wird der Begriff von den Medien geprägt und daher in einer Weise benutzt, die viele Beurs und Beurettes als Etikettierung empfinden - die Konnotationen der Fremdbezeichnung decken sich nicht (mehr) mit den Inhalten der Selbstbezeichnung. Daher lassen sich seit den 1980er Jahren zwei Einstellungen zum beur-Begriff extrapolieren: die Ablehnung des Begriffs oder die Identifikation damit. „[J]e refuse absolument l’étiquette de Beur“, betont bspw. der Autor Hocine Touabti; 7 „Beur, c’est une étiquette pour expulser à l’intérieur“, lehnt der Sänger Amazigh Kateb, Sohn von Kateb Yacine, den Begriff ab. 8 Neben ihnen gibt es viele Beurs und Beurettes, die den Begriff als Labellisierung und als „rassistische“ Bezeichnung zurückweisen. Auch Augustin Barbara macht kritisch auf den „Boomerang-Effekt“ des Begriffs aufmerksam, der den diskriminierenden Stimmen nur die Legitimation zu erneuter Marginalisierung und Stereotypisierung liefert. 9 Hingegen betont der Schriftsteller und Gründer des Radiosenders Radio Beur (heute: Beur FM), Nacer Kettane, das Potenzial der Markierung eines eigenen geograophischen und sozialen Raums: Beur vient du mot „arabe“ inversé : arabe donne rebe, qui, à l’envers, donne ber et s’écrit beur. Mais il n’a rien à voir avec la signification académique du mot « arabe ». Beur renvoie à la fois à un espace géographique et culturel, le Maghreb, et à un espace social, celui de la banlieue et du prolétariat. 10 Auch einer der politischen Aktivisten, Malek Boutih, Präsident der Fédération nationale des potes, 11 verwendet die Bezeichnung selbstbewusst. Für ihn markiert sie nicht nur eine soziale und lokale Bindung, sondern stellt eine eigene Identitätsfigur der kulturellen métissage dar: François-Xavier Freland : Le terme de « Beur » ne vous dérange-t-il pas ? Malek Boutih : Non pas du tout, je ne suis pourtant pas dans le camp de ceux qui veulent fixer les identités…Le mot « Beur » ne vient pas des médias, contrairement à ce qu’on dit souvent, il vient de ma génération, des enfants d’immigrés du Maghreb qui naissent dans les banlieues. […] Et ce mot, d’après moi, il est aussi un moyen d’exprimer quelque chose comme un métissage. On ne pourrait se définir comme Arabe, au sens où un Arabe, c’est quelqu’un qui vit dans un pays arabe, dans la culture arabe, qui parle arabe, etc. Et en même temps, à l’époque, comme on était le cul entre deux chaises, on ne pouvait pas dire qu’on était des 7 Touabti 1987, S. 24. Der algerische Sänger Amazigh Kateb, der Sohn von Kateb Yacine, schreibt dem Beur-Etikett gar die Möglichkeit zur „internen Ausweisung“ zu, vgl. Lemahieu 1998. 8 Vgl. ebd. 9 Vgl. Barbara 1986, bes. S. 136ff. 10 Kettane 1986, S. 21. 11 Diese Gruppierung bringt die Zeitschrift Pote à pote heraus, in der eine der Figuren in Paul Smaïls Roman Ali le magnifique tätig ist, der in dieser Arbeit ebenfalls analysiert wird. <?page no="15"?> Einleitung 13 Français. Les Français, c’étaient les autres. Donc qu’est-ce qu’on était ? Quelque chose au milieu…Et la langue de la rue, l’argot, nous a permis de construire un mot qui finalement correspond assez réellement à ce qu’on est. C’est à dire quelque chose de nouveau. 12 Boutih benennt hier mehrere Konnotationen, die in den Diskussionen um den Begriff eine Rolle spielen: den Aspekt der Autoproklamation, der Etablierung eines kollektiven Zusammenhalts, der Distanzierung von „den Arabern“, aber auch von „den Franzosen“ - und der Aspekt der krativen Neuschöpfung im Dazwischen. Es ist diese problematische Zwischenstellung, auf die der beur-Begriff verweist, und die auch Adelheid Schumann in den Blick nimmt. Sie erläutert die unterschiedlichen Differenzierungs- und Identifizierungsbewegungen, die die Beurs zum Arabischen und zum Französischen beschreiben. Der beur- Begriff drückt in erster Linie eine gleichzeitige Ablehnung des arabischen Elternhauses und der französischen Gesellschaft aus. Doch er bezeichnet auch Zugehörigkeiten, die Schumann systematisiert in: eine altersspezifische als Jugendliche der zweiten Generation („Beur statt Arabe“), eine kulturspezifische als Jugendliche arabischer Abstammung („Beur gleich Arabe“) und schließlich eine territoriale oder lokale (durch den Sozio- und Regiolekt des Verlan gekennzeichnete) Zugehörigkeit als Jugendliche der banlieue („Beur gleich jeune de banlieue“ 13 ). „Der Begriff verhalf ihnen [...] zur Definition und Abgrenzung ihrer eigenen sozialen Gruppe, zur Entwicklung einer Gruppenidentität und einer damit verbundenen Normierung der Eigenwahrnehmung“, 14 beschreibt Adelheid Schumann die Funktion des Begriffs in der Kollektivbildung. Diese soziale Gruppe werden im Rahmen der vorliegenden Untersuchung mit dem Begriff der Beur-Generationen reflektiert und anhand der (Selbst-)Wahrnehmungen weiter differenziert. In den 1990er Jahren nun - folgt man den Ausführungen Schumanns 15 - gelangt der beur-Terminus zunehmend als Teil des Begriffs „Black-Blanc- Beur“ ins öffentliche Interesse. 16 Ursprünglich als Name einer Tanzgruppe macht diese Bezeichnung eine interessante Entwicklung: Zunächst taucht er in der Presse in Bezug auf Jugendkrawalle in den banlieues von Paris, Marseille und Lyon im November 1990 auf. Black-Blanc-Beur bezeichnet hier die multikulturellen Jugendbanden, die als „casseurs“ in ihren Wohnsiedlungen 12 Boutih nach Freland 2003, S. 59f. 13 Schumann 2002, S. 31. 14 Ebd., S. 30. Auf die identitätsbildende und -stützende Funktion der Jugendsprache weist auch der Linguist Louis-Jean Calvet in seiner soziolinguistischen Untersuchung zu urbanen Sprachformen hin: Calvet beschreibt rekurrierend auf Erkenntnisse von John Gumperz die Ausbildung eines „Wir-Codes“ bei Minderheitensprachen: „une forme identitaire peut être constituée par autre chose, par la production d’un we code à partir d’un they code pour s’en différencier et se différencier du même coup des locuteurs de ce they code, pour des raison diverses.“ Calvet 1994, S. 68. 15 Ebd., S. 33ff. 16 Zum Zusammenhang von Black-Blanc-Beur, HipHopbzw. Rapmusik und banlieue vgl. Hüser 1998. <?page no="16"?> Einleitung 14 ihr Unwesen treiben. Nun ist der Begriff direkt mit den Unruhen in den sozialen Brennpunkten der banlieues verbunden: Mit der Begriffskombination Black-Blanc-Beur ist die ehemals positive Konnotation aus 1980ern aufgehoben; es wird damit vielmehr eine multikulturelle Gruppenbildung markiert, die nicht nur der Integration im Sinne einer Assimilation in der französischen Etat-Nation entgegenwirkt. Beur ist nun in einen Kontext eingebettet, der in Abgrenzung zu einer „schwarzen und weißen“ Kultur steht - die einzig positive Umdeutung findet im Zusammenhang mit der französischen Fußballnationalmannschaft statt. 17 Der Begriff bedeutet also in den 1990ern für viele Kinder der maghrebinischen Immigrantenfamilien eher ein soziales, für manche gar ein rassistisches Stigma. Als 2005 die Unruhen 18 in den französischen Vorstädten ausbrechen, gerät der Begriff wieder in die kritische Medienrezeption. Die beschriebenen Identifikationsbewegungen, die sich in den beur-Konnotationen der Ablehnungen und Vereinnahmungen ausdrücken, finden sich auch in den literarischen Selbstbeschreibungen der Beurs wieder. Trotz der geschilderten Problematik scheint mir der Beur-Begriff als heuristischer Begriff geeignet für die Markierung einer prozessualen Identifikation, die Dichotomien und essenzialistische, als Entitäten begriffene Kulturkonzepte unterläuft. 19 So bezeichnet beur nicht Fremde, die sich gegenüber der französischen Gesellschaft positionieren, sondern dient gerade als transzendentale Identifikationsfigur. Um die Problematik des Begriffs, aber auch das kreative und identifikatorische Potenzial zu betonen, wird im Rahmen der folgenden Analysen der beur-Begriff kursiv markiert. Im Rahmen dieser Arbeit soll beur - die eben benannten Problematiken berücksichtigend - als Bezeichnung für die zu untersuchenden Romane und die literarischen Figuren beibehalten werden, 20 denn auch alternative Begriffe wie „immigrés“, „jeune immigrés“, deuxième génération“, „jeunes Arabes“ etc. sind problematisch, verweisen sie doch zu stark auf eine kaum oder gar nicht erlebte Immigrationserfahrung oder bedeuten eine Verneinung oder Vernachlässigung der spezifisch „transkulturellen“ Identifikationspotenziale. 17 Vgl. auch Döring/ Osthus 2002. 18 Almuth Zwengel kategorisiert die Ausschreitungen in drei Phasen: eine politisch motivierte Phase von Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er, eine zweite Phase um Mitte der 1990er Jahre auf der Grundlagen von Islamisierungstendenzen, die nochmals ihren Höhepunkt nach dem 11. September 2001 fand, und schließlich die Phase der Gegenwart, die von den „Ni putes, ni soumises“-Aktivistinnen bis zu den Ereignisse im November 2005 reichen. Vgl. Zwengel 2004a. 19 Das Verlan stellt die französische Sprache nicht nur ‚auf den Kopf’ und demonstriert so sein subversives Potenzial, sondern stellt auch ein Wort her, dass nur mehr Spuren der französischen Sprache und der Bezeichnung als „arabe“ enthält. In der Mischung und Verdrehung, der métissage, ist eine neue Bezeichnung entstanden, die eine spezifische kulturelle Hybridität ausdrückt. 20 So weist zwar auch Hafid Gafaïti auf die Problematik des Begriffs hin, jedoch behalten er und die Beiträger/ innen des Sammelbands die Bezeichnung, wenn auch durch Anführungszeichen markiert, bei. Vgl. Gafaïti 2001, bes. S. 11. <?page no="17"?> Einleitung 15 Doch wer sind nun jene Beurs und Beurettes genau? Zum Verständnis Situation der Beurs ohne eigene „affirmierte Identität“, wie Wallet, Nehas und Sghiri betonen, sollen im Folgenden die soziologischen Randdaten der Beurs vorgestellt und damit der Immigrationskontext verdeutlicht werden. Im Gegensatz nämlich zur Elterngeneration, so Wallet et el., „déjà en possession d’une identité culturelle affirmée, ils [les jeunes, K.S.] piétinent pour se projeter quelque part, parce que justement ce quelque part ne s’inscrit pas dans une construction évidente de l’identité. 21 Die Entwicklung des Begriffs „beur“ hängt mit dem sozialen und politischen Hintergrund einer Soziogenese der Beurs zusammen: In den Variationen des De- und Rekontextualisieren des Begriffs spiegeln sich Politisierungen, Medienkritik und diskursive Machtgefälle im öffentlichen und kulturellen Diskurs in Frankreich. Die „zweite Generation der nordafrikanischen Immigranten“ rückt erstmals positiv ins politisch-öffentliche Bewusstsein, als sich im Oktober 1983 ein friedlicher Protestmarsch einer Gruppe Jugendlicher von Lyon ausgehend nach Paris gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit formiert: „La marche pour l’égalité et contre le racisme“. Das auslösende Ereignis für diese nationale Ausmaße annehmende Demonstration, nämlich die Krawalle in der „Cité des Minguettes“ in Lyon, steht im Zusammenhang mit einer allgemeinen ‚Stimmung’ und Jugendkrawallen, die bereits zwei Jahre zuvor in den Vororten von Lyon ausbrechen. Bereits seit Ende 1970er und Anfang 1980er häufen sich in Frankreich rassistische Übergriffe. 22 Aufgrund einer Auseinandersetzung Jugendlicher mit der Polizei 1981 in Lyon erfolgt die Verhaftung und Ausweisung eines jungen Algeriers. Im Schlagwort der gesetzlich festgeschriebenen „double peine“, der doppelten Strafe durch Gefängnisstrafe und Ausweisung, verdichten sich die Ängste und das Gefühl der ungleichen Behandlung der Beurs. 23 Im Zusammenhang mit dieser Strafpraxis zeigt sich dann auch das Zurückweichen der politischen Linken vor der Rechten, welche das Immigrationsthema direkt mit der Bedrohung durch Kriminalität und Unsicherheit gleichsetzt. Etwa 100.000 Demonstrierende erreichen am 3. Dezember Paris. Es wird deutlich, dass aus der lokalen Initiative eine nationale Bewegung geworden ist. Die Teilnehmenden sind dabei nicht nur Immigrantenkinder, sondern auch Mitglieder politischer Gruppierungen und besonders der Parti Socialiste. Aufschlussreich für die politischen Zielsetzungen und die kulturellen Konfliktsituationen der Akteure sind die Forderungen und Slogans, die im Laufe des Protestmarsches formuliert werden. Hieß es anfangs noch Marche 21 Wallet/ Nehas/ Sghiri 1996, S. 15. 22 Vgl. dazu weiterhin Gaspard/ Servan-Schreiber 1985, bes. S. 130-133. 23 Diese Ausweisungspraxis, die die Kinder maghrebinischer Immigranten aufgrund geringster Vergehen in ihre vermeintliche ‚Heimat’ schicken kann, beruft sich auf das „Loi Bonnet“ von 1980. <?page no="18"?> Einleitung 16 pour l’égalité des droits et contre le racisme, so erscheinen in Paris differenziertere Forderungen : Vivons égaux avec nos différences oder Pour une France pluriethnique et multiculturelle. Hier zeigen sich unterschiedliche Interessenslagen der verschiedenen Teilnehmenden: Während die Jugendlichen der Lyonnaiser banlieue noch konkrete Forderungen für ein sichereres Leben in ihrer Region formulieren und auf ihre schwierige und oftmals gefährliche Lage zwischen den Kulturen aufmerksam machen wollen, weiten die Intellektuellen und Studierenden, die sich in Paris dem Marsch anschließen, die Ziele auf eine abstraktere politische Ebene aus. Sie fordern eine „nouvelle citoyenneté“ für die Beurs, die die Prinzipien der Gleichheit und Differenz (Vivons égaux avec nos différences) miteinander verbindet. Neben einer rechtlichen Gleichstellung fordern sie auch die kulturelle Eigenständigkeit der „culture beur“. Die Formulierung dieses Mottos bedeutet eine Wende und eben eine Ausweitung des Effekts der Protestmarsches. Die Kinder der maghrebinischen Immigranten demonstrieren öffentlich, dass sie zwar in Frankreich geboren bzw. aufgewachsen sind und durch die französische Schulbildung auch in Frankreich sozialisiert sind, aber nicht als Franzosen anerkannt werden. Diese Feststellung greift nicht nur die rassistischen Ausgrenzungsmechanismen der französischen Gesellschaft an und konfrontiert sie von innen heraus - denn die Beurs sind ja Teil der französischen Gesellschaft - mit den eigenen xenophoben Praxen und kolonialen Traumata, primär der Kolonisierung Algeriens und des Algerienkriegs und der damit zusammenhängenden Immigrationserfahrung. 24 Darüber hinaus fordern die Beurs gleichzeitig eine Anerkennung als Franzosen und eine Respektierung als arabische Mitbürger und Mitbürgerinnen ein. Im Vivons égaux avec nos différences werden die Schlüsselbegriffe der égalité, als staatsbürgerliche und soziale Gleichstellung, und der différence, als Ausdruck des Rechts auf kulturelle Eigenständigkeit und Andersartigkeit verbunden. Für das französische Selbstverständnis sind diese Begriffe unvereinbare und dem staatsbürgerlichen Modell konträre Konzepte. 25 Die kulturelle Andersartigkeit ist unvereinbar und wird als bedrohlich empfunden für das Konzept der égalité civile. Die staatsbürgerliche Gleichstellung ist nur im Rahmen eines universellen Wertesystems denkbar, so dass kulturelle Unterschiede zugunsten allgemeiner menschlicher Werte und demokratischer Rechte aufgehoben werden müssen. Die Forderungen des Marche des Beurs lösen in der Folge eine allgemeine Debatte über das nationale Selbstverständnis der französischen Bürger und Bürgerinnen aus. Dabei waren die Forderungen ursprünglich, wie bereits erwähnt, als Reaktion auf eine konkrete Lebenssituation und politische Verhältnisse formuliert. Keine allgemeine Debatte, son- 24 Der Algerienkrieg ist in Frankreich bis heute ein problematisches Thema: „Der Algerienkrieg wurde verleugnet“, beschreibt Frank Renken den Ausgangspunkt seiner umfassenden Studie zu Ursachen und Auswirkungen der staatlichen Tabuisierung. Renken 2006, S. 12. 25 Diesen Aspekt betont auch der Beur-Autor Azouz Begag immer wieder in seinen Vorträgen und Lesungen, bspw. 1999 in Köln und 2004 in Bremen. <?page no="19"?> Einleitung 17 dern konkrete eindeutige Rechtsgarantien für das Leben in Frankreich und Schutz vor rassistischen Übergriffen waren intendiert. So waren bspw. die Forderungen nach Gleichstellung zunächst in einem rechtlichen Sinne gemeint; bspw. die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung 26 auf zehn Jahre und größeren Schutz vor Ausweisung. Das Schlagwort der différence richtete sich ebenfalls auf die konkreten Erfahrungen rassistischer Übergriffe. Es war mit der Tolerierung der (äußerlich sichtbaren) Andersartigkeit verbunden und verweist auf den Leidensdruck der „visibilité“, dem „délit de gueule“. In der Politik führt der Protestmarsch zu unterschiedlichen Reaktionen. Die Beurs werden als antirassistische Bewegung wahrgenommen und von den Linksparteien als Erben ihrer eigenen antirassistischen Tradition begrüßt. Die erst 1981 an die Macht gekommen Sozialisten erkennen das politische Potenzial des Protestmarsches, indem sie die Bewegung gegen den Front National instrumentalisieren. Mitterand empfängt sogar eine Delegation des Protestmarsches in Paris und verhilft durch diese politische Geste dem mouvement beur zu einer Anerkennung als politische Akteure in der Öffentlichkeit. So erhält auch der Beur-Begriff eine positive Konnotation; er steht für junge Maghrebiner der zweiten Generation mit politischem Interesse. Dennoch versucht die PS die Beurs auf das Ziel des Antirassismus festzulegen und blendet damit die Forderung nach Anerkennung der kulturellen Alterität aus. 27 Die Gender-Problematik spielt insofern eine Rolle, als die Töchter der maghrebinischen Immigrantenfamilien, die Beurettes, ihre eigene politische Geschichte haben. Die durch die Religion des Islam legitimierte patriarchalische Geschlechterhierarchie innerhalb der Familien und der maghrebinischen Gemeinschaften in den französischen Vorstädten prägt das Leben und das Selbstverständnis der Beurettes maßgeblich. Für sie ist die Diskrepanz 26 Der Erwerb der französischen Staatsangehörigkeit hat eine lange, wechselhafte Geschichte hinter sich. Das Staatsangehörigkeitsrecht wird durch die Bestimmung vom 19. Oktober 1945 (geändert 1973, 1984, 1993 und 1998) geregelt. Es beruht auf dem ius soli sowie dem ius sanguini. Im Gegensatz zum sogenannten „ethnischen“ Modell der Integration in Deutschland, nach dem Staatsangehörigkeit im Wesentlichen von der Abstammung abhängt, und dem angelsächsischen Modell, das die Minderheiten (im sozialen Leben, nicht aber im juristischen Sinne) als politische Akteure anerkennt, besteht in Frankreich das sogenannte „politische“ Modell. Hier hängt die Staatsangehörigkeit von der Zugehörigkeit zum Gesellschaftsvertrag/ zum den Staat begründenden Vertrag ab; sogenannte „ethnische“ Identitäten werden aus dem öffentlichen Bereich herausgehalten und auf den privaten Bereich beschränkt (Laizismus). Das Ziel ist die individuelle Integration der Einwanderer durch die Schule und andere Einrichtungen. Zur Funktion der republikanischen Schule vgl. bspw. Gaspard/ Servan-Schreiber 1985, bes. S. 172ff. 27 Der Protestmarsch und der Regierungswechsel waren damals mit sehr großen Hoffnungen verbunden, glaubten die Beurs damals, dass die PS ihnen eine politische Lobby einräumen würde. Die Enttäuschung darüber, als medien- und öffentlichkeitswirksames Instrument genutzt worden zu sein, sollte nicht unterschätzt werden. <?page no="20"?> Einleitung 18 zwischen Elternhaus und französischer Schule besonders signifikant, treffen in dem laizistischen Staat doch Vorstellungen von Religion und individueller Freiheit und Gleichheit beinahe unvereinbar aufeinander. Die Familienehre als moralischer Wert, Zwangsheirat und die Kopftuchdebatte, die in Frankreich bereits Ende der 1980er Jahre zum öffentlichen Thema wird scheinen nicht mit dem Leben in der französischen, westlichen Gesellschaft zusammenzupassen. 28 Die Immigrationsgeschichte der Eltern, die Lebens- und Wohnsituation 29 der Familien und die Politisierung der Beurs bilden einen wichtigen Hintergrund für die beschriebenen Räume in den Beur-Romanen und für das Lebensgefühl der Kinder und Jugendlichen. Ihre Situation als Migranten hat nachhaltigen Einfluss auf die Beurs und ihr Schreiben. Denn vor dem Hintergrund dieser Wohnmisere entstand in den 1980er Jahren das politische mouvement beur, das besonders für die frühen Beur-Texte einen wichtigen Kontext darstellt. Zwar hatte es auch schon vor dem Protestmarsch von 1983 Protestaktionen 30 gegeben, doch ist erst diese kollektive und im öffentlichen Bewusstsein verankerte Aktion als Beginn der politischen Beur-Bewegung zu bewerten. Es gab bis zum Ende der Beur-Bewegung Ende der 1980er Jahre unterschiedliche Gruppierungen. Die politischen Ziele der Bewegungen waren so disparat, dass die Beur-Bewegung u.a. mangels Einigkeit über Programme und Ziele verschwand. 31 Diese inkommensurablen politischen 28 In diesem Sinne agiert auch die feministische Gruppe NPNS („Ni putes, ni soumises“), die am 8. März 2003 in Paris einen Protestmarsch für die Rechte der muslimischen Frauen organisierten, an dem - nach eigenen Angaben - 30.000 Demonstrierende teilnahmen. Die Situation junger Frauen interessiert Fadela Amara in ihrem Buch Weder Huren noch Unterworfene. (2005), indem sie anhand autobiographischer Erlebnisse die Ghettoisierung der Viertel und den Protestmarsch beschreibt und dem offene Briefe und das Manifest der Bewegung im Anhang beigefügt sind. Vgl. dazu weiterhin die detaillierte soziologische Studie zur Situation der Beurettes von Nacira Guénif Souilamas 2000. Zur Begriffsgeschichte von beurette vgl. auch den Artikel von Leïla Sebbar 1990b. 29 Vgl. Schumann 2002, bes. S. 35-43. Schumann resümiert die historischen Entwicklungen der Wohnsituationen von den Wohnghettos der bidonvilles und cités de transit in den 1960er Jahren über die grands ensembles in den 1970er Jahren bis zu den Sozialbausiedlungen der 1980er Jahre. Zur Geschichte der Immigration in Frankreich ist auch heute noch das Standardwerk von Gérard Noiriel 1988 zu nennen. Vgl. weiterhin die aktuelle Studie von Hargreaves 2007, der die Immigrationsgeschichte in Frankreich historisch und soziologisch resümiert, bes. das Kapitel „Immigration after the end of immigration“ nach dem Einwanderungsstopp 1974, also nach den sog. trente glorieuses, S. 24ff. 30 So war die Elterngeneration keineswegs nur schweigend, sondern es gab auch Streiks und Demonstrationen der travailleurs immigrés gegen Arbeitsbedingungen, Wohnverhältnisse und ihr rechtliche Situation, die jedoch nie in dem Maße populär geworden waren. 31 Die „Kollektive“ waren ebenso unterschiedlich wie teilweise widersprüchlich in ichren politischen Forderungen: Exemplarisch seien das Collectif Lyon genannt, das von den Initiatoren des Marsches gegründet wurde und nur maghrebinische Jugendliche erreichen und zur Partizipation zulassen wollte, im Gegensatz zum Collectif Paris, <?page no="21"?> Einleitung 19 und sozialen Zielrichtungen führten Ende der 1980er Jahre zum Zerfall der politischen Aktivitäten in Einzelaktivitäten der unterschiedlichen Gruppierungen: Eine Beur-Bewegung, unter deren Ägide agiert werden kann, gibt es nicht mehr. Für die 1990er Jahre fasst Schumann zusammen, dass die Beurs der 1980er Jahre in der öffentlichen Wahrnehmung in eine multiethnische Black-Blanc-Beur-Jugend aufgegangen ist, die von der Presse als ethnisch, sozial und lokal different dargestellt wird und alle Merkmale für Exklusion auf sich vereint. Als politischer Begriff wird „beur“ auf ethnische und soziale Wahrnehmungsmuster reduziert: Beurs werden als Araber, Muslime oder banlieusards markiert und von schwarzen und weißen Immigrantenkindern unterschieden. Loïc Wacquant konstatiert: C’est parce que les immigrés se sont rapprochés socialement, culturellement et spatialement des nationaux en bas de la structure des classes qu’ils sont devenus la cible de réactions agressives et que la thématique de l’immigration a envahi l’espace public. 32 Die Aufbruchstimmung der 1980er Jahre, jener „années beur“ (Schumann) 33 als Jahre des sozialen Aufstiegs, wenn auch noch geprägt von der Immigrationsgeschichte und vom Rückkehrwunsch der Eltern, von den prekären Lebens- und Wohnverhältnissen der Familien im Frankreich der 1960er und 1970er Jahre sowie den sozialen und kulturellen Probleme in der Schule, verwandelt sich in den 1990ern in eine Atmosphäre der Resignation und Desillusion, wie sie auch der aufkommende Begriff „la galère“ deutlich macht. Diese Bezeichnung der Soziologen (bes. Jazouli) beschreibt fortan die Situation in den banlieues und damit verschiedene Aspekte der sozialen Exklusion: schulischer Misserfolg, Arbeitslosigkeit, Drogenkonsum und Kriminalität. In den 1990er Jahren, den „années banlieue“ nach Schumann, gibt es eine Art Generationswechsel: Die „petits frères de Beurs“ 34 sind nicht an den politischen Zielen der 1980er Jahre interessiert. Sie bezeichnen sich daher auch als „zupiens“, was eine bevorzugte Identifikation mit der ZUP (Zone à urbaniser en priorité) verdeutlicht und reklamieren eine doppelte Zugehörigderen Mitglieder die Ankunft des Protestmarsches in Paris vorbereitete und sich deutlich als Immigranten positionierten (so unterstützten sie explizit Streikaktivitäten der Elterngeneration). Am Ende der 1980er Jahre, als das politische Engagement der Masse verebbt, bilden SOS Racisme und France Plus exemplarisch antagonistische Gruppierung innerhalb der zerfallenden Beur-Bewegung. Während SOS Racisme sich auf den Kampf gegen (rassistische) Diskriminierung konzentriert, vertritt France Plus gar die Forderung nach einem „droit à l’indifférence“ - damit stehen sie nicht nur für eine assimilatorische Integration, sondern streben auch eine Art Beur-Elitebildung an. Vgl. dazu Schumann 2002, S. 78. 32 Wacquant, Loïc 2006. 33 Schumann 2002, S. 33ff. 34 Diesen Ausdruck prägt der Monde-Journalist Robert Solé, vgl. dazu ebd., S. 36. <?page no="22"?> Einleitung 20 keit für sich. 35 In diesen Jahren glauben die Familien schon nicht mehr an eine Rückkehr in das Heimatland der Eltern und die Zugehörigkeit zu Frankreich ist Ausgangspunkt der Lebenswege der Jugendlichen. Die Beurs der 1990er werden stark durch soziale und urbane Probleme Frankreichs geprägt; gleichzeitig ist eine neue Ideologisierung zu beobachten: Die Ausbreitung des Islams in der Vorstädten scheint für viele Jugendlichen die defizitären Identifikationsangebote der französischen Gegenwartsgesellschaft zu kompensieren. 1990 wurden die besonders gefährdeten cités als quartiers prioritaires ausgewiesen. 36 Die Krawalle sind als Proteste gegen mangelnde soziale und kulturelle Einrichtungen für die Einwohner und besonders für die Jugendlichen zu verstehen, aber auch als Widerspruch zu den schlechten baulichen Zustand der Wohnhäuser und -siedlungen. Die grands ensembles sind in den 1990er Jahren Schauplätze von Straßenschlachten mit der Polizei, von Kämpfen von Jugendbanden. Diese -in der Anlage doch eher sozialen - Unruhen werden im öffentlichen und politischen Bewusstsein immer mit dem Thema „Immigration“ in Verbindung gebracht und die Jugendlichen der sogenannten „deuxième génération de l’immigration“ als Unruhestifter markiert. Die banlieues 37 werden folglich zum Synonym für soziale Ausgrenzung, obwohl sie doch einst als Verbesserung der Lebenssituation und zur Integration gedacht waren. 38 Erst in den 1990er Jahren entwickelt sich in der französischen Gesellschaft ein Bewusstsein dafür, dass die Arbeitsimmigranten nicht wieder in ihre Herkunftsländer zurückgehen und sich langfristig in Frankreich niederlassen werden. 39 Erst in dieser Zeit entstehen politische öffentliche Debatten um Fragen der Unterbringung, Altersversorgung 35 Vgl. ebd. „D’abord, ça veut dire quoi être beur? [...] C’est tout simplement une force d'avoir une double culture“, beschreibt der französische Musiker seine doppelte Zugehörigkeit. Cadasse 2004. 36 Über 30% der Bewohner war unter 20 Jahren, die mit vielen Krawallen Anfang der 1990er zu diesem Gefahrenbewusstsein beigetragen haben. Zur heutigen Situation stellt Wacquant fest: „On présente communément les quartiers périphériques de la ville française comme des « ghettos immigrés » et on ne cesse de déplorer la montée de la « ségrégation». En réalité, ces zones urbaines dégradées sont très mélangées, entre Français « de souche » et étrangers d’une part, entre étrangers de diverses nationalités de l’autre. Une cité comme les 4000, en 1993, comportait 40% d’étrangers venant de deux douzaines de pays. Contrairement au discours dominant, les étrangers sont assez largement dispersés sur le territoire français, comme dans le reste des pays de l’Union européenne, avec des concentrations locales dans l’habitat social qui s’expliquent largement par le recrutement social très bas des familles issues de l’immigration postcoloniale.“ Wacquant 2006. 37 Vgl. weiterhin zur banlieue-Thematik Loch 1999. 38 Den Zusammenhang zwischen der lokalen wie sozialen Mobilität bzw. Marginalisierung arbeitet Azouz Begag in seiner soziologischen Studie über die urbanen Strukturen in den Vororten Avignons heraus. Vgl. Begag 1995. 39 Vgl. dazu Fuchs 1987. Zur aktuellen französischen Migrationsforschung vgl. bspw. das Dossier „Migranten in Frankreich“ von Almut Zwengel 2004b, S. 8-68 und zur soziologischen Beur-Forschung Wihtol de Wenden 1999 sowie Rouadja 2004. <?page no="23"?> Einleitung 21 und - in dem hier untersuchten Zusammenhang besonders relevant - um Integration. 40 Philippe Bernard fasst dies zusammen: La personnalité des parents, leur itinéraire de migrants, leurs difficultés, voire leur impossibilité à transmettre une mémoire familiale douloureuse ou paradoxale, en particulier celle liée au conflit algérien, comptent parmi les traits communs saillants de leur vie. Les écueils d’une histoire non dite, des cicatrices postcoloniales jamais refermées, les pesants échecs de ces vingt dernières années en matière de politique urbaine et d’intégration apparaissent, en creux, à travers des récits de nos « rescapés ». 41 Nicht erst seit den Ausschreitungen im November 2005, die wie bereits geschildert die öffentliche Aufmerksamkeit und Frankreich (und wohl in unterschiedlicher Intensität auch in ganz Europa) auf sich ziehen, gilt ein nicht unbedeutender Teil der französischen Sozialforschung der Untersuchung der banlieue-Problematiken. 42 Marc Zitzmann stellte in einem Artikel einige aktuelle soziologische Studien zusammen, die sich den wesentlichen Problemen der banlieues widmen: „Rassismus, räumliche und schulische Segregation, Stigmatisierung der Muslime nach den beiden Golfkriegen und dem 11. September, schwere Missstände im Funktionieren der Polizei und das alle sozialen Bande korrodierende Gift der Massenarbeitslosigkeit.“ 43 Es sind diese Diskurse, die in der Beur-Literatur aufgegriffen, aber auch in anderen kulturellen Repräsentationsformen gestaltet werden. 44 Doch seit Beginn der 1990er entsteht parallel zu der negativen und ausgrenzenden Fremdwahrnehmung der Banlieue-Jugend auch eine neue Sicht auf die Vorstädte durch Rapper, Tagger, Break-Danser. 45 Die Öffentlichkeit entdeckt eine neue „cul- 40 Der Begriff „intégration“ taucht erst in den 1980er Jahren in Frankreich auf. Vgl. dazu bspw. Bernard 2004, S. 14f., die soziologisch-anthropologische Studie von Emmanuel Todd 1997 sowie Blanc-Chaléard 2001, bes. S. 90-95. 41 Bernard 2004, S. 26. 42 Exemplarische aktuelle Studien sind: Masclet 2003, Marlière 2005 und die Dissertationsschrift zum nationalen Bewusstsein von Jugendlichen und jungen Erwachsenen marokkanischer, tunesischer, spanischer, portugiesischer und türkischer Eltern von Ribert 2006 sowie die erwähnten Studien in einem aktuellen Dossier „Banlieue retour de flammes“, vgl. Birnbaum 2006. Nicht unerwähnt bleiben sollte die Publikation von Amrani/ Béaud 2004, in der der E-Mail-Wechsel zwischen einem 28jährigen Beur aus der banlieue von Lyon und dem Soziologen Béaud dokumentiert ist. 43 Zitzmann 2006. 44 Vgl. dazu die Untersuchungen von Dewitte 1999 und 2003, in der der Autor die letzten dreißig Jahre als eine Zeit der Krise der Vorstädte und die Zeit von 1980-1990 gar als „la France ‚Black-Blanc-Beur’“ bezeichnet. Vgl. ebd., bes. S. 76-81. Vgl. weiterhin Dubet/ Lapeyronnie 1994, besonders das Kapitel „Die zweite Generation“, S. 129-160. Einen literarischen Einblick, der vereinfacht und sehr republikanisch-motiviert das Immigrationsphänomen in Frankreich diskutiert, bietet Naïr 1999. Eine der aktuellesten soziologischen Studien stellt die Arbeit von Rouadja 2004 dar. 45 Bereits seit den 1980er Jahren ist Hip-Hop in Frankreich populär. Dies gilt besonders für die Immigrantenjugend, da die Musik eine Form des sozialen Protests nach amerikanischem Vorbild für sie darstellt. Vgl. Schumann 2002, S. 358ff. <?page no="24"?> Einleitung 22 ture beur“, 46 die ein Bild der kulturellen und kreativen métissage bietet. Farid Achoune bspw. beschreibt in Nés en banlieue 47 nach einem historisch-politischen Rückblick auf die Marche des Beurs und die Unruhen in der banlieue, die vermeintliche Exilsituation, in der sich die Jugendlichen befinden, welche nur noch Rückhalt in ihren Banden und Freundescliquen zu finden scheinen und sich in einer eigenen kulturellen Szene artikulieren. Jean Abderaman Sherif Djewad: „Le nom Black Blanc Beur reflète notre réalité vécue au quotidien. […] La grande majorité des gens aujourd’hui sont des métis. Notre but c’est de n’être ni blanc ni black ni beur, mais simplement des danseurs d’une compagnie de danse qui fait des choses que les autres ne font pas. C’est un essai de mélange avec des gens qui sont eux-mêmes mélangés, qui sont de cultures d’origines différentes et qui ont en commun d’être banlieusards. C’est la culture de la banlieue. Le point commun de toutes ses banlieues c’est l’Afrique, une certaine Afrique, celle des gens qui vivent en France. Pour la plupart, ils sont assimilés au peuple français mais ils ont gardé quelques traditions et une sensibilité.“ 48 So sind nicht nur HipHop, Rap, Graffiti, Mode, Boxen etc. 49 als kulturelle Repräsentationsformen der Beurs zu nennen, sondern es entsteht auch eine rege Film- 50 und Literaturszene. 1.2 Qu’est-ce que la littérature beur? Zum Gegenstand und zur Forschungsliteratur Diese Unruhe, welche gute Literatur gegenüber der Realität erzeugt, übersetzt sich unter Umständen auch in Auflehnungen gegen Autoritäten, Institutionen oder den herrschenden Glauben. Mario Vargas Llosa: Briefe an einen jungen Schriftsteller. Wie man Romane schreibt Die von zu untersuchenden literarischen Identitätskonstruktionen und ästhetischen Verfahren in Beur-Romanen sind als Forschungsperspektiven 46 Zum Begriff der Beur-Kultur vgl. die Referenzen in Fußnote 168 ebd., S. 85. Vgl. zur kulturellen Szene diverse Artikel im „Dossier spécial: Melting France, mémoire et cultures immigrées“ 1998/ 99, S. 27-57 sowie das junge Zeitungsprojekt Respect Magazine, bei dem auch die Autorin Faïza Guène mitarbeitet. 47 Aïchoune 1991. Vgl. zur Rezeption zehn Jahre nach dem Protesmarsch Bouamama 1994. 48 Terrasse 1989, S. 143f. 49 „La culture des nouvelles générations d’enfants d’origine maghrébine ne s’exprime pas seulement à l’école et dans les abondantes littératures, mais elle prend aujourd’hui une part active dans la vie culturelle de la société française. Elle se manifeste à travers la musique, sur les scènes de variétés par exemple : le phénomène du Raï, du Rock et du Rapp, ou des pièces de théâtre […].“ Bendjillali 1999, S. 117f. 50 Zum cinéma beur vgl. bspw. Bosséno 1990 und 1992, Crémieux 2004, Dittgen 2005, Fahdel 1990, Mio 2000, Prédal 1996, Tarr 1997, Terrasse 1989, Trémois 1997, Venturini 2005. Vgl. dazu im Besonderen die jüngste Untersuchung von Ruhe 2006. <?page no="25"?> Einleitung 23 und -gegenstände keineswegs üblich. Die bisherige Forschung zur littérature beur beschränkt sich auf wenige Monographien und hat sich hauptsächlich mit der Betrachtung soziokritischer Aspekte der literarischen Produktion der Beurs befasst. Und mit dem jeweiligen Forschungsinteresse hängt auch die Definition dessen, was unter Beur-Literatur zu verstehen sei, zusammen: Umfasst die Beur-Literatur nur Texte, die von Beur-Autoren und -Autorinnen geschrieben wurden, oder (auch) Texte, die Beur-Thematiken behandeln? Diese Fragen werden in der Forschung unterschiedlich beantwortet. Alec G. Hargreaves stellt in seinen Analysen sein Textkorpus anhand ethnisch-biographischer Kriterien zusammen und erhebt damit die biographische ‚Betroffenheit’ der Autoren und Autorinnen zum bestimmenden Kriterium des Forschungsgegenstands. Hierzu gehören auch die Analysen der Beur-Literatur von Adelheid Schumann, deren Habilitationsschrift von 2002, in der sie die Selbstbilder der Beurs in ihren literarischen Selbstzeugnissen und deren Fremdwahrnehmungen in der Berichterstattung in den Medien mittels eines diskursanalytischen, kultursemiotischen Ansatzes untersucht, zu einem der zentralen Referenzwerke der (deutschsprachigen) Beur-Forschung zählen kann. 51 Andere Forschende, exemplarisch seien hier die Arbeiten von Michel Laronde und Cornelia Ruhe sowie - mit Einschränkungen - von Charles Bonn genannt, gehen in der Zusammenstellung ihres Textkorpus diegesebzw. narrationsbezogen vor. Sie untersuchen einen „esprit beur“ (Laronde) in den Texten, der an eine spezifische Deplatzierung von Stimmen (Bonn) oder Dezentrierung der écriture (Laronde) gebunden ist. Es ist diese zweite Position, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit eingenommen wird, denn das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit gilt einer spezifischen écriture transculturelle beur, die das hier untersuchte Korpus determiniert. Zur Erläuterung der Bestimmung des Untersuchungsgegenstands in dieser Arbeit soll zunächst ein Überblick über Untersuchungen der Beur-Literatur gegeben werden, der die oben genannte Systematisierung aufgreift. Die zentralen monographischen Arbeiten der 1990er Jahre stammen von Michel Laronde und Alec G. Hargreaves, deren theoretischer Ansatz und besonders deren Kriterien für die Korpusbestimmung, wie schon angedeutet, deutlich divergieren. Anhand ihrer Positionen lässt sich das Forschungsfeld schematisch ordnen in einen biographisch-ethnischen Ansatz und in ein narrationsbezogenes Forschungsinteresse. Gegenstand der literatursoziologischen Analyse Hargreaves’ Immigration und Identity in Beur Fiction 52 sind Romane von Beur-Autoren und -Autorinnen, die bis 1989 erschienen sind; 1997 ergänzt er sein Werk und erweitert sein Korpus um weitere Beur-Texte bis 1995. Hargreaves rekonstruiert in seiner Untersuchung zunächst Autorenportraits und zentrale Motive der literarischen Texte, um die Fiktionali- 51 Vgl. Schumann 2002. 52 Hargreaves 1997a. Einen Überblick über die literarischen Werke der Beur-Literatur nach seinem Verständnis gibt der Autor in Hargreaves 1992. <?page no="26"?> Einleitung 24 sierung der biographischen und soziologischen Daten anhand der Erzählperspektive und der Erzählzeit, also der Raum- und Zeitkonstruktionen zu analysieren. 53 Diese Achsen legt auch Sibel Vurgun in der neuesten Arbeit zur Beur-Literatur, Voyages sans retour 54 von 2007, an. Vurgun untersucht Texte, die das Thema der „Rückkehr in die Heimat in unterschiedlichster Weise aufgreifen“. 55 Ihr zentrales Konzept ist dabei, wie schon in ihrem Artikel 2004 56 entwickelt, der literatursoziologische Ansatz der „double absence“ und der „double présence“, welcher später im Zusammenhang mit meinen Textanalysen aufgegriffen und näher ausgeführt wird. Hargreaves nun sieht das Gefühl der Zerrissenheit, den die Beurs formulieren, zunächst im „déchirement“ zwischen zwei Teilen des Selbst begründet: zwischen dem, der mit den säkularen Werten Frankreichs identifiziert und jenem, der an den islamisch-geprägten arabischen Traditionen festhält. 57 Dass sich allerdings ein plurikultureller Einfluss auf die Jugendlichen in den Texten niederschlägt, nicht also nur zwei Sphären auf die Beurs wirken, beschreibt Hargreaves einige Jahre später, indem er die Suche nach einem dritten Weg der Identifizierung beschreibt, den er allerdings ausschießlich in der Orientierung an amerikanischen Gesellschaftsphänomenen und Medienformaten sieht. 58 Dieser ethnisch-biographische Ansatz ist durch die Einordnung in die literarische Gattung und die Zuordnung zu einer Nationalliteratur begründet. Denn erstens handelt es sich bei den frühen Romanen der Beur-Literatur meist um Autobiographien oder autobiographische Romane, in denen bewusst, und dies wird in meinen Textanalysen noch genauer erläutert, der testimoniale Charakter der Texte im Vordergrund stand. Diese Literatur wollte sich als eine Art Migrantenliteratur verstanden wissen, die aus der biographischen Betroffenheit heraus für eine gewisse ‚Authentizität’ der Texte garantiert und auch im öffentlichen, politischen Diskurs eine Stimme erhält. 59 Zweitens scheint das Kriterium der Autorschaft eine Lösung für ein 53 „It would be naïve to read any literary text, no matter how apparently autobiographical, as a direct and transparent representation of the author’s self. […] the main purpose of the present study assist in understanding the narrative works produces by Beur writers, and in particular to investigate their treatment of the theme of identity.” Hargreaves 1997a, S. 3. Auch Pierette Mothe wendet sich in ihrem Artikel der literatursoziologischen Frage zu, wie die Beurs als gesellschaftliches Phänomen in ihren literarischen Texten ihre Situation zum Ausdruck bringen. Vgl. Mothe 1992. 54 Vurgun 2007. 55 Ebd., S. 19. 56 Vurgun 2004. 57 Vgl. ebd., S. 20. 58 Vgl. Hargreaves 1990. 59 Die gleiche Problematik beschreibt auch Volker C. Dörr in seinem Artikel über Migranten-Biographien. Hier verweist er ausgehend von dem überholten und zudem verfälschenden Begriff der „Gastarbeiter“-Literatur zentral auf die Begriffe der Migrationsliteratur (die formal und inhaltlich den Sachverhalt der Migration verhandelt) und der Migrantenliteratur (die von Menschen mit eigener Migrationserfahrung geschrieben ist). Die Problematik der Benennung jener Literatur, die nicht nur mit produktionsästhetischen Konsequenzen, sondern auch mit einer Rezeptionserwartung <?page no="27"?> Einleitung 25 Problem anzubieten, das sich von Beginn an stellt: das der Zuordnung zu einer Nationalliteratur. „Cette écriture est-elle maghrébine ou française ? “, 60 fragen Begag und Chaouite in diesem Sinne. Die Einordnung in eine Nationalliteratur will in Bezug auf die Beur-Literatur nicht recht gelingen, denn obwohl sie Teil der französischen Literaturszene ist (da in Frankreich entstanden und in französischen Verlagen in französischer Sprache erschienen), wird sie als littérature française nicht anerkannt. Allerdings ist sie auch nicht der maghrebinischen Literatur französischer Sprache zuzuordnen; davon zeugt bspw. das Unbehagen Charles Bonns, der 1990 in seiner Anthologie de la littérature algérienne einige Beur-Autorinnen und -Autoren zwar der algerischen Literatur zuordnet, aber Zweifel über die Richtigkeit dieser Kategorisierung anmeldet: [L]a plupart d’entre eux ne se reconnaissent plus que de très loin dans l’identité culturelle de leurs parents, mais plutôt dans une identité de banlieues des grandes villes européennes où les ‘origines’ ethniques ou culturelles cèdent souvent la place à une conscience de marginalité qui n’a peu de points communs avec les définitions identitaires consacrées. 61 Noch 2004 weist auch Hargreaves darauf hin, dass die Beur-Literatur, trotz der nun fast dreißigjährigen Publikationsgeschichte, immer noch keinen anerkannten Status innerhalb des literarischen Betriebs in Frankreich genießt, wie ihnen überhaupt eine Partizipation an der französischen Kultur abgesprochen wird: „[...] on hésite souvent à reconnaître dans les nouvelles générations issues de l’immigration algérienne des participants à part entière à la culture française“. 62 Doch auch als Gegenbewegung oder als „underground français“ 63 scheint die Beur-Literatur nicht zu funktionieren. Wolfgang Asholt skizziert eine Poetik der „culture croisée“ anhand der Literatur von Leïla Sebbar und sieht im roman beur keine Gegenbewegung zur französischen Kultur am Werk, da sich die Beurs nicht auf die Herkunftskultur ihrer Eltern beziehen: „Zu einem Rückbezug auf die Herkunftskultur der Elder Authentizität der geschilderten Ereignisse einhergeht, kulminiert in dem von Rafik Schami geprägten Etikett der „Literatur der Betroffenheit“. Damit meint er eine Beziehung der Autoren und Autorinnen zum Gegenstand, die mit biographischem Erleben, eben mit „Betroffenheit“ abgesichert wird. Auch die Literaturszene in Deutschland hat mittlerweile gezeigt, dass „die Authentizität des Selbsterlebten als ästhetisches Kriterium oder gar als normative Idee wohl obsolet geworden ist.“ Dörr 2006, S. 151. Vgl. dazu auch die Argumentation von Ottmar Ette 2005, bes. S. 14. 60 Begag/ Chaouite 1990, S. 100. 61 Bonn 1990, S. 227. Diese Zuordnungsprobleme zeigen sich recht augenfällig auch in Buchhandlungen und Bibliotheken. So ist zwar Azouz Begag mittlerweile bspw. in der FNAC (bspw. in Paris und Bordeaux) in der Abteilung „littérature française“ eingereiht, viele andere Autoren und Autorinnen aber rangieren unter „littérature francophone“. Ähnlich ist es in der Bibliothèque Nationale de France, in der noch heute die vorhandene Beur-Literatur der maghrebinischen Gegenwartsliteratur zugeordnet ist. Vgl. weiterhin Bonn 1996. 62 Hargreaves 2004, S. 29. 63 Asholt 1998. <?page no="28"?> Einleitung 26 tern gibt selbst ein Scheitern der Integration offensichtlich keinen Anlaß.“ 64 Diesen Aspekt der Etablierung einer eigenen kulturellen Identifikation werde ich im Folgenden in den Textanalysen verfolgen; dabei wird sich zeigen, dass die Selbstentwürfe sich an unterschiedlichen kulturellen identitätsstiftenden Angeboten orientieren. Die Textanalysen zeigen sehrwohl Bezugnahmen auf die Heimatkultur der Eltern, 65 doch diese sind - besonders in der diachronen Zusammenschau der Texte - höchst komplex und in den jeweiligen Texten auszudifferenzieren. An die Frage der Zuordnung der Beur-Texte zu einer bestimmten Nationalliteratur schließen sich ebenfalls Zweifel an der literarischen Qualität der Romane im Allgemeinen an. „La littérature ‚beur’ n’existe pas“, 66 behauptet Leïla Sebbar daher provokativ und meint damit nicht nur die Beur-Literatur als Einheit, als „la littérature“. Für Sebbar besteht 1987 noch keine eigenständige Beur-Literatur, da die vorliegenden literarischen Werke noch keine eigene, freie Sprache entwickelt haben, mit der sie ihre eigene „mémoire croisée, unique“ auszudrücken verstehen. 67 Begag und Chaouite greifen diese Postion auf, indem sie zwar das Propagieren einer Schule oder einer literarischen Strömung ablehnen, aber doch auf das kreative Potenzial hinweisen, das neue Horizonte zu öffnen vermag: plus qu’une littérature « beur », qui n’existe effectivement pas si on entend par là une unité ou une « école stylistique », ce sont des individualités créatrices, des styles différents, encore timides peut-être, encore freinés dans leurs emportements « vers d’autre régions du langage et du sujet », mais qui ouvrent des horizons nouveaux et créent des valeurs nouvelles. 68 Hier schließt sich auch der Essay von Habiba Sebkhi zur Kategorisierung der Beur-Literatur an. Sebkhi schlägt eine Neudefinition der Beur-Literatur als „littérature naturelle“ vor, 69 die sie in Analogie zum unehelichen Kind („enfant naturel“) entwickelt. Der Ausgangspunkt der Einordnung und näheren Bestimmung der Beur-Literatur ist die Erkenntnis, dass die Beur-Literatur zwar in Frankreich entsteht, aber nicht als französisches Produkt anerkannt wird. Sebkhi schlägt die Bezeichnung der littérature naturelle vor. Sie grenzt in diesem Aufsatz die Beur-Literatur von einer littérature de l’exiguïté 64 Ebd. S. 204f. 65 Diese Bezugnahmen auf die kulturellen Identifikationsangebote der Eltern wird in einigen Sekundärtexten negiert. So wird die Beur-Literatur nicht nur, wie Asholt es behauptet, als eine Literatur bezeichnet, deren Hauptbezüge sich aus der französischen Kultur speisen und aus einer Art „underground français“ entstehen, vgl. Lachmet nach Hargreaves 1997a, S. 169f., sondern es wird auch behauptet, dass in den Romanen nurmehr soziale, nicht aber kulturelle oder ethnische Thematiken verhandelt werden. Vgl. dazu bspw. Lamrani 1996. Die folgenden Textanalysen werden zu zeigen versuchen, wie die Immigrationsgeschichte der Eltern und damit die besondere transkulturelle Situation in den Texten bis heute eine Rolle spielt. 66 Sebbar in Djaout 1987, S. 27. 67 Ebd. Vgl. weiterhin die Artikel Sebbar 1990. 68 Begag/ Chaouite 1990, S. 106. 69 Sebkhi 2003. <?page no="29"?> Einleitung 27 nach François Paré ab und hält die Konzepte der littérature minoritaire, littérature mineure oder littérature migrante ebenfalls für inadäquat. Sie lehnt zudem die Bezeichnung als postkoloniale Literatur entschieden ab, denn sie sieht hier keine Verarbeitung der Problematik von Kolonisator und Kolonisiertem. Sebkhi schreibt der Beur-Literatur drei zentrale Merkmale zu, die sich in einem neuen Konzept verdichten: der écriture mémorielle prospective. Avant d’aller plus loin, résumons ce qui a été établi jusqu’à présent de la littérature beur, considérée comme littérature naturelle : elle est fondamentalement autobiographique (son aspect autobiographique est « manifeste ») ; elle est aussi mémorielle (surtout en ce qui concerne le présent, moins le passé) ; elle est enfin prospective (malgré la nature du genre dans lequel elle s’inscrit, à savoir l’autobiographique par définition rétrospectif). 70 Die Konzeption dieser écriture wird nach meinen Analysen zu den Geschichtskonzeptionen wieder aufgenommen. An dieser Stelle aber bleibt festzuhalten, dass Sebkhis Aufsatz deshalb interessant ist, weil sie weder eine ethnisch-biographische Perspektive verfolgt, noch bei der Diskussion um nationalliterarische Einordnungen stehen bleibt, sondern von einer eigenständigen écriture ausgeht Michel Larondes Ansatz ist in dieser Richtung zu verstehen: Er lehnt einerseits die ethnisch-biographische Betroffenheit als Bedingung für die Bestimmung der Beur-Literatur ab und geht andererseits von einer spezifischen literarischen Qualität aus. Er bestimmt 1993 sein Korpus in dem titelgebenden Ansatz des Autour du roman beur. 71 Laronde zielt auf die Bestimmung der Identität des „Étanger moderne“ anhand der Analyse des roman beur aus dem Zeitraum von 1986-1991. Dabei determiniert er zunächst antagonistische Themen wie Differenz, Alterität, Métissage und Fremdheit („étrangeté“). Anschließend bestimmt der Autor die theoretischen Konzepte der ‚Ideologie Frankreichs’, die auf diesen Momenten aufbauen: Machtdiskurse (nach Foucault) und der „okzidentale Diskurs“ (mit dem Verweis auf die Konzeption von „Exotismus“ und „Orientalismus“ nach Said). Laronde untersucht Texte, die einen gewissen „esprit beur“ aus der Innenperspektive der Beur-Erzähler und -Erzählerinnen formulieren. So bezieht Laronde in seine Analysen neben den Texten der Beur-Autorinnen und -Autoren die Werke der Schriftsteller/ Schriftstellerinnen ein, die spezifische Immigrationsthematiken aufgreifen und deren Handlungen in den Vororten der französischen Städte der 1980er Jahre spielen. Dieser narrationsbezogene Ansatz versteht Beur-Literatur im Sinne einer „Migrationsliteratur“, in der das Thema Migration behandelt wird. Laronde legt seinen Untersuchungen eine weite Definition von Identität zugrunde. Sein Ansatz ist pluridisziplinär, d.h. Laronde wendet strukturalistische, linguistische und psychoanalytische Theorien auf die Texte an, 70 Ebd. 71 Laronde 1993. <?page no="30"?> Einleitung 28 „pour faire fructifier le signifiant“. 72 Der Autor betont damit, dass es sich bei seiner Analyse nicht um eine soziohistorische Untersuchung der maghrebinische Immigration in Frankreich handelt, sondern er den „discours romanesque“ ins Zentrum seiner Analysen stellt. Larondes Ziel ist es dabei auch, zentrale Themenkomplexe mittels eines motivgeschichtlichen Ansatzes herauszuarbeiten. In diesem Zusammenhang erwähnt er: […] la réalité sociale de l’immigration (séquelles laissées par l’exil, exploitation de la main d’œuvre, racisme, marginalité, errance, déculturation), les métamorphoses de la seconde génération (acculturation, rejet de l’asservissement, contestation, engagement, enracinement personnel et collectif nouveau dans la société française), les interrogations capitales (recherche identitaire dans le dépassement des tensions et des dualismes: racine, mémoire, histoire). 73 Als Schlüsselproblematik, die die Beur-Autoren in ihren literarischen Texten bearbeiten, betrachtet die Forschung, und hier sei exemplarisch Hargreaves genannt, die Suche nach Identität 74 in der besonderen Situation als Teil einer Minorität zwischen der französischen und der arabischen Kultur: „the articulation of a sense of personal identity, forged in the particular circumstances which are those of an ethnic minority in France.” 75 In den Romanen geht es zentral, um die individuelle Verarbeitung dessen, was Hargreaves „the juxtaposition of radically different cultural systems“ 76 nennt. Diese kulturelle Überlagerung, hier würde ich im Gegensatz zu Hargreaves nicht nur von einer additiven Konstellation kultureller Systeme sprechen, werden in unterschiedlichen thematischen Zusammenhängen gestaltet, die sich auf folgende Parameter bringen lassen: 77 Auf der Ebene der Figurengestaltungen und -konstellationen lässt sich festhalten, dass die Protagonisten und Protagonistinnen meist Kinder oder Jugendliche sind, die Auseinandersetzungen mit Vater- und Mutterrollen und der im Elternhaus praktizierten Religion des Islam formulieren. In den Texten wird die sozio-geographische Lokalisierung in der banlieue betont, 78 die oftmals mit der Situation der doppelten Distanzierung vom Elternhaus und von der französischen Gesellschaft zusammenhängt. In der banlieue sind Kriminalität, Prostitution, Drogenkonsum und ein Gefühl der galère, des nutzlosen Herumhängens, rassis- 72 Laronde 1993, S. 7. 73 Ebd., S. 8. 74 Das Konzept der Identität sieht Laronde als Hintergrund und Motor für die Konzepte der zeitgenössische Literaturkritik und -theorie wie Differenz, Alterität, ethnische und kulturelle Métissage, Fremdheit („étrangeté“), Konzepte von Orient und Okzident, Exotismus und Kriminalität. 75 Hargreaves 1997a, S. 1. 76 Ebd., S. 3. 77 Diese Themen finden sich auch in einer der aktuellsten Monographien, L’identité en suspens à propos de la littérature beur von Fatiha El Galaï, die eine literatursoziologische und rezeptionsästhetische Perspektive auf die Beur-Literatur wirft. Vgl. El Galaï 2005. 78 Vgl. zur banlieue-Thematik in unterschiedlichen Repräsentationsformen der französischen Gegenwartskultur auch Asholt 1996. <?page no="31"?> Einleitung 29 tische Diskriminierungen und Marginalisierungen von Seiten der französischen Gesellschaft u.a. Gründe für ein paradigmatisches „mal de vivre“. 79 Die Sehnsucht nach stabilen Identifikationen führt einerseits zu Versuchen der Rückkehr in das Heimatland der Eltern 80 und hier zu Enttäuschung und Ablehnung. Andererseits suchen die Jugendlichen aber auch in Frankreich selbst Halt, nämlich in dem Gefühl der Solidarität innerhalb der Freundesclique. Gefühle der Zugehörigkeit und der Ablehnung bestimmen die Selbstbeschreibungen der Beurs, ihre Wahrnehmungen münden oftmals in das Gefühl, sich verloren zu fühlen: „Le sentiment de n’être de nulle part, partout étranger et toujours en quête d’une introuvable identité est le thème le plus puissant, le plus émouvant dans les œuvres.“ 81 Die formalen Kriterien der Beur-Literatur wie die sprachlichen Subversionen, 82 das autobiographische Schreiben, die textuellen Überlagerungen oder die Polyphonie werden in den Textanalysen ausgearbeitet und im Schlusskapitel zur Konturierung der écriture transculturelle beur zusammen geführt. Woodhull resümiert diese Situation zwischen den Kulturen, die mit einer doppelten Ablehnung und somit mit der als Schlüsselproblematik beschriebenen „Krise der personalen Identität“ einhergeht: by and large, Beurs see themselves, and are seen by other French people, as being caught between two separate and incompatible cultures, with little chance of being fully integrated into either one. As a result, they are subject not only to an unsettling and sometimes debilating crises of personal identity, but to rejection by two national groups, exclusion from two homelands. 83 79 El Galaï 2005, S. 21. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Djaout 1987. 80 Vgl. hierzu nicht nur die bereits erwähnte Studie von Sibel Vurgun, sondern auch die Dissertationsschrift von Imke Jahns-Eggert 2006. Jahns-Eggert kommt zu dem Ergebnis, dass „die Angehörigen der génération beur nicht Fremde in zwei Kulturen, sondern [...] vor allem Reisende zwischen diesen Kulturen“ sind. Ebd., S. 275. Im Rahmen dieser Arbeit werde ich diesen Aspekt noch differenzierter untersuchen und zeigen, dass die Reisebewegungen nicht nur zwischen zwei Kulturen stattfinden. 81 El Galaï 2005, S. 21. 82 Als literarische Strategien der Selbstdistanzierungen benennt Mothe - allerdings nur auf lexikalischer/ sprachlicher Ebene „[…] un jeu sur l’écriture qui intègre à la fois les particularismes, les déformations du français parlé par les immigrés et l’argot des jeunes pour en tirer des effets le plus souvent cocasses, parfois poétiques.“ Auch Abdelkader Djeghloul betont besonders die sprachliche Mischung in der Beur-Literatur, die für ihn mit einem neuen, eigenen Imaginarium zusammenhängt, das in der Beur-Literatur gestaltet wird: „Ils constituent, en quelque sorte, le degré zéro d’une capitalisation hypothétique fait de français scolaire, de bribes langagières arabo-berbères et d’emprunts éclectiques, le tout bricolé dans un effort d’élaboration d’un nouvel imaginaire à même intégrer les multiples différences dont ils sont porteurs.“ Djeghloul 1989, S. 81. 83 Woodhull 1997, S. 32. Laurence Huughe fasst diese Motive der Beur-Literatur, das Dilemma zwischen den Kulturen und die Etablierung der vornehmlich autobiographischen Literatur als eigene Stimme, folgendermaßen zusammen: „Les romanciers de la deuxième génération, qui se veulent les témoins du monde et du mode de vie des jeunes immigrés, tentent d’exprimer dans des récits à tonalité majo- <?page no="32"?> Einleitung 30 Die Romane, die im Rahmen dieser Untersuchung analysiert werden, sind durch die genannten Motive und Themen verbunden sowie durch die gespeicherten Migrationsbewegungen. Die littérature beur soll hier nicht unter eine National- oder Weltliteratur subsummiert werden, vielmehr sehe ich ihr Potenzial gerade darin, diese Zuordnungen zu unterlaufen. Zentrales Interesse der Textanalysen ist es, aufzuzeigen, dass die kulturellen Dichotomien, mit denen die Beurs konfrontiert sind, in einer transkulturellen Perspektive auf die Texte auf vielfältige Weise dekonstruiert werden. Oder anders formuliert: Den Analysen liegt die Annahme zugrunde, dass die literarischen Identitätskonstruktionen der Beurs im Zwischenraum der Kulturen nicht adäquat mittels inter- und multikultureller Konzeptionen von Kulturkontakt zu beschreiben sind. Dieses Anliegen rekurriert auf eine Tendenz in der Beur-Forschung, wie sie bspw. Laronde vertritt, dessen zentrales Identitätskonzept die „identité en creux“ darstellt. 84 Damit meint er eine alternative Strategie, die für die Identitätskonstruktion der Beurs geeignet zu sein scheint. Für Laronde bedeutet diese dritte Form der Identifikation („troisième degré d’un discours identitaire collectif“ 85 ) die Möglichkeit, die französischen und die arabischen/ algerischen kollektiven Identitäten abzulehnen. Der postkoloniale Ansatz von Laronde nimmt im Besonderen die Praktiken eines Neoexotismus innerhalb eines neo-orientalistischen Diskurses in den Blick, der den Etranger weiterhin als fremd und bedrohlich konstruiert; einen Fremden, der einen orientalischen Welt angehört und innerhalb einer okzidentalen angesiedelt ist. 86 Der in meiner Arbeit angelegte Ansatz transkultureller, hybrider Identitätskonstruktionen geht noch über diesen konstatierten Neoexotismus hinaus. Festzuhalten bleibt in diesem Zusammenhang, dass die postkoloniale Theorie in der frankophonen Theoriebildung, besonders aber im Diskurs des Hexagons, erst sehr langsam Fuß zu fassen scheint. Moura bestimmt die postkoloniale Theorie vorsichtig als „renouveler un peu l’étude des lettres d’expression française“, 87 Hargreaves vermutet den Grund dafür gar in den ritairement autobiographique les complexités et les contradictions de leur vécu de beur. Ils racontent leur dilemme entre la culture arabe ou berbère de leurs parents, qui ont tendance à maintenir leur identité nationale, et la culture française, celle d’un pays où ils ont grandi et qui est souvent le seul qu’ils connaissent. Les protagonistes, en majorité masculins, évoluent d’autre part dans les cités de transit des banlieues françaises.“ Huughe 2001, S. 64. 84 Laronde 1993, S. 21ff. 85 Ebd., S. 29. 86 Vgl. ebd., S. 213. 87 Moura 1999, S. 1. Moura scheidet in seiner Untersuchung noch drei Untersuchungsbereiche postkolonialer Theorie, die in dieser Arbeit zusammengenommen werden: die Untersuchungen unbekannter postkolonialer Werke zwecks Vervollständigung bzw. Um-Schreibung des Kanons, die Analysen linguistischer Hybridität und der Hybridität literarischer Genres. Vgl. weiterhin zur verlangsamten frankophonen Theoriebildung im Bereich der Postkolonialität und Transkulturalität den Sammelband von Hargreaves/ McKinney 1997a sowie bes. deren Einführung dies. <?page no="33"?> Einleitung 31 neokolonialen Einstellungen der französischen Wissenschaft. 88 Er selbst lehnt zunächst noch das Etikett „postkolonial“ vehement für die Beur-Literatur ab, publiziert nun aber spätestens seit 2004 selbst unter diesem Ansatz. 89 In den letzten Jahren aber finden sich einige Aufsätze und Sammelbände, in denen postkoloniale Theorien auf die Beur-Literatur angewendet werden. 90 Der frühe Essay von Martine Delvaux etwa zur Ironie als postkoloniales, literarisches Verfahren im Dritten Raum nach Bhabha, bietet für die vorliegende Arbeit eine wichtige Referenz, beschreibt Delvaux doch die Dezentrierung nationaler Identitäten und die literarische Inszenierung ambivalenter kultureller Identifikationen im Rekurs auf Konzepte des postkolonialen Theoretikers Homi K. Bhabha. 91 Sie fokussiert die Dekonstruktion von kulturellen Identitäten als arabisch und französisch und zeigt die in der Ironie vermittelten Erfahrungen literarischer Subjekte jenseits dieser Dichotomien auf. Einen weiteren wichtigen Artikel zum literarischen Selbstentwurf der Beurs stellt der Aufsatz von Kathryn Lay-Chenchabi dar, die sich exemplarisch mit den Autoren Begag, Houari und Kalouaz beschäftigt. 92 Auch wenn ich den Ansatz der Autorin nicht teile, dass es sich bei der Beur- Literatur um Exilliteratur handelt, gehen auch meine Untersuchungen unterschiedlichen Selbstdarstellungen und „-entdeckungen“ nach („different path to self-discovery“ 93 ). Im Falle der Texte von Begag stellt die Autorin fest, dass er sich im Laufe seines Schreibens von einem stark autobiographischen Schreiben zu fiktionaleren Texten hin bewegt - einer Entwicklung, der im Zusammenhang mit der erwähnten Fiktionalisierung der Texte in meiner Arbeit in den generationsübergreifenden Textanalysen nachgegangen wird. 94 1997b, sowie Lüsebrink 2006 und die aktuelle Studie von Martine Fernandes 2007, bes. S. 51-68. Ohne die Spezifika des frankophonen Kontextes negieren zu wollen, beziehe ich mich im Folgenden auf postkoloniale Theorien unterschiedlicher ‚Provenienz’, die in der Bezugnahme auf meinen Untersuchungsgegenstand jeweils kontextualisiert werden. 88 Hargreaves 1999. 89 Vgl. die gegen den Begriff des Postkolonialen gerichtete Argumentation in Hargreaves 1997a, bes. S. 171 f. und Hargreaves 2004. 90 Sie alle untersuchen ein Feld, das Hanne Birk und Birgit Neumann als Aufgabe der postkolonialen Literaturkritik benennen, denn diese „analysiert die Formation von individuellen und kulturellen Identitäten, Wahrnehmungs- und Konstruktionsweisen von Alterität sowie ihre Bedeutung für die Identitätskonstruktion. Schließlich untersucht sie die in Texten implizierte Beurteilung von transkultureller Hybridität.“ Birk/ Neumann 2002, S. 119. 91 Delvaux 1995. 92 Vgl. Lay-Chenchabi 2001. 93 Ebd. 94 Allerdings konnte sie nicht den 2004 erschienen autobiographischen Roman von Begag berücksichtigen, in dem der Autor den Tod seines eigenen Vaters zum Schreibanlass nimmt und zum zentralen Thema werden lässt. <?page no="34"?> Einleitung 32 Als eine der zentralen Monographien in der literaturwissenschaftlichen Forschung ist die Dissertationsschrift La cité des poètes. Interkulturalität und urbaner Raum von Cornelia Ruhe zu nennen. Ihre Untersuchung zur Interkulturalität und urbanem Raum in der Beur-Literatur stellt eine weitere wichtige Referenz für meine Arbeit dar, denn Ruhe verfolgt einen kultursemiotischen und postkolonialen Ansatz in ihren literaturwissenschaftlichen Analysen. 95 Zentraler Gegenstand ist das Thema der Interkulturalität im urbanen Raum in den literarischen Werken von Azouz Begag, Mohand Mounsi, Dominique Le Boucher, Leïla Sebbar und Paul Smaïl. Die Textauswahl beweist, dass sie ihren Korpus im Laronde‘schen Sinne „autour du roman beur“ ansiedelt und mittels literatur- und kulturwissenschaftlicher Theorien die innovativen Tendenzen und damit die literarische Qualität der Beur-Literatur fokussiert. Ruhe bedient sich eines umfangreichen Methoden- und Theorienpluralismus: Im Zentrum stehen die Theorien der Semiosphäre von Jurij Lotman sowie weiterhin postkoloniale anglophone Theorien, kulturgeographische, raumsoziologische wie literaturwissenschaftliche Ansätze besonders der Intertextualitätsforschung zur Darstellung der Stadt Paris in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Die Stadtkonstruktionen im literarischen Text werden als eigener dezentrierter Raum für hybride Identifikationen verstanden - auf der Grenze zwischen Zentrum und Peripherie verortet und unterschiedliche Geschichten, Erinnerungen und Erlebnisse verknüpfend. Ruhe lenkt dabei den Blick nicht nur auf die literarische Repräsentation peripherer, urbaner Gebiete mit allen Aspekten der Deterritorialisierung, Grenzerfahrung und -überschreitung, Ghettoisierung, Wechselwirkung von Zentrum und Peripherie etc., sondern fragt gerade nach der spezifischen Perspektive, dem „peripheren Blick“, 96 der daran geknüpft ist. Ruhes Perspektive auf Interkulturalität im urbanen Raum möchte ich durch einen transkulturellen Ansatz fortführen. In den Analysen unter einem postkolonialen Blickwinkel, wie sich (trans-)kulturelle Interferenzen, Hybridisierungen und rhizomatische Identitätsentwürfe in den Beur-Texten beschreiben lassen, tritt dabei eine Erkenntnis in den Vordergrund: Transkulturelles wird nicht nur auf der inhaltlichen Ebene der Themen und Motive, der Figurenkonstellationen oder Identitätskonstruktionen verhandelt, sondern auch auf der formalen Ebene: Das Transkulturelle wird von der Figur im Text zur textuellen Figur. Und diese Betonung der literarischen, formal-ästhetischen Seite ist es auch, die Laronde 1996 in den Blick nimmt, wenn er eine spezifische écriture décentrée in den Beur-Romanen am Werke sieht. 97 Die Beschreibungsebene der écriture 95 Einige Passagen der folgenden Erläuterungen zu Ruhes Arbeit sind bereits in Form einer Rezension erschienen, vgl. Struve 2005a. Zur Thematik der Interkulturalität in der deutschtürkischen und frankomaghrebinischen Literatur bereitet Myriam Geiser an den Universitäten Mainz/ Germersheim und Aix-en-Provence z. Zt. eine komparatistische Dissertationsschrift vor. 96 Ruhe 2004, S. 35. 97 Laronde 1996. <?page no="35"?> Einleitung 33 erlaubt ihm, die Phänomene der kulturellen Differenz, der Dezentrierungen und Deplatzierungen in der Ästhetik der Texte zu suchen. 98 1.3 Zum Generationenmodell Der Beur-Begriff, dies ist im vorangegangenen Kapitel deutlich geworden, bezeichnet als Autoproklamation die Wahrnehmung der transkulturellen Situation einer Gruppe von Menschen gleichen Alters mit einem spezifischen Migrationshintergrund: Er bezeichnet, so könnte man formulieren, das Selbstbewusstsein einer Generation. Wahrnehmungshorizonte, und dies soll im Folgenden mithilfe der Generationsforschung betont werden, werden von den Generationsmitgliedern geteilt und bilden die Basis für das dieser Arbeit zugrunde gelegte Generationsparadigma. Erinnert sei an die positive Konnotation des Beur-Begriffs, wie sie Malek Boutih für seine Generation der métissage formuliert. Zwischen der arabischen und der französischen Kultur entsteht hier ein Generationsbewusstsein, das durch die Autoproklamation als Beurs markiert wird, das für etwas in der Mitte, etwas Gemischtes („comme un métissage“) und etwas Neues steht. Der Generationsbegriff, der den Analysen in der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegt ist, setzt an diesem Punkt an: Die Selbstbeschreibungen der Beurs in den Romanen sind stets eingebunden in eine Bezugnahme auf die eigene Generation und deren Innovationen und gleichzeitig auf die Traditionen und Geschichtserzählungen der Eltern und der französischen Gesellschaft. Die literarische Gestaltung dieser Momente konturiert jeweils die unterschiedenen Generationen - auf deren jeweilige Charakterisierungen werde ich später zurückkommen. Es bleibt zunächst festzuhalten, dass der Generationsbegriff als idealtypische Begrifflichkeit zu heuristischen Zwecken verwendet wird: Weder geht es um eine abschließende und ausschließende Abgrenzung der Generationen, noch um den Vorsatz, eine vermeintliche Homogenität oder Konsistenz zu suggerieren. 99 Es ist auffällig, dass der Generationsbegriff in den letzten Jahrzehnten besonders in Deutschland - nicht nur in Bezug auf literarische Strömungen - einen Aufschwung erlebt hat und immer wieder problematisiert worden 98 Manfred Schmeling betont die Beeinflussung postmoderner Theoriebildung auf die postkoloniale Ästhetik: „La théorie postmoderne de la différence, du déconstructivisme et de la dialogicité exercent certainement une influence substantielle sur l’esthétique postcoloniale de l’hybridation.“ Schmeling, 2002, S. 405-415. 99 Somit gehe ich mit den Einwänden von Gaspard und Servan-Schreiber konform, dass es sich nicht um eine homogene Nachkommengeneration der maghrebinischen Immigranten handelt - weder ist eine Zugehörigkeit innerhalb einer Familie, noch gar zu einer nationalen Gruppe als homogene Entität zu postulieren. Zu deskriptiven und analytischen Zwecken nutzen jedoch auch sie das Generationskonzept. Vgl. Gaspard/ Servan-Schreiber 1985, bes. S. 47f. <?page no="36"?> Einleitung 34 ist. 100 Und auch in der Generationsforschung selbst ist der Generationsbegriff umstritten. 101 Grundlegend für den Generationsbegriff in der vorliegenden Arbeit sind einerseits die Untersuchungen der Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel, die im Anschluss an die Prämissen des Soziologen Karl Mannheim aus den 1920er Jahren erfolgen, und andererseits die Analysen des Historikers Pierre Nora, der das Generationsparadigma in seinen Untersuchungen zu den Lieux de mémoire in Frankreich entwickelt. 102 Gleichzeitig aufwachsende Individuen „bilden eine Generation, eine Gleichzeitigkeit“. 103 Dies ist der Ausgangspunkt der Überlegungen Karl Mannheims, der den anthropologischen Faktor der Zeit und damit den Einfluss gemeinsam erlebter politisch-historischer Ereignisse in den Blick nimmt. Ausgehend von dieser Erkenntnis setzt Mannheim positivistische Generationskonzepte, die im Sinne biologischer Abfolgen argumentieren und damit eine quantitative Forschung stützen, von phänomenologischen Konzeptionen ab, welche als Merkmale die Wahrnehmungen und Einstellungen von Generationen in den Blick nehmen und damit qualitative Analysen initiieren. Mannheim konstatiert, dass in der gleichen Zeit verschiedene Generationen leben können, „[d]as Zeitdenken muß also [...] polyphon organisiert sein“. 104 Die Verschränkung dieses Zeiterlebens mit einem bestimmten Bewusstsein macht die Spezifik jeder Generation aus, ihre jeweils eigene Entelechie. 105 Sigrid Weigel benennt dieses Moment als das zentrale Merkmal für den aktuellen Generationsbegriff: das „heute herrschende Verständnis der Generation als Mentalitäts- und Bewußtseinseinheit“. 106 100 Vgl. dazu bspw. die kürzlich erschienenen Kompendien von Parnes et al. 2005 und Weigel 2006, die aus dem von Sigrid Weigel geleiteten DFG-Projekt am Berliner Zentrum für Literaturforschung „Generation. Narrative, zeitliche und biologische Konstruktionen von Genealogie“ hervorgehen, sowie Jureit/ Wild 2005. 101 Einen guten Überblick liefern Weigel 2002 und Bude 2003. 102 Das Generationsparadigma von Albert Thibaudet, das in der französischen Literaturwissenschaft wichtige Impulse geliefert hat, ist im Rahmen dieser Arbeit zu vernachlässigen, da es sich um eine Kategorie handelt, die sich an der Autorschaft orientiert. Vgl. Thibaudet 1936. 103 Mannheim 1964, S. 518. 104 Ebd. 105 „Entelechie einer Generation ist [...] Ausdruck der Einheit eines ‚inneren Zieles’, Ausdruck eines eingeborenen Lebens- und Weltgefühls. [...] Die Generationsentelechien dienen also hier zur Destruktion der bisher überbetonten Zeiteinheit (Zeitgeist, Geist einer Epoche)“. Ebd., S. 518f. 106 Weigel 2002, S. 164. Mannheim unterscheidet weiterhin drei zentrale Konzepte im Zusammenhang mit dem Generationsparadigma: die Generationslagerung, den Generationszusammenhang und die Generationseinheit. Unter Generationslagerung versteht Mannheim eine Alterskohorte, die ein gemeinsamer Jahrgang begründet. Während Generationslagerung „nur etwas Potenzielles ist, konstituiert sich ein Generationszusammenhang durch eine Partizipation der derselben Generationslagerung angehörenden Individuen am gemeinsamen Schicksal und an den dazugehörenden, irgendwie zusammenhängenden Gehalten.“ Mannheim 1964, S. 547. Dies <?page no="37"?> Einleitung 35 Ferner ist das Moment der Innovation und der Tradition bzw. Tradierung von Bedeutung. Vergangene Erlebnisse und Erfahrungen (der vorangegangene Generationen) haben, so Mannheim, „nur insofern Relevanz, als sie im gegenwärtigen Vollzug wirklich vorhanden sind.“ 107 Mannheim unterscheidet in diesem Zusammenhang auch von „angeeigneter“ in Abgrenzung zur „selbsterworbenen Erinnerung“. So ist in dem Begriff der Generation - in Ansätzen auch schon bei Mannheim - nicht nur die Nachfolge, sondern auch die Neuschöpfung angelegt. Für Sigrid Weigel „markiert die Generation doch die Schwelle zwischen Entstehung und Fortgang, [...] zwischen Prokreation und Tradition, zwischen Herkunft und Gedächtnis.“ 108 Ähnlich argumentiert Heinz Bude, demzufolge Generationen „das stete Neueinsetzen tonangebender Formationen, die einen neuartigen Zugang zum Gegebenen und neuartige Distanzierungen vom Überkommenen zum Ausdruck bringen.“ 109 Um eben jenes Innovationspotenzial in der Beur- Literatur geht es in dieser Arbeit, um eine Innovation, die stets in Wechselwirkung und in Bezug zu dem „Überkommenen“, also den Traditionen der Eltern und den Konditionen innerhalb der französischen Gesellschaft, aber auch zu den vorhergehenden Generationseinheiten innerhalb des Generationszusammenhangs der Beurs, entstehen. In Anlehnung an Weigel, die eine Genealogie als Einteilung bspw. literarischer Strömungen postuliert, also im Gegensatz zu Bude, der Generation eher als Akteurskategorie in einem politischen Sinne, und entgegen der Annahmen Mannheims, der die Erfahrungs- und Bewusstseinsgemeinschaft fokussiert, soll folglich der dieser Arbeit zugrunde gelegte Generationsbegriff das Moment der Ausbildung ästhetischer Verfahren auf der synchronen Ebene und der gleichzeitige Rekurs auf Traditionen beschreiben. Hier liegt für mich das Erkenntnispotenzial des Generationenbegriffs zur Beschreibung der Beur-Literatur: Denn damit kann zugleich eine chronologische, historische und phänomenologische Spezifik in den Blick genommen werden; und so wird auch dem allgemeinen Vorwurf begegnet, Generatiounterstreicht auch Heinz Bude, wenn er die zeitgeschichtliche, chronologische Verbundenheit mit einer simultanen Betroffenheit gleichsetzt: „Was benachbarte Geburtsjahrgänge zu einer Generation macht, ist das Gefühl der gleichartigen Betroffenheit durch eine einzigartige geschichtliche und gesellschaftliche Situation.“ Bude 2003, S. 187. Bude grenzt hier den Begriff der (Alters-)Kohorte ab, der sich im Allgemeinen auf Geburtenjahrgänge beschränkt, vgl. ebd., S. 188. Der Generationszusammenhang wirkt dabei als Rahmenbedingung im Sinne einer Gemeinschaft, die noch nicht mit der Bildung konkreter Gruppen einhergeht. Vgl. Mannheim 1964, S. 524. Innerhalb des Zusammenhangs entstehen dann wiederum Generationseinheiten mit verschiedenen Handlungsstrategien und Deutungsmustern, die deutlich konkreter auf die verbundenen Individuen wirken und die durchaus widersprüchlich zu Generationseinheiten aus anderen Generationszusammenhängen sein können. 107 Ebd., S. 534. 108 Weigel 2006, S. 109. 109 Ebd., S. 189. <?page no="38"?> Einleitung 36 nenmodelle beschrieben nur Problematiken in Abhängigkeit zum Alter der Akteure, nicht aber deren soziale, kulturelle etc. Determinierungen. In seinem Aufsatz „La génération“ betont Pierre Nora mit seinem Generationskonzept diese diachrone Achse und unterstreicht die Bezugnahme auf Vergangenes: Er untersucht die Generation als Gedächtnisort („lieu de mémoire“). Für Nora ist die Generation ebenfalls mehr als das gemeinsame Erleben eines historischen Ereignisses, sondern es ist vielmehr die Bezugnahme in Form von Erinnerung und Gedächtnisvermögen: Il y bien des générations « françaises ». Et si lieu de mémoire est la génération, ce n’est nullement par la simple communauté de mémoire que suppose la banalité d’une expérience partagée. Si lieu de mémoire est la génération, c’est par le jeu simple et subtile de le mémoire et de l’histoire, la dialectique éternellement rebondissante d’un passé qui demeure présent, d’acteurs devenus leurs propres témoins, et de nouveaux témoins transformés à leur tour en acteurs. […] La pièce continue, et à chaque génération de récrire son histoire de génération. 110 Jene kreative Neudefinition von Geschichte der Beurs und die damit zusammenhängenden Selbstbeschreibungen sollen in den Analysen der literarischen Texte im Zentrum stehen. Die Formulierung einer eigenen Geschichte, einem eigenen ‚Sitz in der Zeit’ ist dabei nicht nur in einer Absetzungsund/ oder Integrationsbewegung der Immigrationsgeschichte der Eltern zu beobachten, sondern auch in der Formulierung der Beziehungen zwischen individueller und kollektiver Geschichte, nach Weigel „als Wechselverhältnis zwischen subjektiver und großer Geschichte [...], das zu einer Harmonisierung von individueller Biographie und Historiographie tendiert.“ 111 Die Texte der Beur-Literatur zeigen allerdings, dass sich diese einfache Beziehung nicht aufrecht erhalten lässt und die Tendenz weniger eine der Harmonisierung, sondern vielmehr eine der kreativen literarischen Sprengung von Sicherheiten ist: wie die Auflösung der Autorfunktion, die spielerische Vermischung von Fakt und Fiktion, die auf den Konstruktcharakter jeglicher Historiographie aber auch Identitätskonstruktionen abzielt sowie die immer wichtigere autoreferenzielle Funktion der Sprache und besonders des Schreibens. Mittels der Analysen in dieser Arbeit auf synchroner Ebene soll ein vielschichtigeres Bild einer Generation entworfen werden, denn - mit Giesen - auch in den Fällen, in denen die symbolischen Repräsentationen reine Erfindungen sind und ihr Erfinder im Hintergrund bleibt, können sich starke Identifikationen einstellen. [...] Entscheidend für die Identifikation mit einer symbolischen Repräsentation ist einerseits die Möglichkeit, durch die symbolische Figur eigene, wenn auch noch so diffuse Erlebnisse und Erfahrungen auszudrücken, darstellen und repräsentieren zu können, und andererseits die mediale Verbreitung dieser symbolischen Darstellung unter den Angehörigen einer Altersgruppe. 112 110 Ebd., S. 3007f. 111 Weigel 2002, S. 164. 112 Giesen 2003, S. 68. <?page no="39"?> Einleitung 37 Im Folgenden werden also zwei Beziehungen zur Vergangenheit in den Blick genommen: zum einen im Hinblick auf die Generation der Eltern und zum anderen in Relation zu der vorangegangenen Beur-Generation (dies gilt freilich nicht für die erste Beur-Generation). Die diachrone Untersuchung der literarischen Texte mit Hilfe einer Systematik von Beur-Generationen soll jedoch weniger dazu dienen, literarische Entwicklungen im Sinne einer Generationengeschichte zu schreiben. Das bedeutet, dass ich weniger von differenztheoretischen Prämissen ausgehe, als vielmehr von einer Beziehungsgeschichte. Diese legt den Fokus auf die Durchdringungen und Verbindungen zwischen den hier angenommenen Generationseinheiten. Es wird demnach eine Art Gestaltgeschichte verfolgt, die sowohl die jeweiligen generationellen Schreibweisen der transkulturellen Lebenserfahrungen, als auch die jeweilige Tradierungsgeschichte der Immigrationserfahrungen der Elterngeneration erfassen kann. In diesem Sinne argumentiert auch Marc Terrasse in Génération beur, wenn er die Potenziale der zweiten Generation durch die Verbindung von Wurzeln und neuen Geschichten beschreibt: On l’appelle deuxième génération ou génération métis. Elle a ses racines en Afrique du Nord, en Amérique, en Chine ou ailleurs mais son présent est en France. […] C’est de leur différence qu’ils tirent leur force et leur invention. Le mélange de cultures et d’histoires les rend plus forts encore. Cette génération va bousculer nos traditions et apporter un sang nouveau à notre histoire. 113 Welche „gleich gestimmten Assoziationen“, 114 welche literarischen Entwürfe einer „horizontalen Identität“, 115 welche literarischen Formen und Themen, welche Wahrnehmungen und Einstellungen werden innerhalb der Generationseinheiten etabliert und formuliert? Im Folgenden sollen für die Analyse der literarischen Texte drei Generationen 116 unterschieden werden, die sich anhand der Inszenierungen hybrider Identifikationen unterscheiden lassen, die generationsimmanent ein gemeinsames Spektrum an Merkmalen literarischer 117 Strategien, Themen und Motiven aufweisen und durch diskursive 113 Terrasse 1989 (Klappentext). 114 Diese Systematik ist in Anlehnung an das Forschungsprogramm des DFG-Graduiertenkollegs „Generationengeschichte“ an der Universität Göttingen formuliert, vgl. www.generationengeschichte.uni-goettingen.de/ wbapz.pdf. Stand: 08.03.2006. 115 Bude nach Niethammer 2003, S. 3. Die Formulierung einer Generationsidentität in den literarischen Texten, wie Niethammer sie versteht, ist dabei kritisch zu hinterfragen: „Darüber hinaus vereint der Begriff einer Generationsidentität die [...] Charakteristika kollektiver und individueller Identität, nämlich die Ausschließung des Anderen aus einem als homogen unterstellten Erfahrungsraum und seine Einbeziehung in der Kontinuierung des Alterns.“ Ebd, S. 10. 116 Die Anzahl der Generationen ist dabei heuristischen Gründen des methodischen Vorgehens der Arbeit zuzuschreiben. Weitere Differenzierungen in weitere Generationen wären sicherlich möglich gewesen. 117 „[D]ie literarische Verarbeitung unterschiedlicher, aber auf vielfältige Weise miteinander verwobener Vergangenheitsschichten sowie das Verhältnis dieser literarischen Erinnerungsdiskurse zu dominanten Tendenzen im kulturellen und familiären Gedächtnis der neuen Bundesrepublik“ untersucht Friederike Eigler, deren <?page no="40"?> Einleitung 38 Zusammenhänge verbunden sind. 118 So unterscheiden sich die Generationen in der literarischen Gestaltung von Zeit und Geschichte, in den Entwürfen der unterschiedlichen Räume und Orte und in den unterschiedlichen Identifikationen mit der transkulturellen Situation des „entre-deux“. Die Zuordnung der literarischen Texte erfolgt auf der Grundlage der chronotopischen und identitären Konstruktionen, wie im Folgenden verdeutlicht wird. Daher werden die Romantexte im Folgenden nach ihren Gestalten und Gestaltungen temporaler, spatialer und personaler Hybridität, wie Dubiel sie benennt, 119 den jeweiligen Generationen zugeordnet; die Zuordnung geht also nicht chronologisch nach den Publikationsdaten vor. Der ersten Generation werden die Romane zugeordnet, die eine starke Ausrichtung in die Vergangenheit, also eine Bindung an die Immigrationsgeschichte und das Heimatland der Eltern formulieren. Sie nehmen sich in dieser Raum-Zeit-Konstellation tendenziell als „Arabes“ wahr, während in den Romanen der hier angenommenen zweiten Generation die Betonung auf der Gegenwart in Frankreich liegt. Die Protagonisten und Protagonistinnen beschreiben ihren prekären Zustand als Beurs oder Beurettes zwischen Elternhaus und Schule. Diesem Kriterium ist es geschuldet, dass sich die Pioniere der Beur-Literatur, wie sie in der Forschung benannt werden, nämlich Begag und Charef, nicht in der ersten Generation befinden, denn ihre Protagonisten formulieren einen eigenen Raum im zeitgenössischen Frankreich und sind nicht mehr in dem Maße wie die hier angenommene erste Generation von der Vergangenheit der Eltern beeinflusst. Die dritte Generation schließlich spielt mit Zeit und Raum als zur Disposition stehenden Achsen. Hier sind Texte versammelt, in denen die fragile Hybridität der literarischen Figuren zur Destabilisierung von Zeit und Raum wird und das Schreiben selbst an Relevanz gewinnt. 1.4 ‚(S)Ich-Schreiben’: Literarische Identitätskonstruktionen in Raum und Zeit Identité : à définir… Begag/ Chaouite: Ecarts d’identité Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen zu literarischen Identitätskonstruktionen in der Beur-Literatur ist die Beobachtung, dass die Formulierung von Selbstbildern, das Sich- oder Ich-Schreiben, das zentrale Thema der Romane darstellt und in der Forschung ja als Schlüsselproblematik beschrieben wird. So wird die Suche und Sehnsucht nach einer Identität in der For- Studie hier exemplarisch als literaturwissenschaftliche Arbeit zum Generationenparadigma in der Literatur genannt gelten kann. Vgl. Eigler 2005, S. 37. 118 Vgl. dazu und zur Geschichte des Generationskonzepts Weigel 2006, bes. S. 107-142. 119 Vgl. Dubiel 2007. <?page no="41"?> Einleitung 39 schungsliteratur immer wieder als das Leitmotiv dieser Literatur beschrieben. Cornelia Ruhe resümiert: Gerade für die in Frankreich geborenen Kinder der Immigranten, deren Beziehung zu ihren kulturellen Wurzeln meist nur ein mittelbare ist, wirkte die littérature beur als grundlegend für die Entwicklung einer eigenen Identität, die zwar nicht unabhängig von den kulturellen Wurzeln ihrer Eltern war, sich aber dennoch in Absetzung von ihnen als eigenständig verstand. 120 Für die Untersuchung dieser Identitätskonstruktionen soll im Folgenden der theoretische Rahmen abgesteckt werden, der dann in den jeweiligen Kapiteln im Zusammenhang mit den Textanalysen differenziert wird. Zunächst wird das Verständnis von kultureller Identität im Sinne hybrider Identifikationen (maßgeblich nach Reckwitz, Hall und Bhabha) und dessen Bedeutung für die literaturwissenschaftliche Analyse der Beur-Literatur verdeutlicht. Zu diesem Zweck werden zunächst die Begrifflichkeiten von Identität, Individualität und Subjektivität in einer konstruktivistischen und postkolonialen Sichtweise erläutert und mit den transkulturellen Konzepten von Hybridität und rhizomatischen Identitäten (Glissant) verbunden. Anschließend wird die Anbindung an literaturwissenschaftliche Konzeptionen vorgenommen, also der Komplex der diskursiven Selbstkonstruktionen und -narrationen analysiert. Abschließend werden die theoretischen Rahmenbedingungen für die Untersuchungen von Zeitbzw. Geschichts- und Raumkonzepten im Zusammenhang mit Selbstentwürfen skizziert. Für die Untersuchung literarischer Identitätskonstruktionen erscheint mir die konzeptionelle Schärfung des Identitätsbegriffs unumgehbar. Es bestehen allerdings Schwierigkeiten darin, den Begriff aus den jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen für die literaturwissenschaftliche Analyse fruchtbar zu machen (und damit im interdisziplinären Import zu dekontextualisieren), darüber hinaus erscheint aber bereits im interdisziplinären Vergleich und sogar in der intradisziplinären Perspektive die Begriffsverwendung uneinheitlich. Und zusätzlich taucht der Identitätsbegriff in den öffentlichen politischen und medialen Diskussionen wie selbstverständlich auf, so dass die vermeintliche Allgemeinverständlichkeit kritisch hinterfragt werden muss. Nähere ich mich im Folgenden nun dem „Plastikwort“ 121 Identität, wie Lutz Niethammer die Unschärfe des Begriffs durch dessen Omnipräsenz nennt, so im spezifischen Kontext der hier angelegten Forschungsperspektive und der untersuchten literarischen Texten - die einleitenden und überblicksartigen Vorbemerkungen zur Konzeption der Identitätskonstruktion sind diesem Erkenntnisinteresse untergeordnet. Andreas Reckwitz hat mit seinen Analysen zur Konzeption des hybriden Subjekts 122 eine Arbeit vorgelegt, deren Entwurf von ästhetischen Subjekten 120 Ruhe 2004, S. 43. 121 Niethammer 2000, bes. S. 9-27. 122 Reckwitz 2006. Der Subjektbegriff wird hier in der Argumentation von Reckwitz in e in e n s p e zifi s c h e n Id e ntität s b e griff üb e rführt. In d e r (fr a nzö s i s c h e n) <?page no="42"?> Einleitung 40 in hybriden Subjektkulturen der Post- oder Spätmoderne eine wichtige Referenz für die vorliegende Arbeit darstellt. Zunächst definiert Reckwitz das Subjekt als „die sozial-kulturelle Form der Subjekthaftigkeit, in die sich der Einzelne einschreibt“ und das „als ein Katalog kultureller Formen“ 123 funktioniert. Damit löst er im Subjektbegriff eine Dichotomie auf, die für den Identitätsbegriff wichtig ist und auch für meine Untersuchung eine zentrale Rolle spielt: die Binarität zwischen Individuum und Kollektiv. 124 Reckwitz betont: Individualismus und soziale Formung sind keine widerstreitenden Kräfte, sondern die beiden Seiten des modernen subiectum, das sich kulturelle Regeln einverleibt, um ‚individualistisch’ zu werden. 125 Subjektmodelle sind auch durch ihre Abgrenzungspraktiken charakterisiert, d.h. durch ihre spezifischen Gegenentwürfe von „Anti-Subjekten“ (mit Bhabha - und darauf weist der Autor ebenfalls hin - würde man hier von Literaturwissenschaft hat die Konzeption des Subjekts eine lange Tradition. Monika Schmitz-Emans beschreibt in ihrem Exposé zum Forschungsprojekt zu einer kritischen Theorie des Subjekts im 20. Jahrhundert könnte in einer literaturgeschichtlichen Perspektive eine Entwicklung beschrieben werden, die ausgehend von der Erfindung und Ausdifferenzierung und emphatische Behauptung des Subjekts über die Betonung von dessen Krisenhaftigkeit bis hin zu den Dekonstruktionen führen. Vgl. Schmitz- Emans 2007. Die widersprüchlichen Endpunkte dieser Entwicklung sind in gegenwärtigen Subjekttheorien gleichzeitig präsent. So ließe sich ein Spektrum beschreiben, das auf der einen Seite vom „Verschwinden des Subjekts“ (Peter Bürger), vom „Tod des Autors“ (Michel Foucault) oder dem Foucault’schen Diktum bestimmt ist, „daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Foucault 2004, S. 462. Foucault beurteilt in diesem Sinne das Schreiben als eine Art Unterwerfungsgeste unter den Diskurs: „Was ist denn das ‚Schreiben’ (das Schreiben der ‚Schriftsteller’) anderes als ein [dem Unterrichtssystem, K.S.] ähnliches Unterwerfungssystem, das vielleicht etwas andere Formen annimmt, dessen große Skandierungen aber analog verlaufen? “ Foucault 2001, S. 30. Auf der anderen Seite sind theoretische Ansätze versammelt, die wie Reckwitz und Gilles Lipovetsky von einem „Personalisierungsprozess“, also einem narzisstischen, hedonistischen und konsumorientierten Subekt ausgehen. Vgl. Lipovetsky 1995. 123 Reckwitz 2006, S. 10 124 Vgl. dazu Laronde 1993, bes. 17ff. In diesem Abschnitt definiert Laronde den Ausgangspunkt seines Identitätsverständnisses, indem er den Fokus auf die Aushandlungen zwischen kollektiver und persönlicher Identität legt. Dies ist ein grundlegendes Modell zahlreicher Identitätsforschungen, die meist im Anschluss an die Ricœur’schen Konzepte von idem und ipse konzipiert sind. 125 Reckwitz 2006, S. 14. In einem historischen Modell unterscheidet Reckwitz drei Ordnungen des Subjekt innerhalb der Moderne und bestimmt somit die Entwicklung zum Konzept des „Selbst“: neben der bürgerlichen Moderne des 18. Jahrhunderts mit einem „moralisch-souveränen Subjekt“ und der organisierten Moderne der 1920er bis 1970er Jahre, die das „extrovertierte Arbeitersubjekt“ produziert, konstatiert Reckwitz in der Postmoderne seit den 1980er Jahren bis in die Gegenwart „das Modell einer kreativkonsumtorischen Subjektivität. Die Transformation der Subjektordnungen verläuft schlagwortartig vom ‚Charakter’ zur ‚Persönlichkeit’ zum ‚Selbst’.“ Ebd., S. 15. <?page no="43"?> Einleitung 41 „othering“ sprechen). Hier rücken die Begriffe der Alterität und der Differenz in den Vordergrund, die zunächst als antagonistische Konzeptionen zur Identität fungieren - wie sie ja bspw. auch Michel Laronde seinen Analysen zugrunde legt. Doch in postmodernen Konzeptionen von Identitätskonstruktionen spielen zwei Aspekte eine Rolle, die diese Binarität hinter sich lassen wollen: einerseits die Annahme einer grundsätzlichen diskursiven Konstruktion und andererseits ein dekonstruktivistisches Verständnis von Identität und Alterität/ Differenz, das die Binarität zusammenzudenken versucht. Identität wird demzufolge als diskursive Aushandlung verstanden, die immer schon ihr anderes mitreflektiert, die sich erst im Akt der Beschreibung formiert und zugleich durch Differenz markiert bleibt. Assmann und Friese bestimmen ganz in diesem Sinne Identität als eine Praxis der Differenz: Das bedeutet, daß der Gegenbegriff zu Identität, nämlich Differenz, nicht mehr als das Andere der Identität bestimmt wird, das diese durch Grenzziehung und Gegensatzbildung konstituiert. Sobald die Differenz ins Innere der Identität verlegt wird, verliert der Begriff seine problematischen Konnotationen von Homogenität und Totalität, Substanz und Organizität. So verstanden wäre Identität nicht mehr Gegensatz von Alterität, sondern eine Praxis der Differenz. 126 Reckwitz geht auf der Ebene der Kulturen davon aus - ähnlich wie die Transkulturalitätstheorien bspw. von Wolfgang Welsch, 127 die Kulturen nicht mehr als homogene Entitäten im Herder’schen Sinne, sondern in sich different begreifen -, dass Kulturen nicht als in sich geschlossene, homogene Strukturen zu konzeptualisieren, sondern per se hybrid sind. 128 „Sie zeichnen sich“, so betont Reckwitz - und hier weist er auch auf die Relevanz diachroner Untersuchungsperspektiven hin - „durch eine spezifische Hybridität aus, in der vergangene Subjektformen in gegenwärtigen wieder aufscheinen und subkulturelle Elemente in dominanten Subjektkulturen auftauchen.“ 129 Als Metaphern bedient sich Reckwitz zur Konturierung jener „kulturellen Logik der Hybridität“ 130 der „Textur“ und des „Palimpsestes“ sowie der Bruchlinien, 131 wie sie auch in den Beur-Erzähltexten verhandelt werden. Jene hybriden Kulturen bringen (als Subjektkulturen, wie Reckwitz sie nennt) hybride Subjekte hervor, welche sich im Prozess der selbsthermeneutischen Herausbildung als hybride Identitäten formieren. So argumen- 126 Assmann/ Friese 1999, S. 23. 127 Vgl. Welsch 1997. Zur postkolonialen Theoriebildung im anglo-, franko- und hispanophonen Raum vgl. den Überblicksartikel von Natascha Ueckmann 2005. 128 Dabei geht Reckwitz davon aus, dass jene hybride Verfasstheit der Subjekte nicht charakteristisch für postmoderne Zeiten ist, sondern dass das alle Subjektformen der Moderne betrifft. Reckwitz beschreibt jeweils eine „historisch spezifische, kulturelle Überlagerungskonstellation“. Reckwitz 2006, S. 19. 129 Ebd. 130 Ebd. 131 Vgl. ebd. <?page no="44"?> Einleitung 42 tiert auch Welsch, für den Transkulturalität als kulturelles Referenzsystem auf der Makroebene ein System darstellt, das nie stabil und stets in Oszillation ist, und das auf der Mikroebene mit einem Konzept von Subjekt einhergehen muss, das Transgressionen immanent in sich trägt und als alltägliche Lebensstrategie mit sich führt. 132 Diese hybride Verfasstheit der literarischen Figuren gilt es in den vorliegenden Analysen zu untersuchen, die in besonderem Maße erstens die Problematik der kulturellen Identität (im Sinne von Stuart Hall) hervorhebt und zweitens von einer identitären Instabilität und Prozessualität, also einer „transitorischen Identität“, 133 ausgeht. Mahjoub Sghiri bspw. geht in seiner psychosoziologischen Studie zu den sozialen und individuellen Strategien der Jugendlichen „issus de l’immigration“ ebenfalls davon aus, dass Identität keine homogene, gegebene Konstante ist. Analysen von Identitätskonzepten müssen sich daher konzentrieren auf: „les notions de processus, d’interaction, de trajectoire et de projet.“ 134 Fridrun Rinner et al. konzipieren Identität ebenfalls als prozessualen Akt der Konstruktion und beschreibt die Brisanz des Identitätsthemas für die (Gegenwarts-)Literatur: L’identité peut être perçue comme résultat provisoire d’un processus culturel, toujours inachevé et en transformation constante. […] La question de l’identité semble tout particulièrement pertinente pour mener à bien l’analyse et l’interprétation des textes littéraires. 135 Den Prozess, in dem sich Identität stets befindet, sowie die Bezugname auf Kollektive bzw. Kulturen betont auch Bhabha, wenn er nicht von Identität, sondern rekurrierend auf die lacanistische Psychoanalyse von Identifikation spricht. Hybridität beinhaltet für ihn den Prozess der Identifikation mit dem anderen als anderen, das als inhärente Differenz im Subjekt verbleibt: I try to talk about hybridity through a psychoanalytic analogy, so that identification is a process of identifying with and through another object, an object of otherness, at which point the agency of identification - the subject - is itself always ambivalent, because of the intervention of that otherness. 136 Beide Aspekte, die Relevanz der Prozessualität und des Kulturellen, werden von Stuart Hall in seinem Konzept der (kulturellen) Identitäten integriert. Ihm zufolge ist in der Postmoderne die „völlig vereinheitlichte, vervollkommnete, sichere und kohärente Identität [...] eine Illusion“. 137 Er betont die Prozessualität von Identitäten: „identity is not just ‚being’ but also ‚becoming’“ 138 und die besondere Relevanz und Wandelbarkeit kultureller 132 Vgl. Welsch 1997. 133 Renn/ Straub 2002, S. 13. 134 Sghiri 1996, S. 61. 135 Rinner/ Geiser/ Giesener et al. 2006, S. 5. 136 Bhabha nach Rutherford 1990, S. 211. 137 Hall 1994, S. 183. Welsch hat dieses Argument von der kulturellen, kollektiven Seite aus formuliert in seinem Begriff der „Kulturfiktion“. Vgl. Welsch 1992. 138 Hall 2003, S. 188. <?page no="45"?> Einleitung 43 Identität: „Cultural identities […] undergo constant transformations. […] they are subject to a continuous ‘play’ of history, culture and power.” 139 Als dezidiert anit-essenzialistisches Konzept führt es zu spezifischen kulturellen und historischen Positionierungen: „Cultural identities are the points of identification or sature, which are made within the discourses of history and culture. Not an essence but a positioning.” 140 Im Anschluss an postmoderne Theorien geht Hall also auch von einer grundsätzlichen Dezentrierung und Fragmentierung der Identitäten aus. Diese werden sich auch in den Beur- Romanen zeigen. Dennoch gibt es auch eine Gegenbewegung: Immer wieder wird in den Romanen eine Sehnsucht nach einer einheitlichen, stabilen Identität formuliert. 141 Auch Reinhold Görling beschreibt für seine literaturwissenschaftlichen Analysen interkultureller Literatur diese in sich gegenläufige Bewegung der gleichzeitigen Dezentrierung und Sehnsucht nach Stabilisierung. 142 Diese Sehnsucht kann sich in den narrativen Selbstgestaltungen der literarischen Figuren auf unterschiedliche Weise niederschlagen: Während „progressive Erzählungen von einer teleologisch-progressiven Identitätsentwicklung ausgehen,“ konstatiert Birgit Neumann, „implizieren regressive Erzählungen den ‚Zerfall des Selbst’ bzw. die Offenlegung der ‚Fiktion des autonomen Ich’,“ oder es werden Figuren in Form von „identitären Stabilitätserzählung“ gestaltet. 143 Diese Selbstgestaltungen nun sind nach Reckwitz ein weiteres Identität konstituierendes Charakteristikum im Sinne eines (kartesianischen) Selbstverstehens des Subjekts als Praxis der Selbstreflexion: 139 Hall 1990, S. 225f. 140 Ebd. 141 Auch Joachim Renn und Jürgen Straub kommen in ihren sozio-psychologischen Arbeiten zu diesem Ergebnis: „Die Identität wird nicht trotz, sondern gerade wegen der mannigfaltigen Anlässe zur Dezentrierung zu einem Desiderat, das der Bewegung des Selbstverhältnisses zugleich ein elementares Motiv und ein Kriterium gibt.“ Renn/ Straub 2002, S. 12. Einen Diskursüberblick der Konzeptionen Identität und Selbst in der Psychoanalyse gibt Werner Bohleber 1992. Assmann betont den gleichen Aspekt nur aus kollektiver Sicht. Sie diskutiert die von Welsch zu Recht in Frage gestellte Homogenität von Kulturen (als „Kulturfiktionen“) und schließt sich seiner skeptischen Position an, betont aber gleichzeitig die Wirkmächtigkeit dieser kollektiven Konstrukte: „Immerhin leben Millionen Menschen unter solchen ‚Kulturfiktionen’.“ Assmann 1994, S. 32, Fußnote 4. 142 „Anders gesagt: wir sind fließende Identitäten, denken und handeln nicht nur nacheinander sondern auch gleichzeitig in ganz verschiedenen Registern. Das ist ein Reichtum, aber unser Begehren nach fester Identität macht es zu einem Mangel.“ Görling 1997, S. 12. 143 Neumann 2005a, S. 202. <?page no="46"?> Einleitung 44 [...] Identität ist - jenseits aller Konnotationen einer inneren Konstanz des Subjekts - als die spezifische Form des Selbstverstehens, der Selbstinterpretation zu begreifen, welche im Rahmen einer Subjektkultur in die Subjektform eingelassen ist. 144 Dieser Aspekt der Selbsthermeneutik bildet das für diese Arbeit zentrale Moment der Identität und stellt in literaturwissenschaftlichen und psychologischen Untersuchungen das zentrale Forschungsfeld dar. Für Stefan Glombs literaturwissenschaftliche Analysen bspw. ist Identität ein „Prozeß der Konstruktion und Revision von Selbstkonzepten.“ 145 Dieses Moment der Selbsterfindung findet maßgeblich, so die Vertreter und Vertreterinnen der narrativen Psychologie, durch den Modus des Erzählens statt, der ja für die Untersuchungen von Selbstbildern in der Literatur maßgeblich ist. Identität ist als selbstreflexiver Prozess demnach unmittelbar an die Konstruktion und an den Modus der Narration gebunden, also der „Art und Weise in der das Individuum selbstrelevante Ereignisse auf der Zeitachse aufeinander bezieht“ 146 . Für Keupp et al. ist die Narration gar das basale Moment von Identität: „Identität ist weitgehend eine narrative Konstruktion.“ 147 Wird nun der Beur-Roman nach Schumann „zum Dokument der personalen Identität, Medium der Selbsterfahrung und Ausdruck der Selbstentdeckung“, 148 so korrespondiert dies mit der Vorstellung, dass Identität durch den Prozess der Selbstnarration hergestellt wird. In meiner Untersuchung geht es um die Selbstkonzeptionen, wie sie in der Beur-Literatur formuliert werden. Den zentralen Ausgangspunkt meiner Untersuchungen stellt die Annahme dar, dass das Selbst keine prädiskursive Entität darstellt, sondern Effekt symbolischer Ordnungen ist, also erst im Moment der literarischen Gestaltung konstruiert wird. So betonen auch Christian Moser und Jürgen Nelles, dass es nach linguistic und cultural turn als selbstverständlich gilt, „das Selbst nicht als vorsprachliche Entität, sondern als Effekt symbolischer Ordnungen zu begreifen.“ 149 Da Identität also nicht gegeben ist, sondern in der Literatur erst erschaffen werden muss, ist erst das Schreiben der (Auto-)Biographie und das Erzählen der Lebensgeschichte für das Selbst konstitutiv. Das Individuum er-schreibt und er-zählt sich eine sub- 144 Reckwitz 2006, S. 45. In einem früheren Text resümiert Reckwitz: „’Identität’ bezeichnet die Problematik der Kontingenz des Selbstverstehens in der Hochmoderne, welches dann in zweiter Linie auch ein Problem der Konstanz dieses Selbstverstehens ist.“ Reckwitz 2001, S. 22. 145 Glomb 1997, S. 12. Straub betont den ephemeren und den konstruktivistischen Charakter von Identität, indem er konstatiert, „[...] daß die Identität einer Person ein Konstrukt ist.[...] Identität ist ein immer nur vorläufiges Resultat kreativer, konstruktiver Akte, man könnte fast sagen, sie ist geschaffen für den Augenblick.“ Straub 1998, S. 93. 146 Keupp et al. 1999, S. 208. 147 Ebd., S. 216. 148 Schumann 2002, S. 223. 149 Moser/ Nelles 2006, S. 8. <?page no="47"?> Einleitung 45 jektive Identität. [...] Das Selbst ist ein Produkt der literarischen Repräsentationstechniken[...] 150 In der vorliegenden Untersuchung werden, wie bereits eingangs geschildert, die Prozesse der Identitätskonstruktionen in der synchronen und in der diachronen Perspektive auf der Achse der Zeit sowie auf der des Raumes analysiert und um die Untersuchungen der expliziten Selbstbeschreibungen erweitert. Auf der Ebene der Chronologien wird die Zeitkonstruktion unter zwei zusammenhängenden Aspekten zu untersuchen: die Wahrnehmung von (kollektiver) Zeit im Sinne einer Orientierung an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und die Gestaltung der persönlichen, biographischen Zeit. Ausgangspunkt der literarischen Analysen der spezifischen Zeitgestaltungen ist die Annahme, dass die Zeit - wie Nünning die Einflüsse der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in den Geisteswissenschaften zusammenfasst - „ein relatives, vom Beobachter abhängiges soziales Konstrukt ist“, 151 so dass es in dieser Arbeit um die „Subjektivität individueller Zeiterfahrungen“ 152 geht. Ferner hängen die literarischen Gestaltungen der Selbstbilder schon durch den Modus des Sich-Erzählens unmittelbar mit der Gestaltung von Zeit zusammen und können nicht ohne eine Zeitdimension gedacht und beschrieben werden. 153 „Die individuelle Identität“, so schreibt Birgit Neumann, [...] entwickelt sich vorrangig in einem selbstreflexiven und erinnerungsbasierten Prozess, in dem Individuen ihr Wissen über sich nach Maßgabe gegenwärtiger Sinnbedürfnisse und Relevanzkriterien verarbeiten. Identitätsbildende Akte sind daher im Wesentlichen nachträgliche, erinnerungsbasierte Leistungen 154 Die Rolle von Erinnerungen und Gedächtnis, die für die Identitätskonstruktionen konstitutiv ist, wird in den diachronen Analysen detaillierter untersucht und mit theoretischen Zugängen zum Verhältnis dieser Themenkomplexe und Literatur verbunden. Auf der Ebene der Topologien 155 werden die Raumkonstruktionen untersucht, die nicht nur die (transkulturelle) Verfasstheit der literarischen Sub- 150 Ebd, S. 8f. 151 Nünning 1995, S. 189. 152 Ebd. 153 Die Relevanz der Zeit ist dabei nicht nur in der zwangsläufig chronologischen Abfolge des Schreib-, Erzähl- und Leseaktes begründet. Es ist auch der Distanz zwischen erzählendem und erzähltem Ich geschuldet. Stefan Glomb untersucht den Zusammenhang zwischen Erinnerung und Identitätskonstruktionen mithilfe der Konzepte von Mead, der zwischen einem der Erfahrung nicht zugänglichen, spontanen und kreativen I und ein durch durch Normen beeinflusstes Me postuliert. Vgl. dazu Glomb 1997, S. 11. 154 Neumann 2005a, S. 20, Hervorhebungen im Original. 155 ‚Topologie’ bezeichnet einen abstrakten Raum, der erstens eine gedankliche Ordnung des Koexistierenden darstellt, so Dagmar Reichert 1996, und analog zum Begriff der Geologie auch die tieferen Vergangenheitsschichten der Raumkonstruktionen <?page no="48"?> Einleitung 46 jekte repräsentieren, indem sich das Innere des Subjektes im Außen spiegelt und ein „gestimmter Raum“ entsteht, 156 sondern die vielmehr erst durch die Subjekte geöffnet werden. Im Zentrum meiner Analysen stehen literarische Raumkonstruktionen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen von der Suche nach einer ‚Heimat’ 157 bis hin zur Delokalisierung in Medienformaten und virtuellen Welten. Es ist jenes Raumverständnis, das Raum nicht als „Container“, sondern als (soziales) Konstrukt denkt, das auch Doris Bachmann-Medick betont: „ Raum meint die soziale Produktion von Raum als einem vielschichtigen und oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess, eine spezifische Verortung kultureller Praktiken, eine Dynamik sozialer Beziehungen[...]. 158 In der spezifischen postmodernen und Situation unterschiedlicher kultureller Raumkodierungen nun beschreibt Bachmann- Medick die Besonderheit der neuen Raumkonzepte postmoderner und postkolonialer Theorie: Denn die Raumperspektive erstreckt sich hier auf Räume, die nicht mehr nur real, territorial und physisch, auch nicht mehr nur symbolisch bestimmt sind, sondern beides zugleich und damit potenziert zu einer neuen Qualität: „Heterotopien“, so nennt sie Foucault, unter „imaginary geography“ fasst sie Said, als „global ethnoscapes“ bezeichnet sie Appadurai, „Thirdspace“ bzw. „real-and-imagined places“, so nennt sie Soja. 159 reflektiert. Vgl. zum Geologie-Begriff Günzel 2006, bes. S. 112. Die ‚Topographie’ erfasst dagegen materiell gegebene Räume der geographischen, aber auch der sozialen Umwelt. Stephan Günzel differenziert eine deutsche und eine französische Begriffstradition: „Zugespitzt kann von einer französischen und einer deutschen Form des topologischen Raums gesprochen werden: Während die frankophone Topologie mit Bachelard explizit an Modelle der neueren Geometrie sowie der Relativitätstheorie anschließt, wird in der deutschen Topologie bei Heidegger der ‚Ort’ und dessen lebensweltliche Fiktion als Wohnstätte oder Heimat betont.“ Günzel 2006, S. 106. Die Untersuchung der Raumkonstruktionen ist in einem theoretischen Rahmen verankert, der in den letzten Jahren als „spatial turn“ bezeichnet wurde. Seit Foucaults Ausführungen zu seinem Konzept der Heterotopien und spätestens seit den Untersuchungen des Historikers Karl Schlögel, aber auch durch die Arbeiten von Ottmar Ette, ist der Raum zu einem wichtigen Paradigma unterschiedlicher literatur- und kulturwissenschaftlicher Theorien avanciert. Auch wenn ich dem Begriff des „turns“ skeptisch gegenüberstehe und in meinen Analysen eher Anschlussmöglichkeiten, denn Verabschiedungen von anderen Paradigmen anstrebe, so beziehe ich mich im Folgenden auf Theorien, die dem „spatial turn“ nahestehen. 156 Hoffmann 1978, S. 55. 157 Der Heimatbegriff wird im Rahmen dieser Arbeit anhand der Textanalysen konkretisiert und kontextualisiert und kann daher aktuelle Diskussionen, besonders in der Problematik des deutschsprachigen Heimatbegriffs, nicht berücksichtigen. Vgl. zu der in der (neueren) deutschen Literaturwissenschaft verankerten Debatte um eine „Renaissance der Heimat“ bspw. die Tagung des forum junge wissenschaft II: Heimat. Zwischen Lebenswelt und Inszenierung im November 2006, www.portalkunstgeschichte.de / forschung_lehre/ tagungen/ 252.php. Stand: 8.05.2007. 158 Bachmann-Medick 2006, S. 289. 159 Ebd., S. 297f. <?page no="49"?> Einleitung 47 In diesen Konzepten ist bereits aufgehoben, was bisher getrennt erläutert wurde: Stets sind in den Räumen, die durch die literarischen Subjekte konstruiert werden, auch Zeit- und Geschichtswahrnehmungen präsent und umgekehrt. Um diese „Verzeitlichung des Raumes und Verräumlichung der Zeit“ 160 beschreiben zu können, bediene ich mich der Konzeption des Chronotopos. Mit Eckhard Lobsien ist zunächst allgemein festzuhalten: Chronotopos meint die unauflösliche Verschränkung temporaler und spatialer Gegebenheiten und Beziehungen derart, dass die Zeit im Raum unmittelbar anschaulich und bedeutsam wird und der Raum seinerseits zum Träger zeitlicher Relationen wird. 161 Maßgeblich aber wurde das Konzept des Chronotopos von Michail B. Bachtin geprägt, dessen Studien zum Chronotopos im Roman als Ausgangspunkt meiner Analysen dienen sollen. Bachtin strebt in seiner Untersuchung zur Formen der Chronotopoi im Roman eine historische Poetik an, die eine Typologie von Raum-Zeit-Zusammenhängen beschreibt, welche immanent mit der literarischen Gattung zusammenhängen bzw. diese sogar bestimmen. Eingangs definiert er den Begriff wie folgt: Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt an Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. 162 Bachtin weist außerdem auf einen Aspekt hin, der auch für die Analysen der Beur-Literatur eine Rolle spielt, nämlich die Beziehung zwischen den extratextuellen ontologischen Achsen von Raum und Zeit und den literarischen Raum-Zeit-Gestaltungen. Viele der literaturwissenschaftlichen Analysen, und dies wurde schon im Forschungsüberblick angedeutet, nehmen die mimetische Funktion von Literatur in den Blick und untersuchen demgemäß die Entsprechungen bzw. Abweichungen von literarischem und ‚wirklichem’ Raum-Zeit-Gefüge. In der vorliegenden Arbeit wird nicht das Ziel verfolgt, Raum- und Zeiterfahrungen der Erzähler und Erzählerinnen in den Romanen mit denen abzugleichen, die die Autoren und Autorinnen gemacht haben könnten, wie bspw. Hargreaves dies in seiner Untersuchung verfolgt. 163 Gleichwohl gilt: Auch wenn den folgenden Analysen die Annahme zugrunde liegt, dass es sich bei den literarischen Figuren um diskursiv gestaltete Subjekte handelt, die sich nicht auf ein prädiskursives, zu repräsentierendes Selbst beziehen, bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass der extraliterarische Kontext negiert wird. Der literarisch-künstlerische Chronotopos ist in dieser Perspektive im Besonderen ein literarisches Mo- 160 Nünning 1995, S. 157. 161 Lobsien 2002, S. 69. 162 Bachtin 1989, S. 8. 163 Vgl. Hargreaves 1997a, S. 48ff. <?page no="50"?> Einleitung 48 ment, dass nicht von festen, quasi-objektiven Raum- und (spezifisch für Bachtin) Zeiterfahrungen ausgeht, sondern subjektive Raum-Zeit-Wahrnehmungen zu formulieren vermag. Die Frage nach der literarischen Gestaltung von Identität als selbsthermeneutischer Prozess ist ferner auf der Analyseachse der expliziten Selbstbeschreibungen auf unterschiedlichen Ebene beobacht- und damit beantwortbar. Üblicherweise wird diese Frage im Hinblick auf die Gattung untersucht, indem Analysen zum autobiographischen Schreiben angestellt werden - von der klassischen Autobiographie gemäß dem Lejeune’schen autobiographischen Pakt bis hin zur Autofiktion nach Doubrovsky. 164 Die Gattung der Autobiographie hat dabei in den letzten Jahrzehnten viele Wandlungen durch poststrukturalistische und postmoderne Theorien erfahren - dies hängt nicht nur mit der eingangs skizzierten Revision der Konzeptionen des Subjekts und der Identität, sondern auch mit der Skepsis gegenüber der sprachlichen Repräsentation zusammen. 165 Für meine Analysen ist weniger die Gattungsfrage entscheidend als vielmehr die Hinwendung zu einem écriture-Begriff, welchen auch Viart und Vercier mit dem Subjekt verquicken: „La vérité de chaque individu doit s’inventer, et elle invente, à chaque fois, une écriture.“ 166 Andererseits werden zunehmend Revisionen der klassisch westlichen Gattung der Autobiographie im Zusammenhang mit jeglichen eurozentristischen Subjektkonzeptionen vorgenommen. Exemplarisch seien in diesem Bereich die Arbeiten von Elke Richter, Claudia Gronemann und Susanne Gehrmann genannt. Elke Richter untersucht die autobiographischen Romane von Assia Djebar und generiert mittels eines narratologischer Zugangs eine spezifische postkoloniale Autobiographik, in der Binaritäten wie historiographisches und fiktionales Schreiben, Individuum und Kollektiv überschritten werden, und wo ein postmodernes Textverständnis an einen postkolonialen Referenzbegriff gekoppelt wird. 167 Auch Claudia Gronemann und Susanne Gehrmann konstatieren einleitend zu ihrem Sammelband zur postkolonialen Autobiographieforschung einen engen Zusammenhang zwischen der Repräsentation des Transkulturellen und dem Auto- 164 „Si j’essaie de me remémorer, je m’invente. Sur pièces, de toutes pièces. JE SUIS UN ÊTRE FICTIF.“ Doubrovsky 1989, S. 374. 165 Und wiederum analog zur beschriebenen gleichzeitigen Auflösung und Betonung des Subjekts als kulturelles, soziologisches etc. Projekt, ist auch die Autobiographie durch Innovationen und traditionelle Resistenzen gekennzeichnet. Vgl. in diesem Zusammenhang die Analysen von Dominique Viart und Bruno Vercier zum autobiographischen Schreiben bei Foucault, Perec, Barthes und Leiris: Viart/ Vercier 2005a, S. 25f. 166 Viart/ Vercier 2005b, S. 29. „Or, ce ne sont pas tant les événements d’une vie qui la différencient des autres, que la façon de les porter à l’écriture : cette trace, l’art a vocation à lui donner une forme qui la distingue, comme à la creuser vers quelque vérité demeurée ineffable ou incertaine.“ Ebd., S. 61. 167 Vgl. Richter 2007a. <?page no="51"?> Einleitung 49 biographischen. 168 Gronemann und Gehrmann erläutern eine poststrukturalistische Autobiographieforschung, die Hybridität selbst als Textstruktur konzipiert: „Par contre, si on déconstruit le genre de l’autobiographie suivant une pensée poststructuraliste, l’hybridité culturelle s’expérimente finalement dans le texte même.“ 169 Demzufolge wird das Selbst einer Textualisierung unterzogen und damit nicht außerhalb des literarischen Textes konzeptualisiert. In Bezug auf Identitätskonstruktionen bedeutet dies, mit Volker Dörr, dass in meinen Analysen „weniger die Authentizität der Identitäten, sondern die Probleme der Identität selbst, die im Text [...] verhandelt werden“ 170 im Zentrum stehen. Im Folgenden soll es nun vermittels eiens textzentrierten Zugangs um die unterschiedlichen generationenspezifischen Gestaltungen der Zwischenraumsituation der literarischen Figuren gehen. Welche Zeit- und Geschichtswahrnehmungen schildern die „Kinder der Immigration“ (Ernstpeter Ruhe)? Wie erzählen sie die Orte und Räume, in denen sie sich bewegen? Und wie schließlich stehen die chronotopischen Konstruktionen zu den Selbstbildern, die die jungen Beurs und Beurettes von sich entwerfen? 168 Vgl. Gehrmann/ Gronemann 2006, S. 9. Vgl. weiterhin zur postkolonialen Autobiographieforschung die Untersuchungen von Gronemann, insbesondere Gronemann 2002 und de Toro/ Gronemann 2004. 169 Gehrmann/ Gronemann 2006, S. 12. 170 Dörr 2006, S. 162. <?page no="53"?> 2 Literarische Identitätskonstruktionen der Beur- Generationen. Synchrone Analysen Meine einzige Identität ist die des Schreibens. (Eine sich selbst schreibende Identität.) Imre Kertész: Ich - ein anderer Dass Selbstkonzeptionen keine stabilen Entitäten sind, die - einmal konstruiert - in der Literatur lediglich abgebildet werden, zeigen die Selbstbeschreibungen der Beur-Protagonistinnen und -Protagonisten der Literatur der letzten 25 Jahre auf vielfältige Weise. Im Folgenden werden die generationsspezifischen Zeit- und Geschichtsrepräsentationen, die literarischen Raumkonstruktionen sowie die Selbstentwürfe der Beur-Figuren untersucht. Der Schwerpunkt der Textanalysen liegt dabei auf der hier angenommenen dritten Generation, in der überdies die (selbst)referentielle Funktion des Schreibens eine zentrale Rolle spielt. 2.1 Die Erzählungen der ersten Beur-Generation: Die Kinder der Migration. „J’étais un déraciné [du] tiers-monde aux portes de Paris“ 171 „Brahim savait d’où il venait. Mais pas encore tout à fait qui il était et où il allait.“ 172 So beschreibt der Protagonist in Nacer Kettanes autobiographischem Roman Le sourire de Brahim seine Situation in den 1960er Jahren in Frankreich, die paradigmatisch den Status jener Immigrantenkinder beschreibt, die mit ihren Familien als Kinder nach Frankreich migriert sind oder dort geboren wurden. Hier werden zentrale Aspekte der Litetatur dieser ersten Generation formuliert: Die Herkunft und die Immigrationsgeschichte der Eltern sind prägend und stellen auch die Geschichte und Herkunft ihrer Kinder dar - allerdings erscheinen sie nicht ausreichend für die eigene Selbstkonzeption („qui il était“) oder für Zukunftsentwürfe („où il allait“). Jene Migrantenkinder werden als Fremde, als „Araber“ in der französischen Gesellschaft wahrgenommen, marginalisiert und massiven Diskriminierungen ausgesetzt. Die literarischen Verhandlungen dieser Situation des Kulturkonflikts werden im Folgenden anhand dreier exemplarischer Texte analysiert: La menthe sauvage (1984) von Mohammed Kenzi, Le sourire 171 Kenzi 1984, S. 46f. 172 Kettane 1985, S. 36. <?page no="54"?> Die Beur-Generationen 52 de Brahim (1985) von Nacer Kettane und Une fille sans histoire (1989) von Tassadit Imache. 173 In La menthe sauvage 174 von Mohammed Kenzi berichtet der Ich-Erzähler Mohammed von der Einwanderungsgeschichte seiner Familie und der Lebenssituation in den bidonvilles von Nanterre. La menthe sauvage ist eine autobiographische Erzählung in vier Kapiteln, die mit der Kindheit des Ich-Erzählers Mohammed in Algerien beginnt - sein Vater ist bereits als Arbeitsimmigrant nach Frankreich gegangen, und die Familie folgt ihm im Dezember 1960 über Marseille und Paris nach Nanterre. Die frühen 1960er Jahre sind auch in Frankreich durch den Algerienkrieg geprägt. Mohammed beschreibt seine eigene Politisierung nach den Unruhen im Mai 1968 und sein Engagement gemeinsam mit den politisch aktiven Studierenden. Seine Auseinandersetzungen mit der Polizei führen schließlich nach einem Gefängnisaufenthalt zur Ausweisung aus Frankreich. In dem autobiographischen Roman Le sourire de Brahim 175 von Nacer Kettane schildert der Erzähler Brahim die Immigrationsgeschichte der Familie, das alltägliche Leben der Maghrebiner in der Pariser banlieue und einen längeren Aufenthalt in Algerien, wo Brahim als „volontaire socialiste“ verweilt. Auch Brahim schildert sein politisches Engagement in den 1980er Jahren im mouvement beur. Im Mittelpunkt stehen die Auseinandersetzungen mit den kulturellen und politischen Traditionen Algeriens und mit den rassistisch-motivierten Marginalisierungen der Immigranten in Frankreich. Durch ein Familienfoto, das der Protagonistin Lil in dem Roman Une fille sans histoire 176 von Tassadit Imache zufällig in die Hände fällt, erinnert sich die erwachsene Protagonistin an ihre Kindheit in den frühen 1960er Jahren. Während ihr algerischer Vater ohne seine Familie nach Algerien zurück- 173 Als weitere Romane, die zu dieser Generation könnten zählen, vgl. bspw.: Sif 1997, Mengouchi 1978, Wardan 1986 oder Benaïcha 1992. Méchamment berbère von Minna Sif ist ein autobiographischer Roman, in dem die Ich-Erzählerin ihre Kindheit und Jugend in Marseille bis zum Alter von 17 Jahren darstellt. Im Zentrum stehen die literarischen Figuren ihrer Eltern: ihr Vater, ein strenger Moslem, der seine Familie über Nacht verlässt und allein nach Marokko zurückkehrt, und ihre Mutter, eine couragierte Berberin, die - ähnlich die die Mutter bei Imache - ihre fünf Kinder allein durchbringen muss. Und während sich die Mutter als Immigrantin in Frankreich fühlt, die nur auf der Durchreise („Nous sommes de passage“) ist, beschreiben ihre Töchter ihre Situation anders. Sie fühlen sich nicht auf der Durchreise, formulieren zwar nicht explizit ihre Gebundenheit an Frankreich, aber erklären, dass ein Land nicht wie eine Wohnung sei, aus der man einfach ausziehen und in die nächste umziehen könne, vgl. Sif 1997, S. 58. 174 Vgl. Kenzi 1984. Weiterhin veröffentlichte der Autor den Gedichtband Temps maure 1981. Ich danke dem Autor für die freundliche Übersendung beider Werke, die im Buchhandel und in den Bibliotheken nicht mehr erhältlich sind. 175 Vgl. Kettane 1985. 176 Imache 1989. Weitere Romane der Autorin, die stets in der banlieue angesiedelt sind und sich nicht nur mit der Beur-Thematik, immer aber mit der Frage nach Identitätskonstruktion beschäftigen, sind: Le dromadaire de Bonaparte 1995, Je veux rentrer 1998 und Presque un frère 2000. <?page no="55"?> Die Beur-Generationen 53 kehrt, zieht die französische Mutter allein ihre Kinder groß. Lil schildert die Diskriminierungen und Ausgrenzungen, die sie und ihre Familie erfahren. Ihre Identitätssuche ist durch diese Marginalisierungen, den absenten Vater und die traumatisierende Kolonialgeschichte Frankreichs und Algeriens geprägt. Lil wird zu einer „Tochter ohne Geschichte“, deren französische Mutter versucht, ihre Kinder in Frankreich zu assimilieren. Lils Suche nach dem Vater und einer ‚kulturellen Heimat’ lassen sie am Ende des Romans nach Algerien aufbrechen. 2.1.1 In der (kolonialen) Vergangenheit nous demeurions les éternels esclaves sous la domination du maître d’hier Nacer Kettane: Le sourire de Brahim Das Motto von Kettanes Le sourire de Brahim verdeutlicht die Bindung an die koloniale Vergangenheit und die Identifikation mit den Eltern: „A mes parents/ pour que jamais/ la mémoire devient souvenir“. 177 Hier wird deutlich, dass die Erzähler und Erzählerinnen dieser Generation eine starke Verbindung zur Immigrationsgeschichte ihrer Eltern haben, obwohl sie deren Heimtland und die Familienmitglieder nur aus Erzählungen oder wenigen Kindheitserinnerungen kennen. Die Erlebnisse und Erinnerungen an die Kindheit in Frankreich sind in diesen Romanen meist in den 1960er Jahren angesiedelt. Zentral ist dabei ein historisches Ereignis: Die blutige Niederschlagung einer Demonstration maghrebinischer Arbeitsimmigranten im Oktober 1961 in Paris. Dieses generationsgenerierende Ereignis taucht in den literarischen Texten als gemeinsames, in Zeit und Raum fest verankertes Erlebnis auf, das den Kindern die Diskriminierung und Ausgrenzung der Familien in Frankreich vor Augen führt und als solche in das kollektive Gedächtnis der Immigrantenfamilien eingeht. So beginnt Le sourire de Brahim mit der Beschreibung jener friedlichen Demonstration algerischer Arbeiter, die im Oktober 1961 in Paris gegen ihre Arbeits- und Lebensbedingungen auf die Straße gehen. Die Demonstration wird von den CRS („Compagnies républicaines de sécurité“) gewaltsam aufgelöst. Menschen werden verletzt und einige sogar getötet, darunter auch Brahims Bruder Kader. Schon im ersten Kapitel wird der Titel des Romans erklärt, denn Brahim verliert durch den Tod seines Bruders sein Lächeln: „Ce jour-là, le sourire de Brahim s’envola.“ 178 Das historische Ereignis symbolisiert die gewalt- und machtvollen Diskriminierungen der Immigranten und ihrer Familien und führt vor Augen, dass es ihnen unmöglich ist, ein unbeschwertes Leben in Frankreich zu führen. Die massiven Diskriminierungen sind für den Protagonisten aber nicht nur Phänomene der Gegenwart, sondern unmittelbar in der Kolonialzeit be- 177 Imache 1989, o. S. 178 Ebd., S. 19. <?page no="56"?> Die Beur-Generationen 54 gründet: Brahim ist der Überzeugung, dass sich die Diskriminierungen der Kolonisten in Algerien ungebrochen in den Ausgrenzungen der maghrebinischen Immigrantenfamilien in Frankreich fortsetzen: Nous allions continuer à survivre dans ces conditions misérables, rejetés et haïs, nous demeurions les éternels esclaves sous la domination du maître d’hier, à la seule différence près qu’on ne nous surnommait plus les fellaghas, mais ratons et bougnoules, avec une étiquette de travailleurs migrants et une nouvelle carte de résidence qui tirait un voile sur le passé. 179 Die koloniale Unterdrückung hält also auch in Frankreich an - auch eine Arbeitserlaubnis kann nicht über die rassistischen Beschimpfungen („bougnoules“) hinwegtäuschen und die Gewaltmechanismen verschleiern. Im Zentrum des Romans steht demgemäß die unablässige Suche nach einem festen Orientierungspunkt, nach den Möglichkeiten der Konstruktion einer stabileren, eigenen Identität, die Brahim in der durch die Kolonialgeschichte geprägte Vergangenheit der Eltern nicht zu finden vermag. Der Islam wird explizit als kultureller Bezugpunkt und identitätsstiftendes Moment beschrieben, wenn der Marabout in La menthe sauvage die Immigrantenkinder vor dem französischen Einfluss warnt: „L’influence de la culture occidentale, mes enfants, est la mort de nos origines, la fin de nos racines.“ 180 Neben der Orientierung an religiösen Rahmenbedingungen wird formuliert, dass die Immigrationsgeschichte und der Kolonialismus miteinander verwoben sind und wie stark die Problematik von Unterdrückung und Krieg noch in die alltägliche Lebenswelt der Familie Brahims hineinwirkt. Brahims Freund Malek erklärt ihm das Prinzip der „transmission orale“ 181 , die Tradierung der Geschichte durch mündliche Erzählungen, die auch in Afrika zur Geschichtsbildung dienen: „En Algérie, c’est pareil, l’histoire et la culture, c’est le peuple qui la possède vraiment. Tout le reste n’est qu’une approximation plus ou moins près de la vérité.“ 182 Während der Erzähler zu Beginn des Romans noch Halt in der Geschichte Algeriens findet, dem Heimatland seiner Eltern, in der auch seine Eltern fest identifiziert zu sein scheinen, zerrüttet der Kolonialismus diese Vergangenheit. Der Kolonialismus markiert so jenen Zeitpunkt, an dem - so Brahim - seine Eltern aus ihren festen Identifikationen gerissen werden: Ses parents, paysans de la montagne, étaient profondément enracinés dans leurs valeurs ancestrales. Leur culture berbère plusieurs fois millénaire, transmise de père en fils, de mère en fille, pétillait dans leurs yeux, vivait sur leurs lèvres : elle habitait leurs corps, animait leurs habitudes, dirigeait leurs pensées et leurs ac- 179 Ebd., S. 36f. 180 Ebd., S. 65. So bekommen die Immigrantenkinder von einem altem Mann ebenfalls den Rat: „Il faut connaître ses origines, retrouver ses racines, mes enfants, c’est la seule voie possible pour vous dans l’avenir“, ebd., S. 48. 181 Ebd. 182 Ebd., S. 71. <?page no="57"?> Die Beur-Generationen 55 tions. […] Mais voilà, un jour, une bête immonde du nom de colonialisme était venue annihiler leur personnalité, leur identité, leur langue. 183 Diese Degradierung, die in der Gegenwart des Jungen in Frankreich immer noch anhält, ist der Auslöser für das politische Engagement Brahims - bezeichnenderweise empfindet er sich zunächst als Sprachrohr der unterdrückten Elterngeneration, bevor er sich den Diskriminierungen seiner eigenen Generation bewusst wird. Auch in La menthe sauvage von Kenzi formuliert der Erzähler Mohammed einen Generationskonflikt, der sich durch die starke Verankerung der Eltern in ihrer algerischen Vergangenheit begründet, welche für die Kinder nicht mehr identitätsstiftend zu sein scheint. Allerdings sind es stärker die Ereignisse vom Mai 1968 in Paris, die den Protagonisten Mohammed umtreiben, als die Erfahrungen in den frühen 1960ern in Frankreich. Während die Elterngeneration der maghrebinischen Immigranten den revolutionären Gedanken und dem ‚Befreiungskampf’ der jungen Menschen 1968 untätig und verständnislos gegenübersteht, 184 könnten die Kinder die politische und gesellschaftliche Bewegung zur Selbstreflexion und zur Formulierung eigener Wünsche und Perspektiven nutzen - auch wenn sie noch als Märchen erscheinen: On se marginalise et on fait ce qu’on peut, en essayant de vivre autre chose de plus chouette, comme dans les contes d’enfants, dans l’espoir que ce soit plus durable. L’essentiel, c’est que ça change[…] 185 Schließlich wird die Niederschlagung der Demonstration von 1961 in Paris auch in dem Roman La fille sans histoire von Tassadit Imache in einen direkten Zusammenhang mit der Situation in Algerien gebracht: Die Kolonialzeit taucht in der Gegenwart des Algerienkriegs auf, der seine Auswirkungen auch in Frankreich zeitigt. 186 Die Niederschlagung der friedlichen Demonstration wird, da Lil 1961 erst drei Jahre alt ist, nicht aus der Innensicht der Familie oder der Immigranten geschildert, sondern aus einer Fremdperspektive rassistischer und xenophober „Français de souche“. Während die Mutter auf dem Foto noch stolz in die Kamera blickt, wird durch die indirekte Rede (style indirect libre) französischer Stimmen dieser Stolz schadenfroh gebrochen, als die Hetzjagd auf die maghrebinischen Demonstranten beginnt: 183 Ebd., S. 45f. 184 „[L]es immigrés restaient de marbre. […] Seuls leurs enfants avaient peut-être saisi le sens de cette démarche. C’était l’occasion pour eux de s’ouvrir à un autre monde.“ Kettane 1985, S. 59. 185 Ebd., S. 64. 186 So auch in dem Roman Le porteur de cartable von Akli Tadjer, in dem der zehnjährige Omar, der Spenden für die FLN sammelt. Sein durch die Eltern stabiliertes Selbstbild und die klaren Vorstellungen über den Algerienkrieg geraten ins Wanken, als er Raphael kennen lernt, ein Sohn französischer Rückkehrer, vgl. Tadjer 2003. <?page no="58"?> Die Beur-Generationen 56 Elle n’a pas dû être fière le jour où les CRS ont bouclé le pont de Bezons et qu’ils les ont coincés, matraqués, tirés comme des lapins et jetés dans la Seine. Il fallait les voir courir et les entendre piailler, les bicots ! Oui, elle devait chier dans son froc la salope derrière sa lucarne ! 187 Die Diskriminierungen und Rassismen werden hier durch den Perspektivwechsel und die Fremdbeschreibung betont - die Niederschlagung der Demonstration dient als Ausgangspunkt (und authentische Legitimation) für die Schilderung von Diskriminierungen und rassistischen Marginalisierungen ihrer Familie im alltäglichen Leben der Protagonistin. Die politischen Geschehnisse und die xenophobe Stimmung in Frankreich 188 werden somit eng mit den Familienerlebnissen und -erinnerungen verknüpft - gleichzeitig wird deutlich, dass die Bindung an die Vergangenheit der Eltern ebenso unmöglich ist wie eine erfolgreiche politische Mitsprache in der französischen Gegenwart. Die Gegenwart der Familie und der Erzählerin in Frankreich ist zudem nicht nur mit der kolonialen Vergangenheit Frankreichs, sondern auch mit dem in Algerien tobenden Algerienkrieg verbunden, denn Lils Vater Ali engagiert sich in der FLN 189 und hält stets Kontakt zu seinen Landsleuten. Seine persönliche Vergangenheit aber bleibt im Dunkeln, denn er schweigt sich darüber aus und verlässt die Familie schließlich, um allein nach Algerien zu zurückzukehren und die Schulden des Exils in Algerien zu bezahlen. Lil ahnt, dass die Leerstelle, die der Vater durch sein Schweigen schon in seiner Anwesenheit darstellte, bleiben wird und der Vater nicht nach Frankreich zurückkehren wird: D’ailleurs, que m’avait-il donné à moi, sa fille, hormis son sang et son nom? Pour le reste, il aurait fallu croire sur parole cet homme qui n’ouvrait jamais la bouche, qui ne m’avait jamais raconté d’histoire. Le silence avait dû se faire lourd, son absence définitive, pour qu’enfin je l’entende lui, et cherche à ne plus perdre son cri. 190 Lil empfindet ihre Gegenwart nicht als sicheren Ort, sondern fühlt sich zunehmend haltlos. Besonders nachts verliert Lil die Orientierung, wenn sie sich die Eindrücke des Tages ins Gedächtnis zu rufen versucht: „Mais sa mémoire la confondait, accélerait le film, brouillait les images.“ 191 Die ana- 187 Imache 1989, S. 20. Dieses Ereignis ist Thema vieler literarischer Werke, vgl. bspw. Lallaoui 1986 oder Sebbar 1999. Eine Bibliographie und Filmographie hat die „L’association 17 octobre 1961: contre l'oubli“ zusammengestellt. 188 Es gibt wenige Français de souche, die die Familie nicht mit rassistischen Beschimpfungen behelligen. Bei Imache ist es die „Dame-au-chien“, die nette Worte für Lils schwangere Mutter findet und diese immer wieder davon abhält, schwere Einkäufe und Haushaltsgegenstände die Treppe hinaufzutragen, vgl. bspw. Imache 1989, S. 23f. und Monsieur Leroy, dem zwar die rassistischen Ausbrüche seiner Nachbarn peinlich ist, der aber in diesen Momenten immer schweigt. Vgl. Imache 1989, S. 20. 189 Die FLN ist die 1954 gegründete Front de Libération Nationale, die sich für die Befreiung Algeriens einsetzte und den Algerienkrieg maßgeblich auslöste und nach der Unabhängigkeit zu einer sozialistisch ausgerichteten Einheitspartei wurde. 190 Imache 1989, S. 14. 191 Ebd., S. 78. <?page no="59"?> Die Beur-Generationen 57 leptischen und proleptischen Konstruktionen setzen dieses Gefühl formalästhetisch um: Die Handlung folgt zwar grob einer Chronologie, die aber nicht stringent und kohärent erzählt wird. Das Thema Une fille sans histoire wird literarisch inszeniert: keine eigene kohärente Lebensgeschichte in ‚ihrer’ Gegenwart wird beschrieben, sondern die Verwirrungen und Orientierungslosigkeit der jungen Protagonistin; keine eigene Geschichte als Vergangenheit kann geschrieben, sondern das stete Fehlen der Immigrationsgeschichte bzw. der erlebten Geschichten der Eltern muss beklagt werden. Die Tochter „ohne Geschichte“ begründet sich also aus der verwehrten Vergangenheit und aus der unmöglichen Gegenwart, die stets von der Vergangenheit, nämlich dem Kolonialkonflikt, geprägt ist. Und auch die Mutter kann ihren Kindern keine Geschichte(n) mehr erzählen: „Il y avait si longtemps qu’elle ne leur racontait plus d’histoires. Elle n’avait plus d’idées, plus de mémoire, plus de voix.“ 192 Damit wird Lil von einer Tochter, die durch die Leerstelle der Geschichte des Vaters eine „Tochter ohne Geschichte“ ist, zu einer Tochter, der auch keine Geschichten mehr erzählt werden können. Dies funktioniert auf zwei Ebenen: Zum einen bedeutet die Weigerung der Mutter, dass die orale Erzähltradition der Immigrantenfamilie nicht mehr fortgeführt wird; zum anderen - und das schließt sich daran an - ist Lil nun auch ihrer Bindung an die Vergangenheit beraubt. Eine eigene Geschichte vermag sie selbst nur mit diesen Schwierigkeiten zu erzählen. Das Ende des Romans ist paradigmatisch für diese frühen Beur-Texte, denn eine Abfahrt 193 ins Land des Vaters, also nach Algerien, wird zwar anvisiert, aber nicht beschrieben. Eine Zukunftsvision wird damit zwar angedeutet, die aber in die Vergangenheit des Vaters führt. Die eigene Existenz und Zukunft ist an die Vergangenheit des Vaters jenseits des Mittelmeers geknüpft. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Protagonisten jener Generation einen starken Bezug zur Vergangenheit formulieren - und zwar nicht nur zur eigenen Phase der Kindheit, die als prägend empfunden und in der schon die schwierige identifikatorische Situierung in Bezug auf die algerische und die französische Kultur angelegt ist. Die gewaltvollen Marginalisierungen, die schließlich auch Selbstmarginalisierungen zur Folge haben, führen in dieser frühen Beur-Literatur in einer chronologischen Perspektive zur Identifikation mit der Immigrationsgeschichte und besonders mit der Familiengeschichte der Eltern. 194 So ist der massive Vergangenheitsbezug 192 Ebd., S. 85. 193 „One of the most striking features of Beur narratives is the frequency with which they end with departures.“ Hargreaves 1997a, S. 164. Vgl. dazu weiterhin das gesamte Unterkapitel zu den unterschiedlichen Romanenden. Ebd., S. 164ff. 194 In Méchamment berbère von Minna Sif etwa erzählt die Mutter jeden Sonntag von ihrer Kindheit und ihrer Jugend in Marokko - so lebendig und wehmütig erzählt, dass sie selbst und die Kinder (ohne genau zu wissen warum) stets am Ende in Tränen ausbrechen, vgl. Sif 1997, S. 59f. <?page no="60"?> Die Beur-Generationen 58 über die präferierte Phase der Kindheit hinaus auch als Rückbezug auf die Vergangenheit der Eltern konstruiert. Interessant ist in dieser Hinsicht, und dieser Aspekt wird im folgenden Kapitel näher untersucht, dass Geschichtskonstruktionen stark in Bezug auf algerische Geschichte und Mythen vorgenommen werden, die allerdings als Familiengeschichte erzählt und schließlich mit französischen Narrativen und Diskursen verwebt, wenn nicht gar durch diese ersetzt werden. Die Tendenz der Reise in die Vergangenheit ist zentral für die Geschichstkonstruktion. Allerdings stellt diese Vergangenheit keinen geglückten Gegenentwurf zur französischen Gegenwart dar, sondern macht gerade anhand der Ereignisse in der Gegenwart die brisante Verschmelzung von algerischer und französischer Geschichte deutlich, wie die Geschehnisse in den 1960er Jahren und die Tätigkeiten der FLN in Frankreich während des Algerienkriegs zum Ausdruck bringen. Die Identifizierung mit der Vergangenheit und der Geschichte der Eltern gelingt nicht: Der écart zwischen der ‚kulturellen Zeitlichkeit’ der Eltern (die an das Heimatland im Maghreb und an die Vergangenheit gebunden ist) und der französischen Kultur führt zu Differenz und Distanz und zu Effekten der Selbstentfremdung. Die Zeitebenen spielen besonders bei Imache eine zentrale Rolle: Viele Perspektivenwechsel und Analepsen geben der Erzählung einen polyphonen Charakter, der somit auch in der literarischen Form die Vielstimmigkeit und Mehrfachzugehörigkeit der Protagonistin sowie ihre subjektive Zeiterfahrung widerspiegelt. Das Medium des Fotos hat dabei eine besondere Funktion: Es ‚friert’ gleichermaßen die Gegenwart in dem Bild ein, wie es nur auf Vergangenheit verweisen kann. Wechselt nun durch diesen „Erzählinitiator“ die Extrain die Intradiegese, so wechselt auch die Erzählperspektive: Aus der autodiegetischen Erzählerin wird eine homodiegetische Erzählsituation, die sich mal an die Mutter, selten an den Vater, aber zum Ende des Romans hin immer stärker an die Tochter anlehnt: Ein polyperspektivisches Erzählkonstrukt ist die Folge. Untrennbar verbunden mit dieser starken Bezugnahme zur Immigrationsgeschichte der Eltern (oder der eigenen) als eine entfernte, uneinholbare Zeit, ist auf der topologischen Ebene die Verortung an den Rändern der französischen Städte und die Beziehung zu einem weit entfernten Ort: dem Maghreb. 2.1.2 In der Peripherie Je haïssais ces banlieues, sa police, ses gens, ses enclos, ses barrières qui me retenaient prisonnier Mohammed Kenzi: La menthe sauvage Auch die lokalen Verortungen der Protagonisten erfolgen durch die starke Bezugnahme auf die Eltern. Die vielfältigen literarischen Gestaltungen zentraler Orte wie der soziale Ort des Elternhauses, Algerien und Frankreich als <?page no="61"?> Die Beur-Generationen 59 nationale und kulturelle Räume, die Wohn- und Lebensorte des bidonville sowie die Schule sollen im Folgenden untersucht werden. Sein Elternhaus beschreibt der Ich-Erzähler Mohammed in Kenzis La menthe sauvage als Stereotyp: Da steht auf der einen Seite die warmherzige und stille Mutter, die ihren Kindern eine Komplizin und ihrem Mann eine geduldige und willfährige Ehefrau ist, und auf der anderen Seiten der strenge und cholerische Vater, der seinen Sohn schlägt und seine Kinder hart bestraft. Das Elternhaus wird durch die Vaterfigur dominiert und seine starke (kulturell/ religiös begründete) autoritäre Position. 195 Diese stete Bezugnahme auf den Vater prägt auch den Raum der Schule: Der Ich-Erzähler beginnt sich in der Schule aufzulehnen und sich so mit seinem Vater zu messen. 196 Nachdem der Erzähler einmal sogar von der Polizei nach Hause gebracht wird, statuiert der Vater an seinem Sohn ein brutales Exempel, indem er ihn draußen an ein Kreuz bindet 197 und ihn erst nach der Ohnmacht des Sohnes wieder befreit. Diese öffentliche Demütigung zieht zudem eine stärkere religiöse Erziehung durch den Imam nach sich. Mohammed distanziert sich auch in der Schule explizit von seinen Klassenkameraden: Je continuais mon petit bonhomme de chemin, en évitant de trop me lier d’amitié avec les écoliers français. Nos rapports ont toujours été précaires pour ne pas dire inexistants et ne s’amélioraient guère. Je restais en marge, derrière la ligne blanche, évitant de la franchir, par orgueil ou par peur, je ne sais plus. 198 Der Portagonist bricht die Schule gar vorzeitig ab und lebt untätig in den Tag hinein. Er ‚hängt herum’ und wird daher von der Familie und besonders von seinem Vater als Schandfleck betrachtet. Mohammed lehnt sich durch verweigernde Haltung gegen die Arbeits- und Lebenswelt des Vaters und damit gegen seine Funktion als Vorbild auf und wird schließlich zur Umerziehung zu einem Marabout geschickt. Geläutert kehrt er zu seiner Familie zurück und beginnt sogar in der Fabrik, in der auch sein Vater angestellt ist, zu arbeiten. Obwohl er sich nun der Anerkennung seiner Familie und seines Vaters sicher ist, beschreibt der Protagonist sein Arbeitsleben als 195 Vgl. Kenzi 1984, S. 56. 196 Die Väter selbst haben in den Beur-Romanen oft den Rückzugsraum der Bar, in der sich die maghrebinischen Männer der Nachbarschaft treffen. Auch in Kenzis Le menthe sauvage wird ein solcher Raum konstruiert: die Bar „Chez Fatima“, in der die algerischen Immigranten, diese heimatlosen Väter, ihr Heimweh und ihre Nostalgie ausleben und in den Armen der Prostituierten und der Barbesitzerin Fatima spärlichen Trost und Halt finden. Nur hier scheint der Ort der uneinholbaren Verbindung zum Herkunftsland zu sein, der aus Sicht der Kinder meist als melancholischer Raum der Sehnsucht und des Schweigens oder der hitzigen politischen Debatten wahrgenommen wird. Vgl. ebd., S. 54ff. 197 Dieses Symbol weist nicht nur darauf hin, dass familiäre Angelegenheiten im bidonville stets öffentlich verhandelt werden, sondern könnte auch auf die väterliche Ablehnung der französischen, vornehmlich christlichen Kultur und des laizistischen Staates verweisen, der der Religion in der Öffentlichkeit keinen Raum zubilligt. 198 Ebd., S. 38. <?page no="62"?> Die Beur-Generationen 60 trostlos und klagt die Ausbeutung der kleinen Arbeiter an. Er erzählt von dem Dasein der Immigranten, zu denen er durch die Fortführung der Lebensentwürfe nun endgültig auch gehört, als Sklaven und Arbeitstiere, die wie eine Zitrone ausgepresst und schließlich wieder vor die Tür gesetzt werden. 199 Mohammed sieht sich selbst als Entwurzelten, der kein kulturelles und räumliches Zuhause hat und an dem der Staub des Ghettos klebt: J’étais un déraciné et une future force de travail qui allait gonfler le personnel des sociétés industrielles du coin. Dans l’attente, le cul entre deux chaises, je cherchais le chemin qui pouvait être mien. Je ne le trouvais ni dans les mœurs de ma communauté, ni dans celles des autres. Le paradis de banlieue arrivait à son déclin, la poussière du ghetto me collait encore aux yeux., la boue séchait sur mes groles [sic! ], l’étau resserrait ses mâchoires de fer. […] Prisonnier entre la place du marché, le béton de la Défense, les cités de transit et les usines de bord de Seine, dans les détritus, isolé, entouré de fils barbelés, comme dans une réserve. Cela ressemblait de plus en plus à une étrange faune que venaient périodiquement photographier les touristes. Le tiers-monde aux portes de Paris, ça valait quand-même le déplacement. Le zoo prenait naissance, il ne manquait plus que les manèges et les marchands de cacahuètes. 200 Seinen Lebensraum beschreibt der Protagonist als einen Zoo, einen Dritte- Welt-Raum vor den Toren der Stadt Paris, und klagt damit die Exklusionsmechanismen der französischen Gesellschaft auf zweierlei Weise an: Einerseits zeigt er die Verdrängung in die urbane und gesellschaftliche Peripherie an, andererseits entlarvt er durch die karikierende Beschreibung auch die Exotismen der Franzosen. In Frankreich angekommen, nach einer „Reise durch die Zeit“, wie Brahim es in Le sourire de Brahim beschreibt, 201 werden die Eltern sich ihrer Identität als Algerier, bzw. genauer als Berber wieder bewusst. Die Bewahrung ihrer Kultur und damit ihre Selbstversicherung ist nur durch die Rückwendung zur Heimatkultur und -religion möglich, die die vehemente Ablehnung der französischen Sprache, die Sprache der (ehemaligen) Unterdrücker, zur Folge hat: „Pour préserver leur identité, les parents de Brahim s’étaient repliés sur leur religion et leur langue. [...] De plus pas un mot en français ne devait sortir à la maison. C’était la langue de l’oppresseur.“ 202 Brahims nationale Zugehörigkeit und kulturelle Identität ist qua elterlicher Erziehung die eines Algeriers; abweichendes Verhalten wird nicht geduldet. Dennoch spürt Brahim, dass etwas zu fehlen scheint: 199 Vgl. ebd., S. 112. 200 Ebd., S. 46f. Ähnlich polemisch greift auch der deutsch-türkische Autor Feridun Zaimoglu auf dieselbe Metapher zurück: Hier ist der Migrant „als schillerndes Mitglied im Zoo der großen Ethnien, darf teilnehmend beobachtet und bestaunt werden. ‚Türkensprecher’ gestalten bunte Begleitprospekte für den Gang durch den Multikulti- Zoo[...].“ Zaimoglu 2004, S. 11. 201 Vgl. Kenzi 1984, S. 46. 202 Ebd., S. 49. <?page no="63"?> Die Beur-Generationen 61 Brahim savait donc qu’il était algérien kabyle, musulman, et s’il faisait le moindre écart, une éducation rigoureuse était là pour le rappeler á l’ordre. […] Fier d’appartenir à un peuple enfin debout, il aimait aussi marquer sa différence. Mais malgré tout cela, il sentait au fond de lui-même qu’il lui manquait quelque chose et il le cherchait. Il sentait son appartenance à un groupe, mais sans pouvoir en préciser exactement les contours. 203 Brahim beginnt also, sich nicht mehr nur auf das Kollektiv seiner Eltern und damit ihrer algerischen Herkunftskultur zu berufen. Zwar spürt er den Stolz auf das eigene algerische Volk, das nun unabhängig ist und nicht mehr unter der Kolonialherrschaft der Franzosen steht und beschreibt die Einflüsse der ‚Identitätsofferten’ nationaler („algérien“), regionaler („kabyle“) und religiöser („musulman“) Art - dennoch will ihm die gänzliche Identifikation mit dieser Gemeinschaft nicht gelingen. Brahim formuliert indirekt, da der Erzähler selbst noch auf der Suche und damit unsicher ist, die Zugehörigkeit zu einer anderen Gruppe: der Generation der Migrantenkinder. Die gekappten und nicht mehr stabilen Verbindungen zur algerischen Identitätskonzeption führen bei Brahim dazu, dass er eine Exilsituation imaginiert, in der er Solidarität mit der Diaspora-Erfahrung formulieren kann und knüpft damit an die Metapher der „tiers-monde“ an. Die eigene kulturelle Identität ist das ein zentrales Gesprächsthema mit Sophie, der jüdischen Freundin von Brahim 204 , die Gegenstände aus dem Besitz ihrer vertriebenen Familie zeigt und betont, dass diese sie selbst geradezu ausmachen. Brahim entgegnet, dass es auch für ihn einen Gegenstand gibt, der Erinnerungen und Geborgenheit speichert: einen Burnus, den seine Mutter für ihn gewebt hat. In einer Metareflexion setzt Brahim ins Zentrum des menschlichen Seins und Handelns die Identität und entwirft ein Verständnis davon, wie sie Emigranten und Exilanten verbinden kann: L’identité est le refuge de l’âme. A chaque mot elle donne le ton, à chaque pensée elle donne le sens. Fontaine de jouvence des gens égarés par la solitude et le désarroi, elle est le terroir des exilés.[…] La même quête, les mêmes incertitudes les unissaient. […] Mais peu importe, l’important c’est ce qu’on fait. Car c’est à partir de ce qu’on fait qu’on existe. 205 Sophie und Brahim sind damit gleichermaßen Emigranten, die auf unterschiedliche Weise eine Rekonstruktion ihrer Wurzeln vornehmen: Sophie vergewissert sich massiv und zentral über Objekte, Brahim eher über die Erzählungen seiner Eltern. Zentral ist in dieser Passage, dass Brahim ein de- 203 Ebd., S. 50. 204 Hier wird eine Parallele zu dem Werk von Paul Smaïl deutlich, der seinem Protagonisten ebenfalls eine jüdische Freundin zur Seite stellt, vgl. Smaïl 1997 oder die Adaptation des Romeo und Julia Stoffs in Fouad Larouis De quel amour blessé 1998. Das Motiv der jüdischen Marginalisierung, der Diaspora und schließlich auch des Holocaust wird in einigen Werken der späteren Generation zum Thema, vgl. bspw. Rahmani 2005 oder Kassovitz 2001. 205 Kettane 1985, S. 36. <?page no="64"?> Die Beur-Generationen 62 zidiert existenzialistisches Selbstverständnis formuliert, das ihn erst durch die eigene Handlung existieren lässt. Keine Gegenstände, sondern die Stellung innerhalb der Familie bestimmt in Imaches Une fille sans histoire den Selbstentwurf der Erzählerin, wie sie auf dem Familienfoto abgebildet ist. 206 Der Bezug auf den absenten Vater, 207 der für die Verbindung mit Algerien steht, ist ebenso unmöglich wie der Bezug auf die Mutter, die für ihre Kinder eine ausschließliche Identifikation mit Frankreich erwirken will. Zu Beginn fungiert die französische Mutter als Erzählinstanz des Romans. 208 Hochschwanger wird sie wegen ihrer Ehe mit einem Algerier wüst beschimpft: „une salope, une putain qui couchait avec un bicot pour ses mœurs bizarres, et qui s’était fait faire deux bâtards, plus un à venir, en pleine guerre d’Algérie, madame! “ 209 Dieses Erlebnis wird dann an die Wahrnehmung der Figur der Mutter erzählerisch angelehnt. Dabei werden nicht nur ihre Ängste und körperlichen Schmerzen ausgedrückt, sondern auch durch die Benennung der Mutter variiert: Parallel zur allmählichen Übernahme der Erzählperspektive durch Lil wird sie zu „[l]a mère de Lil“ 210 , „M me Huguette“ 211 und schließlich M me Ali“. 212 Dabei wechselt die familiäre Bezeichnung als Mutter zur Außen- oder Fremdbezeichnung als Mme Ali, wie sie von der Besitzerin des Lebensmittelladens genannt wird. Allerdings wird die Mutter selten mit Kosenamen wie „maman“ benannt, sondern meist mit ihrem (französischen) Namen Huguette. Durch die Erzählhaltung, also die Anlehnung an die Wahrnehmungen der Mutter, werden mehrere Beziehungsebenen markiert: So identifiziert sich die Tochter (aufgrund ihres jungen Alters) zwar stark mit den Eltern; die Elterngeneration stellt also den primären identifikatorischen Bezugspunkt dar. Doch zeigt dies auch die Distanz zwischen der Mutter und der Tochter an, die sich bis zum Ende des Romans nicht aufzulösen vermag. 206 Dieses Foto repräsentiert ihr eigenes Bild im Gegensatz zu den Abbildungen ihrer Familie: „Comme leurs ombres étaient confuses et comme la mienne était nette, bien découpée. […] Comme vos ombres sont confuses et vraies et comme la mienne est juste, précise […].“ Imache 1989, S. 9f. Das Foto wird zum Gesprächspartner, doch auch ihr eigenes Bild als Kind spricht zu ihr: „La petite fille qui j’étais, seconde après seconde, me renvoie l’insupportable question : Puis-je aujourd’hui certifier que j’ai survécu sans cesser de vous reconnaître? Elle, derrière sa vitre en souffrance. Toi, dont ils mirent le cœur à nu, comme se convaincre de son inutilité de vieil immigré[…].“ Ebd., S. 11 207 Ähnlich beschreibt es die Protagonistin in Méchamment berbère von Sif. Eines Tages verschwindet der Vater und kehrt allein nach Marokko zurück. Der Weggang des Vaters führt auch hier zu einer paradoxen stets präsenten Absenz: „Le Vieux était désormais d’une absence omniprésent.“ Sif 1997, S. 63. 208 Vgl. bspw. Imache 1989, S. 21. 209 Ebd., S. 19. 210 Ebd., S. 20. 211 Ebd., S. 22. 212 Ebd. <?page no="65"?> Die Beur-Generationen 63 Die Diskriminierungen und rassistischen Übergriffe auf die Familie, auf den algerischen Vater und die französische Mutter, sind in der Wahrnehmung der Protagonistin omnipräsent. Nicht nur französische Nachbarn und Mitbürger, sondern besonders die Polizei agiert als Angreifer. So beleidigt ein Inspektor Huguette während eines Verhörs: „Les bougnoules n’ont pas de femme, il n’y a que des putes pour coucher avec! “, 213 um auf die Bemerkung der jungen Frau, sie sei Französin harsch und rassistisch zu entgegnen: „Ça c’est français? Une salope qui se fait sauter par un Arabe pendant qu’ils saignent nos gamins là-bas! “ 214 Dennoch kommentiert die kindliche Erzählerin nicht oder kaum - wie unverständlich erscheinen ihr die Ereignisse und Beschimpfungen, fassungslos steht sie als kleines Mädchen daneben und bleibt in der ohnmächtigen Beobachtungsposition, auch als der Vater eines Nachts ohne Begründung verhaftet und für mehrere Tage festgehalten wird. 215 Die Identifikation mit der französischen Mutter in ihrer Ambivalenz ist prägend: Die französische Mutter funktioniert nicht als essenzialistisches Vorbild der Französin, sondern sie wird immer wieder zur Araberin degradiert und rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt - ähnlich also wie ihre Kinder, die unter Franzosen aufwachsen, aber dennoch stets als Araber marginalisiert werden. Die Identifikation mit dem Vater ist eine andere: Die Abwesenheit der Vaterfigur führt zu einem Begehren, das nie erfüllt werden kann. Allein durch diese Absenz kann der Vater für eine eindeutige, da maghrebinische, stabile kulturelle Identität stehen, da sie imaginiert und damit idealisiert wird. Die Mutter hingegen verkörpert gemeinsam mit den Kindern einen Status am Rand der Gesellschaft - es scheint, dass die Perspektivübernahme daher zwar einfach erscheint, die vollständige Identifikation aber unmöglich ist. Der Ausgangs- und Fluchtpunkt der Erzählung wird durch den Paratext noch unterstrichen: Auch im Motto spiegeln sich die Gegensätze zwischen der Mutter und dem Vater als identifikatorische Orientierungspunkte wider: „De l’amour de ma mère et de la mort de mon père, je suis restée comme confondue.“ 216 Erst kurz vor Lils Abreise nach Algerien am Ende des Romans telefoniert Lil von einer Telefonzelle aus mit ihrer Mutter, welche sie am Fenster telefonieren und schließlich auch ihre Tränen sehen kann. Und in einer kurzen Passage, typographisch kursiv ausgestellt und durch den Perspektivwechsel zur homodiegetischen Erzählperspektive markiert, spricht die Tochter die Mutter direkt an („maman, mon amour“ 217 ). 213 Ebd., S. 35. 214 Ebd. 215 Vgl. ebd., S. 24f. 216 Ebd., S. 9. 217 Ebd., S. 131. <?page no="66"?> Die Beur-Generationen 64 Lil fürchtet immer wieder zu zerbrechen, zwischen Algerien und Frankreich. Schutz sucht sie vergeblich an einem anderen Ort: in der Schule, 218 in der sie jedoch die Kolonialgeschichte immer wieder einholt, obwohl - oder gerade weil - sie in den offziellen Geschichtsbüchern in der französischen Schule nicht auftaucht: Tant de fois elle avait tremblé à l’idée qu’elle pût se fendre en deux morceaux avides d’en découdre. La France et l’Algérie. Un temps, elle avait cru trouver refuge à l’École, de l’autre côté de la cité. Là, où l’Histoire, quand elle est insoutenable, n’est pas écrite dans le manuels. 219 Der Konflikt zwischen der algerischen und der französischen Kultur wird in dem Roman Une fille sans histoire durch die Figuren der Eltern spannungsvoll inszeniert: Vater und Mutter stehen metonymisch für zwei kulturelle Sphären, deren Zeitlichkeit kulturell determiniert ist: das Frankreich der Gegenwart und das Algerien der Vergangenheit des Vaters und der kolonialen Gegenwart des Algerienkriegs und der Zeit danach. Und so scheint sein Einfluss auf die Vergangenheit beschränkt zu sein; er spielt in der Zukunft seiner Kinder keine Rolle mehr. Ali spricht seiner Frau gegenüber seine Befürchtungen nüchtern aus, nämlich, dass das Leben seiner Kinder nur in Frankreich sein wird und sie wohl nie den Weg in sein Heimatland und in seine Vergangenheit finden werden: Il disait qu’il savait que ses enfants ne parleraient jamais sa langue, il pourrait bien encore trimer comme une bête à l’usine comme il avait trimé dans les mines avec son père, son père mort depuis longtemps, usé avant l’âge par l’exil et la misère…[…] « Oui » avait-il encore dit […] « oui - j’en suis sûr - plus tard, tes enfants ne traverseront même pas la mer. » 220 Während Ali also noch gemeinsam mit seinem Vater gearbeitet hat und in dessen Fußstapfen getreten ist, entfernen sich seine Kinder von ihm; der Vater bezeichnet sie als die Kinder der Mutter („tes enfants“). Dieser Konflikt wird an zwei Aspekten sehr deutlich: bei der Berufswahl des ältesten Bruders Farid-Thierry und bezüglich der Namensgebung der Kinder, auf die ich noch zurückkommen werde, die die Aushandlung der kulturellen Identitäten und die Unmöglichkeit hybrider Identitätskonstruktionen für die Eltern deutlich machen. Lils Bruder flieht vor der Familiensituation in den Wehrdienst. Lil erinnert sich an die Zeit, in der Farid-Thierry, der älteste Bruder, sich 17-jährig entscheidet, zur See fahren, weil er nicht, wie sein Vater, in der Fabrik arbeiten will. 221 Der Vater tobt nicht wie sonst wütend durchs Haus, sondern 218 Die Schule spielt in diesem Roman nur eine untergeordnete Rolle, sie ist aber dennoch ein potenzieller Ort der „Gefährdung“: Lil versucht sich in der Schule möglichst unsichtbar zu machen und nichts zu lernen aus Angst vor den eigenen gefährlichen Gedanken. Vgl. ebd., S. 77f. 219 Ebd., S. 123. 220 Ebd., S. 43. 221 Ebd., S. 105ff. <?page no="67"?> Die Beur-Generationen 65 es herrscht Schweigen zwischen dem Sohn und dem Vater, letzterer verschwindet einfach für einige Tage; eine Art stiller, ohnmächtiger Protest, die Kapitulation vor seinem ältesten Sohn, der den Armeedienst ausgerechnet für die ehemaligen Kolonisatoren, die Franzosen, antritt. Die Marine stellt Thierry tatsächlich ein - allerdings nur, und entgegen der Hoffnungen und Erwartungen des jungen Mannes, als U-Boot-Soldat. Nur eineinhalb Jahre später entlässt die Marine Thierry, dem Franzosen mit der undurchsichtigen Herkunft sei nicht zu trauen, lautet die Begründung - er selbst wird plötzlich als eine Art ‚U-Boot’ wahrgenommen. Und in dieser Textpassage ist der Sohn auf die Vergangenheit und die Herkunft seines Vaters zurückgeworfen, mit dem arabischen Teil seines Namens stigmatisiert und der Möglichkeit einer anderen Zukunft beraubt: Un an et demi après, l’armée expliquait au fils de Monsieur Ali que les entrailles des sous-marins français abritaient des secrets que sa filiation trouble exposait à de trop gros dangers. […] Farid, s’il prit note de ce manquement à l’honneur, n’en dit rien. Il démissionna et renonça à fuir par la mer. 222 Auch Lil wird sich in Une fille sans histoire im Laufe ihrer Kindheit ihrer „Uneindeutigkeit“ bewusst. Ihr Name, Lila Azzhar, führt bei ihr wie bei ihren Gegenübern gleichermaßen zu Verwirrung. Sie beschreibt, wie berechnend sie oftmals als Kind die Ambiguität ihres Namens einsetzt, ihre blauen Augen nutzte, um sich eine Geschichte, eine Identität anzueignen, die doch nicht die ihre war: „mendier publiquement, outrageusement, une histoire qui ne fut pas la sienne“. 223 Den Inszenierungs- und Konstruktcharakter ihrer eigenen Identität erkennt sie also schon sehr früh. Ein wichtiges Thema ist nämlich die Namensgebung der Kinder, die den Versuch der Mutter widerspiegelt, aus ihren Kindern Franzosen zu machen und den des Vaters, durch einen arabischen Vornamen seine kulturellen Wurzeln weiterzugeben. Lils Vorname verweist auf diese Problematik. Ihr voller Name, Lila, ist der der Großmutter väterlicherseits. Dies wird aber nur aus der Sicht des Vaters erläutert, 224 ihre Autoproklamation und der Rufname lautet stets Lil. Als Lils jüngste Schwester geboren wird, gibt es ein Streitgespräch zwischen den Eltern, das paradigmatisch diverse konfliktuelle Themen in sich vereint und anhand der Namensgebung der Tochter die kulturelle Position des Vaters gegen die der Mutter inszeniert. Die Mutter ist geschwächt von der Geburt und möchte ihre Kinder gerne für eine Zeit in einem Kinderheim unterbringen. Doch Ali ist vehement dagegen, fürchtet er doch, dass es sich nicht um eine Institution der Sozialhilfe, sondern um eine religiöse Einrichtung handelt, die ihm seine Kinder entfremdet: Et lui: „C’est les curés, c’est ça ? On ne me prendra pas mes gosses. Demain, tu iras mieux et tu sortiras de l’hôpital. 222 Ebd., S. 108. 223 Ebd., S. 122. 224 Vgl., ebd., S. 45. <?page no="68"?> Die Beur-Generationen 66 - C’est pas les curés, Ali ! Je n’en peux plus. J’ai perdu trop de sang. Je fais une anémie. Le docteur ne me laissera pas sortir. » Alors il avait demandé : « Et Ouarda aussi ? » Elle avait dû le lui dire : « Elle s’appelle Isabelle. C’est mieux comme ça, Ali. » Il avait donné un coup de pied dans le lit. « Sur les papiers, c’est Ouarda, après c’est Isabelle ! » Le matin même, sur le carnet de santé de Lila, elle avait noirci au crayon le A. Lil, ça pouvait faire Lili, Liliane…oui Liliane, c’était très bien… Elle avait serré les dents : « Non…c’est trop tard…sur les papiers aussi, c’est Isabelle, ça vaut mieux, Ali… » 225 Hier zeigt sich, wie die Eltern durch die Namensgebung um ihren kulturellen Einfluss ringen: Während der Vater seiner Tochter einen arabischen Namen geben will, lässt die Mutter ohne sein Wissen den französischen Namen offiziell eintragen. Spiegelt der Name des ältesten Bruders noch einen Kompromiss wider, Thierry-Farid, so ist Lilas Name schon deutlicher geprägt. Dass die Mutter in Lilas Akte einfach das A streicht, um eher Assoziationen zu französischen Namen zu wecken, zeigt ihre Einflussnahme auf die Kinder im Hinblick auf eine französische Markierung ihrer Identität. Erst am Ende des Romans wird sich Lila eindeutig mit dem arabischen Klang und der arabischen Bedeutung ihres Namens identifizieren und ihrer Mutter gegenüber emanzipieren. So entschließt Lil sich schließlich nach dem Tod des Vaters, selbst die Reise nach Algerien anzutreten, um bei ihrem Vater und der Familiengeschichte anzukommen: „Sans retourner, arriver enfin...jusqu’à Lui.“ 226 Sie telefoniert noch einmal mit ihrer Mutter, zu der sie keinen Kontakt gehalten hat, und erzählt ihr zwar, dass sie wegfährt, verschweigt ihr aber das Ziel der Reise. Im Laufe des Gesprächs bezeichnet sie sich wütend als Araberin und füllt damit die Leerstelle aus, die der Vater hinterlassen hat: « El Lil c’est la nuit. En arabe, ça veut dire la nuit... » Elle avait attendu l’ultime instant, la nuit de la mort de son père pour s’appeler Lila. Elle l’avait payé cher. Après, le plus souvent possible, elle l’avait dit : Lila ! à tort et à travers… « Je suis Lila ! » Sa langue s’attardait sur le « i », l’allongeait démesurément, « mon Nom est Lila, Li…la ! » […] « Li ! …La ! El Lil, c’est la nuit, la racine du nom est la nuit…la nuit est arabe…je suis aussi une Arabe…comme lui. » 227 Neben dem Elternhaus ist das soziale Umfeld in der urbanen banlieue ein wichtiger Schauplatz der Handlungen: Stereotype Bilder und soziale wie ethnische Konnotationen werden beschrieben. Paradigmatisch sind dabei in Le menthe sauvage von Kenzi die Beschreibungen durch die autodiegetische Erzählperspektive von Mohammed, der sein soziales und urbanes Umfeld regelrecht hasst: „Je haïssais ces banlieues, sa police, ses gens, ses enclos, ses 225 Ebd., S. 49. 226 Ebd., S. 124. 227 Ebd., S. 129f. <?page no="69"?> Die Beur-Generationen 67 barrières qui me retenaient prisonnier et que je voulais à tout prix briser pour en finir avec cet espace étouffant.“ 228 Homosexualität, Prostitution, Waffenbesitz tauchen als typische Thematiken am Rande der Städte in den bidonvilles und banlieues auf. 229 In diesem Zusammenhang deutet der Protagonist auch den alltäglichen Rassismus an, der hier durch den Fremdenhass des Vaters einer französischen Mitschülerin formuliert wird, in die sich Mohammed und viele seiner Kameraden sich verliebt haben. 230 Mohammed schildert die Schikanen, die rassistischen Diskriminierungen und willkürlichen Verhaftungen durch die Polizei der Vorstadt. Er beschreibt die erlebte Gewalttätigkeit, den Fremdenhass und den Rassismus im Kommissariat und wird schließlich aus nichtigen, fingierten Gründen verhaftet und muss zweimal für einige Monate sogar ins Gefängnis. 231 Schließlich wird Mohammed sogar aus Frankreich ausgewiesen und begreift schon vor seiner Abreise, dass er nicht einfach zurückgehen kann - ähnlich wie sein Freund Hocine, der in Briefen nach seiner Ausweisung schreibt, dass die Algerier ihn ebenfalls als Fremden behandeln: Certes, l’Algérie était mon pays d’origine, mais que vaut dire algérien après vingt ans d’exil où on perd jusqu’à la notion du temps et de la raison. Plus je pensais à tout cela, plus tout se cassait autour de moi et dans ma tête. […] Je me rendais bien compte que je n’étais qu’un bâtard pris entre deux cultures, comme disaient mes compatriotes, fanatisés et arabophones. 232 Die eigene Identifizierung mit dem Heimatland Algerien scheint zu zerfallen und keinen Halt mehr zu bieten, die Entfernung von diesem Land hat zu einer Distanzierung geführt, die den Erzähler zu zerbrechen droht. Und die arabophonen Landsleute verweisen ihn schließlich auf das Niemandsland zwischen den Kulturen, das durch die Bezeichnung als Bastard eindeutig negativ konnotiert ist. Das „Vaterland“ wird zu einem problematischen Konstrukt. Auch der Erzähler in dem autobiographischen Roman von 228 Ebd., S. 82. 229 Vgl. dazu weiterhin bspw. Ramdane 1978 oder Benaïcha 1992. Die multikulturelle Gruppe junger Immigranten sind die Protagonisten: „L‘homme qui enjamba la mer, c’est lui, c’est chacun d’entre eux. Tout ce petit peuple occulté du quart-mode bellevillois, tous ces hommes qui débarquèrent en France pour construire le ‘Paris de l‘an 2000’, le Beaubourg et autres tours du Maine avec, pour seul bagage, leur culture, leurs traditions, et qui un jour repartiront tout plein du formidable rêve qu‘ils ont tissé […].“ Vgl. Mengouchi 1978, Klappentext. Benaïcha schildert in seinem autobiographischen Roman seine Reise in das imaginierte „Paradies“ Frankreich während der „trente glorieuses“ und beschreibt die Desillusionierungen, die Verhältnisse in den bidonvilles sowie den Kampf um Bildung und Anerkennung. 230 Vgl. Kenzi 1984, S. 62. 231 Es folgen Passagen, in denen der Erzähler die Hoffnungslosigkeit und die Willkür der Gefängnisinsassen beschreibt und eine Szene, in der er, zurück in Nanterre, in eine willkürliche, aggressive und provozierende Polizeikontrolle gerät. Während des zweiten Inhaftierung erfährt er dann auch, dass seine Eltern seinetwegen nach Algerien ausgewiesen werden. 232 Kenzi 1984, S. 119. <?page no="70"?> Die Beur-Generationen 68 Lebkiri beschreibt sein Reiseziel kurz vor der Abreise der Familie aus Algerien nach Frankreich: „On va aller en France pays de mon père“. 233 So formuliert er eine Doppeldeutigkeit des Landes des Vaters als ‚Vaterland’ und weist damit auf die ‚Heimat- und Orientierungslosigkeit’ und problematischen Identitätskonstruktionen hin. 234 Der heterodiegetische Erzähler beschreibt in Kettanes Le sourire de Brahim das Umfeld des Protagonisten. Brahims Freunde in der banlieue sind wichtige Bezugspersonen für ihn, die als kollektiver Halt außerhalb der Familie funktionieren. Sie sind ihm ähnlich, haben die gleichen Probleme und Freuden, hören die gleiche Musik und teilen sich die cité de transit als Lebens- und Wohnort. 235 Die Menschen, die in seinem Viertel wohnen, sind unterschiedlichster Herkunft. Das „multikulturelle Zusammenleben“ aber ist im Gegensatz zur der Solidarität unter den Freunden negativ konnotiert: Rendez-vous cosmopolite, où quelques familles françaises, côtoyaient des familles maliennes, italiennes, espagnoles, gitanes, maghrébines, la cité vivait au rythme de la Méditerranée. Beaucoup de vagues mais pas de marée. La linge multicolore pendu aux fenêtres réussissait à peine à camoufler les fissures du béton et les craquelures des peintures vieillies. 236 Eine multikulturelle Gemeinschaft versammelt sich so an den Rändern der französischen Städte und der Gesellschaft, denn französische Familien sind selten. Vergleicht Brahim die Vorstadt mit dem Mittelmeer, dann ruft er damit nicht nur die vielen Staaten auf, die am Mittelmeer liegen, sondern verweist auf eine deterritorialisierte Identifikation: keine Nation, kein gesichertes Gebiet in der Etat-Nation Frankreich ist der Wohnort, sondern der Raum dazwischen. So steht das Mittelmeer für den Raum zwischen vielen Ländern - das Meer aber verweist auf die Bewegungen, die auch der Protagonist in seinen Identitätskonstruktionen nachzuzeichnen versucht. Und in diesem Meer gibt es sowohl Wellen, als auch eine ständige Bewegung, die keine gesicherte und wiederkehrende Konstante darstellt. Ein Ort ganz anderer Art wird in Imaches Roman Une fille sans histoire beschrieben, der weder Elternhaus noch urbaner Lebensraum ist, sondern losgelöst von beiden als Ort der Ausnahme funktioniert: Das Kinderheim, in dem sich Lil von ihren Eltern entfremdet. Hier wird sie nicht nur von einem Jungen drangsaliert, da er trotz ihrer blonden Haare entdeckt, dass sie das Kind maghrebinischer Immigranten ist, sie mit einem Pfeil beschießt, welcher sie knapp unter dem Auge trifft und hier eine feine Narbe hinterlässt, 237 sondern erfährt auch, dass der Algerienkrieg zu Ende ist. Lil muss ein weite- 233 Lebkiri 2000, S. 7. 234 Zur Verbindung von Identitätsproblemen und Orientierungsproblemen in Anlehnung an die Untersuchungen von Straub vgl. Neumann 2005, S. 196. 235 Vgl. ebd., S. 50. 236 Ebd., S. 36f. 237 Imache 1989, S. 58ff. <?page no="71"?> Die Beur-Generationen 69 res Mal in ein weit entferntes Kinderheim mit einer strengen und verschrobenen Heimleiterin, die aber mit einem wachen Auge direkt in das Herz der Kinder sieht. Sie ist es auch, die Lil ‚wachrütteln’ und sie aus ihrer Lethargie, ihren Ängsten und Traumphantasien holen will: „Quitte ce masque de demeurée et raconte ton histoire ! “ 238 Und trotz der Unterstützung, die sie der jungen Lil angedeihen lässt, fragt sich diese Frau doch, wie sich diese „wilden“ Kinder der maghrebinischen Immigranten je werden in der französischen Kultur zurecht finden können. Die Leiterin gibt so ein gängiges exotisierendes Fremdbild der Immigrantenkinder wieder, in der die Kinder gar zu Tieren degradiert (ganz ähnlich der Zoo-Metaphorik) und als eine zukünftige Bedrohung imaginiert werden: elle s’était inquiétée: comment avait-t-on pu permettre l’accès à la culture à ces jeunes animaux incapables, avec leur frustration, leur rage, de goûter sans dévorer ? La société de demain saurait-elle faire face à leur appétit de revanche ? 239 Das Kinderheim ist ungewöhnlicherweise als Ort der Freiheit konturiert - durch die Spiele im Wald und die Möglichkeit, die eigene Geschichte zu erzählen. Seine Konstruktion als ein anderer Raum, der weder Schule, noch banlieue, noch Elternhaus ist, ist dabei signifikant: Nur an diesem Ort, unter anderen Kindern und ohne die Einbettung in eine dominierende Geschichte der Eltern, kann Lil ihre eigenen Wege gehen. In ihre cité kehrt Lil erst nach zehn Jahren in Begleitung ihres Bruders zurück und wird sich der (baulichen) Änderungen bewusst, die seither stattgefunden haben. Erst in diesem Moment können sie und ihr Bruder („nous“) den Ort ihrer Kindheit hinter sich lassen. Sie verbringen am Ende des Romans noch einen gemeinsamen Abend, in dem Lil zur extradiegetischen Erzählsituation des Anfangs zurückkehrt und das gefundene Familienfoto betrachtet. Alternative Orte können auch imaginiert sein: Nicht den Ort der offiziellen Geschichte, sondern den Ort der Geschichten, in Literatur und Sprache, imaginiert Brahim in Kettanes Le sourire de Brahim als sein Refugium: Mais il savait aussi qu’une fois passé à la porte, le monde extérieur se chargeait de lui infiltrer d’autres images dans la tête. […] Brahim aimait voyager dans les pays imaginaires de Rousseau et de Voltaire. La langue française lui plaisait bien et il prenait un réel plaisir à l’écrire. 240 Die französische Sprache und die Literatur werden hier als Refugium beschrieben, als ein Ort, der gerade nicht in der Lebensrealität des Jugendlichen liegt, sondern imaginiert werden kann. Brahim beschäftigt sich mit der kabylischen Sprache und der algerischen Literatur und sieht sich in seiner Zugehörigkeit zur algerischen Kultur bestärkt: „Il appartenait à ce peuple, à 238 Ebd., S. 96. 239 Ebd., S. 98. 240 Kettane 1985, S. 50. <?page no="72"?> Die Beur-Generationen 70 cette culture; ses racines étaient là, solides.“ 241 Brahim liebt die Literatur, die ihm auch einen Ausweg aus der gewohnten cité liefert, aber eben auch neue Figuren in sein Leben bringt, deren Identifikationsofferten Brahim gerne nutzt: „Il aimait à se substituer aux héros de ses lectures et il lui arrivait même d’échafauder de temps en temps d’autres plans et d’autres issues pour ceux-ci.“ 242 Zusammenfassend ist für die topologische Ebene der Selbstbilder in diesen Texten festzustellen, dass es eine deutliche Verortung im Elternhaus gibt - die kulturelle Identitätskonstruktion ist dabei stark an das Herkunftsland der Eltern, hier also Algerien, geknüpft. Alternative Räume werden von dieser Perspektive aus beschrieben: ausgehend von dem Elternhaus, das metonymisch für Algerien steht, werden die Schule in dem ‚Gastland’ Frankreich und schließlich der Freundeskreis in den bidonvilles der Großstädte beschrieben, in denen die Auseinandersetzung mit der Randständigkeit und Armut im urbanen Lebensumfeld eine wichtige Rolle spielt. Oftmals beschreiben die Protagonisten sich als Algerier in einer Exilsituation, was zwei problematische Themenkomplexe mit sich bringt: Zum einen ist der Bezug auf Algerien als absentes Land problematisch, da es letztlich geographisch und identifikatorisch unerreichbar bleibt, zum anderen ist die Wahrnehmung im Exil und als Immigrant/ in bzw. Emigrant/ in nicht stabilisierend sondern verstörend. Es ist genau dieser Status zwischen Emigration und Immigration, der die Bewegungen und Suchmomente der Protagonisten begründet. Algerien erscheint als unerreichbarer Ort, der durch den Rückkehrwillen der Eltern, der sich zum Rückkehrmythos entwickelt, 243 quasi zur Obsession und zum Phantasma wird. 244 241 Ebd. Auch hier wird wieder die Tradition der klassischen arabischen Lebenserzählung durch die Bezugnahme auf literarische Traditionen und die eigene Einbettung deutlich. 242 Ebd., S. 128. Interessant ist dabei, dass im literarischen Text nicht nur Erinnerungen, Erlebnisse und identitätsstiftende Momente explizit benannt werden, sondern dass auch durch die Erzählung selbst (also im Schreiben, auch wenn die autoreferentielle Funktion von Literatur nicht explizit benannt wird) im Erzählakt kulturelle Interferenzen sichtbar werden. In die Erzählung weben sich gleichermaßen die kulturellen Einflüsse der Eltern wie die Erlebnisse in der französischen Gesellschaft, in der institutionalisierten Form der Schule bspw. oder im alltäglichen Leben in der banlieue. So zieht der Erzähler ebenso Vergleiche zwischen Orten in der banlieue und den „cavernes d’Ali Baba“ wie einer seiner Freunde - als Reaktion auf einen selbst komponierten und getexteten Rap - eine Passage aus Le Cid von Corneille zitiert. Vgl. ebd., S. 35. 243 Tahar Djaout stellt in diesem Zusammenhang fest: „l’Algérie est présente, le plus souvent comme une simple image liée aux parents mais parfois aussi comme une aspiration, le pays du possible retour […].“ Djaout 1987, S. 22. 244 So auch in dem Roman von Leïla Houari mit dem vielsagenden Titel Zeïda de nulle part, der hier nur am Rande erwähnt werden soll. Die Werke von Houari werde ich nicht berücksichtigen, da es sich hier um die Beur-Problematik in Belgien handelt. Es gibt in den Romanen der Autorin zwar viele Parallelen und gemeinsame Motive und <?page no="73"?> Die Beur-Generationen 71 Dem Elternhaus als primärer Lebens- und Bezugsraum werden andere Orte an die Seite gestellt, die teils komplementär, teils kontrastiv funktionieren; sei es die Schule, der Freundeskreis oder die banlieue mit den Diskriminierungen durch die Nachbarn. Doch alle Räume funktionieren in Relation zum Elternhaus, sodass eine Ausflucht utopisch zu sein scheint. Exemplarisch erscheinen hier die beschriebenen Alpträume bspw in Une fille sans histoire, die in eine vollkommene Desorientierung und das Gefühl von Schutzlosigkeit münden: „Nulle place où se tenir, nul coin où se cacher.“ 245 In dieser Generation taucht allerdings bereits ein Ort auf, der eine Fluchtmöglichkeit und eine Idenfikation über Erzählungen bieten kann und der in den folgenden Generationen eine wichtige Rolle einnehmen wird: die Literatur. 2.1.3 Identitätskonstruktionen als „déracinés“ Die Identifikation mit der Heimatkultur der Eltern und ihrem Immigrantenbzw. Emigrantenstatus ist die einzig geduldete - sowohl vonseiten der Eltern, als auch vonseiten der Nachbarn und Lehrer. Die Migrationsbewegung der Eltern soll bspw. durch die Pflege der Sprache und religiösen Traditionen der Vergangenheit immer in das Ziel der Rückkehr münden. Die Kinder allerdings, die in Frankreich aufwachsen, erkennen allmählich, dass sie keinen festen Ort haben, denn die Identifikation mit der maghrebinischen Vergangenheit verwehrt ihnen einen eigenen Raum in der französischen Gegenwart. Der Bezug auf eine ‚Herkunft’ ist dabei nicht unbedingt geogra- Phänomene mit der Beur-Literatur Frankreichs, doch für meine Analysen der transkulturellen Selbstrepräsentation spielt der kulturelle Raum Frankreichs und nicht zuletzt die postkoloniale Situation eine konstitutive Rolle. In Zeïda de nulle part erzählt die Protagonistin Zeïda, die mal als Ich-Erzählerin und mal als personale Erzählerin berichtet, von ihren Schwierigkeiten, eine Heimat zu finden. Im ersten Teil des Romans beschreibt sie über ein Gespräch mit der Mutter und Beobachtungen der Mutter, dass sie von zuhause ausgezogen und bei einer Freundin untergekommen ist. Die Melancholie der Mutter und die Strenge und Härte des Vaters sind nur schwer zu ertragen für die junge Frau; das graue und ewig regennasse Brüssel, in das die Familie aus Marokko emigrierte verstärken diese Schwermut. Die Ferien bei der Familie in Marokko und die Erinnerungen an eine heitere Kindheit wecken in der Erzählerin ein Gefühl des Heimwehs. Zur Besänftigung des Vaters fährt die Protagonistin zu ihrer Tante nach Marokko, wo sie sich sehr wohl fühlt. Die Wärme, die Natur, das einfache Leben auf dem Lande, die festen Dorfstrukturen und immer gleichen Tagesabläufe geben der jungen Frau Halt und Sicherheit. Sie genießt das Leben dort - bis sie sich in einen Freund ihres Cousins verliebt. Dieser spiegelt ihr ihre Andersartigkeit wieder und bestätigt und verstärkt die Erfahrung Zeïdas, in Marokko doch nur ein Gast, eine Fremde, eine Europäerin zu sein. So kehrt die Protagonistin desillusioniert nach Belgien zurück und erkennt, dass es weder für ihre Eltern, noch für sie als Tochter eine mögliche Rückkehr in eine Heimat auf der anderen Seite des Mittelmeers geben kann. Vgl. Houari 1985. 245 Imache 1989, S. 78. <?page no="74"?> Die Beur-Generationen 72 phisch oder national konnotiert, sondern an die Familiengeschichte und die prägende Immigrationserfahrung (der Eltern) gebunden. Die französische Gesellschaft und das algerische Elternhaus, wie sie in der frühen Beur-Literatur formuliert werden, sind als antagonistische Bereiche konstruiert. Mit Welsch könnte man hier eine kulturrassistische Konzeption 246 dieser kulturellen Sphären feststellen, die es den Beur-Figuren scheinbar unmöglicht macht, beide Sphären zu bewohnen. Die Beur-Protagonistinnen und -Protagonisten 247 können sich nicht in beiden Sphären gleichzeitig einrichten, sondern sind durch den familiären Druck und die „symbolische Anrufung“ (Althusser) der kollektiven Identität der maghrebinischen Familie(n) zu einer eindeutigen Positionierung gezwungen. Die räumlichen Inszenierungen mit den abgeschlossenen Elternhäusern, den erdrückenden bidonvilles, die antagonistischen Räume Frankreich und Algerien spiegeln somit die kulturellen Differenzen innerhalb der Protagonisten wider, die diese nicht zu harmonisieren vermögen. Die Abgeschlossenheit der Räume spiegelt die Abgeschlossenheit der Vergangenheit, die den Protagonisten verwehrt bleibt. Die als kulturkonfliktär inszenierte Spannung, die allen Romanen unterliegt, wird hier durch Vereindeutigung aufzulösen versucht - wobei der Konstruktion eine als homogene Entität imaginierte französische und arabische Kultur vorausgeht. Die literarische Gestaltung der kulturellen Differenz wird in den Texten der ersten Generation als eine Differenz beschrieben, die durch den fortgeführten Immigrantenstatus entsteht und so im Sinne einer (auto)xenophoben Alterität konturiert ist. Die Texte der ersten Generation zeichnen sich auf der inhaltlichen Ebene durch die literarische Gestaltung der prägenden Immigrationserfahrung der Familie, massiven Exklusionserfahrungen und die angedeutete Unmöglichkeit der Formulierung eines positiven Selbstbildes aus. Im Zentrum der Selbstkonzeptionen stehen stets die Bezugnahmen und affektiven Beziehungen zu unterschiedlichen Kollektiven. Den bereits erwähnten Generationenkonflikt formuliert Mohammed in La menthe sauvage und visiert damit das Selbstbild einer ganzen Generation an: „La jeune génération le regardait d‘un air moqueur, elle s‘en foutait pas mal de ce dualisme culturel! Certains même réclamaient la bâtardise comme seule solution à leurs problèmes.“ 248 Hier wird erstens deutlich, dass der Erzähler nicht nur als Individuum, sondern für das Lebensgefühl und die Marginalisierung einer ganzen Generation steht. Die Kollektivierung der Identifikation ist Ziel der Darstellung seines Einzelschicksals. 249 Zweitens zeigt sich durch die Umdeutung (die noch 246 Vgl. Welsch 1992. 247 Überwiegend handelt es sich bei dieser Generation jedoch um männliche Autoren und durch die autobiographische Dominanz auch um männliche Erzähler. 248 Kenzi 1984, S. 66. 249 Auch die Erzählerin in Méchamment berbère von Sif schreibt meist im „nous“, wenn sie ihre Perspektive verorten will und von sich spricht, ist nicht deutlich, welchen Alters die Erzählerin ist, d.h. welche der Schwestern sie ist. Sie ist vielmehr eine Art <?page no="75"?> Die Beur-Generationen 73 nicht seine ist, sondern nur von anderen formuliert wird) der pejorativen Bezeichnung der „bâtardise“, wie hier gerade der Charakter der Vermischung, also die Hybridität, als Potenzial für die Beurs gesehen werden kann. Auf einer formalen Ebene zeichnen sich die literarischen Texte dadurch aus, dass sie autobiographisch erzählt sind und dass sie in einer ‚einfachen Alltagssprache‘ von der individuellen Erfahrung der massiven Ausgrenzungsmechanismen durch die französische Gesellschaft, durch Nachbarn und die französischen Institutionen in Personen von Lehrern und Polizisten erzählen. Die authentische/ realistische Schilderung der Erlebnisse steht im Vordergrund der literarischen Gestaltung. Daraus ergeben sich zwei Perspektiven auf die Romane: zum einen hinsichtlich der Gattung der Autobiographie, zum anderen hinsichtlich der Erzählperspektive. Um noch einmal auf die Untersuchungen Volker C. Dörrs zurückzukommen, so stehen diese literarischen Texte (noch) für das Ziel einer Authentifizierung von Identitäten: Die orale Sprache, die Regio- und Soziolekte, die realistische Schilderung der Vorstädte und die starke Betonung der Familien verweisen auf einen Anspruch, als Zeugen der Diskriminierung aufzutreten. Denn die Texte entstehen zwar in einer Zeit der Politisierung der Beurs - die Narration hingegen ist als eine Art ‚Opfererzählung’ konstruiert. Weniger die Selbstbemächtigung, als vielmehr die Darstellung der (post-)migratorischen Bedingungen und Identifikationen stehen im Zentrum der literarischen Texte. Und daher gibt es eine starke Betonung der individuell erlebten Erlebnisse und Identitätskonflikte, die sich noch nicht im Rahmen einer politisierten Gruppe der eigenen Generation formulieren. Nur Brahim verweist auf das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer für ihn noch obskuren Gemeinschaft. Signifikant ist weiterhin die Erzählhaltung/ die Gestaltung der epischen Distanz in Le sourire de Brahim: Obwohl die autobiographischen Bezüge überdeutlich zu sein scheinen, hat sich der Autor für einen heterodiegetischen, auktorialen Erzähler entschieden, der ihm gleichermaßen die Schilderung der Erinnerungen, Gedanken und Emotionen der literarischen Figuren ermöglicht, wie auch deren äußerliche Beschreibung. Damit kann er sich in einem ganzen Spektrum von Distanz und Nähe bewegen, die Intro- „kollektive Stimme“, die selbst vom Vater, den sie ja auch seines Namens beraubt, nicht mit einem eigenen Vornamen benannt wird: „Le Vieux se méfiait étrangement de nous; des filles, de sombres créatures aux jambes toutes maigres, des succubes qui baragouinent pêle-mêle le berbère et le corse, futures satellites de leur mère à n’en pas douter. […] [qu’]il évitait désormais de nous nommer pas nos prénoms respectifs. Il disait les autres.“ Sif 1997, S. 11 (Hervorhebungen im Original). In Marseille gibt er den drei Schwester sogar nur einen Vornamen, um keinen Verwechslungen ausgeliefert sein zu müssen. Die Bezeichnung als „Le Vieux“ markiert die emotionale Distanz der Schwestern zu ihrem Vater: „Et dire le Vieux était notre père! Difficile pour nous d’en prendre toute la mesure tellement le mot père nous échappait par tous les pores.“ Ebd., S. 71. <?page no="76"?> Die Beur-Generationen 74 spektion ebenso herstellen wie einen Beobachterstandpunkt einnehmen kann. Und während in Kenzis La menthe sauvage und Le sourire de Brahim von Kettane ein anklagender, miserabilistischer Ton vorherrscht, nimmt Lil in Une fille sans histoire die Perspektive eines Kindes ein, das mit infantiler Naivität die politischen, gesellschaftlichen und familiären Erlebnisse schildert. Auch hier stehen die persönlichen und individuellen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Erlebnisse der Protagonistin im Vordergrund. Allerdings trägt die Erzählung der hybriden und problematischen Situation den kulturellen Einflüsse Rechnung, denn die narratologische Konstruktion führt, wie bereits ausgeführt wurde, zu einer Vielstimmigkeit, die die vermeintlich einheitliche kindliche Perspektive zu konterkarieren vermag. So kommen hier unterschiedliche Stimmen buchstäblich zu Wort - durch den style indirecte libre die Meinungen und Gedanken der Nachbarn, in direkter Rede die rassistischen Angriffe auf die Mutter durch französische Polizisten, die Übernahmen der Erzählperspektive von der Mutter durch die Tochter etc. - so dass die Innenperspektive aus der banlieue und der Familie durch viele Perspektiven und Stimmen repräsentiert wird. Distanz und Nähe zum Erzählgeschehen werden unterschiedlich inszeniert; meist werden die Ereignisse im narrativen Modus erzählt. Dass das aber keine emotionale Distanz bedeutet, zeigt sich immer an den Stellen, in denen Diskriminierungen inszeniert werden, die die Mutter betreffen. 250 Die Individualität wird dabei immer an Bezugnahmen auf Kollektive gekoppelt, die Brahim auf einen weiteren Aspekt hin formuliert, denn er beschreibt ein selbstbewusstes Verständnis als Generation, das maßgeblich die Identitätskonstruktionen der nächsten Generationen beeinflussen soll: „Nous, les beurs, on n’a rien à perdre, mais tout à gagner.“ 251 2.2 Die Erzählungen der zweiten Beur-Generation: Die Zwischenraumkinder. „Ni arabe, ni français[...], paumé entre deux cultures“ 252 Madjid, der Protagonist in Charefs Le thé au harem d’Archi Ahmed, formuliert fast programmatisch das Lebensgefühl der Beurs der 1980er Jahre, die sich in 250 Die Verhaftungen des Vaters, die die Protagonistin als Kind scheinbar nicht richtig wahrnimmt, werden in kurzen Passagen „wie nebenbei“ erwähnt. Ein Verhör der Mutter jedoch wird ausführlich beschrieben, in dieser Szene wird in den dramatischen Modus gewechselt. In wörtlicher Rede werden die diskriminierenden Äußerungen wiedergegeben, die die Mutter relativ kleinlaut über sich ergehen lässt. Der Effekt dieser unkommentiert wiedergegebenen Rede, der kein innerer Monolog der Mutter oder die Beschreibung ihrer Emotionen folgt, ist, dass hier kein moralisierender Kommentar mitgegeben wird, sondern die Exklusionserfahrung direkt an die Leserschaft weitergegeben wird. 251 Kettane 1985, S. 150. 252 Charef 1983, S. 17. <?page no="77"?> Die Beur-Generationen 75 einem „Zwischenraum“ befinden, der in den Vororten der großen französischen Städte gelebt und in der Literatur als eigener symbolischer Raum konstruiert wird: […] Madjid se rallonge sur son lit, convaincu qu’il n’est ni arabe ni français depuis bien longtemps. Il est fils d’immigrés, paumé entre deux cultures, deux histoires, deux langues, deux couleurs de peau, ni blanc ni noir, à s’inventer ses propres racines, ses attaches, se les fabriquer. 253 Madjid beschreibt hier ein Selbstbild, das paradigmatisch für jene Beur-Generation der „Zwischenraumkinder“ steht. Anhand exemplarischer Romane soll im Folgenden ein Spektrum an literarischen Identitätskonstruktionen untersucht werden, die sich im Spannungsfeld von arabischen und französischen kulturellen Einflüssen im Spiegel der öffentlichen Politisierung der Beurs in den 1980er Jahren ansiedeln lassen: 254 Neben den Klassikern der Beur-Literatur Le thé au harem d’Archi Ahmed (1983) von Mehdi Charef und Le gone du Chaâba (1986) von Azouz Begag, wird der Reiseroman Les A.N.I. du « Tassili » (1984) von Akli Tadjer untersucht. Weiterhin geht es um jene (autobiographischen) Romane, in denen sich die Beurettes in den patriarchalischen Familienstrukturen und in ihrer Rolle als Frauen gefangen fühlen: Journal: „Nationalité immigré(e)“ (1987) von Sakinna Boukhedenna, Née en 253 Ebd. 254 Exemplarisch für die Anfänge der Beur-Literatur als Dokumentationen, bei denen die Schreibmotivation aus der Politisierung der Beurs resultiert und im Vordergrund der literarischen Texte steht, sei Bouzid 1984 genannt, ein Bericht über den Marche des Beurs und die entsprechenden politische Programme. Ein Jahr nach Le sourire de Brahim veröffentlicht Nacer Kettane, u.a. Gründer von Radio Beur (heute Beur FM) einen weiteren Text, der ebenfalls einen politisch-motiverten Erlebnisbericht während des Protestmarsches darstellt: vgl. Kettane 1986. Weitere Werke dieser Generation sind bspw. Lebkiri 2000, Raïth 1986, Zemouri 1986, Ouahhabi 1988, Paisley 1992, Kédadouche 1996, Smaïn 1990 etc. Einen besonderen Fall stellen die Romane von Leïla Sebbar dar, welche sich explizit nicht als Beurette sondern von Beginn an als croisée versteht, und die intergenerationelle Problematik hinsichtlich der Elterngeneration in den Blick nimmt, vgl. Sebbar 1984. Vgl. weiterhin ihre Shérazade-Trilogie Sebbar 1982, 1985 und 1991. Einen weiteren Text im Hinblick auf die Beurette-Thematik stellt der Roman Ils disent que je suis une beurette von Soraya Nini 1993 dar. Hier beschreibt die Protagonistin Samia Nalib ihre Jugend im Alter von 12 bis 17 Jahren in der cité Mon Paradis in Toulon. Der Roman handelt von der Rebellion der Erzählerin gegen die psychische und physische Gewalt in der Familie, gegen das legitimierte „système du père“, das Vater und der älteste Bruder gegen die Frauen in der Familie durch die Berufung auf die Traditionen und die Religion des Herkunftslandes der Eltern durchsetzen. Die Schwestern stehen unter ständiger Beobachtung und dem Gebot, die Ehre der Familie nicht zu verletzen - ein Überwachungssystem, das die älteste Schwester aus dem Haus treibt. Nur durch die Erfindung einer eigenen Geheimsprache, die „langue S“ (sécurité), einer Mischung aus englisch, verlan und arabisch, können sich die Schwestern im Beisein der Eltern über ihre Gefühle und Erlebnisse austauschen; die Literatur ermöglicht Samia eine Flucht in Romanwelten. Erst sehr spät erkennt sie, dass die Schulbildung einen Weg aus der Familie bedeuten könnte. Schließlich wehrt sich die junge Frau und verlässt am Ende des Romans das Elternhaus. <?page no="78"?> Die Beur-Generationen 76 France. Histoire d’une jeune Beur (1990) von A ssa Bena ssa und Sophie Ponchelet sowie Le voile du silence (1990) von Djura. Farida Belghoul erweitert diese Thematik in Georgette! (1986) noch um den engen Zusammenhang zwischen Identitätskonstruktion und Schrift. Im Zentrum der Analysen stehen Fragen nach den wechselseitigen Affizierungen von Identitätskonstruktionen und chronotopischen Konstruktionen (also der Semantisierung von Raum und Zeit), die Inszenierung von Distanz und (kultureller) Differenz durch Ironie und Humor, der Gender-Aspekt sowie die Inszenierung von Frauenbildern und Frauenrollen, das Spiel von faktualem und fiktionalem Erzählen, welches sich auch in den verschiedenartigen Gestaltungen des autobiographischen Schreibens niederschlägt, sowie die Relevanz der Sprache und der Schrift selbst. Als das Pionierwerk der littérature beur rezipiert bildet Le thé au harem d’Archi Ahmed 255 von Mehdi Charef 256 einen zentralen Orientierungspunkt - wenn nicht das Vorbild - für viele Texte der Beur-Literatur. In jenem autobiographisch geprägten Roman geht es um das Leben zweier Freunde, Madjid, ein Beur, und Pat, ein Français de souche, die sich mit kleinen Gaunereien durch den trostlosen Alltag ihrer Pariser banlieue, die Cité des Fleurs, schlagen und gemeinsam mit ihren Freunden von Geld und Luxus träumen. Arbeitslosigkeit, Drogenkonsum, Prostitution, Kriminalität und Diskriminierungen bestimmen das Leben der Jugendlichen. Madjid kann sich nicht mit den Geschichten und Traditionen der Eltern identifizieren, hat aber auch in Frankreich keine richtige Heimat gefunden - Halt findet er nur in der Freundschaft zu Pat. Im autobiographischen Roman Le gone du Chaâba 257 von Azouz Begag, 258 neben Charef wohl einer der bekanntesten Beur-Autoren, der nicht zuletzt 255 Charef 1983. 256 Weitere literarische Werke von Charef sind Le harki de Meriem 1989, La maison d'Alexina 1999 und A Bras-le-cœur 2006. Der Roman Le harki de Meriem verhandelt die Harki- Problematik, die ausgehend von der zweiten Generation entwickelt und damit dessen Dauerhaftigkeit beschrieben wird. Der junge Sélim, Sohn eines Harki, wird in Reims von einer Gruppe Rechtsradikaler ermordet. Der Roman beschreibt den Umgang der Familie mit diesem Todesfall, zumal die Heimführung des Leichnams nach Algerien nicht erlaubt wird. Selims Vater, Azzedine, erinnert sich an seine Kindheit in Algerien, seine große Liebe und Frau Meriem und seinen Dienst in der französischen Armee als Harki. Er wird gezwungen, gegen seine Landsleute zu kämpfen und schließlich auch nach Frankreich zu flüchten, wo er weiterhin Anfeindungen ausgesetzt ist. 257 Begag 1986. 258 So schreibt Begag, Le gone du Chaâba sei ein Roman, „qui racontait l’histoire de ma vie“, vgl. Begag 1999, S. 21. Azouz Begag ist als einer der bekanntesten und produktivsten Autoren der Beur-Literatur zu bezeichnen. Sein Werk umfasst Romane, Erzählungen, soziologische Studien und Essays, vgl. bspw. Béni ou le Paradis privé 1989a, L‘Ilêt-auxvents 1989b, Begag/ Chaouite 1990, Quand on est mort, c’est pour toute la vie 1994, Begag/ Delorme 1994, Les Chiens aussi 1995, Zenzela 1997, Les voleurs d'écritures suivi de Les tireurs sur les étoiles 2002, Le marteau pique-cœur 2004. <?page no="79"?> Die Beur-Generationen 77 durch sein öffentliches und politisches Engagement bekannt geworden ist, 259 beschreibt der junge Ich-Erzähler Azouz 260 in einem Zeitraum von etwa vier Jahren das Leben seiner algerischen Immigrantenfamilie in den 1960er Jahren in dem selbst errichteten bidonville Villeurbanne, einem Vorort von Lyon, und den Umzug der Familie am Ende des Romans in ein modernes HLM in einer cité. Azouz erkennt, dass ihm nur die Schulbildung und Anpassung einen Ausweg aus der sozialen Misere ermöglichen kann - der Roman erzählt humorvoll seine schulische Erfolgsgeschichte. Der Ich-Erzähler Omar schildert mit Witz und Ironie in dem Roman Les A.N.I. du « Tassili », 261 als A.N.I. („Arabe Non Identifié“) eine Überfahrt auf der Fähre Tassili, die Passagiere von Alger nach Marseille bringt. In diesem Reiseroman kommen viele Passagiere unterschiedlicher Nationalitäten und Migrationserfahrungen zu Wort: Arbeitsemigranten, Touristinnen, Musiker aus der Pariser banlieue, alte und junge Menschen, Männer und Frauen beschreiben ihre kulturellen und nationalen Identifikationen, ihre Familiengeschichten und konfrontieren sich gegenseitig mit ihren Vorurteilen. Der Roman Béni ou le paradis privé gilt als Fortsetzung von Le gone du Chaâba, auch wenn es meines Wissens keine explizite, vom Autor formulierte Intention in dieser Richtung gibt. Der fünfzehnjährige Ich-Erzähler Béni, Kind algerischer Eltern, berichtet über seine alltäglichen Erfahrungen in den HLM von Lyon. Béni legt - ähnlich wie schon Azouz in Le gone du Chaâba - einen relativ selbstbewussten, ironischen Umgang mit den Diskriminierungen, die er in der Schule erfährt, an den Tag. Schulbildung und die Problematik des Analphabetismus seiner Eltern sind abermals zentrale Thematiken. Sein Berufswunsch, einmal Schauspieler zu werden, unterstreicht den spielerischen Umgang mit seinen Identitätsinszenierungen. Seine Verliebtheit in eine Mitschülerin, die bezeichnenderweise auch noch France heißt und die ihn zurückweist sowie die titelgebende Szene, in der er vor einer Diskothek „Le Paradis Privé“ abgewiesen wird, zeugen von dem augenzwinkernden Umgang mit Marginalisierung und Ausgrenzung von französischer Seite. 259 Azouz Begag ist seit 2004 Mitglied des Conseil économique et social und von 2005 bis April 2007 Ministre délégué à la Promotion de l'égalité des chances in der Regierung von Jacques Chirac. Begag zieht sich im April 2007 aus dem Amt zurück, um François Bayrou bei seiner Präsidentschaftskandidatur zu unterstützen. 260 In der gleichnamigen Verfilmung wird der Protagonist interessanterweise in Omar umbenannt, vgl. Ruggia 1997. 261 Tadjer 1984. Akli Tadjer, der wie Charef auch als Regisseur tätig ist, hat in den letzten Jahren folgende Romane veröffentlicht, deren Protagonist - mit Ausnahme von Alphonse - weiterhin den Namen Omar trägt: Courage et patience 2000, in dem Omar den Tod seines Vaters verarbeitet, Le porteur de cartable 2002 und Alphonse 2005, die in den frühen 1960er Jahren die Auswirkungen des Algerienkriegs in Frankreich zwischen den Immigrantenkindern und den Kindern der „rapatriés“ sowie die Erlebnisse des jungen Omar in der Familie seiner Tante in Frankreich erzählen, sowie Bel- Avenir, Flammarion 2006, dessen Protagonisten Omar und sein Freund Godasse als Enddreißiger ihr Leben resümieren, das beide in dem Viertel Bel-Avenir begannen und das sie zu unterschiedlichen beruflichen Positionen in der französischen Gesellschaft geführt hat. <?page no="80"?> Die Beur-Generationen 78 Djura erzählt in ihrer Autobiographie Le Voile du silence 262 ihre Geschichte von der eigenen Geburt bis zur Geburt ihres ersten Kindes. Im Zentrum steht die Auseinandersetzung mit der „condition féminine“ in einer Immigrantenfamilie: die innerfamiliären Konflikte, der Kampf der Brüder und des Vaters um die Familienehre und die ‚Unberührtheit’ der Tochter. Die Protagonistin schildert ihren eigenen Werdegang als Filmemacherin und Sängerin und die schmerzvollen Ablösungs- und Emanzipationsprozesse von ihrer Familie. Der Roman beginnt nach einem Vorwort der Autorin mit einer Rahmenerzählung, die den dramatischen Höhepunkt der Erzählung bereits vorwegnimmt. In Journal: Nationalité immigré(é) 263 von Sakinna Boukhedenna schreibt die zwanzigjährige Sakinna in Tagebucheintragungen und Gedichten ihre Erlebnisse vom 4. Juli 1979 bis zum 24. Oktober 1980 nieder. Sakinna berichtet von ihrem Leben in Mulhouse und Dijon sowie von einigen Reisen nach Algerien. Im Zentrum steht die Klage darüber, in Frankreich eine Araberin und in Algerien eine Immigrantin sein zu müssen. Der (auto-)biographische Roman Née en France. Histoire d’une jeune Beur 264 wurde von zwei Autorinnen geschrieben: von Aïcha Benaïssa (ein Pseudonym) und der Journalistin Sophie Ponchelet. Aïcha schildert ihre Jugend in einer algerischen Immigrantenfamilie in Frankreich, ihre Probleme in der Schule und die Leidensgeschichte unter der gewaltsamen Kontrolle über ihr Leben durch den Vater und ihre Brüder. Sie wird mehrere Monate in Algerien bei ihrer Familie festgehalten und kann - zurück in Frankreich - nur versteckt mit ihrem Partner zusammenleben. In dem Roman Georgette! 265 von Farida Belghoul geht es um ein siebenjähriges Mädchen, das in Konflikt mit den Traditionen und dem kulturellen Wissen ihres Elternhauses gerät, als sie das Schreiben erlernt. Das Spannungsfeld zwischen Vater und Lehrerin wird unerträglich, und die Protagonistin zieht sich immer mehr zurück. Nachdem eine alte Dame sie bittet, fingierte Briefe unter falschem Namen für sie zu schreiben, stirbt die Protagonistin schließlich bei einem (imaginierten) Unfall. 262 Djura 1990. Djura ist als Filmemacherin und Sängerin der Gruppe Djurdjura. La saison des narcisses lautet ihr zweiter Roman von 1993. 263 Boukhedenna 1987. Dieses Tagebuch ist bisher Boukhedennas einziger literarischer Text geblieben. 264 Benaïssa/ Ponchelet 1990. Weitere Werke von Aïcha Benaïssa sind mir nicht bekannt. 265 Belghoul 1986. Farida Belghoul hat meines Wissens keine weiteren Romane veröffentlicht. <?page no="81"?> Die Beur-Generationen 79 2.2.1 In der Gegenwart Celui qui a oublié son passé est condamné à vivre au présent. Azouz Begag: Zenzela Die Gegenwart in der urbanen banlieue des modernen Frankreichs ist die Zeit, in der die Jugendlichen leben, im Gegensatz zum anachronistisch anmutenden Elternhaus, das mit seinen Traditionen und familiären Gewohnheiten eigenartig erstarrt zu sein scheint. Madjid ist in Le thé au harem d’Archi Ahmed von Charef auf seine Gegenwart angewiesen. Denn er selbst kann sich kaum an seine Kindheit erinnern kann, da sein Vater, der nach einem Unfall nicht mehr spricht und von seiner Frau gepflegt werden muss, ihm kein Bild einer Vergangenheit oder einer Familiengeschichte vermitteln kann. Nur Malika, Madjids resolute Mutter, bewahrt die Verbindung zu ihrer Geschichte in Algerien, muss sich aber auch in der Gegenwart der französischen banlieue einrichten. Eine Fernsehshow, in der Tänzerinnen CanCan tanzen, zeigt in einer Passage exemplarisch die Differenz zwischen der Gegenwart des Sohnes und der vergangenheitsbezogenen Mutter: Während Madjid die tanzenden, halbnackten Frauen auf dem Bildschirm begehrt, fühlt sich Malika an ihre eigene Jugend und ihre eigenen Tänze auf algerischen Hochzeiten erinnert. Zwar werden auch in Madjid Erinnerungen aus seiner Kindheit an seine schöne, junge Mutter wach, doch halten sie nur einen kurzen Moment an. So führt der auktoriale Erzähler die Erinnerungen der beiden zwar zusammen, doch sind diese emotional auf unterschiedliche Weise konnotiert: Die Erinnerungen der Mutter sind mit Wehmut verbunden, während sie für ihren Sohn in der Gegenwart bedeutungslos (geworden) sind. 266 Die Figur des Vaters ist paradigmatisch für viele literarische Vater-Figuren der Beurs: Diese sind abwesend, verunsichert und entwurzelt und oft traumatisiert durch den Algerienkrieg und/ oder die Immigration. Auch Madjids Vater ist eine solche Figur: Madjid muss ihn aus der Bar Chez Hamid abholen, in der viele maghrebinische Gastarbeiter sitzen, ihr Heimweh in Alkohol ertränken oder es in den Armen der ansässigen Prostituierten zu vergessen suchen. Teilnahmslos sitzt Madjids Vater am Tresen und in einer langen Passage wird er aus der Sicht des Sohnes und der Familie beschrieben: Er ist ein Invalider, der nach einem Unfall wie ein kleines Kind umsorgt werden muss. Er ist in seiner eigenen Welt gefangen und - das vermutet Madjid mit einer eigentümlichen Sicherheit - befindet sich in Gedanken auf einer Reise zu einer einsamen Insel. 267 Der Vater stellt kein Vorbild, keinen Orientierungspunkt mehr dar. Diese väterliche Absenz prägt Madjid nachhaltig: 266 Vgl. Charef 1983, S. 159f. 267 Vgl. ebd., S. 42. <?page no="82"?> Die Beur-Generationen 80 Le vieux prend la cigarette avec la même éternelle expression dans le regard, un mélange de vide et de lointain. Madjid l’observe un instant, pitié et tendresse montent en lui, l’émeuvent pour son malade de père. Le papa a perdu la raison depuis qu’il est tombé du toit qu’il couvrait. Sur la tête. Il n’a plus sa tête, comme dit sa femme. Elle s’en occupe comme d’un enfant, un de plus. Elle le lave, l’habille, le rase, et lui donne quelques sous pour son paquet de gauloises, son verre de rouge. 268 Formal wird die Gegenwartsbetonung durch die kurzen beschriebenen Zeitabschnitte umgesetzt. Ähnlich dem filmischen Verfahren des Zapping, 269 ist der Roman in viele Abschnitte unterteilt, die meist chronologisch, mit wenigen Analepsen, die Handlung führen. Die Jugendlichen der banlieue leben wie Madjid in der Momenthaftigkeit - in der sie nur unter Drogeneinfluss, nämlich als ein Joint in der Runde der Jugendlichen kreist, Genuss finden und Beton, Angst und Arbeitslosigkeit vergessen können: Moment de méditation et de paix. Au diable l’angoisse, le chômage, le béton. Silence et repos, et un peu de chaleur humaine […] Le temps n’a plus d’importance, seul le moment même, le moment présent, compte. Hier, c’est pas de chance, demain, avec un peu de chance ! 270 Die Ablösung von der Immigrationsgeschichte scheint vollzogen, und der Blick in die Zukunft lässt wenig Hoffnung. Das Lebensgefühl, das diese Generation auszeichnet, ist das des „faire la galère“, 271 des aussichtslosen ‚Herumhängens’ in der banlieue. Die aufgeladene Atmosphäre in der banlieue besteht besonders im Misstrauen gegenüber den Jugendlichen, was Pat, Madjids bester Freund, auf den Punkt bringt: „un jour ce sera la guerre entre les parents et les jeunes de la cité, une guerre à mort. Le cauchemar.“ 272 Ein Krieg zwischen den Generationen scheint der miserabilistische Zukunftsentwurf zu sein, den die Jugendlichen formulieren können; in der Enge der Betonsiedlungen scheint nur die Eskalation denkbar. Erst am Ende des Romans, als die Jugendlichen ihr Viertel verlassen, um ans Meer zu fahren, erscheinen Zukunftsphantasien möglich: Die Aussicht auf die Weite des Meeres beflügelt auch Pat, der sich in einem Tagtraum als Gigolo einer wohlhabenden Bourgeoise imaginiert. 273 Madjid bleibt dabei nachdenklich, fühlt sich unwohl und unterstreicht damit den utopischen, illusionären Charakter von Pats Träumen, aus Armut und Marginalisierung 268 Ebd., S. 41. 269 Ursprünglich handelte es sich bei diesem Roman um ein Drehbuch, das Charef nur zum Roman umarbeitete, weil kein Verlag Interesse gezeigt hatte. Das „Zapping“ verweist so auf die originäre Gattung des Drehbuchs, spielt aber auch auf die Gegenwartsbezogenheit in der französischen Medienkultur an und stellt überdies ein Verfahren der extremen Ausschöpfung der Gegenwart dar. 270 Charef 1983, S. 144. 271 Vgl. Schumann 2002, S. 205ff. 272 Charef 1983, S. 26. 273 Vgl. ebd., S. 180. <?page no="83"?> Die Beur-Generationen 81 in der banlieue auszubrechen. Als die Freunde mit dem Auto von der Polizei angehalten werden, fliehen sie ziellos aus dem Auto in die umliegenden Felder 274 - nur Madjid bleibt apathisch, müde und allem überdrüssig im Auto sitzen. Er lässt sich widerstandslos verhaften. Als das Polizeiwagen weiterfährt, wartet plötzlich Pat am Wegesrand und steigt zu Madjid in das Polizeiauto. 275 Die Ausflucht aus der Marginalisierung scheint nicht möglich: Die Jugendlichen kommen nicht einmal am Meer an, die Sehnsucht nach Freiheit und einem anderen Leben bleibt bloße Phantasie - die französische Staatsgewalt hält die Jugendlichen zurück. Doch am Ende des Romans wird ein Hoffnungsschimmer gegen diese miserabilistische Skizze des Lebens der Beurs gesetzt: Pat solidarisiert sich mit Madjid und lässt sich zurück in die Realität der banlieue bringen. Es scheint - und dies wird im Folgenden in der topologischen Verortung in der banlieue deutlich - dass die Freundschaft der Jugendlichen das stabilisierende Moment ist, deren Band durch die gleiche soziale Marginalisierung und die tristesse der Situation der Jugendlichen aus der banlieue (und nicht durch ethnische Zugehörigkeit) geknüpft ist. Die erzählte Zeit umfasst in Le gone du Chaâba etwa vier Jahre, in denen der Ich-Erzähler Azouz sein Leben in seinem Wohnviertel, besonders aber seinen schulischen Werdegang von der Grundschule bis ins Lycée in den 1960er Jahren beschreibt. Die Erlebnisse während seiner Kindheit mit den Viertelbewohnernn prägen seine Erzählungen, die aber immer noch deutlich durch die Immigrationsgeschichte und die Herkunft der Eltern geprägt sind. Die Bewohner der bidonvilles, und dies wird im Zusammenhang mit den topologischen Analysen näher analysiert, finden sich wie vor ihrer Immigration nach Frankreich als Dorfgemeinschaft auch in den französischen Vorstädten wieder. Hier pflegen sie weiterhin ihre Sprache und ihre religiösen Traditionen, so dass der identifikatorische Bruch zwischen den Eltern und den Kindern erst mit dem Besuch der Schule einsetzt. In Tadjers Les A.N.I. du « Tassili » ist die Zeit der Überfahrt für die Reisenden bestimmend - die Geschichte, die sich zwischen ihnen entspinnt, ist zwangsläufig auf diese Zeit beschränkt und nehmen ihren Ausgangspunkt in der Gegenwart, die die Figuren miteinander teilen und von der aus Erinnerungen, Meinungen und Wahrnehmungen ausgetauscht werden. Auf diese Weise durchbrechen einige Erinnerungen, Träumereien, 276 intradiege- 274 Diese Passage spielt sich in der Verfilmung des Romans interessanterweise am Meer ab. Dort sitzt Madjid teilnahmslos am Strand und betrachtete melancholisch den unerreichbaren Horizont. Durch diese Bilder wird die Sehnsucht nach der Ferne, der unmögliche Ausbruch aus dem urbanen Elend in der banlieue noch verstärkt - und gleichzeitig die Möglichkeit alternativer Lebensmodelle wie in Pats Traum oder schlicht nur die Möglichkeit einer Abreise und eines Ausbruchs aus der banlieue konterkariert. Zur ästhetischen Gestaltung der Zwischensituation der Beurs im cinéma beur vgl. meine Überlegungen in Struve 2007b. 275 Vgl. Charef 1983, S. 182ff. 276 So denkt er immer wieder an Safia zurück, in die er sich offensichtlich in Frankreich verliebt hat, vgl. Tadjer 1984, S. 133. <?page no="84"?> Die Beur-Generationen 82 tische Erzählungen/ Märchen und Szenarien sowie am Ende tatsächlich die Erzählungen von Alpträumen die chronologische Reise. Der Antagonismus von Gegenwart und Vergangenheit ist besonders für die Beurettes von Bedeutung. In Bezug auf die Geschlechterverhältnisse und -hierarchien gerät die Erzählerin in Djuras Le Voile du silence zunehmend in einen Kulturkonflikt: Comment pouvais-je imaginer, à treize ans et en France, que je subirais cette loi jusqu’au bout, ou presque ? Car enfin, ces principes étaient ceux de la Kabylie ancestrale. A Paris, ces obligations surannées semblaient avoir perdu la rigueur. 277 In dieser Passage stehen inkommensurable Konzeptionen von Zeit, Raum und Geschlechterverhältnissen einander gegenüber : In einer binären Oppositionsstruktur stehen die kulturellen Prinzipien der Unterdrückung der Frauen, die historischen (veralteten, da „surannées“) Ursprungs in der Kabylei sind, gegen die französischen, modernen Prinzipien im Paris der Gegenwart. Es wird eine arabische, rückständige und vergangenheitsbezogene Peripherie im Gegensatz zu einem französischen, modernen und in der Gegenwart gelebten Zentrum konstruiert. 278 So stellt die Protagonistin fest, dass sie immer weniger in der Familie arabisch oder kabylisch spricht - die Kinder spielen nicht mehr die kabylischen Märchen und Legenden nach, sondern vornehmlich französische Geschichte(n): die Ritter der Tafelrunde oder die Drei Musketiere. Verschwinden die Märchen in den Köpfen der Kinder, so schwindet auch die kulturelle (hier: nationale) Identifikation mit Algerien: Adieu Kahina, les sorcières des montagnes kabyles, les légendes du Djurdjura : nous avions changé de héros et tandis que nos oncles, là-bas, repoussaient la France pour devenir totalement algériens, nous, les enfants nés en Algérie mais qui vivions en France, nous devenions de plus en plus français. 279 Hier wird die Ablösung von der Elterngeneration in ihrer Prozessualität ganz deutlich: Es zeigt sich durch die Parallelsetzung der algerischen mythischen Figur der Kahina mit den im Algerienkrieg kämpfenden Onkeln, dass 277 Djura 1990, S. 54. 278 Zu Beginn des Romans geht es auch um den Algerienkrieg, der just zu dieser Zeit ausbricht. Auch wenn die Ereignisse in Algerien für die Protagonistin abstrakt und fern bleiben, so spürt sie doch die Auswirkungen: Dieser Krieg führt die emigrierten Familien in Frankreich in einer Art verzweifelten Solidarität eng zusammen, eine naive Hoffnung, dass der Kampf gegen die Ungerechtigkeit und das Elend in Algerien auch die Zustände in Frankreich wird bessern können, vgl. ebd., S. 44. So fallen die Gegenwart in Frankreich und die Gegenwart in Algerien zusammen, die Protagonistin lebt gewissermaßen in beiden Ländern in der Gegenwart, eine Art doppelt kulturell kodierte Gegenwart. Und auch die unterschiedlichen Jugendbanden, die Franzosen auf der einen und die algerischen Immigrantenkinder auf der anderen Seite, spielen außerhalb der Schule den Algerienkrieg nach: „avec un semblant de conscience politique qui n’était autre que le défoulement de nos énergies, et de notre rébellion contre la pauvreté [...].“ Ebd, S. 45 279 Ebd., S. 45f. <?page no="85"?> Die Beur-Generationen 83 für die Kindergeneration das Geschehen in Algerien weit entfernt ist. Dabei handelt es sich für die Kinder immer um Erzählungen und (fiktive) Geschichten - eben um Mythen. Der Abstand ist also zum einen eine Differenz, die sich im fiktionalen oder gar fiktiven Charakter der Geschichte darstellt. Zum anderen wird hier aber auch die Doppelbewegung beschrieben, die schlussendlich die Generationen auseinander driften lässt: Während die Generation der Eltern (in Form der Onkel also die Brüder der Eltern) gegen die Franzosen kämpfen, um vollständige („totalement“) Algerier zu werden, werden die Kinder immer mehr zu Franzosen - auch wenn sie in Algerien geboren sind. Die Gleichzeitigkeit der französischen und algerischen kulturellen Konditionen bekommt die Protagonistin besonders ab dem Beginn ihrer Pubertät mit 13 Jahren zu spüren. Ihr Bruder überwacht und schlägt sie mehr denn je, die Mutter flieht nachts vor den Schlägen und Wutausbrüchen ihres Mannes immer wieder zu einer Nachbarin, während dieser seine Wut an seiner Tochter auslässt. Kontakte zu anderen Jugendlichen und besonders zu männlichen sind ihr strengstens untersagt, die Protagonistin hält sich daran in Gedenken an ein algerisches Sprichwort: „Pour une fille, il n’y a que le mariage ou la tombe“. 280 Der Kulturkonflikt, der hier beschrieben wird, der zwischen der rigiden, traditionellen Rolle der algerischen Frau und in der Familie der Protagonistin und dem modernen, liberalen Selbstverständnis der Frauen in Frankreich konstruiert wird, zeigt, wie kulturelle und geschlechter(politische) Differenzen interferieren. Die Verbundenheit mit der Vergangenheit und den Geschichten Algeriens ist für die Erzählerin in Boukhedennas Journal: Nationalité immigré(e) zunächst sehr stark: In dem Motto des Tagebuchs benennt sie die Orientierung an der Vergangenheit, die zukunftslose Gegenwart: „Le passé de nos parents, c’est notre présent, et notre présent de deuxième génération sans nationalité a-t-il un futur ? “ 281 Die eigene Immigrationsgeschichte oder die der Eltern wird allerdings gar nicht erzählt, die Erzählerin schreibt in ihrem Tagebuch, das ja als Genre gerade für die Gegenwartsbetonung prädestiniert ist, nur sporadisch über Erinnerungen aus der Kindheit. Die Verbindung zu Algerien ist vielmehr über seine Mythen und Literatur gegeben, die die Grundlage der Gegenwart der jungen Frau bilden. 282 Hier liegt ihre Vergangenheit, die sie nun als abgeschlossen betrachtet, auch wenn sie ihre Gegenwart prägt: „Le passé est le passé et le présent est sa suite.“ 283 Auch für Aïcha in Benaïssas Née en France: Histoire d’une jeune Beur gibt es keinen Bezug zu ihrer Kindheit: Ihre Kindheitserinnerungen setzen für sie 280 Ebd., S. 54. 281 Boukhedenna 1987, S. 5. 282 Sie sieht sich bspw. als Tochter der algerischen Kriegerin Cahina, die während der arabischen Invasion die moslemischen Angreifer in die Flucht schlug. Und die Geschichte von Nedjma des algerischen Autors Kateb Yacine empfindet sie als Spiegel ihrer eigenen Geschichte. 283 Boukhedenna 1987, S. 96. <?page no="86"?> Die Beur-Generationen 84 erst im Alter von zwölf Jahren ein. 284 Der Erzählung, die in drei Abschnitte gegliedert ist, ist ein Brief vorangestellt, in dem sich die Absenderin Aïcha aus Algerien an den Direktor ihres Lycées wendet, in dem sie ihn bittet, sie aus ihrer Zwangsehe zu befreien. Dieser Brief funktioniert als eine Art Paratext, in dem die Erzählerin in der testimonialen Textform des Briefes für (auto-)biographische Authentizität bürgt und die Handlung in den 1980ern verortet. Zahlreiche Prolepsen, in denen Aïcha ihre Erinnerungen immer wieder mit ihrer gegenwärtigen Situation verwebt, stehen paradigmatisch für den starken Gegenwartsbezug der Erzählerin. Aïcha nimmt für ihre Selbstbeschreibung wie selbstverständlich die Geschichte ihrer Eltern zum Ausgangspunkt. Es wird angedeutet, dass es eine Familientradition der Unterdrückung der Frauen und der Zwangsheirat gibt. Die Erzählerin weiß nur wenig über die Vergangenheit ihrer Eltern und ihre Familien von ihrer Mutter: „Avec elle, je discute souvent du passé, beaucoup plus facilement qu’avec mon père.“ 285 Diese Lücken im Familiengedächtnis setzt sie parallel zu dem Schweigen über den Algerienkrieg, den sie als Tabu wahrnimmt. 286 So ist es weniger Vergangenheit und die Immigrationsgeschichte der Eltern, die als chronologischer Bezugsrahmen zur Verfügung steht, sondern ein diffuses Zugehörigkeitsgefühl zur Gegenwart Frankreichs. Belghouls Roman Georgette! stellt die Inszenierungen der Gegenwartsbezogenheit in Abhängigkeit zur condition féminine der kindlichen Erzählerin her und und erweitert sie um einen weiteren Aspekt: den der Schrift. Aus der Perspektive eines Kindes kann schon aufgrund ihres Alters nur die Gegenwart erzählt werden. Darüber hinaus werden die Erlebnisse der Protagonistin bewusst nicht als Erinnerungen an die Kindheit konstruiert, sondern als Erlebnisse aus der Innensicht des Kindes selbst. Schließlich bedingt auch die Absenz der Immigrationsgeschichte der Eltern ihre Gegenwartsbezogenheit: Der Vater erzählt trotz der körperlichen und besonders stimmlichen Präsenz nie von seiner Vergangenheit, sondern lebt, arbeitet und leidet im gegenwärtigen Frankreich. Der Roman in drei Teilen ist in der Form des inneren Monologs geschrieben in einer kindlichen, stark an das Gesprochene angelehnten Sprache. Das Präsens dominiert die Erzählung, Analepsen und Prolepsen erschließen sich nur durch den Kontext oder Absatzmarken. 287 Ferner lässt die Erzählerin die Leserschaft im Unklaren darüber, ob es sich bei den in den inneren Monolog eingeschobenen intradiegetischen Exkursen um Phantasien oder um Erinnerungen an Erlebnisse handelt. Dieses fin- 284 Vgl. Benaïssa 1990, S. 19. Als älteste von fünf Geschwistern beschreibt sie sich durch die Positionierung innerhalb der Familie und die elterliche Liebe, die sich auch nicht dadurch trüben lässt, dass sie von den Verwandten als minderwertig, da nur als Mädchen geboren, betrachtet wird. Diese Liebe hat sie immer zu schätzen gewusst, auch wenn sie - so deutet die Erzählerin schon zu Beginn des Buches an - zu Konsequenzen führt, unter denen Aïcha wird leiden müssen. 285 Ebd., S. 16. 286 Vgl. Belghoul 1986, S. 18. 287 Vgl. bspw. ebd., S. 37ff. <?page no="87"?> Die Beur-Generationen 85 gierte 288 Spiel mit faktualer und fiktionaler Erzählung unterstreicht nicht nur den unsicheren Status der Protagonistin als erzählendes Subjekt, sondern auch die Subjektivität von Erinnerungen und Sinneseindrücken. Die Wahrnehmungen der Protagonistin werden, einer kindlichen Erzählerin gemäß, die eben (noch) nicht zwischen Realität und Phantasie unterscheiden kann, nicht nach ihrem rationalen Status hierarchisiert, sondern in einem inneren Monolog ‚gleichwertig’ zu einer Weltsicht zusammengefügt. Die Erzählerin verzichtet also bewusst - auch bedingt durch den inneren Monolog, der auf Explizierung verzichten kann - auf eine deutliche Unterscheidung zwischen Erinnerung, Imagination, Halluzination und (Traum-)phantasien. Diese gedanklichen Abschweifungen liest Michèle Bacholle als Indikatoren dafür, 289 dass Belghoul hier eine rhizomatische Schreibweise entwirft - eine Metapher, die für die hier zu entwickelnde écriture transculturelle beur wichtig ist und wieder aufgenommen wird. Der Bezug zur Gegenwart ist in der zweiten Generation von zentraler Bedeutung. Inszeniert wird diese Gegenwartsbezogenheit durch die auffällige Absenz der Vaterfiguren und durch den Verlust der Bindung an die Geschichten und die Vergangenheit Algeriens - weder besteht die Möglichkeit, Anbindungen an die verlorene Vergangenheit der Eltern zu knüpfen, noch, identitätsstiftende Zukunftsvisionen zu entwerfen. Die literarischen Figuren verfügen über keine gefestigte Identifikation durch ihre Eltern oder fühlen sich der französischen Kultur vollständig zugehörig. Die eigene Zeit, die zwar weitestgehend chronologisch verläuft, aber durch Analepsen und Prolepsen aufgefächert wird, verweist nur zusätzlich auf die Betonung der Gegenwart der Erzähler und Erzählerinnen. Der Umgang mit dieser präsentischen Chronologie ist unterschiedlich, mal spielerisch und ironisch distanziert wie etwa in Tadjers Les A.N.I. du « Tassili », mal wird sie als Gefängnis konturiert, wie in den Texten der Beurettes. Wie der Vergangenheitsbezug zur Geschichte der Eltern problematisch wird, so sind auch Zukunftsvisionen unmöglich. Ein Leben im Versteck ohne Familienbindungen wie in Journal: Nationalité Immigrè(e) von Boukhedenna, Benaïssas Née en France: Histoire d’une jeune Beure oder Djuras Le Voile du silence, ein inszenierter Tod wie in Belhouls Georgette! sind Ausdruck dieser Ausweglosigkeit. Freundschaft und schulischer Erfolg, Humor und Ironie wie in Le thé au harem d’Archi Ahmed von Charef, Begags Le gone du Chaâba oder eben Tadjers Les A.N.I. du « Tassili » sind erste Versuche eines distanzierenden, kreativen Umgangs mit der sozialen Misere und Marginalisierungen. Und analog zu der starken Gegenwartsbezogenheit wird auch die lokale Identifizierung wichtiger: die Lebenswelt der banlieue im konfliktuellen Feld zwischen Elternhaus und Schule. 288 Vgl. Martinez/ Scheffel 2003, bes. S. 13. 289 Vgl. Bacholle 2000, S. 153f. <?page no="88"?> Die Beur-Generationen 86 2.2.2 Im Exil, im Nirgendwo, im Zwischenraum Moi, je n’étais de nulle part. Ou peut-être d’une diaspora. Sakinna Boukhedenna: Journal: Nationalité immigré(e) Die wechselseitige Affizierung von Räumen und subjektiven Empfindungen und Wahrnehmung sind bei der Identitätskonstruktion dieser Beur-Generation der „Zwischenraumkinder“ symptomatisch. In der Zusammenschau der literarischen Texte ergeben sich so Topoi im doppelten Sinne des Wortes: Es handelt sich sowohl um Schauplätze als auch um metaphorische, affektiv besetzte Topoi. Im Folgenden sollen die Identifikationen an signifikanten imaginierten Orientierungspunkten untersucht werden - analog zu den in der ersten Generation beschriebenen Raumkonstruktionen, die in dieser zweiten Generation allerdings anders funktionalisiert und bewertet werden: zunächst die Nationen Algerien und Frankreich als Orte der Gegensätze, dann das Elternhaus als Ort der Sicherheit und Verunsicherung sowie der Restriktion, anschließend der Raum der banlieue und des Freundeskreises als Sphäre der Solidarität und Selbstversicherung am Rand der Stadt und Gesellschaft und schließlich 4. die Schule als Ort des Wissens und der Schrift. 2.2.2.1 Zwischen Frankreich und Algerien - Orte der Gegensätze und der Ablehnungen Die Bindungen zu den beiden Nationen Algerien und Frankreich nehmen in den meisten literarischen Texten der zweiten Generation eine zentrale Rolle ein. Zentrale Momente werden in Les A.N.I. du « Tassili » von Tadjer im Hinblick auf die Bezugnahme auf diese geographischen Räume als Nationen bzw. Staaten erzählt: die Passkontrolle an der algerischen Grenze, auf die ich noch zurückkommen werde, ein ganzes Spektrum an Verortungen in Frankreich und Algerien, die anhand der Figuren der anderen Reisenden zum Ausdruck kommen, und die Reise selbst, die die literarische Gestaltung der Nationen ‚in Bewegung bringt’. Die weiteren Passagiere sind Arbeitsemigranten, ein Paar „black-panards“, französische, algerische Reisende und ein belgischer Tourist, zwei junge Frauen „tiers-mondistes“, Féfér, der Gitarrenspieler aus der banlieue, und schließlich Hakim, der gemeinsam mit seinem Vater reist. 290 Neben der Bewegung und der Reise ist ein weiteres wichtiges Thema das der Stabilität. Als vermeintlicher Garant dafür steht die „Heimat“. Der Erzähler Omar selbst ist dabei weder an die französische, noch an die algerische Nation geknüpft: sein „chez soi“ ist, wo seine Eltern und seine Freunde wohnen. Er fährt im Gegensatz zu vielen Passagieren in seiner Wahrnehmung nicht ins Exil, 291 sondern zurück in seine Heimat: 290 Vgl. Tadjer 1984, S. 83ff. 291 Chérif formuliert das Dilemma seiner Vorbildfunktion als Vater in einer Exilsituation: Er arbeitet in Europa, während er seine Familie in Algerien zurücklassen muss. Seine <?page no="89"?> Die Beur-Generationen 87 Eh oui! je suis heureux de partir de « chez moi » pour rentrer « chez moi ». Heureux de savoir que, de l’autre côté de la grande bleue, en banlieue parisienne, dans une cité de HLM comme il en existe des milliers, mes parents, mes amis m’attendent. 292 Signifikant ist zudem die doppelte Verortung bzw. die zirkuläre Bewegung, die Anfangs- und Zielpunkt miteinander verbindet: Omar fährt von seiner Heimat in seine Heimat. Sein Zuhause ist nicht an einen Staat oder eine Nation geknüpft, sondern ein urbaner Ort, wie es tausende andere gibt, wo aber seine Freunde und Familie leben. Damit konterkariert er den Heimatbegriff und löst ihn von einer geographischen Bindung, um ihn an eine soziale Komponente, nämlich die Verbindung zu Eltern und Freunden als soziales Netzwerk, zu binden. Omar selbst lokalisiert seine Heimat in der Pariser banlieue, als die französische Mitreisende Nelly ihn danach fragt: „Appelezmoi Omar de la Garenne-Colombes ! “ 293 Hier macht Omar seine Verortung in der französischen Provinz sehr deutlich, situiert sein Heimatland in der Region, in der er aufgewachsen ist - und gerade nicht auf nationaler Ebene in Frankreich als Gegen-Nationalität zu Algerien. Vielmehr entlarvt er Nellys Zuschreibungen als Stereotyp und karikiert sie: - Ouais, tu sais moi, j’suis pas tellement balèze en problèmes algériens…La banlieue parisienne, c’est plus mon truc… - Mais l’Algérie c’est ton pays… Je ne l’écoute pas. Je connais leur baratin… Ton pays… Tes racines… Ton drapeau… Ton père… Ta mère… Tes frères… Tes cousins… Les moutons… Tes dattes… Tes pois chiches… La nostalgie… J’en passe, et des meilleures. 294 Als Nelly anschließend wissen möchte, ob er sich eher Frankreich oder Algerien zugehörig fühle, weist Omar dies in einer rhetorischen Wendung zurück; denn normalerweise würde er nur danach gefragt, ob er zwischen Melancholie kulminiert in seiner Trauer um seinen Sohn, der ohne seinen Vater aufwachsen muss und dem sein Vater kein Vorbild sein kann: „Faut surtout pas qu’il ressemble à son père...Pas qui fasse le même métier que son père...“ Tadjer 1984, S. 107. Seine Einsamkeit im französischen Exil ist für ihn ebenso belastend wie das Wissen, das er seinen Kindern kein Vorbild sein kann, weder in seinem Beruf noch in seinem Bildungsstand: „Non, Omar, c’est pas une vie. [...] Moi, j’aimerais bien leur corriger leurs devoirs... (Il sourit: ) Je dis ça, mais je sais même pas lire… Eh oui ! c’est dur l’exil…“ Ebd., S. 107. Mit einer Einladung auf ein Bier kann Omar den alten Mann seiner Melancholie entreißen, die er eher distanziert als „léthargie immigronostalgique“, ebd., S. 108 bezeichnet. Und im Zusammenhang mit dem Arbeitsemigranten, die ihre Heimat verlassen müssen, stellt Chérif fest: „Alors, comme tous les déracinés, ils n’auront d’autre espoir que de saisir un sourire sur les lèvres d’un enfant qui leur demandera : ‚C’est loin d’où tu viens, monsieur ? ’ Eux souriront et répondront, désabusés : ‚Tu sais, mon fils, tous les chez moi mènent ailleurs…’“ Ebd., S. 20. Hier betont der alte Mann sein Immigrantendasein und dreht die Perspektive um: nicht alle Wege führen zu einem bestimmten Ort, sondern als Migrant führen alle seine Beheimatungen in andere Richtungen. 292 Ebd., S. 20. 293 Ebd., S. 151. 294 Ebd., S. 73. <?page no="90"?> Die Beur-Generationen 88 zwei Stühlen sitze. 295 Und so antwortet Omar, dass er gar nicht wählen will und muss, da er beides besitzt und dass gerade sein Stage in Algerien zum Ziel haben sollte, die Beziehung zu Algerien zu intensivieren, um nicht halbseitig gelähmt zu sein: „D’ailleurs pourquoi choisir, puisque j’ai les deux...Je ne veux pas être hémiplégique. Mais pour éviter la paralysie d’une partie de mon cerveau il a fallu que j’investisse énormément d’argent…“ 296 Analog zu dem Begriff der A.N.I, dessen Erläuterung später noch erfolgt, greift Omar hier auf eine physische Analogie zurück und vergleicht seine unvollkommene Hybridität mit einem körperlichen Gebrechen, das ihn unbeweglich macht; nur die Pflege beider Einflüsse hält ihn gesund und aktiv. Omar neidet dem alten Arbeitsimmigranten Abou die Schlichtheit seines Lebensmottos, denn er definiert Heimat schlicht als Gegenwart: „Mon pays, c’est où j’dors le soir.“ 297 Omar aber wünscht sich, seine „arabité“ zu zähmen und mit ihr im Jetzt Frieden schließen. Doch die personalisierte „arabité“ verwehrt ihm die Identifikation: „ANI tu es, ANI tu resteras.“ 298 Doch Omar sagt ihr humorvoll und fast zynisch den Kampf an, spricht sie direkt an („Mais fais gaffe à toi arabité“ 299 ) und verspricht ihr schließlich: „Tu sauras ainsi, grande folle, qu’on ne s’amuse pas impunément avec un ANI à tête chercheuse d’identité...“ 300 Hier wird deutlich, und dies verbindet den Roman von Tadjer mit vielen, besonders aber mit dem literarischen Werk von Begag, dass sich hier ein gewisser Pragmatismus mit dem humorvollen Umgang mit der Situation der kulturellen Markierung zeigt. Humor und ein ironischer Umgang ermöglichen so die Distanzierung und damit eine Art Bemächtigung von dem diskriminierenden und rassistischen Diskurs, der hier personalisiert zu ihm spricht. Am Ende des Romans kommt die französische Küste in Sicht, Beiboote holen die Passagiere ab und bringen sie ans Festland. Chérif, Féfer und Omar fahren noch gemeinsam gen Paris, die anderen verliert Omar aus dem Blick. 301 Bedeutsam ist auch hier die unabgeschlossene Ankunft: Wie die Abfahrten am Ende vieler der hier untersuchten Romane, wird auch in Les A.N.I. du « Tassili » die Ankunft nur angedeutet aber nicht formuliert - ein paradigmatisches Ende für die Existenz der Beurs, die sich stets zwischen unterschiedlichen Polen und Räumen bewegen, aber nie ankommen. Diese Auflösung und Umschreibung findet ihre Entsprechung in der Bewegung 295 Vgl. ebd., S. 173. Algerien ist für Omar kein Land, in dem er sich lang aufhalten kann, was sich nicht nur durch die Kürze und die Bezeichnung, dass Omar einen „Aufenthaltsrekord“ aufstellen will, ausdrückt, sondern auch darin, dass er den berühmten Persönlichkeiten, von denen in Algérie autrement die Rede ist, keine Zukunft zubilligt („des célébrités du monde politique algérien dont l’avenir se conjuguerait plutôt à l’imparfait...“). Ebd., S. 74. 296 Ebd., S. 174. 297 Ebd., S. 186. 298 Ebd., S. 187. 299 Ebd. 300 Ebd. 301 Vgl. ebd., S. 190. <?page no="91"?> Die Beur-Generationen 89 der Reise, auf der sich Omar befindet: Der Ort des Sprechens des Protagonisten liegt auf einem Schiff, auf dem Weg - und eben an einem unbestimmten und unbestimmbaren Ort - zwischen Algerien und Frankreich. Der Erzähler fasst dies mit der paradoxen Metapher einer flottierenden Insel zusammen, die zugleich ironisch auf das französische Dessert verweist: „cette immense île flottante motorisée“. 302 Die Rauminszenierungen und die affektiven Bindungen an Frankreich und Algerien werden durch das Genre des Reise-Romans bestimmt. Die Länder und Nationen Frankreich und Algerien spielen in Les A.N.I. du « Tassili » eine zentrale Rolle - allerdings werden sie aus der Perspektive eines Reisenden formuliert: Die Reise zwischen den beiden Nationen ermöglicht ein Spiel mit Zuschreibungen, Stereotypen und selbstironischer Distanzierung. Der Roman ist sehr dialoglastig und wirkt - obwohl auf der Reise auf dem Mittelmeer - eher wie eine Art Kammerspiel, das mal an Deck der Fähre, mal in der Bordkantine oder am Kiosk spielt. In den Dialogen tauchen regieanweisungsartige Einschübe auf, die die Handlungen, Mimik und Gestik der Protagonisten beschreiben. 303 Die Dominanz der mündlichen Rede und der dramatische Modus werden noch durch die unterschiedlichen Sprachregister - wie auch in den anderen literarischen Texten dieser Generation - wiedergegeben: Soziolekte wie eine massive Jugendsprache, arabisiertes Französisch unterstreichen den sozialrealistischen Ton. Für einige liegt die Heimat zwischen den Ländern an einem anderen Ort. Der persönliche Raum zwischen den Nationen Algerien und Frankreich wird paradigmatisch in der Widmung von Boukhedennas Journal: Nationalité immigré(e) formuliert: J’ai écrit ce journal à la mémoire de tout jeune immigré(e) qui rentre dans sa terre arabe et qui découvre soudain le sens amer de l’exil. Toutes ces jeunes femmes immigrées, tous ces jeunes hommes immigrés qui grâce au mensonge et à l’illusion du retour et aussi, grâce à l’esprit colonialiste qui règne à l’Ecole française, sont devenus les : NATIONALITÉ : IMMIGRÉ(E) Le passé de nos parents, c’est notre présent, et notre présent de deuxième génération sans nationalité a-t-il un futur ? C’est en France que j’ai appris à être Arabe, C’est en Algérie que j’ai appris à être l’Immigrée. 304 In diesem Motto kommen zentrale Aspekte der Beur-Literatur zum Ausdruck: die Enttäuschung über den Rückkehrwillen der Eltern, der sich zum Rückkehrmythos oder zur Rückkehrillusion und -lüge entwickelt im Sinne einer unmöglichen Rückkehr nach Algerien (zur „terre arabe“), das Zurückgeworfensein auf den Status der Exklusion, oder wie hier, des Exils, die 302 Ebd., S. 155. Und die Passagiere verortet Omar nun auf der Tassili selbst: „blackpanards du Tassili“ und „petit Wallon du Tassili [...].“ Ebd. 303 Vgl. ebd., S. 106ff. 304 Boukhedenna 1987, S. 5. <?page no="92"?> Die Beur-Generationen 90 kolonial geprägte Bildung in der französischen Schule, die die Jugendlichen zu Immigranten degradiert, welche wiederum diesen Raum kreativ nutzen, indem sie ihrer Generation einen eigenen (National-)Status als Immigranten erfinden. Während hier das Immigrantendasein noch für die Etablierung einer eigenen Nationalität genutzt wird, spricht Madjids Mutter dem jungen Protagonisten in Le thé au harem d’Archi Ahmed von Charef gar eine Zugehörigkeit ab. Obwohl er seine wenigen Kindheitserinnungen als an das Gefühl der Desorientierung gebunden beschreibt, kann er sich doch genau an den Ankunftsbahnhof in Paris und den Wohnort erinnern. Dagegen steht die Orientierungslosigkeit der Mutter, 305 die zwischen den Kulturen verloren zu sein scheint („Malika avait gardé son voile, perdue entre deux civilisations.“ 306 ) und die Fremdartigkeit des Vaters, den er gar nicht wiedererkennt. Die Formulierung „verloren zu sein“ („perdue entre deux civilisations“) wird von der Mutter zu Beginn des Romans auf ihren Sohn übertragen, dem sie genau dieses Gefühl der existenziellen Haltlosigkeit prophezeit, wenn er nicht den Militärdienst in Algerien absolviert und damit das Recht auf Papiere und die Einreise in das Land verliert: „T’auras plus de pays, t’auras plus de racines. Perdu, tu seras perdu.“ 307 „Je suis Arabe, j’aime ma race, je suis fière d’être Algérienne immigrée, pourquoi Arabe doit vouloir dire pour les Arabes, sois ma sœur, ma mère ou reste une pute ? “ 308 fragt die Erzählerin in Boukhedennas Journal: Nationalité Immigré(e) und formuliert damit eine kulturkritische und gleichzeitig feministische Perspektive. Die Erzählerin beschreibt sich im Laufe des Tagebuchs nicht nur als „arabe“, sondern als „Algérienne immigrée“, „orientale“ oder als „immigrée“. 309 Die unterschiedlichen Selbstbezeichnungen spiegeln die unsicheren und zugleich vielfältigen Verortungen der Protagonistin wider - immer aber beschreibt sie sich in ihrer Alterität, also als Fremde. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Verschränkung von feministischer und kolonialer Perspektive: In ihrer Argumentation gelangt die Protagonistin dann auch von der Unterdrücktheit der arabischen Frauen zur Diskriminierung der arabischen Immigranten in Frankreich und hinterfragt die eigene Rolle in diesen Marginalisierungsprozessen. 310 Sie ist innerlich wie äußerlich kultu- 305 Nur wenn ihre Cousins und Cousinen ab und an zu Besuch kommen, blüht die Mutter durch die lebendig werdenden Erinnerung förmlich auf: „Le dimanche après-midi, elle retrouvait ses couleurs parce qu’on parlait du pays.“ Charef 1983, S. 119. 306 Ebd., S. 116. 307 Ebd., S. 17. 308 Boukhedenna 1987, S. 53. 309 „Je prends de plus en plus conscience que la civilisation occidentale n’est pas la mienne. Je suis orientale, je fais partie d’un peuple arabe. Je me sens de plus en plus exilée, déracinée, l’arbre de ma culture fleurit en moi. […] Si seulement les Français pouvaient prendre conscience que notre culture n’est pas une culture inférieure. Nous sommes Arabes noyés dans l’interdit français.“ Ebd., S. 67. 310 Vgl. ebd., S. 55. <?page no="93"?> Die Beur-Generationen 91 rell markiert: „Je porte le henné comme un tampon, une marque d’identité“ 311 - und stellt ihr Selbstbild in das Licht des Fremdbildes der Franzosen: J’ai un sentiment d’amertume, de dégoût de cette patrie française, dans laquelle, je m’en rends compte, on nous a acculturés. Je suis immigrée. Ils disent que je ne suis plus arabe, que je fais partie de la deuxième génération. Non ! Je refuse. Je suis Algérienne. […] Eux…ils nous ont colonisés. Double honte à ceux qui colonisent et parlent de démocratie. 312 Je les hais, ceux qui disent que nous faisons partie culturellement de la France, cette terre amère où on nous a arraché notre vraie culture. Maintenant, nous faisons partie de la deuxième…les clowns à leur service quand ils ont besoin d’exotisme. Leur Patrie… Je suis Algérienne, colonisée culturellement, mais je ferai tout pour retrouver mes racines. […] Je cherche la vraie culture arabe […] Je ne veux pas respecter l’honneur du père, ni du frère. Je suis Arabe. 313 Die Erzählerin entlarvt hier die Exotismen und Orientalismen der Franzosen in Bezug auf den Maghreb und andere „orientalische“ Länder, 314 stellt aber gleichzeitig den doppelbödigen und ambivalenten Willen dar, ihre eigenen Wurzeln im Sinne einer zu hinterfragenden „wahren arabischen Kultur“, in der sie sich nicht unter die Ehre des Vaters oder der Brüder, also in die Geschlechterhierarchie fügen muss. Die arabische Sprache - und eben nicht mehr die Nation, - stellt für die Protagonistin die einzige Möglichkeit dar, eine Beziehung zu der arabischen Kultur aufzubauen. Nur durch die Beherrschung jener Sprache kann sie ihr Immigrantinnendasein, das sie in die Haltlosigkeit verbannt, auflösen. 315 In der Folge beschreibt sie ebenfalls, dass die Immigrantinnen sich nicht nur gegen die Marginalisierung der französischen Gesellschaft wehren müssen, sondern dass die arabische Sprache gerade dazu dienen soll, sich gegen die Diskriminierungen durch die Araber zu wehren. 316 Und so fasst sie die doppelte Marginalisierung im Zusammenhang mit der Kolonialgeschichte zusammen: Oui, je marche à cloche-pied sur ma culture, je suis à la recherche des racines que le colonialisme nous a enlevées, je n’aurais jamais voulu naître en France. Mainte- 311 Ebd., S. 68. 312 Ebd., S. 68. Die „double honte“ verweist auch auf die „double peine“ der die Beur-Jugendlichen ausgesetzt sind: Sie stehen bei Strafdelikten unter der französischen und algerischen Gerichtsbarkeit. „Ils disent que je ne suis plus arabe“ wird im Titel eines weiteren Beur-Romans analog formuliert, der ebenfalls im Spannungsfeld von Fremdzuschreibungen kultureller und geschlechtlicher Art steht: Soraya Ninis Ils disent que je suis une beurette 1993. 313 Boukhedenna 1987, S. 70f. 314 Vgl. ebd., S. 69. 315 In einer längeren Passage fordert die Erzählerin sich selbst auf, die arabische Sprache zu lernen und sich nicht von den Franzosen zu einem Opfer machen zu lassen: „tu n’es pas un victime, tu ne dois pass laisser les Français dire: elle marche avec sa canne de problème, c’est une deuxième génération[...].“ Ebd., S. 82. 316 Vgl. ebd. <?page no="94"?> Die Beur-Generationen 92 nant me voilà réduite des deux côtés des frontières algérienne et française. L’Algérie est ma terre, mais je sens douloureusement que j’y suis étrangère. Etrangère à leurs yeux d’Algériens. 317 In der Folge bleibt die Protagonistin nicht nur Opfer, sondern wird selbst zur Angreiferin: „Sales Français, racistes, colons...“ 318 Diese Gegengewalt, der Hass und die Aggression, die aus ihr in dieser Situation herausbrechen und die sie dazu bringen, mit dem Kopf eine Scheibe einzuschlagen, sind Grundthema ihrer Gefühlswelt. 319 Frankreich ist für sie: „Pays du racisme, de l’inhospitalité, pays de la honte et l’humiliation quotidienne des conditions de travail auxquelles mes frères, sœurs et moi, étions assujettis“. 320 Doch die Erzählerin sieht sich auch von anderer Seite mit Ablehnung und Marginalisierungen konfrontiert: nämlich vonseiten der arabischen Studierenden/ Schüler in ihrer Arabischklasse. Diese sehen in ihr die Immigrantentochter und gerade nicht die Araberin: „Pour eux, comme pour les Français, je n’étais ni Arabe, ni Française.“ 321 So sieht sich die Erzählerin plötzlich eine doppelten Marginalisierung gegenüber, die ihre Vorstellungen der Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gemeinschaft, die ihr Herkunft und Heimat sein kann, zerplatzen lässt. 322 Auf der Fahrt nach Algerien beschreibt die Erzählerin dies als Phantasma: „J’étais heureuse car j’allais découvrir ma plus belle illusion, mon phantasme, mon rêve, l’Algérie.“ 323 Und durch die Ausgrenzungen in Algerien selbst erkennt sie, dass eine Rückkehr nicht eine Rückkehr in ihr Land sein kann, weder in die eine noch in die andere Himmelsrichtung: Ainsi, je décidai de prendre l’avion du retour. Mais de quel retour. Le plus dur des retours. Celui où je comprenais enfin que la France et l’Algérie sont égales sur une chose : jouer au ping-pong avec nous, les « Nationalité : Immigré(e) ».“ 324 Die doppelte Diskriminierung findet bei Boukhedenna schließlich einen Ausweg : ein dritter, imaginierter Ort, an dem aus der diasporischen Situation eine Insel wird. Damit reformuliert die Erzählerin zunächst die Stereotypen, wie sie ihr von französischer und algerischer Seite begegnen, um sie durch die Imagination einer Insel-Situation zu dekonstruieren - nicht zufällig im Zusammenhang mit ihrem Flug, ihrer Reise zwischen den Ländern: 317 Ebd., S. 83. 318 Ebd., S. 33. 319 Vgl. ebd. S. 33f. 320 Ebd., S. 100. 321 Ebd., S. 73. 322 Mahjoub Sghiri stellt dies auch bei seinen psychosoziologischen Untersuchungen mit Immigrantenkindern fest: „De même, leur enthousiasme retombe quand ils prennent conscience qu’ils y sont considérés comme les enfants de la France.“ Sghiri 1996, S. 71. 323 Boukhedenna 1987, S. 75. 324 Ebd., S. 100. <?page no="95"?> Die Beur-Generationen 93 J’ai pris l’avion, déchirée par ces deux pays qui ne veulent plus de nous. J’étais pour l’un la putain, l’immigrée, et pour l’autre la Fatma qui fait le ménage et la bougnoule. Je rêvais de construire une île entre Marseille et Alger, pour enfin qu’on ait, nous, les immigrées et immigrés la paix. Je compris que nous n’étions ni Arabes, ni Français, nous étions des « Nationalité : Immigré(e) »… 325 Und so schließt ihr letzter Tagebucheintrag mit dieser selbstermächtigenden Programmatik, die über ihr individuelles Schicksal hinaus auf eine kollektive Ebene zielt und aus dem Status des „weder-noch“ zur Exilantin wechselt: „Ni Français, ni Arabes, nous sommes l’exil, nous avons une identité non reconnue, luttons pour la réobtenir, ne nous laissons plus faire par les Arabes et par les Français.“ 326 Die Protagonistin verliert den imaginierten Ort der Herkunftskultur und muss so auf einen Exilort ausweichen: „Moi, je n’étais de nulle part. Ou peut-être d’une diaspora.“ 327 Von der Fremdbestimmung ist hier also eine Bewegung zur Selbstbestimmung zu verzeichnen - die allerdings immer noch auf Algerien als Bezugspunkt rekurriert. Des Weiteren vereint die Erzählerin hier zwei Prinzipien, die strukturell inkommensurabel sind: den Status der Immigranten, dessen Akzent auf der Migration, also der Bewegung zwischen zwei Ländern (und durch den Index der Ein-wanderin die Bewegung in ein Land hinein), und das Prinzip der Nationalität, das von Territorialität und Sesshaftigkeit ausgeht. Fühlt sich Aïcha in Née en France: Histoire d’une jeune Beur von Benaïssa zunächst noch während der Familienbesuche in Algerien dort zu Hause, stellt sie im Zuge der massiven Ablehnung moslemischer Traditionen und der patriarchalischen Familienorganisation mit der Zeit fest, dass ihr Lebensort das Frankreich der Gegenwart ist. 328 So skizziert die Erzählerin ihr Dilemma als muslimische Frau, die eben auch und gerade als Frau den Kulturkonflikt beim Übertreten der Türschwelle ständig erlebt. „J’ai réussi à dissocier ma personnalité, à faire cohabiter en moi deux personnages opposés : la Française que je suis, l’Algérienne que mes parents auraient voulu que je sois.“ 329 Der zweite Teil des Romans spielt dann 1985 in Algerien: Hier wird Aïcha acht quälende Monate von ihrer Familie festgehalten. Aïcha ist 325 Ebd., S. 103. 326 Ebd., S. 126. 327 Ebd., S. 73. 328 Aïcha kennt als einzige der Geschwister die Ferienlager in Algerien nicht. Sie muss als älteste Tochter in den Ferien bei ihren Eltern bleiben - und schließlich hilft sie nur bei dem Ausbau eines Hauses, dass der Vater in Algerien kauft, um nicht mehr bei seiner Familien zu Gast sein zu müssen und nach Hause kommen zu können, vgl. Benaïssa 1990, S. 41f. Die Erinnerungen an die Familie, die Aïcha in ihren Kindertagen sammelt, sind gebrochen. Sie empfindet die Familie als warmherzig und fröhlich, Hochzeiten und Familienfeiern bilden den Rahmen für diese Eindrücke. Aïcha fühlt sich sehr mit ihrer Familie verbunden und entdeckt sogar ihre Wurzeln: „Mes racines resurgissais [...].“ Ebd., S. 42. Und dennoch erfährt sie von ihren Cousinen, wie diese unter dem „poids de l’homme présent partout“ leiden, ebd., S. 43. 329 Ebd., S. 15. <?page no="96"?> Die Beur-Generationen 94 verzweifelt und fühlt sich wie eine Gefangene, schlimmer noch, wie eine Sklavin. 330 Aïcha beschreibt aus der Innensicht das Leben in Algerien, das durch unsichere und arme Lebensverhältnisse, Wassermangel und Armut gekennzeichnet ist. 331 Der dritte Teil des Romans beginnt noch in Algerien, in dem Aïcha leise Hoffnungen auf eine Rückkehr nach Frankreich schöpft. Als der Vater droht, seine gesamte Familie in Algerien zurückzulassen und allein nach Frankreich zu gehen, wehrt sich Aïcha erfolgreich. „J’ai été la première à réagir et à lui tenir tête : c’était hors de question, nous allions tous faire bloc contre lui. Notre vie, c’était la France.“ 332 Schließlich beschließt der Vater doch die gemeinsame Rückkehr nach Frankreich. 333 Die junge Frau beschreibt nach ihrer Rückkehr nach Frankreich ihre Desorientierung, erzählt davon, dass sie traumatisiert („J’étais très marquée.“ 334 ) schließlich die Hilfe eines Psychologen in Anspruch nehmen muss. Erst zwei Jahre nachdem sie die Familie verlassen hat, trifft Aïcha 1987 ihre Mutter an einem neutralen Ort - ihren Vater sieht sie erst an seinem Sterbebett wieder. Die Erzählerin Djura in Le Voile du silence ist stark mit ihrer berberischen Heimat und Kultur identifiziert. So schildert die Erzählerin ihre Kindheit in Algerien, die enge Beziehung zu ihrer Großmutter und die rauschenden Feste im Kreise der Familie. Sie begreift sich als Algerierin in Frankreich: Ihre eigene Herkunft ist stark mit der algerischen bzw. berberischen Geschichte verknüpft 335 -, und dennoch gleichzeitig durch permanente Rebellion gegen das patriarchalische System in der Familie gekennzeichnet. Das Land und seine Geschichte schaffen das kohärente Moment in dem Leben der Ich-Erzählerin: „Berbère et rebelle, tel est mon pays. Berbère et rebelle comme la petite fille que je fus, l’adolescente que je devins, la femme que je suis. Comme la reine Kahina, dont le destin évoque en moi d’étranges résonances.“ 336 Djura wird zunehmend zur Enttäuschung ihres Heimatdorfes in Algerien und besonders ihrer Mutter, die sich einen Sohn gewünscht hatte und die Tochter ihr Leben lang ablehnen wird. 337 Schon in den ersten Jahren in Frankreich fallen Djura die marginalisierenden Fremdwahrnehmungen der Franzosen auf, die ethnische und soziale Diskriminierungen vermischen und der sie - trotz eines Selbstmordversuchs - selbstbewusst die eigene stolze Eigenwahrnehmung entgegensetzt: „ La vie nous apprenait à nous débrouiller, à ne pas être bêtes, et à ne baisser ni les bras ni la tête : nous 330 Vgl. ebd., S. 73. Dieser (koloniale) Unterdrückungstopos der Sklaverei taucht in den politisierten Romanen immer wieder auf, so auch bei Tadjer, Kettane und Benaïssa. Vgl. ebd. 331 Vgl. ebd., S. 95. 332 Ebd., S. 120. 333 Vgl. ebd., 121f. 334 Ebd., S. 129. 335 Vgl. Djura 1990, S. 18f. 336 Ebd., S. 18. 337 Vgl. ebd., S. 25. <?page no="97"?> Die Beur-Generationen 95 étions fiers ! “ 338 Beengt lebt die gesamte Familie in der Peripherie von Paris zu sechst in einem Zimmer. Der ältere Bruder Mohand und die Protagonistin werden in die französische Schule geschickt, wo sie einen ersten Eindruck ihrer Alterität verspürt: „Je commençais à apprendre le français, mais aussi à mesurer ma différence par rapport aux petits Parisiens. Je me sentais isolée.“ 339 Doch Djura entschließt sich zunächst nicht für die offene Revolte, sondern für ein heimliches Leben als Französin, deren Bild sie auch noch überzeichnet: „En réalité, je tentais de me faire plus européenne que je ne l’étais. Non par mépris pour mes origines, mais parce que j’avais trop ressenti, aux abords de la cité du treizième, ce racisme implicite concernant les ‚Arabes’“ 340 So schminkt und kleidet Djura sich jeden Morgen wie eine Pariserin („je me ‚parisianisais’“ 341 ) und hofft, dass niemand aus ihrer Familie sie so sieht - große Angst hat sie dabei vor ihrem Bruder Mohand. Ähnlich wie die Erzählerin von Boukhedenna tendiert die Erzählerin in ihrer Situation zwischen den identitätstiftenden Angeboten des Elternhauses und der französischen Gesellschaft zu einer essenzialistischen Lösung: Sie vereindeutigt sich als Pariserin und Europäerin. Dabei übertreibt sie es derart, dass diese Form der Essenzialisierung in eine Art Vereindeutigung und ‚Überanpassung’ mündet, die ebenfalls zum Scheitern verurteilt sind. Djura droht die Zwangsehe, der sie gemeinsam mit ihrem Bruder und dessen Frau in Algerien zu entfliehen glaubt: Je ne me rendais même pas compte de l’ironie de la situation : je quittais la France en pleine révolution féministe et pré-soixante-huitarde pour fuir le poids des traditions ancestrales algériennes, et je partais pour l’Algérie de mes ancêtres, afin de trouver la liberté, ainsi qu’une conception plus moderne de la vie. 342 Auch hier werden die Nationen Algerien und Frankreich anhand der Thematik des Feminismus als (gebrochene) Antagonismen konstruiert: Während Frankreich für die politisch-feministische Gegenwart steht, die aber für Djura durch die Bindung an das Elternhaus mit seinen anachronistischen Traditionen nicht zugänglich sind, reist sie in das Land ihrer Vorfahren, nach Algerien, um gerade in diesem ‚Land der Vergangenheit’ ein moderneres Leben zu führen. Mit einer Mischung aus großer Freude und Unsicherheit bewegt sich Djura durch ihr Heimatdorf: Sie freut sich die alten Gebäude, die vertraute Umgebung wiederzufinden; fühlt sich im Dorf und in der Natur wohl. Sie beugt sich sogar den Benimm- und Bekleidungsregeln des algerischen Dorfes, aus Höflichkeit und aus Respekt ihrer Großmutter gegenüber und „peut être aussi dans un esprit romanesque de ‘retour aux sources’.“ 343 Ihr Bruder 338 Ebd., S. 43. 339 Ebd., S. 39. 340 Ebd., S. 64. 341 Ebd. 342 Ebd., S. 71. 343 Ebd., S. 79. <?page no="98"?> Die Beur-Generationen 96 bringt Djura in eine Wohnung in einem Randbezirk der Stadt und hält seine Schwester dort fünf Monate fest. Während dieser Zeit beginnt die Erzählerin Gedichte zu schreiben und zu singen. 344 Djura avanciert zu einer erfolgreichen Filmemacherin und entscheidet sich Ende der 1970er Jahre für eine Karriere als Sängerin. Sie verliebt sich in ihren bretonischen Manager, Hervé Lacroix. Als sie gemeinsam in die Bretagne fahren und Hervé ihr die Geschichte und Mythen seiner Heimat nahe bringt, versteht sie: „Pour l’heure, c’était insensé: en me faisant découvrir ses racines, Hervé me permettait de retrouver les miennes.“ 345 Mit der Musikgruppe, Djurdjura, in der sie auch ihre Schwestern unterbringt, schreibt Djura die Musik in arabischer/ kabylischer Sprache, die traditionelle Lieder aufgreift, aber auch von der condition féminine der algerischen Frau erzählt und einen emanzipatorischen Duktus hat. Und die Musikgruppe hat großen Erfolg: Auch gegen den Willen ihrer Mutter bespielen die MusikerInnen viele Bühnen. Sie treten sogar als erste maghrebinische Gruppe im Olympia in Paris auf. 346 Das stete Pendeln zwischen Frankreich und Algerien und das Versteckspiel in Frankreich konturieren einen Lebensmodus, der sich durch Bewegungen zwischen und in den Ländern ausdrückt; hier reflektieren die Reisen zwischen den Ländern die suchenden Bewegungen der Protagonistin nach einer stabilen, gesicherten Identifikation. Die Versöhnung und Verbindung zwischen unterschiedlichen kulturellen Einflüssen scheint nicht mehr in ihrem Leben sondern erst in der Zukunft ihres Sohnes zu liegen. 2.2.2.2 Das Elternhaus - Ort der Sicherheit und der Restriktion Die elterliche Wohnung ist in Charefs Le thé au harem d’Archi Ahmed der Schauplatz der Auseinandersetzungen zwischen Madjid und seiner Mutter, das Jugendzimmer des jugendlichen Protagonisten funktioniert als eigene (durch westliche jugendkulturelle Einflüsse geprägte) Sphäre. Sein Zimmer im arabischen Elternhaus markiert Madjid durch laute Musik der Sex Pistols, die die arabischen Flüche der Mutter übertönen soll. „Ti la entendi ce quou ji di? ” 347 fragt ihn seine Mutter aufgebracht in ihrem arabisierten Französisch. 344 Vgl. ebd., S. 91ff. Das Erzählen greift hier den historischen literarischen Topos auf, in dem das Erzählen zum Überleben dient. 345 Ebd., S. 135. Hier gibt es eine deutliche Parallele zu den Liebesbeziehungen zu jüdischen Frauen, wie sie in den genannten Texten der ersten und dritten Generation entworfen werden. Die gegenseitige Spiegelung der Marginalisierung scheint eine gemeinsame Verortung zu erleichtern. Dominique Schnapper stellt in ihrer soziologischen Untersuchung ebenfalls die Sympathie mit den Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen der Juden fest. Vgl. Schnapper 1991. 346 Djura 1990, S. 131ff. 347 Charef 1983, S. 13. In einem verzweifelten Redeschwall wird später erneut ihre Sprache vorgeführt, die die Ermüdung des Tages und des Lebens in diesem Land mit dieser Familie deutlich macht: „Fatigui, moi, malade. Ji travaille li matin, li ménage à l’icole et toi ti dors. Ji fi li ménage dans li bureau li soir à la maison. Fatigui moi, fatigui. Hein, <?page no="99"?> Die Beur-Generationen 97 Bereits zu Beginn des Romans führt der Erzähler den Generationenkonflikt über die Sprache vor; als Madjid sich weigert, seine Mutter zu verstehen, eskaliert die Situation: „Là, vexée, comprenant à moitié ce qu’il vient de dire, elle se met en colère, et dans ces cas-là ses origines africaines prennent le dessus, elle tance en arabe. […] Madjid fait semblant de ne pas comprendre.“ 348 Malika droht ihm daraufhin auf Arabisch, zum algerischen Konsulat zu gehen, um ihn für den militärischen Dienst zu melden und prophezeiht ihm die bereits beschriebene unwiederbringliche Heimatlosigkeit. Die Mutter Malika überträgt ihre Bindung an Algerien als Heimatland auf ihren Sohn; so wird schon zu Beginn des Romans der erwähnte Generationskonflikt nicht nur über die Nationalsprache inszeniert, sondern direkt auf die territoriale, nationale Bindung übertragen. Mutter und Sohn sprechen nicht mehr ‚dieselbe Sprache’ und ihre Bezugnahmen auf eine ‚Heimat’ haben auch nicht mehr dasselbe Ziel. Der Sohn unterbricht eine Genealogie („tu seras perdu et moi aussi“ 349 ) und wird familien-, geschichts- und heimatlos. Es wird allerdings auch deutlich, dass Madjid diese Drohungen nicht ernst nimmt, denn für ihn bedeutet das Herkunftsland der Eltern keine stabile Identifizierungsmöglichkeit. Auch in Georgette! von Belghoul führt der Moment, in dem die Tochter ihrem Vater bei seiner Arbeit als Straßenkehrer zugesehen hat, dazu, dass die Vaterfigur in ihrer Vorbildfunktion wankt. So beschreibt der Vater selbst die Diskriminierungsmechanismen, denen er vonseiten der französischen Bevölkerung ausgesetzt ist, die aber auch innerhalb der Arbeiter, die alle Immigranten sind, herrschen und denen er ohnmächtig ausgesetzt ist. Die Protagonistin bewundert aber den Klang der Stimme des Vaters, zumal sie mit ihrer eigenen Stimme, ihrem Erinnerungsvermögen und ihren Händen unzufrieden ist. „Ma voix est sans arrêt brouillée comme une radio en panne. En plus, j’ai une mémoire idiote : je ne dis rien d’important, juste des bêtises les unes derrières les autres. Et mes mains ! toutes bleues, j’en parle même pas“. 350 Mit einer schönen Stimme, nach dem Vorbild ihres Vaters, und schönen Händen, wie sie die Lehrerin besitzt, glaubt das Mädchen sich nie mehr in den richtigen Ausdrücken und in der richtigen Seite eines Schulheftes täuschen zu müssen - sie könnte die Welt und das französische Schulwissen um die Schrift erkennen und be-greifen. 351 Hier stehen sich Stimme und Hände gegenüber - sie stehen metonymisch für die Oralität, mittels derer die algerische Kultur tradiert wird und die Schriftlichkeit, in der sich französische Werte und Normen fixieren lassen, stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. finiant, va. Et ji cours à la mairie, à l’ide sociale, à l’assistance sociale…j’ai mal à mi jambes…et ti promènes…Ah mon Dieu…“ Ebd., S. 22f. 348 Ebd., S. 16. 349 Ebd. 350 Ebd., S. 35. 351 Vgl. ebd. <?page no="100"?> Die Beur-Generationen 98 Das restriktive Familienleben der Ich-Erzählerin Aïcha in Benaïssas Née en France: Histoire d’une jeune Beur ist durch ihre Rolle als Frau in einer muslimischen Familie geprägt : Das Motto in arabischer und französischer Sprache bildet den leitmotivischen Zwiespalt der Protagonistin ab: „Andi ala drairi : Attention aux garçons“. 352 Diese Warnung gibt die Mutter der Protagonistin ihr jeden Morgen mit auf den Weg - die Türschwelle zwischen dem Elternhaus und der öffentlichen Sphäre der französischen Gesellschaft wird so zur Grenze zwischen konträr kulturell kodiertem Geschlechterverhalten. 353 Aïcha schildert, dass sie in der schwierigen Position zwischen der Welt, die sich ihr in der Schule bietet und die als Bildungsgut an sie weitergegeben wird, und dem Elternhaus, in dem sie sich unausgesprochenen, patriarchalischen Regeln zu unterwerfen hat. 354 Schon als Kind baut sich Aïcha ein Lügengespinst um ihre Person auf. Die Erzählung setzt allerdings im Moment der „Wahrheit“ ein: Mit zwölf Jahren entschließt die Erzählerin, die Lügen und Heimlichkeiten aufzudecken, die Masken fallen zu lassen und ihren Eltern die Illusion von der braven Tochter zu nehmen. 355 Die Folge sind weitere Verbote und Einschränkungen, denn für die Eltern scheint sich die Tochter nun zur Frau entwickelt zu haben. Aïcha bleiben als Lebensräume ausschließlich die Schule und das Haus, so dass sie bereits in diesem jungen Alter ihre Flucht von ihren Eltern plant. Aïcha entwickelt und beschreibt sich selbst folglich als eine doppelte Persönlichkeit. Sie ist die brave Tochter im Haushalt der Eltern, die nicht mit der ‚ wahren’ Aïcha übereinstimmt: „Je ne cessais de me voir comme un personnage double. Celui de la maison, celui que mes parents voulaient que je sois : le personnage provisoire. Et l’autre, celui était vraiment moi, que je dévoilerais un jours, mais ailleurs.“ 356 Aïcha kommt zu dem Schluss, dass es für Mädchen aus Immigrantenfamilien nur zwei Möglichkeiten gibt: die Unterwerfung und damit das Eingesperrtsein bei den Eltern oder die Flucht. 357 „J’ai beaucoup souffert de ne pas avoir pu lire quand j’étais plus jeune“, 358 stellt Aïcha fest und greift damit zwei Grundproblematiken in ihrem Leben auf: Zum einen ihre Rolle als älteste Tochter, die schon als Kind die Verantwortung für ihre Geschwister übernehmen musste und damit über keine freie Zeit für sich verfügte, zum anderen ihre durch die Enge der elterlichen Wohnung begründete mangelnde Privatsphäre. 359 Erst wenn die 352 Benaïssa 1990, S. 15. 353 „Ils avaient essayé d’adopter une éducation „mixte“, en adaptant ici, en France, le modèle qu’ils avaient reçu en Algérie. Mais trop de règles sont difficiles à transposer, quand elles ne sont pas totalement contradictoires.“ Ebd., S. 20. 354 Vgl. ebd., S. 21f. 355 Vgl. ebd., S. 23ff. 356 Ebd., S. 27. 357 Vgl. ebd., S. 29. 358 Ebd., S. 31. 359 Vgl. ebd., S. 32. <?page no="101"?> Die Beur-Generationen 99 Geschwister versorgt sind und sie ihre Aufgaben gemacht haben, setzt sich die Erzählerin abends an ihre eigenen Schularbeiten. Diese schwierigen Bedingungen führen dazu, dass Aïchas Schulleistungen nachlassen und sie zunehmend unsicher wird. In diesem Zusammenhang erwähnt die Erzählerin nicht nur in einer Prolepse, dass sie jene Verunsicherung bis in die Gegenwart begleitet, sondern verbindet dies mit den Sprachmischungen im Elternhaus: „Aujourd’hui encore, je cherche soigneusement mes mots, je fais attention. A la maison, on parlait à la fois français et arabe. On mélangeait plus ou moins les deux dans une espèce de charabia maison…“ 360 So erzählt sie von den Arabismen, die sich ins Französische schleichen, wenn sie mit ihren Geschwistern spricht, und von den lexikalischen Lücken. Aïcha beschreibt auch, dass sie sich - im Vergleich zu ihren französisch-stämmigen Mitschülern - doppelt anstrengen muss, um die französische Sprache richtig anzuwenden. Das Schriftarabisch erlernt sie, um mehr über ihre Geschichte zu erfahren. 361 Wiederum in einer proleptischen Erzählbewegung stellt die Erzählerin dar, dass sie immer noch das Arabische fließend spricht und es auch nicht vergessen kann. Es ist ihre „Mutter“sprache: „C’est ma langue maternelle, même si je suis née en France.“ 362 Das Elternhaus und damit das Leben der Protagonistin sind durch die Religion des Islam geprägt, die im wesentlichen zwei Funktionen hat: Einerseits dient er den Eltern als Teil einer Tradition ihres Herkunftslandes, 363 andererseits funktioniert die Religion auch als elterliche Praxis, gegen die sich die Protagonistin mit 18 Jahren aufzulehnen und diese abzuwehren beginnt. Die Konflikte und Ablehnungen der Normen und Werte, die Aïcha in ihrem Elternhaus erdulden muss, führen also auch zu einem Bruch mit dem Heimatland der Eltern. Diesen Bruch mit dem Elternhaus, der auch zu einer heimlichen Heirat führt, vollzieht nur Aïcha - ihre Geschwister fügen sich den elterlichen, traditionellen Regeln. Das Ende dieses Textes ist bewusst offen gehalten: Es gibt keinen gesicherten Selbstentwurf der Protagonistin, die zwar in Frankreich lebt, aber keinen Kontakt zu ihren Eltern mehr hat. Die Konstruktion der unsicheren Identität hängt mit dem unsicheren Ort zusammen, denn obwohl Aïcha in einer festen Beziehung lebt, ist der Bruch mit dem Elternhaus und dem Land Algerien sehr schmerzhaft für die Protagonistin. Aïchas Haltlosigkeit spiegelt sich in dem schwierigen Kontakt zur Familie und darin, dass sie ihr eigenes Zuhause nicht zu beschreiben vermag - die Erzählerin hat (noch) keinen eigenen Ort, von dem aus sie (sich) erzählen kann. 360 Ebd., S. 33. 361 Vgl. ebd., S. 34. 362 Ebd. 363 Vgl. ebd. Diesen Aspekt bestätigt Sghiri in seiner Untersuchung und kommt zu dem Schluss, dass die religiösen Praktiken der Jugendlichen (wie die Einhaltung des Ramadan und die Essensregeln) nicht als Hinwendung oder Rückwendung zur Religion, sondern als familiäre Verpflichtung gewertet werden kann, vgl. Sghiri 1996, S. 71. <?page no="102"?> Die Beur-Generationen 100 Die Grenze zwischen Elternhaus und banlieue ist fließend bzw. teilweise gar inexistent: Wie in Charefs Le thé au harem d’Archi Ahmed werden in Le gone du Chaâba von Begag familiäre Angelegenheiten öffentlich verhandelt: Jeder weiß über das Familienleben eines jeden Bescheid und durch die vielfältigen Verwandtschafts- und Bekanntschaftsbeziehungen wird die banlieue zur familiären Sphäre. Innerhalb des Chaâba, bezeichnenderweise behält Begag den algerischen Ausdruck für banlieue bei, herrschen die Gesetze und Traditionen der Gemeinschaft, wie sie die Eltern aus ihrer Heimat Algerien weiterführen: Gastfreundschaft, gegenseitige Unterstützung und Solidarität sind dabei genauso alltäglich wie die Streitereien unter den Frauen. Durch die Bildung in der französischen Schule werden die Kinder - und damit auch die familiären Haushalte - mit den Werten, Normen, Vorstellungen und dem ‚Bildungsgut’ der französischen Gesellschaft konfrontiert. Daraus resultieren erste Erfahrungen von Konflikten mit der Elterngeneration sowie mit Diskriminierungen und Ausgrenzungsmechanismen. 2.2.2.3 Die banlieue und der Freundeskreis - Orte der Solidarität am Rand der Stadt und der Gesellschaft Banlieue, Freundeskreis und soziale Stellung werden in Charefs Roman aufs Engste miteinander verknüpft. Die Beschreibung eines Jungen aus Madjids Clique weist auf die gesamte Konstellation und soziale Stellung der Jugendlichen hin: Im Keller, also auch räumlich ‚ganz unten angekommen’, findet Madjid seinen Freund Farid, der vollkommen apathisch unter Drogeneinfluss zwischen Orangenkisten liegt. „foutre“, „cri“, „marre“ sind die Wörter, die an den Kellerwänden im Halbdunkel zu lesen sind und die Hoffnungslosigkeit der Menschen widerspiegeln. 364 Madjid sieht und spürt körperlich die urbane tristesse: „Tout est devant lui, le désespoir, ça fout les jetons, ça fourmille au creux de l’échine, et ça refroidit dans le dos.“ 365 Auf dem Weg in die Wohnung im dritten Stock trifft Madjid „le père Levesque“ seinen Etagennachbarn, der ebenfalls auf den Fahrstuhl wartet, betrunken und fluchend, weil er vor dem Fahrstuhl in eine Urinpfütze getreten ist. „Pour lui, c’est les Arabes qui pissent dans l’ascenseur et dégradent le bâtiment.“ 366 Viele der Cité-Bewohner werden im Zusammenhang mit dem Häuserblock oder der Etage beschrieben, durch die sich Madjid bewegt. Der xenophobe und misstrauische Nachbar Pelletier, der stereotyp als „beauf d’à côté“ 367 mit einem Schäferhund an der Hand die banlieue beäugt, beschreibt die Stimmung so: „La crainte domine la cité et ses habitants.“ 368 Dies ist der emotionale Ausgangspunkt der Beschreibung der banlieue, in der Madjid und seine Freunde leben. Feindselig stehen sich Pelletier und Madjid gegenüber, keine 364 Vgl. Charef 1983, S. 10f. 365 Ebd., S. 11. 366 Ebd., S. 12. 367 Ebd., S. 23. 368 Ebd. <?page no="103"?> Die Beur-Generationen 101 Kommunikation scheint mehr möglich. Die banlieue, die den euphemistischen Namen Cité des Fleurs trägt, ist durch Gleichgültigkeit, Anonymität, Langeweile und Lebensmüdigkeit gekennzeichnet. Die seelenlosen Betonfassaden reflektieren dies: „Du béton, des bagnoles en long, en large, en travers, de l’urine et des crottes de chiens. Des bâtiments hauts, longs, sans cœur ni âme. Sans joie ni rires, que des plaintes, du malheur.“ 369 Weitere sichtbare Markierungen sind auch die Graffiti, die Gerüchte und Wahrheiten über die Viertel-Bewohner mitteilen. Alle beobachten sich gegenseitig, und durch die Enge in der Vorstadt gibt es weder in den Wohnungen noch auf den öffentlichen Plätzen Privatleben. 370 Die banlieue umschließt das Leben der Jugendlichen und dringt in ihre Wahrnehmungen, ihre Körper und ihre Stimmen ein: Contre l’autodestruction, le silence, c’est la violence qui prend le dessus et on devient irrécupérable. On ne se remet pas du béton. Il est partout présent, pesant, dans les gestes, dans la voix, dans le langage, jusqu’au fond des yeux, jusqu’au bout des ongles. [...] Ça chante pas, le béton, ça hurle au désespoir“. 371 Gegen die Tristesse in der banlieue stehen Madjids Freunde, die ihm ein zentraler Bezugspunkt sind: Bengston, der Antillaner, Thierry, James, der in Frankreich geborene Algerier, Jean-Marc, der nach dem Rausschmiss durch seinen Vater im Keller lebt, Bibiche, ebenfalls ein in Frankreich geborener Algerier, den die Freunde Chopin nennen, da er als Kind davon träumte, Pianist zu werden, Balou, der Schulversager, der durch kriminelle Geschäfte zu Reichtum gelangt ist 372 ; und Anita, das einzige Mädchen in der Clique, die weder zur Schule geht noch arbeitet, Tochter eines algerischen Vaters (der seine Familie verlassen hat und nach Algerien zurückgekehrt ist) und einer französischen Mutter. 373 Und schließlich der beste Freund von Madjid, Pat, dessen Selbstbewusstsein sehr ausgeprägt ist. 374 Die Jugendlichen vertreiben sich ihre Zeit auf der Straße: Der Jugendclub wurde geschlossen, die Jungen scherzen, Anita hängt ihren Träumen nach ihrem Traummann nach, der - und das wissen alle - niemals kommen wird. 375 Und so reimt und singt Bengston: „Qu’est-ce qu’on s’emmerde ici, 369 Ebd., S. 25. 370 Vgl. ebd., S. 24ff. 371 Ebd., S. 63. 372 In einer analeptischen Episode wird erzählt, wie er einmal auf Spott reagiert, indem er eine Waffe zieht und in die Luft schießt. Eines Abends fährt vor dem Jugendzentrum mit einem großen Auto vor, in dem er eine Blondine herumfährt und deren Autoscheiben mit Geldscheinen tapeziert sind. Balou lässt sich von seinen Freunden bewundern. Er spielt wie im Kino den großen Erfolg - seine Kumpels feiern ihn. Danach wird Balou nie wieder in der cité gesehen; Gerüchte besagen, er sei in Barbès Zuhälter geworden. Vgl. ebd., S. 86ff. 373 Vgl. ebd., S. 26f. 374 Vgl. ebd., S. 27. 375 Vgl. ebd., S. 27ff. <?page no="104"?> Die Beur-Generationen 102 qu’est-ce qu’on s’emmerde ici, merde ici, merde ici...“ 376 Er bringt damit die Hoffnungslosigkeit der „potes“ zum Ausdruck und verweist gleichzeitig sehr vage auf das kreative Potenzial, das in den Jugendlichen steckt - und widerlegt damit, dass es „im Beton“ nicht singt. Ihr Alltag ist geprägt von Kleinkriminalität, Zuhälterei, 377 Arbeitslosigkeit 378 und der Zerstörung der zerrütteten banlieue. 379 Madjid und Pat bilden ein Freundespaar, das mit den Stereotypen bricht und zu spielen versteht. Als Pat bspw. seiner Mutter erzählt, dass er sich beim Arbeitsamt gemeldet habe, fragt Madjid entrüstet: „Elle peut pas te croire, tu sais pas écrire ! “ 380 Er trifft Pat an einer empfindlichen Stelle - diesmal ist es der Franzose, der der Analphabet ist. Pat und Madjid nutzen aber auch die xenophoben Vorurteile ihrer Umwelt, 381 bspw. als sie als Taschendiebe in der Métro unterwegs sind. Während sich Madjid nach dem Diebstahl sofortigen Anschuldigungen und Aggressionen ausgesetzt sieht und sich lauthals beschwert, als Araber verdächtigt zu werden, kann Pat in aller Ruhe mit der gestohlenen Brieftasche seiner Wege gehen. In der Rue Saint-Denis versucht Pat vergeblich mit die Prostituierten zu handeln und nutzt schließlich seinen Freund Madjid: „Mon copain, il a une réduction familles nombreuses. Ça marche pas chez vous? “ 382 In Les A.N.I. du « Tassili » von Tadjer werden die Stereotype ähnlich eingesetzt und überspitzt: Die banlieue, in der die Ausländer die Einheimischen sind, ist hier der Ort, an dem die Konzeption des Fremden/ Ausländers selbst hinterfragt und durch die naiv-xenophobe Aussage der Frau des Kranführers Chérif ad absurdum geführt wird: 376 Ebd., S. 30. 377 In einer Szene verdingen sich Pat und Madjid als Zuhälter - sie nutzen die aussichtslose Situation einer alleinerziehenden, alkoholsüchtigen Frau aus. Vgl. ebd., S. 71ff. 378 Nicht nur Madjid und seine Freunde sind arbeitslos, sondern auch viele andere banlieue-BewohnerInnen - so auch die alleinerziehende Mutter Josette, die ihren Sohn Stéphane von Madjids Mutter Malika betreuen lässt. Als Josette ihre Arbeit verliert, will sie sich vom Balkon ihrer Wohnung stürzen will. Nur Malika und Madjid können sie davon abhalten, ihrem Leben eine Ende zu setzen, indem sie Stéphane herbeiholen und an ihre Muttergefühle appellieren. Ihr Aussichtslosigkeit wird durch den Zeitpunkt ihres Selbstmordes konterkariert und ad absurdum geführt: Es ist die Silvesternacht. Vgl. ebd., S. 161ff. 379 Ebd., S. 37. 380 Ebd., S. 100. 381 Eine besonders dramatische Gestaltung findet die Anklage des Rassismus in Charefs Roman Le harki de Meriem, als die Mörder des jungen Erzählers ihn angreifen und von ihm seinen Pass verlangen: „- Si par malheur tu as une carte d’identité française, on te fait la peau, on ne veut pas de basanés dans les mêmes registres que nous, Bicot tu es, Bicot tu resteras. Tes papiers ? […] - Be ! …Beu ! …Beeuur ! …Beeeuuurk! ” Vgl. Charef 1989, S. 31. Die fatalistische und in der ethnischen Differenz stagnierende und stigmatisierende Formulierung „Bicot tu es, Bicot tu resteras“ erinnert an die Formulierung in Tadjers Roman: „ANI tu es, ANI tu resteras.“ Ebd. 382 Charef 1983, S. 108. <?page no="105"?> Die Beur-Generationen 103 Ah oui! c’est un drôle de quartier…Moi j’croye qu’on est trop de trangers ! … La France elle a ramassé trop de races… Et pis tu sais c’qu’elle dit toujours Féronique… Eh ben elle dit toujours : « Il y a trop d’étrangers dans le monde. » 383 Die Familien, die in Begags Le gone du Chaâba im bidonville wohnen, sind fast alle aus einer ländlichen Region in Nordalgerien (Sétif) nach Frankreich emigriert und leben nun im Chaâba, was soviel wie bidonville im algerischen Heimatdialekt der Elterngeneration bedeutet. Der Titel vereint den französischen und algerischen Regiolekt durch die Bezeichnung „le gone“, „Junge“ im français populaire der Region von Lyon, und durch die Bezeichnung Chaâba; schon im Titel wird also auf die Situation des Kulturkontakts und die Generationenproblematik hingewiesen. Die ärmlichen Verhältnisse im bidonville werden facettenreich und detailreich geschildert: Es gibt weder Elektrizität noch Kanalisation, die Kinder müssen auf einer Müllhalde in der Nähe Müll sammeln. Ein nahe gelegener Straßenstrich führt dann das Elend genauso vor wie die Solidarität unter den Kindern: Gemeinsam verjagen sie mit Steinen die Prostituierten 384 - mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu für diese Frauen und ihre „Geschäfte“. Diese Episode weist auf weitere Veränderungen im Viertel hin: Der Onkel wird verhaftet, da er schwarz schlachtet - Azouz hilft den Polizisten durch sein gutes Französisch sogar dabei, den Onkel und den Schlachtort ausfindig zu machen. Sein erworbenes Schulwissen nutzt er so ungewollt gegen die eigene Gemeinschaft im Viertel, und das bringt ihn in eine höchst ambivalente Rolle: als erfolgreicher Schüler und damit als „Verräter“. Der solidarische Zusammenhalt wird zusehends instabiler, bis die Gleichgültigkeit füreinander das Chaâba zerbricht: „une terrible indifférence qui ronge l’âme du Chaâba.“ 385 Einige Familien verlassen nach und nach das Chaâba 386 und ziehen in ein HLM-Viertel, in dem es nicht nur Strom und Wasser, sondern sogar WCs und Fernseher gibt. Nach langem Zögern des Vaters zieht auch Familie Begag 1966 nach Lyon um. Dort verändert er sich jedoch zusehends: Er wird immer stiller, magert ab, wird launischer und unberechenbarer und verschwindet sogar für ein paar Tage, denn er kommt ohne seine Gemeinschaft im Chaâba nicht mehr zurecht. In diesem neuen Viertel sieht er sich der französischen modernen Lebenswelt erstmalig ausgesetzt. Und am Ende des Romans bekommt die Familie einen Brief von der Hausverwaltung, der ihnen mitteilt, dass sie wiederum umziehen müssen; der Roman endet also mit der Aussicht auf einen erneuten Abschied und einen Neuanfang. 383 Tadjer 1984, S. 130. 384 Vgl. Begag 1986, S. 50ff. 385 Ebd., S. 136f. 386 „Pour tous ceux qui restent au Chaâba, la vie quotidienne devient pesante et fade. […] Le Départ. Beaucoup se mettent à imaginer… Départ pour où ? Peu importe.“ Ebd., S. 141. <?page no="106"?> Die Beur-Generationen 104 Die hierarchische Trennung zwischen den Geschlechtern ist in den Lebensgeschichten der Beurettes ein zentrales Thema. Dies schlägt sich, wie bereits erläutert, nicht nur im patriarchalischen Elternhaus („Nous devons donc nous plier au système du père“, 387 sind sich alle Mädchen einig), sondern auch in den Freundeskreisen nieder: In Boukhedennas Journal: Nationalité Immigré(e) bspw. sind in den jeweiligen Cliquen („bandes“) Mädchen und Jungs streng getrennt. Während bei den Beurettes dieses System auch ihr Leben und in geringem Maße auch das in der banlieue bestimmt, wird der Freundeskreis für die männlichen Figuren zunehmend zum eigenen Raum. 388 Die Mädchenclique spielt eine große Rolle für die weiblichen Figuren, („Nous n’écartions jamais la solidarité“ 389 ). Diebstahl wird zur täglichen Beschäftigung, da die jungen Frauen keine Arbeit haben und doch glauben, das Recht zu haben, an der Konsumgesellschaft teilnehmen zu dürfen. 390 Die cité, in der die Familie von Djura lebt, ist hauptsächlich von maghrebinischen Familien bewohnt. Es gibt enge Beziehungen zu der Nachbarschaft, in der die Kinder - es sind schließlich insgesamt fünf Jungen und vier Mädchen - Freunde und die Mutter andere Frauen als Freundinnen finden. Das Tagebuch Journal: Nationalité immigré(e) von Boukhedenna beginnt 1979, als die zwangzigjährige Erzählerin schon nicht mehr mit ihrer Familie in Mulhouse, sondern in Dijon lebt. Im Zentrum ihrer Beschreibungen stehen ihre Freundinnen, mit denen sie ihre freie Zeit verbringt, arbeitslos und frustriert, aber zu ängstlich und den Aufwand scheuend, sich beim Arbeitsamt arbeitslos zu melden. 391 Als sie zu Beginn des Tagebuchs bemerkt, dass sie ihre Papiere und vor allem ihre Aufenthaltsgenehmigung verloren hat, wird der Erzählerin ihr marginalisierter Status schmerzhaft bewusst: „C’est à des moments comme ça que je me rappelle que je suis étrangère dans c’pays, même si je suis née dans ce bled pourri.“ 392 Die Kindheit der Erzählerin wird in Journal: Nationalité immigré(e) sehr negativ bewertet: Wenn sie denn überhaupt eine gehabt habe, dann - so die Protagonistin - sei das eine traurige Kindheit gewesen; 393 und das lokale und soziale Umfeld hätte dies gestützt: „Ce n’était pas le ghetto, non, mais ça faisait partie du même sac. Le bidonville.“ 394 Dem negativen Bild der banlieue am Rande der Stadt und der Gesellschaft wird also immer wieder die Solidarität und Freundschaft der Jugendlichen auf der Straße entgegengesetzt. 387 Boukhedenna 1987, S. 12. Zum restriktiven und patriarchalen „système du père“ und die Rebellion dagegen vgl. Nini 1993. 388 Der politisch-soziologische Essay von Fadela Amara: Weder Huren noch Unterworfene 2005 zeigt ebenfalls auf, dass die banlieue der Ort der Jungen und jungen Männer ist. 389 Boukhedenna 1987, S. 10. 390 Vgl. ebd. 391 Vgl. ebd., S. 7ff. 392 Ebd., S. 8. 393 Vgl. ebd., S. 35. 394 Ebd., S. 36. <?page no="107"?> Die Beur-Generationen 105 2.2.2.4 Die Schule - Ort des Wissens und der Schrift Für alle Erzähler und Erzählerinnen stellt die französische Schule einen Ort der (rassistischen) Diskriminierung dar. Die Schule produziert aber unterschiedliche Typologisierungen der Immigrantenkinder entworfen: die Figur des schulischen Versagers wie in Boukhedennas Journal: Nationalité Immigré(e) 395 oder Charefs Le thé au harem d’Archi Ahmed, die Figur des beur de réuisste, der sich wie Azouz in Begags Le gone du Chaâba durch schulischen Erfolg und damit einhergehende Assimilationsbestrebungen auszeichnet, und schließlich auch eine Figur der Krise wie die kindliche Erzählerin in Belghouls Georgette! , die das Erlernen der Schrift in größte Schwierigkeiten bringt und in ihren Identifikationen zutiefst (und unauflösbar) verunsichert. In Le thé au harem d’Archi Ahmed wird auch die Schul‚karriere’ von Pat erzählt, der gemeinsam mit Balou drei Jahre in einer extra eingerichteten Klasse für Analphabeten verbringt - hier treffen sich alle Marginalisierten, wie auch der niederträchtige Lehrer Raffin betont: „des fils d’alcoolos, de malades, de putes, de Gitans, d’immigrés“. 396 An dieser Stelle wird der Titel des Romans eingeführt - fast nebenbei: Balou missversteht das „théorème d’Archimède“ als „thé au harem d’Archi Ahmed“ 397 und weist damit auf komische Art auf die Probleme der Übersetzung unterschiedlicher kultureller Wissensstände auf. In der Schule leidet die Erzählerin in Boukhedennas Journal: Nationalité immigré(e) unter ihren schlechten Leistungen und daran, dass ihr die vermittelten Inhalte fremd und nur für die Franzosen erdacht erscheinen: „des devoirs qu’on devait exécuter pour eux et non pour notre culture.“ 398 Hier drückt die Erzählerin eindeutig ein kulturdifferenzielles Selbstverständnis aus, das durch das „notre culture“ auch noch eine kollektive Seite bekommt, in der sie sich als Immigrantin solidarisiert. Als Kind wird sie so diskriminiert, dass sie sich ihrer Herkunft schämt: („J’avais honte de mon origine.“ 399 ) Sie interessiert sich für Literatur und (unbequeme) politische Fragen, unterscheidet die französische Presse nach ihren politischen Ausrichtungen. 400 Und so wird sie nicht nur mit Zeitungsartikeln im Unterricht konfrontiert, die sie als „rechts“ denunziert, sondern ist auch direkten rassistischen Anfeindungen durch Lehrer ausgesetzt: „Ce prof me traitait de sale rouge, de gueule de black panther, de vouyou, de putain, sans oublier me rappeler que j’étais Algérienne.“ 401 Die Erzählerin fühlt sich fremd („je me 395 Als auch die schulische Laufbahn nicht besonders glatt verläuft und die Protagonistin nach ihrem schlechten Schulniveau in berufsvorbereitenden Klassen zugeordnet wird, diese also nicht nach ihren Interessen und Neigungen aussuchen kann, steht für sie fest: „L’avenir se préparait mal pour moi.“ Ebd., S. 15. 396 Charef 1983, S. 100. 397 Ebd., S. 102. 398 Boukhedenna 1987, S. 16. 399 Ebd., S. 67. 400 Vgl. ebd., S. 16. 401 Ebd., S. 17. <?page no="108"?> Die Beur-Generationen 106 sentais différente des autres, je croyais être dans une cellule, à l’intérieur de moi tout était bloqué“ 402 ) und fehl am Platz. 403 Sie nutzt die Schule als Politikum und wehrt sich öffentlich gegen die Diskriminierung durch die Lehrer dieser französischen Institution und wird schließlich sogar der Schule verwiesen. 404 Djura wird in Le Voile du silence trotz guter Schulleistungen ein Studium verwehrt - ihr eröffnen sich keine Zukunftsperspektiven. In der Schule beginnt sie bspw. mit dem Theaterspiel und schließt Freundschaften. Als sie mit sechzehn Jahren eine Hauptrolle in einer Fernsehserie angeboten bekommt, wird ihr klar, dass sie nicht über ihren Beruf und ihren weiteren Lebensweg entscheiden kann: Der Vater verbietet ihr, die Rolle anzunehmen und darüber hinaus jemals auf einer Bühne aufzutreten; allein ein Jurastudium erlaubt er ihr. 405 Alle Hoffnungen werden allerdings zerstört, als die Erzählerin 18 Jahre alt wird: „C’est alors que le ciel me tomba sur la tête: oubliant mon avenir d’avocate, mon père décida de me marier.“ 406 Im Gegensatz zu Djura verspricht der schulische Erfolg dem Protagonisten von Begag sozialen Aufstieg und Anerkennung. Zunächst aber sieht sich Azouz den typischen Rassismen vonseiten der Lehrer ausgesetzt. Die Schule funktioniert als konträrer Ort zum Chaâba: Als der Unterricht sich mit Moralvorstellungen befasst, resigniert Azouz: „Nous, les Arabes de la classe, on a rien à dire.“ 407 Ähnliche Verständnisschwierigkeiten beschreibt Azouz im Hinblick auf seine Freundschaft zu dem französischen Schüler Alain, den er zwar gerne besuchen geht, den der Protagonist allerdings nie in sein Viertel zum Gegenbesuch einlädt. Der Vergleich zwischen dem Wohnhaus und dem reich möblierten Zimmer von Alain und der ärmlichen Wohnsituation von Azouz lässt den Protagonisten die sozialen Unterschiede erkennen; „arabe“ ist hier gleichbedeutend mit der sozialen Unterschicht. Moi, j’ai honte de lui dire où j’habite. C’est pour ça qu’Alain n’est jamais venu au Chaâba. Il n’est pas du genre à prendre plaisir à fouiller les immondices des remblais, à s’accrocher aux camions de poubelles, à racketter les putes et les pédés ! D’ailleurs, sait-il au moins ce que « pédé » veut dire ? 408 So beschließt Azouz eines Tages, sich nicht dem Schicksal seiner Freunde, die auch Immigrantenkinder aus dem Chaâba sind, zu ergeben und in der Schule zu versagen. Als einzigen Ausweg aus dem Viertel und der sozialen wie ethnischen Marginalisierung 409 erkennt er die Schulbildung. 402 Ebd., S. 19. 403 Ebd. 404 Die bewusste Diskriminierung der Immigrantenkinder in der Schule durch die Lehrer ist immer wieder Thema in ihrem Tagebuch, vgl. bspw. ebd., S. 89f. 405 Vgl. Djura 1990, S. 64ff. 406 Ebd., S. 67. 407 Begag 1986, S. 59. 408 Ebd., S. 59f. 409 Die Sichtbarkeit als Araber, der Azouz durch das „changer de peau“ entgehen möchte, greift auch Béni in dem Nachfolgeroman auf: vgl. Begag 1989a, S. 43. Begag äußert sich <?page no="109"?> Die Beur-Generationen 107 Je me suis rendu compte aussi qu’il y a des mots que je ne savais dire qu’en arabe: le kaissa par exemple (gant de toilette). J’ai honte de mon ignorance. Depuis quelques mois, j’ai décidé de changer de peau. Je n’aime pas être avec les pauvres, les faibles de la classe. Je veux être dans les premières places du classement, comme les Français. 410 Das höchste Ziel des Erzählers ist es, wie die Franzosen schulischen Erfolg zu haben. Er setzt sich fortan in die ersten Reihen in der Klasse und will sich assimilieren. Azouz nickt sogar, wenn der Lehrer von dem gemeinsamen Land Frankreich spricht („Notre pays, la France“ 411 ) oder von den gemeinsamen Vorfahren, den Galliern. Azouz orientiert sich gänzlich an der französischen Nationalidentität und gibt dem Lehrer immer recht: „S’il dit que nous sommes tous des descendants des Gaulois, c’est qu’il a raison, et tant pis si chez moi nous n’avons pas les mêmes moustaches.“ 412 Sein Schulerfolg führt schließlich dazu, dass er neben dem Klassenbesten in der Bank sitzen darf und nicht mehr bei den anderen Immigrantenkindern sitzt - und schließlich auch eine Empfehlung für die weiterführende Schule bekommt. Der Lehrer nutzt ihn als Vorbild für die anderen Immigrantenkinder, was Azouz deren Zorn einbringt. Sie beschimpfen ihn als Verräter seiner Herkunft, werfen ihm vor, dass er kein richtiger Araber und nicht mehr solidarisch mit ihnen sei: - Ouais, ouais, pourquoi que t’es pas dernier avec nous ? Il t’as mis deuxième, toi, avec les Français, c’est bien parce que t’es pas un Arabe mais un Gaouri comme eux. - Non, je suis un Arabe. Je travaille bien, c’est pour ça que j’ai un bon classement. Tout le monde peut être comme moi. […] - Tu vois bien que t’as rien à dire ! C’est qu’on a raison. C’est bien ça, t’es un Français. Ou plutôt, t’as une tête d’Arabe comme nous, mais tu voudrais bien être un Français. 413 Auch Azouzs Schulwechsel führt zu Veränderungen: In der neuen Schule wird er gleich von der Klassenlehrerin diskriminiert und richtiggehend vor der Klasse vorgeführt. Azouz gibt sich daraufhin seinen Mitschülern gegenüber als Jude aus. In diesem Zusammenhang nutzt er auch seine Beschneiimmer wieder zu dieser rassistischen Diskriminierung, die die „FOC = Français d’origine coloré. Ou alors des FOV : Français d’origine visible“, erleiden müssen. Begag 1999, S. 24. 410 Begag 1986, S. 60. 411 Ebd., S. 62. 412 Ebd. 413 Ebd., S. 106. Hier bearbeitet Begag die Figur des assimilierten Immigrantenkinder, die als „beur de réuisste“ oder als „beurgeois“ bezeichnet und durchaus aufgrund ihrer bedingungslosen Unterwerfung unter die französische Nationalidentität scharf kritisiert worden sind. Vgl. zur Thematik der Beurgeois Bernard 2004, sowie die Autobiographie von Razika Zitouni Comment je suis devenue une beurgoise 2005. <?page no="110"?> Die Beur-Generationen 108 dung - die Erinnerungen daran werden analeptisch eingeführt - um eine jüdische Identität zu simulieren und zu authentifizieren. 414 Erst sein Lehrer auf dem Lycée, ein pied-noir, bietet dem jungen Azouz eine Möglichkeit, in der Schule die Erfahrungen mit der Immigrationsgeschichte der Eltern einzubringen. Er etabliert eine gewisse Solidarität und zeigt seine Sympathie gegenüber Azouz: „Eh bien: vous voyez: moi je suis français et je suis né en Algérie, et vous, vous êtes né à Lyon et vous êtes algérien.“ 415 In der Figur des Lehrers scheint sich zum ersten Mal innerhalb des französischen Schulsystems die Kolonialgeschichte Frankreichs abzuzeichnen; Frankreich und Algerien werden erstmalig historisch in Beziehung gesetzt. Der Lehrer zeigt ihm die arabische Schrift und zeigt sich doch bescheiden in seinen arabischen Sprach- und Schriftkenntnissen: „Modeste, le prof. Il est en train de m’expliquer mes origines, de me prouver ma nullité sur la culture arabe et il ose dire qu’il parle arabe presque aussi bien que moi! “ 416 Der Lehrer macht ihn auch mit algerischer Literatur vertraut. Und so fordert dieser Lehrer erstmalig mit einem Interesse, das nicht der Diskriminierung dient, Azouz auf, von seiner Familie, den Lebensumständen und von seiner alltäglichen Welt zu erzählen. Azouz schreibt sogar einen Aufsatz zum Thema Rassismus, der mit der besten Note der Klasse bewertet wird: „J’étais enfin intelligent. La meilleure note de toute la classe, à moi, Azouz Begag le seul Arabe de la classe. Devant tous les Français ! “ 417 Der Roman könnte als Bildungsroman 418 oder Entwicklungsroman gelesen werden, da es zentral um den Aufstieg des ungebildeten Immigrantenjungen Azouz geht: Azouz will Klassenbester werden, um die Gleichwertigkeit der ‚Araber’ zu beweisen. Sein Wille zur Assimilation wird zum Leitmotiv des Romans. Die Rolle des Ich-Erzählers dient nicht nur der Exemplifizierung der Schule als Ausweg aus sozialer und ethnischer Marginalisierung, sondern auch als Figur, der viele Grenzen ausschreiten muss (und tatsächlich nicht zu Überschreiten vermag): topologische, chronologische und identifkatorische Grenzen zwischen Elternhaus und Schule, zwischen arabischer und französischer Identifikation, zwischen arabischer und jüdischer Marginalisierung, zwischen Eltern- und Kindgeneration. In dem Roman Georgette! nun spielt die Schule zwar auch eine konträre Rolle zum Elternhaus, doch stellt sie sich nicht nur als ein Ort spezifischen 414 Vgl. ebd., S. 188ff. Interessant ist dabei die De- und Resignifizierung dieser körperlichen und kulturellen Markierung: Diente ihm vor seinen arabischen Freunden seine Beschneidung noch als letztgültiger Beweis dafür, ein richtiger Araber zu sein, wird sie nun zu einem anderen religiösen und damit kulturellen Zeichen. Als seine Mutter ihn eines Tages von der Schule abholt und vor dem Schultor in ihrer algerischen traditionellen Kleidung auf ihn wartet, sieht Azouz sie zum ersten Mal mit fremdem Augen: Er schämt sich wegen ihrer Kleidung, aber auch, weil er nun fürchtet, dass seine Tarnung als jüdischer Junge auffliegen könnte. 415 Ebd., S. 210. 416 Ebd., S. 215. 417 Ebd., S. 224. 418 Vgl. Reeck 2004 und Hargreaves 1989, bes. S. 93f. <?page no="111"?> Die Beur-Generationen 109 französischen Wissens, das die Generationen der Immigranteneltern von ihren Kindern trennt, dar: Die Institution repräsentiert im Besonderen die Schrift und die Fähigkeiten des Schreibens. Als etwa die Mutter ihrer Tochter für die Schule einen Bleistift der Stärke HB besorgen soll und ihr drei Bleistifte der Stärke 2H kauft, zeigt die Diskussion den französischen Bildungs- und Wissensvorsprung der Tochter und die Entfremdung durch den elterlichen Analphabetismus sowie die plötzliche Unmöglichkeit und Unfähigkeit, zwischen den Generationen zu vermitteln. Schließlich gibt es das Mädchen sogar auf, ihren Eltern zu erklären, dass es sich nicht um eine Marke handeln kann, wie der Vater in arabisiertem, oralem Französisch energisch behauptet: Tu crois qu’ j’comprends rien à tes zaches. Mais j’comprends tout ! C’est pas ma petite morveuse qui va m’apprendre la vie ! C’est pas les zaches qui comptent ! Zache, c’est la marque.[…] La vérité, c’est pas l’crayon…La vérité, tu fais des bêtises à l’école derrière mon dos et tu m’déshonores ! […] J’fais l’discuzition avec la maîtresse ! 419 Die Komik, die sich hier auf Kosten des Vaters einstellt, ist ambivalent, denn die Tochter will ihre Eltern nicht leichtfertig der Lächerlichkeit preis. Der kulturelle Hintergrund der Eltern wird nur durch das konfliktäre Wissen der Eltern in Bezug auf das Schulwissen der Eltern der Tochter - die Sprache und das Schreiben nehmen hier eine besondere Rolle ein. Die junge Protagonistin erlernt eine Kulturtechnik, die an westlichen Maßstäben und der französischen Sprache ausgerichtet ist; das Wissen des Vaters, seine Schrift- und Sprachkenntnisse sind in Frankreich inexistent - wenn nicht sogar ‚falsch’, was an dem Schreibgerät des Bleistifts vorgeführt wird. Die Ich-Erzählerin erlernt in der Schule damit nicht nur Lesen und Schreiben, sondern gleichsam Werte und Normen der französischen Kultur, die denen des Vaters diametral gegenüber stehen: Sie sind verkehrt herum, wie die Schreibrichtung im Schulheft. Sylvie Durmelat metaphorisiert die Protagonistin gar selbst als zu beschreibendes, weißes Blatt, auf dem sich die konträren Systeme der Schule und des Elternhauses einschreiben. 420 Mireille Rosello hält die in Georgette! beschriebene Problematik der Produktion von Differenzen durch die Bildung in der Schule gar für paradigmatisch für die frühen 1990er: „En fait, le cas de Georgette me paraît révélateur de la façon dont on peut, en France 1993, imaginer l’éducation, l’école et l’identité nationale.“ 421 Die Protagonistin schildert das Unverständnis und Unvermögen des Vaters gegenüber der französischen Schrift; er beherrscht sie nicht, ist eifersüchtig und kann nur imitieren und kopieren. 422 Doch nicht nur die Schrift des Vaters bildet ein Gegenmodell zur französischen Schrift in der Schule, auch die Henna-Verzierungen, die ihre Mutter ihr auf die Haut zeichnet, 419 Belghoul 1986, S. 17. 420 Vgl. Durmelat 1996, S. 39. 421 Rosello 1994, S. 33. 422 Vgl. Belghoul 1986, S. 108. <?page no="112"?> Die Beur-Generationen 110 markiert den Körper der Tochter. So kontrastieren das Rot der Hennazeichnungen, aber auch die grünen und roten Strümpfe des Mädchens (die Farben der algerischen Flagge) mit dem Blau der Tinte und der Augen der Lehrerin. Das Erlernen des Schreibens wird in einen Zusammenhang mit der Akkulturation an Frankreich gestellt, wie Durmelat betont: „Apprendre à écrire et à lire est pour l’institution [l’école, K.S.] le plus sûr des marquages, surtout lorsque les parents sont analphabètes. La petite fille devient portedrapeau en devenant porte-plume.“ 423 Die Protagonistin befindet sich in dem Dilemma zwischen ihrem Elternhaus und der Schule, verkörpert durch die Lehrerin, vermitteln zu müssen und nicht zu können. Das Mädchen bringt die Bewertungen und ihre unlösbare Vermittlerrolle vehement zum Ausdruck: Jamais de la vie j’organiserai un rendez-vous entre un idiot et la maîtresse. Je préfère mourir ici, assise, jusqu’à demain matin. Je préfère être absente en classe tous les jours d’école. En vérité, je suis bête comme mes parents. Cette mine HB obligatoire, j’y comprends rien. Un crayon noir c’est un crayon noir ! Pourtant, HB, je suis sûre que c’est pas une marque […] 424 Der Versuch, sich auf die Seite der Eltern zu schlagen, ihr Wissen anzunehmen und sich gegen das Wissen der Schule zu entscheiden, schlägt dennoch fehl. Der Analphabetismus ihrer Eltern ist dem Mädchen peinlich, so dass sie niemandem davon erzählen mag, aus Angst, die Lehrerin könnte ihre Eltern auch in die Schule schicken wollen. 425 Und so kommt sie, wenn sie an die Schlichtung familieninterner Schwierigkeiten denkt, auch zu dem Schluss: „Il est pas idiot, mon père. Ni ma mère non plus. Ils comprennent pas le crayon mais c’est normal. Moi-même, je peux pas leur expliquer.“ 426 Das Verhältnis zur Lehrerin ist sehr ambivalent: Die junge Ich-Erzählerin fühlt sich oftmals von ihr bedroht, besonders durch die Schläge mit dem Lineal, aber sie bewundert sie auch aus ganzem Herzen. 427 Schwierig werden die Situationen immer dann, wenn der Vater mit seinem Wissen eine konträre und damit konflitäre Position zu dem französische Schulwissen einnimmt, welches die Lehrerin verkörpert. Dies ist besonders in der Passage signifikant, in der die Protagonistin auf Anweisung ihres Vaters das Schulheft von der ‚falschen’ Seite zu beschreiben beginnt und die Lehrerin, bei der Hausaufgabenkontrolle, auf der ‚richtigen’ Seite des Heftes nur leere Seiten vorfindet. Deutlich wird der Konflikt zwischen dem Leben und den moralischen Werten in Frankreich und dem Herkunftskultur der Eltern, als der Vater in dem Schulheft der Tochter in arabischer Sprache etwas schreibt und 423 Durmelat 1996, S. 40. 424 Belghoul 1986, S. 18. 425 Vgl. ebd. 426 Ebd., S. 19. 427 Vgl. bspw. ebd., S. 40ff. <?page no="113"?> Die Beur-Generationen 111 seine Tochter anweist es abzuschreiben. 428 Im Folgenden wiegt er Wissen und Werte Frankreichs und seiner Heimat gegeneinander auf: Tu crois que c’qu’elle raconte la maîtresse, c’est ça l’bien ! Y a pas de bien qui peut venir d’eux, y’en a pas ! […] Et toi, tu viens m’saboter l’éducation d’mes enfants. T’es le poison dans la maison. […] Mais moi, j’suis pas Si Slimane ! Sa femme et ses enfants qui lui ont chié sur sa barbe blanche. Il bosse toute sa vie pour eux… A la finale, elle a monté les enfants contre lui. J’l’avais dit : si tu t’marié avec la femme d’ici, c’est l’catastrophe. Moi, j’ai marié avec une femme d’mon village, c’est l’catastrophe la plus pire. Madame la Biquette, elle veut faire l’occidentale. Elle est plus pire que la mode des mini-jupes ! Mais moi, j’suis pas Si Slimane ! Je vous tuerais tous ! Un par un. J’ai pas peur d’ la justice des hommes. La justice d’ici, des chiens, moi j’l’emmerde…J’ecris tranquillement les paroles de Dieu sur l’cahier da ma fille et regarde le résultat : ta mère, elle m’envoye l’bombe atomique sur ma gueule. 429 Der Konflikt zwischen dem Vorbild des Vaters und dem Vorbild der Lehrerin wird zum Leitmotiv des Romans. Beide Seiten lernen sich nie kennen, und der Vater urteilt über eine Lehrerin, die er gar nicht kennt: „Mon père n’est pas un âne mais il invente une maîtresse qu’il a jamais vue. Il imagine n’importe quoi et des montagnes d’erreurs […] il voit juste ce qu’il croit.“ 430 Weltbilder und Perspektiven, die des Immigranten und die der Lehrerin, werden hier einander gegenübergestellt, mittels normativer Kategorien von ‚richtig’ und ‚falsch’ unterteilt und als Phantasmen entlarvt. Die Schriftzeichen des Vaters der Erzählerin in Georgette! kommen ihr wie kindliche Kritzeleien vor, so dass sie für die Tochter einerseits eine Degradierung des Vaters bedeuten („une écriture de môme“ 431 ), aber andererseits auch eine mögliche Verbindung zu seiner Kindheit darstellen: „J’ai pas de photo de mon père quand il était gosse. Les gribouillages c’est le seul souvenir où il était petit“. 432 Die Wertesysteme treffen in der jungen Ich-Erzählerin zusammen, die sie nicht die sie nicht zu harmonisieren vermag. So kommt sie zu dem Schluss, dass das System des Vaters das falsche ist: „C’est lui qui me trompe! Il fait un modèle à l’envers. […] L’écriture à l’envers n’existe pas! En vérité, il sait pas écrire et il me raconte des histoires debout.“ 433 Der Vater belügt sie und bringt ihr alles ‚falsch herum’ bei - sie kann sich nicht mehr an ihm orientieren. Und so wird nicht nur das Wissen des Vaters degradiert, sondern vielmehr die Schrift selbst zum Ort der unmöglichen kulturellen Verhandlung, wie Sylvie Durmelat feststellt: „L’écriture donne lieu, littéralement donne un espace, à un périlleux apprentissage des simulacres de l’identité et des interférences de la loi du père 428 Vgl. Ebd., S. 44ff. 429 Ebd., S. 46. 430 Ebd., S. 30. 431 Ebd., S. 109. 432 Ebd. 433 Ebd., S. 58. <?page no="114"?> Die Beur-Generationen 112 et de celle de la maîtresse.“ 434 So will die Erzählerin, quasi als Ausweg, eine schöne Handschrift erlernen, mittels derer sie Vater und Lehrerin versöhnen möchte: „Dès que je dessine une écriture magnifique, aussi belle que la voix de mon père, je m’en vais loin d’ici, je me sauve au ciel avec un bon métier.“ 435 Hier verbinden sich die französische Schrift und die arabische Stimme des Vaters auf Schönste; diese Verbindung aber kann die Protagonistin nur in den Himmel, also an einen utopischen Ort führen. Und so enttäuscht sie ihre Lehrerin und ihren Vater gleichermaßen. 436 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Bezugnahme auf nationale Räume, die Verortung in der urbanen banlieue und im Elternhaus, in denen jene nationalen Positionierungen ebenfalls verhandelt werden eine zentrale Rolle in den untersuchten Texten spielen. Dabei werden zunächst die Räume mit eigenen, widerständigen Bedeutungen aufgeladen und dann unterschiedliche Zwischenräume formuliert, die die problematischen Identitätskonstruktionen der Beur-Figuren widerspiegeln: zwischen den Nationalstaaten, zwischen Elternhaus und Schule und im versichernden Freundeskreis in der banlieue. Es wird deutlich, dass sich Algerien als Heimatland der Eltern nicht nur durch die immer weiter zurückliegende Immigration der Eltern von den Protagonisten entfernt, sondern auch durch die immer unwahrscheinlicher erscheinende Rückkehr zurück. Das Land ist nicht mehr unbedingt Teil der eigenen Erfahrung der Beurs, sondern wird durch Erzählungen und die durch den Kolonialismus geprägte Geschichte vermittelt - einige Protagonisten entlarven das Land explizit als Phantasma. Daher sind die Jugendlichen darauf angewiesen, sich im gegenwärtigen Frankreich einzurichten. Das Elternhaus bietet - wie ihr maghrebinisches Heimatland - keinen adäquaten Lebensraum mehr; besonders für die Mädchen und jungen Frauen wird die Kluft zwischen den anachronistisch anmutenden Geschlechterhierarchien in der Welt ihrer Eltern und den (prä-)feministischen öffentlichen Bewegungen in Frankreich unerträglich. Die Schule funktioniert als antagonistisch konzipierte Sphäre. Als französische Institution verstärkt sie die kulturelle Differenz der Beurs nur noch bzw. stellt sie in ihrer für die Protagonisten prekären Präsenz erst her. Die Rassismen und Exklusionsmechanismen, der die Beurs und Beurettes vonseiten der Lehrerschaft und Mitschüler und Mitschülerinnen sowie durch die Nachbarschaft und Polizei ausgesetzt sind, lässt sie in eine Suchbewegung in Richtung Maghreb fallen; doch auch die Reisen nach Algerien füh- 434 Durmelat 1996, S. 34. Vgl. weiterhin auch die Analysen aus psychoanalytischer Perspektive von Caroline Eysel 1996, die die in Georgette! formulierte „écriture féminine“ in den Blick nimmt. 435 Ebd., S. 64. 436 Vgl. ebd. In Bezug auf den Roman Georgette! untersucht Woodhull: „how ethnicity is overdetermined by other dimensions of social experience such as gender, class, and language.“ Woodhull 1997, S. 33. <?page no="115"?> Die Beur-Generationen 113 ren nur zu der Erfahrung, dass sie auch dort in ihrer kulturellen Differenz, nämlich als Immigranten oder Exilanten, ausgeschlossen werden. Hargreaves fasst die doppelte Zurückweisung von Seiten Frankreichs und Algerien zusammen: Beurs find themselves simultaneously heirs to a feeling of territorial loss and subordinated to alien rule. In France, they are part of an ethnic minority that, partly as a legacy of the war of independence, is frequently the butt of racist attacks from politicians, police officers, and private individuals alike. In North Africa, despite official claims to the contrary, they are not uncommonly despised as Frenchified outsiders. […] Beurs are liable to feel oppressed by and hostile toward alien figures of authority. Heirs to the physical displacement of their parents, they can find an unequivocal sense of belonging on neither French or Algerian soil. 437 Diese doppelte Absenz bzw. Präsenz, wie sie Sibel Vurgun 438 auch formuliert, wird im folgenden Kapitel noch expliziert. Der territoriale Verlust, den Hargreaves hier anspricht, führt dazu, dass die Jugendlichen sich an einem unbestimmbaren Ort befinden; ex negativo formuliert, heißt das, dass sie sich an keinem Ort zuhause fühlen. Nur in der banlieue und in den erbärmlichen Zuständen der bidonvilles an den Rändern der Städte gibt es Solidarität und Zusammenhalt zwischen den Freunden. Par ailleurs, l’apparition du phénomène des bandes - les zulus - a fait couler beaucoup d’encre pendant l’été 1990. Ces bandes ne se reconnaissent que dans le territoire - leur cité - et par leur appartenance ethnique. On est toujours gaulois, beur, feujs, renois, etc. Paradoxalement, les bandes sont à la fois des lieux de métissage et d’affirmation ethnique. 439 So schreibt Farid Aïchoune über den Zusammenhang zwischen der banlieue und den Jugendbanden und die simultane ethnische wie regionale/ territoriale Zuordnung. Die Zwischenräume liegen in der banlieue, im eigenen Jugendzimmer und auf der Türschwelle des Elternhauses. Welche Selbstbilder entwerfen nun die Beurs der zweiten Generation, wenn sie nicht mehr auf die Identifikationsangebote der Eltern, ihrer Herkunft, aber auch nicht des französischen Staates bspw. in Form des Bildungssystems zurückgreifen können? 2.2.3 Identitätskonstruktionen als doppelt Andere Nous sommes comme le Canada Dry. Nous avons des noms arabes, nous sommes aussi bronzés que des Arabes, mais nous ne sommes plus vraiment des Arabes ! Akli Tadjer: Les A.N.I. du « Tassili » In den vorangegangenen Textanalysen ist deutlich geworden, dass die Geschichtserzählungen und die Raumkonstruktionen immanent miteinander 437 Hargreaves 1989b, S. 91. 438 Vurgun 2005. 439 Aïchoune 1991, S. 13f. <?page no="116"?> Die Beur-Generationen 114 verbunden sind. Nun sollen zusammenfassend die Aspekte der chronotopischen Inszenierung im Zusammenhang mit den Identitätskonstruktionen dieser „génération zéro“ 440 erläutert werden. Dabei sind Bewegung und Prozessualität zentrale Merkmale der Selbstentwürfe. Zentrale Aspekte sind: die Bewegung von den nationalen Identitätskonstruktionen zu kulturellen Identifikationen, die mehr als nur nationale Bezüge ausdrücken und damit die Formulierung einer eigenen Heimat und dritter Orte ermöglichen, die Relevanz der Originalität im Sinne einer Herkunft und der Neukreation (analog zur Argumentation der Funktionen des Generationsbegriffs), die Bewegung zwischen den antagonistischen Räumen und Zeitstrukturen und schließlich die Bewegung ‚in die Schrift hinein’, also die zunehmende Reflexion über Sprache und Schrift, über faktuales und fiktionales Erzählen, und über die Selbstinszenierung über Benennungen und Autoproklamationen. Madjid benennt in Charefs Le thé au harem d’Archi Ahmed im „ni arabe ni français“ einerseits die Orientierungspunkte seiner kulturellen Identifikationsmöglichkeiten, die in der arabischen und der französischen Kultur mit ihren Sprachen und ihren Historien bestehen, andererseits aber auch die rassistischen Exklusionsmechanismen und Zuschreibungen, denen er aufgrund seiner Hautfarbe ausgesetzt ist: Madjid ist weder schwarzer noch weißer Hautfarbe („ni blanc ni noir“). Signifikant ist dabei die Schlussfolgerung, die er selbst zieht, nämlich, dass er sich seine eigenen Wurzeln, seine eigenen Bezüge erst imaginieren und herstellen muss („s’inventer ses propres racines“). Exemplarisch für diese Generation lässt sich an dieser Passage illustrieren, dass eine Bezugnahme auf die bestehenden kulturellen identitätsstiftenden Momente nicht (mehr) funktioniert. Die doppelte Ablehnung wirft die Protagonisten und Protagonistinnen auf sich selbst zurück und veranlasst sie - und das wird in dieser Generation als Leidensdruck aber erstmals mit distanzierender Ironie formuliert - ihre eigenen Bezeichnungen, Bezugsnormen und damit ihr eigenes Selbstbild (auch im Rahmen eines neuen Generationsbewusstseins) zu entwerfen. Sibel Vurgun beschreibt diese Problematik mit dem soziologischen Konzept der „double présence“ der Beurs, das sie im Gegensatz zur „double absence“ der Elterngeneration (d.h. die physische Abwesenheit vom Heimatland und die mentale Abwesenheit in Frankreich) versteht: [...] la double présence s’applique aux générations issues de l’immigration, aux beurs [...]. Elle désigne le fait d’appartenir à deux mondes en même temps. La question de retour est transposée au niveau de la culture et il s’agit donc de se dé- 440 So bezeichnet die Co-Autorin und Journalistin Sophie Ponchelet diese Generation, vgl. Benaïssa 1990, S. 139. Auch Gaspard und Servan-Schreiber sprechen von einer „génération zéro“, die immer weniger ohnmächtig zwischen den Kulturen verweilt, sondern die Stimme erhebt und deren Identitätskonstruktionen nicht nur als negativ gewertet werden können: „On l’a décrite, coincée entre deux cultures, à la recherche de son identité. Cela devient chaque jour moins vrai.“ Gaspard/ Servan-Schreiber 1985, S. 190. <?page no="117"?> Die Beur-Generationen 115 cider pour un retour aux origines ou pour l’assimilation. Les générations concernées doivent constamment réfléchir aux exigences de leur groupe d’origine, généralement représenté par leurs parents, et à celles de la société française pour y arriver à une solution personnelle. 441 Die vorliegenden Romane und Tagebücher zeugen von diesen Versuchen der Formulierung neuer Selbstkonzeptionen, eigener Identitätsfiktionen und -imaginationen. Dabei finden die Identitätskonstruktionen in einem Spannungsfeld von Selbst- und Fremdbild statt, das in dieser Generation noch stark durch die kulturrassistischen Fremdbilder 442 bestimmt ist. Hargreaves beschreibt die Einflüsse Frankreichs und Algeriens und die changierenden Identifikationen so: dans leur choix de modèles discursifs, les Beurs ne sont nullement restés coincés pour aissi [sic ! ] dire entre la France et l’Algérie. Les conditions de leur scolarisation sont telles que la littérature française a sans aucun doute influencé chacun de ces écrivains. Arrivés à l’âge adulte, la plupart d’entre eux ont aussi exprimé leur respect envers leurs aînés maghrébins. Mais ils se sont montrés non moins ouverts à des influences venues d’autres pays et d’autres continents. Ils sont, me semble-t-il, à la recherche d’une troisième voie qui, tout en incorporant des éléments français et maghrébins, leur permettra d’affirmer la particularité que [sic! ] est la leur. 443 Es ist in den Analysen deutlich geworden, dass die Beur-Protagonisten versuchen, sich in ihrer Gegenwart einzurichten, da die Vergangenheit der Eltern unerreichbar ist und ihre eigene Zukunft im Dunkeln liegt. In der Situation der Kinder der maghrebinischen Immigranten fallen, wie bereits exemplarisch in der Periode des Algerienkriegs aufgezeigt, algerische und französische Gegenwart zusammen und bestimmen das Gefühl der Protagonisten, keine Zugehörigkeiten formulieren zu können und mit der doppelten Präsenz der politischen Ereignisse überfordert zu sein. Algerien und Frankreich bestimmen als Nationen ebenso das Gefühl der vielfach aufgeladenen Gegenwart, wie das Elternhaus, das die gekappten Verbindungen zur Immigrationsgeschichte und damit zur (familiären) Vergangenheit der Beurs immer wieder vor Augen führt. Es scheint, dass sich die Beurs mehr und mehr durch die Konfrontation mit der Immigrationsgeschichte der Eltern, die sie immer mehr für sich als identitätsstiftend ablehnen, in der Gegenwart 441 Vurgun 2004, S. 65f. Vgl. weiterhin ihre jüngst erschienene Dissertationsschrift Voyages sans retour 2007. 442 Omar entlarvt bspw. generalisierende Bemerkungen zu kulturellen Stereotypen und weist sie in ihrer universalistischen Haltung ironisch zurück: Als Nelly ihn bspw. darauf anspricht, dass sie als Frau besonders das Problem der Frau in Algerien interessiert, führt er Nellys Gemeinplatz ad absurdum durch den Vergleich mit den von Urlaubern am Straßenrand zurückgelassenen Hunden: „Je lui fais remarquer au passage, qu’elle est allée en Algérie trois fois plus que moi et qu’elle ferait mieux de parles des problèmes de la femme. Ras le bol de ces expressions toutes faites: le problème de la femme, le problème de l’immigration, le problème des chiens abandonnés pendant les vacances en Espagne.“ Tadjer 1984, S. 75. 443 Hargreaves 1990, S. 80. <?page no="118"?> Die Beur-Generationen 116 befinden. Ihr Platz ist eine als haltlos erlebte Gegenwart, die sich nicht aus einer Vergangenheit speist und in vielen Romanen auch nicht im Hinblick auf eine Zukunft geformt ist. Nur diese Zeit scheint den Protagonistinnen und Protagonisten der Ort der Existenz zu sein: Madjid und Pat leben in den Tag hinein; Omar hat nur die Zeit, die ihm während der Überfahrt nach Frankreich zur Verfügung steht; Aïcha und Djura leben am Ende versteckt ohne Kontakt zu ihren Familien und damit auch zu ihrer familiären Vergangenheit; in ihrem Tagebuch hält die Erzählerin von Boukhedenna Tag für die Tag die aktuellen Ereignisse fest; Azouz schildert seinen Werdegang im bidonville. Der Moment des Schreibens bietet als Medium und Raum diese Möglichkeiten und ist als Schreibakt, wie bei Georgette! , in der Gegenwart verankert. Hier werden Lebensgeschichten aufgeschrieben und so das gefühlte Vakuum, in dem sich so viele der Beurs befinden, mit dem eigenen konstruierten (Lebens-) Sinn gefüllt. Dabei handelt es sich bei den Identitätskonstruktionen nicht um Erfolgsgeschichten im Sinne von glücklich erlebter und zu einer stabilen Synthese zusammengefügter Hybridität, sondern eher um Leidensgeschichten, selbst im Begag’schen Bildungsroman. Dies rührt daher, dass die literarischen Texte meist als testimoniale Literatur intendiert sind, in der die Autoren und Autorinnen die (nicht nur persönlich erlebten) Diskriminierungen anprangern wollen. Weiterhin aber zeigt sich, dass nicht nur der Raum das Erleben der Zeit bestimmt, sondern auch die Zeit das Erleben des Raumes. Die Gegenwart der Beurs und die verschiedenen Orte beinhalten sich immer gegenseitig: So erscheint die Gegenwart als der zeitliche Rahmen, der durch die räumlichen Strukturen der nüchternen banlieue ebenso gekennzeichnet ist, wie durch die Immigrationserzählungen, also die Geschichtsspuren der Eltern. Es ist ein Raum, der gleichermaßen Gefängnis und Spiel für kreative Gestaltungsformen zu sein scheint. Und im Sinne der cité de transit oder, wie besonders deutlich in Tadjers Roman durch die Reisethematik, wird so eine Sphäre geöffnet, die sich durch den Übergang und Momenthaftigkeit auszeichnet. Die literarischen Figuren imaginieren ihr Leben zwischen konträren Sphären, denen grundsätzlich die Dichotomie zwischen Algerien und Frankreich zugrundezuliegen scheint. Hargreaves fasst diese Heimatlosigkeit, die aus der Immigration der Eltern resultiert, zusammen: „Heirs to the physical displacement of their parents, they can find an unequivocal sense of belonging on neither the French nor Algerian soil.“ 444 Die Bezugnahme auf die nationalen Identitäten, die auch in patriarchalischen Strukturen und religiös-motivierten Traditionen auf die Beurettes wirken und bspw. durch das arabisierte Französisch sprachlich transportiert werden, ist gebrochen - die Bindungen zum Heimatland der Eltern und zum als anachronistisch erlebten Elternhaus in Frankreich werden zunehmend problematisch. In der Schule erleben die Immigrantenkinder, die als solche beständig auch ohne eigene Migrationserfahrung das Etikett der Migration tragen, rassistische Diskriminierungen, 444 Hargreaves 1989, S. 91. <?page no="119"?> Die Beur-Generationen 117 Marginalisierungen und Exklusionen durch Lehrer und Mitschüler gleichermaßen. Diese Restriktionen und doppelten Exklusionen führen dazu, dass sich die Beur-Protagonisten zu einer Bewegung zwischen Räume und Orte gezwungen sehen. Denn die Bewegungen zwischen den, aber vielmehr noch zwischen die kulturellen Sphären bilden den Raum der Identitätskonstruktionen der Beur-Protagonisten. Der Bruch durch in der Geschichte durch die Immigrationserfahrungen der Eltern schlägt sich also auch auf die Orte aus: Elternhaus, Schule und banlieue sind von diesen Geschichtsspuren beeinflusst. Ihren Lebensraum sehen die Beurs in der Gegenwart, die aber durch die Immigrationsgeschichte der Eltern noch so deutlich beeinflusst ist, dass sie noch nicht selbstbewusst als eigene Zeit in Anspruch genommen wird. Die Reaktionen auf die identitären Zuweisungen oder Ausschlussmechanismen vonseiten der französischen Gesellschaft haben unterschiedliche Reaktionen der Beurs ausgelöst: die Assimilation, die Revolte oder die Passage in alternative Räume. Konkrete Bewegungen in der Handlung spiegeln dabei den Wandel der Identitätsimaginationen - besonders deutlich wird dies in dem Reiseroman Les A.N.I. du « Tassili » von Tadjer, der ja gerade die Reise zwischen Algerien und Frankreich und damit auch zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart im Sinne unterschiedlicher Zeiterfahrungen inszeniert. So imaginiert Omar auch humorvoll einen immensen Liegestuhl, dessen Spannweite von Tamanrasset bis Dunkerque reicht. 445 Auch die jungen Beurettes reisen mehrfach zwischen Algerien und Frankreich hin und her; 446 Madjid und Pat bewegen sich bei Charef durch ihre Stadt und erleben den Unterschied zwischen der menschlichen Nähe in der elterlichen Wohnung von Madjid und in ihrer Bar, 447 in der sich die Freunde immer wieder 445 „Tu sais, ma chère, avoir le cul entre la France et l'Algérie, c'est avoir le cul mouillé, et je ne supporte pas les fesses mouillés. [...] Je me suis acheté un immense transat qui, une fois déplié, s'étale de Tamanrasset à Dunkerque.” Tadjer 1984, S. 174. 446 Auch bei Nini spielt sich die finale Auseinandersetzung zwischen der jungen Protagonistin Samia und ihren Eltern bezeichnenderweise im Zwischenbereich des Hausflurs ab: An diesem Ort des Übergangs und der (Haus-)Öffentlichkeit kann die Erzählerin ihren Eltern endlich die Meinung sagen und die Familie verlassen, vgl. Nini 1993, S. 242ff. Besonders die Beurette nehmen in den Romanen oftmals die Rolle der Übersetzerin und Übermittlerin ein. So auch Samia, die ihre Mutter oft bei Ämtergängen begleiten muss um hier zu dolmetschen. Und auch in Le gone du Chaâba von Begag stellt Azouz’ Schwester Zohra die Figur der Übermittlerin und Übersetzerin dar: Sie muss ihren Eltern und den anderen Viertelbewohnern Briefe aus dem Französischen übersetzen, Zeugnisse vorlesen und die Schulnoten verkünden. Vgl. Begag 1986, S. 85. 447 So wird von der Bar erzählt, die Maggy führt, vor der die Jugendlichen großen Respekt haben, die den Mädchen und Jungen von der Straße einen Platz an der Theke oder am Flipper-Automaten gibt: „Elle nous aimait bien, la Maggy, on le lui rendait bien aussi. Elle nous appelait ses petits. Dans son bistrot, restait toujours un peu de chaleur humaine, toujours un pote, une cigarette, une pièce qu’on te tendait. Jamais d’histoires non plus chez Maggy : pour se battre on allait dehors, loi. Pour ne pas la contrarier.“ Charef 1983, S. 139. <?page no="120"?> Die Beur-Generationen 118 treffen, und der Kälte und Anonymität in den öffentlichen Räumen der Trabantenstädte, dem unerreichbaren Luxus in der Pariser Innenstadt. Und auch in Begags Le gone du Chaâba zieht der junge Azouz 448 parallel zu seinem schulischen Aufstieg mit seiner Familie mehr und mehr ins Zentrum der Stadt; als der Junge zur Belohnung der überstandenen Beschneidung ein Fahrrad geschenkt bekommt, zerstört der Vater es kurze Zeit später - die eigenständige Mobilität verweist auf die Missachtung der väterlichen Autorität und metaphorisch auf die Distanzierung vom Elternhaus. 449 Das Bild der Elterngeneration, das meist auf die Immigrantenkinder übertragen wird, müssen die Kinder daher ablehnen und ein eigenes Selbstbild formulieren: Ainsi ce jeune maghrébin issu de parents immigrés travailleurs manuels refuse cet « immigrage » et s’invente par nécessité une nouvelle image, là aussi avec la volonté de se démarquer des jeunes français, même s’il existe des solidarités objectives dans les périphéries de certaines grandes villes. 450 Barbara beschreibt also die bereits skizzierte doppelte Distanzierungsbewegung: Die Beurs lehnen demnach das Selbstbild der Eltern ab, beharren aber auch auf ihrer Differenz gegenüber den „französischen“ Jugendlichen. So entsteht das Selbstbild als Beurs, dem Barbara nur einen transitorischen Charakter in dem Sinne zuspricht, dass es nur eine Ersatz-Identität („une identité-substitut“ 451 ) im Übergang zu formulieren vermag, bis es bei einer anderen definitiven Identität angekommen ist. Hier greift die Argumentation von Baraba m.E. zu kurz, denn gerade in der Literatur zeigt sich, dass die Eindeutigkeit und Homogenität von Identitäten - und seien sie auch im Spivak’schen Sinne des „strategischen Essentialismus“ 452 formuliert - scheitern und immer von Neuem in einem Zwischenraum reformuliert werden müssen. Auch Calvet beschreibt in seinen Analysen des Rap und des Verlan explizit jenen Zwischenraum, den die Jugendlichen sprachlich markieren und ausgestalten. Die Marginalisierung der Jugendlichen führt nach Calvet zunächst zu einer Auto-Exklusion, die mit der Glorifizierung eigener Charak- 448 Die Bewegungen des Protagonisten Azouz sind vielfältig, aber in jeder Hinsicht grenzüberschreitend: So zeichnet sich in den Umzügen der Familie und der anderen Mitglieder der Chaâba eine allmähliche Bewegung von der Peripherie ins Zentrum ab. Parallel zu dieser topologischen Bewegung ist die Schulbildung, also Azouz’ schulischer Aufstieg, die den Jungen in die französische Gesellschaft und ihr Bildungsgut hineinführt. Sie macht ihn aber auch zu einem besonderen Fall, so dass er sich grundsätzlich als Individuum von den Kollektiven seiner Familie und seiner Nachbarn abhebt und letztlich stets zwischen den Kollektiven steht und eine Art doppelte Distanz. Vgl. dazu die Überlegungen von Sibel Vurgun 2004 zur „double absence“. 449 Vgl. dazu die Überlegungen von Ernstpeter Ruhe 2001, bes. S. 68. 450 Barbara 1986, S. 135. 451 Barbara 1986, S. 135. 452 „I would read it [the work of Subaltern Studies, K.S.], then, as a strategic use of positivist essentialism in a scrupulous visible political interest.“ Spivak 1996, S. 214. <?page no="121"?> Die Beur-Generationen 119 teristika einhergeht und die Benachteiligungen mit eigenen Zeichen besetzt werden, und sich so eine ganze Kultur im Zwischenraum ausbildet: Nous avons vu la notion d’interstice, interstice géographique et social, lieu de passage culturel, lieu de transition. […] des jeunes entre deux cultures, celle de leurs parents et celle du pays d’accueil, entre deux langues, cultures et langues qu’ils ne dominent pas, se donnent une culture intersticielle à des fins identitaires. 453 Begag sieht in diesem Zwischenraum das Potenzial für seine Literatur: J’ai toujours cherché, quant à moi, dans mon expérience d’écriture, à me situer dans l’entre-deux entre la France et l’Algérie, entre l’univers de ma famille, ses codes, ses rituels, son langage, et celui du dehors, de l’école, de la rue, de la société. Je me suis vite rendu compte que gisaient dans cet interstice de grandes sources d’exploitation littéraire propices au développement humoristique. 454 Doch dieser Zwischenraum ist nicht geschichtslos - die Beurs formulieren immer wieder Auseinandersetzungen mit der Originalität in einem doppelten Sinne: originale und originelle Räume und Geschichten werden entworfen. Als wichtige inhaltliche Aspekte werden in diesen literarischen Texten der Konstruktcharakter von Nationen und Identitäten entlarvt und spielerisch genutzt, die Interdependenzen von kultureller und geschlechtlicher Identitäten aus der Perspektive der Beurettes, die Symbolfunktion der Namensgebung, die Vieldeutigkeit und Vielstimmigkeit sowie das Moment der Bewegungen. Spricht Madjid in Le thé au harem d’Archi Ahmed davon, sich die eigenen Wurzeln zu erfinden, so verweist dies auf einen Themenkomplex der Herkunft und des Ursprungs. Paradigmatisch erscheint dabei die Verknüpfung von Herkunft und Nationalität, wie sie bei staatsbürgerlichen Zugehörigkeiten formuliert werden müssen. Eine ‚Identität von Staats wegen’, die auf der „carte d’identité“, dem Personalausweis, verzeichnet ist, bildet auch den Ausgangspunkt des Romans und der Reise Omars in Les A.N.I. du « Tassili » von Tadjer. Der Roman beginnt in der Warteschlange für die Pass- und Grenzkontrolle, die es vor der Schiffsreise zu absolvieren gilt. Omar hat die notwendigen Dokumente bei sich, füllt alle Formulare aus und ist dennoch nervös und angespannt. Die Formulare sorgen für Verwirrung, denn Omar kann keine eindeutige Angabe unter dem Feld „Origine“ machen. Bereits bei seiner Ankunft hatte es Probleme gegeben: Je fus la naïve victime de ce formulaire-piège en pensant qu’étant né à La Garenne-Colombes j’étais d’origine française. Les quolibets du flic de service ne tardèrent pas à fuser. « Bienvenue en Algérie, fils de Madame la France ! Bonjour monsieur de La Garenne-Collobes, ironisait-il. […] 453 Calvet 1994, S. 268 (Hervorhebungen im Original). Zur Untersuchung von linguistischen Aspekten und narratologischen Konstruktionen besonders in der postkolonialen Narratologie vgl. Gymnich 2002. 454 Begag 1998. <?page no="122"?> Die Beur-Generationen 120 « T’as un passeport algérien, tes origines sont algériennes. Que tu sois né à Paris, New York ou Moscou, ça ne change rien ! Le bon sens m’avait foudroyé. J’étais comme KO technique. Je mis quelques instants avant de refaire surface. On pouvait donc être d’origine algérienne tout en ayant vu le jour dans les Hauts-de-Seine… - Mais alors, pouvez-vous m’expliquer pourquoi il y a deux questions à mon avis différentes pour la même réponse Origine - Nationalité ? 455 Für Omar gibt es einen Unterschied zwischen der staatlich „verordneten“ und in seinem Pass eingetragenen Nationalität und seiner Herkunft - während seine affektive und durch die Geburt begründete Herkunft für ihn Frankreich, d.h. La Garenne-Colombes, darstellt, ist seine nationale Zugehörigkeit durch den Pass an Algerien gebunden. Hier führt Omar zum einen die von ihm empfundene Absurdität des staatsbürgerlichen Prinzips der verwirrenden Verquickung von ius soli und ius sanguini, dem „double droit du sol“, vor und zum anderen die Distanz zu Algerien bzw. die Nähe zu seiner Pariser Vorstadt. Omar zeigt auf, welchen Konstruktionsprozessen das identitätsstiftende Moment der Herkunft unterliegt - je nach Interessenslage (politisch, affektiv, kollektiv, individuell) ist sie anders zu definieren. 456 Mit Foucault ließe sich diese Definition der Identität durch den Staat als eine Konstruktion entlarven, die sich nicht mit den literarischen Identitätskonstruktionen deckt: „Ne me demandez pas qui je suis et ne me dites pas de rester le même : c’est une morale d’état civil; elle régit en nos papiers. Qu’elle nous laisse libres quand il s’agit d’écrire.“ 457 Auch die Erzählerin in Belghouls Georgette! demontiert das vermeintlich zuverlässige und aussagekräftige Bild der „carte d’identité“: Sie zieht als Beispiel ‚Indianer’ heran, deren Tarnung auch ein Ausweis nicht aufheben kann: „La carte d’identité des indiens est un secret de guerre. [...] Personne connaît la vraie figure des indiens.“ 458 Die spielerische Tarnung und die Anspielung auf die hierarchischen kolonialistischen Beziehungen zwischen Cow-boys und Indianern führt ihre Situation als Kind einer Immigranten- 455 Tadjer 1984, S. 12 456 In dem zweiten Roman von Begag, Béni ou le Paradis Privé, begegnet der jugendliche Protagonist mit Sprachwitz und Ironie der Frage der Lehrerin nach seiner Herkunft und führt die Frage so ad absurdum: „- De quelle origine vous êtes ? - Humain, j'ai dit pour plaisanter. - Non, allez, sérieusement, elle a demandé en égal à moi. - Algérien. - Pour un étranger, vous maîtrisez plutôt bien le français. Félicitations. - Je suis né à Lyon, j'ai corrigé. - Félicitations quand même.“ Begag 1989a, S. 38. Allerdings - darauf weisen auch Doris Ruhe und Samia Mehrez zurecht hin - machen sich die Erzähler bei Begag oftmals über die Immigranten und Immigrantinnen lustig und entlarven seltener wie oben französische Lehrer oder Nachbarn. Diese Form der Selbstironie bewegt sich auf einem schmalen Grad: Ruhe und Mehrez lesen daraus die Position eines Außenstehenden, nämlich die von Begags Protagonisten angestrebte Selbstkonstruktion als französischer Mittelschichtsbürger. Vgl. dazu Mehrez 1993 sowie Doris Ruhe 1998. 457 Foucault 1969, S. 28. 458 Belghoul 1986, S. 72. <?page no="123"?> Die Beur-Generationen 121 familie doppelt vor: Zum einen wird ihr als Mädchen noch keine staatliche Identität zugeordnet und zum anderen beschreibt sie in dem Topos des Cow-boy-und-Indianer-Spiels das Spiel mit der Tarnung des „wahren Gesichts“. Die Selbstentwürfe der Beur-Protagonisten gehen unmittelbar mit der Formulierung neuer Benennungen einher: Die eigene „Etikettierung“ bspw. in Form der Vornamen der Protagonisten 459 spielt dabei ebenso eine Rolle wie die Namensgebung (durch die Eltern). Djura setzt in Le Voile du silence den Namen ihres Sohnes bewusst ein, der nicht nur für die Hybridität von zwei Sprachen, Kulturen und Geschichten steht, sondern auch auf die Zukunft verweist: Mon fils se prénomme Riwan. En Berbérie, cela veut dire « enfant de la musique ». Dans la Bretagne d’Arthur et la Table Ronde, cela signifie « le roi qui avance. » Riwan est un Berbère-Breton. 460 Auch hier hat der Name ihres Sohnes nicht nur mehrere Bedeutungen in den unterschiedlichen Sprachen, sondern markiert auch die programmatische, harmonische Verbindung (Berbère-Breton) zwischen unterschiedlichen Kulturräumen in einem Kind. Dennoch gilt dieses zukunftsweisende Moment nicht ihr selbst, sondern erst ihrem Sohn - analog zu den anderen Romanen der von mir angenommenen zweiten Beur-Generation sind die Selbstentwürfe der Protagonisten in der Gegenwart verhaftet. Besonders deutlich wird die Relevanz der Namensgebung in Tadjers Les A.N.I. du « Tassili », denn Omar gibt mit steter Ironie seinen Mitreisenden Spitznamen: Er gibt ihnen zahlreiche Spitznamen, die sich meist aus ihrem Aussehen ableiten und die der Erzähler, auch wenn sich die Figuren mit ihrem richtigen Namen vorgestellt haben, beibehält. Omar kreiert in Les A.N.I. du « Tassili » sogar einen neuen Begriff: Er erzählt mit ironischem Unterton nicht nur von seiner Herkunft, sondern auch von seiner Identität als A.N.I., als Arabe non identifié. Diesen begründet er naturwissenschaftlich und konterkariert damit die nationalistischen, rassistischen und biologistischen Diskurse um seine Herkunft: „J’ai été doté à la naissance d’un chromosome supplémentaire que seul un peuple sur la planète terre possède. Son nom : « 500 000 ANI. »“ 461 Die identische Formulierung der „500 000 ANI“ - hier wird also auch formal eine Identität erzeugt - wird kurz darauf wieder aufgegriffen und von der biologistischen, genetischen Argumentationsfigur nun um eine spatiale und kulturelle Ebene erweitert: Ainsi donc un peuple nouveau est apparu sur la terre en les années 1950-1980 de notre ère. Ce peuple porte le nom de son chromosome « 500 000 ANI » (500 000 459 In Begags Roman Béni ou le paradis privé weiß der Protagonist seinen Namen in unterschiedlichsten Kontexten positiv für sich zu nutzen: „Béni, c’est moi, mon fils dans la langue du Prophète, béni dans celle du Christ, anagramme de bien dans celle du Petit Robert. J’avais tout pour réussir, tout pour plaire.“ Begag 1989a, S. 35. 460 Djura 1990, S. 189. 461 Tadjer 1984, S. 23. <?page no="124"?> Die Beur-Generationen 122 correspondant au nombre de cas dépistés et recensés, ANI signifiant Arabes non identifiés). […] Ils ont, en l’espace d’une génération, crée leur propre espace culturel, leur propre code, leur propre dialecte. Ils sont beaux. Ils sont forts. Ils savent d’un seul coup d’œil faire la différence entre un vrai et un faux ANI. 462 Hier drückt sich das Selbstverständnis und damit das Selbstbewusstsein einer ganzen Generation aus, die ihren eigenen symbolischen, also kulturellen Raum in Frankreich geschaffen hat - mit ihren eigenen Codes und ihrem eigenen Dialekt. Und obwohl Omar und Féfer die poetische Gestaltung der banlieue für unmöglich halten, sei es aus mangelnder Erfahrung, sei es aus dem Grund, dass die urbane und marginalisierte Realität nicht romantisiert werden können 463 , erkennt Omar, dass die Existenz als A.N.I. ihm neue Möglichkeiten eröffnet. Diese neue Identifikationsfigur hat dabei einen paradoxalen ‚doppelten Boden’: Die Identifizierung als A.N.I. beinhaltet gerade die Identifizierung mit einer Nicht-Identifizierbarkeit („non identifiés“). Sie sind nicht zu verorten und festzulegen: Weder wird eine nationale Identität neu entworfen, noch entscheidet sich Omar zwischen Algerien und Frankreich. Die Konstruktion nationaler wie kultureller Identifikationen wird von Omar im Gespräch mit Nelly noch einmal unterstrichen und damit hebt er den Exklusionscharakter auf, den er zunächst noch formulierte („faire la différence entre un vrai et un faux ANI“): - On ne choisit pas son destin, ma chère Nelly. Tout le monde ne peut pas être né ANI…Heureusement…T’imagines tous les transats qu’il faudrait si toute la planète était peuplée de gens comme moi ? …L’angoisse ! J’aurais même plus de place pour profiter des soleils… Remarque, rien ne t’empêche de rêver que t’es une ANI, non, rien ne t’empêche. 464 Allerdings betont Omar, dass die imaginäre und imaginative Selbstkonstruktion nicht jedem erlaubt und ermöglicht wird: Elle ne saura pas qu’il n’est pas permis à tout le monde de passer sa vie à s’inventer des pays, des histoires, des cauchemars, des rêves, la vie et moi-même. Et chaque jour qui passe dans ma cité de La Garenne-Colombes, je prends rendezvous avec mes pays, mes histoires, mes cauchemars, mes rêves la vie et moimême. Je les glisse dans mes babouches et vogue la galère, à moi les aventures. 465 Omar beschreibt in einem inneren Monolog ein Selbstbild, das in der (hierarchischen) Differenz und gleichzeitigen Identität mit den Algeriern entsteht: „Elle [Nelly, K.S.] ne saura jamais non plus qu’entre les Algériens et nous, les ANI, il y autant de différences qu’entre moi et mon image qui se reflète dans un miroir.“ 466 Hier ist die Identität durch ein Wechselspiel von 462 Ebd., S. 27. 463 Vgl. ebd., S: 138f. 464 Ebd., S. 174. 465 Ebd., S. 175. 466 Ebd. Nellys Fragen an Omar am Ende des Romans richten sich an gemeinsame Erfahrungshorizonte, die medial, aber auch gesellschaftlich-politisch geprägt sind. Auf der chronologischen Ebene fragt sie nach Wahrnehmungen in der Gegenwart, auf der <?page no="125"?> Die Beur-Generationen 123 Bild und Abbild formuliert - das Original sind dabei immer noch die Algerier, deren spiegelbildliche Reflexion die A.N.I. darstellen. Dieses Verhältnis von Bild und Abbild, von Original und Kopie, spielt in Belghouls Roman Georgette! ebenfalls eine Rolle. Die Protagonistin inszeniert ihr Selbstbild in kindlichen Spielen. „Je marche comme un vieux de soixantedix ans. C’est une raison de me respecter. En vérité, j’ai sept ans.“ 467 So stellt sich die junge Ich-Erzählerin in Georgette! vor; mit ihrem Gang simuliert sie ein hohes Alter, um Respekt zu bekommen, denn in der Schule wird sie von den anderen ignoriert. Dann reagiert ihre Mitschülerin auf ihre Art zu gehen - allerdings anders als von der Ich-Erzählerin erwartet: „Ça se voit que t’es l’arabe comme tu marches! “ 468 Hier wird ein antagonistisches Moment formuliert: Der spielerische Umgang mit den eigenen Identitätskonstruktionen der Erzählerin steht den festen Zuschreibungen der Mitschüler diametral gegenüber. Die Protagonistin wehrt sich vehement gegen diese Zuschreibung; zum einen, weil sie sich nicht unbewusst und „natur-gemäß“ so bewegt, sondern die Bewegungen absichtlich inszeniert, und zum anderen, weil sie das unbekannte Arabersein gar nicht imitieren kann. Nicht einmal ihre Eltern laufen in dieser Weise: Je marche comme un vieux: je le fais exprès ! Elle ignore le respect, celle-là ! Je marche pas comme son copain. C’est pas vrai ! Je l’ai jamais vu. D’où je le connais ! C’est impossible de copier sur un inconnu ! Des vieux, au contraire, je les rencontre tous les matins. […] Et encore plus, mon père qui est mon ami, ne marche pas du tout : il est toujours en vélo. Trois fois supplémentaires, ma mère ne marche pas non plus : elle court. Elle raconte n’importe quoi, celle-là ! 469 topologischen Ebene nach der Bindung an die Nationen Frankreich und Algerien. Ergänzt werden diese Fragen durch politische, moralische und philosophische Fragen. So fragt Nelly nach der Fernsehsendung und dem Kinohelden, die Omar als Kind am meisten geprägt haben, nach seinen Erfahrungen mit Rassismus und seinen Präferenzen für Algerien oder Frankreich, ob er sich in Algerien anders fühle oder den Algeriern sehr nah, nach der Person, die er meisten liebt, seinen Plänen im Leben und danach, wie er die nachlassenden Sitten im Okzident, bspw. Homosexualität beurteile. Seine Lieblingsserie und damit auch sein Lieblingsheld ist Zorro, der maskierte Rächer, der hinter seiner Maske unerkannt und als Gesetzloser für Gerechtigkeit sorgt. Doch es geht nicht nur um die Figur selbst: Auch die situative Einbindung des Fernsehens als soziales Ereignis in der Nachbarschaft ist direkt mit dieser Fernsehserie verbunden. Denn Omar beschreibt weniger seine Faszination an der Figur, als vielmehr die Situation, in der in seiner Kindheit die gesamte Nachbarschaft und auch die von ihm nicht besonders geschätzten Spanier und Portugiesen immer zum Fernsehen dazu kamen. An diesem Punkt wehrt Nelly ab, drückt ihre Skepsis aus und sagt ihm, er solle ruhig weiter Geschichten erzählen, dass die Spanier kein Fernsehen besessen hätten. Omars Erzählungen und seine Phantasie/ sein Hang zum Fabulieren lassen sie zweifeln, ob er nicht eine weitere Geschichte erzählt. So entrüstet sich Omar, der sich durchaus über den Status seiner Aussage bewusst ist: „C’est pas une histoire, c’est la vérité. - Continue la vérité alors…“ Ebd., S. 166. 467 Belghoul 1986, S. 9. 468 Ebd., S. 12. 469 Ebd., S. 12f. <?page no="126"?> Die Beur-Generationen 124 Hier entlarvt die Erzählerin die rassistische Fremdzuschreibungen ihrer Mitschüler. Und sie betont die mehrfache Täuschung: Die Erzählerin ist keine Araberin, sondern sie spielt sie nur; die Erzählerin imitiert allerdings gar keine Araberin, sondern einen alten Menschen - da ihr das kulturelle Original nicht bekannt ist. So stellt sie hier den Konstruktcharakter von vermeintlich originalen kulturellen Vorbildern ebenso aus und in Frage, wie die Möglichkeiten der Dekodierung einer Repräsentation. 470 Neben der Schrift spielt auch in Georgette! der Name eine wichtige Rolle. Weder die Ich-Erzählerin, noch ihre Familie werden mit Vornamen bezeichnet, nur ihre Schulfreundin Mireille wird als solche benannt. Das Selbstbild der Erzählerin entfaltet sich in diesem Roman in einem inneren Monolog. Dies begründet, warum die Erzählerin weder ihren eigenen Namen noch die der ihr vertrauten Personen benennt. 471 Der Monolog ist zudem die adäquate stilistische Form für die zunehmende Sprachlosigkeit der Protagonistin, die sich auch auf einen Dialog mit ihrer Lehrerin nicht einlässt. „C’est grâce à notre terre qu’on porte le nom de la famille. Si t’en a pas de terre, t’en a pas un pays“, 472 erklärt der Vater seiner Tochter und erzählt von dem kleinen Besitztum, das er in Algerien in seinem Dorf noch hat und verleiht damit seinem Willen zur Rückkehr der Familie Ausdruck. Zudem wird deutlich, dass die Protagonistin den Namen ihrer Eltern zur eigenen Identifikation nicht nennen kann, denn wenn ihr Name an das Land ihrer Eltern gebunden ist, das für die Erzählerin aber nicht zugänglich ist, dann muss ein neuer, französischer Name der Selbstbezeichnung dienen. So lernt das Mädchen in einem Park eine alte Frau kennen, deren drei Söhne den Kontakt zu ihr abgebrochen haben. Das Thema des Alters vom Anfang des Romans, als die Ich-Erzählerin noch wie ein alter Mensch über den Schulhof geht, taucht hier wieder auf. Diese alte Dame schämt sich vor ihren Nachbarinnen so sehr darüber, dass ihre Söhne den Kontakt zu ihr abgebrochen haben, dass sie begonnen hat, Briefe an ihre Kinder zu schreiben. Diese liest sie dann den Nachbarinnen vor und gaukelt ihnen ein inniges Verhältnis zu ihren Söhnen vor. Diese Briefe erreichen ihre Adressaten selbstverständlich nie, sie liegen gut versteckt in ihrem Garten. Und als die Frau müde wird, allen drei Söhnen immer wieder zu schreiben, erwägt sie sogar, den Tod des einen zu er- 470 Schließlich verlässt sie in ihren kindlichen Spielen auch ganz die Imaginationen anderer Menschen: Im nächsten Moment erträumt sich die Protagonistin in Georgette! auf dem Schulhof durch die Pfützen spazierend als Blume: „Je suis ni une indienne ni une peau-rouge. Ici, c’est pas un cirque avec des chevaux. C’est une école ! […] Flip, flop, je me rafraîchis, je bois de l’eau avec mes pieds. Je suis une fleur.“ Ebd., S. 103. Es ist denkbar, dass hier eine (klangliche) Anspielung auf „beur“ formuliert wird. Weiterhin ließe sich eine Anspielung auf die floralen beschönigenden Namen der Cités vermuten, die die Erzählerin in dem Maße konterkariert, in dem sie sich als Bewohnerin einer Cité auch nur als eine Blume bezeichnen kann. 471 Die Instanzen des „narrateur“ und des „narrataire“ sind identisch, und daher erscheint es auch der Erzählerin nicht notwendig sich und andere mit Namen zu benennen, wie auch Sylvie Durmelat feststellt, vgl. Durmelat 1996. 472 Belghoul 1986, S. 129. <?page no="127"?> Die Beur-Generationen 125 finden und ein wenig Trauer zur Schau zu tragen („L’autre fois, j’étais si fatiguée d’écrire aux trois... J’ai failli tuer Paul au loin. Je me faisais le visage triste...“ 473 ). Doch die Nachbarinnen erwarten eine Antwort auf die vielen Briefe, so dass die alte Dame die kindliche Protagonistin bittet, die Antwortbriefe im Namen ihrer Söhne zu schreiben, wenn diese schreiben gelernt hätte. Doch die Ich-Erzählerin wehrt ab und malt sich bereits die Reaktion des Vaters aus: Je pense qu’il faut pas exagérer à ce point-là. Heureusement, je suis analphabète. C’est terminé : je veux plus jamais un jour à l’école. Sinon, j’apprends et elle me sort un porte-plume tout de suite. Et j’écris « chère maman » à une vieille toute nouvelle dans ma vie. Et je signe Pierre, Paul ou Jean. Et si mon père l’apprend, il me tue immédiatement. […] Surtout, il gueule : « j’t’envoye à l’école pour signer ton nom. A la finale, tu m’ sors d’autres noms catastrophiques. J’croyais pas ça ma fille. J’croyais elle est intelligente, comme son père. J’croyais elle est fière. Et r’garde-moi ça : elle s’appelle Georgette ! 474 Das Erlernen des Schreibens soll schließlich dazu dienen, unter falschem Namen, nämlich dem dreier verlorener Söhne, einen Brief zu schreiben, den die Adressatin selbst initiiert hat: Dies verdreht alles aus der Sicht des Vaters. Schreiben bedeutet für ihn nämlich mit dem eigenen Namen unterschreiben zu können: um in der französischen Arbeitswelt einen besseren Arbeitsplatz zu bekommen und um sich seines Namens zu versichern. Wenn seine Tochter nun mit dem Namen einer der Söhne unterschreibt, wird sie zu „Georgette“ - ein weiblicher Vorname, dessen männlicher Stamm noch deutlich erkennbar ist. Und Rosello konstatiert die ausgebliebene Emanzipation und gleichbleibende Unterdrückung: „Vers la fin du roman, la rencontre avec la vieille voisine semble souligner que l’éducation ne servira pas à émanciper l’enfant mais fera d’elle une subalterne plus efficace.“ 475 Ein besonders spielerischer Umgang mit der Differenz, die nicht nur in den Schriftsystemen und dem verunsichernden Schulwissen sichtbar ist, wird in Georgette! auch im Hinblick auf die geschlechtliche Identität formuliert. Die titelgebende Passage, in der die bis dahin namenlose Erzählerin den Namen Georgette erhält, verdichtet die verunsichernde Vermischung von Fakt und Fiktion, Wahrheit und Lüge und eben auch von der Identität als Mädchen und/ oder als Jungen: Der Protagonistin werden wegen Lausbefalls die Haare abrasiert, so dass diese wie ein Junge aussieht. Aus diesem Grund verwechselt auch die alte Dame, die die Protagonistin am Ende des Romans kennen lernt, sie zunächst mit einem Jungen - daher auch der 473 Ebd., S. 146. 474 Ebd., S. 147f. 475 Rosello 1994, S. 33. <?page no="128"?> Die Beur-Generationen 126 Name Georgette, der unverkennbar ein feminisierter männlicher Vorname ist. 476 Besonders in diesem Roman wird deutlich, dass Identitätskonstruktionen nicht nur innerhalb der Achsen von Zeit und Raum und durch die Namensgebung durch die Eltern etabliert werden, sondern dass sie gerade im Schreiben selbst erscheinen. An dieser Stelle, die die Selbstkonstruktion im Schreiben betont, wird der Blick auch auf die formal-ästhetischen Verfahren der Literatur gelenkt - dabei spielen Ironie und die Sprache selbst eine zentrale Rolle. Eliane Tonnet-Lacroix schreibt dem Beur-Roman der 1980er Jahre weitestgehend einfache, traditionelle literarische Formen zu: Ainsi les années 80, qui sont celles d’un retour au réel, voient l’émergence d’une littérature « beur » peignant les milieux de l’immigration maghbrébine et les problèmes propres à la « deuxième génération ». Nourrie du malaise identitaire, elle peut prendre la forme d’un récit autobiographique […] Elle peut être plus ou moins romancée mais comporte toujours un aspect de témoignage personnel […] […]. La narration est de forme traditionnelle, l’écriture est simple et directe et vise à ce qu’on appelle ordinairement le réalisme, comme c’est souvent le cas dans les littératures dites « émergentes ». 477 Neben den kunstvollen Einflechtungen oraler Sprache, der funktionale Betonung des Regio- und Soziolekts und den narrativen Inszenierungen von Traumsequenzen und Erinnerungen zeigen sich in den Beur-Romanen aber wesentlich vielfältigere Konstruktionsmechanismen.. Die literarischen Texte dieser zweiten Generation zeichnen sich auf formal-ästhetischer Ebene durch Polyphonie und Polyperspektivik aus und führen durch Sprachexperimente und Ironie, wie bereits erläutert wurde, den Konstruktcharakter von Kollektiven wie Nationen und ‚der arabischen Kultur“’ ebenso vor, wie sie die Formulierung eigener, durchaus prekärer Identitätsfiktionen ermöglichen. Die selbstreferenzielle Funktion der Sprache und des Schreibens, wie sie besonders in Belghouls Georgette! ausgearbeitet wird, stellt einen neuen Ort der kulturellen Aushandlung dar. Im Folgenden sollen zusammenfassend Ironie als literarische Gestaltung von Distanzierung und Anlehnung, die Funktionen der Inszenierung der Sprache und des Schreibens/ der Schrift beleuchtet werden, sowie gattungstheoretische Fragen des autobiographischen Schreibens. Den Fluchtpunkt dieser formalen Betrachtungen bilden die formale Gestaltung der bereits in den inhaltlichen Analysen herausgearbeiteten vielfachen Bewegungen, die durch die Formulierung und 476 Belghoul 1986, S. 104ff. und S. 141. Durch die kontextualisierte, nach Laronde ironisierte Interpretation des Namens, der den Titel des Romans neu konnotiert, gerät die durch eine naive Lektüre des Vornamens angenommene Einheit von „féminité, francité, identité“ ins Wanken: Die Weiblichkeit wird durch die Empörung des Vaters konterkariert, die „francité“ durch den aufkommenden Zweifel verdoppelt und die Identität ausgehöhlt, vgl. Laronde 1999. 477 Tonnet-Lacroix 2003, S. 306f. <?page no="129"?> Die Beur-Generationen 127 Verortung zwischen Antagonismen, die dynamischen wie resistenten Einflüsse auf die Identitätsfiktionen der Beur-Protagonisten, ‚in Gang gesetzt’ werden. Das stilistische Mittel der Ironie stellt ein wirkungsvolles Verfahren dar, sich gleichermaßen an die als interkulturellen Konflikt erlebten Bedingungen anzulehnen wie sich von ihnen zu distanzieren. Die Charakteristik der Literatur von Azouz Begag sind Humor und Ironie - der miserabilistischen Beschreibung des Viertels, der rassistischen Diskriminierungen in der Schule, der Ausweglosigkeit setzt Begag mit seinen jungen/ jugendlichen Protagonisten einen spielerischen und spöttischen Ton entgegen. Sie werden nicht nur als Opfer einer sozial determinierten und kulturell gespaltenen Position beschrieben, sondern auch in ihren Handlungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten. Allerdings haben die ironischen Passagen und die Sprachspiele weniger die Destruktion des Konflikts zum Ziel, als vielmehr sich der französischen Kultur anzupassen, in ihr zu reüssieren und durch die perfekte Beherrschung der Sprache das Französische zu bewohnen. Eine exemplarische Passage ist in Tadjers Les A.N.I. du « Tassili » jene Situation, in der Omar die diskriminierenden Äußerungen einer algerischen Emigrantin humorvoll zu kommentieren versteht. So beginnt die Algerierin ihn wüst zu beschimpfen, dass er wie alle Immigranten sei: „Vous ne faites aucun effort pour comprendre la langue de votre pays et vous pensez encore êtres des Arabes ! Honte à vous et honte à vos parents ! “ 478 Omar antwortet ihr im spöttischen Vergleich mit einem der Frau unbekannten westlichen Produkt: „Exact, madame, vous ne pouriez pas mieux dire. Nous sommes comme le Canada Dry. Nous avons des noms arabes, nous sommes aussi bronzés que des Arabes, mais nous ne sommes plus vraiment des Arabes ! …“ 479 Damit ironisiert der Protagonist nicht nur das xenophobe Fremdbild der algerischen Frau, sondern enttarnt gleichermaßen ihren rassistischen Diskurs, der zugleich durch den Vergleich mit diesem westlichen Softdrink (den sie nicht versteht), in seiner provinziellen, orientalistischen Perspektive markiert wird. Ad absurdum wird dieser Vergleich dann vollends geführt, als die Frau einer anderen Dame erklären will, was der junge Mann zu ihr gesagt habe: „Il dit qu’il est comme le Ghana dry! “ In einem inneren Monolog wehrt sich Omar gegen die Stereotype des Rassismus, die zu wiederholen er nicht bereit ist: „J’vais quand même pas te sortir tous les lieux communs de ce phénomène…Facile d’opposer le Blanc au Noir, facile d’opposer l’Oriental à l’Occidental. Facile d’opposer le Nord au Sud…Facile tout ça…“ 480 Diesen Gemeinplätzen verweigert er sich aus zweierlei Gründen: Zum einen, weil die Herstellung von Antagonismen, also die Rekonstruktion von Binaritäten schlicht zu einfach sei, zum ande- 478 Tadjer 1984, S. 15. 479 Ebd., S. 15. 480 Ebd., S. 170. <?page no="130"?> Die Beur-Generationen 128 ren, weil sie als interkultureller Konflikt seinen individuellen Erlebnissen und den damit verbundenen Leidensdruck nicht wiederzugeben vermögen. Die zahlreichen Figuren, zu denen Omar in Les A.N.I. du « Tassili » mehr oder weniger Distanz aufbaut, sind ein Beispiel für die Vielstimmigkeit, die diesen Roman kennzeichnet, und die stellvertretend die verschiedenen Einflüsse auf den Protagonisten formulieren. Dass Omar sich mit unterschiedlichen Passagieren identifiziert, ist eine Strategie der Verunsicherung, die die Prozessualität der Identitätskonstruktionen unterstreicht. 481 Dies ist ein Charakteristikum jener Beur-Generation: Die Vielstimmigkeit, die in den Romanen formuliert wird, zielt auf Einheitlichkeit und Selbstbestimmung über diese teilweise kontradiktorischen kulturellen Normen. Die literarische Gestaltung der Differenz zielt (noch) auf den Wunsch nach einer Homogenität, die eindeutige Identifikation impliziert. 482 Bei Begag ist kein postmoderner Zerfall des Subjekts im Sinne eines ironischen oder intertextuellen Textexperiments zu beobachten, sondern im hybriden Subjekt überlagern sich kulturelle Differenzen, die zwar nicht harmonisiert, wohl aber in einem Identifikationsmodell integriert sind. Diesen Aspekt der Ironie und der Paradoxie werde ich in der folgenden Generation aufgreifen und als Merkmal der écriture transculturelle beur wieder aufnehmen. Auch die Ebene der Sprache ist ein Gebiet, auf dem kulturelle Konfrontationen, Unterdrückungen oder Überlagerungen zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit inszeniert werden - sei es in einem ironischen, sei es in einem emanzipatorischen Sinne. Den ironischen Umgang führen exemplarisch die Erzählerin in Belghouls Georgette! und Azouz bei Begag vor: Die stark betonte Oralität führt in Georgette! zu einigen humorvollen Dialogen: wenn Mireilles Lispeln etwa transkribiert wird 483 (so wird aus der „maîtresse“ eine „mekrèçe“) oder wenn die Protagonistin nicht richtig in das Siezen übersetzen kann (da wird dann irrtümlicherweise auch aus „Je me souviens pas“ ein „Vous ne me souvenez pas.“ 484 ). Der Immigrationshintergrund der Eltern und die postkoloniale Situation, in der sich die Familie in Frankreich befindet, wird ebenfalls durch einen Lapsus des Bruders wiedergegeben: Zurück aus einer Ferienkolonie stellt der Bruder erleichtert fest: „je suis bien content que la colonisation c’est fini, j’en avais marre“. 485 Le gone du Chaâba von Begag arbeitet ebenfalls mit einer starken Oralität, die auf unterschiedlichste Weise literarisch gestaltet wird. Eine Verbindung aus Oralität und 481 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Hargreaves 1989, bes. S. 98. 482 Bei Begag ist kein postmoderner Zerfall im Sinne einer ironischen oder intertextuellen Formulierung des Zerfalls des Subjektivität im Textexperiment zu beobachten, sondern hier wird ein zwar durch ambivalente, bzw. konträre beeinflusste literarische Figur beschrieben, die selbstbewusst ist und im Sinne einer Selbstbemächtigung auch ein starkes Subjekt. 483 Vgl. Belghoul 1986, S. 36ff. 484 Ebd., S. 1. 485 Ebd., S. 99. <?page no="131"?> Die Beur-Generationen 129 der Betonung der kulturellen Markierungen, die es zu dekodieren gilt, sind die Anhänge des Romans: Begag fügt der Erzählung einen „Guide de la phraséologie bouzidienne“ und einen „Petit dictionnaire des mots bouzidiens (parler des natifs de Sétif)“ hinzu. Das angehängte Glossar zeugt von der Übersetzerfunktion und -fähigkeit, denn durch diese Angabe beweist der Erzähler (oder der Autor, denn dieser Annex ist als Grenzfall zwischen Text und Paratext zu werten) ein Wissen um das offizielle Bildungsgut der französischen Sprache. „Alors, Nelly, comment t’expliquer toutes ces banalités qui font mon quotidien. Ce serait trop long. Je suis las et puis je n’ai pas encore trouvé les mots appropriés dans mon petit dictionnaire.“ 486 Das Erzählen seiner persönlichen Erfahrungen mit Diskriminierungen und Rassismen scheint Omar in Les A.N.I. du « Tassili » nicht möglich. Die eigene Sichtweise ist nicht mit den gängigen Stereotypen adäquat wiederzugeben - eine eigene Begrifflichkeit seines eigenen Lexikons ist noch nicht gefunden. Omars Sprache versagt an diesem Punkt - der sonst so selbstbewusste Omar wird sich hier in einem inneren Monolog, also für Nelly nicht erkennbar, seiner Ohnmacht bewusst. Doch bald beginnt Omar die Passagiere von einer imaginären Liste zu streichen, 487 um direkt danach seine eigenen Gedanken moralisch zu bewerten: So gibt Omar nacheinander die Definitionen von „Heuchelei“ (l’hypocrisie) aus dem Petit Robert, Grand Larousse, Logos de Bordas, um schließlich eine gefällige Definition aus dem „le Grand Omar illustré“ zu geben. 488 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass es Omar unmöglich erscheint, auch wenn er dies explizit und spielerisch reflektiert, eine Sprache und die adäquaten Begriffe für die Identitätskonstruktionen und Zuschreibungen im Zwischenraum zu finden. In Belghouls Roman Georgette! führt die Schrift die junge Erzählerin gar in den Tod, endet er doch in einem (imaginierten? ) Unfall der Protagonistin, die von einem Auto erfasst wird: „Je saigne sur la rue. [...] J’etouffe au fond d’un encrier“ 489 Ohne Satzzeichen endet hier das Leben der autodiegetischen Erzählerin und damit auch die Handlung des Romans. Das Ende der Schrift ist hier also auch das Ende der literarischen Figur; die fehlende Interpunktion unterstreicht gekonnt die Unmöglichkeit, seinen eigenen Tod erzählen oder gar schreiben zu können. Der Tod in einem Tintenfass wird Ausdruck der Unmöglichkeit des Lebens der Erzählerin in der Schrift - sei sie nun französisch oder arabisch. Durmelat liest diesen Satz als „commentaire sur une petite fille qui meurt d’écriture.“ 490 Dieses (selbstgesetzte) Ende der literarischen Figur könnte man nicht nur als Allegorie für die Unmöglichkeit der Selbsterzählung zwischen den Kulturen und in der Schrift des Koloni- 486 Ebd., S. 172. 487 Vgl. ebd., S. 94ff. 488 Vgl. ebd., S. 98. 489 Belghoul 1986, S. 163. 490 Durmelat 1996, S. 36. <?page no="132"?> Die Beur-Generationen 130 sators interpretieren. Das Schreiben und die Schrift sind wichtige Momente in der zweiten Generation der Beur-Literatur. Der Schreibakt bedeutet einerseits den Wechsel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit und damit einen Medienwechsel, dem die Eltern nicht folgen können, da sie größtenteils Analphabeten sind und die Narrative ihrer Kultur eben durch orale Erzählungen geprägt sind. Ferner bedeutet das Schreiben in der französischen Sprache auch einen besonderen Bezug zur Gegenwart in dem Land Frankreich. Die Beurs benutzen die französische Sprache, die sie in ihrer Gegenwart umgibt. So wird auch sprachlich die Gegenwart direkt eingeschrieben. Das bedeutet, dass die in einem gesprochenen Französisch erzählen, in einer Jugendsprache, die ihren Alltag bestimmt und gemischt ist mit Arabismen, die der Sprache im Elternhaus entnommen sind. Auch hier wenden sie sich von der Immigrationsgeschichte der Eltern ab, indem sie nicht deren Vergangenheit in der Sprache der Eltern fortführen, sondern vielmehr ihre alltägliche Sprach- und Lebenswelt in ihrer ihnen eigenen Sprache beschreiben. Dass die Beurs sich also zunächst von der Mündlichkeit der Eltern abwenden, um sich der gegenwärtigen Mündlichkeit ihrer Freunde auf der Straße (und im Gegensatz zum fremden français standard in der Schule) wieder zuzuwenden, ist eine zirkuläre Bewegung, die sich um das Zentrum der eigenen (flüchtigen) Gegenwart dreht. Schließlich ist das literarische Genre der Autobiographie ein wichtiges Merkmal dieser Generation. Alle Romane sind autobiographisch geprägt, wenn nicht gar als Autobiographien oder Tagebücher paratextuell ausgewiesen; meist sind die Autoren auf dem Cover oder dem Buchrücken abgebildet und schreiben im Lejeune’schen Sinne Autobiographien bzw. autobiographische Romane. 491 So schildern die Autorinnen - mit Ausnahme von Belghoul - in ihren autobiographischen Werken ihre individuellen Schicksale; allerdings begreifen sie sich als Sprachrohre einer ganzen Generation junger Mädchen und Frauen (Boukhedenna schließt auch die Männer ein), die als Kinder maghrebinischer Immigranten in Frankreich aufwachsen und sich den beschriebenen Konflikten ausgesetzt sehen. Dabei ist die Intention nicht mehr die Formulierung individueller Erlebnisse, als vielmehr - ebenfalls durch die Politisierung in den 1980er Jahren gefördert - die Etablierung eines kollektiven Diskurses. 492 Dennoch ist auch hier bereits das Potenzial von Literatur erkannt, das Schreiben und Schrift selbst reflektiert und nicht nur in ihrer testimonialen 493 491 Vgl. Lejeune 1973, bes. S. 146. 492 Schumann betont, dass auch Nacer Kettane als Stimme für seine Generation funktionieren will: „Doch sein Adressat ist nicht nur die französische Öffentlichkeit, er will vor allem seine eigene Generation erreichen und den Beurs und Beurettes ein historisches Bewusstsein vermitteln, das sie aus ihrer Geschichtslosigkeit befreit und ihnen eine Vergangenheit gibt, auf die sie stolz sein können.“ Schumann 2002, S. 145. 493 Vgl. Kalouaz 1986. Kalouaz kreiert hier eine Erzählung auf der Grundlage einer wahren Begebenheit: Er rekonstruiert die Geschichte um eines jungen Beur (Habib Grimzi), der 1983 von drei Mitgliedern der Fremdenlegion aus dem Fenster eines Schnellzugs <?page no="133"?> Die Beur-Generationen 131 oder mimetischen, sondern auch in ihrer poietischen Dimension zu nutzen vermag. Der spielerische Umgang mit Diskriminierungen weist auf Tendenzen der selbstbestimmten Beschreibung hin. So auch in Belghouls Roman Georgette! , in dem Strategien der Fiktionalisierung und die selbstreferenzielle Funktion des Schreibens neue Orte kultureller Aushandlung darstellen können; Literatur funktioniert dann nicht nur als ein Refugium, sondern auch die Sprache selbst ist das Medium und der Ort von Experimenten und Imaginationen zugleich. Es sind diese Funktionen der Literatur und der Sprache, denen in der nächsten Generation verstärkt nachgegangen werden soll. 2.3 Die Erzählungen der dritten Beur-Generation: Die Kinder der Spuren. Spiegelbilder und Doppelgänger: „oit et oim“ Je crains bien que, depuis, tous les incidents ou événements qui ont pris place dans le cours du temps, qu’ils soient passés, présents ou à venir, n’ont été que des songes. J’ai sans cesse eu une forme d’hésitation sur moi-même, un doute extrême qui me poussait à me demander, lorsque je rencontrais mon reflet dans le miroir, si je n’étais pas une illusion d’optique. Pouvez-vous m’assurer qu’une telle personne me ressemblant a existé ? 494 Der junge Protagonist Tarik zieht in Mounsis La noce des fous schon zu Beginn des Romans alles in Zweifel: seine Erlebnisse, die er auf der Zeitachse nicht mehr chronologisch zuordnen kann, den Wahrheitsgehalt seiner Erinnerungen und schließlich auch seine eigene Existenz. In dieser Passage werden einige zentrale Aspekte für die dritte Beur-Generation benannt: Die Zeitverläufe scheinen nicht mehr sicher zu sein, die Verunsicherung bzw. der Zweifel an der linearen chronologischen Abfolge von Ereignissen geht mit der Infragestellung des eigenen Spiegelbzw. Selbstbildes einher. Die kulturellen Überlagerungen und Überschreibungen in Zeit und Raum, die Mehrfachkodierungen und Hybridisierungen sowie die identitären Verhandlungen im Schreiben und in der Medienrezeption stellen zentrale Aspekte der Analysen in diesem Kapitel dar. In dieser Generation werden exemplarisch folgende Romane untersucht: Garçon manqué (2000) von Nina Bouraoui, Sujets libres (2004) von Clémence Boulouque und Zahia Rahmanis « Musulman » roman (2005), in denen Verhandlungen kultureller Differenz und Geschlechterdifferenz im Zusammenhang mit der Frage nach Geschichtskonstruktionen und der literarischen Gestaltung des weiblichen Körpers im Zentrum stehen; 495 Allah superstar geworfen wurde. Der Autor entspinnt diese Geschichte zwischen dem Opfer und einem von der Sensationsgeschichte besessenen Journalisten. 494 Mounsi 2003, S. 15. 495 Weitere Romane in diesem Fokus sind etwa: Kessas 1990, Nizard 2002. Aktuellere Romane, die das Thema der Zwangsheirat aufgreifen, sind bspw. Leïla/ Cuny 2004 sowie der Roman von Hamdi 2005, in dem es allerdings weniger um die Problematik <?page no="134"?> Die Beur-Generationen 132 (2003) von Y.B. und Faïza Guènes Kiffe kiffe demain (2004), in denen die Identifizierungen mit Medienformaten und Medienstars von Bedeutung sind, und die Erzähltexte La noce des fous (1990) von Mounsi, Mon nerf (2004) von Rachid Djaïdani sowie Paul Smaïls Ali le magnifique (2003), in denen die Protagonisten in ihrer psychischen Labilität ihre kulturellen, sozialen und geschlechtlichen Zerrissenheiten formulieren. 496 Die Ich-Erzählerin in dem autobiographischen Roman Garçon manqué 497 von Nina Bouraoui 498 hadert jeden Morgen mit ihrem Spiegelbild: Ist sie Französin oder Algerierin, Mädchen oder Junge? Die junge Protagonistin Yasmina/ Nina Bouraoui verlebt einen Teil ihrer Kindheit in Algerien und verbringt mit ihrem algerischen Vater und ihrer französischen Mutter die Sommermonate bei den Großeltern in Frankreich. Ihre Selbstverortungen liegen zwischen scheinbar inkommensurablen Sphären: Algerien und Frankreich, Vergangenheit und Gegenwart, ihrem Vater und ihrer Mutter, der arabischen und der französischen Sprache und nicht zuletzt auch zwischen kultureller Identitfikationen, als vielmehr um die Probleme einer jungen Frau in der Metropole Paris geht. Die viel- oder transkulturelle Verfasstheit der Erzählerin spielt dabei keine Rolle- nicht einmal, wie bei Boulouque, in der Auseinandersetzung mit dem Familiengedächtnis. 496 Die Verbindung von problematischer kultureller Identifikation, Sexualität und einer Inszenierung von Autorschaft behandelt auch der Roman von Chimo 1996, in dem der Protagonist seine Erinnerungen an seine unter dramatischen Umständen verstorbene erste Jugendfreundin, Lila, festzuhalten versucht. Die Inszenierung von Autorschaft findet dabei auf zwei Ebenen statt: Einerseits innerhalb der Narration und andererseits auch hinsichtlich des empirischen Autors, denn Chimo ist ein Pseudonym, hinter dem sich angeblich der Plon-Verleger Olivier Orban verbirgt. Vgl. dazu Meltz 2000. Weitere Romane, die in dieser Generation zu nennen wären, sind bspw. El Qasem 2003, in der die multikulturelle Gesellschaft in dem Stadtteil Belleville beschrieben wird, Laroui 1998, der in einer Adaptation des „Romeo und Julia“-Stoffs die Liebesgeschichte von Judith, einer Jüdin, und Jamal, einem Beur erzählt; als testimoniale Literatur sei bspw. Le sauvageon de la Républiqe 2003 von Zeribi genannt, der als Beur seinen Weg bis zum Conseiller des Innenministers beschreibt als „[u]n homme qui croit aux valeurs de son pays et qui n’a aucun ‘problème d’identité’ tout en restant très attaché aux origines des ses parents“, ebd., S. 10; sowie die Werke von Ahmed Kalouaz. Ahmed Kalouaz hat über 30 Romane, Erzählungen und Theaterstücke geschrieben. In seinen späteren Romanen wendet sich Kalouaz zunehmend dem Thema der Absenz zu - wie schon in seinem Erstlingswerk Leçons d’absence 1992 angelegt. So spricht bspw. in der Erzählung J’ai ouvert le journal 2002 eine Frau in einem inneren Monolog zu ihrem abwesenden Geliebten. In seinem Roman Absentes 1999 macht Kalouaz den Tod einer Frau aus der Sicht der unterschiedlichen der Familienmitglieder einer Immigrantenfamilie zum Thema. 497 Bouraoui 2000. 498 Weitere Werke der Autorin sind La voyeuse interdite 1991, Poing mort 1992, Le bal des murènes 1996, L’âge blessé 1998, Le jour du séisme 1999, La vie heureuse 2002, Poupée Bella 2004 und Mes mauvaises pensées 2005 (ausgezeichnet mit dem Prix Renaudot) und jüngst Avant les hommes 2007, in dem Bouraoui erstmals die Erzählung aus der Sicht eines Jungen vorlegt. <?page no="135"?> Die Beur-Generationen 133 Männlichkeit und Weiblichkeit. Erst in Rom findet Nina einen Ort der Selbstvergewisserung und im Schreiben einen möglichen Zufluchtsort. Die namenlose Erzählerin in « Musulman » roman 499 von Zahia Rahmani wird aufgrund ihres muslimischen Glaubens von Soldaten in ein Gefangenenlager gebracht und in einen Schuppen eingeschlossen. Dort erinnert sie sich an ihre Kindheit und ihre Albträume. Ihre Imaginationen und Phantasmen treiben sie in den Raum zwischen den Sprachen und schließlich in die Wüste. Die Suche nach einem eigenen Ort jenseits von Nationalgeschichte und vereinnahmender Identifikationen mit einem singulären Territorium und einer (religiösen) Gemeinschaft führt besonders auf formaler Ebene zu einer Überschreitung und Vermischung von Gattungsgrenzen zwischen Prosa, Lyrik und Drama. Während in den Romanen von Bouraoui und Rahmani die Überschreibungen kultureller Identifikationen und Gender-Identitätskonstruktionen eine zentrale Rolle spielen, setzt Clémence Boulouque den Fokus auf die Problematik von Selbstentwürfen im Zusammenhang mit einer verdrängten Familien- und Immigrationsgeschichte. Ihr Roman Sujets libres 500 erzählt in erster Linie von einem Generationskonflikt zwischen der erwachsenen Protagonistin Violaine Bellassen und deren Eltern, der in dem Schweigen der Eltern über ihre Immigrationsgeschichte begründet ist. Die Leerstellen in der Familiengeschichte versucht die Erzählerin zu füllen und reist bis in den Maghreb und in die USA, um eine eigene Geschichte zu finden - und ihre Einsamkeit und Bindungsunfähigkeit zu überwinden. Die Romane von Bouraoui, Rahmani und Boulouque entwerfen Protagonistinnen, die unterschiedliche Seiten des französisch-algerischen Kolonialkonflikts als Generation der Kinder erleben, und weiten damit die Brisanz der Kinder der algerischen Immigration noch aus: Bouraouis Nina ist die Tochter einer französischen Mutter und eines algerischen Vaters und als Kind einer französisch-algerischen Ehe mit spezifischen Familiengeschichten konfrontiert. Der Vater von Rahmanis Erzählerin hingegen war „harki“, also ein algerischer Soldat, der auf der Seite der Franzosen im Algerienkrieg gekämpft hat. Und Boulouques Protagonistin schließlich ist Tochter der sog. „Français d’Algérie“, ihre Familie gehört damit zu den (ehemaligen) Kolonisatoren und zudem sind ihre Eltern in Algerien geboren. In den Romanen von Y.B. und Faïza Guène sind der Erzähler Kamel Léon Hassani und die Protagonistin Doria Repräsentanten einer Generation von ‚Medienkids’, deren (Selbst-) Imaginationen sich an Medienformaten orientieren und deren zentrales Merkmal der ironisch-sarkastische Umgang mit Stereotypen ist. Der Beur Kamel Léon Hassani entwickelt in Y. B.s Ro- 499 Rahmani 2005. Rahmanis weitere Werke sind ihr Erstlingsroman Moze 2003 sowie France, récit d'une enfance 2006. 500 Boulouque 2004. Weitere literarische Werke sind Mort d'un silence 2003, Au pays de macarons 2005a, Chasse à courre 2005b. <?page no="136"?> Die Beur-Generationen 134 man Allah superstar, 501 angeregt durch die von ihm als religiöse ‚Performance’ (miss-)verstandene Tätigkeit des Cheikhs, einen eigenen Islamistensketch, 502 mit dem er reich und berühmt werden will und an dessen Ende sich der Protagonist selbst in die Luft sprengt. Dieser sarkastische Roman provoziert durch eine massive und vulgäre Sprache, Rassismen und Sexismen, Bezugnahmen auf zeitgenössische Medienereignisse sowie den naiven und ironischen Umgang mit dem Thema Terrorismus nach dem 11. September 2001. In dem Erstlingswerk der Autorin Faïza Guène, Kiffe kiffe demain, 503 beschreibt die fünfzehnjährige Ich-Erzählerin Doria ihr Leben mit ihrer alleinerziehenden Mutter, ihre Sitzungen bei einer Schulpsychologin, die Besuche unterschiedlicher Sozialarbeiter in ihrer Familie und ihre heimliche Schwärmerei für den Beur Hamoudi aus ihrem Viertel. Auch Doria beschreibt ihre Empfindungen und Erlebnisse mithilfe von Filmen und Fernsehserien. Als Dorias Mutter einen Alphabetisierungskurs macht und sich ihre berufliche Situation verbessert, entwickelt auch die Tochter Doria eine positive Sicht auf ihre eigene Zukunft. In den Romanen von Mounsi, Djaïdani und Smaïl werden die kulturellen und geschlechtlichen Hybridisierungen in den Selbstentwürfen der Erzähler auf eine besondere Art formuliert: In den Texten werden schizoide und schizophrene Protagonisten entworfen, die in narzisstischen und monadischen Identitätskonstruktionen gefangen sind. Besonders auffällig erscheint die Verbindung zwischen der problematischen, da pathologisierten Hybridität der Erzähler und der Hybridisierung des Textes, also dem hybriden Schreiben. Tarik Hadjaj, der Ich-Erzähler in La noce des fous von Mounsi, 504 wächst in Nanterre nach dem frühen Tod seiner Mutter zunächst bei seinem alkoholkranken, arbeitslosen Vater, dann in unterschiedlichen Kinderheimen und Familien auf. Er beschreibt das Leben mit seinem besten Freund Bako: Kleinkriminalität und Drogen bestimmen ihr Leben und Umfeld bis sie nach einem Überfall für einige Jahre ins Gefängnis gehen müssen. Tarik wird während der Verhandlung als schizophren und depressiv beschrieben. Als am Ende des Romans die Mitbewohnerin Tariks und Bakos an einer Über- 501 B. 2003. Der Journalist veröffentlichte weiterhin Comme il a dit lui 1998 Kolumnen, die in El Watan erschienen sind, sowie L'explication 1999. 502 Diese Idee wurde kürzlich im schottischen Edinburgh ad absurdum geführt: Hier wurde im August 2007 „Jihad - the musical“, eine Musical-Komödie über den islamistischen Terror, aufgeführt. 503 Guène 2004. Ihr jüngstes Werk ist Du rêve pour les oufs 2006. Guène ist weiterhin als Autorin für das Respect magazine tätig und hat mehrere Kurzfilme gedreht. 504 Mounsi 2003. Mounsis Werk besteht aus den Romanen La cendre des villes 1993, Le voyage des âmes 1997 und Les jours infinis 2000 sowie dem Essai Territoire d‘outre-ville 1995, der noch in der Zusammenschau der topologischen Konstruktionen für meine diachronen Analysen herangezogen wird. <?page no="137"?> Die Beur-Generationen 135 dosis Drogen stirbt, fahren die beiden Jugendlichen mit dem Auto ans Meer und finden bei einem Unfall den Tod. Mon nerf 505 ist der zweite Roman von Rachid Djaïdani und handelt von einem Tag im Leben des einundzwanzigjährigen Ich-Erzählers Mounir in seiner banlieue. Ausgehend von seinem Zimmer im Elternhaus macht sich der verschrobene Mounir auf den Weg zum Bahnhof durch sein eher wohlsituiertes Wohnviertel. Er begegnet einer Bürger-Patrouille, die ihn verjagt, besucht seine Eltern auf dem Markt, trifft einen jungen Beur und andere Cité- Bewohner. Die zweite Hälfte des Romans spielt sich im Regionalzug ab, in dem Mounir auf die Abfahrt des RER wartet. Seine Erinnerungen und daran anknüpfende Traumszenarien füllen die Wartezeit bis er am Ende seines Weges bei seinem Psychoanalytiker ankommt. In einer Gefängniszelle in Lissabon beschreibt der Ich-Erzähler Sid Ali Benengeli in Paul Smaïls letztem Roman Ali le magnifique 506 die Erinnerungen an sein Leben bis zum Moment seiner Verhaftung. Sid Ali, ein sehr intelligenter Jugendlicher, lebt in der Cité des Poètes am Pariser Stadtrand und kommentiert auf seinem Weg durch die banlieues, durch die Einkaufszentren und die Schule seine Situation als Beur. Durch Prostitution in der Beur gay- Szene verdient er sich das Geld für seinen Luxus; seine Liebesbeziehungen zu Frauen, wie zu seiner Schulkameradin Djamila und seiner Französischlehrerin Mme Rénal, scheitern. Nachdem er Mord an drei Frauen begangen hat, flieht er vor der Polizei von Frankreich nach Portugal, wo er schließlich verhaftet wird. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Roman der labile psychische Zustand des Erzählers, der von totaler Selbstüberschätzung, Schizophrenie, Phobien, einem Hang zum Fabulieren sowie der Angst vor weiteren epileptischen Anfällen geprägt ist. Der Roman ist auf unterschiedlichsten Ebenen als Verwirr- und Schauspiel angelegt: Auffällig sind die zahllosen intertextuellen und intermedialen Verweise, das Spiel mit Fakt und Fiktion und nicht zuletzt auch die metafiktionale Ebene des Romans, in der nicht nur der Protagonist als Schreibender, sondern auch die Werke des Autors Paul Smaïl und sogar der Autor selbst als Figur vorkommen. 505 Djaïdani 2004. Djaïdanis Erstlingswerk ist Boumkœur 1999; sein letzter Roman ist 2007 erschienen. 506 Smaïl 2001. Die Vorlage bildet, ähnlich wie im Falle des Romans von Kalouaz, ein authentischer Fall, der von Sid Ahmed Rezala, der in den Jahren 1999 und 2000 als „tueur des trains“, der sich nach Morden an drei Frauen in seiner Gefängniszelle einen Tag vor seiner Überführung nach Frankreich erhängte; vgl. Fili 2004, bes. S. 124. Weitere Romane von Smaïl sind Vivre me tue 1997, Casa, la casa 1998 und La Passion selon moi 1999, die in den Textanalysen hinzugezogen werden - nicht nur, weil Sid Ali sie selbst in seine Erzählungen integriert. <?page no="138"?> Die Beur-Generationen 136 2.3.1 In der eigenen Zeit: Geschichtsmontagen und fiktive Genealogien In dieser dritten Beur-Generation steht die kreative Neuschöpfung von Zeitkonstruktionen im Vordergrund: Die Gegenwart in der eigenen urbanen Welt wird durch die Formulierung von eigenen Zeitwahrnehmungen, Traumszenarien und Imaginationen in der gegenwärtigen (französischen wie globalen) Medien- und Warenwelt geschaffen. Das Verhältnis von (kulturell beeinflussten und bedingten) Geschichtskonstruktionen und dem Körper als geschlechtliches Konstrukt steht im Mittelpunkt der literarischen Texte von Bouraoui, Rahmani und Boulouque. Deren Protagonistinnen leben in ihrer eigenen Gegenwart, die allerdings von den Spuren der Kolonialgeschichte und der Immigrationsgeschichte der Eltern geprägt ist. In Bouraouis Garçon manqué schreiben sich die Kolonialgeschichte und die Immigration gar in den Körper der Protagonistin ein und beeinflussen ihre Sprache. 507 Der Algerienkrieg avanciert zur Herkunft der jungen Protagonistin: „Je viens de la guerre. Je viens d’un marriage contesté. Je porte la souffrance de ma famille algérienne. Je porte le refus de ma famille française.“ 508 Hier wird das historische Ereignis des (Algerien-) Krieges topologisiert und durch die anaphorische Wendung „je porte“ mit der Familiengeschichte, dem Verlust eines Onkels, aber auch die Ablehnung der algerischen Familie des Vaters durch die französische Familienseite der Mutter parallelisiert. Die Tochter verbindet und (er)trägt gleichermaßen die Familiengeschichten, die an die Nationalgeschichten gebunden sind. Nina erkennt in Frankreich, dass sie selbst Erbin des Kolonialkonflikts ist und sich Diskriminierungen gegenüber sehen muss: „Parce que la guerre d’Algérie ne s’est jamais arrêtée. Elle s’est transformée. Elle s’est déplacée. Et elle continue.“ 509 Mehr noch als diese Mehrfachcodierungen der Zeitebenen (hier liegen die Ereignisse des Algerienkriegs unter der Gegenwart der Erzählerin) sind die Identitätskonstruktionen der Protagonistin an geographische Räume gebunden, so dass ihr Körper selbst zu einem Territorium wird, das von den widerstreitenden identitätsstiftenden Angeboten erobert werden will - auf den Körper als topologische Konstruktion wird im folgenden Kapitel noch näher eingegangen. Der Roman Sujets libres von Boulouque erzählt das Gegenteil der in Garçon manqué beschriebenen Omnipräsenz der Geschichte: Die Erzählerin Violaine sieht sich einem Verschweigen der Vergangenheit gegenüber. Violaine sucht nach den Erinnerungen und nach Spuren, die die Gegenwart in einer Vergangenheit verankern. Das Motto zeigt in doppelter Weise die zentralen Thematiken des Romans an: Die Bezugnahme auf Tausendundeine Nacht, „Quelques-uns sont morts, les autres visitent des pays perdus“, 510 507 Vgl. Bouraoui 2000, S. 30. 508 Ebd., S. 32. 509 Ebd., S. 101. 510 Boulouque 2004, S. 11. <?page no="139"?> Die Beur-Generationen 137 spielt auf die Bedeutung von Literatur im beruflichen Leben der Protagonistin an, weist auf die intertextuelle Verweisstruktur des Romans hin und spielt auf die Notwendigkeit des Reisens der oralen Erzähltradition zur Identitätsstiftung und zum ‚Überleben’ hin. Boulouques Roman beschreibt die Generation des modernen Prekariats („Intellectuels précaires.“ 511 ), die sich wie Violaine trotz guter Ausbildung von Job zu Job hangeln. Violaine, eine junge Journalistin, ignoriert die Herkunft und die Geschichte ihrer Familie, bis ihr Großvater und damit der Erzähler der Familiengeschichte stirbt. Von da an wird ihr ihre widersprüchliche Zeitwahrnehmung der gleichzeitigen Fülle und Leere bewusst: Die Protagonistin beklagt ihren vollen Terminkalender, der ihr zwischen den beruflichen Verpflichtungen und den raren Verabredungen mit Freunden kaum die Luft zum Atmen lässt. Gleichzeitig leidet sie nach dem Tod des Großvaters aber auch unter dem Schweigen der Eltern, die ihre Tochter kategorisch von ihrer Immigrationsgeschichte und damit der Familiengeschichte im Heimatland ausschließen; diese Geschichtslosigkeit bewirkt, dass Violaine ihre Zeit leer und nutzlos empfindet. Der Roman aber beginnt mit der Unterzeichnung eines Arbeitsvertrags der Protagonistin Violaine Bellassen, die ein Pressedossier zu einer von ihrem alten Freund Benjamin produzierten Literaturverfilmung des Romans Feux Rouges von Simenon anfertigen soll. Violaine beschreibt dabei die Unsicherheit, die ihre Unterschrift unter diesem Vertrag hervorruft: Sie fühlt eine Distanz zu Simenon und damit einen inhaltlichen Abstand zu diesem Projekt; beschreibt aber auch die Distanz zu ihrer eigenen Handschrift. Die schriftliche Versicherung dieses Projektes in ihrem beruflichen Leben vermag ihr keine Selbstversicherung zu sein. 512 Violaines Unzufriedenheit in ihrem Leben und ihr Alter werden im direkten Vergleich mit dem Autor beschrieben: Simenon schreibt 1953 im Alter von 50 Jahren den Roman Feux Rouges, während er in den Vereinigten Staaten lebt. Violaine hingegen ist mit ihren 27 Jahren nirgends angekommen. Ihre vielfältigen und beinahe wahllosen journalistischen Arbeitsprojekte machen sie einsam, die Kontakte zu ihren Freunden aus der Kindheit hat sie abgebrochen: Elle a vingt-sept ans, des regrets trop nombreux pour son âge. Elle rêve d’un seul roman et d’un seul amour, tente de les oublier. Elle ne se laisse pas le temps de penser, à Benjamin et aux récits qu’elle ne parvient pas à achever, sa fausse compagnie, en travaillant sans cesse. Elle prépare un synopsis de documentaire sur le couturier Poiret, termine un livre sur Maurice Sachs, qu’un autre signera à sa place. Elle a proposé à une maison d’édition une biographie d’Israel Joshua Singer, doit en rendre le plan et le premier chapitre avant l’été. Et il y a ces fiches de lecture pour une émission de radio, quelques articles sans intérêt d’un hebdomadaire féminin, et la traduction d’un scénario écrit en allemand par un Hongrois de 511 Ebd., S. 79. 512 Vgl. Boulouque 2004, S. 13ff. <?page no="140"?> Die Beur-Generationen 138 Serbie. Chewing-gum citron, thé fumé et Coca vanille accompagnent ses nuits blanches. Elle néglige ses amis d’enfance et ne supporte plus leurs reproches. Elle ne sait toujours pas repasser une chemise, cuisiner, partager une vie. Pas le temps d’apprendre. 513 Hier stehen Fülle und Leere nah beieinander: Ihre Sehnsucht nach dem einen Roman und dem einen Partner steht im Gegensatz zu ihrem vielfältigen, zersplitterten Leben. Violaine erscheint wie ein moderner Workaholic, die sich weder die Zeit nimmt, Alltagstätigkeiten zu erlernen und für sich zu sorgen, noch persönliche Kontakte pflegt oder eine Liebesbeziehung hat. Jene Arbeitssucht diagnostiziert eine Psychotherapeutin recht nüchtern: „L’hyperactivité est une forme de dépression cachée“. 514 Violaines Alltag unter Zeitdruck spiegelt sich in ihren Sätzen wieder: Die unterschiedlichen Projekte werden wie auf einer Arbeitsliste präsentiert; ihre Diagnose, dass sie keine Zeit mehr für ihre Freunde habe, formuliert sie in einem gehetzten, parataktischen Stil. Die Projekte sind bezeichnend für die identitäre Suche der intellektuellen Journalistin Violaine: Die Texte über Maurice Sachs und Israel Joshua Singer weisen auf ihre Affinität zur jiddischen Literatur und der jüdischen Identitätssuche hin - die nicht zufällig als Parallelisierung der Problematik von Geschichtskonstruktionen und Leerstellen in den Familienchroniken eingeführt wird. Dabei schildert Violaine, dass dieser Lebenszustand nicht ihre individuelle Problematik darstellt, sondern sich auch in den Lebenswegen ihrer Schulkameraden wiederfindet. Die Beschreibung und Suche nach Selbstentwürfen zielt nicht mehr auf einen Ruhepol in sich selbst, sondern stellt eine permanente Fluchtbewegung dar: „Elle n’est pas la seule à se fuir ainsi“. 515 Auch eine Selbstvergewisserung in der eigenen Vergangenheit mithilfe eines Klassenfotos misslingt. Violaine erinnert sich, dass sie für jedes Klassenfoto zwar in der ersten Reihe platziert wurde, doch verpasste sie vor lauter Grübelei über die richtige Pose jedesmal den Moment der Aufnahme. Ihre Erinnerungen an die eigene Kindheit beschreibt Violaine dementsprechend als verwackelt, „tremblé“, und unglücklich. 516 Diese Passage verdeutlicht Violaines Lebensgefühl, die sich im Moment der Gegenwart nicht zu positionieren versteht; ihr Selbstbild, das dieser verpasste Moment entwirft, verzerrt ihr Gesicht und ihre Gestalt. Ihre Studienzeit beschreibt Violaine als Bruch mit der familiären Tradition - während in der Familie bisher nur Ärzte waren, studiert sie als Einzelkind Literaturwissenschaft an der Sorbonne. Die Familie verliert die Bindungskraft für die Protagonistin. Im ersten Jahr ihrer Promotion verlässt sie die elterliche Wohnung. 517 Die junge Frau beschreibt ihren Beruf als 513 Ebd., S. 14f. 514 Ebd., S. 15. 515 Ebd. 516 Vgl. ebd., S. 17. 517 Vgl. ebd., S. 20. <?page no="141"?> Die Beur-Generationen 139 Journalistin, als einen, der sie von Projekt zu Projekt treibt. Und hier stellt die junge Frau wieder die Verbindung zu ihren Eltern her, deren aufrichtige Anerkennung sie vermisst. Die Protagonistin verfasst Essais, die ihre Eltern zwar nicht lesen, sie aber bereitwillig zuhause im Bücherregal ausstellen - neben den Büchern, die sie aus einem Abonnement beziehen. Hier flicht die Erzählerin exkursartig die Entstehungsgeschichte dieses Abonnements aus einem billigen Bücherclub ein. Denn eines Tages steht eine junge Abonnementverkäuferin, Leïla, vor der Tür der Eltern. Sie erzählt Violaines Eltern von ihrem Immigrationshintergrund, ihrem Interesse fürs Theater und ihrem Jurastudium, das sich deren Familie nicht leisten kann. Die Immigrantentochter Leïla fungiert als Gegenfigur zur arrivierten Tochter der assimilierten Familie Bellassen. Violaine kritisiert ihre Eltern, beschimpft sie als indifferent, bequem eingerichtet in ihrem kosmopoliten Leben, stets angepasst nach der Mode und den gesellschaftlichen Verpflichtungen lebend. 518 Diese Harmonie empfindet die Tochter als belastend: „Ils imposaient leur harmonie à Violaine, lui refusaient ses rébellions.“ 519 Das schwierige Verhältnis zum eigenen Selbstbild, wie es sich bspw. in ihrer Beschreibung des Klassenfotos ausdrückt, findet ihre Entsprechung (oder ist gar begründet) in dem Verhältnis zu der Geschichte der Eltern. Über die Immigrationsgeschichte der Eltern wird nicht gesprochen - daran erinnern abermals nur ein Foto der Eltern, das sie als Kinder zeigt, sowie die erstaunte Auskunft der Mutter, dass sie 1961 nach Frankreich emigrierten: „’1961, ton grand-père et moi sommes arrivés en 1961’, répondait-elle à sa fille, lorsqu’elle lui posait la question. Elle semblait toujours irritée de devoir donner des dates ou des précisions.“ 520 Die Eltern haben sich vollkommen von ihren Kindheitserinnerungen getrennt - dies wird der zentrale Streitpunkt zwischen Violaine und ihren Eltern. Nach der Unterzeichnung des Arbeitsvertrags, jener misslungenen Selbstversicherung, geht Violaine in die Konfrontation mit ihren Eltern und ihrer Vergangenheit: „Ce contrat est son constat d’égarement. Il fait surgir son mal de vivre et le regret d’un été. Cet été où elle avait cru devoir rompre avec ses parents, et leur passé recomposé.“ 521 Jene zusammengesetzte Vergangenheit will Violaine in ihren Einzelteilen und ihren Lücken kennen lernen, doch ihre Eltern versagen der Tochter die Vergangenheit: Pour refaire leur vie, ils se sont privés de mémoire, l’en ont privée, elle aussi. Certaines personnes allaient jusqu’à étouffer leurs proche, tant elles se calfeutraient. Du passé, des émotions, des affections, elles faisaient rien - un papier froissé, un papier qu’elles expédiaient au loin. 522 518 Vgl. ebd., S. 20ff. 519 Ebd., S. 22f. 520 Ebd., S. 31. 521 Ebd., S. 25. 522 Ebd., S. 46. <?page no="142"?> Die Beur-Generationen 140 Das Papier, von dem hier die Rede ist, sind Manuskripte des verstorbenen Großvaters, in denen der alte Mann seiner Erinnerungen festgehalten hat. Nach seinem Tod aber haben Violaines Eltern diese niedergeschriebenen Lebenserinnerungen an die Tante nach Marokko geschickt. Violaine reist zu dieser Tante; doch weniger, um das Herkunftsland ihrer Großeltern und Eltern kennenzulernen, sondern um die Lücken in der Familiengeschichte schließen zu können. Doch auch die Tante hat die niedergeschriebenen Erinnerungen von Violaines Großvater gedankenlos entsorgt, so dass sie das Bedürfnis der Erzählerin nach einer kontingenten Genealogie nicht befriedigen kann. Die Tante wundert sich ebenfalls über die Suche der jungen Protagonistin nach Wurzeln, Identität und einem Familienstammbaum: C’était nouveau, ce besoin de savoir, après des siècles où il était obligatoire de s’inscrire dans une lignée puis des décennies d’indifférence ou d’intégration, à tout prix, à toute force. Et maintenant, cet étrange besoin de racines, d’identité, d’arbre généalogique. 523 Zum Trost versucht die Tante dennoch Violaine ein paar Episoden aus dem Familienleben zu erzählen. Doch die Geschichten bleiben oberflächlich: „Tout avait été dit. Et rien. C’était une rencontre comme une ellipse.“ 524 Die Figur der Ellipse verweist dabei sowohl auf die Auslassungen und die Leerstellen in der Geschichte des Großvaters, die auch die Tante nicht zu schließen vermag, als auch auf eine zirkuläre Bewegung, bei der Violaine wieder an den Anfangspunkt zurückkehrt. Zudem ist die Anspielung auf die geometrische Figur mit zwei Zentren, die Violaine auf der einen und die Eltern/ Großeltern mit ihrer Familiengeschichte auf der anderen Seite bedeuten könnten. Violaine reist schließlich aus Marokko wieder ab; die Tante stirbt wenige Jahre später und mit ihr ein Teil des Familiengedächtnisses. 525 Nach der Rückkehr nach Frankreich beschließt Violaine nach den oberflächlichen Gesprächen mit ihren Eltern trotzig, diese genauso fern von sich selbst zu halten, wie die Eltern wiederum Violaine von ihren Erinnerungen ausschließen: „Ils la privaient de mémoire, elle les priverait d’elle.“ 526 Nach dem Tod der Tante erreicht der eigentliche Konflikt zwischen Violaine und ihren Eltern, der sich ja bereits in ihrem Harmonievorwurf äußerte, seinen Höhepunkt: Violaine wirft ihren Eltern ganz explizit die Assimilation vor. Die Antwort ihrer Eltern, die keine eigene Stimme bekommen und deren Entgegnungen auf Violaines Vorwürfe hier nur im discours indirecte erzählt werden: „Ils avaient juste vécu une enfance en Algérie. Une enfance. En Algérie. Voilà tout.“ 527 Als die Eltern ihrer Tochter von ihrer Zeit, nämlich dem Studium in Frankreich erzählen wollen, wehrt Violaine ab. Jenes Leben in Frankreich, das ihre Eltern mit den Franzosen teilen, die Ereignisse und Lie- 523 Ebd., S. 56. 524 Ebd., S. 58. 525 Vgl. ebd., S. 60. 526 Ebd. 527 Ebd., S. 36. <?page no="143"?> Die Beur-Generationen 141 der von 1968, ihr Kennenlernen, ihre medizinische Spezialisierung als Dermatologen - all dies interessiert Violaine nicht. Violaine wirft ihren Eltern die Negierung ihrer Kindheit und Amnesie vor: Longtemps, elle avait accepté l’amnésie ; pour les révisions de son baccalauréat, elle avait fait l’impasse sur la guerre d’Algérie. Pourquoi aucun de leurs amis d’aujourd’hui n’était né là-bas ? pourquoi fréquentaient-ils des individus sans accent ? et eux, avaient-ils perdu le leur, ou étaient-ils partis avant que les inflexions d’Algérie n’aient eu le temps d’imprimer leur voix ? 528 Violaine sucht verzweifelt nach Spuren Algeriens: in der Familiengeschichte und in der Sprache der Eltern. Und so geht Violaine, in ihrer Wut über die geschichts- und kulturlosen, ‚glatten Selbstentwürfe’ der Eltern, noch einen Schritt weiter, denn sie vermutet die Kolonialgeschichte als (psychologische) Motivation für das Vergessen der Eltern. Die Erzählerin befragt ihre Eltern nach der Schuld- und Machtfrage als „colons“: C’est d’avoir été des colons, qui vous fait honte? D’avoir été des sales fils de colons? On devient muet quand l’histoire vous donne tort ? C’est ça le problème avec l’Algérie ? C’est pour cela que grand-père Élie, il vaut mieux l’oublier ? 529 An dieser Stelle wird erstmals deutlich, dass es sich bei Violaines Eltern um Kinder von Franzosen („Français d’Algérie“) handelt, die in Algerien geboren wurden und nach Frankreich emigriert sind. In diesem Roman werden also die problematischen Beziehungen zu dem Herkunftsland der Eltern, deren Eltern wiederum dort Kolonisatoren und nicht Kolonisierte waren, verhandelt - allerdings nicht über die Figuren der Eltern oder Großeltern, sondern bezeichnenderweise über die Figur der Tochter und Enkelin, die die Unterbrechungen und Leerstellen in der Familiengeschichte nicht ertragen kann. Violaine wertet die literarischen Vorlieben des Vaters, nämlich Biographien Romanen vorzuziehen, als einen Versuch, das eigene Leben nicht ansehen zu müssen, um sich auf andere zu konzentrieren. 530 Jene Geschichtslosigkeit ist es auch, die die Protagonistin von Rahmani prägt. Die Ich-Erzählerin in Zahia Rahmanis « Musulman » roman erzählt ihre Geschichte in einer unwirklichen Atmosphäre, in der sie vornehmlich Träume, Erinnerungen und Phantasieszenarien beschreibt. Dem Roman « Musulman » roman von Rahmani ist neben zwei Motti von Coetzee und Melville eine Textpassage vorangestellt, welche bereits die zentralen Thematiken und die Problematik der identitären Zuweisungen und der Fiktionalität umreißt: CE QUI M’ARRIVE, je ne l’avais jamais pensé. J’ai dû me perdre dans ce siècle d’égarés qui me précède. 528 Ebd., S. 37. 529 Ebd., S. 41. 530 Vgl. ebd., S. 46. <?page no="144"?> Die Beur-Generationen 142 Sur moi s’est abattue une entente entre les hommes. Je suis devenue, redevenue « Musulman ». De cette folie, de cette contrainte, je n’ai pu m’échapper. Cette condition a mis fin à ma fiction. 531 Hier benennt die Ich-Erzählerin die Zeit, in der sie sich ohne ihr Zutun verortet, ihr Gefangensein in einem System der Männer („entente entre les hommes“) und ihre Rückkehr/ Hinkehr zum Attribut „Musulman“ - wohlgemerkt taucht es in der männlichen Form auf, auch wenn es sich um eine weibliche Erzählstimme handelt. Der „Prolog“ evoziert die Erzählsituation der namenlosen Ich-Erzählerin: Sie ist einem Schuppen in einem Gefangenenlager eingeschlossen. Aus dieser Situation der Gefangenschaft beschreibt die Erzählerin ihre Erinnerungen an Erlebnisse in der Kindheit, aber auch Träume und Ereignisse, die zeitlich nicht zuzuordnen sind. Bei diesem literarischen Text handelt es sich daher um einen eigenartig zeitlosen, aber nicht ahistorischen Roman. Allein der Kapiteltitel „Desert Storm“, der auf die Bezeichnung der Militäroperation im Zweiten Golfkrieg verweist, situiert den Roman in der Gegenwart. Die Erzählsituation in der Wüste besteht in einem heterotopen Erzählort (dies wird im folgenden Kapitel noch näher beleuchtet) und einer gewissen Zeitlosigkeit. Das Moment der Zeit und der Geschichte weist dabei auf vielfache Weise über die biographischen, individuellen Rekonstruktionen der Erzählerin hinaus: So bindet sie ihre eigenen Traumszenarien und ihre Erinnerungen in die historische Situation des Algerienkriegs, die mythischen Traditionslinien algerischer Legenden und schließlich in Genese-Narrative des Islam. Die Passagen über Träume, Erzählungen und Märchen funktionieren dabei auf die gleiche Weise: Es wird eine eigene Zeit gestaltet, die aber stets an Kollektive gebunden wird, sowie (imaginierte) Genealogien, die an die nationalen Territorien Frankreichs und Algeriens gebunden sind, aber auch als weibliche und männliche Genealogien formuliert werden. Auch dies wird in der zitierten vorangestellten Textpassage bereits antizipiert: Die auschließliche Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft, zwingt sie nicht nur zur Eindeutigkeit und zu einer Übernahme eines männlichen Identifikationsmerkmals („musulman“), sondern beendet damit auch ihre Fiktion. In den ersten beiden „Akten“ erzählt die Protagonistin in Verbindung mit ihrer Kindheit die Ursprünge des Islam und ein französisches Märchen. Im ersten Akt beschreibt die Erzählerin einen Alptraum von einer Herde Elefanten, den sie als fünfjähriges Kind gehabt hat, nachdem die Familie nach Frankreich immigriert ist. Das Mädchen flieht dabei vor Angst aus dem Zimmer und lässt ihre Geschwister allein zurück. 532 Die Erzählerin bindet diese Kindheitserinnerung unmittelbar in einen größeren Kontext ein, denn sie kontextualisiert ihn innerhalb der muslimischen Tradition: „LA NUIT DE 531 Rahmani 2005, S. 13. 532 Vgl. ebd., S. 23f. <?page no="145"?> Die Beur-Generationen 143 L’ÉLÉPHANT C’EST, pour les musulmans, la naissance de l’enfant Mahomet.“ 533 Sie erkennt, dass dieser Traum das Ende ihrer Kindheit und die zwingende Identifikation mit einer religiösen Gemeinschaft bedeutet. 534 Hier wird die Schwellensituation der Protagonistin gleichermaßen kulturalisiert und in einen Gender-Kontext eingebunden, denn mit der einsetzenden Pubertät scheint die Erzählerin zur Eindeutigkeit als Frau und als Moslem/ Moslemin gezwungen. Und es ist diese Eindeutigkeit, die für die Erzählerin problematisch ist, denn sie verbindet als Kind spielerisch Bezüge zu christlichen, islamischen und jüdischen Traditions- und Familienlinien. Fortan werden die Überblendungen dieser Geschichten unmöglich, da die Zugehörigkeit und der Glaube an die Geschichte nach dem Koran eindeutige Setzungen einfordert: ENFANT, ON M’AVAIT DIT tu es née d’Adam et Ève. Sœur d’Abel et de Caïn. Fille du fils d’Abraham. Mais d’Ishmaël, le fils de l’esclave Agar ou d’Isaac, le fils de Sarah, des deux fils circoncis, je ne savais lequel le père avait porté au mont Moriah. Je ne savais lequel avait été élu. Le premier texte, disait, c’est Isaac. Mais le Coran, qui dans son principe annule ce qui l’a précédé, corrigeait l’histoire en omettant le nom du sacrifié. De qui étais-je issue ? 535 Die Uneindeutigkeit der Abstammung und die (resultierende) setzende Geschichtsschreibung, die sie im Koran vorfindet, wird noch zugespitzt, indem die Erzählerin die Abstammungslinie zu einer Vater- und einer Mutterfigur entwirft. Dabei fokussiert sie das Problem der Abstammung, das einerseits mit der Weitergabe des Glaubens verbunden ist und andererseits mit dem Einschreiben des Subjekts in eine Geschlechtertradition und -hierarchie. Die Verortung in einer Genealogie nimmt eine Wendung, als sich die Protagonistin in eine gelöschte Geschichte einreihen will: Ainsi je venais peut-être de lui, d’Ishmaël, le fils abandonné né d’une mère esclave répudiée. D’une mère qu’on effacera. Qu’on oubliera. Et par là même d’une femme dont on effacera la descendance. Je m’inscris donc dans cette origine-là. 536 Die obsessive Suche nach Bindung in eine Genealogie und die Problematik der unausweichlichen Identifikation mit einer Religion, einer Nation und einem Territorium hängen unmittelbar mit der affektiven Beziehung zu ihrem negierten Vater zusammen. Denn die Emigration aus Algerien nach Frankreich hängt mit der harki-Vergangenheit des Vaters zusammen, auch wenn der Begriff selbst zunächst nicht genannt wird. Denn auch den Vater kann sie nicht beim Namen nennen; er funktioniert für sie nur als Erzeuger und ist für sie kein lebendiges Wesen: D’ailleurs ce n’était pas mon père. Il n’a été que mon géniteur. Je n’ai jamais su le nommer. Je n’ai pas eu de père. La guerre me l’avait bousillé. Je sais que j’ai été 533 Ebd., S. 25. 534 Vgl. ebd., S. 59ff. 535 Ebd., S. 35. 536 Ebd., S. 36. <?page no="146"?> Die Beur-Generationen 144 un être. Pas lui. Lui, il ne l’est jamais devenu. Disons que vivant il était mort. […] Il est né mort. 537 Auch der zweite Akt beginnt mit der Erzählung von einem wiederkehrenden Alptraum, in dem sich das Mädchen immer wieder von alten Frauen verfolgt sieht. Mutter und Tochter suchen nach einer Erklärung für diese Träume, die wiederum aufs Engste mit der Geschichte Algeriens, dem „Verrat“ des Vaters, dem Krieg, ihrer Familiensituation und schließlich Frankreich verklammert sind: Elle [La mère, K.S.] me dit juste, Tu ne vivais qu’avec des femmes, des mères vieillies par la souffrance et la mort. Elles pleuraient leurs morts et toi tu réclamais ton père emprisonné, harki vivant encore. Elles, elles voulaient sa mort. J’étais la fille de l’impur. Le rejeton à virer d’une société nouvelle, née en 1962. En Algérie, il y avait eu des morts, les martyrs, les combattants. […] Je comprenais enfin que le malheur, dans cette histoire, n’était pas de mon seul côté. 538 An ihre Kindheit in der Kabylei kann sich die Erzählerin nur vermittels eines Fotos erinnern. 539 Es folgt eine Kette von Erinnerungen, die meist mit Schmerzen verbunden sind und in das pathologische Vergessen und den Sprachverlust münden: Sie denkt an die eigenen Kopfschmerzen als Kind, an Schmerzensschreie des Bruders und einen Unfall, bei dem sie sich durch einen Stoß von ihrer Cousine verbrennt. 540 Nach diesem Zwischenfall verwünscht sie ihre Cousine, betont allerdings, die Flüche nicht in einem religiösen Sinne ausgesprochen zu haben („Rien de religieux là-dedans.“ 541 ). Doch tatsächlich erfüllt sich ihr Fluch und die Cousine verliert ihre Sprache. Als die jungen Mädchen nach Frankreich kommen und die Cousine nicht spricht, wird diese in einem christlichen Heim untergebracht. Mit den Schwestern muss die Cousine Sprachübungen machen, die das gegenseitige Missverständnis und die Polysemie der Sprache deutlich machen. Bei dem Versuch französisch zu sprechen, imitiert sie ausschließlich den Laut. Erst im Schriftbild, das die Erzählerin herzustellen vermag, macht das Mädchen ihre Distanz und die Exklusion deutlich: „nous l’entendions dire avec une très grande lenteur les e, e qu’ils tentaient de lui faire répéter. Heu, heu répétaient les sœurs. Eux. Eux. Disait ma cousine.“ 542 Das mit der Cousine zusammenhängende Vergessen wirkt sich auch auf die Erzählerin aus: Verklammert mit dem Ort der Wüste und des Lagers wird nicht nur die Flucht in die Erinnerungen, Imaginationen und Träume, sondern auch ein Selbstentwurf in einem Raum zwischen den Sprachen 537 Ebd., S. 37f. 538 Ebd., S. 56f. 539 Vgl. ebd., S. 51. 540 Vgl. ebd., S. 52. 541 Ebd., S. 52. 542 Ebd., S. 53. Sprache bekommt hier nicht in seiner Oralität, sondern im Schreiben eine eigene Macht, ganz im Sinne der Derrida’schen différance, auf die im Zusammenhang mit der écriture transculturelle beur eingegangen wird. <?page no="147"?> Die Beur-Generationen 145 formuliert. Dieser wird allererst geöffnet durch die Sprachamnesie der Protagonistin. Diese vergisst nämlich nach der Ankunft der Familie in Frankreich sofort ihre „Muttersprache“. Über Nacht legt sie die (orale) Sprache der Mutter ab, jene Sprache der Märchen und Legenden, und nimmt die französische Sprache, die Sprache Europas, an: UNE NUIT, j’ai perdu ma langue. Ma langue maternelle. J’ai a peine cinq ans et quelques semaines de vie en France. Cette langue que je parlais, une langue orale, une langue de contes, de récits d’ogres et de légendes, je ne la parlais plus. En une nuit, une nuit de rêve et de cauchemar, j’en parlais une autre, la langue d’Europe. 543 Die Zeiterzählungen der weiblichen Protagonistinnen bei Boulouque und Rahmani sind wesentlich an das Moment der Sprache und des Schreibens gebunden- dieser Aspekt wird noch in den Analysen zu den Identitätskonstruktionen als „Dritte“ später ausgeführt. Festzuhalten ist hier die Bindung an den Körper, in den sich die Geschichte der Familie und der Nationen einschreibt, und die Betonung von Träumen und Imaginationen. Der Versuch, sich in jener deterritorialisierten Zeit zu imaginieren und vermittels einer eigenen Familiengenealogie zu behaupten, ist bestimmend für die literarischen Texte. Hinsichtlich der Sprache, der Geschichte der Sprache und der in der Sprache vermittelten Geschichte zeigt besonders der Text von Rahmani, wie die Beherrschung einer Sprache mit Exklusions- und Inklusionserfahrungen einerseits, und mit der eindimensionalen Verengung von identitärer Bezugnahme andererseits verbunden ist. Eine andere Art der Gestaltung der eigenen Gegenwart (und Zukunft) stellt sich in den Romanen von B. und Guène dar, in denen sich der Erzähler und die Erzählerin vornehmlich als Medienstars imaginieren und deren eigene Zeitrechnung unmittelbar mit Sendezeiten von Fernsehserien verbunden ist. Ihnen geht es nicht um die Verankerung oder die Selbstversicherung in einer familiären oder nationalen Geschichte, sondern um eine Identifikation mit rezenten Medienphänomenen. Die Immigrationsgeschichte der Eltern stellt keine intensive Bindung mit der Vergangenheit dar, sondern erscheint als blasser Hintergrund, der beinahe bedeutungslos geworden ist. In den Romanen spielt die simulierte Gegenwart in den Medien und auf der Bühne die zentrale Rolle, die allerdings durch die eigenen Träume und Imaginationen nicht nur an die mediale und teils globalisierte Gegenwart Frankreichs angelehnt ist, sondern zu einer eigenen Zeit umgestaltet wird. „...si tu prends un jeune d’origine difficile issu d’un quartier sensible d’éducation prioritaire en zone de non-droit donc un Arabe ou un Noir, eh bien lui il a pas le choix : soit il est un star soit il est rien.“ 544 Kamel Léon Hassani sieht in B.s Roman Allah superstar in seinem Leben nur einen Ausweg aus der Marginalisierung in der banlieue: entweder mit einem Terroris- 543 Ebd., S. 22. 544 B. 2003, S. 11. <?page no="148"?> Die Beur-Generationen 146 tensketch Comedy-Star werden oder aufgeben. Die Diagnose der Zeit, in der der junge Erzähler lebt, fällt ernüchternd aus, denn das gegenwärtige Frankreich ist von Rassismen und Diskiminierung geprägt. Nicht die Schulbildung ist der Garant für den beruflichen und damit finanziellen Erfolg, sondern die mediale Selbstvermarktung. Und diese Chance will der junge Beur für sich nutzen: Wie sein großes Vorbild, der Beur-Comedian Jamel Debbouze, will er mit einem Sketch reich und berühmt werden. Zu Beginn des Romans stellt er sich zunächst einmal selbst vor: „Déjà je me présente : Kamel Hassani. Je suis né en Algérie ça fait dix-neuf ans. Mon père s’appelle Mohammed comme tout le monde.“ 545 Kamel ist als Kleinkind mit seiner französischen Mutter und seinem algerischen Vater nach Frankreich emigriert und lebt nach dem Tod seiner Mutter bei seinem Vater. Diesen nennt der Sohn einen Mohammed „comme tout le monde“, banalisiert damit seinen eigenen biographischen Hintergrund und demontiert den Vater als respektvolles Vorbild. Seinen Vater beschreibt Kamel als gläubigen Moslem, der Kontakt zu dem Cheikh der islamischen Gemeinde in seinem Viertel hat. Und durch diesen Cheikh kommt Kamel auf die Idee eines eigenen Sketches. „[P]our la grande prière il fait un stand-up à la mosquée“ 546 , (miss)versteht der mediengeprägte Kamel die religiöse Handlung des Cheikhs. Kamel übersetzt auch die Ereignisse des 11. September in seine Erfahrungswelt: Ähnlich wie die Jugendlichen in der banlieue, die eine Art S-Bahn-Surfen als rodéos veranstalten, meint nun der Erzähler, dass die Terroristen eben dies mit gestohlenen Flugzeugen in den USA veranstaltet hätten. 547 Aus diesen Ideen entwickelt er einen eigenen Sketch, den er seinen Freunden in deren Wohnung erstmals vorspielt. Kamel evoziert eine Szene in einem französischen Amt, das Kamel als islamistischer Terrorist verkleidet betritt. Es folgt ein mit überzogenen Stereotypen gespickter Dialog zwischen ihm und einer französischen Beamtin. Am Schluss des Sketches jagt sich der Protagonist mittels eines Sprengstoffgürtels selbst in die Luft. Doch die Reaktionen seiner Freunde sind keineswegs positiv: Sie verurteilen diese Art von schwarzem Humor und sagen ihm deutlich, dass der Sketch inhaltslos und überhaupt nicht komisch sei. Doch der naive und unerschütterliche Kamel lässt sich nicht entmutigen: „soit tu fais peur, soit tu fais rire.“ 548 Dieses Erfolgsrezept beruht auf der bewussten Situierung des Erzählers in seiner Zeit. Im Zuge seiner neuen Karriere als Schauspieler und Comedian entdeckt der Erzähler nämlich auch seinen zweiten Vornamen, der ihm von seiner Mutter gegeben wurde: Léon. Damit wird Kamel Léon Hassani zum Chamäleon - seiner Meinung nach ein guter Künstlername für seinen Berufsweg als Schauspieler und Medienstar. Mit diesem Namen verbinden sich nicht nur die Prägungen von Vater und Mutter, sondern zeichnen ihn 545 Ebd., S. 10. 546 Ebd., S. 24. 547 vgl. ebd. S. 141ff. 548 Ebd., S. 52. <?page no="149"?> Die Beur-Generationen 147 auch als einen wandelbaren Menschen aus. 549 „[J]e m’appelle Kamel Léon et [...] c’est un animal qui prend la couleur de l’époque vu que lui il en a aucune de couleur à lui“ 550 Jene Farben seiner Epoche beschreibt der Erzähler auf vielfältige Weise, denn Kamel verwebt seine eigenen Erlebnisse mit etlichen intertextuellen und intermedialen Verweisen auf Literatur (bspw. der Autoren Fanon, Céline, Houellebecq und in einer metafiktionalen Wendung auch des Autors Y. B. selbst), Kunst, Musik, Film, Fernsehen, politischen Ereignissen etc. Doch anders als andere Erzähler in der Beur-Literatur ist der naive und provokative Stil des Erzählers nicht mit einer Selbstbemächtigung unterstreicht, sondern beweist vielmehr die verzweifelte Notwendigkeit der eigenen Angleichung an kulturelle Repräsentationsformen. Kamel beweist hier - dies sei schonmal vorweggenommen - weniger eine (Selbst-) Gestaltung von Hybridität als ein Spiel mit Stereotypen, das mit Bhabha als verstörende (und damit macht- und effektvolle) Mimikry im Sinne einer Bestätigung der Vorurteilsstrukturen funktioniert. Im Laufe des Romans wird der Erzähler trotz der schlechten Qualität seiner Bühnenstücke von dem windigen Produzenten Claude Martin entdeckt, der ihn unter Vertrag nimmt und sogar zu einem Auftritt im Olympique verhilft. Nachdem es Kamel zu einem gewissen Bekanntheitsgrad gebracht und der Cheikh aufgrund des Sketches eine fatwa verhängt hat, endet der Roman mit dem Tod des Protagonisten. Eine Zeitungsmeldung am Ende des Romans vermeldet, dass in dem Sprengstoffgürtel des jungen Beur tatsächlich Sprengstoff gewesen ist, so dass sich der Künstler am Ende des Auftritts tatsächlich selbst getötet hat. Drahtzieher dieses Anschlags scheint der Cheikh gewesen zu sein. Dass der Roman mit einer Zeitungsmeldung und einer seitenlangen Danksagung an reale und fiktive Personen und Figuren endet, macht zwei Aspekte deutlich: Einerseits wird hier eine Medienrezeption und -kritik formuliert - der Tod des Erzählers ähnelt einem Showdown in einem Film, auf den darüber hinaus auch noch eine Art Abspann folgt, und nur die Presse scheint die wahren Hintergründe zu kennen - und andererseits werden fiktionales und faktuales Erzählen vermischt. Die Zeitwahrnehmung und -gestaltung in Guènes Roman ist unmittelbar mit Fernsehserien und Kinofilmen verknüpft sowie an die Gegenwart in der banlieue gebunden. Kiffe kiffe demain beginnt mit einem Besuch der fünfzehnjährigen Doria bei Mme Burlaud, zu der die junge Protagonistin auf Anraten der Lehrer regelmäßig geht. „Je crois que je suis comme ça depuis mon père est parti“, 551 fasst Doria ihren Zustand zusammen. Im parataktischen Stil beschreibt sie gleich zu Beginn des Romans die Absenz ihres Vaters und ihre eigene therapeutische Behandlungsbedürftigkeit: Der Vater hat die Familie 549 Die Problematik, dass Kamel nicht nur der kulturellen Assimilation fähig ist, sondern sich selbst als identitätslos beschreibt („aucune couleur à lui“), wird noch weiter ausgeführt. 550 Ebd., S. 178. 551 Guène 2004, S. 10. <?page no="150"?> Die Beur-Generationen 148 wegen einer jüngeren, „fruchtbareren“ Frau verlassen und ist ohne seine Familie zurück nach Marokko gegangen. Sein Wunsch war es immer, einen Sohn zu bekommen, doch sein einziges Kind ist Doria: Papa, il voulait un fils. Pour sa fierté, pour son nom, l’honneur de la famille et je suppose encore plein d’autres raisons stupides. Mais il n’a eu qu’un enfant et c’était une fille. Moi. Disons que je correspondais pas tout à fait au désir du client. 552 Damit kommentiert sie sich nicht nur sarkastisch seine patriarchalische Position als Familienvorstand und als Bewahrer und Behüter der Familienehre, sondern verwebt dies mit einer Formel der Dienstleistungsansprüche im modernen Frankreich. Denn im Anschluss zieht sie den Vergleich mit der Marktkette Carrefour: Mit einer Tochter könne man nicht einfach den service après-vente in Anspruch nehmen. Doch der Vater hinterlässt sein Erbe im Körper der Tochter - seinen Blick kann sie beim Blick in den Spiegel in ihren grünen Augen wiedererkennen. 553 Ihre Erinnerungen an die Abreise und das Verschwinden des Vaters verbindet die junge Protagonistin mit ihrem Medienkonsum: „Tout ce dont je me souviens, c’est que je regardais un épisode de la saison 4 de X-Files“. 554 Dorias Beschreibungen ihrer eigenen Empfindungen und Gedanken, aber auch der Phantasien und Träume der Mutter sind meist mit Filmen und Fernsehserien verbunden. „Se faire un film“ und „faire du cinéma“ 555 sind paradigmatische Wendungen für die Lebensgestaltung der jungen Protagonistin, die sich ihr Leben in medialen Welten und Bezügen erträumt. Dorias Mutter, Yasmina, arbeitet als Putzfrau unter einem rassistischen Chef in einem Formule 1-Hotel. Die Familie wird durch Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen unterstützt, ein wahres „défilé d’assistantes sociales“, 556 welche mal offensichtlicher, mal versteckter ebenfalls fremdenfeindliche Ressentiments gegen die marokkanische Mutter und ihre Tochter hegen. Schließlich beendet Dorias Mutter ihre Arbeit im Formule 1 und beginnt einen Alphabetisierungskurs, der sie verändern soll. „On va lui apprendre à lire et à écrire la langue de mon pays“, 557 stellt Doria verwundert fest und formuliert anhand des Bildungsunterschieds zwischen sich und ihrer Mutter eine generationelle, aber auch eine kulturelle Differenz. Nachdem die Mutter lesen und schreiben gelernt hat, verändert sich ihr Leben, denn sie bekommt eine neue Arbeitsstelle in der Essensausgabe einer Grundschule. Die Mutter ist glücklich und zuversichtlich - auch wenn sie in der Kantine zu ihrem Unwillen Schweinefleisch servieren muss. In diesem Roman ist es interessanterweise zuerst die Mutter, die durch die (Schul-)Bildung ein besse- 552 Ebd. 553 Ebd., S. 161. 554 Ebd. 555 Vgl. ebd., S. 145. 556 Ebd., S. 17. 557 Ebd., S. 80. <?page no="151"?> Die Beur-Generationen 149 res Leben und Zukunftsaussichten erreicht: „Je ne sais pas ce qu’ils lui ont fait à la formation mais elle est plus la même. Elle est plus heureuse, plus épanouie.“ 558 Doria lebt von einem Tag in den nächsten, besucht ihre Therapeutin Mme Burlaud, fühlt sich von der Sozialarbeiterin gestört und sieht viel fern. Ihr Leben spielt in der banlieue und in ihrer eigenen Phantasiewelt, die sich aus unterschiedlichsten Filmzitaten und Szenarien aus Fernsehserien zusammensetzt. Dorias Leben findet in ihren Traumwelten statt, und sie hat kein Interesse an einem einer Zukunft: „Alors que pour moi c’est kif-kif demain.“ 559 Eine exemplarische Passage für die Präfigurierung von Dorias Wahrnehmungen und deren sprachlicher Gestaltung ist die, in der Doria erfährt, dass Lila, eine junge Frau, deren Kind Doria stundenweise betreut, und Hamoudi, Dorias heimlicher Schwarm, ein Paar sind. Ihre Enttäuschung und ihre Wut finden ihren Ausdruck im Format der Talkshow Sept à huit, in der sich die Erzählerin nun als Gast imaginiert und ihre Leidensgeschichte erzählt. Ihre Geschichte ist so überzeugend, dass sogar der Sprecher der Off- Stimme beginnt, sein Leben sinnlos zu finden und sich ein neue Zukunft zu wünschen. 560 Perfekt versteht sie es, den Duktus dieser Enthüllungsshows zu imitieren: „Quinze ans et déjà désenchantée. Pour elle, la vie n’est qu’une brève illusion. Dès sa naissance, elle est une énorme déception pour ses parents, particulièrement pour son père qui s’attendait à voir sortir du bidon de sa femme unn petit mâle […]. Hélas, c’est le drame, il met bien au monde une petite fille qui se demande déjà ce quelle fout là…“ Là, on me voit apparaître à l’écran, le visage flouté et la voix déguisée, genre dessins animés. Je me tourne vers la caméra et je commence à tout déballer : „De toute façon, j’veux dire, à quoi ça sert de vivre ? J’ai pas encore des seins, mon acteur préféré est homosexuel, y a des guerres sans but et des inégalités entre les gens et la cerise sur le gâteau : Hamoudi fricote avec Lila et ne m’en dit pas un mot ! […]“ 561 Diese Stimmung überträgt sich auch auf den Sprecher der Talk Show, der dann in einer komischen Wendung der imaginierten Szene seinen Dienst quittiert: « Elle a pas tort la gamine…C’est vrai ça, on a des vies de merde, j’crois bien que je vais arrêter de faire la voix off à la télé, c’est un métier de chiotte, aucune de reconnaissance, einfin je veux dire personne nous demande des autographes dans la rue à nous, ça rend pas célèb’, c’est un métier de bouffon. 562 558 Ebd., S. 144. 559 Ebd., S. 27. 560 Vgl. ebd., S. 139ff. 561 Ebd, S. 140. 562 Ebd., S. 40f. <?page no="152"?> Die Beur-Generationen 150 Die positiven Wendungen, die ihre Mutter sowie Hamoudi und Lila in ihren Lebensentwürfen finden, übertragen sich am Ende auch auf Doria, die sogar Gefallen an ihrem Klassenkameraden Nabil findet, der ihr Avancen macht. So sieht auch sie einen Ausweg aus der miserabilistischen Wahrnehmung ihres Lebens: „Ça veut dire qu’il n’y a pas que le rap et le foot. L’amour c’est aussi une façon de s’en sortir.“ 563 Doria verändert ihre Lebenseinstellung und formuliert den Titel des Romans: „Maintenant, kif-kif demain je l’écrirais différemment. Ça serait kiffe kiffe demain, du verbe kiffer. Waouh. C’est de moi. (C’est le genre de trucs que Nabil dirait…)“. 564 Die Spezifik des Romans Kiffe kiffe demain ist ähnlich wie in Allah superstar der ironische Ton, in dem Doria sich mit viel Humor und Selbstdistanzierung (so zensiert sie sich auch oftmals selbst) und ihre Umgebung beschreibt, nur - und das ist das Besondere an diesem Roman - dass ein leichtes und hoffnungsvolles Ende formuliert wird. Während Kamel Léon als Comedian den Tod findet, wird hier ein hoffnungsvoller Ausblick artikuliert. In dem Erstlingswerk des Autors Mounsi, La noce des fous, schildert der Jugendliche Tarik Hadjaj in 51 Abschnitten sein Leben in der banlieue mit seinen Freunden, die ihn durch einen Raubüberfall zunächst zum Verrat treiben und dann ins Gefängnis bringen. Schon zu Beginn des Romans schildert der 13jährige Ich-Erzähler die triste Situation der Jugendlichen in der Cité des Marguerites in Nanterre und seine eigene ausweglose Lage. Er stellt sich einerseits als Antiheld dar, indem er betont, dass man sich nicht mit ihm identifizieren könne und formuliert andererseits in einer proleptischen Anspielung bereits sein Ende. 565 Die Erlebnisse werden folglich am Ende des Romans in Frage gestellt: Sie werden als fiktive oder gar fingierte Konstruktionen enttarnt, und die Handlung erscheint im Lichte jener narratologischen Unmöglichkeit unsicher und unzuverlässig. Somit stellt diese Täuschung eine Art Rahmen und Leitmotiv des Romans dar; während sich der Erzähler zu Beginn fragt, ob seine Erlebnisse nicht nur Träume seien und sein Spiegelbild nur eine Illusion. Tarik bezeichnet sich am Ende gar als Vergessenen: „Je ne sais pas où, je ne sais plus rien, ni mon nom. Je crois qu’en arabe littéraire, il signifiait l’oublié déjà“. 566 In diesem besonderen Moment des Todes wird alles zur Vergangenheit und die Zukunft nicht mehr beschreibbar. Die Zeit und das Vergessens stellen zentrale Motive in diesem Roman dar. Als der Protagonist am Ende stirbt und zu wissen glaubt, sein Name bedeute im literarischen Arabisch „l’oublié“, der (oder das) Vergessene, so wird hier nicht nur die Vergänglichkeit des Lebens der literarischen Figur benannt. Vielmehr ist dies auch ein Hinweis auf den Namen des empiri- 563 Ebd., S. 157. 564 Ebd., S. 192. 565 Vgl. bspw. Mounsi 2003, S. 11. 566 Ebd., S. 246. <?page no="153"?> Die Beur-Generationen 151 schen Autors, der sich hier als Autorinstanz inszeniert; bedeutet doch Mounsi im Hocharabischen „der, der das Vergessen verursacht“. 567 Es wird der Konstrukt- und Fiktionscharakter der Romanfiguren transparent gemacht. Dies wird besonders in der Passage deutlich, in der Tarik während einer Gerichtsverhandlung dem Richter seine Lebensgeschichte erzählen soll. Angeklagt wird er, weil er an einem Raubüberfall auf eine Orgie reicher Bourgeois beteiligt war, bei dem Bako versehentlich den Gastgeber erschoss. Dieser Lebensbericht bereitet dem Erzähler Qualen, und unter den Blicken des Richters fühlt er sich leer: Il m’eût fallu remonter l’aiguille du temps jusqu’à la seconde où je suis né. Je me tenais devant lui, l’esprit tendu à se rompre, tentant de ramasser dans ma mémoire les morceaux qui formaient mon existence, mille souvenirs que je désirais ardemment oublier. Le regard du juge me paralysait. Un vide se fit en moi. 568 Hier beschreibt der Erzähler die Schwierigkeit, einen kohärenten, von der Geburt an bestimmten Lebenslauf zu erzählen, die darin begründet ist, dass Tariks Leben aus vielen Erinnerungsfragmenten besteht und dass er viele Erlebnisse zu verdrängen versucht. Die Leere, die sich in ihm ausbreitet, unterstreicht dabei gleichermaßen, wie unmöglich ihm eine Identifikation mit seiner Vergangenheit und eine Erzählung vor einer offiziellen Institution ist. Die Vergänglichkeit der Jugendlichen im urbanen Raum stellt eine weitere Variation des zentralen Themas des Vergessens dar. Tarik beschreibt, dass sich niemand an die Namen der Jugendlichen in der banlieue wird erinnern können. In einem metatextuellen Kommentar wird die Erinnerungsleistung auf die Leserschaft übertragen: „Ils ne deviennent visibles au mystère que vous êtes qu’à la page de ces journaux nourris de faits très quotidiens. Ils sont si loin des vivants, déjà taillés dans la pierre où se gravent les épitaphes.“ 569 Im Weiteren wird die Spiegel-Metapher nicht zur Selbskonstruktion des Protagonisten eingeführt, sondern verbindet die Zeitebenen: „Dans le miroir du temps, les morts d’hier pourraient se reconnaître dans le visage de ceux d’aujourd’hui.“ 570 Die Anlage des Romans stellt einen extremen Fall des Erzählens der Lebenszeit dar: Am Ende des Romans erzählt der Ich-Erzähler seinen eigenen Tod - eine unmögliche und daher unzuverlässige Erzählsituation. Im Gegensatz also zu dem Roman Allah superstar von B. übernehmen nicht die Medien, sondern der Protagonist selbst die Schilderung seines Todes, der ihn aus der Zeit katapultiert: 567 Ich danke Sarhan Douib für die Hilfe bei der Übersetzung aus dem Hocharabischen. 568 Mounsi 2003, S. 128. Und auch während der Urteilsfindung kommen die Anwälte und der Richter zu keinem anderen Schluss: „Ils ont débattu longtemps, entre eux, de la nature de mes vices, puis ils sont descendus dans les profondeurs de mon enfance. Ils n’y trouvèrent que le vide.“ Ebd., S. 130. 569 Ebd., S. 70. 570 Ebd., S. 71. <?page no="154"?> Die Beur-Generationen 152 Je suis sorti du temps en un éclair de lumière. J’ai revu des générations et des siècles qui ne se comptent plus que dans un coin du ciel. […] Je ne sais plus où, je ne sais plus rien, ni mon nom. Je crois qu’en arabe littéraire, il signifiait l’oublié déjà, le vent couvrait la mer de la cendre légère… 571 Wieder wird das Leben bzw. der Tod an das Vergessen rückgebunden. Im Gegensatz zu dem Tod des Protagonisten in Allah superstar, dem ein seitenlanger ‚Abspann’ folgt und damit Kamel Léon literarische Figuren wie reale Personen zur Seite stellt, kommen nach Tariks Tod nur noch leere Seiten - das Ende des Romans und der Fiktion markiert auch das Ende des Protagonisten. Mon nerf ist der zweite Roman von Rachid Djaïdani und handelt von einem heißen Sommertag im Leben des einundzwanzigjährigen Ich-Erzählers Mounir, der sich morgens auf den Weg durch sein Wohnviertel zu einem zunächst unbekannten Ziel macht, das sich am Ende des Romans als die Adresse seines Psychonanalytikers herausstellen soll. Als der Erzähler die berufliche Tätigkeit seiner sechzigjährigen Eltern auf dem Markt schildert, beschreibt er auch seine Erinnerungen an seine Eltern während der Kindheit sowie deren Vergangenheit im algerischen bled. 572 Seine Eltern verstehen es nicht nur, das Stereotyp des „arabischen Gemüsehändlers“ humorvoll und selbstironisch zu bedienen, sondern verkleiden sich sogar als Gemüse und Obst in den algerischen Nationalfarben, was bei ihrem Sohn - so die ironische Selbstdiagnose - zu bleibenden Schäden führen musste: „Gamin, voir son papa partir en agrume et sa maman en fruit rouge, ça laisse des points de suspension dans l’hypophyse.“ 573 Seine Eltern sind im gleichen Dorf aufgewachsen und haben ihr ganzes Leben miteinander geteilt (Mounir kommentiert dies ironisch mit: „Des dents de lait jusqu’au bridge“ 574 ). Das Paar geht gemeinsam nach Frankreich. Daher gibt es auch keine Kontakte mehr zu den Familien - allein zur Geburt des Sohnes übermitteln die Großeltern ihren Segen übers Telefon. 575 Die Erinnerungen des Erzählers sind daher unauflöslich mit seiner Gegenwart verbunden; beinahe bruchlos tauchen sie in seinem Gedächtnis besonders während der Wartezeit im RER auf. Dass die Gegenwart die Wahrnehmungen und sogar die Sprache des Erzählers bestimmt, benennt dieser ganz explizit: „Sur mon poignet ma montre tic-tac au tempo de mes syllabes, je suis un monologue, un free styler, une réplique sans protagonistes, une ponctuation épargnée par le silence.“ 576 Die Gegenwart ist hier mit der ephemeren Sprache charakterisiert und wird kreativ gestaltet(„free styler“). Doch die Gegenwart bedeutet für den Protagonisten auch den Zustand der Einsamkeit („un monologue“), und so flüchtet sich Mounir immer wieder in 571 Ebd., S. 246. 572 Vgl. Djaïdani 2004, S. 21f. 573 Ebd., S. 22. 574 Ebd. 575 Ebd., S. 23. 576 Ebd., S. 37. <?page no="155"?> Die Beur-Generationen 153 die Vergangenheit (seiner Familie, in die Kolonialzeit) oder sexuelle Phantasien. Seine Einsamkeit bezieht sich auch darauf, dass Mounir keine Liebesbeziehung zu einer Frau hat. So erzählt er von Versuchen, Frauen im Internet unter dem Namen „The Moon Air“ kennen zu lernen, die ebenso erfolglos bleiben wie seine Idee, sich mit einer maghrebinischen Frau zu verheiraten. Denn trotz der Begeisterung der Mutter muss er sich von seinem skeptischen, und damit überaus modern eingestellten Vater davon überzeugen lassen, dass Mounir weder arabisch spricht, noch über das Charisma und genügend Intelligenz verfügt, um eine Frau halten zu können. Selbst eine „Bedouinen-Tochter“ - so der Vater - würde nach dem Erhalt der Aufenthaltserlaubnis sicher das Weite suchen, um einen erfolgreicheren und interessanteren Mann als seinen Sohn Mounir zu suchen. 577 Die einzige ‚Beziehung’ zu einer Frau besteht in einem Besuch bei seiner ehemaligen Kinderfrau, die als Prostituierte arbeitet. In der Erzählung werden die Vergegenwärtigung der Erzählsituation in dem RER, das Spiegelbild des Protagonisten und eine Anspielung auf die Schrift zusammengeführt: „Les vitres fumées du RER me reflètent sufissamment mon visage pour me rendre conteur et auditeur de ma propre fin. […] C’est avec la gorge nouée que j’ouvre les guillemets d’une vie défunte.“ 578 Der Besuch bei der Prostituierten endet jedoch abrupt, und Mounir fährt Hals über Kopf mit dem Auto davon. Er hat auf dieser Flucht einen Unfall und glaubt gestorben zu sein; seinen Tod erzählt er mit den Formeln aus Computerspielen: „Death. Game over. Mort.” 579 Mounir (dessen Name dem Verb “mourir” sehr ähnlich ist), malt sich seinen Tod und die Trauer seiner Eltern lebhaft aus. Schließlich steigt der Erzähler aus dem Zug aus und gelangt an das Türschild seines Psychoanalytikers, das als Türschild auch typographisch im Text ausgestellt ist. Der Roman endet damit, dass sich Mounir bei seinem Psychotherapeuten auf die Couch legt, und abermals beginnt von jener Nacht bei der Prostituierten zu erzählen. Die Gegenwart ist für den psychisch labilen Mounir eine problematische, wenn auch die einzig mögliche Sphäre der Selbstkonstruktion; dem Protagonisten steht keine Familiengeschichte zur Verfügung. Seine Zeit wird nur durch seine Abbilder entworfen: Das Selbstbild des Erzählers Mounir wird durch die vielen Fotos repräsentiert, die in der elterlichen Wohnung an den Wänden hängen und seine vielfältigen Facetten nebeneinander abbilden: „Des photos de souvenirs d’hier et d’aujourd’hui qui ont cristallisé mes différentes facettes, mes multiples morphologies.“ 580 Auch den jugendlichen Protagonisten Sid Ali Benengeli in Paul Smaïls letztem Roman, Ali le magnifique, 581 beschäftigen die Problematik des Zusam- 577 Vgl. ebd., S. 91f. 578 Ebd., S. 99. 579 Vgl. ebd., S. 150. 580 Ebd., S. 14f. 581 Smaïl 2001. <?page no="156"?> Die Beur-Generationen 154 mensetzen von Erinnerungen und seine pschischen Labilität. Von einer Gefängniszelle in Lissabon aus schreibt Ich-Erzähler mit großer Sprachgewandtheit 582 seine Erinnerungen auf und bereitet sich so auf die bevorstehende Gerichtsverhandlung vor. Sid Ali Benengeli ist ein außergewöhnlicher Jugendlicher: Mit einem IQ von 137 - dies wird er nicht müde zu betonen 583 - ist er zwar einer der Klassenbesten, muss sich aber ständigen psychotherapeutischen Behandlungen unterziehen, da er an diversen Persönlichkeitsstörungen und Epilepsie leidet. Seinen Luxus wie teure Uhren 584 und Markenkleidung finanziert er aus kleinen Diebstählen und aus Prostitution mit Männern, bei der er bewusst seine exotische Anziehungskraft als Beur nutzt. Als Sid Ali erfährt, dass sein älterer Bruder, den er für tot gehalten hatte, in Algerien lebt, will er nach Marseille fahren, um von dort aus auf die andere Seite des Mittelmeers überzusetzen. Die Zeiterzählung in diesem Roman ist in mehrerer Hinsicht als „temporale Hybridität“ (Dubiel) gestaltet: Der Text inszeniert radikaler als bei Guène oder B. einerseits eine extreme, medialisierte Gegenwart, indem zahlreiche intertextuelle und intermediale Bezüge zu kulturellen, politischen und besonders medialen Ereignissen und Produkten hergestellt und mit dem individuellen Leben des Erzählers verknüpft, bzw. in ihm neu organisiert werden. Andererseits wird die Erinnerungsleistung selbst problematisiert, indem zwei durchaus zusammenhängende Aspekte betont werden: Erstens wird die Erinnerung als problematisch dargestellt, da sie nicht mehr von Träumen und Phantasien zu trennen ist und daher unzuverlässig wirkt, und zweitens wird das Erzählen von Erinnerung als diskursive Konstruktion kenntlich gemacht. Der Roman von Smaïl führt auf paradigmatische Weise vor, wie die Verfasstheit der erzählendes Subjekts mit den Zeitkonstruktionen verbunden ist. Die innere Problematik des schizophrenen und fabulierwütigen Protagonisten spiegelt sich in dem Erzählmodus der focalisation interne wider, die sich durch die zahlreichen Imaginationen über die Seelenzustände der anderen literarischen Figuren einer focalisation zéro annähert, sowie in dem Umstand, dass Extrawie Intradiegese autodiegetisch gestaltet sind. Immer wieder unterbricht Sid Ali seine Erzählung, um seine Schreibsituation in der Gefängniszelle zu kommentieren. Jedoch reflektiert Sid Ali, als er gerade von der Buchung der Marokko-Reise im Reisebüro erzählt, auch die zeitliche Gestaltung seiner Erzählung. Souverän kann er (noch) die chronologische Abfolge reflektieren, mit seinem Luxus-Chro- 582 Die Sprache wechselt in Ali le magnifique zwischen Verlan und Argot, das bis zur Unverständlichkeit stilisiert wird, einem français standard, mit dem der jugendliche Erzähler bspw. mit seiner Lehrerin Mme Rénal kommuniziert, einem journalistischen oder medialen Französisch, das in Nachahmung von Nachrichtensprechern, Regieanweisungen oder literarischen Vorlagen formuliert wird. 583 Vgl. bspw. ebd., S. 44, 50. 584 Als Luxussymbol aber auch weitergehend als Zeichen dafür, dass er die Zeit beherrschen kann, kauft sich Sid Ali einen sündhaftteuren Chronographen von Panerai. Vgl. ebd., 168f. <?page no="157"?> Die Beur-Generationen 155 nographen die genaue Zeit bestimmen - doch langsam gerät die Zeit in die Schwebe: Mais j’anticipe dans mon histoire - me voici déjà à l’été 1998, au départ pour Marrakech. Je vais trop vite. Depuis que je peux mesurer les temps avec une précision garantie par le COSC […] il me semble que j’ai vécu ma vie en accéléré - le doigt posé sur la touche de lecture fast du magnétoscope - jusqu’à la scène finale, la scène The End, que je situe dans la cabine téléphonique de l’Estaç o Fluvial, à Lisbonne, et qui me procure, au contraire, une impression extraordinaire du ralenti. Le temps est en suspens. Aujourd’hui réservé aux initiés. C’est comme si je revivais la scène que je vis, au moment où je la vis, mais plus lentement. Tout se décompose. Il y a de la mort dans la vie - dans la vraie vie. Ce que je n’avais pas saisi jusqu’ici. C’est une révélation. Je m’apaise. Je suis sauvé. Et c’est le sentiment que je l’ai toujours su, aussi. Je savais obscurément ce qui doit m’advenir à présent. J’en ai eu le pressentiment. Je connaissais mon sort. Je sais que c’est fini. 585 Die zeitliche Gestaltung seiner Erzählung hängt für Sid Ali nicht nur mit seiner Schreibsituation zusammen, sondern auch mit seinem psychisch-labilen Zustand. So diagnostiziert er bei sich eine Depression, die sich auf sein Erzählen auswirkt: Si j’ai gommé ce matin, à la lumière du jour, les notes griffonnées au crayon la nuit dernière - hiver 1997 - printemps 1998 -, si je suis passé trop vite du trottoir des Martyrs au comptoir de Royal Air Maroc, avenue Opéra, c’est peut-être que je ne veux pas quitter mon état dépressif actuel, qui m’est assez bénéfique, en somme, qui me permet de souffler enfin, comme je l’ai dit à la page précédente, pour retrouver l’état dépressif où je me trouvais à l’époque, à mon insu - cette horreur sur laquelle personne n’avait mis un nom alors. 586 Die Zeitwahrnehmungen und die Zeitebenen, die sich übereinanderlagern, sollen im Folgenden in den Blick genommen werden. Wendet man sich der Gegenwartswahrnehmung des Erzählers zu, so ist auffällig, dass die Reichweite zwischen der extradiegetischen Erzählsituation und der intradiegetischen Schilderung der Erlebnisse und Erinnerungen oftmals als sehr gering inszeniert wird, auch wenn die Erinnerungen Jahre zurück liegen. Die Evozierung der Erzählsituation und die Schilderung der Erinnerungen werden meist bruchlos aneinandergefügt, so dass die Distanz zwischen den Zeit- und Erzählebenen zwar nicht aufgehoben, aber verwischt wird. Dieser Aspekt ist auch in der Hinsicht verständlich, in der Sid Ali die Erzählung seines Lebensweges und seiner Erinnerungen selbst problematisiert. Der Erzähler skizziert zu Beginn des Romans in einer Prolepse bereits das Ende: seine Verhaftung in einer Telefonzelle in Lissabon. Die Erzählung nimmt damit das Ende des Romans vorweg, und der Erzähler reflektiert explizit die Schicksalhaftigkeit, die seine Erzählung von Beginn an bestimmt: „C’était tout vu, pourtant. Déjà vu. Déjà vécu. C’était ce sentiment-là depuis le début. 585 Ebd., S. 173f. 586 Ebd., S. 176. <?page no="158"?> Die Beur-Generationen 156 Et, de fait, je devais savoir inconsciemment ce qui m’allait arriver […] J’étais mort, je le savais.“ 587 Ähnlich wie Tarik in Mounsis La noce des fous ist dem Erzähler sein Ende (der Tod) von Anfang an bewusst. Der Text evoziert zu Beginn des Romans die Erzählsituation im Gefängnis, die Motivation des Protagonisten, seine Kindheitserinnerungen für die Verteidigung durch seinen Anwalt aufzuzeichnen, und den ephemeren Charakter der Zeit in Form von Bleistiftaufzeichnungen: „Entre douze et treize ans - à ce moment où, depuis que je suis en taule, j’ai décidé de faire commencer mes souvenirs, ceux que j’écris pour moi au crayon et ceux que mon avocat m’a conseillé de noter pour ma défense“. 588 In der Gefängniszelle bereitet sich Sid Ali also auf die bevorstehende Verhandlung vor und schreibt für seinen Anwalt seine Erinnerungen nieder. Doch die Aufgabe, aus seinen Erinnerungen eine kohärente Lebenserzählung zu machen, erweist sich als äußerst schwierig: Mais je me sens incapable d’ordonner mes souvenirs - le film des événements, comme on dit. Beaucoup de ma vie m’échappe, comme gommé, comme effacé : la grisaille des jours qui se suivaient et se ressemblaient tant, aux Poètes, avec vue sur la voie express et le grillage tordu du terrain de jeu. J’écris donc les choses comme elles me viennent, comme je les associe, que cela se soit passé avant ou passé après… Mon passé me semble si flou. Et ce n’est pas un roman que j’écris. Je ferai le montage après. Si je peux. 589 Sid Ali beschreibt hier nicht nur, dass er den grauen Alltag, dessen Erinnerung sich ihm entzieht, mit seinem Wohnviertel verbindet (auf diesen Aspekt wird in den abschließenden chronotopischen Analysen noch näher eingegangen), sondern auch, dass er sein Leben nicht chronologisch zu rekonstruieren vermag. Der Erzähler kommentiert explizit, dass er seine Erinnerungen wie in einer Achronie verbunden erlebt und sich daher gar nicht an einer Rekonstruktion einer linearen, teleologischen Chronologie versuchen will. Vielmehr schreibt er seine Erinnerungen so auf, wie sie ihm in den Sinn kommen und kreiert damit eine eigene Zeitabfolge („le montage“) - dies korrespondiert auch mit dem narzisstischen Charakter des Protagonisten. Einen weiteren Akzent setzt der Protagonist auf die Verflüchtigung seiner Vergangenheit. Seine eigenen Erinnerungen an das Heimatland seiner Eltern, Algerien, sind durch epileptische Anfälle und einen traumatisierenden Krankenhausaufenthalt geprägt und buchstäblich gestört und gebrochen. Das Gefühl jener unscharfen Vergangenheit („flou“) wird formuliert durch das Verhältnis zur Vergangenheit seiner Eltern, seiner eigenen montierten Vergangenheit und der daraus resultierenden Betonung und Komposition seiner eigenen Zeit/ Gegenwart. Für Sid Ali scheint es keine gesicherte Vergangenheit zu geben, in dem Sinne, dass deren Ausgangspunkt seine Eltern oder prägende Kindheitserinnerungen sein könnten. Die Immigrationsgeschichte seiner Eltern persifliert er sogar, indem er Passagieren in der RER 587 Ebd., S. 17. 588 Ebd., S. 28. 589 Ebd., S. 69. <?page no="159"?> Die Beur-Generationen 157 eine fingierte Familienvergangenheit erzählt - und damit auch die Vorurteile bedient und gängige Beur-Narrative aufnimmt und überspitzt: Nous, on est venus en bateau, du pays ! On est du bled, des montagnes. Je n’avais jamais vu la mer avant de venir en France. On est arrivés l’année dernière. Mon père a demandé le droit d’asile. Il est condamné à mort par les terroristes, là-bas. Et mon frère aussi. C’est terrible, vous savez, ce qui se passe en Algérie… 590 Seine Bindung an die Generation der Eltern und Großeltern liegt im Dunkeln, Sid Ali kennt seine Wurzeln und seine Familiengeschichte nicht. So beschreibt er die Vergeblichkeit einer Rekonstruktion von Familiengeschichte(n): […] après tout, je ne sais rien de mes origines. Les gens comme nous ne savent jamais grand-chose de leurs origines. Comme les grands-parents étaient plus ou moins illettrés, comme ils n’avaient pour ainsi dire pas de papiers, d’actes notariés, d’archives… Dès qu’on remonte à la génération de nos grands-parents : c’est le flou. Si on a la prétention de remonter à la génération des parents de nos grands-parents : c’est le trou noir. 591 Weiterhin ist neben der expliziten Konstruktion der Erinnerungen und der nachträglichen Montage unterschiedlicher Eindrücke auffällig, dass Sid Ali die Erzählung seiner Gegenwartswahrnehmung mit vielen intertextuellen und intermedialen Erlebnissen verwebt und damit Zeiterfahrungen, historische Bezüge palimpsestartig übereinanderlegt. Schon die Motti des Romans, ein arabisches Sprichwort, ein Zitat von Rimbaud sowie ein Auszug aus dem Liedtext der multikulturellen Musikgruppe Zebda, zeigen die vielschichtige Anlage und den kulturell mehrfach kodierten Rahmen des Textes an. 592 Im dritten Teil des Romans bspw. werden die intertextuellen und intermedialen Verweise mit der Figur der Französischlehrerin Sid Alis verbunden. Im Zentrum steht in diesem Kapitel die Liebesbeziehung zu der Französischlehrerin Cécile Rénal. Mme Rénal wird als eine anspruchsvolle Lehrerin beschrieben, die ihren Literaturunterricht mit sprachlicher Finesse und hohen Anforderungen an ihre Schüler gestaltet. In einem privaten Zirkel, in dem sie ausgewählte Schüler zu sich nach Hause einlädt, um über Literatur zu diskutieren, erobert Sid Ali seine Lehrerin. Die erotische Beziehung zwischen Schüler und Lehrerin erzählt Sid Ali wie eine Fernsehserie, in einem modernen Medienformat: Er präsentiert ein „best-of“ der Szenen zwischen Mme Rénal und ihm 593 und inszeniert sich immer wieder als Dandy. 594 Auch hier setzt er sich nicht nur mit seiner problematischen Sozialisation als Im- 590 Ebd., S. 36f. 591 Ebd., S. 399. 592 Ebd., o.S. Die Übersetzung des arabischen „Zebda“ ins Französische ergibt „le beurre“. Der Name der Musikgruppe ist also ein Wortspiel, das mit homonymen, aber heterographen Lexemen arbeitet („beur“ vs. „beurre“). 593 Vgl. ebd., S. 352ff. 594 Vgl. bspw. ebd., S. 345 und 456. <?page no="160"?> Die Beur-Generationen 158 migrantensohn auseinander, sondern schildert abermals seine Epilepsie, zu der seine eigene Diagnose als „borderline“-Erkrankter hinzukommt. Die Erzählung jener Beziehung ist immer wieder unterbrochen von Passagen, die seine Schreibsituation im Gefängnis evozieren. 595 Als Beispiel für die Inszenierung der Zeitwahrnehmung des Erzählers, die zudem medial geprägt ist, sei die Passage genannt, in der sich die Trennung zwischen ihm und seiner Jugendliebe Djamila ankündigt. In einer Art countdown bereitet Sid Ali das Ende der Beziehung vor und reiht Orte und Tätigkeiten nebeneinander, die gegensätzlicher nicht sein könnten: „Il y a trois heures, je babais aux Champs-Élysées [...] Il y deux heures, j’enculais cet enculé dans une maison de passe […] Il y une heure, je choisissais des disques et des livres pour mon amour“. 596 Gerade das Aufschreiben der Erinnerung, in der Sid Ali sehr präsent ist und dann immer wieder der Bruch dadurch, dass er sich seiner Schreibsituation im Gefängnis bewusst wird, scheint die Dissoziierung noch zu befördern; die simultane Anwesenheit des Schreibenden in seiner Erinnerung und in der Gefängniszelle bewirkt eine innere Aufspaltung. Dabei gibt es für Sid Ali zwei gegensätzliche Bewegungen, die sich mit seinem Erinnerungsvermögen verknüpfen: Einerseits beklagt er immer wieder Erinnerungslücken („Putain! je commence à m’inquiéter: je constate que j’ai parfois des trous de mémoire depuis quelque temps.“ 597 ), andererseits bezeichnet er sich aber auch als „surdoué[s] de la mémoire“. 598 Die Erinnerungsleistung lässt sich aber eher in den Semantisierungen des Raumes ausmachen als an den zeitlichen Strukturen, denn in beiden Räumen - dem Schreibraum und dem Erinnerungsraum - beschreibt Sid Ali seine Gegenwart. Im Zusammenhang mit dem Schreiben ist das Moment der Erinnerung für Sid Ali zentral: „Les égarements de la mémoire: on ne se souvient de rien précisement, en retouche, on refait une continuité avec ces plans tirés d’autres prises, des chutes, des déchets, des images floues retrouvées au fond de cette poubelle qu’est notre mémoire.“ 599 Die Erinnerungen werden zu seiner Gegenwart, in denen er präsenter ist als in der tatsächlichen Erzählgegenwart. Doch die Gedächtnislücken zerstören die Erinnerungsleistung des Protagonisten und brechen mit der Illusion der retrospektiven Ordnung von Erlebnissen im Sinne einer chronologischen, teleologischen Zeitkonzeption. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in dieser Generation eine eigene Zeit formuliert wird, die sich an transnationalen, globalen Medienformaten orientiert, die aber auch in den Romanen immer wieder unterbrochen und als brüchige, nicht mehr orientierende Zeit entlarvt und dargestellt 595 Vgl. bspw. ebd., S. 331. 596 Ebd., S. 119. 597 Ebd., S. 640. 598 Ebd., S. 205. 599 Ebd., S. 178. <?page no="161"?> Die Beur-Generationen 159 wird. „Le temps est en suspens“ 600 , eine Zeit also, die bei Smaïl in der Schwebe ist, steht programmatisch für die Zeitgestaltungen in den literarischen Texten. Die Selbstentwürfe und Identitätskonstruktionen der Beur- Protagonistinnen und -Protagonisten hängen immanent mit der Wahrnehmung und Gestaltung von Zeit und Geschichte zusammen: Dies zeigt sich etwa in der Suche nach (fiktiven) Familiengenealogien bspw. bei Boulouque, in der Verbindung islamischer, christlicher und jüdischer Genealogie mit der eigenen Lebensgeschichte bei Boulouque, Rahmani aber auch Bouraoui, welche zusätzlich kritisch einen Zusammenhang mit einer männlichen dominierten Gemeinschaftsbildung formuliert, in dem Gefühl, sich erst in einer anderen Geschichte in Rom bei Bouraoui oder im vermeintlich geschichtslosen New York bei Boulouque (dies wird in den chronotopischen Analysen noch ausgeführt) aufgehoben zu fühlen oder in der Möglichkeit, in der (globalisierten) schnelllebigen, glitzernden und ausschließlich auf die Gegenwart bezogenen Mediengegenwart das Leben wie einen Film oder ein Fernsehformat erzählen zu können. Die intergenerationelle Problematik der Zeit- und Geschichtskonstruktion lässt sich in allen Romanen dieser Generation finden. Die Absenz eines Elternteils und damit die Leerstelle ihrer Geschichte funktioniert auf zweierlei Weise: Einerseits ist ein Elternteil der Erzählerin/ des Erzählers verstorben, so dass die Geschichte hier beendet wurde, wie bspw. bei Rahmani, Guène, B. oder Mounsi; andererseits sind die Eltern soweit assimiliert, dass sie ihre Geschichte nur in der Gegenwart Frankreichs zu erzählen und leben vermögen und ihre Immigrations- oder Familiengeschichte verschwindet, wie bei Boulouque und Djaïdani. In dem Roman von Paul Smaïl spielt die Familie für den Erzähler Sid Ali zwar eine wichtige Rolle (und hier besonders sein ältester Bruder), doch es ist ausgerechnet sein Vater, der den Protagonisten an die Polizei verrät. Den Protagonistinnen von Boulouque, Bouraoui und Rahmani ist die - wie noch näher ausgeführt wird - problematische Hinwendung zu räumlichen Identifikationsangeboten gemein. Während die namenlose Erzählerin bei Rahmani zunächst nur von einer Zeit nach dem Krieg erzählt, sich dann aber in größere historische und damit genealogische Zusammenhänge stellt (hiervon zeugen ja bspw. die Erzählungen aus dem Koran) und von linearen, chronologischen Erzählungen gelöst hat. Ihre eigene Zeit, in der sie alle Einflüsse der Eltern verbinden kann, findet Bouraouis Erzählerin nur an einem dritten Ort, Rom. Und Violaine in Sujets libres schließlich verzweifelt an der individualisierten, karriereorientierten und haltlosen Zeit der Gegenwart des „Prekariats“ in Frankreich, deren Teil sie ist. Halt sucht sie in der Vergangenheit der Eltern und vielmehr noch in des Großvaters Erinnerungen, deren Niederschrift nicht mehr zu aufzufinden ist. Kamel Léon in B.s Allah superstar und Guènes Erzählerin Doria hingegen sind Kinder der medialen Gegenwart, die durch französische Fernsehserien, 600 Ebd., S. 173f. <?page no="162"?> Die Beur-Generationen 160 amerikanische Kinofilme und Talk- und Realityshows geprägt sind. Ihr Leben verbringen sie zwischen verschiedenen Simulakren oder Imaginarien: Kamel bedient sich der Stereotype und ist derart geblendet von seinem eigenen Talent und seiner Ausstrahlung, dass er sich seine Angebetete, sein Publikum, seinen Manager und schließlich auch den Cheikh der religiösen Gemeinschaft in seinem Viertel zum Feind macht. Sein Elternhaus, sein urbanes Umfeld und die wenigen Freunde dienen als Kulisse für seinen narzisstischen Auftritt. Und Guènes Doria, die sich ja auch als Fernsehfigur imaginiert, sieht erst einen Weg in die Zukunft, als sich in ihrem Umfeld in der banlieue vieles zum Positiven wendet. Über das Sprachspiel mit dem Titel - hier wird aus dem gleichgültigen „Kif-kif demain“ das positive „Kiffe kiffe demain“ („kiffer“ bedeutet im Verlan „etwas lieben“) -, das durchaus der Werbesprache gleichkommt, öffnen sich am Ende des Romans für Doria Perspektiven für die Zukunft. Die Betonung der Gegenwart und das Gefühl einer unbestimmbaren Vergangenheit („flou“, wie es bei Smaïl heißt) drückt besonders für die psychisch labilen Erzählerinnen und Erzähler bei Mounsi, Smaïl, Djaïdani aber auch Guène und Boulouque die wechselseitige Beeinflussung von Zeitgestaltung und hybridem Selbstentwurf aus: Die psychische Instabilität, in der sich die hybride Verfasstheit der Subjekte spiegelt, findet ihre Entsprechung in der unsicheren Zeit. Besonders den Romanen von Smaïl und Mounsi liegt die Problematik der Erinnerung (und des Vergessens) zugrunde, sie katapultiert die Erzähler immer wieder aus ihrer Gegenwart. Mounsis Roman stellt bereits eine Erzählsituation her, die als unsicheres bzw. unmögliches Erzählen betrachtet werden kann: Der Erzähler beschreibt am Ende des Romans seinen eigenen Tod bei einem Verkehrsunfall. Mounirs Wahrnehmung der Zeit und der Gegenwart sind in Djaïdanis Mon nerf unauflöslich an seine Bewegungen in der banlieue gebunden und in komplementärer Weise konstruiert: Solange er sich durch die Vorstadt auf den Bahnhof und in seinen Zug zubewegt, bleibt er im Moment, in der Gegenwart. Erst als er in seinem Zug, der RER sitzt, der still steht und den jungen Mann zum Warten verdammt, begibt er sich auf die Reise in seine eigene Vergangenheit. Erinnerungen führen zu weiteren Erinnerungen; werden aber immer wieder durchbrochen von Zugansagen, in denen sich - ähnlich wie Mounsis Tarik und Smaïls Sid Ali in ihren Gefängniszellen - der Erzähler seiner Erzählgegenwart bewusst wird. Doch immer wieder flüchtet sich der Erzähler entweder in Erinnerungen an die Vergangenheit, die dann zu Traumszenarien gesponnen werden, oder gleich in Tagträume mit einer eigenen Zeit. Die formale Ebene der Zeitgestaltungen spiegelt die wechselseitige Bedingung von Identitätskonstruktionen und Zeitwahrnehmungen wie bereits beschrieben auf vielfältige Weise wider: Auf narratologischer Ebene lassen sich eine durchgehende Anachronie feststellen, die durch Analepsen und Prolepsen durchbrochen ist. Oftmals wird mit der Reichweite und dem Umfang gespielt und mit Ellipsen oder Pausen gearbeitet, wie etwa bei Djaïdani, dessen Protagonist forterzählt, auch wenn das Geschehen in Gestalt des RER <?page no="163"?> Die Beur-Generationen 161 still steht. Weiterhin lassen sich oftmals Nullfokalisierungen oder interne Fokalisierungen ausmachen, die die formale Entsprechung für die Wahrnehmung der Erzähler und Erzählerinnen darstellt, dass Zeit keine objektive und subjektkonstituierende Größe mehr darstellt, sondern diskursiv verhandelbar ist und sogar notwendig für die Sujets libres gestaltet werden muss. Diese Erkenntnis der diskursiven Verhandelbarkeit führt dann auch zu transgenerischen Verfahren im Text (wie bspw. bei Rahmani, bei der die Gattung des Romans von Beginn an untergraben und gesprengt werden soll) bzw. intermedialen Einbindungen von Film- und Fernsehformaten. Die Intertextualität wird in praktisch allen Romanen genutzt, um etwa historische Bezüge, Bindungen an kulturelle und religiöse Traditionen, um Situierungen in Sprachräumen (wie die Schrift zur Heimat wird, wird noch weiter ausgeführt) zu evozieren und fehlende (wie bei Boulouque oder Mounsi) oder bereits in den Körper eingeschriebene (wie bei Bouraoui) Familiengeschichte zu formulieren. Dass die psychisch labile Figur des Sid Ali von Smaïl die intertextuellen Bezüge besonders braucht, um die Erinnerungssplitter nicht linear erzählen zu müssen und sich immer wieder in Phantasien und Träumen verlieren zu können, wird von dem Protagonisten im Zusammenhang mit dem Schreibprozess thematisiert. Die Erinnerungen werden darüber hinaus aber durch die Verweise auf literarische Vorbilder auch in einem kollektiven Rahmen gesichert, sich ihrer versichert und schreibend zusammengesetzt. Dieser Aspekt wird im Zusammenhang mit den chronotopischen Identitätskonstruktionen näher ausgeführt - Intertextualität als textuelle Entsprechung zu kulturellen Überlagerungs- und Überschreibungsphänomenen wird im letzten Kapitel diskutiert. Dass der Tod als das Ende der eigenen Zeit in allen Romanen, besonders aber bei Smaïl, Mounsi, aber auch B., eine wichtige Rolle spielt, scheint sich in diese Fragilität temporaler Strukturen einzupassen: Als Ende der eigenen Zeit, das immer schon dem Leben eingeschrieben ist, wird es im Erzählen von Gegenwart, erinnerter Vergangenheit und Traumphantasien mitreflektiert. Da die Zeit als relationale Größe erlebt wird und die Erzähler mit den Überlagerungen von Erinnerungen der Eltern (oder deren Schweigen) und der beschleunigten, globalisierten Gegenwart in der eigenen Gegenwart keinen Halt mehr finden, nimmt die räumliche Positionierung einen zunehmend wichtigen Stellenwert im Zusammenhang mit der Formulierung von Selbstbildern ein. <?page no="164"?> Die Beur-Generationen 162 2.3.2 In den eigenen Räumen: Heterotopien und inszenierte Heimatlosigkeit Je pensais que tu étais entre deux cultures, entre deux mondes, en fait tu es dans un troisième lieu qui n’est ni ta terre natale ni ton pays d’adoption. Tahar Ben Jelloun: Les yeux baissés Bekannte und neue Orte tauchen in dieser dritten Generation im Zusammenhang der Selbstpositionierungen der Erzähler und Erzählerinnen auf: Die Länder Frankreich und Algerien bzw. Marokko werden durch Aufenthalte in deren urbanen Zentren beschrieben und durch Reisen in die Städte Italiens, Spaniens, Portugals („dem Maghreb des Okzidents“, wie es bei Smaïl heißt) oder der USA erweitert. Orte wie das Gefängnis oder das Kinderheim werden zu besonderen Schauplätzen der Kindheitserinnerungen. Das Elternhaus tritt als identifizierender Ort insofern auf, als hier das kulturelle „Amalgam“ von IKEA-Möbeln, Gebetsteppichen und amerikanischen Küchen erzählt und die Situationen auf der Türschwelle geschildert werden. Als ein ähnlicher Ort des Übergangs wird die banlieue in den Blick genommen, bei der sich folgende Fragen aufdrängen: Wie gestalten die Beurs und Beurettes ihr urbanes Umfeld jenseits der Dichotomie von Zentrum und Peripherie? 2.3.2.1 Urbane Räume im Maghreb, in Europa und den USA - Reisen und Transformationen Die Bezugnahme auf die Nationen spielt in zweifacher Hinsicht eine Rolle: Einerseits begeben sich die Erzählerinnen und Erzähler auf die Reise zwischen die Länder und finden oftmals nur in dieser Bewegung die Möglichkeit eines Selbstentwurfes. Andererseits sind es die konkreten Metropolen und Städte, in denen sich Orte überlagern und neue Räume geöffnet werden. So werden urbane Räume nicht nur in Frankreich und Algerien, sondern auch in Portugal, Italien und den USA evoziert. Und bei Rahmani schließlich wird die eigene Verortung in der Negation nationaler Zugehörigkeit als „apatride“ in einer inszenierten Heimatlosigkeit aufgelöst und der Erzählort - das werden die anschließenden Analysen zeigen - in die Heterotopie eines Gefangenenlagers in der Wüste verlagert. Bouraouis Garçon manqué ist entlang der Orte Alger, Rennes und Tivoli (Rom), so auch die Kapiteltitel, strukturiert. Erst das letzte Kapitel, das den Namen des Jugendfreundes der Protagonistin trägt, bricht mit diesem Prinzip und wird in der Form eines Briefes vom restlichen Romantext abgesetzt. Die genannten Städte stehen metonymisch für die kulturellen und geschlechtlichen Differenzen, die in den Selbstbeschreibungen der Erzählerin konkurrieren. Die Zugehörigkeiten zu Frankreich oder Algerien werden von ihr als sich gegenseitig ausschließend gedacht und erlebt und spiegeln die <?page no="165"?> Die Beur-Generationen 163 Verhältnisse in ihrer Familie wider, in der sich die Erzählerin auch zu einer Entscheidung zwischen der französischen Familie der Mutter oder aber dem algerischen Vater gezwungen fühlt. Und auch wenn die ersten drei Kapitel mit eindeutigen, lokalisierbaren Erzählorten überschrieben sind, bedeutet dies für die junge Protagonistin keine versichernde Verortung. In beiden Städten und Ländern formuliert sie überdies ihre Andersartigkeit, ihre Fremdheit. Ihre Elternteile fungieren dabei als gleichzeitige Bindung und Distanz zu dem Land. Ihre Sprache und ihr Körper sind Träger elterlicher Spuren. „Ma vie algérienne bat hors de la ville. Elle est à la mer.“ 601 Die Ich- Erzählerin Yasmina berichtet zu Beginn des Romans von ihrem glücklichen Leben mit ihrem brüderlichen Freund Amine am Meer in Alger. Frankreich ist weit entfernt; das Meer beschützt sie vor diesem Land und hält es auf Distanz. 602 Ihre Freundschaft mit Amine beruht auf einem gemeinsamen Schicksal in der Marginalisierung, denn in ihren Körpern verbinden sich die gegensätzlichen Herkunftsländer der Eltern: „Ici nous ne sommes rien. De mère française. De père algérien. Seuls nos corps rassemblent les terres opposées.“ 603 So benennt die Erzählerin schon zu Beginn des Romans die zentralen Themen des Romans: die Unvereinbarkeit von Algerien und Frankreich, die konflikthafte Konstellation von Mutter und Vater, die Verbundenheit in der Verbündetheit mit Amine und die Kennzeichnung des eigenen Körpers. Yasmina beschreibt die enge Beziehung zu ihrem Vater und dem Land Algerien; in ihren Körper sind die Bindungen an ihren Vater und an ihre algerischen Großeltern eingeschrieben. 604 „Je deviens algérienne avec mon père.“ 605 Doch der Vater erzieht die junge Protagonistin nicht als Tochter, sondern ungewöhnlicherweise wie einen Jungen. Er überträgt seine Willensstärke und seine Kraft auf die Ich-Erzählerin und bringt ihr bei, wie sie sich in Algerien, jenem „Land der Männer“, zur Wehr setzen kann. In einer nahezu identischen Formulierung beschreibt die Protagonistin aber auch die Markierungen und Stigmatisierungen durch die Präsenz ihrer französischen Mutter: „Je deviens une étrangère par ma mère. Par sa seule présence à mes côtés. Par ses cheveux blonds, ses yeux bleus, sa peau blanche. […] Je deviens ma mère.“ 606 Yasmina verliert hier nicht nur die (sichtbaren) Spuren ihres Vaters, sondern sogar ihre Individualität, wenn sie in der Marginalisierung gar zu ihrer eigenen Mutter wird. Die Protagonistin wird als Tochter ihrer Mutter zur Fremden und zur Französin: „Ici, je suis la fille de la 601 Bouraoui 2000, S. 9. Vgl. zur Interferenz nationaler bzw. kultureller Identitätskonstruktionen und Gender-Konstruktionen meine Überlegungen Struve 2007a, denen einige Passagen entnommen sind. 602 Vgl. ebd. 603 Ebd., S. 8. 604 Vgl. ebd., 12. 605 Ebd., S. 23. 606 Ebd., S. 12. <?page no="166"?> Die Beur-Generationen 164 Française.“ 607 Während sie also dem Vater ein Sohn ist, wird sie durch die Mutter zur Französin und zur Tochter. Rennes, die Stadt, in der die französischen Großeltern leben, bedeutet für die Protagonistin das Gegenteil von Alger - nicht Meer und Strand, sondern mit Stadtleben, französischen Vornamen, Mode und Benehmen: „Ne pas manger avec ses doigts. Dire bonjour et merci. Porter des robes. Se taire. Retourner vers l’origine, vers le premier cri, vers le premier sang, Rennes.“ 608 Yasmina beschreibt damit einen grundlegenden Konflikt, der in ihrer Herkunft angelegt ist, nämlich die problematische Beziehung zu ihrem Geburtsland, Frankreich, und dem Land ihrer Kindheit, Algerien. Der Protagonistin erscheinen die unterschiedlichen Identifikationen unvereinbar: Nur durch die Unterdrückung ihres algerischen Selbstbildes gelingt es ihr, den Vorstellungen der französischen Großeltern zu entsprechen. Sie fühlt sich, als müsse sie in eine andere Haut schlüpfen: „Mon déguisement. Ma peau française. Partir. Chercher mon second visage.“ 609 In der Folge verliert sie zunehmend die Distanz zur französischen Welt, da sie sich auf die französische Familie einlässt. Dies geschieht auch dadurch, dass das Mädchen das Haus der Großeltern als Haus der Kindheit ihrer Mutter (wieder-)entdeckt. 610 Dennoch bleibt Nina die eindeutige Identifikation als Französin verwehrt. Sie fühlt sich in keinem der beiden Länder zuhause und formuliert schließlich das leitmotivartige Gefühl der „double vie“: Je ne sais pas si je suis chez moi, ici, en France. Je ne le saurai jamais d’ailleurs. Ni à Rennes, ni à Saint-Malo, ni à Paris. Je ne sais pas si je suis chez moi en Algérie. Je ne le vérifierai jamais. Ce sentiment. Cette évidence. […] J’ai toujours eu l’impression d’avoir un secret. D’avoir une double vie. D’abriter quelqu’un d’autre que moi. Que ma partie visible. De changer le visage. Selon le pays. 611 Die gesamte Wahrnehmung der Ich-Erzählerin wird im Roman zunächst entlang der kulturellen Differenz zwischen Algerien und Frankreich organisiert und formuliert - ihr Umfeld ordnet Yasmina diesem binären Prinzip unter: Ihre Nächte, ihre Erinnerungen und Träume sind algerisch; ihre durch die Schule und die gesprochene Sprache bestimmten Tage bezeichnet sie als französisch. 612 Die Verortungen stellen jedoch eher Verortungsversuche dar. Ihre kulturellen Zugehörigkeiten beschreibt sie als grundlegende Verdop- 607 Ebd., S. 30. 608 Ebd., S. 95. 609 Ebd., S. 93. 610 Vgl. ebd., S. 113ff. 611 Ebd., S. 157. Der Gedanke, eine fremde Person in sich zu beherbergen, kann als eine Art Personifizierung der inhärenten Differenz in der Erzählerin erachtet werden. In dem Roman Mes mauvaises pensées nennt die Ich-Erzählerin ihre schlechten Gedanken und jene/ s Fremde (das hier auch ein homosexuelles Ich meint) als Grund für den Besuch bei einer Therapeutin: „Je viens vous voir parce que j’ai des mauvaises pensées. [...] Je porte quelqu’un à l’intérieur de ma tête, quelqu’un qui n’est plus moi ou qui serait un moi que j’ai longtemps tenu, longtemps étouffé.“ Bouraoui 2005, S. 9. 612 Vgl. Bouraoui 2000, S. 21. <?page no="167"?> Die Beur-Generationen 165 pelung und gleichzeitige Zerbrochenheit: „l’identité se fait. Elle est double et brisée.“ 613 Leitmotivartig taucht das doppelgesichtige Dasein der Erzählerin auf - eine Anspielung auf die mythologische Figur des Janus, des Gottes der Durchgänge und der (auch zeitlichen) Übergänge. In ihrem Gesicht sind die Spuren beider Eltern zu sehen, besonders sichtbar ist dies auf ihrem Passfoto. Denn gerade am Beispiel des (Reise-! )Passes, der ja eine eindeutige nationale Identität bezeugen soll, zeigt sich die Paradoxie ihres Selbst- und Fremdbildes. J’ai deux passeports. Je n’ai qu’un seul visage apparent. Les Algériens ne me voient pas. Les Français ne me comprennent pas. Je construis un mur contre les autres. Les autres. Leurs lèvres. Leurs yeux qui cherchent sur mon corps une trace de ma mère, un signe de mon père. « Elle a le sourire de Maryvonne. » « Elle a les gestes de Rachid. » Être séparée toujours de l’un et de l’autre. Porter une identité de fracture. Se penser en deux parties. À qui je ressemble le plus ? Qui a gagné sur moi ? Sur ma voix ? Sur mon visage ? Sur mon corps qui avance ? La France ou l’Algérie ? J’aurais toujours à expliquer. À me justifier. 614 Der Ort, an dem die Erzählerin verweilen kann, ist der Raum zwischen beiden Ländern, Sprachen und Identitäten: Je reste entre les deux pays. Je reste entre deux identités. Mon équilibre est dans la solitude, une unité. J’invente un autre monde. Sans voix. Sans jugement. Je danse pendant des heures. C’est une transe suivie du silence. J’apprends à écrire. 615 Nur in dieser stimmenlosen Stille kann sie ein Gleichgewicht, eine Einheit formulieren, die als imaginierte andere Welt im Schreiben entsteht. Die stete Bezugnahme auf kulturelle wie geschlechtliche Identifikationsangebote stellt damit eine Bewegung dar, die mit einer doppelten Distanzierung einhergeht, im Verhältnis zu einer Stimmenvielfalt bzw. der Stille steht und mit dem Schreiben verbunden wird. Dies wird in dem Moment vor der Ankunft in Frankreich deutlich. In diesem Moment ist sie nicht gezwungen irgendwo anzukommen, weder in Frankreich noch in Algerien: „Je profite du dépaysement. Je me sens libre. [...] Parce que je suis ivre de voyage. Parce que rien n’est vrai. […] Je suis ici sans y être vraiment.“ 616 Erst in der Bewegung der Reise, jener Passage zwischen den Ländern, welche die Erzählerin ja stets in die eine Sprache und die eine geschlechtliche Identität, in die Bezugnahme auf nur einen Elternteil zwingen will, fühlt sich die Erzählerin frei. Es wird deutlich, dass die Erzählerin nur scheinbar in einem stabilen System in den jeweiligen Ländern identifiziert ist. Vielmehr gerät die geschlechtliche Identität in Bewegung: besonders durch den Grenzübertritt und das Reisen zur französischen Familie und in das Herkunftsland ihrer Mutter. Die Ge- 613 Ebd., S. 29. 614 Ebd., S. 19. 615 Ebd., S. 26. 616 Ebd., S. 109. <?page no="168"?> Die Beur-Generationen 166 schlechtsidentität der Protagonistin ist zu keinem Zeitpunkt des Romans still gestellt, sondern wird in permanenten Differenzbeziehungen formuliert. Das vorletzte, sehr kurze Kapitel, „Tivoli” spielt hauptsächlich in Rom und handelt von den Erlebnissen der Erzählerin während eines ‚verdrehten’ Sommers („Un été détourné.“ 617 ). In Rom entdeckt Nina ihre Weiblichkeit neu und hat das Gefühl unbändiger Lebensfreude: „Je suis devenue heureuse à Rome. Mon corps portait autre chose. Une évidence. Une nouvelle personnalité. […] Je sortais de moi. Et je me possédais. Mon corps se détachait de tout.“ 618 Die Erzählerin beschreibt die sinnliche Ausstrahlung der Stadt, die sich auf sie und ihren Körper überträgt. Die Anspielungen auf das Begehren und doppeldeutige Wendungen („Avec cette beauté gaie.“ 619 ) weisen bereits in diesem Roman auf eine weitere Verwirrung hin: die der sexuellen Orientierung. 620 Erst in Rom ist Nina nicht mehr als Französin oder Algerierin markiert; sie versteht sich auch nicht mehr in ihrer Stigmatisierung als Tochter und legt sogar die Zugehörigkeit zu einer familiären Genealogie ebenfalls ab: „Je n’étais plus française. Je n’étais plus algérienne. Je n’étais même plus la fille de ma mère. J’étais moi. Mon corps.“ 621 Diese euphorische und utopisch souveräne Selbstkonstruktion kann bezeichnenderweise nur an einem dritten Ort, nämlich in Rom (und weiterhin in ihrem Körper) stattfinden. Der Mittelmeerort Rom ermöglicht Nina nicht in die Stereotype der Algerierin, als Orientalin, oder der Französin, als Okzidentalin, passen zu müssen, sondern ein eigenes, nicht durch ihre Familie geprägtes, also geschichtsloses Selbstbild zu entwerfen. Rom stellt auch für den Protagonisten und seine reiche Geliebte in Mounsis La noce des fous einen Ort dar, in dem das Leben pulsiert und der einem nomadischen Leben am Besten entspricht: „Enfin, nous pûmes nous envoler pour Rome, qui convenait si bien à des natures aussi nomades que les nôtres.“ 622 In Boulouques Sujets libres wird das Thema der kulturellen Assimilation, des familiären Schweigens, des Vergessens und der fehlenden (Familien-)Geschichte stets in Verbindung mit unterschiedlichen Orten verhandelt, an denen sich die Einzelgängerin Violaine aufhält: Nizza, Casablanca und Marrakech und schließlich New York. 623 Die Erzählerin Violaine steht von Beginn an dem Simenon-Auftrag skeptisch gegenüber, denn die Erzäh- 617 Ebd., S. 183. 618 Ebd., S. 185. 619 Ebd. 620 Sie spielt damit auf das Thema an, das Bouraoui in ihren folgenden literarischen Texten ausbauen wird: die weibliche Homosexualität, vgl. dazu Bouraoui 2004 und 2005. Garçon manqué stellt thematisch und formal-ästhetisch in vielerlei Hinsicht eine Art Vorarbeit zu diesen literarischen Texten dar. 621 Bouraoui 2000, S. 184. 622 Mounsi 2003, S. 196. 623 Um sich selbst zu „ent-orten“ und sich vor anderen Menschen abzuschotten, benutzt Violaine immer wieder eine Strategie: Sie setzt ihren Walkman auf. Vgl. bspw. Boulouque 2004, S. 45. <?page no="169"?> Die Beur-Generationen 167 lerin ist mit Simenons Werk nur wenig vertraut und auch ihrer beider Herkunft bildet keine gemeinsame Basis. Während er feste regionale Wurzeln hat, ist Violaine weder eindeutig zu verorten noch in der Schrift als zusammenhängende Person zu erkennen: „Ses [de Simenon, K.S.] paysages natals étaient Liège et la Meuse. Ceux de Violaine sont bordés de Méditerranée. Violaine Bellassen - les lettres de sa signature se détachent bien, bien trop lisiblement.“ 624 Als Violaine nach Marokko reist, um das Familiengeheimnis zu lüften und die Manuskripte mit den Erinnerungen des algerischen Großvaters zu erhalten, beschreibt auch sie den Moment des Grenzübertritts bei der Einreise. Doch der Grenzbeamte wirkt abwesend, so dass Violaine sich hinterher nochmal des Stempels versichern will: „elle a cherché où il avait apposé la preuve de son entrée au Maroc - c’était à l’avant-dernière page.“ 625 Hier sind Schrift und Verortung analog konstruiert - die Reise nach Marokko wird ihre vorletzte Station sein, bevor sie auf der letzten Seite ihres Reisepasses den Stempel zur Einreise in die USA bekommt. Doch zunächst reist Violaine noch für einige Tage nach Marrakech, wo sie zu dem Schluss kommt, dass selbst Marokko letztlich doch nur wieder auf die Kolonialgeschichte der Eltern verweist: „Le Maroc est, à nouveau, une façon d’approcher l’Algérie.“ 626 Die Erzählerin besteht im Laufe des Romans bei ihren Arbeitgebern auf einer Reise nach New York, um die Orte im Roman Simenons mit den für die Verfilmung in Frankreich vorgesehenen Drehorten vergleichen zu können. In New York nimmt Violaine Kontakt zu ihrer alten Freundin Yaël auf. Diese junge Frau funktioniert als Violaines Gegenbild: Sie ist weltgewandt, hat schon in vielen Ländern der Welt gelebt, spricht fünf Sprachen fließend und schafft es spielend, diese zahlreichen „Identitäten“ zu leben: Lorsque Violaine l’a rencontrée, c’est cette façon de vivre, naturellement, ses identités qui l’a frappé. Elle, avait étudié avec acharnement ce que Yaël avait simplement reçu - ses morceaux d’ailleurs. Elle était sa face sereine, mince, élégante, aisée et forte en droit. Elle souriait, souvent, lorsque Violaine cherchait ses failles et lui parlait de ses amours. 627 Violaine sucht in New York die Orte auf, die Simenon in seinem Roman beschreibt - folgt seinen Protagonisten in den unteren Teil der Stadt, wo sie sich selbst begegnen soll: „Mais New York reflète aussi autre chose, une idée peut-être. Un face-à-face avec soi-même.“ 628 Die Erzählerin lässt sich durch die Stadt treiben und gelangt an eine Synagoge. 629 Hier trifft sie sich mit einigen Freunden von Yaël, durch die Violaine erkennt, dass sie selbst sich nach Ritualen und Zugehörigkeit zu einer spirituellen Gruppe sehnt, deren Prak- 624 Ebd., S. 13. 625 Ebd., S. 48. 626 Ebd., S. 88. 627 Ebd., S. 108f. 628 Ebd., S. 135. 629 Ebd., S. 138. <?page no="170"?> Die Beur-Generationen 168 tiken ihr ihre Eltern verwehrt haben. Sie sehnt sich nach einer durch religiöse Praktiken versicherbaren Identität, die die von den Eltern hinterlassenen Lücken zu schließen vermögen: „Elle réclame une identité, dont elle a oublié les pratiques et les rituels, en veut à ses parents de les lui avoir si peu transmis. Son héritage est fait de manques.“ 630 In New York räsonniert Violaine über das Leben in den USA, das ein spezielles Verhältnis zur eigenen Geschichte hat, da es einerseits wenig Vergangenheit besitzt („Vit-on mieux son passé dans un pays qui en a si peu ? À moins que recommencer et réussir sa vie ne condamnent un peu partout l’oubli.“ 631 ) und andererseits durch die Ereignisse des 11. September 2001 geprägt ist, durch die die Freundin traumatisiert wurde. 632 New York wird für Violaine der Ort, der gezeichnet ist durch die Spuren des terroristischen Anschlags, und in dem sie selbst auf den Spuren des Romanciers Simenon und anderen wandelt: La ville est devenue plus qu’une destination. Pour combien de temps, encore, éveillera-t-elle le souvenir de la catastrophe ? Elle est à Manhattan, sur les traces d’un homme disparu, de Simenon, et d’autres inconnus. New York est devenue une ville de traces. Peut-être l’était-elle avant. Peut-être ne le restera-t-elle pas. 633 In New York erkennt die Protagonistin im Zuge ihren Recherchen, dass es weniger den Ort, als vielmehr das Gefühl der Orientierungslosigkeit bei der Erstellung des Dossiers zu transportieren gilt. Violaine versteht, dass der Transfer der Handlung von Simenons Buch von den USA nach Frankreich durchaus möglich ist, da im Zentrum die Bewegung von Menschen steht, die suchen, sich verlaufen und verlieren. Der konkrete Ort tritt also zuürck, während der Raum an Bedeutung gewinnt. Hier geht es also um einen Raum, der durch die Bewegung geöffnet wird und damit um eine menschliche Erfahrung, die unabhängig vom konkreten Ort funktioniert: Simenon a changé Hope Valley en Pennichuck dans son roman. Les scénaristes et le réalisateur ont transporté le tout en France. La mythologie de la grande route est perdue. Elle était au cœur de l’œuvre, comme une métaphore, indispensable et 630 Ebd., S. 140. Violaine berichtet, dass ihre Eltern auch in religiösen Fragen sehr assimiliert und nahezu opportunistisch sind: „Ses parents n’achètent pas de jambon mais ne le refusent jamais, au restaurant ou chez des amis. [...] La religion est comme un motif brodé ton sur ton qu’ils ont fini par oublier.“ Ebd., S. 90f. 631 Ebd., S. 117. Die USA dienen auch Bouraouis Erzählerin Nina als neutraler, anderer Ort der Existenz, der (allerdings nur) im Modus einer imaginierten Zukunft als Heimat formuliert werden kann: „Je me sentirai enfin chez moi. Loin d’Alger. Loin de Rennes. Sous les arbres immenses de New Hampshire.“ Bouraoui 2000, S. 51. 632 Yaël erzählt Violaine von ihrer traumatischen Erfahrung des 11. Septembers 2001, Freunden und Bekannten, die im World Trade Center arbeiteten und dem Staub und Ruß, der sich in der gesamten Stadt auf alles legt, vgl. Boulouque 2004, S. 117ff. Die Asche auf der Stadt und die durch diese Ereignisse ausgelöste, lebensbedrohliche Magersucht Yaëls scheinen auf den Holocaust zu verweisen. 633 Boulouque 2004, S. 132. <?page no="171"?> Die Beur-Generationen 169 pourtant si secondaire. La grande route porte vers un ailleurs, quel qu’il en soit. Feux rouges peut se passer partout où l’on se perd, où l’on se cherche. 634 Diese „route“, die Bewegung und Reise zwischen unterschiedlichen Städten und Länder spielt auch in Smaïls Ali le magnifique eine zentrale Rolle. Zwar werden in dem Roman ebenfalls Reisen nach Algerien und Marokko beschrieben, doch entscheidend durch Reise nach Spanien und besonders Portugal als neue Räume ergänzt. Die Beziehung des Erzählers zu Algerien ist mit einer massiven Abwehrhaltung verbunden. Diese begründen sich einerseits aus den traumatischen Erinnerungen an Sid Alis ersten epileptischen Anfall, ausgelöst durch die Lichtreflexionen auf den Wellen des Mittelmeers, andererseits aus der Ablehnung der sozialen und technischen Zustände in dem maghrebinischen Land. Sid Ali beschwert sich sogleich mit europäischer Arroganz und (postkolonialem) Exotismus über die ‚Unterentwicklung’ von Algerien - und gelangt erneut zu einem aus reiner Ablehnung formulierten Selbstentwurf als Franzose mit Verweis auf Rimbaud: Plus jamais ça! l’aéroport d’Alger, l’avant-dernier siècle de l’Enfer ! Plus jamais ça ! l’hôpital à Alger, le dernier siècle de l’Enfer ! […] Plus jamais me faire soigner dans un pays du tiers-monde ! […] Nib, l’exotisme ! On n’est pas des sauvages ! Ma journée est faite ; je quitte L’Europe ! écrit Rimbaud ! Eh bien, je ne suis pas Rimbaud ! 635 Interessanterweise formuliert Sid Ali bei seiner Reise nach Marokko auch die Gegenperspektive, denn hier lehnen die Marokkaner ihn als Weißen ab: [...] dans leurs yeux, si tu es, de naissance, citoyen de la Communauté européenne, tu es un blanc. Un blanc, ouai. Malgré ta gueule de bougnoule, aux traits que tu croyais indélébiles, eux te voient blanc ! Blanc, tu es à leurs yeux ! Et tu peux leur parler arabe : blanc blanc, ils te voient et t’entendent, je te le dis, mon z’ami - les gènes sémitiques ont été comme par miracle effacés. 636 Als der Erzähler am Flughafen von den Grenzkontrollen überprüft wird, schlüpft Sid Ali in eine neue Rolle, er weitet seine Zugehörigkeit auf die Europäische Union - hier im wirtschaftlichen Sinne verquickt mit einem (internationalen) Werbeslogan (der Firma L’Oréal) - aus: „Je suis Communauté européenne, moi, Sid Ali! Je suis Espace Schengen! Parce que je le vaux bien.“ 637 Und schließlich behauptet er gar: „je suis mondialisé, moi“. 638 Als Sid Ali am Flughafen Paris-Orly ankommt und mit dem Taxi zu seiner Wohnung fährt, spürt er während der Fahrt die Freude, „nach Hause“ zu kommen. Dabei ist nicht nur das (durch das Klischee des Eiffelturms gekennzeichnete) Frankreich gemeint, sondern besonders die Bewegung durch die Stadt, in der Sid Ali ein Glücksgefühl verspürt: 634 Ebd., S. 149. Hervorhebung im Original. 635 Smaïl 2001, S. 228. 636 Ebd., S. 219. 637 Ebd., S. 217. 638 Ebd., S. 236. <?page no="172"?> Die Beur-Generationen 170 Fluide, la circulation, fluide, la nuit, fluide, la vie! Fluide, ce bonheur, qui me saisit soudain! Une griserie, si légère…Je reviens ! Douce France, cher pays de mon enfance…La tour Eiffel illuminée, là-bas, vous ne me direz pas : c’est autre chose que la Koutoubia, non ? 639 Der Vergleich des Pariser Eiffelturms und der Koutoubia, der berühmten Moschee in Marrakesch, zeigt erneut die mühelose Verknüpfung und den inadäquaten Vergleich eines (touristischen) Zeichens der europäischen Moderne mit einem religiösen Bauwerk aus dem marokkanischen Mittelalter. Doch das Verhältnis zu Frankreich ist keineswegs ausschließlich durch diese Freude gekennzeichnet - die Bindung an dieses Land beschreibt Sid Ali als äußerst ambivalent. So fühlt er sich zwar im Maghreb als Franzose; in Frankreich hingegen übt er an der Politik im Land harsche Kritik: Ein Frankreich, das sich selbst als tolerant und multikulturell darstellt, entlarvt Sid Ali als heuchlerisch trügerisch. 640 Er imaginiert die rassistischen Vorurteile seiner Freier, die sich zwar von Beurs befriedigen lassen, aber weiterhin ihre Ressentiments gegen diese Unterschicht pflegen. 641 Er entlarvt damit das heuchlerische Selbstbild einer „France multicolore“ 642 und führt dies weiter an seinem eigenen Beispiel aus: Allons! fermons les yeux une fois encore! faisons-le pour la France, une France pluridimensionelle ! une France multicolore ! tolérante ! moderne ! allègre et royale à la fois ! Une France ouverte à l’Autre - avec un grand A, l’Autre, ouh, l’euh Autre ! Allons ! suivons les instructions ministérielles, aidons ces gens-là ! Assumons (un m), n’assommons pas (deux m) ! Pour une fois que nous tenons sous la main le parfait modèle d’intégration culturelle celui qui peut vous réciter les Stances de Cid en entier, nous n’allons pas le briser, nous allons le placer sous vitrine, le chérubin, et l’épousseter au plumeau des compliments et des satisfecit : « Bien, Sid Ali ! On voit que tu ne perds pas ton temps collé devant la télé, toi, ou à zoner dans les galeries marchandes, ou à fumer du cannabis et à te saouler à la bière dans les caves de ta cité avec tes potes, toi ! tu lis, toi, Sid Ali ! » 643 Nach den begangenen Morden begibt sich Sid Ali auf die Flucht, zunächst quer durch Frankreich, über Nordspanien nach Portugal. Das Gefühl der Dissoziierung, das ihn nach den Taten überfällt, versucht er durch die exakte Angabe von Orten und Ankunftszeiten zu kompensieren und sich so (seiner Position) zu versichern: „C’était moi et ce n’était pas moi. […] Et cependant, c’est objectivement moi, Sid Ali, qui, à la gare de Lyon-Perrache, suis monté le mercredi 15 […] dans le Lyon-Irun de 0h03 […]. 644 Im Norden Spaniens kann er noch Spuren der arabischen Zivilisation erkennen. 645 Dennoch reist der Erzähler weiter nach Portugal, dem „maghrebi- 639 Ebd., S. 265. 640 Vgl. ebd., S. 149. 641 Vgl. ebd., S. 156f. 642 Ebd., S. 158. 643 Ebd., S. 303f. 644 Ebd., S. 695. 645 Vgl. ebd., S. 698. <?page no="173"?> Die Beur-Generationen 171 nischsten Land Europas“, und denkt dabei über das Verhältnis von Orient und Okzident nach. In Lissabon lernt Smaïls Erzähler seine große Liebe, den erfolgreichen Geschäftsmann Manuel, kenne. Mit ihm erlebt er Tage im Luxus und körperliche wie erstmals auch emotionale Nähe. Sid Ali verschweigt ihm seine Vergangenheit. Als der junge Beur nach einem Telefonat mit Djamila, die ihn bereits als den in der gesamten Presse beschriebenen und durch Interpol gesuchten Mörder erkannt hat, mit seinem Vater telefoniert, wird Sid Ali noch in der Telefonzelle verhaftet. Der Erzähler parodiert die orientalistische Sichtweise: Et demain [...] je serai au pays le plus maghrébin de notre continent, je serai au Maghreb de l’Europe maghrébine… Quoi ? Vous sursautez ? Vous croyez enfin tenir la preuve que je suis vraiment ouf à donf, fou à lier ? Ah oauis. Vous ne savez toujours pas les sens du mot Maghreb ? L’Algérie a été française pendant plus d’un siècle, longtemps le Maroc a été un protectorat français, mais vous, vous n’avez jamais eu la curiosité d’ouvrir un dictionnaire pour chercher à savoir ce que veut dire Maghreb ? Ces nuls, ces nuts ! Maghreb signifie Occident, voilà ! Et tout comme vous situez très logiquement le Portugal à l’occident de l’Occident, nous le situons au maghreb du Maghreb ! […] Vous visitez Grenade, vous admirez, à Séville, la Giralda, et vous vous écriez, ravis devant ce qu’il y a des plus occidental dans notre civilisation : « Ah, c’est tout l’Orient ! » Crétins ! Mais si, nous, votre musique celtique, vos binious, vos bagadou, nous les disions orientaux ? si nous jugions orientale la prose de l’écrivain normand Flaubert, oriental le style de l’écrivain breton Chateaubriand ? 646 Ähnlich provokativ geht auch der Erzähler in Allah superstar von B. vor, wenn er gar Algerien, New York und Tschetschenien miteinander verbindet, über Grenzen und politische Verhältnisse hinweg werden sie von dem naiven Erzähler in Beziehung gesetzt. 647 Kamel zieht in einer Art ungewollter Kolonialismuskritik auch eine Verbindung zwischen den Menschenzoos der Kolonialausstellung von 1931 in Paris und der Fernsehsendung „Loft Story“, 648 und zeigt die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten auf, wenn er an einer Frau gleichzeitig das Kopftuch und den String beschreibt. 649 Anhand der literarischen Gestaltungen der Räume in « Musulman » roman werden die Zugehörigkeiten zu Territorien und Nationen thematisiert und gehen über die Formulierung alternativer Räume hinaus. Der Text ist eigenartig ort- und zeitlos gestaltet, an heterotopen Orten wie einem Gefangenenlager, der Wüste oder in einer einfachen, einsamen Hütte angesiedelt und läuft schließlich auf die Negation territorialer Zugehörigkeiten hinaus. Die Erzählerin stellt - nach einem Selbstmordversuch - verzweifelt fest, dass sie in die gängigen Kategorien nicht passt. Sie beschreibt programmatisch, dass sie sich der kulturellen, nationalen, regionalen oder religiösen Identifi- 646 Ebd., S. 699. 647 Vgl. B. 2003, S. 140f. 648 Vgl. ebd., S. 160f. 649 Ebd., S. 167. <?page no="174"?> Die Beur-Generationen 172 zierung durch andere entziehen will, indem sie jenen Territorien ausweichen will, die ihre Bewohner bestimmen: Je ne serais pas qu’une exilée, une immigrée, une Arabe, une Berbère, une musulmane ou une étrangère, mais plus. Quoiqu’ils fassent pour m’y retenir, je n’irais plus sur ces territoires où sont assignés ceux qui les vivent. 650 Die Folge ist, dass sich die Erzählerin zurückzieht und in einem Häuschen allein lebt. Eines Tages bekommt sie Besuch von einem Beamten. In dem Verhör, das praktisch ohne verbi dicendi auskommt, prasseln seine Fragen auf die Protagonistin ein. Das Gespräch ist - analog zu einer Passage im Elternhaus, die noch analysiert wird - auf der Türschwelle angesiedelt, die der Beamte in dem Moment zu überschreiten droht, in dem sich die Erzählerin einem Geburtsland, einer eindeutigen Verortung verweigert. Die Erzählerin formuliert eine neue territoriale Zugehörigkeit, die sich dem Territorium (als Nationalstaat) verweigert: - Où êtes-vous née ? - Je n’ai pas de pays. - Vous êtes bien née quelque part, me dit-il en avançant son pied droit sur la marche. Il me fallait venir d’un endroit et même née dans ce pays ça ne convenait pas. - Apatride. Apatride, ça vous va ? lui ai-je dit. - Mais d’où ? De quel pays ? - Même apatride ? Le lieu où je suis née devait être fermé. Je ne m’en souviens pas. - Vous portez bien un nom, vous avez des papiers ? - Français. - Mais votre nom ? - Il est enregistré. En mairie. 651 Obwohl, oder gerade weil der Beamte hier auf einer eindeutigen Zugehörigkeit zu einer Nation beharrt, weicht ihm die Erzählerin immer wieder aus, bezeichnet sich als staaten- und heimatlos („apatride“). Sie verweigert sich auf allen Ebenen offizieller Identifikationsmerkmale: Sie gehört keinem Land an, denn der Ort ihrer Geburt ist geschlossen; ihr Name ist zwar registriert, wird aber von der Erzählerin nicht genannt. Im weiteren Verlauf des Gesprächs geht es immer wieder um die eindeutige nationale Zugehörigkeit und um die Arbeit, die Beschäftigung, der die Erzählerin nachgeht. Doch diese erklärt nicht nur, dass sie an einer Übersetzung eines kurdischen Autors arbeite, sondern antwortet schlicht im Voltaire’schen Sinne: „Je vous l’ai dit, je lis, j’écris et je cultive mon jardin.“ 652 Schließlich verlässt der Beamte abrupt das Haus - und die Erzählerin denkt über eine erneute Reise bzw. Flucht nach - diesmal an einen anderen Ort, der sich nationaler Zuwei- 650 Rahmani 2005, S. 93. 651 Ebd., S. 99f. 652 Ebd., S. 102. <?page no="175"?> Die Beur-Generationen 173 sungen entzieht (aber in religiösen Geschichtserzählungen eine Rolle spielt): die Wüste. Que pouvais-je faire encore ? Fuir, partir encore ? Mais pour rejoindre qui ? Il me fallait comprendre. Retourner là où le « Musulman » est né. Vers le désert je me suis avancée. J’y ai marché. Vers les hommes et leurs enfants je suis allée. Pour eux j’ai voulu rester. Oubliant que ce désert s’était repeuplé de chacals. 653 2.3.2.2 Die Wüste und das Gefängnis - Heterotopien Am extradiegetischen Ende des Romans schildert die Erzählerin von Rahmani ihre Gefangenschaft in der Wüste und verbindet den Titel des Kapitels, Desert Storm, mit aktuellen Naturkatastrophen („El Niño“ 654 ) und dem unwirtlichen und unwirklichen Ort der Wüste. 655 Die Protagonistin erklärt, einen gesamten Kontinent hinter sich gelassen zu haben, ohne an einem anderen angekommen zu sein, so dass ihr nur noch der Weg in die Wüste bleibt: „J’ai quitté l’Europe. Mais quelle terre, autre que déserte, pouvait encore m’accueillir ? “ 656 So imaginiert sie die Wüste als Ort, der alles verdeckt, in Bewegung ist und sich nicht fassen lässt, hier möchte sie ihre Abstammung wissen: „Être du désert.“ 657 Als die Erzählerin in der Wüste von Soldaten verhaftet wird und in das Gefangenenlager gebracht wird, beschreibt sie das Durchqueren der Wüste, mittels dem sie sich der Verortung in einem ortlosen Raum entzieht, gar als terroristischen Akt. 658 Neben der Wüste gibt es in den literarischen Texten noch einen weiteren heterotopen, im Sinne Foucaults also realen Gegenort, 659 von dem aus der Erzähler Sid Ali bei Smaïl seine Geschichte aufschreibt und der auch in Mounsis La noce des fous eine Rolle spielt: das Gefängnis. „Je fus incarcéré à Savigny-sur-Orge, une prison pour mineurs appelé maison de redressement. On pensait y redresser de jeunes adolescent dévoyés, comme des arbres nés tordus au bord du précipice. Ce fut un vrai travail forestier.“ 660 So beschreibt Tarik in Mounsis La noce des fous den Beginn seines Gefängnisaufenthalts, indem er das Gefängnis metaphorisch in eine Art Baumschule verwandelt und die kriminellen jugendlichen Insassen naturalisiert - sie gleichen Bäumen, die am Abgrund wachsen. Auf den Mauern der Gefängniszellen hinterlassen die Gefangenen Zeichnungen, kurze Sätze und Sprüche. Hier gravieren sie ihre Sehnsüchte, ihre Wut und 653 Ebd., S. 107. Als Subtext ist hier die Vertreibung Ismaels in die Wüste zu berücksichtigen. 654 Ebd., S. 131. 655 Vgl. ebd., S. 130f. 656 Ebd., S. 46. 657 Ebd., S. 131. Vgl. zum Wüstentopos auch S. 141. 658 Vgl. ebd., S. 133. 659 Die Foucault’sche Terminologie wird im dritten Kapitel näher erläutert und dient dort der Systematisierung der topologischen Konstruktionen in den generationsübergreifenden Analysen. 660 Mounsi 2003, S. 111. <?page no="176"?> Die Beur-Generationen 174 Ohnmacht in die Zellenwände ein. Tarik vergleicht diese eingeritzten Zeichen nicht nur mit Höhlenmalereien und stellt damit eine historisch-genealogische Verbindung der Menschheitsgeschichte her, sondern sieht in ihnen auch Todesmale in Form von Grabinschriften. 661 Diese Kohärenz stiftende Verbindung steht im Widerspruch zu der Koexistenz der Jugendlichen im Gefängnis, zwischen denen es nur hierarchische Verhältnisse und keinerlei Solidarität gibt. Tarik wird in dem Gefängnis isoliert, er hat keinen Kontakt zu den anderen Jugendlichen. Seine Tage beschreibt er als monoton, seine Nächte sind von erotischen Phantasien durchzogen. 662 Die einzige Verbindung zwischen den jugendlichen Häftlingen ist ihr gleiches Schicksal: „Les lignes de nos mains mêmes paraissaient identiques.“ 663 Nach einem gescheiterten Fluchtversuch zieht sich Tarik immer mehr in sich zurück und nutzt seine Imagination um den engen Mauern seiner Gefängniszelle zu entkommen: So reist er immer wieder in Gedanken durch die Mauern hindurch, über die Dächer hinweg zu den Sternen und Planeten. Dort geht er als Teil des Himmels zwischen Uranus, Mars und Saturn, zwischen den Sternbildern des Schützen und der Zwillinge spazieren: „J’étais moi-même une partie du ciel.“ 664 Die Gefängniszelle taucht als Erzähl- und Schreibort des Protagonisten Ali le magnifique von Smaïl unvermittelt immer wieder in Einschüben auf, in denen sich der Sid Ali plötzlich seiner Erzählgegenwart gewahr wird. Er schreibt dann von seinen Wahrnehmungen in der Zelle, sei es, dass er seinen Zellennachbarn singen hört, 665 sei es, dass er seinen Stift neu anspitzen muss oder das Papier ausgeht. Doch die Zelle ist für Sid Ali nicht nur der lokale Rahmen für seine Erinnerungen und Aufzeichnungen, denn einerseits dienen ihm die Erlebnisse darüber hinaus als Fluchtmöglichkeiten aus der Gefangenschaft, und andererseits bedeutet das Gefängnis für Sid Ali auch - in einer paradoxalen Wendung - einen Ort der Freiheit, denn hier kann er sich frei neu erfinden. Hier reflektiert Sid Ali die Möglichkeiten des Spiels mit Wahrheit und Lüge und fügt gar das Krankheitsbild der Mythomanie, einer krankhaften Neigung zu Lügen, hinzu, die den Ort des Gefängnisses zu einem Ort der Freiheit machen können. Hier liegt also nicht das Ende der Fiktion, wie bei Rahmani, sondern gerade der Anfang: À chacun sa vérité, ou ses mensonges. On est libre, en prison. Car on peut jouer toutes les comédies, ou n’en plus jouer aucune son cœur mis à nu. La mythoma- 661 Vgl. ebd., S. 114f. 662 Vgl. ebd., S. 11ff. 663 Ebd., S. 117. 664 Ebd., S. 120. 665 Sein portugiesischer Zellennachbar singt einen Fado, dessen Liedzeile in steten Wiederholungen während der Erzählung von Sid Ali auftaucht: „Nasci para ser ignorante... Je suis né pour être ignorant - putain.“ Smaïl 2001, S. 67, Hervorhebungen im Original. Es ist diese Gefühlskälte und die Unwissenheit, die Sid Ali wohl gerne erreichen würde, um sich von nichts mehr berühren zu lassen und sein eigenes Schicksal emotionslos schildern zu können. <?page no="177"?> Die Beur-Generationen 175 nie la plus élaborée, les masques les grimaces, les plaisanteries sur soi, ou, au contraire, la plus douloureuse, ou à l’inverse, la plus sereine sincérité… 666 2.3.2.3 Das Elternhaus - Zwischen Zimmern und auf der Türschwelle „un monde utopique“ 667 Das Elternhaus tritt in dieser Generation als identifizierender Raum eher in den Hintergrund. In den Romanen, in denen sich die Erzähler und Erzählerinnen mit diesem Raum auseinander setzen, spielt es für die Selbstentwürfe der Beur-Protagonistinnen und -Protagonisten in zweierlei Hinsicht eine Rolle: auf der Ebene der intergenerationellen Beziehung zu den Eltern und im Hinblick auf die Raumwahrnehmungen der literarischen Figuren. Da in den chronologischen Analysen und in Zusammenhang mit der Bindung an die Nationen bereits die Rolle der Eltern expliziert worden ist, die auffällig metonymisch für nationale und genealogische Identifikationen stehen, soll es im Folgenden zentral um die Raumkonstruktionen im Elternhaus oder im eigenen Haus gehen. Dem Elternhaus der Erzählerinnen und Erzähler kommen unterschiedliche Funktionen zu: Es kann mit unterschiedlichen Zimmer und den Einrichtungsgegeständen für die kulturellen Überschreibungen bzw. Nebeneinanderlagerungen kultureller Einflüsse stehen wie bei Djaïdani, es kann Erinnerungen speichern und eine Sehnsucht nach einer nicht vorhandenen familiären Genealogie auslösen wie bei Boulouque, deren Protagonistin in der elterlichen Wohnung an ihren Großvater Élie denkt, der über ihren Eltern gewohnt hatte - die Erinnerungen an ihn sind auch noch in der Wohnung der Eltern gespeichert. 668 Das Elternhaus kann durch das Fernsehgerät den Ausgangspunkt für imaginierte Fluchten und Träume sowie die ‚Kontaktzone’ mit den französischen Sozialarbeitern sein wie bei Guène. Für Doria ist in Guènes Roman das Elternhaus, das sie ja nach dem Weggang des Vaters allein mit ihrer Mutter bewohnt, ein Ort der Langeweile, dem nur mittels exzessiven Fernsehkonsums zu entkommen ist und auf den die Sozialarbeiter und -arbeiterinnen, die die Familie betreuen, einen exotistischen Blick werfen. 669 In Mounsis La noce des fous wird das Elternhaus gar durch den heterotopischen Ort des Kinderheims ersetzt, in dem der Erzähler untergebracht wird; die Trennung von seinem Vater schildert er allerdings nicht. „Il ne me resta de 666 Smaïl 2001, S. 525. 667 Djaïdani 2004, S. 14. 668 In der Wohnung der Eltern in Nizza betritt sie ihr Zimmer und findet Bücher und Kleidung vor, die sie nicht vermisst hat - die Einrichtungsgegenstände scheinen nicht mehr zu ihr zu gehören: . „On se devient vite étranger, s’est-elle dit en entrant dans la pièce.“ Boulouque 2004, S. 34. 669 „Quand il [l’assistant social, K.S.] venait à la maison, ça lui faisait exotique. Il regardait bizarre les bibelots qui sont posés sur le meuble, ceux que ma mère a rapporté du Maroc après son mariage.“ Guène 2004, S. 18. <?page no="178"?> Die Beur-Generationen 176 mon père que ce que m’offrit ma mémoire, avant que ne vienne l’oubli. De centres en nourrices, en familles, en foyers.“ 670 Bei Rahmani schließlich bedeutet das Elternhaus sowie das eigene Haus Flucht und Schutz gleichermaßen: Die problematischen territorialen Identifikationen mit Nationen und Ländern werden hier bezeichnenderweise auf der Türschwelle ausgetragen. Auf der Türschwelle findet die Erzählerin nach einem Alptraum Zuflucht, hier führt sie das Gespräch mit einem Beamten, der ihre Personalien und damit ihre nationale Zugehörigkeit feststellen will. Schon zu Beginn bringt die Erzählerin ihre Sprachlosigkeit mit dem Gefühl der Bedrohung und der Ortlosigkeit in Verbindung. Nachts liegt sie nach dem Albtraum, in dem Elefanten sie bedrohen, auf dem Flur vor ihrem Zimmer und kann ihrer Mutter ihre Angst nicht mitteilen. Ihr fehlt die Sprache der Mutter, auf der Türschwelle zwischen Schlafen und Wachen. Die Erzählerin hat Algerien erst kürzlich verlassen; sie ist zwar in Frankreich noch nicht angekommen, hat aber bereits die Sprache der Mutter verloren und lässt ihre Geschwister allein im Raum der Albträume zurück: „J’avais peur. Et je n’ai pu lui dire. Plus de mots à lui dire. L’Algérie était derrière. J’étais en France depuis peu. […] À cause d’eux, les éléphants, je quittais tout. Mon frère, ma sœur. Ma mère, ma langue..“ 671 In Mon nerf von Djaïdani bildet das vielkulturelle und integrierte Elternhaus den Ausgangspunkt der Erzählung und seines Weges zum Psychoanalytiker. Zu Beginn des Romans imaginiert sich der junge Protagonist in einem Traum als freies Elektron, das zwischen Polen hin- und herpendelt. Anlässlich seiner Beschneidung als fünfjähriger Junge sitzen die eingeladenen Männer und Frauen in der Wohnung der Eltern in getrennten Zimmern und nur der noch kindliche Protagonist kann beide Räume betreten. 672 Und dass der Junge auch in unterschiedlichen Traditionen und Kulturen zuhause ist, zeigt sich, wenn er beim Betrachten der bärtigen alten Männer, die als Gäste geladen sind, feststellt: „Leurs barbes longues et blanches auraient pu défiler pour un concours de pères Noël.“ 673 Die räumliche Deutung des Korans, der nur rückwärts gelesen Sinn ergibt, löst in dem Erzähler eine ebensolche Verwirrung aus, wie die Paradoxie der fröhlichen Feier seiner schmerzhaften Beschneidung. 674 Auch sein Jugendzimmer ist charakteristisch für die Lebenssituation des jugendlichen Erzählers: Der Raum wird mit vulgärer Jugendsprache beschrieben („Ma chambre a la gueule dans le cul, elle n’est pas très matinale.“ 675 ), in ihm wird der Erzähler zu einem Tier im Jungle. 676 Durch seine Feromone aber markiert er den Raum, zu der kein 670 Mounsi 2003, S. 31. 671 Rahmani 2005, S. 23. 672 Vgl. Djaïdani 2004, S. 9. 673 Ebd., S. 10. 674 Vgl. ebd., S. 11. 675 Ebd., S. 13. 676 Vgl. ebd., S. 13f. <?page no="179"?> Die Beur-Generationen 177 weibliches Wesen (als Wortspiel „aucune Fée-Melle“ 677 ) Zutritt hat. Schon in seinem Zimmer zeigen sich die Spuren der Eltern in doppelter Weise: Ma chambre est assez ordinaire, IKEA au bon goût de ma mère. [...] Dans ma piaule, le sol est recouvert de peaux de moutons, avec soin je les ai teintes au henné après que mon pères les eut tannées. Ses murs sont sertis de cadres sans dorure à l’intérieur desquels je suis figé en noir et blanc. 678 Diese kulturellen Mischungen, die friedliche Koexistenz von IKEA-Mobiliar und hennagefärbten Schafsfellen, fasst Mounir zusammen, wenn er sein „utopisches“ Elternhaus beschreibt: „Dans notre minivilla à la déco francomusulmaniste, je suis au centre d’un monde utopique où fusionnent à la manière arc-en-ciel le culte et les gadgets…“ 679 Hier stehen Dekorationsstücke wie der Eiffelturm neben einer Moschee, in der amerikanischen Küche sind neben maghrebinischen Kochbüchern asiatische Messer zu finden. Und der Rasen im Garten ist für den Vater fast so heilig wie ein Gebetsteppich. 680 Die Küche haben die Eltern mit Notizzetteln versehen, die dem Sohn seinen Tagesablauf nochmals erklären, ihn daran erinnern seinen nachmittäglichen Termin wahrzunehmen, sein Zimmer aufzuräumen und seine Medizin mit viel Wasser einzunehmen. Die Rolle der Eltern wird hier über die schriftliche Markierung des Raumes verdeutlicht: Die Zettel zeigen, dass die Eltern schreiben und lesen können und sich in der modernen Welt eines europäischen Frankreichs leicht zurecht finden. Mounir geht sogar soweit, Frankreich für die Kolonisierung zu verfluchen - nicht wegen der Unterdrückung, sondern wegen des Lese- und Schreibunterrichts, den seine Eltern dadurch genossen: Mes parents ont eu le luxe de pouvoir apprendre à lire et à écrire. Ils ont toujours assisté aux réunions des parents d’élèves, impossible de les mener en bateau. Sur mes bulletins, ils ont toujours su différencier mes performances et mes banqueroutes. Alors qu’en primaire certains camarades de classe n’avaient qu’à faire une croix pour falsifier la signature de leurs papa-maman analphabètes, moi mes bulletins de notes étaient plus décortiqués qu’une fiche de salaire, gare au redoublement. À une époque, je maudissais le pays qui en les colonisant leur avait enseigné l’art de lire, écrire. L’âge aidant, je parfume à présent leur Charlemagne qui les rendit indépendants en long en large et en travers. Calculer en euros autant que suivre un film scandinave en VO, sous-titré VF, n’est pour eux qu’un jeu enfantin… 681 677 Ebd., S. 14. 678 Ebd. 679 Ebd., S. 23. 680 Ebd., S. 29. 681 Ebd., S. 33. Der angeprangerte Wissensvorsprung ist durchaus mit der Konstellation der Figuren von Mutter und Tochter bei Guène zu vergleichen. <?page no="180"?> Die Beur-Generationen 178 2.3.2.4 Die banlieue - „La ville des errances“ 682 Der urbane Lebensraum der Erzählerinnen und Erzähler, die banlieue, in der sie leben, spielt als eigener Raum eine Rolle, in dem sie sich mit der Freundesclique treffen können und der eine Alternative zum Elternhaus innerhalb der französischen Großstadt darstellt. In dieser Generation der Beur-Texte ist die banlieue besonders als Raum des Übergangs und der Passagen gestaltet, den die literarischen Figuren mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln durchqueren, oder aber - wie bei Djaïdani, aber auch Smaïl - mit dem Ort des Bahnhofes verbunden ist. In den Erzähltexten von Boulouque, Bouraoui und Rahmani tritt die banlieue als Erzählort oder als Lebensort der Protagonistinnen gar ganz in den Hintergrund. Für Doria in Guènes Kiffe kiffe demain ist die banlieue neben der Welt der Fernsehserien und den Filmwelten der zentrale Raum, in dem sie Kontakte knüpft und ‚reden kann’. Das Zentrum von Paris scheint weit entfernt und für die Mutter sogar unerreichbar zu sein. Doria und ihre Mutter machen einen Ausflug ins Zentrum von Paris, sie besichtigen den Eiffelturm, den Dorias Mutter - obwohl sie bereits seit 20 Jahren in der banlieue von Paris wohnt - zum ersten Mal sieht. 683 Doria beschreibt die Vorstellungen ihrer Mutter, die sich Frankreich vor ihrer Immigration immer wie in einem schwarz-weiß-Film aus den 1960ern vorgestellt hatte, 684 entlarvt mit ironischem Ton die Naivität der Elterngeneration im Gegensatz zu ihr als medienerfahrener Tochter und benennt ganz konkret den Rückkehrmythos. 685 In Mounsis La noce des fous wird die banlieue in einen historischen, metaphysischen und, wie Cornelia Ruhe gezeigt hat, in einen mythologischen Kontext eingebunden. 686 Spielt Mounsi zunächst noch auf die historische Bezeichnung der banlieue als „ceinture rouge“ an („L’ancienne, la même, celle de toujours, la mouvante banlieue noire autour de la ceinture rouge et tout ce qui a précédé son histoire.“ 687 ) wird das Wohnviertel mit seinen Immigranten aus aller Welt, die sich dort langfristig niederlassen und Wurzeln schlagen, 688 zu einem Ort zwischen Himmel und Hölle. Hier beginnt auch die trostlose Geschichte des Protagonisten. Die seelenlose Wohngegend prägt dabei seine Geburt und den (fast logischen) Tod seiner Mutter: Ni ciel ni l’enfer. C’est le monde des hommes. Terre à terre. On y est. C’est ma cité. Si loin des Grecs […] de la terre où sont apparus des dieux parmi des colonnes à demi brisées qui gardent la beauté d’une ruine immortelle. Chez moi, l’entrée des Enfers se situe du côté ouest du périphérique, dans son cours sinueux et rapide. Vers le boyau qui ceinture les façades d’un plateau croûteux, au commencement d’un monde où seul le rêve est vrai, la vie inexistante. […] c’est juste 682 Mounsi 2003, S. 46 683 Vgl. Guène 2004, S. 127f. 684 Vgl. ebd. S. 21. 685 Vgl. ebd. S. 108. 686 Vgl. Ruhe 2004, S. 76-102. 687 Mounsi 2003, S. 16. 688 Vgl. ebd. <?page no="181"?> Die Beur-Generationen 179 là que maman m’a chié. Dans l’un de ces dortoirs modèles, superposés comme des cercueils et que n’habite aucun mort antique. Nuisante naissance. Elle mourut. 689 Im Laufe des Romans geht ein Wechsel der Erzählperspektive mit dem Wechsel des Ortes, nämlich mit dem Blick auf die Grenze der banlieue einher. Unvermittelt beginnt ein Abschnitt damit, dass ein Mann, der sich als der Vater des Protagonisten herausstellen soll, mitten auf dem périphérique auf einem weißen Tuch betet. Hier wechselt die Perspektive zur homodiegetischen Erzählstimme: Au milieu du périphérique, il a entendu l’appel à la prière du soir, une voix que le vent apporte comme une plainte à son cœur. Il sent, autour de lui, le souffle du silence. C’est comme si le monde s’était arrêté de bouger et de parler. 690 Wie die sich wiederholende Gebetsbewegung, in der sich der Vater langsam vor und zurückbeugt, kehren Formulierungen wieder („au milieu du périphérique“) und wird ein Satz wiederholt, der den Teer der Stadtautobahn in heilige Erde/ das heilige Land verwandelt: „Il prie sur le gourdon comme sur la Terre sainte.“ 691 So träumt sich der Vater in seine Heimat zu den Gesängen der Hirten und vergisst den Zement und die Straßen um ihn herum. Doch seine Gedanken wandern auch zu den versteckten Weinflaschen unter seinem Bett. 692 In Tariks Beschreibungen stehen sich das Nachtleben in der banlieue und jenes im Zentrum der Stadt diametral gegenüber: Mit seinem Freund Bako erlebt er den nächtlichen Trubel auf den Straßen der banlieue, Menschen laufen ziellos durch die Straßen, betrinken sich in Bars oder gehen in Sex-Shops. Im Zentrum der Stadt hingegen findet das Leben in Restaurants mit weiß gekleideten Kellnern statt, die bunte Speisen auf festlich gedeckten Tafeln servieren. 693 Die Orte sind auch affektiv in ihrer Gegensätzlichkeit besetzt: Während dem Protagonisten in seinem Viertel Traurigkeit, Drogenkonsum, rastlose und haltlose Menschen begegnen, begehrt er beim Blick durch die Restaurantscheiben im Zentrum der Stadt die unerreichbaren Frauen. Es wird deutlich, dass es sich stets um Projektionen und um die fortwährende Suche nach einem eigenen Ort handelt. So beschreibt Tarik explizit, dass ihr Leben aus dem Umherirren, also der Bewegung durch den urbanen Raum besteht: „Nous errions, livrés à nous-mêmes. C’était notre existence que de divaguer au hasard. Nous vivions dans une sorte de précipitation. […] La vie est toujours plus loin que soi à des confins encore insoupçonnés.“ 694 689 Ebd., S. 17. 690 Ebd., S. 25. 691 Ebd., S. 25, 26. 692 „Toutes hontes bues jusqu’à la lie […] Où, ailleurs, aurait-il pu s’emplir et se vider de tant de choses à la fois ? Peu à peu il ne parla plus à personne. Même à moi.“ Ebd., S. 26f. 693 Vgl. ebd., S. 33f. 694 Ebd., S. 35. <?page no="182"?> Die Beur-Generationen 180 Einerseits erscheint das Lokale, die banlieue, als zentraler Identifikationspunkt für Tarik und Bako; sie ist ihr Lebensbereich und der Raum, in den sie gehören (müssen). Andererseits formulieren die literarische Figuren auch die Flucht an einen anderen Ort, der weniger als Zielort funktioniert, sondern vielmehr gerade die Reise und die Bewegung dorthin betont („de port en port, d’île en île.“ 695 ) Diese Flucht - auch vor sich selbst - ohne Ziel, die Bewegung ohne Ankommen bestimmt ihr Leben: „Ce fut notre destin de nous enfuir toujours. On n’y pouvait rien. Ce n’était pas pour aller quelque part. C’était juste pour l’illusion de partir.“ 696 Anhand der Figur des Pascal, einem Jugendlichen aus der banlieue, wird die Existenz in der Geschwindigkeit und andauernden Bewegung verdeutlicht. Der junge Mann liebt schnelle Autofahrten, die seine Jugend ausdrücken, waghalsig und lebensmüde will er den Rausch der Geschwindigkeit erleben. 697 Während einer Autofahrt beschreibt Tarik: Nous ne savions pas où nous allions, mais nous y allions vite, c’était cela l’essentiel. On avait envie de rouler comme ça, longtemps, à la dérive, dans cette espace d’oubli de soi et des autres. D’aller au bout de n’importe quoi, vers n’importe qui, juste pour illusion que peut-être quelqu’un nous attendait quelque part. 698 Der Zusammenhang von Jugend und Bewegung durch den urbanen Raum ist hier besonders augenfällig. Pascal will mit jenen wilden Autofahrten sein Leben anhalten und die Zeit stillstehen lassen, um nicht zu altern: Il s’abandonnait à l’ivresse de la vitesse comme s’il savait qu’un jour l’homme n’aura plus d’âge. Il ne s’agira plus que de vieillir. Se soumettre au temps. Alors il fallait bien essayer d’aller plus vite que lui. Il ne subsiste dans ma mémoire que peu de chose de Pascal. Dans le graphique des mots, à travers l’encre, montent les traits de son visage comme dans l’eau claire. 699 Hier wird ein weiterer Aspekt angesprochen: Nur in der Schrift - und auf die Funktion des Schreibens werde ich noch zurückkommen - wird die Erinnerung an den Freund greifbar. In Djaïdanis Roman Mon nerf sind im öffentlichen Raum zwei Orte zentral für die Bewegungen des Protagonisten: die banlieue und der Bahnhof. Mounsis Tagesablauf wird bestimmt durch seinen Weg zum Bahnhof und die Fahrt zu seinem Psychoanalytiker; diese Aussicht bewirkt bei ihm eine (sprachliche) Infantilisierung: „Dès lors que j’aurai p’tit-déj et pris une bonne douche écossaise, j’irai à la gare ferroviaire pour m’engouffrer dans les entrailles de mon R, mon Reu-Reu, mon RER. Déguerpir chez mon spy et lui en dire long sur ma vie.“ 700 695 Ebd., S. 51. 696 Ebd., S. 53. 697 Vgl. ebd., S. 63 698 Ebd., S. 62. 699 Ebd., S. 64. 700 Djaïdani 2004, S. 15. <?page no="183"?> Die Beur-Generationen 181 Der Protagonist beschreibt sich als (jungen) Stadtbewohner, der - anders als in den anderen Romanen - in einem arrivierten Stadtteil, einer wohlbehüteten und (spieß-)bürgerlichen Résidence, wohnt und den der urbane Jungle der banlieue eher verschreckt. Seine Eltern sind in eine wohlhabendere und aufgeräumte Wohngegend gezogen; Mounir gehört hier zur Minderheit und kennt seine Nachbarn nur aufgrund ihrer schriftlichen Beschwerden: J’y suis à ma seul une minorité qui à travers sa pigmentation représente une certaine majorité silencieuse, sans cutter ni autre ustensile. […] dans ma résidence, je suis tenu responsable de tous les torts. […] De mes voisins je ne connais que les plaintes. Sur les feuilles en papier mâché, je décrypte sans trop de difficulté leurs écritures. […] Ils m’homicident avec l’expression de leurs sentiments distingués, signés et expédiés en recommandé, bien entendu. 701 Sein Spaziergang durch die cité konturiert auch dessen Bewohner: Architektur und ethnische/ kulturelle Herkunft der Bewohner hängen direkt zusammen. 702 Der Übergang von seiner résidence in die urbane banlieue beschreibt Mounir mit Ehrfurcht, aber auch mit comicartigen, infantilen onomatopoetischen Formulierungen: Bye-bye Bois-Fleury, welcome jungle urbaine. [...] La circulation est dans sur le boulevard Brook-Myers et la rue Lilo-Estienne. À leur passage les tutures balayent des rafales de vent qui me ventilent le visage. Les décibels des autos qui vroum-vroument […] Vroum blanche, vroum bleue, vroum marron, vroum violette […] 703 Die affektive Bindung an ‚seinen RER’ ist bereits beschrieben worden - der Bahnhof stellt einen zentralen Ort im Leben Mounirs dar. Doch dieser Bahnhof steht aufgrund der mangelnden Frequentierung nicht für einen Ort der Begegnungen und gar nur andeutungsweise für einen Ort der Passage, des Übergangs: „Ma gare est sans prestige, elle n’est pas un lieu de rencontres, à peine un lieu de passage, les usagers en cette période se font rares.“ 704 In der Eingangshalle trifft er wie jeden Tag auf Obdachlose, die ihn anbetteln. Auch in dieser Situation bedient er sich zur ironischen Distanzierung eines Rollenvorbildes: „Je ne suis pas Robin des Bois pas plus que je ne suis pas une pince ou un radin.“ 705 Als er durch die Fahrkartenschranken gehen will, versucht ein Jugendlicher mit ihm ohne eigene Fahrkarte auf den Bahnsteig zu gelangen. Mounir erkennt ihn gleich als „stéréotype du jeune de banlieue.“ 706 Er stellt den jungen Mann zur Rede, aber die Kommunikation 701 Ebd., S. 19. 702 Vgl. ebd., S. 43. So tragen alle Häuser Namen wie „Le fer à cheval d’Eva et Nicolas“ oder „Le trèfle à 4 feuilles“; das Haus seiner Eltern heißt bezeichnenderweise „L’Oasis“. Vgl. ebd. S. 38f. 703 Ebd., S. 44f. 704 Ebd., S. 16. 705 Ebd., S. 47. 706 Ebd., S. 49. <?page no="184"?> Die Beur-Generationen 182 schlägt fehl, weil Mounir, der sich hier als beurgeois inszeniert, nicht gleich den richtigen Jugendslang anschlägt: „- Tu souhaites resquiller... Lui: - Quoi? Moi, moins petit Larousse: - Tu veux que je te fasse passer? “ 707 Der Bildungsunterschied wird hier zwar auch wie bei Begag markiert, führt aber nicht zum Erfolg und zu Gefühlen der Überlegenheit, sondern zu einem gescheiterten Dialog. Während Mounir auf die Abfahrt des Zuges wartet, sein „®“ 708 steht schon bereit, erinnert er sich immer wieder an Erlebnisse in seiner Vergangenheit. Seien es die Verspottungen in der Schulzeit, seien es die Ablehnungen der Jugendlichen der cités: Car pour les lascars des cités insomniaques, je n’étais et ne suis qu’un bourgeois de l’enclos du Bois-Fleury. Aujourd’hui encore, ils me montrent du doigt, je suis le faux beur, la jet-set à abattre. Mes parents se sont sacrifiés pour s’offrir une maison, jamais je ne culpabiliserai de ne pas avoir perdu mes dents de lait dans une barre HLM du ghetto made in France. Pourquoi tant de haine contre moi ? J’ai le cul entre deux chaises. 709 Mit „J’ai le cul entre deux chaises“ greift Djaïdani hier eine gängige Formulierung für die Situation der Beurs zwischen der Herkunftskultur der Eltern und dem Aufenthaltsland Frankreich auf, deutet sie allerdings in eine soziale und generationelle Figur um. Denn die eine Seite, so fährt Mounir fort, sind die Eltern der Mitschüler und die Rentner der résidence, die in ihm den Wilden (le „sauvageon“) sehen, die andere Seite sind die Jugendlichen der cité-dortoirs, die in ihm den verwöhnten und wohlhabenden Jungen sehen; er nennt sich selbst, die französische Oberschicht ironisierend „Jean-Charles Henri de la Mounirette“. 710 Die Inszenierung als beurgeois gelingt dem labilen Mounir nicht. Smaïls Ich-Erzähler Sid Ali wächst in einer cité auf, die er gleichzeitig als algerisches bled und Pariser banlieue markiert: „notre bled, notre cité du Neuf-Trois“. 711 Seine cité verweist durch den Namen Cité des Poètes einerseits auf die Relevanz (nicht nur) literarischer Intertexte; andererseits aber entspricht sie auch dem stereotypen Bild, wie es die Medien herstellen: Le décor : une cité quelconque dans le 93. La cité des Poètes. Une des cités des Poètes du 93 - il y en a plusieurs dans le département. Allée Verlaine, allée Rimbaud, allée Apollinaire…[…] Comme vu à la télé - direct ou fiction, journal, série, docu, feuilleton, reportage , kif : les toures, les barres, les paraboles, les sacs plastiques accrochés aux barreaux des balcons, le portrait en mosaïque d’un poète […], la vitre de l’abribus étoilée, l’étoile et le croissant islamistes sur le mur tagué…[…] Tout est faux et tout est vrai. « Un quartier sensible », comme dit l’animateur ou le présentateur. Sensible ! « Une téci en Neuf-Trois » ajoute l’autre guignol, initié au verlan, avec un petit ricanement détaché, cool, complice, pour 707 Ebd. 708 Ebd., S. 54. 709 Ebd., S. 61. 710 Ebd., S. 62. 711 Smaïl 2001, S. 19. <?page no="185"?> Die Beur-Generationen 183 faire plus vrai et nous citer - soi-disant. […] Tout est faux et tout est vrai. On peut toujours truquer. Et, nous, ressembler à l’image qu’on se fait de nous. 712 Gegen dieses Klischee setzt Sid Ali die eigenen kulturellen Repräsentationsformen wie die Musik und die eigenen Liedtexte sowie das Viertel Barbès und die literarischen Werke von Paul Smaïl selbst: „Le Barbès de Paul Smaïl, dont je lisais et relisais alors Vivre me tue.“ 713 Von seinem Viertel aus zieht es den Erzähler in die Innenstadt, ins Abenteuer: Mais il y avait mieux que de zoner à la maison reclus seul dans ma chambre et mes fantasmes : c’était de quitter ma zone, de partir à l’aventure. Assez de chouf devant la glace ! À moi, Paris ! Barbès ! Les Halles ! Les Champs! Laisse béton la bande et va bander en ville, va baver les vitrines ! 714 In einer Eroberungsgeste nimmt er das Pariser Zentrum ein (wie Les Halles und Les Champs(-Elysée), in dem er sich sehr selbstverständlich bewegt. Das wahre Leben, so Sid Ali, findet in Paris unterirdisch statt, nämlich in den Einkaufspassagen und den unteren Ebenen von Les Halles. Hier werden die unterschiedlichen Etagen und Einkaufsebenen direkt mit den Eindrücken verknüpft, die sich dem jungen Protagonisten beim Passieren der Schaufenster bieten: Etliche Markennamen reiht er so aneinander, dass eine Topographie vermittels Ladenketten und Markennamen geschrieben wird. 715 Das Interessante an den Raumkonstruktionen in diesem Roman ist, dass die Räume in einer Art proleptischen Konstruktion immer schon auf das Ende bestimmter erzählter Episoden hinweisen. Sei es, dass die Erzählsituation in der Gefängniszelle in Lissabon angesiedelt ist, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Leserschaft noch gar nicht die Geschichte und die Umstände der Verhaftung kennt; sei es die Telefonzelle, die der Ort der Verhaftung ist (bereits am Anfang des Romans), sei es der Einkauf der CDs im Virgin Mega Store, 716 die zum Bruch zwischen Djamila und Sid Ali führen. Zusammenfassend lässt sich über die Raumkonstruktionen dieser dritten Generation festhalten, dass sich die Bezugnahme auf die Orte als primäres Merkmal der Identitätskonstruktionen darstellt. Die Positionierung zu einem Nationalstaat bzw. Land wird nicht mehr nur auf die Zugehörigkeit zu Frankreich oder Algerien beschränkt, sondern auf die Situierung in einer Stadt und damit über Frankreich oder die maghrebinischen Heimatländer der Eltern ausgeweitet: Neben Paris, Rennes, Marrakech oder Alger tauchen nun die urbanen Räume in New York, Lissabon oder Rom auf. Erst in den Metropolen an einem dritten Ort lassen sich eigene Geschichten formulieren. Sie ermöglichen es den Protagonisten und Protagonistinnen, eigene Spuren zu hinterlassen, wie Violaine ja an der Stadt New York beobachtet. Die ban- 712 Ebd., S. 18f. 713 Ebd., S. 189. 714 Ebd., S. 33. 715 Ebd., S. 41. 716 Ebd., S. 82. <?page no="186"?> Die Beur-Generationen 184 lieue und das Zentrum werden zu Ausgangsorten oder Fluchtpunkten. Es sind weniger die Identifikationen mit Orten, die den literarischen Figuren Halt geben, sondern vielmehr die Bewegungen, die Räume für andere identitäre Konstruktionen schaffen. Doch nicht nur die Formulierung spatialer Alternativen, auch die Konstruktion heterotopischer Orte (und die Beziehung zu Atopien, wie die Selbstbezeichnung als „apatride“ bei Rahmani verdeutlicht) spielt in dieser Generation eine Rolle. Das Gefängnis als Erzählort, der durch Zeitsprünge und Reisen an andere Orte nur scheinbar verlassen werden kann (denn die Erzählung hält letztlich die Protagonisten an diesem unwirtlichen Ort fest) bspw. bei Mounsi und Smaïl, bildet eine solche Heterotopie; die Einsiedelei in der Wüste bei Rahmani ist ein paradigmatischer Ort der Entortung. Und die Fernseh- und Filmsettings, in die sich Guènes Erzählerin Doria und Kamel Léon in Allah superstar von B. in ihren Phantasien flüchten, stellen schließlich eine virtuelle, globalisierte imaginierte Sphäre dar. In der Konstruktion des Elternhauses findet durch Türschwellen eine Auflösung der räumlichen Trennung und Eingrenzung kultureller Kodierungen statt - die Schule rückt als Lebensraum in den Hintergrund. Die banlieue schließlich wird zum selbstverständlichen Ausgangspunkt der Protagonistinnen und Protagonisten und ist wie bei Djaïdani durch den Bahnhof symbolisiert oder durch ein Durchqueren gekennzeichnet wie bei Djaïdani, Guène und Smaïl. So ist die literarische Gestaltung von Raum sehr unterschiedlich: In vielen Romanen greifen die Räume ineinander oder werden überlagert, wie bspw. in den Romanen von Smaïl und Rahmani, bei denen formal der extradiegetische Erzählort immer wieder unvermittelt in der Intradiegese auftaucht; aber auch die Evozierung von Metro-Linien bspw. bei Smaïl und Djaïdani Bewegungen durch Räume. Im Rahmen der Analysen der Raumgestaltungen und -konstruktionen hat sich immer wieder gezeigt, wie die hybriden Identitätsfiktionen der Erzählerinnen und Erzähler mit den in Bewegung geratenen Räumen verbunden sind. Denn die Räume konterkarieren oder bestätigen die Dissoziationen oder Selbstbemächtigungsbestrebungen der Figuren. Die spatialen Konstruktionen wirken so auch auf ein Moment zurück, das in den Romanen immer wichtiger zu werden scheint: die selbstreflexive Funktion des Schreibens und der Literatur. Analog zu den chronologischen Konstruktionen wird deutlich, dass auch die scheinbar so stabilen Räume als diskursive Konstrukte enttarnt werden können, so dass das Schreiben und die Sprache selbst als Orte der Zuflucht und der „Heimat“ imaginiert werden. <?page no="187"?> Die Beur-Generationen 185 2.4 Identitätskonstruktionen als ‚Dritte’: „Détaché, je parlais de moi à la troisième personne.“ 717 In den vorangegangenen Analysen der Zeit- und Raumgestaltung ist aufgefallen, dass sich diese Ebenen nur zu heuristischen Zwecken voneinander trennen lassen. Denn die Raum-Zeit-Konstruktionen, also die Chronotopoi, sind in den Romanen immanent aufeinander bezogen und darüber hinaus vor dem Hintergrund der (hybriden) Selbstkonstruktionen und -entwürfe zu verstehen. Die Chronotopoi, die in Passagen und Bewegungen durch unterschiedliche Räume sowie durch Übereinanderlagerung und Durchdringung unterschiedlicher Zeit- und Raumebenen literarisch gestaltet werden, sind ferner in direkter Beziehung zu den prozessualen Selbstkonstruktionen und den Überschreibungen unterschiedlicher Identitätsfiktionen zu verstehen. Das zentrale Merkmal ist dabei der Aspekt der diskursiven Gestaltung: Da die Erzählung einer stabilen und homogenen Identität nicht mehr möglich zu sein scheint, bestehen die Selbstentwürfe der literarischen Figuren aus immer wieder neu zu schreibenden Doppelgängern und Spiegelbildern sowie narzisstischen Figuren. Hinzu tritt die Verunsicherung der trennscharfen Scheidung von Realität und Fiktion, die sich gleichermaßen auf die chronotopischen Gestaltungen der Lebenswelten in der literarischen Diegese bezieht, wie auf die Funktionsweisen der Massenmedien und schließlich auf die Schrift selbst. Schrift und mediale Repräsentationen werden im Zuge dessen als Simulakren entlarvt und schließlich auf der Ebene der literarischen Gattung neben Gattungsmontagen auch das autobiographische Schreiben bis zur Autofiktion geführt. In den nun folgenden Analysen werden signifikante Chronotopoi der Romane analysiert, um im Anschluss die Selbstentwürfe der Beur-Erzählerinnen und -Erzähler anhand der Problematik der Selbstbezeichnung zu untersuchen. Die bewusste Identitätskonstruktion in der Schrift und im Schreiben bildet den Fluchtpunkt der folgenden Analysen. Die chronologischen und topologischen Analysen haben bisher zu heuristischen Zwecken getrennt, was miteinander verbunden ist: die Raum- und Zeitdimension der Lebenswelten, in denen sich die literarischen Figuren bewegen und die diese prägen. Die Beschreibung der banlieue bei Mounsi bspw., und dies sei hier anhand einer Romanpassage dieses Textes exemplarisch vorgeführt, ist ein Raum, der stets Zeitstrukturen schon in sich trägt, wie vice-versa auch die Zeit- und Geschichtskonstruktionen räumliche Züge haben. So sind bspw. die Geräusche und Gerüche, die diese banlieue verströmt, bereits vom Tod gekennzeichnet („le souffle de la mort“ 718 ), und auch das Leben der Menschen erscheint eingefroren - wie die Autowracks in der banlieue, irgendwo geparkt, unbeweglich und gestrandet. 719 Sie wirken 717 Smaïl 2001, S. 31. 718 Mounsi 2003, S. 18. 719 Vgl. ebd. <?page no="188"?> Die Beur-Generationen 186 auf den Protagonisten wie Geister und besiegte Soldaten, die allerdings als koloniale Akteure beschrieben werden: „Toute la légion étrangère de la solitude, les Italiens, les Chinois, les Français, les Turcs, les cosaques et les autres, les conquérants du nouveau monde.“ 720 Die banlieue, jene veritable Bannmeile, die die Menschen nicht nur vom Leben fernhält, sondern sie auch in dem Zustand der Erstarrung festhält, bestimmt das Leben der Menschen und ihre Zeit: Nous étions une ligne de démarcation imaginaire, un équateur sur la circonférence du monde. Les géographes parlaient de nous de temps à autre, en haut lieu, mais en vérité ils nous oubliaient comme des navigateurs perdus en pleine mer. […] Les yeux fixés sur l’horizon mouvant du temps, la vie passera sur nous, à travers nous, comme du vent. De l’aube à la nuit, nous demeurerons là, hors de vous, à l’autre bout de la solitude, au pays des hommes sans race, sans nom, à l’ombre des murs de la ville de métal et de ciment, là où tout a commencé. 721 Die Menschen werden hier selbst zur Demarkationslinie, die ihre Lebensorte in der Peripherie vom Zentrum trennt. Die Marginalisierung wird räumlich metaphorisiert. Sie halten den Blick auf den unerreichbaren Horizont, der durch die Zeit dahintreibt. Mounsis Erzähler Tarik beschreibt, dass die banlieue-Bewohner mit diesen Trenn- und Scheidelinien derart verbunden bzw. identifiziert sind, dass sie nicht das Leben leben, sondern dass das Leben und die Zeit durch sie hindurchweht. So harren sie aus an einem Ort ohne Leben, ohne Name oder „Rasse“ (und damit auch ohne Genealogie oder Geschichte). Im Gefängnis fallen Ort und Zeiten zusammen, denn die Vergangenheit ist in den Raum eingeschrieben. Tarik beschreibt in seiner Isolation, wie die Zelle immer noch das Leben, die Gedanken und Träume dessen gespeichert hat, der vor ihm in dieser Zelle inhaftiert war. 722 Ähnlich wie in der elterlichen Wohnung von Boulouques Protagonistin Violaine, in der noch die Geräusche des Großvaters gespeichert sind, haben auch die Gefängniszellen andere Zeiten und andere Leben aufbewahrt. Auf den Zellenwänden befinden sich palimpsestartig auch Zeichen und Zeichnungen der Inhaftierten, die sich dort über die Zeit angesammelt und übereinandergelagert haben. Der Erzähler glaubt, die Mauern haben das Leben und die Träume der Jugendlichen geradezu absorbiert. 723 Und das Gefängnis selbst verändert die Zeit: „Les jours prenaient d’autres dimensions. Ils n’étaient plus qu’un état d’intemporalité mécanique suggéré par le tic-tac dérisoire de milliers d’horloges dont aucune n’indiquait l’heure. J’écoutais le silence.“ 724 720 Ebd., S. 19. 721 Ebd., S. 21. 722 Vgl. ebd., S. 112f. 723 Vgl. ebd., S. 114. 724 Ebd., S. 118. Auch im Gefängnis aber holt ihn seine Vergangenheit und die Orte seines Lebenswegs wieder ein: „Des ruelles grises de la banlieue aux cellules de Savigny, ma vie me poursuivait.“ Ebd., S. 189. <?page no="189"?> Die Beur-Generationen 187 Wie bereits deutlich wurde, spannen die Protagonisten und Protagonistinnen durch ihre Bewegungen und Fluchten urbane, nationale, und häusliche Räume auf, in denen sie sich beschreiben können. Einer der klassischen Chronotopoi nach Bachtin stellt der Weg oder die Reise dar. 725 Alle hier untersuchten Protagonistinnen und Protagonisten sind auf der Suche und auf der Reise. Eine beispielhafte chronotopische Konstruktion ist jene, die sich bei Smaïl während der Fahrt im RER ins Zentrum von Paris ereignet, als Sid Ali sein Spiel mit den Passagieren spielt, indem er ihnen von der fingierten Immigrationsgeschichte seiner Eltern und schließlich von einem Massaker in seinem Heimatort erzählt. Während sich die Bahn den Stationen La Plaine und dem Stade-de-France nähert, in dem, so das vorangegangene Gespräch, sich die Beurs in der französischen Fußballmannschaft aufs Beste integrieren, erzählt Sid Ali von dem erlebten Massaker in seinem Heimatdorf, das er selbst erlebt hat. Die konträren Problematiken der Integration und der Kolonialgeschichte werden so parallelisiert und gleichermaßen als Phantasmen inszeniert. 726 Die Problematik der eindeutigen Verortung ist in den topologischen Analysen immer wieder als grundlegende Motivation der Beschreitung und Überschreitung von Grenzen und Grenzgebieten, von Zwischenräumen oder gar der Inszenierung als „apatride“ deutlich geworden. In diesem Zusammenhang formulieren einige Figuren sogar explizit den (als eigenartig empfundenen) Wunsch, eine Identität mit eigenen Wurzeln formulieren zu können. Jene Wurzel-Metaphorik taucht besonders eindrücklich, da sehr unterschiedlich formuliert und in dieser Reihenfolge ins Extrem funktionalisiert, bei Boulouque, Rahmani und Djaïdani auf. Boulouques Protagonistin Violaine ist auf der Suche nach einer Familiengenealogie (nach einem „Stammbaum“) und einer stabilisierenden Identifikation: „cet étrange besoin de racines, d’identité, d’arbre généalogique.“ 727 Der Titel Sujets libres transportiert jene vieldeutige (vermeintliche) Ungebundenheit der Protagonistin als junge Intellektuelle auf dem Arbeitsmarkt, im Bezug auf die zahllosen (und wahllosen) Sujets, mit denen sie sich beschäftigt und in der Erkenntnis, dass sie nicht frei von der Familiengeschichte sein kann. Die geschichtslose Harmonie, die ihre assimilierten Eltern ihr vermitteln, wird für Violaine zum zentralen Problem ihrer Identitätssuche: Sie sucht nach einem Halt in einer eigenen Geschichte bzw. einem Familiengedächtnis, nach Wurzeln und der Zugehörigkeit zu einer (religiösen) Gemeinschaft. Violaine wirft ihren Eltern die Ignoranz jener Geschichte vor - symbolisiert in dem Beruf der Mutter als Dermatologin. Die Mutter hat nicht nur die Sprache ihrer Kindheit vergessen, sondern will auch in ihrem Berufsleben nicht weiter als bis zur Hautoberfläche der Menschen dringen: 725 Vgl. Bachtin 1989, S. 192f. 726 Smaïl 2001, S. 37f. 727 Boulouque 2004, S. 56. <?page no="190"?> Die Beur-Generationen 188 Sa mère était forte en arabe, au lycée, avant de partir, lui avait confié son grandpère. Puis elle a sans doute oublié que al wujud, l’existence, signifiait aussi « ce que l’on trouve », comme l’expliquait Élie. La vie comme trouvaille, ce n’était plus celle de sa fille. Elle fuyait ses souvenirs, dans ses ordonnances. Une dermatologue qui voyait sans cesse des femmes à l’épiderme racorni par les UV. La mère de Violaine avait renoncé à aller au-delà de la peau. 728 Erst in New York erkennt Violaine, dass die Flucht der Eltern in die Gegenwart ihre Art ist, die Erinnerung weiterzugeben. Und dass eben jenes Schweigen die Generation ihrer Kinder eint, die - wie sie - sich eine eigene Erinnerung konstruieren. New York funktioniert, dies ist in den topologischen Analysen schon deutlich geworden, als Stadt der Spuren - auch des 11. Septembers 2001. Die US-amerikanische Metropole stellt eine alternative chronotopische Konstruktion dar, denn die Stadt ist kein neuer, dritter Ort, an dem Violaine Eindeutigkeit erfährt. Vielmehr ist New York durch „Lebenslinien“ im Sinne von „Fluchtlinien“ geprägt. Hierin liegt die Freiheit der Selbsterfindungen als „Sujets libres“: Si elle quitte un jour la France, ce sera dans cette ville qu’elle viendra. Non pas oublier, non, mais chercher une autre route. […] Elle n’avait jamais demandé à ses parents comment ils avaient choisi leur route, après l’Algérie, et pourquoi, comment redessiner et combler une vie de déracinés. Elle a simplement critiqué leurs rails, leur mutisme et leur myopies. Ils ont fui. Ils se sont fuis, peut-être, dans leurs présents, dans leurs plaisirs vite satisfaits. Elle aussi - dans le travail et les amours impossibles. Leurs paumes de main n’ont pas les mêmes sillons. Et pourtant. Les lignes de vies sont des lignes de fuite - il faudrait pouvoir porter le regard au loin pour qu’elles se rejoignent, ou fermer les yeux. Elle a demandé à d’autres fils et filles d’exilés si leurs parents ont la gorge nouée en évoquant le pays quitté, si cela les empêche de parler. Ils l’ont, souvent. Ils choisissent le silence pour transmettre la mémoire. Parmi leurs enfants, certains s’en privent, d’autres s’en moquent. Quelques-uns, enfin, l’inventent. Sujets libres. 729 Bei Rahmani wird das Problem der eigenen Wurzeln mit einer Baum-Metaphorik formuliert, die für das junge Mädchen sehr bedrohlich wirkt. Eines Tages verschluckt die Protagonistin einen Orangenkern. 730 Das Mädchen aber hat Angst, dass in ihrem Bauch nun eine Pflanze oder gar ein Orangenbaum wachsen wird. 731 Hier schwingt die Angst vor der Eindeutigkeit mit, die die Erzählerin ja im gesamten literarischen Text prägt und hier als ein wachsender Baum imaginiert wird, der im Inneren der Protagonistin wächst. 728 Ebd., S. 45. 729 Ebd., S. 157f. 730 Ebd., S. 63ff. Im Französischen hat das Wort „pépin“ im Französischen neben der Bedeutung „Kern“für Obst auch die Bedeutung „Schwierigkeiten, Problem“. 731 Vgl. Rahmani 2005, S. 64. <?page no="191"?> Die Beur-Generationen 189 Diese phantastische Art mit der Identitätsproblematik umzugehen wird bei Djaïdani humorvoll durch einen Traum ad absurdum geführt. Sein Migrationshintergrund ist für den Ich-Erzähler Kamel äußerst problematisch, was sich u.a. in einem symbolisch aufgeladenen Traum äußert. Hier träumt er von einem geheimen Garten ohne Wurzeln: Je me suis endormi en rêvant d’un jardin secret où il y avait pas de racines, rien que des branches, et pourtant ça poussait sans problème. C’était beau comme les jardins du paradis où les prophètes ils font la fête. Je sais pas trop analyser les rêves, mais toi, tu crois que c’est bon signe ? 732 Dieser Traum von Wurzelgeflechten, von Ästen, die sich wie Rhizome ausbreiten, überfordert den Erzähler - er kann seinen eigenen Traum trotz der Eindeutigkeit nicht dekodieren. Das Spiel mit der Wurzelmetaphorik, die ironisch gebrochen gerade nicht als symboltragendes, sondern als dem Protagonisten selbst fremdes Zeichen beschrieben wird, bezieht abermals die Leserschaft ein, die bei der Deutung des Traumes helfen soll. Die Suche nach Eindeutigkeit schlägt sich bei den Selbstbeschreibung in zwei weiteren Zusammenhängen nieder: erstens in der Namensgebung und zweitens in der Aufspaltung des literarischen Subjekts in Spiegelbilder bzw. die Vervielfachung in Doppelgängerfiguren. Der Name des Erzählers/ der Erzählerin spielt in allen Romanen für die literarischen Figuren eine wichtige Rolle, so dass sie sich explizit mit seiner Bedeutung, aber auch den Möglichkeiten der Benennung und der damit zusammenhängenden identitären Konstruierbarkeit auseinandersetzen. In ihrer geschlechtlichen und kulturellen Differenz wird etwa die Ich-Erzählerin bei Bouraoui durch den Vornamen und den (männlichen) Blick markiert. Ihr Vater nennt sie als Kind Brio, was für Yasmina für männliche Stärke steht, obwohl sie weder die Herkunft noch die Bedeutung dieses Namens kennt. 733 Auch ihr Nachname verweist auf den Vater, denn gerade die arabische Etymologie des Nachnamens Bouraoui ist der Protagonistin ein familiäres und patrilineares (Gefängnis-)System: „On est toujours le fils de avec Ben et le père de avec Bou. Des prisons familiales et masculines.“ 734 Die unausweichliche Bindung an Gender-Konstruktionen, d.h. die dezidiert macht- und gewaltvolle Komponente, wird so auch in der Namensgebung thematisiert. Ein wichtiges Moment in diesem Roman, das die Identitätskonstruktionen als Mädchen oder Junge vor dem Hintergrund Algeriens oder Frankreichs bestimmt, ist dabei das des Blicks 735 - Macht und Ohnmacht sind die Gefühle, die er bei der jungen Protagonistin auslöst. In Anwesenheit ihrer Mutter ist Yasmina in doppelter Weise den Blicken der 732 Ebd., S. 113. 733 Vgl. Bouraoui 2000, S. 24. 734 Ebd., S. 124. Brio bedeutet zudem im Französischen Brillanz und Eloquenz und spielt auf die Macht der Sprachbeherrschung an. 735 Der Blick ist in Bouraouis literarischem Werk generell ein zentrales Thema, vgl. besonders ihr Erstlingswerk Bouraoui 1991. <?page no="192"?> Die Beur-Generationen 190 Männer ausgesetzt: In der Begleitung ihrer Mutter wird sie zur Fremden, zur Französin; als Mädchen und heranwachsende junge Frau wird sie zum begehrten Objekt. Sie setzt sich zur Wehr, indem sie sich als Junge verkleidet, sich als Ahmed ausgibt und zunächst damit den Blicken widerstehen kann: Je prends un autre prénom, Ahmed. Je jette mes robes. Je coupe mes cheveux. Je me fais disparaître. J’intègre le pays des hommes. Je suis effrontée. Je soutiens leur regard. 736 Auffällig ist dabei, dass Yasmina damit gerade nicht das Ziel verfolgt, einen sichtbaren Platz der Anerkennung in jener männerdominierten Gesellschaft zu bekommen, sondern sich nur wünscht, unsichtbar zu werden: „Je veux être un homme. Et je sais pourquoi. [...] Être un homme en Algérie c’est devenir invisible.“ 737 Die Erzählerin stellt hier nicht nur den Konstruktcharakter von Geschlechterdifferenz und imaginierten, identitären Konstruktionen aus. Vielmehr betont sie im Weiteren die Koexistenz des Männlichen und Weiblichen - „Être un garçon, inventé, avec la grâce de sa fille [de son père, K.S.], qui existe.“ 738 - und damit die Unmöglichkeit der Essenzialisierung. Im Gegensatz zu konventionellen Minoritäten- und Marginalisierungspositionen bspw. aus dem postkolonialen Diskurs, in denen es ja gerade um das Hörbar- und Sichtbar-Machen der eigenen Position geht, erscheint die von Yasmina gewählte Strategie als ironisches Spiel. Und so überspitzt sie durch die eigenmächtige Inszenierung als Junge ihre scheinbar ohnmächtige und unsichtbare Position, denn sie benutzt ihren Namen für ein „perverses Kinderspiel“: Brio pour toute l’Algérie. Brio contre toute la France. Brio contre mon corps qui me fait de la peine. Brio contre la femme qui dit: Quelle jolie petite fille. Tu t’appelles comment ? Ahmed. Sa surprise. Mon défi. Sa gêne. Ma victoire. Je fais honte au monde entier. Je salis l’enfance. C’est un jeu pervers. C’est un jeu d’enfant. C’est une enfant perverse. 739 Als Brio wehrt sie sich gegen eine Zugehörigkeit zu Frankreich und gegen ihren eigenen Körper, der qualvolle Re-essenzialisierungen immer wieder zu fordern scheint. Ihre Identitätskonstruktion als Ahmed nutzt die junge Erzählerin gegen die Fremdzuschreibungen als erwachsene Frau. So kehrt Yasmina durch diese verbotene Perversion die machtvolle und die ohn- 736 Bouraoui 2000, S. 15. 737 Ebd., S. 37. 738 Ebd., S. 50. Dass die Konstruktionen sich nicht nur auf die Erzählerin selbst, sondern auch auf Algerien als Fiktion beziehen können, wird in Mes mauvaises pensées explizit benannt: „ma personnalité s’est formée à partir de ce langage,“ Bouraoui 2005, S. 10, und „je crois, Alger existe parce que j’y ai vécu, parce que je m’y suis laissée ; c’est moi qui fais Alger non l’inverse.“, ebd., S. 18. 739 Bouraoui 2000, S. 50f. Mit dieser „Flucht in die Perversion“ greift Bouraoui ein Thema auf, das in der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts immer wieder verhandelt und besonders seit Mitte der 1990er von französischen Schriftstellerinnen (wie bspw. Christine Angot) in unterschiedlicher Weise bearbeitet wird. <?page no="193"?> Die Beur-Generationen 191 mächtige, die erwachsene und die kindliche Position um. Durch diese Inszenierungen will sie verzweifelt und trotzig ihre eigene Eindeutigkeit herstellen, nicht als französisches Mädchen, sondern als algerischer Junge: „Non, je ne suis pas française. Je deviens algérien.“ 740 Und obwohl sie hier schon die männliche Form des Adjektivs benutzt, deutet das Verb „devenir“ darauf hin, dass die Protagonistin sich von einer essenzialisierten Identität (als französisches Mädchen) zwar abwenden, eine andere Identität (als algerischer Junge) aber nur anstreben und nie erreichen kann. Erneut macht die Erzählerin ihren Familiennamen, den sie in Frankreich allerdings vergessen soll, zum Ort der identitären Versicherung. Und die fiktiven Vornamen Ahmed und Brio muss sie hinter sich lassen, um ihrer Großmutter ‚als richtiges Mädchen’ zu gefallen und nicht länger ein ‚garçon manqué’, 741 also ein Mädchen, an dem ein Junge verloren gegangen ist, zu sein. [J’ai, K.S.] [r]ien de Rennes. Rien. Qu’un extrait de naissance. Que ma nationalité française. Faire oublier mon nom. Bouraoui. Le père du conteur. D’abou, le père, rawa, raconter. Étouffer Ahmed et Brio. Dissimuler. Ma grand-mère aime les vraies filles. 742 Diese Vereindeutigungsversuche kündigen sich schon in ihrem Namenswechsel in Frankreich an. In einer fingierten direkten Rede wenden sich französische Stimmen an Yasmina: Et toi? Qui es-tu vraiment? Française, algérienne? On préfère t’appeler Nina plutôt que Yasmina. Nina ça arrange. Ça fait espagnol ou italien. Comme ça on n’a pas à expliquer nos fréquentations. 743 Dennoch baut die Erzählerin eine enge emotionale Bindung zu ihrer Großmutter auf 744 und fühlt sich nach einer Weile sogar im Kreise ihrer französischen Familie wohl. Wieder nutzt die Protagonistin dann ihren Namen, um sich als französisches Mädchen zu inszenieren, und stellt sich nicht nun nicht mehr als Yasmina, sondern als Nina vor. 745 Hier werden die Dualismen Französin, Algerierin in eine dritte Benennung überführt: Der Name Nina erlaubt eine Deutung als Italienerin oder Spanierin. Die Möglichkeit, ihr eine europäische Mittelmeer-Identität zuzuweisen, die sie neokolonialer Diskriminierungen enthebt. Es tritt das Moment der identitären Prozessualität in den Vordergrund, denn damit betont sie das Moment der eigenen Befragung und Hinterfragung. Während die Protagonistin ihre Identität anfangs noch eindeutigen kulturellen oder geschlechtlichen Kategorien unterordnen will: „Tous les matins je vérifie mon identité. J’ai quatre problèmes. Française ? Algérienne ? Fille ? Garçon ? “, 746 hebt sie die gleichzeitige Bezug- 740 Ebd., S. 51. 741 Ebd., S. 64. 742 Ebd., S. 92. 743 Ebd., S. 123. 744 Vgl. bspw. ebd., S. 168. 745 Ebd., S. 174. 746 Bouraoui 2000, S. 163. <?page no="194"?> Die Beur-Generationen 192 nahme und das Gleiten von einer Identitätskonstruktion in die andere hervor: Je passe de Yasmina à Nina. De Nina à Ahmed. D’Ahmed à Brio. […] Je ne sais pas qui je suis. Une et multiple. Menteuse et vraie. Forte et fragile. Fille et garçon. [...] Mon corps me trahira un jour. Il sera formé. Il sera féminin. 747 Auch hier ermöglichen ihr die Übergänge von einer Identitätskonstruktion zur anderen, die sowohl national oder ethnisch als auch geschlechtlich kodiert ist, eine eigene Stimme zu formulieren. Allerdings kann diese Stimme - und dies wird ihr schmerzlich bewusst - in Algerien nicht ohne ihren geschlechtlichen Körper laut werden, der sie in eine eindeutige Weiblichkeit zwingt. Hier spielt die Erzählerin auf eine weitere ‚Passage’ an: nämlich den Übergang vom Mädchen zur Frau in der Phase der Pubertät als eine Art ‚rites de passage‘. Benennungen erscheinen auch in Rahmanis „Musulman“ roman problematisch, als die nicht zufällig namenlose Erzählerin auch orthographisch mit der Zuschreibung des „musulman“ konfrontiert wird. Mit „’Musulman’ tu es. C’est ton Nom“ 748 wird sie auf diese Identifikationsfigur festgelegt. In der Gefangenschaft wird sie verhört und abermals nach ihrem Namen, ihrer Herkunft und ihren Sprachkenntnissen befragt. Und so nennt die Erzählerin erst am Ende einen Namen: „- Votre nom? Je n’avais que des livres, des cartes et pas de papiers d’identité. - Votre nom ? J’ai dit, Elohim. - Ce n’est pas un nom d’ici ? - C’est mon nom. - Votre religion ? - Je n’en ai pas.“ 749 Elohim ist in der hebräischen Bibel der Begriff für „Gott“ - abermals wird im Text vorgeführt, wie sich die Erzählerin einer eindeutigen Zuordnung entzieht und gleichzeitig religiös verortet. Der Name Elohim weist dabei zusätzlich auf eine (über-)religiöse Zugehörigkeit hin (Elohim wird in den unterschiedlichen Religionen jeweils mit den entsprechenden Begriffen für „Gott“ übersetzt), und die Erzählerin verwehrt sich einer lokalen (hier durch den Soldaten geforderten) nationalen bzw. territorialen Zuordnung. 750 Bezeichnend erscheint auch der Vorname des Erzählers in Allah superstar, der durch die Kombination aus einem arabischen und einem französischen Vornamen nicht nur die Verbindung beider Kulturen vorführt, sondern sich als „Kamel Léon“, wie ja bereits ausgeführt wurde, seiner Umgebung und seiner Epoche anverwandeln kann. Das Wortspiel des Chamäleons ist bezeichnend für einen Jugendlichen, der in unterschiedlichen kulturellen Referenzrahmen lebt und diverse Bezugnahmen vornimmt; damit bezeichnet der Vorname die Art und Weise der Lebensgestaltung des jungen Manns. Die Figur des Chamäleons funktioniert dabei auf zwei Ebenen: Zum einen spielt 747 Ebd., S. 60. 748 Ebd., S. 44. 749 Ebd., S. 122. 750 Erst am Ende des Romans wird der Protagonistin (vermutlich von einem Soldaten) mitgeteilt, dass man ihren Namen herausgefunden habe: „J’avais donc un nom. Un nom. Depuis ce temps, j’attends qu’on me réclame.“ Ebd., S. 145. <?page no="195"?> Die Beur-Generationen 193 sie mit der aktuellen Angst vor islamistischen ‚Schläfern’, die unerkannt den Alltag mit ihren Mitmenschen teilen und plötzlich zu Terroristen werden - eine Thematik, die Kamel Léon ja in seinem Terroristensketch aufgreift. Zum anderen aber wird die Problematik der Integration und der Assimilation angesprochen. 751 Doch anhand der Figur Kamel Léons wird vorgeführt, dass jene absolute Assimilation ders Beurs, die differenzlos und ohne eine widerständige Distanz zu den angebotenen Identifikationsangeboten erscheinen, zum Scheitern verurteilt ist. Denn der Protagonist selbst bleibt farblos hinter den imitierten Vorbildern zurück, so dass sich hier keine Hybridität im Sinne identitärer Neukonstruktionen ergibt, sondern dass die Identifikationen nur in der absoluten Anpassung und in der Übernahme von Stereotypen beschrieben werden. Dass Kamels Freunde über den Sketch nicht lachen können, ist hierin begründet: Kamel zeigt keine ironische Distanzierung vom Stereotyp des Terroristen, so dass das komische Moment nicht entstehen kann - die Provokation bewirkt hier nicht Komik, sondern löst Abwehr aus. Der Tod des Protagonisten am Ende des Romans, bei dem sich Kamel bei einem Bühnensketch tatsächlich in die Luft sprengt, scheint die Unmöglichkeit eines solchen Verfahrens drastisch vorzuführen. Er beweist den gescheiterten Versuch, mittels des Stereotyps des islamistischen Jugendlichen in der mediengeprägten französischen Gesellschaft der Gegenwart erfolgreich zu sein. Der „Abspann“ am Ende des Romans, in dem realen Personen wie fiktiven Figuren gedankt wird, wirkt dabei auch wie eine Beschuldigung derer, die frankoarabischen Jugendlichen keinen Aufstieg ermöglichen. Ähnlich wie Kamel Léons Vorname in B.s Allah superstar für seine Art der kulturellen Anpassung steht, stellt auch der Name des Erzählers in Smaïls Ali le magnifique einen Ort der identitären Verhandlungen dar. Als der Erzähler seinen Vornamen erstmals im Roman vorstellt, verbindet er diesen mit dem Selbstbild des Individualisten, des ‚einsamen Cowboys’, führt aber auch seine Überhöhung als Prinz und Erhabener vor. Er imaginiert sich in einem Interview mit dem bekannten Journalisten Patrick Poivre d’Arvor (PPDA), beschreibt die Kameraschwenks und sein eigenes Bild, wie es aus einem solchen Fernsehinterview hervorgehen würde: J’irais me la jouer seul. Du reste, j’aimais vraiment me retrouver seul. Me retrouver. Moi, Sid Ali. L’homme noble et solitaire, le loup: exactement ce que je répondrais à PPDA s’il m’interrogeait sur le sens de ce double prénom que m’a donné mon père - « béni soit-il ! ». Quart de tour vers la caméra cadrée lumineux s’allume, on est en direct, droits les yeux embués de larmes dans l’objectif, modeste, sincère, pas tout à fait dupe - genre -, j’expliquerais au téléspectateur que 751 Michel Maffesoli spricht in seiner soziologischen Untersuchung der Integrationsstrategien Jugendlicher mit Migrationshintergrund gar von einer „attitude ‚caméléon’.“ Maffesoli nach Sghiri 1996, S. 80. <?page no="196"?> Die Beur-Generationen 194 Sid est un titre princier, en arabe, mais qu’il signifie aussi : le loup. Et Ali : le supérieur, le sublime. 752 Der Konstruktcharakter seiner eigenen Person wird von ihm gleichermaßen spielerisch und problematisch beschrieben. Erst nach über 400 Seiten taucht endlich der Nachname auf, der bisher nur mit der Initiale B. angegeben war: Benengeli. Denn zunächst stellt sich der Ich-Erzähler vor als: „Je suis Sid Ali B., le tueur aux sacs en plastique. À la fin du siècle dernier, cet hiver, mon nom a fait la une des quotidiens. Non, l’initiale de mon nom seulement - la loi l’exige : j’étais mineur au moment des faits. […] 753 Mit dem Namen Benengeli wird der Erzähler in eine spezifische literarische Tradition gestellt. Denn wie schon in Smaïls La passion selon moi ist im Zusammenhang mit der unsicheren Autorschaft ein Roman der Weltliteratur, Don Quijote, ein zentrales Thema. 754 Sid Ali sieht sich aber auch im Zusammenhang mit einer ganzen Generation, den Beurs. 755 Wiederum stellt er Bezüge zur aktuellen politischen Lage sowie zu sprachlichen Registern im Zusammenhang mit literarischen Traditionen des späten 19. Jahrhunderts und des Spätmittelalters her: À preuve : nous les jeunes beurs des cités, la génération Mitterrand, du premier aussi bien que du second septennat, nous employons, dans ce domaine, l’argot des Apaches des fortifs, du temps de Zola ! Que dis-je ? le jargon des Coquillards 752 Smaïl 2001, S. 30. 753 Ebd., S. 15f. Als Sid Ali den ersten Klienten als Prostituierter hat, nutzt er nicht nur das Stereotyp des Beur/ Rebeu aus, sondern beschreibt, wie irreal die Szene sein kann, wenn man sich das Ganze als Film vorstellt, in dem ein anderer spielt: „Tu l’as déjà vécu. Tu as le feuilleton, à la place. C’est toi et ce n’est pas toi. C’est ton double. C’est ta doublure lumière qui joue. Tu fais ton cinoche. Tu es le méchant rebeu vrai des banlieues sensibles qui pratique en étoile filante.“ Ebd., S. 73. 754 Vgl. Smaïl 1999 und 2001, S. 325. 755 „Oh ! dis donc, t’a vu ce qui se passe ? / Je veux le feuilleton à la place ! “ zitiert Sid Ali eine seiner Lieblingsband Bashung und unterstreicht so, dass er dem medial vermittelten Stereotyp des banlieue-Bewohners gegenüber den Psychiatern so leicht entsprechen kann, ebd., S. 61(Hervorhebungen im Original). Sid Ali ist sich bewusst, dass er auch den Psychiatern eine Rolle vorspielen, damit ihre Erwartungen erfüllen und damit sich selbst seine Intelligenz beweisen kann: „J’aurais pu aussi la lui jouer jeune exité d’un quartier sensible, en rajouter: articuler rap, chaque mot hoqueté, déhanchement hip hop, verlan et le toutim… Le one man show.[…] Mais non: la plupart du temps, devant les psys je m’abstenais de faire l’ouf. Pas si fou ! “Ebd., S. 51. Seine Sprachgewandtheit stellt er besonders gegenüber der neuen Lehrerin Christelle Genou unter Beweis, die die getötete Mme Rénal in Sid Alis Augen nicht ersetzen kann, da sie ihr weit unterlegen ist - autoritär und intellektuell. So beweist er ihr, dass er etliche sprachliche Register beherrscht, auch den „accent beur“, von denen sie selbst nur die Variante im Standardfranzösisch versteht. Vgl. ebd., S. 448f. Seine Existenz als Immigrantensohn beschreibt Sid Ali als Behinderung im pathologischen Sinne, als genetische Krankheit, mit der er geschlagen ist: „- Handicapé de naissance? - Ben ouais. Fils d’immigrés algériens, si ce n’est pas un handicap de naissance, qu’est-ce que c’est? C’est notre mucoviscidose à nous, de ne pas avoir les gènes de souche ! “ Ebd., S. 392. <?page no="197"?> Die Beur-Generationen 195 de la bande à François Villon - un pote à nous, un poète, un vrai, et qui avait des claouis. 756 Die Einbindung in eine Gruppe, die Solidarisierung der Schriftsteller mit ihm und seinen Freunden spielt eine wichtige Rolle in den Selbstbeschreibungen des jungen Beur. Diese Freunde spielen in der Formulierung der Selbstentwürfe als Doppelgänger und Spiegelbilder eine wichtige Rolle - wie das konkrete Spiegelbild selbst. Die Rolle des Doppelgängers spielt ja bei Bouraoui eine wichtige Rolle, in deren Roman Garçon manqué die Erzählerin programmatisch ihr doppeltes 757 und zerbrochenes Leben beschreibt („l’identité se fait. Elle est double et brisée.“ 758 ). Eine sehr enge emotionale Bindung hat die Ich-Erzählerin zur ihrem Freund Amine, der als Figur den Rahmen des Romans bildet und dessen schweigende complicité ihr steter Begleiter ist. Amine dient der Erzählerin damit nicht nur in der Paarkonstellation als Entsprechung zu ihrem ‚doppelten Sein’, als Spiegelbild und Verdoppelung gleichermaßen („Deux bâtards sur la plage. Deux métis. Amine et moi. Moi et Amine. Attirés l’un par l’autre. Assis côte à côte.“ 759 ). Sie versucht ihn auch in einer vermeintlichen Eindeutigkeit als identitären Gegenentwurf zu stilisieren: Seine kulturelle, nationale und geschlechtliche Identität ermöglicht ihm, so glaubt die Erzählerin, die Etablierung einer singulären Verortung, die kulturelle Einflüsse in einer kultuellen Synthese verbindet: „Kabyle rassemblera tes deux origines. Kabyle formera l’identité. Être unique.“ 760 Doch diese Einheit wird gleichzeitig idealisiert und damit als Fiktion markiert, denn der Kabyle ist wiederum eine prekäre Identitätskonstruktion im arabischen Algerien. Jedoch strebt die Erzählerin jenes „être unique“ an, so dass sie sich ihrem Freund anzugleichen versucht. Dabei will sie diese Eindeutigkeit nicht in erster Linie durch das Spiel mit kultureller bzw. nationaler Differenz erreichen, sondern im Hinblick auf ihre Geschlechterdifferenz. Allerdings gefährdet gerade ihr Spiel, sich als Junge auszugeben, die Freundschaft zu Amine: Die angestrebte Aufhebung der Differenz führt zu einer Bedrohung der Beziehung und nicht zu einer harmonischen Einheit. Denn zum einen gleicht sich die Erzählerin ihm so stark an („je deviens son double“ 761 ), dass sie sich zu verlieren droht. Zum anderen befürchtet die Mutter von Amine, ihr Sohn könne durch den Umgang mit der Protagonistin homosexuell werden. 762 Die Unmöglichkeit ihrer Verbindung wird auch durch die paradoxale Wendung ausgedrückt, in der das Mädchen zur Schwester eines Einzelkin- 756 Smaïl 2001, S. 234. 757 Vgl. zum Doppelungskonzept in der feministischen Literaturwissenschaft Gutenberg 1999, bes. S. 260f. 758 Bouraoui 2000, S. 29. 759 Ebd., S. 29f. 760 Ebd., S. 57. 761 Ebd., S. 18. 762 Vgl. Bouraoui 2000, S. 61. <?page no="198"?> Die Beur-Generationen 196 des werden möchte: „Tu es fils unique. Je deviens ta sœur.“ 763 Dieses Paradox, das immer wieder in verschiedenen Variationen auftaucht, 764 spiegelt die permanente und simultane Auflösungs- und Essenzialisierungsbewegung wider, die die Erzählerin nachvollziehen muss. Doppelgänger und gleichzeitige Empfindungen der Spaltung und Dissoziierung treiben den jungen Tarik in Mounsis La noce des fous um. Sein Selbstbild wird anhand von Spiegelbildern entworfen, die nicht nur die Selbstdistanzierung und die Doppelungen bedeuten, sondern auch eine narzisstische Figur entwerfen. Bereits der Titel weist auf die unglücklichen Verbindungen in den Paarkonstellationen hin - zeigt aber auch die verhängnisvolle Orgie an, bei der Bako den Gastgeber tötet, bezeichnet la noce doch auch als Begriff der libertinage ein exzessives Fest. Bako bezeichnet der Erzähler gar als seinen Doppelgänger und greift dafür auf die mythische Figur des Narziss zurück. 765 Während er seine Rollenspiele und seine unbeschwerte Art an ihm so schätzt, teilen sie sich das Schicksal, keine Eltern mehr zu haben, besuchen oftmals die gleichen Schulen. Auch der mordlüsterne Malou, den Tarik nach seinem Gefängnisaufenthalt kennen lernt, ist eine Art Doppelgänger des Protagonisten, der über zwei Gesichter verfügt und dessen Bosheit auch mit der Tariks identisch ist. 766 Eine Verschmelzung gelingt dem Protagonisten nur mit seiner älteren Geliebten Lise. Ihre Körper und Seelen formen schließlich eine Einheit, 767 die dennoch durch die Vergangenheit Tariks bedroht ist und schließlich zerstört wird, als dieser die Wahrheit über sich selbst erzählen soll. 768 Es ist diese Verbindung, die ihn zerstört: „Je m’étais accroché à elle pour essayer de me retrouver moi-même, mais je ne crois que je m’étais perdu depuis trop longtemps.“ 769 Das Prinzip des Spiegelbilds scheint Tariks Leben zu prägen, denn es stellt ihn gleichzeitig als Betrachter und Betrachteten dar. Es ist ein Trugbild, dem der Jugendliche zwar nicht trauen kann, auf das er dennoch angewiesen ist. Darüber hinaus stellt der Spiegel eine Doppelung her, die in den einzelnen Episoden in den Freundschaften zu unterschiedlichen jungen Männern immer wieder aufscheint. Nach dem Mord an dem überfallenen Gastgeber beschreibt sich der Erzähler sehr eindrücklich mithilfe seines Spiegelbildes: Près de la cheminée surmontée d’un immense miroir, [...] je vis mon visage pétrifé de terreur. Le froid envahissait mon dos, mes reins. [...] Mon regard rencontra celui du mort, aux paupières rouges, bleues et froides, qui me fixait des yeux de poisson à travers un liquide visqueux. 770 763 Ebd., S. 54. 764 Bspw. „Je voyage à l’intérieur de moi. Je cours, immobile.“ Ebd., S. 20. 765 Vgl. Mounsi 2003, S. 88. 766 Vgl. Mounsi 2003, S. 165. 767 Vgl. ebd., S. 190f. 768 Vgl. ebd., S. 201ff. 769 Ebd., S. 203. 770 Ebd., S. 89. <?page no="199"?> Die Beur-Generationen 197 Der Beginn des Gefängnisaufenthaltes von Tarik ist dann durch ein Spiegelbild gekennzeichnet, das nicht mehr nur zwei Bilder, sondern eine Verfielfachung seiner selbst zeigt. Im Laufe der vorangehenden Gerichtsverhandlung diagnostiziert ein Psychiater bei Tarik dementsprechend auch Schizophrenie, Neurose und krankhafte Einbildung: Tarik Hadjadj est d’une intelligence inférieure à la moyenne. Il montre de nombreux signes de confusion mentale et de désorientation affective. Il n’a aucune vision objective du réel et se réfugie dans le rêve. Son comportement peut être expliqué par des signes d’anomalie émotive dus à sa déficience dans la structuration perspective, qui lui fait perdre le sens du bien et du mal, une perte de mémoire, une période d’amnésie où il peut commettre un acte irréparable sans songer aux conséquences. […] Il est, mesdames et messieurs, l’image exemplaire de ce que l’on nomme en psychiatrie un désordre caractériel. 771 Der Spiegel im Gefängnis ist zerbrochen, so dass sich die Diagnose des Psychiaters, der Tarik ja für schizophren hält, zu bestätigen scheint, denn in vielfacher Reflexion kommt ihm sein Spiegelbild entgegen: „Face au miroir cassé, je me regardais comme à des milliers de lieues de moi. À la longue, les lieux déteignent sur vous.“ 772 So funktioniert das Spiegelbild nicht mehr als Selbstversicherung, zeigt es doch bildlich auch die Distanzierung und Vervielfachung seiner selbst. Tarik geht noch weiter als nur von einem „désordre caractériel“ zu erzählen; er beschreibt seine eigene Dissoziierung: Pendant ces moments, je me sentais séparé de moi-même. Un moi participait à ses extrêmes violences, un autre les observait. […] Une sorte de dissociation s’établissait entre mes actes, ma pensée et mes sensations. Je suis rarement arrivé à former un tout. J’étais voué à ma propre rupture. 773 In dem Moment des Verrats an seinen Freunden, der in einer Prolepse vorweggenommen wird, tritt etwas Böses, das in Tarik steckt, zu Tage. Sein Egoismus dient nicht mehr dem bloßen Überleben und beweist die Möglichkeit, sich selbst zu imaginieren, sondern schafft auch eine Spaltung und ein Zerbrechen. Er degradiert sich zu einer Art Antiheld, dessen Imagination nur dem Vergessen dient und dem ein Spiegel ein feiges Abbild zurückwirft. 774 Im Gegensatz zu dieser Feigheit zeichnet sich Smaïls Protagonist Sid Ali durch Souveränität aus. Seine Selbstinszenierungen als Dandy und Narziss, seine sprachliche und intellektuelle Überlegenheit über viele seiner Mitmenschen und vor allem über seine Psychiater demonstriert er immer wieder. Die zahlreichen Diagnosen der Therapeuten, die dem Erzähler nicht nur einen Fabulierwahn, sondern auch Ich-Spaltungen bescheinigen, beunruhigen den Protagonisten weniger als die Vorstellung, die Kontrolle zu verlieren. Dies drückt sich besonders durch seine Angst aus, erneut einen epilepti- 771 Ebd., S. 129. 772 Ebd., S. 133. 773 Ebd., S. 164. 774 Vgl. ebd., S. 106. <?page no="200"?> Die Beur-Generationen 198 schen Anfall zu erleiden. Sid Ali verliert damit die Souveränität über seine Erzählung: „Détaché, je parlais de moi à la troisième personne.“ 775 Wie in Mounsis Roman gibt es auch in diesem Text ein Doppel zweier jugendlicher Beurs, Sid Ali und Rabah, die sich als Spiegelbilder dienen. Ihre Freundschaft intensiviert sich durch die gemeinsame Prostitution („de pratiquer en double“ 776 ) bis zur Ununterscheidbarkeit, denn sobald Sid Ali nicht mehr von sich selbst erzählt und in den Modus des gemeinsamen „wir“ umschwenkt, droht er sich unweigerlich in der Verbindung aufzulösen: Nous éprouvions notre amitié. Nous étions interchangeables, nous étions pareils. Et souvent, par jeu, durant ces parties en double, nous échangions nos pseudos : j’étais Abdelali, il était Abdelhaq. Le halouf, un peu plus troublé encore, s’y perdait : Qui est qui ? 777 Diese Ähnlichkeit mündet schließlich in der zeugmatischen Wendung, die das Spiegelverhältnis der beiden in der Sprache und im Verlan ausdrückt: „Rabah et oim, moi et Rabah.“ 778 Doch die beiden jungen Männer dienen sich nicht nur gegenseitig als Spiegelbild, sondern sind auch von ihrem Bild im Spiegel fasziniert. Das tatsächliche Spiegelbild lässt nämlich die Frage aufkommen, wer Sid Ali eigentlich ist: Rabah poussait du pied la porte, sur laquelle était vissée un grand miroir où se voir en pied : l’image reflétée des deux bouffons, leurs draps de bains arrangés sur eux en toges, basculait, tremblait un instant, de biais, dans la perspective de la piaule, s’immobilisait. Laissant tomber nos toges, nous tenant par l’épaule, nous allions, nus comme des vers, nous planter devant la glace, de face. Rabah, par jeu, s’écriait sur ce ton agressif, querelleur, de qui cherche une méchante marave avec un inconnu qui l’aurait offensé d’un regard trop appuyé, d’un geste jugé déplacé, d’un soupir excessif sur son passage, ou pour ne pas lui avoir laissé assez vite le haut du trottoir. - Qui t’es toi ? Qui t’es toi ? hein ! Qui t’es ? S’adressait-il à lui ou à moi ? Va savoir ! 779 Es ist nicht nur das Spiegelbild, sondern gerade der Blick der anderen, der Sid Alis Existenz bestätigt bzw. erst ermöglicht oder aber die Identifizierung mit einer literarischen Figur: Et j’irai maintenant jusqu’au bout de la nuit comme on va jusqu’au bout du livre qui passionne. Il faudrait éteindre...Tu devrais... Oui mais non ! Hébété de sommeil, comme halluciné par la page imprimée, tu continues de lire cependant. Et vient un moment vertigineux où il te semble que tu as quitté le monde sensible, à trois dimensions, qui t’entoure, pour pénétrer dans la dimension suivante : la fiction. […] C’est ainsi qu’un jour, au petit jour, après une nuit blanche passée à lire 775 Ebd., S. 31. 776 Ebd., S. 161. 777 Ebd., S. 162. 778 Ebd., S. 209. 779 Ebd., S. 164. <?page no="201"?> Die Beur-Generationen 199 Le Rouge et le Noir, je me suis retrouvé dans la peau de Julien Sorel, mon illustre prédécesseur, mon pote, mon frère. Oit et oim, Julien […] 780 Diese Passage beschreibt das Hinübergleiten des Protagonisten in die literarische Figur des Julien: Wieder taucht die Selbstspiegelung innerhalb einer Paarkonstellation auf, die nicht mehr (nur) mittels der Freunde aus Sid Alis Realität angelegt ist (bspw. Rabah), sondern auch in den imaginären Welten der Literatur. Sid Ali beginnt Maupassants Le Horla zu lesen, in dessen Figur er sich ebenfalls wiedererkennt: „C’est tout moi. Le Horla. C’est génial. C’est mon histoire.“ 781 Doch Sid Ali geht in der Beschreibung von Mme Rénal so weit, sie nicht nur in die Tradition eines weiteren wichtigen Intertextes zu stellen, Stendhals Roman Le Rouge et le Noir, sondern sogar sie als Romanfigur seiner Erinnerungen zu inszenieren und damit zu fiktionalisieren. 782 Schließlich verschmelzen Sid Ali und die literarische Figur in einem Namen: „Je suis Sid Julien Ali“. 783 Die Vorstellung ein anderer zu sein, bzw. in unterschiedliche Personen zu zerfallen, beschreibt Sid Ali leitmotivartig anhand des berühmten Diktums „Je est un autre“ von Rimbaud. 784 Gleichzeitig will der Protagonist aber auch wie alle anderen sein. So betont er in einem Gespräch mit einem seiner Psychiater: J’avais ma personnalité, soit, mais je me voulais comme les autres. Je répétais obstinément : - Je suis comme un autre. Cela pouvait s’entendre de deux manières : je suis semblable à n’importe qui, pas plus anormal qu’un autre. Ou : lorsque je fais le mal, j’ai le sentiment que je ne suis plus moi-même. Je suis hors de moi. Je ne suis plus le vrai Sid Ali. Je ne me reconnais plus. Ce n’est pas moi. Je est un autre. 785 Die Selbstinszenierungen - durch Spiegelungen oder Selbsterzählungen - treten im Roman zunehmend in den Vordergrund. Sid Ali beschreibt einige Erfahrungen mit diversen Psychiatern: deren mehr oder weniger suggestive Fragen, ihre Durchschaubarkeit und Naivität in den Augen des Ich-Erzählers. Paradigmatisch erscheint dabei die Passage, in der ein Psychiater die Verhaltensweisen und besonders die Kleidung seines Beur-Patienten nicht psychologisch zu erklären, sondern zu kulturalisieren versucht. Für seinen Therapeuten steht die weiße Kleidung Sid Alis nämlich für das Begehren der weißen Hautfarbe und für eine Gegenreaktion auf rassistische Diskriminierungen. Als Gegenreaktion bietet der Erzähler seinen Ärzten andere Erklärungen, die zwar auch nicht dessen wahrer Intention entsprechen, aber jene Kulturalisierungsstrategien konterkarieren - und nebenbei auch Sid Alis 780 Ebd., S. 533f. 781 Ebd., S. 91. 782 Vgl. ebd., S. 343. 783 Ebd., S. 350. 784 Vgl. bspw. ebd., S. 40. 785 Ebd., S. 54. Hervorhebungen im Original. <?page no="202"?> Die Beur-Generationen 200 hybride Souveränität demonstrieren: „la couleur du deuil pour un musulman est, pour un Occidental, celle de l’innocence: je joue sur les deux tableaux, à tous les coups je gagne“. 786 Sid Ali führt aber mehr noch die Beliebigkeit von Diagnosen und Bestimmungen des Selbst durch den anderen (hier: durch den Therapeuten) vor Augen, indem er die kulturalisierende Deutung des Arztes entlarvt und in eine konsumistische überführt: En Hanes, en Helly Hansen, en Sergio Tacchini, je serais en deuil, en somme. Je porterais mon propre deuil: je serais en deuil de moi. Une explication qui en valait une autre. Une explication comme une autre. Aucune importance, entre nous soit dit. N’importe quoi. De la daube. Que tchi itou! Autrement dit: on s’en fout. 787 Später dissoziiert sich Sid Ali in drei Personen gemäß dem Freud’schen psychoanalytischen Modell und beweist, dass er sich fachlicher Termini souverän bedienen kann: „Et maintenant, dirigeons-nous trois, mon moi, mon ça, mon surmoi […]“. 788 Diese Diagnosen sind mit einem erhöhten Bewusstsein für die Deutungsmacht und die spielerische Beherrschbarkeit der Sprache verknüpft. So kommentiert Sid Ali eine der Notizen über seinen Fall im Dossier eines Psychologen: Phobique, était noté dans mon dossier. Faux bique ! Faux bicot, mais vrai génie méconnu. Une propension pathologique à jouer avec les mots, était également noté. Ah ouais ! À jouer avec les mots, à jouer sur les mots. Phobique ta mère ! Enculés ! 789 Sprache und Erzählungen spielen also eine zentrale Rolle, wie sie sich auch in den Diagnosen widerspiegeln: „Eh ouais : il n’était pas seulement dit de moi dans le dossier intitulé Le Cas Sid Ali B.: fabulateur, simulateur, manipulateur, phobique…On pouvait y lire aussi que j’étais un obsessionnel. Tu l’as dit tu l’as ! le psy mégalomane, graphomane et enculé.“ 790 Hier wird dezidiert die Relevanz der Selbsterzählungen, aber auch der Selbstinszenierungen in der Schrift beschrieben. In den oben analysierten exemplarischen Passagen wird eines deutlich: Die Erzählerinnen und Erzähler reflektieren explizit den konstruierten, diskursiven Charakter ihrer Selbstbilder, die nicht nur durch Spiegelungen oder im Wechselspiel mit Doppelgängern entstehen, sondern eben auch auf der Ebene der Sprache und der Schrift. Die literarischen Figuren werden nicht nur in sich überlagernden Zeitebenen und Raumkonstruktionen formuliert, sondern entstehen auch in vielfältigen Überschreibungen des Subjekts: Überschreibungen der französischen und ‚arabischen’ Sprache, polizeilicher Protokolle, von Presseberichten und eigenen Notizen. 786 Ebd., S. 459. 787 Ebd., S. 49. 788 Ebd., S. 552. 789 Ebd., S. 226. Hervorhebungen im Original. 790 Ebd., S. 521. Hervorhebungen im Original. <?page no="203"?> Die Beur-Generationen 201 Die Verdoppelungen und die Zerbrochenheit der Protagonistin von Bouraoui schlagen sich nicht nur im geschlechtlichen Körper, sondern auch im Sprechen der arabischen bzw. französischen Sprache nieder. In Frankreich passt sich die Erzählerin sehr schnell der Sprache an und vergisst Algerien. Dennoch bricht das Arabische, das für sie emotional stark konnotiert ist, immer wieder in ihre Empfindungen ein: Ici j’oublie l’Algérie. Ses hommes. Sa chaleur. La couleur de la mer. C’est une forme de trahison. […] Ici je me laisse aller. Vers mon côté français. Vers ce sujet. Que je ne maîtrise pas. Vers ce mensonge. Qui je suis vraiment ? Vers cet accent pointu. Vers cette langue française. Ma langue maternelle. Je parle en français. Uniquement. Je rêve en français. Uniquement. J’écrirai en français. Uniquement. La langue arabe est un son, un chant, une voix. Que je retiens. Que je sens. Mais que je ne sais pas. La langue arabe est une émotion. C’est Faïrouz et Abdel Wahab. C’est cet autre que j’abrite. C’est ma petite blessure. L’Algérie n’est pas dans ma langue. Elle est dans mon corps. L’Algérie n’est pas dans mes mots. Elle est à l’intérieur de moi. 791 Die Erzählerin löst sich von den algerischen Erinnerungen und Einflüssen, an denen sie durch das Vergessen regelrecht Verrat übt. Sie wendet sich ihrer französischen Seite, der französischen Sprache zu, die sie doch als Lüge bezeichnet. Yasmina zielt auf dieses ‚sujet’, was sowohl für Thematik als auch für Subjekt stehen kann. Auch hier befindet sie sich also in der Bewegung auf eine Identifikation zu, ohne ihrer habhaft zu werden oder sie beherrschen zu können. Jene französische ‚Muttersprache’ will Yasmina nun erreichen: Sie betont verbissen, dass sie fortan ausschließlich in französischer Sprache spricht, träumt, schreibt. Und dennoch: Die arabische Sprache schleicht sich in ihren Text ein, sie taucht als Emotion, als Musik auf. Sie stellt das Andere dar, das die Erzählerin in sich beherbergt. Die Sprache hat bei Rahmani unterschiedliche Funktionen inne: Sie kann das Andere symbolisieren, sie kann als Schutzraum oder Exil identifizierend wirken, sie kann Bindung an Kollektive (bspw. in ihrer Oralität oder ihrer „Unsterblichkeit“) bedeuten, aber auch Projektionsfläche für individuelle Selbstinszenierungen sein. „À l’époque, j’étais convaincue d’être autre chose et que de cette autre chose mes papiers ne tenaient pas compte. Il me fallait chercher. Dans ma langue je décidai de m’enfoncer.“ 792 In Rahmanis « Musulman » roman stellt die Sprache den Raum dar, in dem sich die Protagonistin zu verorten, in dem sie sich zu formulieren versuchen. Zentrale Aspekte wie der eigene Name und die Fremdbezeichnung als „musulman“ und die Positionierung zu einer Gemeinschaft, der Familie und einer Geschichte verweisen auf die Problematik der Alterität. Die Ich-Erzählerin beschreibt sich als ausgeschlossen und einsam, schlicht ein Gefühl des „être autre chose“. Sie thematisiert immer wieder, dass sie sich zuordnen muss 791 Bouraoui 2000, S. 167. Faïrouz ist eine libanesische Sängerin, Abdel Wahab Musiker und Sänger aus Ägypten. 792 Rahmani 2005, S. 86. <?page no="204"?> Die Beur-Generationen 202 oder zugeordnet wird - zu einer Nation, einem Land, einer religiösen Gemeinschaft. Ihre Inklusions- und Exklusionserfahrungen sind seit ihrer Kindheit für sie zentral: „À CINQ ANS, j’ai laissé les miens pour apprendre seule à sortir d’une communauté qui ne me voulait pas telle que j’étais née : exclue.“ 793 Die Erzählerin beschreibt sich selbst als deplatziert und muss sich auch von ihrer eigenen Geschichte lösen, von ihrer Erzählung losreißen: „Je sais la solitude de l’enfant déplacé. Il lui faut s’arracher à son récit et comme un aveugle il se doit quand même d’avancer.“ 794 Hier klingt noch ein weiteres Moment an: die Problematik der eigenen Erzählung („récit“). Als die Protagonistin die französische Sprache lernt, tritt sie ein in eine neue Gemeinschaft ein - die allerdings aus der Identifikation mit einer Märchenfigur, dem kleinen Däumling, und seiner Familie besteht und mehr als nur Frankreich bedeutet, nämlich in einen europäischen Kontext eingebettet ist: J’ai parlé la langue de l’Europe en un jour. Le jour où il a perdu son chemin, moi ce jour-là, le nuit des éléphants, j’ai parlé la langue de l’enfant Poucet. J’ai quitté les miens pour le rejoindre lui. […] Ensemble, ses frères et moi nous pouvions faire une famille. […] Tout ce monde nouveau qu’il me fallait apprendre, c’est avec la langue du Petit Poucet que je le négociais. 795 Die Sprache ist für die Erzählerin in Rahmanis « Musulman » roman auch aufgrund der Rolle wichtig, die sie in ihrer Oralität im Islam einnimmt und die sie im Koran spielt. Hier verbinden sich abermals die Weltreligionen. Die Erzählerin spricht von der oralen Tradition, die die Erzähler zu Passanten („passeurs“) zu Übersetzern macht: Lire le Coran, lire ce livre qui défie l’entendement, c’est comprendre qu’il nous est venu par les langues de l’étranger, celles de l’Ancien et du Nouveau Testament. L’Islam, en reprenant la parole de l’étranger, en partageant ses histoires, en remplaçant certaines versions par d’autres […] L’étranger à la langue arabe, mais aussi l’Arabe étranger à l’histoire du monothéisme, auraient-ils dû le refuser ? Ils étaient passeurs, traducteurs, ceux qui racontèrent le Coran à ceux qui ne pouvaient le lire. Et depuis, c’est en dehors de l’arabe, en dehors de cette langue, que des millions d’hommes et de femmes ont porté le message du Prophète. L’Islam n’a pas contraint la langue des hommes. Et la nuit, jusqu’à il y a peu encore, les mères instruites par la seule parole continuaient à bercer leurs enfants de la belle saveur des mots. En somme, pour elles et pour leurs enfants, le livre des histoires s’ouvrait plus grand. 796 Die Sprache ist das einzige, was nicht sterben kann und damit alle Zeiten überdauert. 797 Auch hier ist das Moment der Zeitlichkeit zentrales Thema, sucht die Erzählerin doch nach etwas, was die Zeiten überdauert und unsterblich ist: „Tout ce en quoi j’ai cru est mort. Seule ma langue ne veut pas 793 Ebd., S. 55. 794 Ebd., S. 61. 795 Ebd., S. 58f. 796 Ebd., S. 29f. 797 Vgl. ebd., S. 61. <?page no="205"?> Die Beur-Generationen 203 mourir.“ 798 Die Sprache bildet dabei das Gegenbild zur Vergänglichkeit des menschlichen Lebens der Protagonistin. Denn diese beklagt nicht nur, wie die Analysen der Zeitkonstruktionen und der Geschichtsbilder gezeigt haben, eine Genealogie, sondern betrauert am Ende des Romans, kein eigenes Kind zu haben 799 - mit ihr endet also die familiäre Geschichte. Bemerkenswert ist weiterhin, dass die Erzählerin ihre Sprache einer Minderheit zuordnet, den Berbern, und sie als Grundlage der oralen Kultur des Islam beschreibt. Die Sprache ist an dabei einen „anderen Körper“ geknüpft: „La langue arabe prenait un tout autre corps. Elle sera la langue de toute cette aventure. La langue de l’Islam.“ 800 Die Sprache (und gerade nicht die Religion, die Geschichte oder ein Territorium) stellt das verbindende Moment zwischen Mitgliedern einer Gesellschaft dar, der die Erzählerin angehören möchte. Dabei formuliert sie ein diasporisches Sprachverständnis: Die Sprache wird als im Exil befindlich begriffen, die zwar ein Territorium, aber in einem wandernden Volk auf der ganzen Welt lebt - und so auch in der Protagonistin: „Dans mes errances, elle m’a suivie et c’est ainsi qu’elle a aussi vécu.“ 801 Für Mounsis Tarik stellt die Schrift ein Spiegelbild dar, das er nicht zu dekodieren versteht. Nach der Verhaftung von Bako und Tarik werden die beiden Freunde getrennt voneinander verhört. Die Polizei ist für Tarik ein fremder Ort; er versteht die Sprache nicht, weder die im Verhör gestellten Fragen, die im Modus des Siezens abgehalten werde, noch die schriftliche Beschreibung des Tathergangs durch die Polizisten. Tarik fühlt sich fremd, obwohl er nicht zum ersten Mal bei der Polizei ist und verhört wird. 802 Dennoch liegt es gerade an der Sprache, das sich Tarik deplatziert fühlt: Einerseits ist dies durch die Anrede begründet, denn die Polizisten siezen die Jungen. Andererseits liegt das aber auch an der verschriftlichen Zeugenaussage, die seine Erzählung zu einem Text macht, den Tarik nicht versteht: „Mais la signification du texte dans son ensemble m’était nettement incompréhensible, tant la forme et le fond m’apparaissaient confus.“ 803 Während der Gerichtsverhandlung wiederholt sich die eigentümliche Fremdheit der Sprache, in der über Tarik gesprochen und verhandelt wird („je ne compris ni les questions posées à mon avocat, ni celles posées au procureur. Ils s’exprimaient avec des phrases dont j’ignorais le sens.“ 804 ). Tarik bejaht jede der ihm gestellten Fragen und bringt durch seine lakonischen Antworten den Staatsanwalt zu einem Wutausbruch. Erst durch die Anschuldigungen des Staatsanwalts und dessen wütende Blicke empfindet Tarik erstmals Anzeichen von Reue für seine Tat. Doch als er sich an den Richter wenden 798 Ebd., S. 18. 799 Ebd., S. 140. 800 Ebd., S. 29. 801 Ebd., S. 74f. 802 Vgl. Mounsi 2003, S. 104. 803 Ebd. 804 Ebd., S. 126. <?page no="206"?> Die Beur-Generationen 204 möchte, um sich und die Tat zu erklären, versagen ihm die Worte: „Ma terreur me fit perdre l’usage des mots.“ 805 Die Verhandlung führt Tarik die Macht der Sprache und der Wörter vor Augen: „J’ai regretté de ne pas avoir d’instruction comme ce procureur capable de me tuer avec des mots dont j’ignorais jusqu’au sens.“ 806 Als Tarik nach dem Überfall und dem Mord verhört wird, lauscht er gebannt den Anschlägen auf der Schreibmaschine (welche er entgegen seiner sonstigen gewählten und reichen Lexik als „machine à écrire“ 807 bezeichnet) und staunt über das Schriftbild. Erstmals kreiert dieser geschriebene Text einen Sinn seines Lebens - was er ist, wird in der Schrift festgehalten: „Pour la première fois, ma vie fut signifiée, livrée à mes propres yeux. Tout ce que je fus se formait dans ces mots. […] J’y voyais la mise en écriture de mon existence réelle.“ 808 Doch Tarik geht noch weiter: Durch dieses Schriftstück sieht sich der junge Protagonist in der Tradition so vieler Menschen, deren Zeugenaussagen sich aneinander reihen. Eine Genealogie entsteht so in den administrativen Texten der Polizei: Dans l’histoire de chacune, qui n’est écrite nulle part ailleurs, je pouvais lire ma propre destinée. […] Les liens du sang se renouaient peu à peu parmi les morts qui m’ouvraient les bras, comme sur un quai de voyageurs qui se connaissent. Leur histoire était recouverte par les siècles, il n’a avait pas de mots pour la dire ni d’encre pour l’écrire. 809 Tariks eigene Handschrift spiegelt seine identitäre Verfassung wider. Sie schwankt im Raum und verweist gleichzeitig auf die Laufrichtung arabischer („à gauche“) und westlicher Schriftsysteme („à droite“): „Dans tout ce que je faisais, je me retrouvais tordu. Même mon écriture s’inclinait tantôt à droite, tantôt à gauche. Elle n’était ni ronde ni aiguë. Elle était décousue et sans forme.“ 810 Und die innere Unsicherheit, das Unvermögen Körper und Schrift zusammenzubringen, zeigt sich während des Schreibens deutlich. Die Schrift bildet seine identitären Unsicherheiten ab: Mon écriture était encore moins sûre que mes paroles. Je savais à peine lire. […] Écrire. Je le fis d’abord avec une laideur laborieuse. Les phrases les plus simples me nouaient les muscles du bras, mais à force j’acquis peu à peu plus de facilité. C’était un grand réconfort pour moi de déverser sur le papier toute la litanie de mes peines. 811 Djaïdanis Mon nerf ist im Bezug auf die literarischen Figuren eine Art Gegenmodell zum gängigen Beur-Roman und wirkt wie eine übererfüllende Parodie: Mounir ist der Antiheld, der in seiner Männlichkeit geschwächt ist 805 Ebd., S. 127. 806 Ebd., S. 132. 807 Ebd., S. 108. 808 Ebd. 809 Ebd., S. 108f. 810 Ebd., S. 43f. 811 Ebd., S. 137. <?page no="207"?> Die Beur-Generationen 205 - markiert durch die missglückte Beschneidung gleich zu Beginn des Romans. Männlichkeit und Souveränität erscheinen so (nicht nur im islamischen Kontext) erschüttert und verunsichert. Der Protagonist ist weder der Sozialaufsteiger, der in einen Generationskonflikt mit seinen Eltern gerät, der über eine bessere Schulbildung und eine Sozialisation in Frankreich verfügt, noch ist er der kriminelle banlieue-Bewohner. Er stellt sich als naiver, schwächlicher und infantiler junger Mann dar, der noch bei seinen Eltern wohnt, für den die unterschiedlichen sozialen Einflüsse und kulturellen Traditionen bereits als Mischung, als „Amalgam“ („une amalgame de plus“ 812 ), auftauchen und daher normal erscheinen. Auch die Sprache wird durch den Erzähler explizit reflektiert. Doch geht es zunächst um die gesprochene Sprache, die mit Krankheitsbildern („boulimie des mots“) beschrieben wird und seine Einsamkeit nur noch verdeutlicht. 813 Als Mounir allein im Abteil des RER sitzt, kann der Erzähler die Stille kaum aushalten. Er beschreibt sein zerstörerisches Selbstbild, das reich an intertextuellen und medialen Anspielungen ist: 814 J’ai le mal du silence quand d’autres ont le mal de mer. [...] Je ne comprends pas pourquoi je me dégoûte à ce point, exercice de style ou blessure ultime ? Si je suis fait de terre et d’eau, le mélange n’est pas homogène pour autant. Une flaque de gadoue qui se chie dessus. Autoportrait d’un jeune gars tout juste bon pour les mauvaises herbes. […] Je reste un inconnu à l’intérieur même de mon être, ma nature est changeante. […] Le temps ne me collera sans doute jamais une ride, car j’ai le sentiment d’être un éphémère touchant du bout du doigt sa destinée du six pieds sous terre. […] je suis en manque du regard chaleureux d’une autre. Triste constat, mon arôme est celui de l’encre noir. 815 Der Protagonist stellt hier unterschiedliche Bezüge her: Er stellt sich etwa in die Tradition von Raymon Queneau („Exercices de style“) und verweist auf die amerikanische Serie Six Feet under („six pieds sous terre“). Diese Bezugnahmen dienen ihm dazu, seine Unsicherheit gegenüber sich selbst zu illustrieren. Beschreibt sich Mounir also als Unbekannter in seinem Inneren, als „wankelmütige“ („changeante“) Natur, so spielt er auf die zentrale Problematik seines Selbstentwurfs an: Der Protagonist erfindet sich in vielen Rollen und Tagträumen und kann kein stabiles, eindeutiges Selbst formulieren. Den pathologischen Charakter unterstreichen dabei nicht nur seine sexuellen Phantasien und Erinnerungen, sondern auch sein Weg zu seinem Psychiater. Aber auch das Moment der écriture, das durch den Vergleich mit schwarzer Tinte hier ungewöhnlicherweise als Geruch eingeführt wird, weist auf den prozessualen und damit instabilen Charakter seiner Selbstbeschreibung hin. 812 Djaïdani 2004, S. 61. 813 Ebd., S. 15. 814 Dass der Protagonist in einer medien- und werbungsgeprägten Gegenwart lebt, zeigt sich in zahlreichen Zitaten aus der Werbung. Vgl. bspw. ebd., S. 27. 815 Ebd., S. 77f. <?page no="208"?> Die Beur-Generationen 206 Die Selbstinszenierungen in seinen (kindlichen) Spielen zeigen weiterhin die unterschiedlichen und mitunter kontradiktorischen Rollen und Rollenvorbilder, derer sich der Erzähler bedient. Mounir phantasiert bspw., dass er sich in einigen Vollmondnächten in „The Moon Air“ verwandelt und dann in der Nachbarschaft Dinge zerstört. 816 Dann imaginiert er sich als „L’Indien au souffle lunaire“ 817 , sein „Kostüm“ versteckt er in einer Schublade. Es handelt sich um einen wendbaren String, der - wie eine Schallplatte - auf der „A-Seite“ weiß ist und auf der „B-Seite“ in ironischer Parodie ein gesticktes Motiv aus Sichelmond und Schlange trägt. 818 Auch hier beweist Mounir, dass er in einem Gegenstand unterschiedliche kulturelle Konnotationen und Kodierungen zu verbinden und - durch die Absurdität der Anspielungen auf Michael Jackson, Indianer und den arabischen Sichelmond in der Verbindung des Kostüms eines Superhelden - ad absurdum zu führen versteht. Und während Mounir sich in neue Rollen begibt, die stark an amerikanischen Vorbildern orientiert sind, aber die arabischen und französischen Einflüsse zu integrieren verstehen, arbeiten seine Eltern mit der gewinnbringenden Nutzung der Diskriminierungen. Wie bereits geschildert, machen sie sich auf dem Gemüsemarkt - als Verkaufsstrategie - die Klischees als Autostereotype zu Nutze. Den Marktstand beschreibt der Erzähler wie eine Theaterbühne („côté jardin“, „côté cour“ 819 ), auf der seine Eltern auftreten und mittels des stereotypen arabisierten Französisch („Ils sont friches, ils sont bounnes, mi pîches…“ 820 ) ihre Ware anpreisen. Mounir erkennt darin die Strategie der Überzeichnung und Selbstkarrikatur. 821 In Smaïls Ali le magnifique werden Möglichkeiten diskursiver Konstruktionen auf unterschiedliche Weise vorgeführt: Die diversen schizoiden Symptome des Erzählers drücken sich in der Wandelbarkeit der Rollenklischees und in seinen (sprachlich inszenierten) Selbststilisierungen und Selbsterfindungen im Wechselspiel mit Persönlichkeiten des realen Lebens und aus den fiktiven Welten in Literatur und Film ebenso aus, wie die kritische Reflexion darüber, wie Presse und Medien über die Wahrheit verfügen. Er spielt mit den medial gestalteten Simulakren und schlüpft in unterschiedlichste Rollen, die - und dies ist ein besonderer Aspekt des Romans - in der Selbstreflexivität von Literatur und Schreiben angesiedelt sind. So führt der Text auf paradigmatische Weise vor, wie der Protagonist als Schnittstelle diverser literarischer und außerliterarischer Diskurse entsteht und seine hybride Verfasstheit ihre Entsprechung in der palimpsestartigen Konstruktion der Verweise findet. Hier eröffnet sich ein großes Netz an intertextuellen und intermedialen Anspielungen, das sich wie ein Rhizom ausbreitet - dieser Aspekt wird im letzten Kapitel noch näher beleuchtet. 816 Vgl. ebd., S. 19. 817 Ebd. 818 Vgl. ebd., S. 20. 819 Ebd., S. 21. 820 Ebd. 821 Vgl. ebd. <?page no="209"?> Die Beur-Generationen 207 Die Reflexion des Erzählers über seine Erlebnisse und Erfahrungen, seine Selbstwahrnehmung und bewusste Selbstinszenierung beginnt erst durch den Schreibprozess - denn erst im Schreiben setzt Sid Ali die vielen Erinnerungsbruchstücke zusammen. Er beschreibt, wie schwierig es für ihn ist, eine kohärente Erzählung aus seinen Erinnerungen und Erlebnissen zu konstruieren, welche sich strukturiert und wohl formuliert zusammenfügen. 822 Das Schreiben spielt für Sid Ali im Sinne eines Schauspiels, des permanenten Rollenwechsels und des Spiel mit Realität und Fiktion eine Rolle: Mon avocat m’a conseillé de noter précisément tout ce qui aurait fait mon malheur, la crise d’épilepsie sur la plage, à Alger, les drames de mon adolescence, les sévices que j’ai subis, les humiliations, comment j’ai été violé, les massacres auxquels j’ai assisté, mes souffrances… Tout ce que je lui ai raconté, au parloir, d’horrible - vrai ou faux. Et d’essayer d’en faire un récit cohérent, si possible, une histoire de ma vie…Écrire en noir sur blanc que le premier mec qui m’ait jamais enculé au sens propre du mot était un psy - exemple. Qu’il puisse plaider mon irresponsabilité, mon manque de discernement au moment des faits… J’aurais été la victime, de bout en bout… J’étais - quoi de plus normal après ce que j’avais vécu ? - fou. 823 Die Selbstdistanzierung findet auch in dem Einnehmen und Wechseln von Rollen statt, in der Schauspielerei: „Je voulais faire acteur. « Haram ! » disait mon père. C’est un péché.“ 824 So setzt die Erzählung über die Erinnerungen des jungen Protagonisten ein und beschreibt sogleich eine der Grundproblematiken der Identitätskonstruktionen und Selbstbeschreibungen des Erzählers: Er will Schauspieler werden, denn er spielt gerne viele Rollen, benutzt unterschiedlichste Sprachniveaus, lenkt von sich ab und erfindet sich gewissermaßen selbst. 825 Dieses Motiv taucht im Laufe des Romans immer wieder auf; nicht nur, dass Sid Ali sich in seinen Tagträumen als Medienstar 826 oder an der Seite von Isabella Adjani träumt; vielmehr reflektiert er jene Fähigkeit, Masken zu tragen und auf unterschiedlichen Bühnen spielen zu können ganz explizit: „ma légendaire arrogance n’est qu’un masque à ma pudeur et à ma sensibilité d’écorché vif, je suis un incompris, mais j’ai fait mienne la devise du divin Oscar Wilde: Donnez-moi un masque et je vous dirai la vérité ! “ 827 Das Schreiben taucht als ein Moment auf, in dem Sid Ali ebenso die Kontrolle über seine Erzählungen und seine Selbstkonstruktionen hat, wie der Text eine Eigendynamik entwickelt und ihm entgleitet. 828 So betont 822 Vgl. Smaïl 2001, S. 334. 823 Ebd., S. 68. 824 Ebd., S. 28. 825 Vgl. ebd. 826 So imaginiert er sich als Medienstar, der in allen großen Zeitungen und Feuilletons der französischen Presse gefeiert wird und mit einer eigenen Fernsehsendung als kompromissloser und charismatischer Journalist auch den Präsidenten vorführt. In diesem Zusammenhang entsteht auch der Titel des Romans. Vgl. ebd., S. 288ff. 827 Ebd., S. 375. 828 Vgl. ebd., S. 102f. <?page no="210"?> Die Beur-Generationen 208 Sid Ali den Konstruktionsprozess seines geschriebenen Selbstentwurfes, in dem er wegradieren, hinzufügen und den Text seines Lebens nach Belieben verändern (und damit fingierend eingreifen) kann: J’essaie de raconter les choses comme elles me viennent. Comme je les vois. Ce que m’est arrivé, que je le veuille ou non. Et ce qui s’est passé avant le film des événements, comme on dit dans la presse - avant que je commence à - comment dire mon passé, qui intéresse tant la presse - je pourrais vendre mon histoire, après l’avoir reconstituée…Bon. Je zappe. Je reprends. Je comprends que je ne m’en sortirai pas si je cherche à trop vouloir m’expliquer. [ …] J’ai un mal fou à mettre de l’ordre dans mes idées. […] Trop de choses à raconter. Et si peu, de fait. Des riens. Rien de mal, en vérité. J’ai eu une enfance comme une autre. […] J’écris ceci au crayon, pour effacer plus facilement. Et recommencer au besoin. 829 Die Schrift spielt auch im Zusammenspiel mit den Psychiatern eine wichtige Rolle. Seine Überlegenheit ihnen gegenüber demonstriert Sid Ali nämlich nicht nur durch das Angebot anderer Diagnosen und Deutungsmuster seiner psychischen Störungen, sondern auch, indem er über Kopf die Unterlagen seines Psychiaters zu entziffern versteht - hier wird das Moment die Spiegelkonstellationen direkt an die Schrift gebunden: „Il ne se doute pas que j’ai appris à lire à l’envers. Fabulateur, je déchiffre - il doit s’agir de moi.“ 830 Sid Ali demonstriert dem Arzt seine Überlegenheit, indem er sich in eine Traditionslinie mit Leonardo da Vinci stellt. Dabei nennt Sid Ali den Künstler nicht direkt, sondern stellt durch die bloße Angabe - oder gerade durch die aus vermeintlicher Unwissenheit entstehenden Auslassungen und Anspielungen - des berühmten Bildes das Wissen seines Therapeuten (und immer auch der Leserschaft) auf die Probe: „Affabulateur et fabulateur, c’est quoi la différence? Fabulateur, c’est moins grave? Je sais lire à l’envers, vous savez. Et écrire à l’envers aussi, avec un miroir. Comme ce génie, là, qui a peint La Joconde…“ 831 Und schließlich verbindet er seine Schrift, die Schrift seines Vaters - die er für offizielle Schreiben oft imitiert hat - und seinen psychischen Zustand, seine Borderline-Erkrankung: „Le CAS Sid Ali B. Cinq majuscules ornementées et chantournées, d’une écriture à la Ibrahim B., d’une écriture de mégalomane borderline en crise aiguë.“ 832 Die zahlreichen Werke, die Sid Ali aus der Weltliteratur zitiert, dienen seiner Situierung ebenso, wie die Nennung diverser Kleidungsmarken, Werbeslogans, Filmzitate, Automarken etc. Es geht dabei weniger um tatsächliche literarische Referenzen und literarästhetische oder -geschichtliche Traditionen, in die sich der Erzähler stellen will, es geht auch nicht so sehr um die Demonstration, dass er das Schulwissen perfekt beherrscht, sondern um die Demonstration der vielfachen Überschreibungen in einem hybriden Subjekt. Exemplarisch sei dafür die Passage genannt, in der es um die Bezie- 829 Ebd., S. 17f. 830 Ebd., S. 125. 831 Ebd., S. 126. 832 Ebd., S. 335 bzw. bereits S. 277. <?page no="211"?> Die Beur-Generationen 209 hung zu Sid Alis Französischlehrerin, Mme Rénal, 833 geht. Sie verkörpert das französische Schulwissen, die Beherrschung der französischen Sprache und die literarische Welt, in die die kanonischen Romane integriert sind, die sie in dem privaten Zirkel, einer Art literarischer Salon, 834 diskutieren lässt. Das Ende ihrer Beziehung beschreibt Sid Ali wie einen Film - er bedient sich des medialen Erzähldispositivs zur Gestaltung dieser tödlich endenden Bindung: Bon. Et maintenant, donc, en rediff: Cécile-Sid Ali - le best-of. Les meilleures scènes, tournées entre début septembre 1998 et le 13 janvier 1999, et la pire : la scène finale, l’héroïne est froidement assassinée dans sa salle de bain, la nuque buté contre le rebord de la baignoire-sabot, The End, la salle se rallume…La nuit commence pour le lonesome héros solitaire et parfait criminel auteur d’un crime parfait, qui avait du génie mais ne fut pas aimé autant qu’il l’aurait souhaité, et tua pour un mot de trop - à quoi tient la vie parfois, à quoi tient la mort Sid Ali ? À un mot, Sid Ali. Et le reste est littérature. Et il n’y a de vrai que le romanesque, pas vrai mon Paulou ? Vivre me tue, but I will survive ! I will survive! L’hymne national perso de mon autre chéri - pardon, mon Paulou, si je te semble si volage, mais on se fait chier en taule, mais vivre tue, en taule -, Zizou ! Mon Zizou Zizou ! Mon Zizou Dior Eau sauvage, nah, enculés ! […] Et, pire - idem, pour le motif -, les vacances de Noël qui coïncidèrent cette année-là, grosso modo, avec notre saint Ramadan. […] je vous repasse la scène du 24 décembre 1998, aux environs de 20 heures, heure sacrée du JT de PPDA, naissance d’Issa ou pas. Sortez vos kleenex, les âmes sensibles et sentimentales ! Et sortez de la salle, ceux qui ne supportent pas le réalisme social - le vrai, pas le boursouflé, grandiloquent, truqué, creux et mensonger réalisme social stalinohollywoodien, non, la tranche de vie bien saignante coupée à la Zola… 835 Hier nennt Sid Ali in bruchloser Folge Verweise auf das Cowboygenre, den Kriminalroman, Shakespeare, Paul Smaïl und dessen ersten Roman Vivre me tue, den Welthit I will survive von Gloria Gaynor, den Fußballweltstar und Beur Zinedine Zidane (Zizou) sowie dessen Werbekampagne für Dior, christliche und islamische Traditionen (Weihnachten und Ramadan), Filmgenres im Bereich des Sozialrealismus und den literarischen Naturalismus von Zola. Dabei erscheinen die Passagen in einer „écriture automatique“ verfasst, die durch die Verbindung disparater Diskurse eine ganz eigenes Weltwissen produziert. Sid Ali bindet scheinbar unvereinbare Diskurse aneinander und stellt so eine eigene diskursive Konstruktion seiner Welt her, die mal provozierend, mal irritierend wirkt. Dabei bezieht sich Sid Ali auch auf reale Beur-Autoren. Eine Verbindung aus metafiktionalen Elementen und Literaturkritik, besonders im Hinblick auf Literaturvermarktung, beschreibt Sid Ali, als er in der Fnac in Nanterre auf die Bücher von Beur-Autoren stößt (die gruppiert präsentiert werden 833 Vgl. Smaïl 2001, S. 307. 834 Vgl. ebd., S. 311ff. 835 Ebd., S. 353f. <?page no="212"?> Die Beur-Generationen 210 und wohl einen neuen Markt erschließen sollen), die er weitestgehend verurteilt - nur seinen Lieblingsautor Paul Smaïl lobt er über alle Maßen: Begag, Azouz. À iech ! Le premier de la classe, le lèche-cul propre-sur-soi. […] Croit plaider notre cause auprès du Francaoui de souche en donnant dans le genre plaintif et le tableau sulpicien du bon beur…Et notre honneur, hein ? Rachid Djaïdani. Boumkœur. Daube ! Pauvre pote naïf manipulé par un nessbi sans scrupules…Pitié plus qu’autre chose, Rachid. […] Chimo. Totale imposture. Bidon de chez bidon! Mais…Ououoh ! Que vois-je ? Oh ! joie ! Un nouveau Paul Smaïl ! La Passion selon moi ! Et je n’en savais rien ! Pas une ligne dans les journaux ! Une conspiration du silence, mon Paulou ? Tu aurais cessé de plaire ? En couverture, ce portrait du Fayoum qui est toi tout craché, je te reconnais. Il est fort ressemblant ce portrait, je peux l’affirmer maintenant que je t’ai rencontré dans ce rade de la rue d’Oran, « Chez Omar ». Va, j’ai bien compris que c’était toi ! Tes amis t’appelaient Paul…Je me suis dit : je connais ce visage. Je t’ai tout de suite identifié, mais je n’en ai rien dit : par discrétion, par maximum respect pour toi, parce que je t’avais lu et que je connaissais ta devise : Insaisissable, introuvable, imprenable ! Connu mais inconnu ! Pas vu, pas pris ! Passager clandestin de la vie ! 836 Sid Ali kommentiert die Romane von Paul Smaïl, beschreibt ihren Wiedererkennungswert für die Beurs, die reiche (Jugend-)Sprache. Und schließlich vergleicht er sich mit dem Protagonisten und dem Autor Smaïl in einer metafiktionalen Wendung: „Le héros, l’auteur, c’était moi. C’était tout moi. Son histoire était mon histoire. Vivre me tuait, moi aussi. Pour une fois, je m’identifiais pleinement au héros. Et à l’auteur.“ 837 Sid Ali kritisiert, dass Paul Smaïl sich nicht zu erkennen gibt, dass er sich Interviews und Presseterminen verweigert und das Bild des bon beur nicht dazu nutzt, die eigene Stimme im Medienbetrieb Frankreichs hörbar zu machen. Und Sid Ali erwähnt sogar die Gerüchte darum, dass der Autor gar kein Beur sei, sondern ein Franzose de Souche. 838 Schließlich erinnert sich der Protagonist an die Begegnung mit dem Autor Paul Smaïl. Hier werden die Aspekte der Namensgebung verbunden mit der metafiktionalen Doppelung des empirischen Autors und der literarischen Figur des Autors. Denn als Sid Ali sich mit seinem Nachnamen vorstellt, stellt die Figur Paul Smaïl die Verbindung zu Cervantes her: - Ah! comme l’auteur de Don Quichotte... - Quoi ? - Tu ne sais pas ça ? Ce n’est pas Cervantès qui a écrit Don Quichotte, il a l’honnêteté de le reconnaître lui-même : il a trouvé à la juiverie de Tolède l’histoire de ce chevalier à la triste figure écrite en arabe, par un arabe, Sid Ahmed Ben Engeli… Dans les anciennes traductions en français, les illisibles, Cid s’écrit comme celui de Corneille […] Le chef-d’œuvre de l’art romanesque, ce roman qui est considéré comme l’hégire du roman en Occident, a été imaginé par un Arabe. 836 Ebd., S. 622. Hervorhebungen im Original. 837 Ebd., S. 191. 838 Vgl. ebd., S. 191ff. <?page no="213"?> Die Beur-Generationen 211 Cervantès en fait l’aveu, il dénonce sa propre imposture au chapitre IX, mais depuis près de quatre siècles que le livre est paru, on prend ça pour une plaisanterie. Un Arabe ne peut pas avoir écrit Don Quichotte, n’est-ce pas ? 839 Die literarischen Subjekte der dritten Generation wenden sich, so ließe sich zusammenfassen, für den Entwurf von Selbstbildern stark sich selbst zu. Die Freunde spielen zwar noch eine Rolle, die allerdings weniger in der Identifizierung des oder der Einzelnen mit der eigenen Clique liegt, als vielmehr in der narzisstischen Spiegelung innerhalb dieser Freundeskreise. Doppelgänger und enge Freunde bilden das Pendant zum eigenen Ich. Dies findet sich auch in der Spiegelmetaphorik: Das Spiegelbild wirft ein neues, verzerrtes Bild des Protagonisten/ der Protagonistin zurück. Nicht nur die Anspielung auf Romantexte aus dem Realismus, wie Sid Ali im Besonderen immer wieder auf Le rouge et le noir verweist, sondern auch die literarischen Techniken sind mit starker Affinität zum realistischen Sozialroman gestaltet. So nimmt auch die für den Realismus charakteristische Spiegelmetaphorik eine zentrale Rolle ein: Beinahe alle Erzählerinnen und Erzähler entwerfen ihr Selbstbild durch die Beschreibung ihres Spiegelbilds. Doch während die Spiegelmetapher im Realismus des frühen 19. Jahrhunderts als Garant für den Verzicht auf Idealisierungen, die gesamtgesellschaftliche Darstellung und die Objektivierung des literarisch Dargestellten ist, 840 stellt sich der Spiegel als tatsächliche Projektionsfläche eigener Selbstkonstrukte in den Texten jener dritten Generation dar. Auch Medienformate dienen als Projektionsfläche für die eigenen Selbstbilder; hier findet sich ein moderner, ja postmoderner Narzissmus und Hedonismus, der die Vorbilder der Eltern entthront, die eigenen Freunde nur zur Selbstspiegelung braucht, und der teilhaben will an den Konsumgütern, die im Zentrum der reichen Metropole Paris zum Greifen nahe sind. Auch Amara stellt in ihrer soziologischen Studie einen Werteverlust und moralischen Wandel zwischen der zweiten und der dritten Generation fest. Die neue Norm, nach der sich Anerkennung und Respekt der Jugendlichen richtet, ist Geld. 841 Dieser Narzissmus wird besonders in den Romanen von Smaïl und Djaïdani pathologisiert und in den Figuren, die an Schizophrenie und Depressionen leiden, vorgeführt. Jene Persönlichkeitsspaltungen, seien sie nun durch einen Psychiater diagnostiziert oder nicht, führen die vielfältigen Identifikationen der Erzählerinnen und Erzähler ebenso vor Augen wie die diskursive Konstruktion der Persönlichkeitsaspekte. Zu den Behandlungssituationen ist dabei anzumerken, dass sich die Figuren weniger als passive Patienten beschreiben, sondern sich oft mit ironischer Distanz (bspw. im Unverständnis bei Guène oder in der intellektuellen Überlegenheit bei Smaïl) stilisieren. Auch bei Violaine und dem jungen Mounir sowie bei Tarik 839 Ebd., S. 758. 840 Vgl. dazu Wanning 1998, S. 43f. 841 Vgl. Amara 2005, S. 55. <?page no="214"?> Die Beur-Generationen 212 werden die Begegnungen mit den Therapeuten so distanziert und nüchtern beschrieben, als wären sie gar nicht betroffen. Wenn Sid Ali nun aber schreibt, dass er von sich in der dritten Person erzählt, so fasst dies paradigmatisch zwei Aspekte zusammen, die hier auffällig erscheinen: die Etablierung einer hybriden, dritten Figur und die Relevanz des Schreibens und Erzählens. Die Betonung der kulturellen Differenzen, die in den literarischen Subjekten nicht harmonisiert werden können und sollen, entsprechen einem Verständnis von Hybridität, wie Bhabha es formuliert. Hybridität ist nach Bhabha — in Anlehnung an die entsprechende literaturwissenschaftliche Konzeption Bachtins — die prozessuale und kreative Neukonstruktion von Identitäten. “The process of cultural hybridity gives rise to something different, something new and unrecognisable, a new area of negotiation of meaning and representation.” 842 Nicht Harmonisierung oder die Synthese der Einflüsse unterschiedlicher identifizierender kultureller Systeme, sondern gerade die Beibehaltung inhärenter kultureller Differenz, die sich eben ganz deutlich in den Facetten der Identitätskonstruktionen jener schizogenen Figuren 843 zeigt, macht ihre Hybridität aus. Mit Doris Bachmann-Medick 844 könnte man hier von einer konstruktiven Sphäre sprechen, in der Unausgesprochenes und Unübersetzbares zur Sprache gebracht werden kann. Hier werden im Schreiben bewusste wie unbewusste Identifikationsfiguren ausprobiert, verworfen und dynamisch gestaltet. Die Entwürfe enthalten Hoffnungen, Wünsche und Utopien, aber auch Ängste, Traumata und den Tod. Auch das Moment des Todes wird mittels sarkastischer Kommentare auf (emotionale) Distanz gehalten: So erinnert Doria bei Guène den Verlust und das Verlassen ihres Vaters nur in Verbindung mit dem Fernsehprogramm (bezeichnenderweise X-Files), Y. B.s Erzähler Kamel bemerkt den Tod seiner Mutter anhand der drastischen Verschlechterung des Essens. 845 Es entsteht eine prozessuale und in sich durchaus widersprüchliche Sphäre, in der Hybridität gerade nicht oder nicht zwingend in ein harmonisches multikulturelles Miteinander mündet. Die literarischen Figuren vergewissern sich nicht mehr primär in einer inter- oder multikulturellen Gruppe der Black-Blanc-Beurs, die - mit Bhabha - in ihrer kulturellen Diversität (cultural diversity) funktioniert, sondern betonen ihre kulturelle Differenz (cultural difference). 846 842 Bhabha nach Rutherford 1990, S. 211. 843 Einige Protagonisten in der dritten Generation, in der oft schizoide Figuren auftreten, sind mit der Kategorie des „multiphrenic self“ zu beschreiben, ein Konzept von Kenneth Gergen, der diese Verfasstheit als positiv (im Kontext dieser Arbeit: als positive Figur der Hybridität) einer pathologischen Schizophrenie gegenüberstellt, vgl. Gergen 2000. 844 Vgl. Bachmann-Medick 1998. 845 „Moi j’étais triste à cause que la bouffe elle était devenue dégueulasse et j’avais plus de couches propres.“ Djaïdani 2004, S. 14. Der intertextuelle Verweis auf den berühmten Romananfang in Camus’ L’Étranger scheint sich aufzudrängen. 846 Vgl. Bhabha nach Rutherford 1990, bes. S. 109. <?page no="215"?> Die Beur-Generationen 213 Die kulturellen Differenzen markieren dabei ein Moment der Dezentrierung im Schreiben, in dem die Protagonisten/ Protagonistinnen in permanente Aushandlungs- und Übersetzungsprozesse verstrickt sind. Damit stellt das Schreiben und die Sprache nicht nur einen Akt der Selbstbemächtigung der Beurs dar, sondern kann auch als ein Ort der Selbstvergewisserung funktionieren. Dieser kann sogar Schutz vor der Welt bieten oder als eigene ‚Heimat’ dienen. Die Sprache und der Akt des Schreibens stellen zentrale Verhandlungsorte der Identifikationen dar. Gerade die Infragestellung des Französischen als ‚sprachliche Heimat’ und ‚Muttersprache der Beurs’ schafft eine Dezentrierung: Die Ich-Erzählerinnen von Nina Bouraoui und Zahia Rahmani schwanken zwischen der französischen und arabischen Sprache und sind sich selbst nicht sicher, in welcher Sprache sie sich eigentlich erzählen können und sollen. Und wenn Tarik, der Ich-Erzähler in Mounsis La noce des fous, beschreibt, dass seine Handschrift mal nach links und mal nach rechts kippt, spielt er damit auch auf die Schriftsysteme des nach links laufenden Arabisch und der nach rechts laufenden lateinischen Schrift an und schafft damit ein durch kulturelle Differenzen gekennzeichnetes, hybrides Schreiben. In dieser dritten Generation werden bezüglich der Sprache zwei Tendenzen deutlich: einerseits ist die Loslösung von Regiolekten und Soziolekten wie dem Verlan bspw. bei Mounsi, in Passagen bei Smaïl, bei Bouraoui, Boulouque und Rahmani, und andererseits die bewusste Nutzung der Jugendsprache zu beobachten. Bei Y.B., Guène und Smaïl geht es aber m.E. weniger um die exkludierende Funktion der Jugendsprache, als vielmehr um den Einsatz der Sprache als eigenes, ästhetisches Medium. Die Sprache dient nicht nur dazu, eine eigene Welt zu markieren, eine extreme Gegenwart zu beschreiben in ihrem Jugendwahn, Konsumismus und ihrer Kurzlebigkeit. Denn das sprachliche Register wird auch zur Selbstdistanzierung genutzt: Während Mounsis Tarik etwa beschreibt, dass er nichts von dem versteht, was im Gerichtssaal gesprochen wird und der Psychiater in seiner Diagnose bestätigt, dass der Angeklagte über eine geringe Intelligenz verfügt, so gibt der Erzähler doch den fachsprachlichen Wortlaut wieder - er verwendet immer wieder eine gehobene Sprache, die nicht dem Sprach-, Wissens- und Lesestand eines Jugendlichen entspricht. Durch die Sprache wird also schon ein Abstand zum Protagonisten hergestellt. Auf der chronologischen Untersuchungsachse lassen sich die Gestaltungen von Zeitkonzeptionen in ihrer Hierarchisierung, Wahrnehmung und affektiven Bewertung folgendermaßen resümieren: Während in der ersten Generation die literarische (Re-)Konstruktion der Vergangenheit im Vordergrund steht, also die eigenen Kindheitserinnerungen und die Immigrationsgeschichte durch die Elterngeneration, betonen die Protagonistinnen und Protagonisten der zweiten Generation ihre durchaus problematische Gegenwart in Frankreich. In der dritten Generation ist die Bezugnahme auf eine medialisierte und globalisierte Gegenwart so stark, dass diese oftmals in Zu- <?page no="216"?> Die Beur-Generationen 214 kunftsvisionen oder Traumszenarien übersetzt wird, in denen zudem die Sprache und das Schreiben selbst thematisiert werden. Auf der topologischen Achse wurden die (Selbst-)Verortungen ins Zentrum der Analysen gerückt. Hier ging es zentral um die affektiven Bindungen an die Länder/ Nationalstaaten Frankreich und Algerien, an das Elternhaus, um den literarischen Entwurf der Schule und schließlich um die Erzählung des eigenen Zwischenraums (in) der urbanen banlieue mit seinen Bewohnern und Bewohnerinnen. Diese Orte und Räume fanden sich in allen Texten wieder - allerdings wurden sie unterschiedlich affektiv besetzt und in Beziehung zur eigenen Person gesetzt. Analog zu der Gegenwartsbetonung bzw. Zeit- und Geschichtsdekonstruktion ist hier tendenziell die Entwicklung von der selbstentmächtigenden Peripherie, über den Lebensort im Zwischenraum zu einem heterotopen Raumgefüge, einem Dritten Raum mit Bhabha, zu konstatieren - die Selbstbilder sind weitestgehend von einer inter- oder multikulturellen Konflikterfahrung geprägt. In der dritten Generation stehen Zeit- und Geschichtserfahrungen und Verortungen tendenziell zur Disposition. Es wird deutlich, dass sich hier die Semantisierung von Raum und Zeit, die sich in den Identitätskonstruktionen widerspiegeln und um dies Aspekte des Schreibens und der Sprache erweitern, zu einem eigenen transkulturellen Schreiben verdichten. Mit Bhabha ließe sich hier der Übergang bzw. die Überlagerung der topologischen und ästhetischen Momente eines Dritten Raums beschreiben. Das für Bhabha paradigmatische Konzept, das sich auf Räumlichkeit bezieht, aber als epistemologische Kategorie über das Spatiale, Topographische hinausgeht, ist das des „third space“. Hier fallen Bhabhas Vorstellungen von Zeitlichkeit, kultureller Hybridisierung und Prozessualität zusammen: Der Dritte Raum stellt „an interstitial space and time of conflict and negotiation“ 847 dar. In den folgenden Analysen soll diese Formulierung eines Dritten Raums in einer diachronen Perspektive auf die drei beschriebenen Generationen herausgearbeitet werden. Erst die diachrone Zusammenschau der Texte ermöglicht den Blick auf die Beschreibung der Wahrnehmung und das Erleben von Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Geschichte, und die Erschütterung der Orte und Verortungen, indem sich die Protagonisten in querenden Bewegungen und Passagen befinden, die gleichermaßen eine Verortung wie eine Entortung bewirken. Erst die Untersuchung dynamischer wie resistenter Momente der Geschichtserzählungen, der Semantisierung des Raumes in einem transkulturellen Kontext ermöglicht die Beschreibung transkultureller Identitätskonstruktionen, die immer ihre sprachliche, diskursive Verfasstheit mitreflektieren. 847 Bhabha nach Hoeller 1998. <?page no="217"?> 3 Passagen schreiben - Vom Schreiben ohne Raum zum Schreiben als Raum. Diachrone Analysen ils bouleversent et l’espace et le temps de la France tranquille, ils sont le fondement d’un lyrisme à venir Le la Sebbar: J.-H. cherche âme sœur Wie innerhalb der jeweiligen Generation Zeit, Raum und Selbstentwürfe der Erzähler und Erzählerinnen gestaltet werden, ist im vorangegangenen Kapitel dargelegt worden. Im Folgenden soll es nun in einer generationsübergreifenden Perspektive darum gehen, Dynamiken, aber auch die Resistenzen in den Identitätskonstruktionen aufzuzeigen. Wie gehen die literarischen Figuren mit der zunehmenden zeitlichen Distanz zur Immigrationsgeschichte der Eltern um? Welche Veränderungen und welche Konstanten lassen sich in den Zeitbzw. Geschichts- und Raumwahrnehmungen ausmachen? Wie verändern sich die affektiven Besetzungen von Orte und Räumen? Auf welche Weise werden hybride Selbstentwürfe innerhalb, aber auch jenseits der vielfältigen kulturellen Dichotomien gestaltet? Und welche Rolle spielt schließlich das Schreiben als Raum der Selbstimaginationen der literarischen Figuren in der transkulturellen Situation der Postmigration? 848 3.1 Die Zeit in der Schwebe: „Le temps est en suspens.“ 849 Tassadit Imache weist in dem Titel ihres Romans auf eines der zentralen Dilemmata der Beurs hin: Wie sind Selbstentwürfe in einer Situation möglich, da die Erzähler und Erzählerinnen „sans histoire“ sind? Wie erzählen die literarischen Figuren ihre eigene(n) Geschichte(n)? Die Zeitgestaltungen spiegeln auf vielfältige Weise interbzw. transkulturelle Erfahrungen der Beurs wider. Die Betonung der Vergangenheit oder Gegenwart bzw. das Spiel mit den chronologischen Abläufen, das selbstbewusste Einrichten und die Inanspruchnahme der Gegenwart in Frankreich sowie die optimistischen, aber auch verstörendenTräume und Zukunftsperspektiven haben unterschiedliche Funktionen innerhalb der Stabilisierung oder Destabilisie- 848 Diesem Begriff liegt die Annahme zugrunde, dass es sich hier zwar um eine zeitlich nachrangige Zeit der Migration, allerdings nicht um eine von der Migration der Eltern unbeeinflusste Situation handelt. Die Einflüsse jener zurückliegenden bzw. gar nicht selbst gemachten Migrationserfahrungen sind weiterhin zentral für die Selbstkonstruktionen der Beurs und werden mit dem Begriff der „postmemory“ im Folgenden noch erläutert. 849 Smaïl 2003, S. 173f. <?page no="218"?> Passagen schreiben 216 rung der literarischen Selbstentwürfe. Zwei Aspekte erscheinen mir besonders wichtig: auf der einen Seite die Gestaltung der (Spuren der) Immigrationsgeschichte, also die literarische Inszenierung der Situation der Postmigration, und auf der anderen Seite die Formulierung und reflexive Problematisierung von individuellen Erinnerungsleistungen. Die verbotene oder unmögliche Verankerung in der gegenwärtigen Situation, die natürlich unmittelbar mit der marginalisierten Wohnsituation und den Diskriminierungen in Frankreich zusammenhängt, drängt die literarischen Figuren in die Erinnerungen an eine - nicht immer unbeschwerte - Kindheit. Diese Erinnerungen werden meist traditionell linear erzählt - Imache bildet hier eine Ausnahme -, enthalten wenig/ keine Ellipsen, Analepsen oder Prolepsen. Diese nach Kohärenz drängende Erzählung von Geschichte dient der Konstruktion eines kohärenten Selbst. Alle Protagonisten und Protagonistinnen der Beur-Romane müssen sich mit der Immigrationsgeschichte ihrer Eltern auseinandersetzen, ob sie sie nun wie die eigene Geschichte empfinden und daher mit den kulturellen und religiösen Traditionen, den Mythen und Legenden und der Nation des Herkunftslandes der Eltern identifiziert sind, oder ob sie die Bezugnahme auf die Eltern leugnen bzw. ignorieren. „Chaque épisode de leur histoire évoque aussitôt une autre histoire, celle de leurs parents,“ 850 beschreibt Mounsi die unauflösbare Verbindung zwischen der Geschichte der Kinder und jener der Eltern. Doch die Immigrationsgeschichte ist für die Beurs, besonders in den letzten Generationen, nicht mehr aus eigener Erfahrungen erzählbar. Sie sind mit einer spezifisch kolonialen postmemory konfrontiert, wie Marianne Hirsch sie für die Kinder Holocaust-Opfer formuliert: In my reading, postmemory is distinguished from memory by generational distance and from history by deep personal connection. Postmemory is a powerful and very particular form of memory precisely because its connection to its object or source is mediated not through recollection but through an imaginative investment and creation. This is not to say that memory itself is unmediated, but that it is more directly connected to the past. Postmemory characterizes the experience of those who grow up dominated by narratives that preceded their birth, whose own belated stories are evacuated by the stories of the previous generation shaped by traumatic events that can be neither understood or recreated. I have developed this notion in relation to children of Holocaust survivors, but I believe it may usefully describe other second-generation memories of cultural or collective traumatic events and experiences. 851 Mit Hirsch, die hier das spannungsvolle Verhältnis zwischen unterschiedlichen Zeit- und damit Geschichtssystemen beschreibt, könnte jenes für die 850 Mounsi 1995, S. 20. 851 Hirsch 2002, S. 2. Vgl. zur Problematik der Traumatisierung nach der Shoah auch die Arbeiten von Shoshana Felman 1992 sowie zu Geschichtsbildern der zweiten Immigrantengeneration Viola B. Georgi 2003. Einen Überblick über die qualitative Forschung zur zweiten Immigrantengeneration in Deutschland seit den 1970er Jahren liefert Cordula Weißköppel 2007. <?page no="219"?> Passagen schreiben 217 Beurs untersucht werden. Jenes traumatische Immigrationserlebnis der Elterngeneration ist in den Erzählungen der Beurs aufgehoben; die Arbeit an der postmemory erläutert die Distanz zur Generation der Eltern und zur fortwährenden persönlichen Betroffenheit der Kinder. Wie Laronde in seinen Untersuchungen zur Beur-Literatur betont, müssen die Beurs mit einer individuellen (autobiographischen und psychologischen) und einer kollektiven (nationalen und familiären) Zeit operieren. Laronde rekurriert hier auf das Konzept der mémoire collective von Maurice Halbwachs, welches vermeintlich individuelle Erinnerungen als stets in kollektiven (gewissen cadres sociaux) und narrativen Zusammenhängen entstandene beschreibt: „Jedes individuelle Gedächtnis ist ein ‚Ausblickspunkt’ auf das kollektive Gedächtnis.“ 852 Für die transkulturellen Subjekte in der Beur-Literatur ist das kollektive Gedächtnis aus zwei Gründen relevant: Erstens deutet dieser Zusammenhang auf die Verstrickungen in die Nationalgeschichten Frankreichs und der maghrebinischen Heimatländer der Eltern hin, die durch die gemeinsame Kolonialgeschichte auf eine höchst problematische Weise verbunden sind. Die in den synchronen Analysen in so vielfältiger Form auftretenden Brüche und Passagen sind auch in den Konzeptionen der Zeit und der Geschichte zu finden: Sie alle stellen Variationen der Auseinandersetzungen mit der (post-)kolonialen Immigrationsgeschichte der Eltern und der schwierigen Formulierung einer eigenen Geschichte dar. Die transkulturellen Überlagerungen und Neuformulierungen von ‚eigenen’ Geschichten und Genealogien sind demzufolge in den Kontext von Individuum und Kollektiven gebunden. Ferner ist für den Entwurf von Selbstbildern, wie schon in der Einleitung geschildert, das Moment der Narration in einem ‚Zeitraum’ konstitutiv, der die Erzähl- und Lebensgegenwart mit der Vergangenheit in Beziehung setzt und so erst einen kohärenten Lebenszusammenhang konstruiert. Das Halbwachs’sche Konzept des kollektiven Gedächtnisses macht demnach einerseits auf die Einbindung individueller Erinnerungen an Kollektive - dies ist für die Identifikation mit der Gegenwart und Geschichte Frankreichs ebenso relevant wie für die Bezugnahmen auf die kolonial-geprägte Immigrationsgeschichte der Eltern - und 852 Halbwachs 1967, S. 31. Die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung hat einige Konzeptionen für die Beschreibung von Erinnerungs- und Gedächtnispraxen entwickelt, von denen die mémoire collective, das kollektive Gedächtnis, von Maurice Halbwachs für die vorliegende Arbeit der Erläuterung der Verquickung von individuellem und kollektivem Erinnern dienen soll. Ferner haben sich die folgenden Konzepte für literaturwissenschaftliche Studien als anschlussfähig erwiesen: das kommunikative Gedächtnis als individuelles und Generationengedächtnis und das kulturelle Gedächtnis nach Aleida und Jan Assman, welches die Überlagerung von Gedächtnis als ein identitätssicherndes Funktionsgedächtnis und Geschichte als unstrukturiertes, anachrones Speichergedächtnis meint, sowie die Arbeiten von Aby Warburg und Paul Ricœur. Vgl. zur Relevanz der Gedächtnisforschung für die (anglophone) Literaturwissenschaft die Arbeiten von Erll/ Gymnich/ Nünning 2003, Erll/ Nünning 2005 sowie Erll 2005. <?page no="220"?> Passagen schreiben 218 andererseits auf den Modus des Erzählens, in dem Erinnerung nicht nur tradiert, sondern allererst erschaffen wird, aufmerksam. Die literarischen Schilderungen der Vergangenheit, die Beschreibungen der erlebten Gegenwart sowie die narrativ entworfene Distanz zwischen diesen Ebenen deuten auf das Identifikationspotenzial mit der Vergangenheit oder Gegenwart hin und erlauben somit Folgerungen für die Konstitution der transkulturellen Subjekte. Im Folgenden werden nun zunächst die Zeitgestaltungen (als ‚Chronographien’) und anschließend die Geschichtskonstruktionen (als Historiographien) in ihren Funktionen für die Selbstkonzeptionen der literarischen Figuren generationsübergreifend untersucht. Dabei orientieren sich die Analysen der ‚Chronographien’ an den Momenten der Vergangenheits-, der Gegenwarts- und der Zukunftsentwürfe quer durch die Generationen hindurch; die Erinnerungen und Geschichtskonstruktionen werden hingegen nach ihren Implikationen von Bindung an Kollektive (Nation, Familiengenealogie und die Beurs selbst als Gruppe) untersucht. Den Unterschied zwischen der Zeitgestaltung und dem Modus der Erinnerung, der diesem Kapitel zugrunde liegt, fasst Wodianka zusammen: Literatur bringt eigene, ihr inhärente Zeitkategorien hervor [...]. Ihr Potential zur Herstellung und Beeinflussung von Zeitverhältnissen macht die Literatur zu einem Medium der Erinnerung: Wie die Erinnerung beruht auch Literatur auf der Verknüpfung von Ereignissen und deren Verortung in der Zeit. Durch diese narrative Dimension von Erinnerungsprozessen wird Zeiterfahrung sinnhaft gestaltet. 853 Die Gestaltung subjektiver Zeiterfahrungen und Zeitempfindungen, die „fiktive ‚Eigenzeit’“ also, 854 ist in den Beur-Romanen den hier angenommenen Generationen unterschiedlich akzentuiert. Wie die synchronen Analysen deutlich gemacht haben, beziehen sich die literarischen Figuren in der ersten Generation eher auf die Vergangenheit, die sie für die eigene Situierung in der Gegenwart immer wieder rekonstruieren müssen. In der zweiten und dritten Generation hingegen ist eine Betonung der eigenen Gegenwart auszumachen, die als eigener Zeitraum zur Abgrenzung gegenüber den identifizierenden Erzählungen der Eltern bzw. der (französischen Lehrer in der) Schule behauptet wird. Hier werden zunehmend (auch optimistische) Zukunftsszenarien und Traumsequenzen beschrieben. Darüber hinaus wird auch die Linearität von Zeit in Frage gestellt bzw. umgestaltet und die narzisstische Organisation und Formatierung von Zeit inszeniert. 853 Wodianka 2005, S. 184. Die von mir vorgenommenen Analysen zielen dabei nicht auf die funktionsgeschichtliche Wirkung von Literatur, also das Nachvollziehen der wechselseitigen Wirkungen von literarischer und außerliterarischer Zeitkonzeption. Vielmehr werden die inhärenten Zeitkategorien in ihrer Relevanz für die Selbstentwürfe der Protagonisten und Protagonistinnen untersucht. 854 Ebd., S. 185. <?page no="221"?> Passagen schreiben 219 Die Vergangenheit wird in den Beur-Romanen in zwei unterschiedlichen Formen evoziert, nämlich als Bezug zu vergangenen, historischen Ereignissen und in Form von individuellen Kindheitserinnerungen. Beiden Aspekten ist die affektive Aufladung der Vergangenheitserzählung gemein, die in den unterschiedlichen Generationen auf spezifische Weise literarisch gestaltet wird. In den Romanen der ersten Generation erscheint die Formulierung einer eigenen Gegenwart für die Erzähler und Erzählerinnen schwierig oder unmöglich, daher prägen primär die Erinnerungen an die Kindheit und die Immigrationsgeschichte der Eltern die Zeitempfindungen und den Geschichtserzählungen dieser literarischen Figuren. Die maghrebinischen Eltern betrachten ihren Aufenthalt in der Gegenwart in Frankreich nur als Übergang, d.h. sie gehen von der Rückkehr in ihr Herkunftsland aus. So richten sie sich gar nicht erst in der Gegenwart Frankreichs ein, sondern halten stillschweigend die schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen aus. Dieses Zeitbewusstsein überträgt sich auch auf die Beurs, wie Schumann unterstreicht: Die Geschichte der Algerier in Frankreich, ihre Immigration seit Beginn des 20. Jahrhunderts, ihre traumatischen Erfahrungen während des Algerienkrieges und ihre Kämpfe um soziale Sicherheit und Anerkennung bilden als mémoire collective die Grundlage für eine algerische Identität in Frankreich und sind für einige Beurs das Algerien, das sie zu entdecken versuchen und für ihre eigentliche Heimat halten. 855 Die Kinder sind mit der mémoire collective der Eltern identifiziert, und sie werden von den Eltern dazu angehalten, sich möglichst auf die Rückkehr in das maghrebinische Heimatland vorzubereiten und keinen Kontakt mit Franzosen und Französinnen aufzunehmen. Das Moment jener Zeitwahrnehmung hat zur Folge, dass die literarischen Figuren den Kolonialkonflikt zwischen Algerien und Frankreich in den Vordergrund stellen und aus der peripheren Situation algerischer Geschichtlichkeit die Nationalgeschichte Frankreichs angreifen. Von den Kindheitserinnerungen wird besonders in den ersten beiden Generationen auf eine Weise berichtet, die erzählendes und erlebendes Ich beinahe deckungsgleich inszenieren. Die Erinnerungen werden derart detailliert und lebendig erzählt, dass die literrische Gestaltung der geringen bis nicht vorhandenen zeitlichen Distanz folglich ein großes Identifikationspotenzial mit jener Vergangenheit herstellt. Die Selbstbilder der Beurs, die sich in der Erzählgegenwart in der kulturkonfliktären Situation befinden und die massiven Rassismen und kolonialen Diskriminierungsmechanismen in der Gegenwart in Frankreich erleben, werden daher von diesen Erlebnissen in der Kindheit aus konstruiert, um eine „diachrone Identität“ 856 behaupten zu können und die problematische Situation der 855 Schumann 2002, S. 127. 856 „Für die individuelle Identitätsformation ist die temporale Verknüpfungsleistung und Kontingenzreduktion von Narrationen von herausragender Bedeutung, denn sie trägt wesentlich zur Konstitution der diachronen Identität bei.“ Neumann 2005a, S. 156. <?page no="222"?> Passagen schreiben 220 Marginalisierung zu plausibilisieren. Dabei schildern die Protagonisten und Protagonistinnen weniger individuelle Erlebnisse, die sich durch besondere und ungewöhnliche Ereignisse auszeichnen - die Analogien in der Diegese ist ja bereits dargelegt worden-, sondern die sich an Erzählungen in Kollektivzusammenhängen orientieren. Dies äußert sich etwa in der Betonung historischer Daten. Das sind bspw. die blutige Niederschlagung der Demonstration maghrebinischer Arbeiter 1961 in Paris oder die Geschehnisse im Mai 1968 in Paris; das können aber auch - wie in dem Roman von Boulouque oder B. - Ereignisse globaler Ausmaße sein wie die Anschläge des 11. September 2001. Die Verankerung in der Kolonialgeschichte aber, die Frankreich und besonders Algerien in ein problematisches und macht-durchsetztes Beziehungsgefüge miteinander setzt, ist in allen Romanen präsent - für die erste Generation noch eines, wenn nicht das zentrale identitätsstiftende Angebot. In den Romanen von Imache, Kenzi und Kettane ist die Kolonialgeschichte Auslöser für die Immigration der Eltern oder steht mit ihr in direktem Zusammenhang. Das Ereignis von 1961 stellt auch den Anfangspunkt der Erzählungen von Lil, der Protagonistin von Imaches Une fille sans histoire dar. Hier weist der Titel schon auf das Thema des Romans hin: Als Mädchen und als Tochter ohne eine eigene Geschichte ist die Erzählerin auf die Vergangenheit der Eltern angewiesen und doch in der Gegenwart Frankreichs gefangen, das abermals durch Diskriminierungen der Mutter und die Verhaftungen des Vaters beeinflusst ist. Der Begriff „histoire“ erscheint hier in seiner doppelten Konnotation im Sinne der kollektiven und der individuellen Geschichte. Nachts geraten die Zeit und der Raum vollkommen aus den Fugen; Erinnerungen und Erlebnisse geraten in ein neues Tempo und durcheinander. Die Entfremdung von den Eltern und besonders vom absenten Vater fasst Pinçonnat bei den Analysen von Une fille sans histoire zusammen: une mère rejetée par les siens [...] et [...] [d’] un homme en suspens, sans ancrage comme coupé de sa propre famille, alors même qu’il sort de prison où, séquestré plusieurs jours dans une cave, il a vu ses compagnons torturés […] Ali fait figure d’étranger pour ses enfants […]. 857 Dass die Geschichte des Vaters der Tochter unbekannt bleibt und sich die Mutter im Laufe des Romans weigert, Erlebnisse aus der Geschichte der Eltern zu erzählen, ist für sie ebenso problematisch wie für die Protagonistin in Boulouques Sujets libres. Die Absenz der Vaterfigur und der Erzählungen über die Kolonialzeit in Algerien finden sich in allen Romanen als durchgehende Motive. Den Zusammenhang zwischen der problematischen Beziehung der literarischen Figuren zum Algerienkrieg und den instabilen, verunsicherten und traumatisierten Vaterfiguren resümiert Pinçonnat als Untergang der „loi du père“: „La guerre met systématiquement en scène 857 Pinçonnat 2006. <?page no="223"?> Passagen schreiben 221 l’effondrement de la loi du père, en exhibant la vulnérabilité de cet homme, ses blessures.“ 858 In vielen Romanen ist die Immigrationsgeschichte der Eltern als traumatisches Erlebnis in die Erfahrungen der Kinder eingeschrieben; besonders der Algerienkrieg stellt eine Zäsur dar. Dieses Thema im Zusammenhang mit der Gestaltung der Figuren des Vaters sowie der literarischen Opferdiskurse untersucht auch Crystel Pinçonnat u.a. bei Begag, Imache, Kenzi und Kettane. 859 Sie beschreibt zwei Tendenzen der Geschichtsverarbeitung, denn sie untersucht la façon dont l’écrivain remodèle le passé communautaire ou familial et [...] forge une mémoire [...] D’autre part, j’ai questionné la visée de ces mises en récit qui, tantôt, optent pour l’effacement de la violence, tantôt au contraire, tentent d’écrire des événements demeurés longtemps enfouis, comme refoulés de la mémoire française. 860 Eben diese Unsichtbarkeit, die Verdrängung und Auslöschung der algerischen Kolonialgeschichte in der offiziellen französischen Geschichte ist es auch, die Lil in Imaches Une fille sans histoire aufsucht und gleichzeitig anprangert, wenn sie in den Schulbüchern jene ungeschriebene Geschichte entdeckt: „Un temps, elle avait cru trouver refuge à l’École, de l’autre côté de la cité. Là, où l’Histoire, quand elle est insoutenable, n’est pas écrite dans le manuels.“ 861 Ähnlich formuliert es Brahim in Kettanes Roman, wenn er kritisiert, dass die Seiten der Kolonialgeschichte in Frankreich einfach „umgeblättert“ werden: „Nos ancêtres les gaulois tournaient la page de notre livre d‘histoire en prenant des visages évangéliques.“ 862 Brahim stellt aber auch generell die Geschichtsschreibung auf der Grundlage von (unvollständigen) Erinnerungen in Frage: „Est-ce possible que toute notre mémoire soit ainsi dans des livres? N’y a-t-il pas des choses qui échappent ? “ 863 Während die Kindheits- und Jugenderinnerungen weiterhin einen wichtigen Teil der Selbsterzählungen der Beurs ausmachen, rückt in den aktuelleren Romanen der Bezug auf historische Ereignisse, auch der Kolonialgeschichte, in den Hintergrund - auch wenn dieser Kontext nicht aus dem Blick gerät. Der Kolonialkonflikt, so sehr (oder gerade weil) er auch schon in den Geschichtsbüchern verschwunden und in der Vergangenheit eingeschlossen zu sein scheint, bleibt als traumatischer Bruch in der Geschichte Frankreichs und des Maghreb bestehen. Dies zeigt besonders der Roman von Boulouque, in dem die Tochter das assimilationistische Schweigen der Eltern nicht mehr ertragen kann. Violaine sucht die Auflösung bezeichnenderweise in der Vervollständigung der Familiengeschichte und findet Trost 858 Ebd. 859 Ebd. 860 Ebd. 861 Imache 1989, S. 123. 862 Kettane 1985, S. 46. 863 Ebd., S. 71. <?page no="224"?> Passagen schreiben 222 in dem US-amerikanischen (und jüdischen) Bild der Spuren, auf das ich im letzten Kapitel noch zurückkommen werde. Doch auch die ersten Romane sind nicht ausschließlich in der Vergangenheit verhaftet, denn die Motivation der Erzähler und Erzählerinnen ist gerade die Selbsterzählung in der Gegenwart durch die Darstellung der Kindheitserinnerungen und der problematischen Aushandlung unterschiedlicher kulturell kodierter Geschichts- und Zeitmodelle. Die Rekonstruktion der Immigrationsgeschichte oder der eigenen Erinnerungen an die Abreise aus dem Maghreb und die Ankunft in Frankreich ist zwar notwendig, aber für die Beurs nie Ausgangspunkt ihrer Erzählungen. Hargreaves stellt fest, dass der früheste Zeitpunkt der (eigenen) Geschichte, d.h. die Immigration der Eltern, fast nie am Anfang der Romane steht. Hargreaves analysiert die Romananfänge und -enden und stellt jene andere Anordnung der Ereignisse fest: In Beur fiction, the beginning of the text seldom coincides with the beginning of the story, i.e. the earliest point in its chronology. More commonly, the narrative opens with and then follows through a relatively recent sequence of events. […] The divergence of text-time from story-time produces a pattern of meaning ruled by an order of priorities other than mere chronological precedence. 864 Diese Beobachtung, die der literarischen Herstellung der Chronologie im Sinne von einer plausiblen und linearen Reihenfolge der Ereignisse in der Zeit gilt, hängt damit zusammen, dass die Geschichte(n) der Eltern nicht den gleichen Anfangspunkt wie die Erzählungen der Kinder haben. 865 Statt der Abreise der Eltern aus ihrem Heimatland, beginnen die Erzählungen der Beurs - nicht weiter verwunderlich - meist mit der Gegenwart in Frankreich. Die Relevanz der elterlichen Immigrationsgeschichte für die Beurs ist somit an der Nähe zum Romananfang ablesbar: In den frühen Romanen folgt sie meist unmittelbar nach dem Einsetzen der Geschichte der Beurs. Schon bei Djura ist angelegt, was sich in den Romanen der letzten beiden Generationen immer deutlicher zeigt: Die Immigrationsgeschichte - bei Djura in Form von Mythen und Legenden aus dem Heimatland, die sich im Laufe des Romans von den kabylischen Legenden zu den französischen Figuren der Geschichte wandeln - rückt in den Hintergrund der Zeiterzählungen der Beurs, auch wenn sie nicht ganz verschwindet. Obwohl sie immer noch und immer wieder mit der Vergangenheit der Eltern konfrontiert werden, beschreiben die Erzähler und Erzählerinnen von ihrer Gegenwart aus ihre Erlebnisse in der Gegenwart. Mit Friederike Eigler, deren Fokus auf den intergenerationellen Problematiken literarischer Geschichtserzählungen liegt, könnte man die Loslösung (die sich ja in der dritten Generation der Beur-Romane als erneute Sehnsucht äußern soll) vom Familiengedächtnis beschreiben. Eigler erläutert 864 Ebd., S. 148. 865 Vgl. Hargreaves 1997a, S. 148f. <?page no="225"?> Passagen schreiben 223 zum einen literarische Schreibbzw. Erzählweisen, mit Hilfe derer nicht selbst ‚erlebte’ Geschichte erinnert wird; zum anderen literarische Strategien, durch die diese Texte ggf. dem harmonisierenden Sog des Familiengedächtnisses entkommen und die identitätsstiftenden Diskurse des dominanten kulturellen Gedächtnisses durchkreuzen. 866 Die erwähnte Durchkreuzung des Familiengedächtnisses wird nach Eigler auf der formalen Ebene - auch in der Beur-Literatur - durch die „Belebung“ der eigenen Vergangenheit in der Gegenwart geschaffen. Erzählendes und erlebendes Ich nähern sich stark an, auch wenn die Schilderungen meist mit einem zeitlichen Abstand erzählte Kindheitserinnerungen sind. In den Vordergrund rücken die Erlebnisse in der banlieue und in der französischen Schule. Die Betonung liegt auf der Präsenz der Jugendlichen in Frankreich, was sich auch in dem Genre des Tagebuchs von Boukhedenna oder in dem programmatischen Titel Née en France. Histoire d’une jeune Beur von Benaïssa ausdrückt. In diesem testimonialen Text soll ein (auch politisch motiviertes) Verständnis in der Literatur gestaltet werden, dass die problematische Situierung der Beurs in der Gegenwart Frankreichs zum Ausdruck bringt. Begag unterstreicht diesen Aspekt und formuliert genau den Übergang der von mir angenommenen ersten zur zweiten Generation, indem er in der Beur-Literatur die Transformation und Ablösung von der (oralen) Kultur der Elterngeneration durch die Gestaltung einer neuen Gegenwart und die Öffnung von „Horizonten“ beschreibt: Ainsi, les premières productions littéraires des « beurs », issus - ne l’oublions pas - d’un milieu à tradition culturelle orale, ont servi de première pierre pour la mémoire collective des jeunes issus de l’immigration. A travers les créations d’artistes issus de leur milieu, les membres d’une communauté minoritaire peuvent ainsi ressentir l’impression d’exister, d’être « représentés » dans la société dominante, et, du coup, les références à l’originaire cèdent petit à petit la place aux références auto-produites dans le temps présent. Il y a altération du passé et ouverture/ greffe sur des horizons nouveaux. 867 Die Beurs fordern ihren Platz in der zeitgenössischen französischen Gesellschaft ein. Im Zentrum dieser Zeitwahrnehmungen stehen die konkurrierenden Zeitsysteme, die sich durch die Konfrontation von Elternhaus, Schule und Freundeskreis ergeben. Denn während im Elternhaus die zeitliche Situierung eindeutig in der maghrebinischen Vergangenheit gesucht wird, und in der Schule sowohl ein Geschichtsverständnis vermittelt wird, dass die Kinder der Immigrantenfamilien nicht teilen können, als ihnen auch permanent signalisiert wird, das sie in der französischen Schule und Gesellschaft nicht geduldet werden, versuchen die Protagonisten und Protagonistinnen ihre eigene Gegenwart, ihre eigene Zeit zu formulieren. In den meisten Beur-Romanen wird allerdings nicht mit der Linearität der zeitlichen Abfolgen gebrochen - trotz der Analepsen und Prolepsen bleibt die traditio- 866 Eigler 2005, S. 83. 867 Begag 1998. <?page no="226"?> Passagen schreiben 224 nelle Chronologie unangetastet. Erst in den Texten der dritten Generation brechen die Romane mit dieser Zeitkonzeption bereits bei Boulouque, aber besonders bei Bouraoui, Smaïl und Rahmani ist die Ereignisreihenfolge nur noch sehr schwierig rekonstruierbar - der Moment des Erzählens bekommt damit Priorität. Das Präsens als Erzähltempus kommt zunehmend zum Einsatz (bspw. bei Djaïdani, B. oder Bouraoui); einerseits, um die Erlebnisse der literarischen Figuren nicht mehr als Erinnerungen zu markieren und erzählendes und erlebendes Subjekt miteinander verschmelzen zu lassen, andererseits, um die Gegenwart als eigenen Zeitraum zu besetzen. Dass dieser Zeitraum immer noch als transitorisch erlebt wird, korrespondiert mit der literarischen Gestaltung hybrider und damit instabiler Identitätskonstruktionen, die auf Kontinuität im Moment des Erzählens zielt. Azouz Begag benennt den leeren Zeitraum der Gegenwart, den die Elterngeneration produziert, da sie nur übergangsweise in Frankreich ist und damit nicht identifizierend für die Kinder wirken kann. Die Beurs aber müssen sich in dieser geschichtslosen Gegenwart („un temps qui ne compte pas, non-producteur de mémoire“) einrichten: Si l’on reconsidère les conditions de l’immigration maghrébine primo-arrrivante en France, ses circonstances et ses motivations, on se souvient que pour la majorité de ces paysans analphabètes, la présence en France ne se concevait que comme temporaire et économique. En se protégeant de toute assimilation culturelle dans la société d’accueil, les immigrés faisaient de leur exil « un temps qui ne compte pas », non-producteur de mémoire, dans la mesure où il était nourri en permanence par le mythe du retour. Si je fais ces rappels, c’est pour mieux signifier que les enfants des générations suivantes, nés dans les années 50-60, ne se situaient déjà plus dans la même perspective temporelle et spatiale, leur présence/ naissance en France devenait désormais productrice de mémoire, localement. Avec le recul, on constate qu’elle a servi à donner une assise identitaire première aux générations qui ont suivi. Ainsi les parents ont pensé leur exil en termes de « je ne suis pas là pour longtemps » et les enfants ont créé l’idée du « j’y suis j’y reste ». 868 Die Betonung der ephemeren Gegenwart und der Verwandlung in Vergangenheit wird in den Romanen generationsübergreifend durch das Medium der Fotografie (bspw. bei Imache und Boulouque) inszeniert. Doch das Foto hat in Une fille sans histoire und in Sujets libres unterschiedliche Funktionen: Bei Imache betrachtet die Protagonistin ein Familienfoto und wird durch dieses angeregt, ihre eigenen Erinnerungen und Erlebnisse aus der Vergangenheit wieder auftauchen zu lassen und ihre Position innerhalb der Familie zu beschreiben. Boulouques Violaine hingegen erinnert sich nur an ein Foto, das ihr zwar dazu dient, ihre Stellung in der Klassengemeinschaft zu beschreiben, aber ihre Schwierigkeiten symbolisiert, den Augenblick nicht nutzen zu können. Die Erzählerin zögert immer einen Moment zu lang, welche Pose sie nun einnehmen sollte, so dass der Moment der Aufnahme nie bewusst von ihr zur Selbstpositionierung genutzt werden konnte. Das 868 Ebd., (Hervorhebungen K.S.). <?page no="227"?> Passagen schreiben 225 misslungene Foto verdeutlicht die Unmöglichkeit eines arretierten Selbstbildes. Beiden Romanen gemein ist die Problematik der Familiengeschichte und des Schweigens, die unterschiedlich motiviert und ausgestaltet sind: Während Imaches Protagonistin unter der Omnipräsenz des Algerienkriegs und damit der Immigrationsgeschichte der Eltern leidet, verstärkt noch durch das Schweigen des Vaters, prangert Violaine in Boulouques Sujets libres die vollkommene Absenz der Familiengeschichte und vor allem das Schweigen über die Immigrationsgeschichte der Eltern an. Die Konstruktion einer eigenen Genealogie und die Verankerung in einer Nationalgeschichte - und hier ist die offizielle Geschichte von Frankreich und von Algerien gemeint - fehlt der jungen Frau, da ihre Eltern sich soweit assimiliert haben, dass die Geschichte des ehemaligen maghrebinischen Heimatlandes für sie keine Rolle spielt und ihre Erzählungen stets im Studium in Frankreich beginnen. In diesem Roman dreht sich die Bezugnahme auf die Immigrationsgeschichte der Eltern und die koloniale Vergangenheit Frankreichs und des Maghreb im Vergleich zu den ersten Generationen um: Nicht eine Überpräsenz der (oftmals traumatischen) Vergangenheit der Eltern, sondern im Gegenteil deren Assimilation und bewusste Verwehrung ihrer Geschichte lösen in der Tochter innere Konflikte aus. Die fehlende Immigrationsgeschichte der Eltern geht oftmals mit einer Absenz der Vaterfigur einher. Das Schweigen, die Traumatisierung oder seelische wie körperliche Versehrtheit (wie bspw. bei Charef) symbolisieren die unaufgearbeitete Kolonialgeschichte Frankreichs und besonders Algeriens. Dieses Schweigen, das aus der Traumatisierung durch den miterlebten Algerienkrieg resultiert, findet sich in Boulouques Roman Sujets libres noch auf eine andere Weise wieder. Hier klagt die Tochter die Eltern gerade wegen ihrer aufgegebenen Geschichte an, ihrer der Assimilation in Frankreich geschuldeten Geschichtslosigkeit. Die vom Kolonialismus affizierte Nationalgeschichten von Frankreich und Algerien prägt in der Beur-Literatur stets auch die Familiengeschichte. Les ANI du « Tassili » ist der Roman, der sich am deutlichsten ausschließlich in der Gegenwart ansiedeln lassen kann, aber durch die Erzählungen der unterschiedlichsten Schiffspassagiere den Kreuzungspunkt vieler Lebenslinien darstellt. Die Geschichten der Passagiere sind durch die unterschiedlichen Bezugnahmen auf die Vergangenheit in Algerien und die Gegenwart in Frankreich geprägt. Die zahlreichen Erzählungen der Lebenssituationen lassen so ein Spektrum der Beziehungen zwischen der eigenen Lebensgeschichte und der Immigration und/ oder der Kolonialgeschichte Frankreichs und Algeriens entstehen, die gleichermaßen jung und alt, Männer und Frauen, Algerier, Beurs oder die französischen Touristinnen betreffen. Bei dieser Betonung der Gegenwart als eigener Zeitraum der Beurs gelangen besonders in der dritten Generation auch Traumszenarien und Zukunftsphantasien sowie die massive Überlagerung medialisierter Zeitkonzepte in den Blick. In der dritten Generation aber lassen sich radikalere For- <?page no="228"?> Passagen schreiben 226 men der zeitlichen Situierung ausmachen: die Gestaltung einer eigenen Zeit und einer spezifischen Genealogie wie bei Boulouque, einer spezifischen medial geprägten und globalisierten Gegenwart wie bei B. und Guène, deren Protagonistin darüber hinaus eine positive Sicht in die Zukunft entwirft; und schließlich auch das Spiel und der Bruch mit der Linearität und der Kausalitäten und Kohärenzen herstellenden linearen Zeitkonzeption. Die zeitlichen Dissonanzen, Ellipsen und Analepsen spiegeln in den temporalen Strukturen die Verunsicherungen und die dezentrierten, fragmentierten oder gar schizoiden Charaktere der Erzähler und Erzählerinnen. Schon in Une fille sans histoire wird mit einer temporalen Linearität auch auf formaler Ebene gebrochen: Analepsen und Ellipsen stehen für die subjektive Anordnung der Ereignisse und zeigen das gespaltene Verhältnis zur Geschichte der Eltern auf der Ebene der literarischen Gestaltung auf. Ähnlich verhält es sich mit dem Ende von Belghouls Georgette! , in dem der unsichere Status des Todes der Erzählerin mit einer fehlenden Interpunktion markiert wird. Die Festsetzung des Endes der Zeit der Protagonistin ist unsicher und daher auch nicht mit einem Satzzeichen zu besiegeln. Und während die Erzählungen der schizogenen Protagonisten von Smaïl, Mounsi und Djaïdani zwar auch mit Analepsen, Prolepsen und Ellipsen arbeiten, aber immer wieder in die Erzählsituation zurückfinden (sei es im Gefängnis oder in der RER), lösen sich die Zeitbezüge, die der Leserschaft eine chronologische Einordnung erlauben, « Musulman » roman nahezu auf. Trotz der Beschreibung der Erzählsituation der Protagonistin in der Extradiegese, der Hinweise auf eine zeitliche Einordnung in der Gegenwart (bspw. durch Markierungen wie Desert Storm oder die Reflexionen über den Holocaust) und der Exponierung einiger Passagen als Kindheitserinnerungen, ist durch die Unterteilung in Akte und die verdichtete Sprache nahezu eine Achronie formuliert. In der dritten Generation gibt es zwar auch linear erzählte Romane, es zeigt sich aber auch ein Spektrum achronischer Gestaltungen, Analepsen und Exkurse in Traumszenarien. Diese stören tendenziell die Chronologie empfindlich und erschweren daher sowohl eine Situierung in der Gegenwart Frankreichs/ Algeriens, als sie auch die teleologische Rekonstruktion der Geschichte der Protagonisten quasi unmöglich machen. Vielmehr wird hier auch formal die Relevanz der Zeitwahrnehmung und die subjektzentrierte Zeitkonstruktion vor Augen geführt. Es wird nicht mehr zwingend der Ursprung in der Geschichte der Eltern oder in den eigenen Kindheitserinnerungen gesucht, sondern eine Dezentrierung der Geschichte erwirkt. In den Romanen wird also durch das Experimentieren mit dem linearen zeitlichen Modell damit die Relevanz von Geschichte neu thematisiert. In Ali le magnifique von Smaïl und Rahmanis « Musulman » roman wird die Zeitlichkeit ins Extrem getrieben und gleichzeitig immer wieder durch historische Bezüge konterkariert: Während Smaïls Sid Ali offen zugibt, dass ihn sein Erinnerungsvermögen im Laufe des Romans verlässt und ihm immer mehr Auslassungen passieren, während er explizit die Montage seiner re- <?page no="229"?> Passagen schreiben 227 konstruierten Erlebnisse benennt - ein Verfahren, das mit Harald Welzer als „Montageprinzip“zur Herstellung eines individuellen Gedächtnisses zu bezeichnen wäre 869 -, versucht Rahmanis Erzählerin nur scheinbar eine Chronologie herzustellen, indem sie in einer Art Extradiegese ihren Erzählort bestimmt. So dienen die Erinnerungen an Familienereignisse, die (Kolonial-) Geschichte Algeriens und besonders der Kabylei oder die Anspielungen auf den Holocaust eher einer temporalen Entortung als der Etablierung einer Chronologie oder zur Orientierung. So formuliert es auch Mounsi in einem Essay, in dem er seine zerfallene Kindheit beschreibt: „Le monde de mon enfance est décomposé. Et c’est seulement si je parviens à retrouver les fragments de sa décomposition qu’il me sera possible d’en donner une représentation véridique“. 870 So ist - um ein Spektrum „temporaler Hybridität“ (Dubiel) zu konturieren - die Kreation einer eigenen Zeit und einer eigenen Geschichte im Hinblick auf die Omnipräsenz der Immigrationsgeschichte und der Kolonialgeschichte der Eltern -(die zentrale Thematik in den Beur-Romanen seit den frühen 1980er Jahren) ebenso problematisch wie die vollkommene Absenz der elterlichen Geschichte, also das Fehlen einer Art Genealogie für die Erzählerin Violaine in Boulouques Sujets libres. In den aktuellen Texten aber beschreiben die Protagonistinnen und Protagonisten verstärkt eine eigene Zeit, die sich an transnationalen, globalen Medienformaten orientiert (wie bei Y.B. und Guène), die aber auch in den Romanen immer wieder unterbrochen und als brüchige, nicht mehr orientierende Zeit entlarvt und formuliert wird: Die Zeit ist in der Schwebe, sagt Sid Ali, und Geschichte steht zur Disposition. Die Erzählerin Rahmanis verirrt und verliert sich gar in der Zeit: „J’ai dû me perdre dans ce siècle d’égarés qui me précède.“ 871 Die ‚Medienkids’, für die exemplarisch die Protagonisten in B.s Allah superstar und Guènes Kiffe kiffe demain stehen, demonstrieren die extrem gegenwartsbezogene, aber auch ephemere und modische Gegenwart der Massenmedien. Anders noch als in den Beur-Romanen, in denen Kinofilme und Fernsehserien Verbotenes oder einen Imaginationsraum der Flucht aus dem traditionalistischen und meist streng muslimischen Elternhaus darstellen, imaginieren sich Kamel Léon und Doria Fernsehfiguren und -stars und fliehen in ihre Starphantasien. Diese (globalen) Medienformate sind zwar bei Guène als imaginierte Gegenwelt zur banlieue oder zur Langeweile in ihrem Elternhaus gestaltet, stellen aber zeitlich kein Gegenmodell dar. Allerdings ermöglichen ihr die Traumwelten am Ende des Romans erstmals einen positiven Blick in die Zukunft in ihrer eigenen Lebensrealität. Und die Bühnenauftritte bzw. Sketche von Kamel Léon haben ihren Bezug zwar in der Gegenwart, ganz deutlich in den Anspielungen auf den Terrorismus und die 869 Welzer 2002, S. 38. 870 Mounsi 1995, S. 47. 871 Rahmani 2005, S. 13. <?page no="230"?> Passagen schreiben 228 Ereignisse am 11. September, sind aber immer - auch durch die Naivität des Protagonisten - als Traumwelten und Phantastereien markiert. Trotz der simultanen Selbstentwürfe in der Lebensrealität und in den Imaginationen wirken die medialen Überblendungen für die Erzähler und Erzählerinnen nicht destabilisierend. Im Gegenteil: Ihr souveräner Umgang mit Medienformaten, ihre Erinnerungen an Fernsehserien und Filme hilft ihnen eher, die Zeitwahrnehmung der Gegenwart (und das oftmals leere eigene Leben, wie bspw. bei Guènes Doria) lebendig zu gestalten. Diese „Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten“ (Bloch) ist für sie nicht mehr Ausdruck konkurrierender Zeitsysteme, sondern ein Spiel mit unterschiedlichen Imaginations- und Zeitebenen. „Konkurrierende Zeitsysteme“, 872 wie sie mit Dieter Lohr bezeichnet werden können, sind als differierende Zeitsysteme demnach ein wichtiges Merkmal temporaler Transkulturalität. Dabei steht in den ersten Beur-Generationen eher der Konflikt der temporalen Differenzen zwischen dem Elternhaus und der französischen Gesellschaft im Vordergrund, während in der dritten Generation u.a. durch den Medienkonsum und die schizogene Anlage der Figuren unterschiedliche Zeiterfahrungen innerhalb der Lebenswelt in der (post-)modernen Gesellschaft Frankreichs zum Ausdruck kommen. Daraus wären mit Stephanie Wodianka auch für die Zeitwahrnehmungen der Beurs zwei Konsequenzen zu ziehen: einerseits die Möglichkeit der „Konkurrenzen zwischen verschiedenen kollektiven Zeitkonstruktionen“ und andererseits Konflikte zwischen „kollektiver Zeit und individuellem Zeitbewusstsein.“ 873 Diese unsichere Zeit ist es auch, die die Protagonistinnen von Rahmani, Bouraoui und Boulouque umtreibt. Während die Erzählerin bei Rahmani zunächst nur von einer Zeit nach dem Krieg erzählt, sich in größere historische und genealogische Zusammenhänge stellt (hiervon zeugen die Erzählungen aus dem Koran) und sich von chronologischen Erzählungen gelöst hat, sucht Bouraouis Nina noch nach der familiären Geschichte, nach der Verbindung zwischen ihrer Gegenwart in Frankreich und ihren Erinnerungen an Algerien. Ihre eigene Zeit, in der sie alle Einflüsse verbinden kann, findet sie nur an einem dritten Ort: Rom. Und Violaine schließlich verzweifelt an der individualisierten, karriereorientierten und haltlosen Zeit der Gegenwart des „Prekariats“ in Frankreich. Halt sucht sie in der Vergangenheit der Eltern und vielmehr noch in des Großvaters Erinnerungen, deren Niederschrift nicht mehr zu finden ist. Die Zeit, die in der Schwebe zu sein scheint, ist besonders für die letzte Generation wichtig: Die psychische Instabilität, in der sich die hybride Verfasstheit der Subjekte spiegelt, findet ihre Entsprechung in der unsicheren 872 Lohr 1999, bes. S. 229f. Lohr untersucht in seiner Dissertationsschrift den Zusammenhang zwischen den Techniken der Zeitmessung und der Mentalitätsgeschichte des Zeitbewusstseins, indem er die literarischen Texte vom Mittelalter bis zur Gegenwart nach Zeitindikatoren untersucht. 873 Wodianka 2005, S. 180. <?page no="231"?> Passagen schreiben 229 Zeit. Den Romanen liegt die Problematik der Erinnerung zugrunde: Sie katapultiert die Erzähler aus ihrer Gegenwart. Immer wieder flüchtet sich Djaïdanis Mounir entweder in Erinnerungen an Vergangenes, die dann zu Traumszenarien gesponnen werden, oder gleich in Tagträume mit einer eigenen Zeit. Die formale Gestaltung der Zeit und Inszenierung von Chronologien wird in den literarischen Texten zunehmend spielerisch eingesetzt. Während die meisten frühen Romane eher eine klassische, lineare Zeiterzählung vorführen, 874 werden die zeitlichen Abläufe zunehmend verändert und neu arrangiert. Bei Bouraoui, dies untersucht Christine Horvath in Garçon manqué mit dem spezifischen Fokus auf das autobiographische Genre, zeigt sich die Inszenierung der Nähe der Erinnerungen durch den Gebrauch des Präsens, „le présent contribue à effacer le caractère rétrospectif du récit d’enfance et confère aux événements rapportés une apparente simultanéité“, 875 und den unmerklichen Prolepsen und Analepsen, mittels derer die Grenzen zwischen Kindheitserinnerungen und Gegenwartssituierung, zwischen erzählendem und erlebendem Ich verwischt werden. Die Zeit- und Geschichtskonkurrenzen bestehen in der Beur-Literatur ferner zwischen einer biographischen Zeit in Frankreich, einer genealogischen Zeit mit einer Orientierung an der Kolonialgeschichte - hierin besteht ja einer der Hauptkonflikte, dass die eigene Biographie in Frankreich nicht mehr in Einklang zu bringen ist mit der Familiengeschichte, die durch die Eltern noch so stark an das maghrebinische Heimatland gekoppelt ist oder ganz wegbricht - und die Zeitsystemvielfalt in der beschleunigten Moderne. Verschiedene „kulturelle Zeiten“ („cultural times“) prallen, so Bhabha, in der postkolonialen Situation aufeinander. Diese sind an die Imaginationen und „großen Erzählungen“ der Nation gebunden, die die Minoritäten zu hinterfragen vermögen durch die Perspektive der Verdoppelung und Spaltung: „Such an apprehension of the ‚double and the split’ time of national representation […] leads us to question the homogeneous and horizontal view associated with the nation’s imagined community.” 876 Die Anspielung auf die Konzeption der „imagined community“ in Anlehnung an Benedict Anderson weist auf die Bindung an das Kollektiv und an eine Nation - auch als nationales Territorium - hin und wird im nächsten Kapitel zu den spatialen Konstruktionen noch näher ausgeführt. An dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass Bhabha darauf aufmerksam macht, dass sich in der (post-)kolonialen Situation Minoritäten und (koloniale) Majorität nicht in einem gleichzeitigen Modus befinden. Die Minderheiten artikulieren in ihrem kulturellen Sinnhorizont eine andere Zeit, eine andere Gegenwart, die 874 „It is true that relatively mechanistic Beur narratives such as Le sourire de Brahim and Le jardin de l’intrus largely replicate the classic formula of linear narrative in the past history.” Hargreaves 1997a, S. 155. 875 Horvath 2004, S. 194. 876 Bhabha 1994, S. 144. <?page no="232"?> Passagen schreiben 230 sich aus einer anderen Vergangenheit speist und andere Zukunftsentwürfe mit sich bringt. Der metaphorische Zwischenraum wird auch für diesen besonderen Zeitraum verwendet: something else besides, in-between - [...] in a form of ‚future’ where the past is not originary, where the present is not simply transitory. [...] an interstitial future, that emerges in-between the claims of the past and the needs of the present. 877 Bhabha kommt zu dem Schluss, dass Kulturen zwar gekennzeichnet sind durch das Begehren nach Stabilität und Determination bspw. im Sinne einer Nation, sie aber gerade in der Instabilität, der Gleichzeitigkeit von inkommensurablen Geschichten (Narrativen und Historizitäten) und Orten gedacht werden müssen. Er bezieht sich auf Walter Benjamins Konzept der „Jetztzeit“ als „that moment blasted out of the continuum of history“ 878 und formuliert die Vorstellung einer spezifischen Konzeption der Gegenwart, die sich „als ein ex-zentrischer Ort der Erfahrung entpuppt“. 879 Ihn interessiert die Erzählung neuer Geschichte(n): „the emergence of a hybrid national narrative that turns the nostalgic past into the disruptive ‘anterior’ and displaces the historical present - opens it up to other histories and incommensurable narrative subjects.” 880 Diese neuen Geschichten sind es nun, die in der Beur-Literatur formuliert werden. Dabei bleiben die Beurs nicht bei dem Entwurf einer Gegengeschichte stehen. In der diachronen Zusammenschau der untersuchten literarischen Texte wird nämlich deutlich, dass die Romane nicht mehr nur ihre eigene Geschichte erzählen wollen, wie noch die frühen Beur-Romane, die in den französischen Geschichtsbüchern nicht niedergeschrieben ist. Sie greifen zunächst die Geschichte auf, um dann gegen sie zu schreiben - ganz im Sinne Renate Lachmanns, die die Literatur als doppelten Ort der Bewahrung und der Umschreibung beschreibt: [...] jeder konkrete poetische Text konnotiert als entworfener Gedächtnisraum das Makro-Gedächtnis, das die Kultur repräsentiert. Jedoch ist Poesie nicht nur der Ort der Bewahrung [...], sondern zugleich auch Gegenort, an dem die Poesie der [...] memoria entgegentritt. 881 Doch die Beurs formulieren aus der Gegenwart der französischen Geschichte und Kultur heraus ihren Teil der französischen Geschichte. Dass sie dabei nicht nur die französische Geschichte als ihre eigene anerkennen, wird deutlich, da in allen Romanen die Immigrationsgeschichte der Eltern eine zentrale Rolle spielt. Keine Gegengeschichte, sondern Überschreibungen und Um-Schreibungen der Geschichte der Eltern und die gleichzeitige Schaffung eines eigenen ‚Gründungsmythos’ ist das Ziel vieler Erzähler und Erzählerinnen. 877 Ebd., S. 219. Hervorhebungen im Original. 878 Ebd., S. 8. 879 Bronfen 2000, S. XI. Zum Stellenwert Benjamins bei Bhabha vgl. dessen Äußerungen in Bhabha nach Mitchell 1995. 880 Bhabha 1994, S. 167. 881 Lachmann 1993, S. XXVI. <?page no="233"?> Passagen schreiben 231 Mir erscheint das Geschichtsmodell von Edouard Glissant für die Verquickung von hybrider, von Glissant als rhizomatisch begriffener Identität („identité rhizome“) und Geschichtserzählungen in seinem Kulturkonzept der créolisation fruchtbar, um das Bestreben der Beur-Erzähler und -Erzählerinnen nach einer besonderen, eigenen Geschichte zu erhellen. Glissant formuliert sogenannte „cultures composites“ als Gegenmodell zu den ehemaligen Kolonialherren der westlichen, europäischen atavistischen Kulturen, deren Legitimation für die gewaltsamen Kolonialisierungen ihre Rückversicherung in einer eigenen Genese darstellt. Die kompositorischen Kulturen hingegen besitzen keine eigene Ursprungsgeschichte, keine Genese, sondern müssen sich mit der Erzählung einer „digenèse“ einen eigenen Gründungsmythos erschaffen. 882 Der Zusammenhang von Diegese und jener Digenese ist in der Beur-Literatur einer der ‚Motoren’ der Selbsterzählungen: Erst die Erfindung jener eigenen Gründungsmythen in der kolonialen postmemory ermöglicht Selbstkonstruktionen, die Kohärenzen formulieren können. 883 Während sich in den frühen Beur-Romanen vorherrschend synthetische Erzählungen finden, in denen die Erzählung in medias res beginnt, aber sofort mittels einer aufbauenden Analepse von der Immigrationsgeschichte der Eltern berichtet wird, tritt später die analytische Erzählung hinzu. Bei Mounsi, Smaïl oder Djaïdani etwa wird ein Erzählverfahren favorisiert, bei dem die vorgestellte Erzählposition rätselhaft erscheint und erst nach und nach das vorangegangene Geschehen rekonstruiert wird. 884 Dies zeigt zwei Aspekte, auf die auch Hargreaves anspielt: Einerseits die Relevanz der Immigrationsgeschichte der Eltern, die als eigener Anfangspunkt der Geschichte zunehmend in den Hintergrund rückt, und andererseits auch die bewusste chronologische Umordnung der Ereignisse, die die Möglichkeiten der literarischen Konstruktion der eigenen Geschichte unterstreicht. Birgit Neumann unterscheidet im Zusammenhang mit der narrativen Konstruktion literarischer Subjekte drei Formen des Spannungsbogens: die horizontale Entwicklungslinie, bei der wenige Veränderungen innerhalb eines Zeitraumes erzählt werden und daher im Sinne einer „identitären Stabilitätserzählung“ 885 funktioniert, sowie die regressive und die progressive Selbsterzählung. Neumann betont in diesem Zusammenhang, „dass Identität nicht das Resultat eines teleologischen Entwicklungsprozesses ist, son- 882 Glissant 1997a, S. 35ff. 883 Die Konstitution eines eigenen, neuen Mythos in der Beur-Literatur wird ausführlich von Cornelia Ruhe untersucht, vgl. dazu Ruhe 2004. Die analysierte Mythologie ist dabei eingebettet in kulturelle, hybride Gedächtnisräume, die in den untersuchten Texten hergestellt werden durch eine dichte, spezifische Intertextualität - sowohl mit der littérature beur als Verweisungszusammenhang als auch im Hinblick auf das Einschreiben und Um-Schreiben in eine Weltliteratur. 884 Zur Terminologie in Anlehnung an die Untersuchungen von Lämmert vgl. Martinez/ Scheffel 2003, S. 35ff. 885 Neumann 2005a, S. 202. <?page no="234"?> Passagen schreiben 232 dern die nur aus pragmatischen Gründen zeitweise unterbrochene Praxis der aktiven Aneignung von vergangenen Zeiten vom Standpunkt der Gegenwart.“ 886 Der Roman Le gone du Chaâba von Begag stellt, um nur ein Beispiel zu nennen, einen solchen progressiven Spannungsbogen her, der mit dem Genre des Bildungsromans und der Erfolgsgeschichte des beur de réussite korrespondiert. Hargreaves betont die Analogie zwischen Genre und Lebenslauf der Protagonisten: „Typically, Beur fiction takes the form of a ‚roman d’apprentissage’ or ‘Bildungsroman’, in which the line of the plot follows the learning curve of the protagonist.” 887 Hier gehen die Wahrnehmungen zeitlicher Strukturen und historischer Ereignisse mit Wertungen von Progression einher. Regina Bormann weist auf diese kulturell kodierten Vorstellungen von zeitlichen Abfolgen hin: Wesentliche Elemente von Kulturdiskursen sind neben räumlichen Konzepten [...] vor allem zeitliche Vorstellungen, also zum Beispiel Konzepte von „Evolution“, „Fortschritt“ oder „Entwicklung“, von „Geschichte“ oder „Tradition“, von „Kontinuität“, „Wandel“ oder „Prozess“. 888 Bei Begag ist die Zeit der Erzählung zwar in den 1960er Jahren angesiedelt und damit von der Immigrationsgeschichte der Eltern sehr stark geprägt, aber die Situierung in den bidonvilles von Lyon spielt die zentrale Rolle, also die Gegenwart der Kindergeneration. Die Immigration der Eltern in Belghouls Georgette! wird nur sichtbar in der kindlichen Schrift des Vaters bzw. in seinem (falschen) Wissen über das Schreiben. In den Romanen und dem Journal von Benaïssa und Boukhedenna ist die Gegenwart die identitätsstiftende Zeitebene, denn sie ist der problematische Ausgangspunkt der Erzählerinnen auf ihrer Suche nach einem stabileren, positiven Selbstbild. Die von der Gegenwart Frankreichs ausgehende Suche leitet die Protagonistinnen bei ihren (Selbst-)Beschreibungen. In dem Roman von Charef wird auf paradigmatische Weise die Gegenwart der Beur-Protagonisten in der Gegenwart der 1970er/ 1980er Jahre gestaltet: Die Jugendlichen leben in einer Zeit der Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit, Erlebnisse auf dem Arbeitsamt, in der Metro und der Pariser banlieue bestimmen die Erzählungen der Jugendlichen. Die Erinnerungen der Eltern, ihr kulturelles (sprachliches, religiöses) Erbe wird als Belastung erlebt, die Erinnerungen sind stets in die Gegenwart eingelassen (bspw. ausgelöst durch eine Tanzsendung im Fernsehen) oder vollkommen abgeschlossen. Wenn der Vater nach seinem Unfall wie ein weiteres Kind bei der Familie lebt und Madjid weder Gesprächspartner noch Identifikationspunkt sein kann - außer im negativen Sinne, wenn Malika ihrem Sohn vorwirft, nie wie sein Vater werden zu können -, so ist dem Jugendlichen der Zugang zur Geschichte seines Vaters unmög- 886 Ebd., S. 200. 887 Hargreaves 1997a, S. 51. 888 Bormann 2001, S. 165. <?page no="235"?> Passagen schreiben 233 lich. Hier wird abermals deutlich, dass die Erinnerungen und damit die Selbstentwürfe der Beurs in Familiengeschichte(n) eingebunden sind. Geschichte im Sinne einer zeitlichen Kontingenz und Geschichten im Sinne narrativer Konstruktionen hängen im Beur-Roman unmittelbar zusammen. Der Aspekt der diskursiven Konstruktion einer Geschichte 889 und temporaler Traditionslinien ist auch vor dem Hintergrund der Politisierung der Beurs und ihren Bestrebungen zur Selbstermächtigung und Etablierung einer eigenen Stimme zu sehen - beispielhaft sei auf die Titel Une fille sans histoire, Née en France: Histoire d’une jeune beur und Sujets libres verwiesen, die eine Entwicklung beschreiben von der Übermacht der Immigrationsgeschichte der Eltern, die der Tochter eine Geschichte verwehren, 890 über eine eigene Geschichte als Beurette hin zu einem Modell von Geschichtserzählung, die als Verdrängung aufgrund der kulturellen Assimilation der Eltern wahrgenommen wird. In einem zusammenfassenden generationsübergreifenden Blick lässt sich festhalten: Bei Kettane, Kenzi, Begag, Charef und Djura wird eine chronologische, weitestgehend linear konstruierte Geschichte erzählt, die aus den Erinnerungen der Kindheit ein stabilisierendes Moment zu gewinnen sucht. Paradigmatisch ist dabei der Roman von Tadjer, dessen temporale Ereignisse wie das Schiff von Algier nach Marseille eine gradlinige Route beschreiben. In den intradiegetischen Erzählungen der Dialogpartner des Protagonisten allerdings werden Erinnerungen und Wünsche integriert. Der transitorische Moment der Gegenwart steht im Vordergrund; Vergangenes und Imaginationen der Zukunft werden ausgehend von diesem Moment der Gegenwart formuliert. Die Gegenwart als Ausgangspunkt der Erzählung spiegelt sich auch im Genre des Tagebuchs wider, wie bei Benaïssa, in der die Tagebucheinträge die unmittelbare Erinnerung und das Erleben suggerieren. Und die Verortung in einer medialen, globalisierten Gegenwart führt bei Guène und B. zu einer traditionell chronologischen Erzählung, in der die literarischen Figuren einerseits die Souveränität in der Gegenwart demonstrieren und die Vergangenheit der Eltern eine geringe Rolle spielt (weder der Weggang des Vaters bei Guène noch der Tod der Mutter von Kamel Léon in Allah superstar), und andererseits einen optimistischen Ausblick auf die Zukunft (aus „kif-kif demain“ wird „Kiffe kiffe demain“) oder ein zynisches Ende (der Tod auf der Bühne bei B.) formulieren. 889 Paul Veyne unterstreicht die diskursive Gestaltung von Geschichte: „Um die nützliche Unterscheidung von G. Genette aufzugreifen: sie ist diegesis und nicht mimesis.“ Veyne 1990, S. 42. 890 Die Erschöpfung der Mutter in Une fille sans histoire ist so stark, dass sie keine Kraft hat, ihren Kindern Geschichten zu erzählen und damit eine eigene Geschichte zu formulieren „où puiser la force de leur fabriquer des histoires pour qu’ils demeurent et qu’ils durent? “ Imache 1989, S. 32. <?page no="236"?> Passagen schreiben 234 Sid Ali nun bezeichnet die Zeit als eine unsichere Variable („Le temps est en suspens.“ 891 ), was sich an den Einschüben, in denen er wieder in die eigene Erzählgegenwart zurückgeholt wird, zeigt. Die Erinnerungen werden zu seiner Gegenwart, in denen er präsenter ist, als in der tatsächlichen Erzählgegenwart. Doch die Gedächtnislücken zerstören die Erinnerungsleistung des Protagonisten und brechen mit der Illusion der retrospektiven Ordnung von Erlebnissen im Sinne einer chronologischen, teleologischen Zeitkonzeption. Einigen Romanen, besonders denen von Mounsi, Smaïl und Djaïdani, liegt zudem eine Problematisierung des eigenen Erinnerungsvermögens zugrunde: Die Protagonisten vermögen ihre eigene Geschichte und ihre Erinnerungen nicht kohärent zusammenzusetzen und eine Chronologie herzustellen. Die Fragilität temporaler Strukturen entspricht auch hier den Hybridisierungen der Erzähler und Erzählerinnen: Als Ende der eigenen Zeit, das immer schon dem Leben eingeschrieben ist, wird es im Erzählen von Gegenwart, erinnerter Vergangenheit und Traumphantasien mitreflektiert. Hilfreich scheint in diesem Zusammenhang der Inszenierung der Erinnerung das von Michael Basseler und Dorothee Birke vorgestellt Konzept der „Mimesis des Erinnerns“. 892 Ihr Ausgangspunkt ist dabei die Betonung des aristotelischen Mimesis-Begriffes, der die kreative Kraft entgegen dem platonischen Verständnis als bloße Nachahmung der Mimesis unterstreicht. In Anlehnung an Genette betonen Basseler und Birke daher den Effekt der Mimesis-Illusion, denn „Erinnern kann nicht wirklich nachgeahmt, sondern es können lediglich verschiedene Erinnerungsprozesse literarisch ‚inszeniert’ und damit eine Mimesis-Illusion erzeugt werden.“ 893 Betont nun Smaïls Sid Ali sein schwindendes Erinnerungsvermögen, so fingiert er eine Unzuverlässigkeit seines Erzählens - eine Konzeption, die besonders in der anglistischen Literaturwissenschaft diskutiert wird. 894 Basseler und Birke differenzieren hier, dass die Kategorie des unzuverlässigen Erzählens zunächst selbst problematisch ist, und stellen fest: 891 Smaïl 2003, S. 173f. 892 Basseler/ Birke 2005. Ich möchte in diesem Zusammenhang nochmals betonen, dass es mir nicht um die Authentifizierung, also um den mimetischen, realistischen Gehalt der evozierten Ereignisse geht, sondern um die Gestaltung der fiktionalen Eigenzeit. Die Funktionen des Aufgreifens ‚realer’, außerliterarischer Ereignisse oder Diskurse ist ein Aspekt transkulturellen Schreibens, der im letzten Kapitel beleuchtet wird. In Anlehnung an die Überlegungen von Ansgar Nünning und Roy Sommer, die sich bei der literaturwissenschaftlichen Analyse von Zeiterfahrungen auf die methodischen Zugänge von Genette und Paul Ricœurs mimesis-Konzeptionen stützen, geht es mir um die textuelle Gestaltung von Zeit, also mit Ricœur um die Ebene der „Konfiguration“: „[...] um die strukturellen Merkmale narrativer (fiktionaler wie nicht-fiktionaler) Rede, die ihre Erzählgegenstände konfiguriert und dadurch deren temporale Struktur bestimmt[...].“ Nünning/ Sommer 2002, S. 38. 893 Basseler/ Birke 2005, S. 124. 894 Vgl. Nünning 1998 sowie den Überblicksartikel von Monika Fludernik 2005. <?page no="237"?> Passagen schreiben 235 Thematisiert ein Erzähler häufig den Erinnerungsprozess und gesteht sich Erinnerungslücken und retrospektive Sinnstiftung ein, so kann er nicht mehr als unzuverlässiger Erzähler im eigentlichen Sinn gelten, selbst wenn die von ihm geschilderten Ereignisse sich innerhalb oder außerhalb der erzählten Welt widersprechen [...], ist diese ‚thematisierte Unzuverlässigkeit’ Teil einer Rhetorik bzw. Mimesis des Erinnerns. 895 Ferner zeigen die Romane, dass besonders in der dritten Generation das Phänomen der Individualisierung und der narzisstischen Selbstspiegelungen mit problematischen Erinnerungs(re)konstruktionen einhergehen. Isoliert in einer Gefängniszelle ist es bspw. für Sid Ali im Verlauf der Romans zunehmend schwierig, die eigenen Erinnerungen kohärent zusammenzufügen - es entstehen ihm schmerzlich bewusste Gedächtnislücken und die Grenze zwischen Erinnerungen und Phantasmen verschwimmt. 896 Erst mit der Betonung der inneren Differenz, also einer Art Brüchigkeit des erzählenden Subjekts, und nicht mehr dem Ziel, sich in der Zerrissenheit der Situation der Postmigration als identitär, also einheitlich zu erzählen, werden auch die Zeitstrukturen unzuverlässig. Das Moment der temporalen Konstruierbarkeit, also auch die Möglichkeit von Dissonanzen zwischen der Chronologie der Geschichte und der Chronologie der Erzählung, wird erst in den späteren Texten als kreatives Moment erkannt und genutzt. Zwei zentrale Dynamiken sind sichtbar geworden, die sich bereits in den synchronen Analysen abgezeichnet haben: Zum einen gibt es eine Tendenz der Ablösung von Bezugnahmen auf zeitliche Rahmenbedingungen und Geschichtserzählungen (mit Sujets libres wird dabei eine konträre, kritische Position formuliert) zugunsten einer stärkeren affektiven Bindung an topologische Identifikationsangebote (die wiederum mit heterotopen Konstruktionen problematisch und teilweise konterkariert werden). Zum anderen nehmen die Sprache und das Schreiben als Bühne für die Selbstinszenierungen und Selbstformulierungen eine wichtigere Rolle ein. „[R]aconter mes bla-bla familiaux, ce n’est pas trop le sujet de l’histoire que je veux faire naître ici. [...] l’idée me vint de noircir le papier qui racontera l’univers du quartier“, 897 erzählt der Protagonist Yaz in dem Vorgängerroman Boumkœur von Djaïdani energisch und weist auf eine Schwerpunktsetzung hin, die nicht nur in der Theorie des spatial turn und spätestens seit Foucault auftaucht: die zunehmende Relevanz des (lokalen) Raums für die Identifizierungen der Subjekte. 895 Basseler/ Birke 2005, S. 141. 896 Diese Romanpassagen scheinen beispielhaft die Gedächtniskonzeptionen von Maurice Halbwachs zu bestätigen und zu zeigen, dass keine Erinnerung ohne kollektive Einbettung entstehen und bestehen kann bzw. inszenieren die schmerzhafte Loslösung vom kollektiven Gedächtnis und damit von Kollektiven, die zu Spaltungen und Verunsicherungen des Selbst führen. 897 Djaïdani 1999, S. 13ff. <?page no="238"?> Passagen schreiben 236 3.2 Der Ort im Fluss: „saisir le flux d’un lieu“ 898 Analog zu den temporalen Strukturen, die sich als sich überlagernde Geschichte(n) darstellen, die nicht mehr linear erzählt werden und die die Geschichtsspuren der Elterngeneration mit den eigenen Erfahrungen und Erlebnissen der Beurs verbinden, verändern sich auch die Semantisierungen des Raums und die Konstruktionen der Topologien. Es hat sich in den synchronen Analysen der Raumkonstruktionen gezeigt, dass die nationalen Territorien, das Elternhaus und die banlieue, aber auch das Gefängnis oder die Wüste von den literarischen Figuren als kulturell konnotierte, oftmals als dichotom und einander ausschließende Orte beschrieben und die identitären Bezugnahmen darauf unterschiedlich gestaltet werden. Bei der generationsübergreifenden Analyse der Texte werden im Folgenden zwei Ziele verfolgt: Zum einen werden in der diachronen Perspektive auf die Texte die Dynamiken und die Resistenzen in den jeweiligen Raumkonstruktionen untersucht, die für die Kinder der maghrebinischen Immigration stets eine Zone kultureller Überlagerungen, eine contact zone nach Mary Louise Pratt, 899 sind. Zum anderen legen die folgenden Analysen den Schwerpunkt weniger auf die Rekonstruktion der Orte, wie sie die vorangegangenen, generationsimmanenten Analysen strukturierten, sondern gehen vielmehr den unterschiedlichen Funktionen „topographischer Hybridität“ (Dubiel) nach: So geraten alternative Räume, Utopien und Heterotopien und schließlich die eigenen (neuen) Raum öffnenden Bewegungen in den Blick. Ferner zeigen die Textanalysen in der diachronen Zusammenschau der Romane auch im Zusammenhang mit der Raum-Kategorie die Relevanz des Textes und des Schreibens für die Identitätskonstruktionen der Beurs. Am Ende dieses Kapitels werden daher erste Ergebnisse im Bezug auf die Verbindung von écriture und Raum festgehalten, die dann als Aspekte der im letzten Kapitel entworfenen écriture transculturelle beur differenzierter ausgeführt werden. Die konzeptuelle, terminologische Unterscheidung von Raum und Ort erscheint für die Textanalysen besonders sinnvoll, da die Orte zunehmend als instabil beschrieben werden, ihre Grenzen durchlässig werden und die Beurs durch vielfältige Bewegungen eigene Räume beschreiben. Die theoretische Einbettung folgt einem phänomenologischen und konstruktivistischen Raumbegriff, wie er maßgeblich von Michel de Certeau und Gaston Bachelard formuliert wird. De Certeau unterscheidet die Konzepte des Raums und des Ortes anhand ihrer Einbindung der Zeitdimension und der Aktivität der Bewegung: Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. [...] Er ist 898 Boulouque 2004, S. 147. 899 Vgl. Pratt 1992. <?page no="239"?> Passagen schreiben 237 also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren. 900 Für die vorliegenden Analysen ist seine Annahme zentral, dass Orte zwar momentane, aber feste Punkte oder Positionen im Raum darstellen, während der Raum durch die Handlung der Bewegung entsteht. Jene Bewegung beschreibt de Certeau mit der Metapher der Wegstrecke („parcours“), der er die Karte als Gegenmodell entgegen setzt: Während die Karte der Repräsentation des Ortes im Sinne eines leblosen „Daseins“ entspricht, korrespondiert die Wegstrecke mit der Handlung, durch die der Raum erst entsteht. 901 Dieser Aspekt ist auch für die literarischen Beschreibungen der Raumwahrnehmungen der Beurs von Relevanz, denn auch sie - dies wird in den Analysen der Bewegungen deutlich - beschreiben einen Raum durch ihren eigenen „parcours“. Von einem ‚Aufspannen eines Raumes’ geht auch Martina Löw aus, wenn sie bei ihrer Raumdefinition die relationale Ordnung und Anordnung unterschiedlicher Elemente betont. Ausgehend von der Annahme, dass Räume nicht natürlich vorkommen, sondern produziert werden müssen, macht Löw in den (Re-)Produktionsmechanismen zwei Teilprozesse aus: die Syntheseleistung, die aufgrund von Wahrnehmungen und Vorstellungen die Konstituierung von Räumen aus unterschiedlichen Komponenten beschreibt, und das Spacing, das das Platzieren von Lebewesen und sozialen Gütern, aber eben auch die Selbstverortungen erfasst. Löw resümiert: Raum ist eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten. [...] Raum wird konstituiert durch zwei analytisch zu trennende Prozesse, die Syntheseleistung und das Spacing. Die Syntheseleistung ermöglicht es, Ensembles sozialer Güter und Menschen wie ein Element zusammenzufassen. [...] Räume sind nicht natürlich vorhanden, sondern müssen aktiv durch Syntheseleistung (re)produziert werden. Über Vorstellungs- und Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse werden soziale Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst. [...] Im praktischen Handlungsvollzug ist die Syntheseleistung mit Plazierungsprozessen verbunden und umgekehrt. Diese Plazierungsprozesse, das heißt, das Plazieren sozialer Güter oder Lebewesen bzw. das Sich-Plazieren derselben [...] werden als Spacing bezeichnet. Spacing-Prozesse sind Aushandlungsprozesse. 902 De Certeau und Löw ist eine Erkenntnis gemein: Den Raum bestimmt neben der Handlung und der Bewegung die Aushandlung, mit allen Kompromissfindungen und Konflikten. Hier klingt nicht nur die Beschaffenheit solcher Räume als durchaus problematisches Konstrukt an, sondern auch die Möglichkeit der Konnotation des Raums als „mehrdeutige Einheit“ (de Certeau). 900 De Certeau 2006, S. 345. Ähnlich formuliert es auch Martina Löw, wenn sie den Ort beschreibt: „Ein Ort bezeichnet einen Platz, eine Stelle, konkret benennbar, meist geographisch markiert [...]“. Löw 2001, S. 199. 901 Vgl. de Certeau 2006, S. 346ff. 902 Löw 2001, S. 224f. (Hervorhebungen im Original). <?page no="240"?> Passagen schreiben 238 Die Bedeutungszuschreibungen in Form von Wahrnehmungen und affektiven Aufladungen der topologischen Konstrukte wiederum können mit Hilfe der Analysen von Gaston Bachelard erläutert werden. Denn die emotionale Bindung an einen Raum, der durch die Wahrnehmungen und Handlungen der Subjekte entsteht, sind für Bachelard von Interesse. Er untersucht positiv besetzte Räume in einer „Topophilie“ und stellt fest: „Der von der Einbildungskraft erfaßte Raum kann nicht der indifferente Raum bleiben, der den Messungen und Überlegungen des Geometers unterworfen ist. Er wird erlebt.“ 903 Auch auf formaler Ebene bietet sich die Raum-Metaphorik zur Beschreibung literarischer, transkultureller Verfahren an. Während ein Text linear nur nacheinander zu erzählen vermag, auch wenn die Zeitebenen achronologische Abfolgen inszenieren, so ist im Bild des Raums die Konzeptualisierung simultaner unterschiedlicher Phänomene möglich. Übereinanderlagerung von Räumen, die Speicherung von Geschichte in Zimmern und Wohnungen zeugen von dieser Hinwendung zu einem Denken an und im Raum, das allerdings die Zeit nicht aus dem Blick verliert. Das Haus der Großeltern bei Bouroaui etwa, in dem Nina im Kinderzimmer ihrer Mutter nach Spuren der Vergangenheit sucht, 904 funktioniert im Sinne von Gaston Bachelards Raumkonzeption als Zeitspeicher: „In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit. Dazu ist der Raum da.“ 905 Neben der Dauer manifestiert sich im Raum aber auch die Veränderung. Dies wird bei Boulouque sehr deutlich, deren Protagonistin beim Betreten ihres alten Zimmers bemerkt, dass sie sich verändert haben muss, da sie sich selbst fremd geworden ist: „On se devient vite étranger, s’est-elle dit en entrant dans la pièce.“ 906 „Nicht nur der Raum ist dem Subjekt fremd geworden, sondern vor allem ist auch das Subjekt dem Raum fremd geworden“, 907 beschreiben Basseler und Birke diesen Effekt. Dass das Subjekt auch dem Raum fremd geworden ist, wird bei Boulouque deutlich, indem die Erzählerin als Tochter keinen Platz, keinen Raum mehr in der elterlichen Ferienwohnung findet. Die Raumdarstellungen in der Literatur aber sind nicht nur immanent mit der inneren Verfasstheit der Subjekte 908 verbunden. Gerhard Hoffmann hat schon in einer frühen literaturwissenschaftlichen Arbeit den Begriff des „gestimmten Raums“ vorgeschlagen, in dem der Raum und die sich in ihm befindlichen Dinge Ausdrucksträger des Inneren des Subjektes sind: „Dabei 903 Bachelard 2006, S. 166. 904 Vgl. Bouraoui 2000, S. 113ff. 905 Bachelard 1992, S. 35. 906 Boulouque 2004, S. 34. 907 Basseler/ Birke 2005, S. 131f. 908 Vgl. dazu die auf den Roman übertragbaren Annahmen Pfisters, der für das Drama die Funktionen des fiktiven Raums (und der Zeit) in ihrer Semantisierung beschreibt; so können räumliche Oppositionen als „Modell für semantische Oppositionen“ funktionieren. Pfister 1997, S. 339. <?page no="241"?> Passagen schreiben 239 kann das Äußere für etwas Inneres stehen, der Raumentwurf kann einen psychischen Prozeß, eine Anmutung, einen nicht artikulierbaren Vorgang spiegeln.“ 909 Der untersuchte Raum in der Beur-Literatur aber ist nicht nur Spiegel der Gemütslage der Subjekte, sondern gleichzeitig Ergebnis der Handlung der literarischen Figuren (und nähert sich damit dem von Hoffmann beschriebenen „Aktionsraum“ an). 910 Elisabeth Bronfen schlägt noch eine weitere Verwendung des Raumbegriffs für literarische Analysen in ihrem Begriff des „literarischen Raums“ vor - analog zu Basseler und Birkes Konzeption im Sinne einer ‚Mimesis des Raumes’. 911 Sie markiert mit diesem Konzept, in dem sie begehbare Räume, metaphorische Räume und textuellen Raum verbindet, die mimetische Nähe bzw. Distanz zwischen extraliterarischer Wirklichkeit und Text; in ihren Worten: Der literarische Raum kann deshalb verstanden werden als bedeutsames Wechselspiel zwischen der Erscheinungswelt und der sprachlichen Formulierung [...] von Wirklichkeit und ihre[r] sprachliche Darstellbarkeit. 912 Die untersuchten Raumkonzeptionen werden im Folgenden zunächst auf ihre Funktion im Zusammenhang mit der hybriden Verfasstheit der literarischen Figuren, also ihren identitären Strategien, untersucht. Die diese Räume konstituierenden Handlungen und Bewegungen werden anschließend in den Blick genommen, d.h. die Formen des „parcours“ analysiert, oder - um mit Schlögel zu sprechen - dem Zusammenhang zwischen den Selbstentwürfen und Raumwahrnehmungen nachgegangen: „Lebensbeschreibungen sind Bewegungsgeschichten.“ 913 Die Raumgestaltungen in den Texten der von mir angenommenen Beur-Generationen haben in der diachronen Perspektive sehr ähnliche loci zum Zentrum, die allerdings unterschiedliche Funktionen annehmen: erstens als stabile Orte fester Identifikationen und Differenzbildung, zweitens als Utopien und drittens als Heterotopien im Sinne Michel Foucaults. 909 Hoffmann 1978, S. 55. 910 Vgl. ebd., S. 79ff. 911 Vgl. Bronfen 1986. Den textuellen Raum bestimmt Bronfen als einen durch den Leseprozess hergestellten Raum, bei dem der Leser nach der Lektüre den Text in seiner räumlichen Dimension wahrnimmt, voneinander getrennte Passagen zusammenführen muss etc., und im Text so Simultaneität hergestellt wird. Vgl. ebd., S. 315ff. 912 Ebd., S. 356. An diesem Punkt setzt auch Nicola Westphal an, die dem fiktionalen Raum eine Bedeutung für die literarische Qualität des Textes zuspricht: „Fiktionaler Raum kann aber, außer als mehr oder weniger faktisch-dokumentarischer Hintergrund für eine Handlung, noch eine weitere Funktion erfüllen. Er kann metaphorische, symbolische oder allegorische Bedeutungen tragen, die Teil dessen sind, was man als selbstreferentielle oder poetische Qualität eines Textes bezeichnen könnte.“ Westphal 2007, S. 11. 913 Schlögel 2003, S. 368. <?page no="242"?> Passagen schreiben 240 Erstens werden in den frühen Texten veritable Orte entworfen, die feste Identifikationen erlauben und die als Stätten der Inklusion bzw. Exklusion funktionieren. In diesem Romanen stellt der Ort primär eine lokale Fixierung mit stabilen Grenzen dar, die keine Ausflucht ermöglichen. Der Ort des Gefängnisses als paradigmatischer Ort fester, unverrückbarer Grenzen kommt in den Texten ebenso vor, wie er als Metapher für andere Lebensorte fungiert: So heißt es bei Kenzi „Je haïssais ces banlieues, [...] ses enclos, ses barrières qui me retenaient prisonnier“. 914 Auch das Heimatland der Eltern kann als ein solches Gefängnis fungieren, wie bspw. bei Djura oder Benaïssa, deren Erzählerinnen ja tatsächlich in diesem Land gefangen gehalten werden. Das Herkunftsland der Eltern ist in der zweiten Generation immer noch ein wichtiges Thema, wandelt sich aber immer mehr zu einem unerreichbaren Land und wird als identifizierender Ort, also als Heimat, von den Erzählerinnen und Erzählern immer mehr abgelehnt. Die Reisen in das Land der Eltern erweisen sich für die Kinder auch als desillusionierend, wie bei Boukhedenna oder Djura, und zeigen, dass ihnen die Marginalisierungen und Diskriminierungen auch auf Seiten der algerischen Gesellschaft entgegenschlagen. Das Gefühl nirgendwohin zu gehören geht einher mit der Distanzierung von dem Land auf der anderen Seite des Mittelmeers. Die Orientierungs- und Heimatlosigkeit spiegelt sich programmatisch in Titeln wider wie Les A.N.I. du „Tassili,“ Zeïda de nulle part oder Journal: Nationalité immigré(e). Laronde untersucht das semantische Feld des Ortes, das die Titel seines literarischen Korpus beschreiben. Die resultierende „toponymie“ fasst dabei nicht nur konkrete geographische Orte, sondern auch solche, die eine soziale, psychische oder mythische Geographie konnotieren. 915 Die Zugehörigkeiten der Beur-Erzählerinnen und -Erzähler sind problematisch geworden. Exemplarisch zeigt dies der Reiseroman von Tadjer, der einen eigenen Ort für Exilanten, Immigranten und ihn selbst als Beur formuliert, nämlich die Fähre, aber damit einen Raum herstellt, der eher auf das Zuhause in Frankreich gerichtet ist, aber über das Mittelmeer hinweg konstruiert ist. Die besondere Rolle des Schiffs als Heterotopie wird später näher ausgeführt. In der dritten Generation schließlich ist zu beobachten, dass das Land der Eltern immer weiter in den Hintergrund gerückt ist. Der Maghreb wird zum Ort der verklärten, aber uneinholbaren Kindheit wie bei Bouraoui; bei Smaïl dient er als Negativfolie für das eigene eurozentristische Bewusstsein als Franzose. Die Reisen nach Algerien oder Marokko finden als Touristen statt, wie bei Smaïl, oder stehen wie bei Boulouque für die Uneinholbarkeit der Familiengeschichte. Die Zugehörigkeit zu einer Nation als Territorium wird weitestgehend ignoriert oder, wie bei Rahmani, massiv abgelehnt. 914 Kenzi 1984, S. 82. 915 Laronde 1993, S. 74. <?page no="243"?> Passagen schreiben 241 Der wichtigste Ort, mit dem sich die Jugendlichen der ersten Generation identifizieren und in dem der Lebensmittelpunkt der literarischen Figuren liegt, ist das Elternhaus. Der Lebens‚weg’ ist also zunächst auf einen Lebensort beschränkt, der durch die Weitergabe der kulturellen Traditionen der Elterngeneration geprägt ist. Mit dem Elternhaus hängen daher in der ersten Generation die massive Bezugnahme auf das Heimatland der Eltern, meist Algerien, zusammen und die als Leidensgeschichte erzählte Unmöglichkeit, sich in Frankreich einzurichten oder gar zu verorten. In der zweiten Generation werden die unverrückbaren Grenzen des Elternhauses zum zentralen Thema der literarischen Texte. Die Beurettes versuchen sich aus den paternalistischen Regeln der Eltern zu befreien, indem sie die Familie verlassen wie bei Djura oder Benaïssa. Die Befreiung aus dem Elternhaus und die bewusste Wahrnehmung der Grenze 916 und damit der Begrenzung steht im Vordergrund. Die Türschwelle wird zur paradigmatischen Barriere zwischen dem Elternhaus und der französischen Gegenwart, wie bei Benaïssa, deren Erzählerin von der Mutter auf der Türschwelle stets Verhaltensregeln nachgerufen werden; als Trennlinie zur banlieue und zur Schule. Jene Türschwelle steht metaphorisch für die strenge Trennung von französischer und arabischer Welt, analog zu der postkolonialen Konzeption der Grenze. 917 Die Befreiung aus dem Elternhaus bzw. die Ablehnung der Identifikationsangebote wird in der banlieue als eigener Lebensraum und in der Jugendclique aufgefangen. Die Peripherie wird zum eigenen Ort: der Marginalisierungen bzw. der Abwehr dieser spatialen und kulturellen Exklusionsmechanismen. Mit der postkolonialen Perspektive auf spatiale Phänomene, wie sie etwa von Edward Soja formuliert werden, werden die Machtverhältnisse im (urbanen) Raum sichtbar, die er als Folge kolonialer Hegemonieansprüche beschreibt. Soja betont in seiner Kritik gleichermaßen die bis heute wirksamen Mechanismen eurozentrischer Geographien, die kulturell Andere an die Ränder der Städte und der Gesellschaft drängen, wie die Möglichkeiten der Marginalisierten, die kolonialen Dichotomien von Peripherie und Zentrum in einem „Thirdspace“ 918 zu überwinden; „the margin refuses its place as ‚Other’“. 919 Diese Überwindungen werden in den literarischen Texten nicht nur dadurch erreicht, dass die eigene Vorstadt zum Lebenszentrum avanciert, sondern andersherum auch dadurch, dass wie bei Smaïl das Zentrum zur Peri- 916 Die Identitätsprozesse, die sich auf der Grenze abspielen, stehen auch im Zentrum der Analysen von Cornelia Ruhe, die mithilfe der Semiosphären von Lotman kulturelle und identitäre Raumkonstruktionen untersucht, vgl. Ruhe 2004. 917 „As well as literaral frontiers, the discours of empire was metaphorically concernced to delineate boundaries and frontiers, inventing categories for which the spatial was always and only a loose image for a perceived or desired racial, cultural or gendered divide.“ Ashcroft/ Griffiths/ Tiffin 1998b, S. 108f. 918 Soja 1996. 919 Soja/ Hooper 1993, S. 190. <?page no="244"?> Passagen schreiben 242 pherie erklärt wird, zum Zentrum der kollektiven Erinnerung, wie auch der Literaturwissenschaftler Réda Bensmaïa festhält: On the other hand, Paris, Barbès, La Goutte d’Or, and other working-class neighborhoods in Paris are revealed to be the centers of Algerians’ (and African’s in general) memory. Little by little these neighborhoods become an integral part of their identity, their history and their memory. 920 Noch deutlicher muss man hier festhalten, dass die banlieues nicht bloße Schauplätze darstellen, sondern dass diese an die Geschichtskonstruktionen gebunden und Teil des kollektiven Gedächtnisses sind. 921 Doch besonders die transkulturelle Perspektive auf die Raumkonstruktionen in den Texten öffnet den Blick für ein Verfahren, das nicht bei der bloßen Umkehrung von Peripherie und Zentrum stehen bleibt. Besonders in den aktuellen Romanen der dritten Generation steht nicht mehr die Formulierung einer bestimmten Zugehörigkeit zu einem urbanen Ort im Vordergrund, ob banlieue oder Zentrum, sondern wird vielmehr der eigene „parcours“ durch die Vorstadt zum ‚Motor’ der Selbstnarrationen. Der selbstermächtigende Gestus, das eigene Leben zu erzählen und damit auf die diskursive, wenn auch problematische Verhandelbarkeit der Selbstbilder hinzuweisen, schlägt sich in der (selbstbewussten) Durchquerung der banlieue nieder. So vollführt Djaïdanis Erzähler die Konstruktion eines eigenen Raumes: Ausgehend von seinem Kinderzimmer durchstreift er zunächst seine Siedlung, den Markt, um schließlich an ‚seinem’ Ort, bezeichnenderweise einem Bahnhof („ma gare“ 922 ), anzukommen. Es ist nicht mehr die Straße oder ein bestimmter Block, sondern ein ganzes urbanes „Universum“ („l’univers du quartier“ 923 ), das hier durch die Bewegung und durch die Wahrnehmung des Subjekts kreiert wird. Die Schule als Ort des französischen Wissens spielt in den ersten beiden Generationen eine zentrale Rolle, da sie für die Traditionen und Werte einer französischen Gesellschaft steht, mit der die Jugendlichen in ihren peripheren Wohnstädten nicht ohne Weiteres in Kontakt kommen. Hier spiegelt sich einerseits die Hierarchisierung der Schüler und die kultur-rassistische und diskriminatorische Praxis der Lehrer in den Räumen der Schule wider, wie bspw. bei Begag, in dessen Roman Le gone du Chaâba der Erzähler Azouz ja gerade versucht, nicht mehr im hinteren Bereich des Klassenzimmers bei den schlechten Schülern, also seinen arabischen Klassenkameraden zu sitzen, sondern als Klassenbester in der vordersten Reihe. Der Wunsch nach 920 Bensmaïa 2003, S. 45. 921 Mit Neumann kann man diesen Räumen in der Literatur das Potenzial zuschreiben, „die imaginäre Verräumlichung des kollektiven Gedächtnisses“ darzustellen, „wenn der fiktionale Raum über seine Minimalfunktion als Schauplatz hinaus als semantisch aufgeladene Materialisierung des Gruppengedächtnisses wirkt und die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart evoziert.“ Neumann 2005a, S. 194. 922 Djaïdani 2004, S. 16. 923 Djaïdani 1999, S. 13ff. <?page no="245"?> Passagen schreiben 243 schulischem Erfolg und vollkommener kultureller Assimilation ist für den Protagonisten zentral und bestimmen seinen Lebensweg - und damit auch sein lokales Ziel im Klassenraum. Für viele der literarischen Figuren dient die Schule als Ort der Flucht und als Ort der Verunsicherung (wie bei Belghouls Georgette! ) und schließlich, als wichtiges Merkmal für die zunehmende Selbstreferenzialität der Texte, als ein Ort der Schrift. Dass die Schrift des Erzählers von Mounsi in La noce des fous keine stabile Gestalt hat und mal nach rechts, mal nach links zu kippen droht, insgesamt rund und ohne Form zu sein scheint, weist auch auf jene problematische hybride Schreibweise in ihrer räumlichen Organisation hin. 924 Gerade in den neueren literarischen Texten nutzen die Autorinnen und Autoren auch den Text selbst als Raum, um die problematischen Identitätskonstruktionen ihrer Erzähler und Erzählerinnen aufzuzeigen. Auf diesen Aspekt werde ich später zurückkommen. In der dritten Generation nimmt die Schule eine immer geringere Rolle ein. Sie stellt den Rahmen für die Treffen mit der Schulpsychologin bei Guène oder die Bühne der narzisstischen Selbstdarstellungen und der Demonstration der eigenen Intelligenz wie bei Smaïl dar. Dabei dienen bei Smaïl die Lehrerinnen entweder als Objekte der Begierde oder als Diskriminierungsopfer - so führt Sid Ali die Enthierarchisierung und die Aberkennung jeglicher (französischer Staats-) Autorität vor. Sid Ali erobert dabei nicht zufällig gerade die Französischlehrerin, die die französische Sprache in Perfektion beherrscht und eine Art literarischen Salon mit ihren besten Schülern und Schülerinnen veranstaltet. 925 Dass Sid Ali gerade diese Frau erobern will und sie schließlich sogar tötet, weist auf gewaltsame Weise auf die Beherrschung des französischen Schulwissens und Diskurses hin. Als die Vertretungslehrerin für Mme Rénal ihren Dienst antritt, verspottet der Erzähler sie nur. Vor der jungen Lehrerin, die versucht sich mit den Schülern und Schülerinnen aus der banlieue zu solidarisieren, verliert Sid Ali in diesem Moment der Dehierarchisierung den Respekt. Er beweist ihr - zumindest in seiner Wahrnehmung - seine intellektuelle Überlegenheit und diskriminiert sie mit einer machistischen Attitüde, indem er sich bezeichnenderweise in genau diesem Moment einer (sehr vulgären) Jugendsprache bedient, die die junge Frau nicht versteht. Die Exklusionsfunktion der Jugendsprache gegenüber der Lehrerin dreht hier die Hierarchien im Klassenzimmer und die klassische Situation der Diskriminierung der Beurs durch den Lehrkörper um. 926 Dass die Schule in den jüngsten Texten keine zentrale Rolle mehr einnimmt, liegt auch daran, dass die Protagonisten und Protagonistinnen im Vergleich zu den vorherigen Romanen nicht mehr unbedingt im Kindesalter 924 Vgl. Mounsi 2003, S. 43f. 925 Analog ist auch das Verliebtsein des Erzählers von Begag in seine Klassenkameradin namens „France“ zu verstehen. Vgl. Begag 1989a. 926 Vgl. Smaïl 2003, S. 446ff. <?page no="246"?> Passagen schreiben 244 sind: Die Erzähler und Erzählerinnen von Boulouque, Rahmani, von B. und von Djaïdani sind junge Erwachsene, die die Schule bereits verlassen haben. Violaine stellt in Sujets libres von Boulouque gewissermaßen die aktualisierte Figur einer beurette de réussite dar; nur dass sie nicht im Begag’schen Sinne ein erfolgreiches Modell verkörpert und ein glückliches Leben führt, sondern zum modernen Prekariat gehört. Ihre Bildung verschafft ihr zwar Zugang zur Universität und zu journalistischen Tätigkeiten, doch diese sind nicht mehr im Sinne eines hochkulturellen (Kultur-)Wissens positiv besetzt, sondern funktionieren als nicht-identifizierende, nicht mehr sinngebende Schreibtätigkeiten. Orte und Räume dienen in der untersuchten Literatur auch als Utopien, in der die Erzählerinnen und Erzähler neue und alternative Räume erfinden und gestalten können. Michel Foucault geht in seinem Aufsatz „Des espaces autres“ davon aus, dass wir in einem Zeitalter des Raumes leben: L’époque actuelle serait peut-être plutôt l’époque de l’espace. Nous sommes à l’époque du simultané, nous sommes à l’époque de la juxtaposition, à l’époque du proche et du ,lointain’ du côte à côte, du dispersé.“ 927 Im Gegensatz zu Utopien, die für Foucault irreale Räume bezeichnen, entwirft Foucault das Konzept der Heterotopien, welche ihm zufolge reale Gegenorte darstellen, die einen unmittelbaren Effekt auf die Umgebung haben. In der Beur-Literatur werden zwar auch irreale Räume entworfen, die sich in Traumszenarien entfalten oder in die das Heimatland der Eltern verwandelt wird, da es ja nur noch in den Erzählungen der Eltern lebendig und nicht mehr mit persönlichen Erfahrungen der Beurs verbunden ist. „Der Raum der algerischen Heimat der Eltern [...] erscheint als imaginierter Raum, geboren aus den Erzählungen und Erinnerungen der Eltern“, 928 beschreibt Schumann dieses Imaginarium. Hauptsächlich jedoch werden Heterotopien beschrieben, die reale Gegenorte innerhalb der französischen Gesellschaft darstellen. Während Boukhedenna noch die Utopie einer Insel entwirft, auf der alle eine eigene, andere Nationalität haben, die gerade nicht an ein Territorium, sondern an das Dasein als Immigrant geknüpft ist, entwerfen die literarischen Figuren anderer Romane weitere Orte jenseits des Hexagons oder der ‚Frankophonie’. Rom und New York werden bei Boulouque und Bouraoui als Metropolen zu Imaginarien anderer Identifikationen. Spanien und Portugal sind bei Smaïl solche anderen Räume als Länder zwischen Frankreich und Algerien, mit denen Sid Ali bei Smaïl spielerisch die Zentralperspektive auf Europa verschieben kann. Der Ich-Erzähler Paul beschreibt in Smaïls La passion selon moi, dass er nur in Spanien, dem Land zwischen Marokko und Frankreich, glücklich sein und als Fremder/ Ausländer eine transitorische Heimat finden kann. 929 Sid Ali geht in Ali le magnifique noch einen Schritt 927 Foucault 1984, S. 46. Vgl. zur Argumentation von Foucault auch die Zusammenfassung von Rainer Warning 2001, bes. S. 149-153. 928 Schumann 2002, S. 126. 929 Vgl. Smaïl 1999, S. 130f. <?page no="247"?> Passagen schreiben 245 weiter: Er beschreibt Portugal, das Land, in dem er sich verliebt und verhaftet wird, als den Maghreb des Okzidents und überzeichnet so Orientalismen bzw. Okzidentalismen: „Maghreb signifie Occident, voilà ! Et tout comme vous situez très logiquement le Portugal à l’occident de l’Occident, nous le situons au maghreb du Maghreb ! “ 930 Hier wird nicht nur die eurozentristische Sichtweise auf den Orient durch die Umkehrung und Spiegelung der Perspektive karikiert, sondern auch das Verhältnis von Zentrum und Peripherie verschoben. Sid Ali erklärt hier einen Teil Europas als nicht mehr zu Europa gehörig, indem er es als Maghreb tituliert. Der Text führt damit die postkoloniale, ironische Umkehrung des mapping 931 vor, indem die Kartographie neu geschrieben wird. New York stellt für Boulouques Protagonistin Violaine eine Stadt dar, die scheinbar geschichtslos ist und in der es nur Spuren wie Flugbahnen zu entdecken gibt. Die US-amerikanische Metropole wird dabei zum paradigmatischen Ort der Passagen und der Lebenslinien; die Menschen in dieser Stadt sind stets in Bewegung auf etwas zu. Wie Flugbahnen und Kondensstreifen sind nur noch Spuren sichtbar - vielleicht auch nur von einer Illusion: „Ce sont des trajectoires linéaires, des sillages - ou leur illusion.“ 932 Die Leben der Menschen sind unmittelbar mit der urbanen Struktur verbunden: „Comme les gratte-ciel, comme les gens qui courent vers…qui courent, en un rythme effréné, comme si rien ne devait les arrêter.“ 933 So wird der Ort New York zu einem Raum, der strömt: „Pour aller sur des traces, il faudrait échouer et repartir, saisir le flux d’un lieu, quelque chose qui se diffuse, diffus.“ 934 Jenes Bild der Flugbahn ist ein Topos, 935 das auch Pratt für die Beschreibung ihrer contact zone verwendet. In der contact zone treffen Subjekte unterschiedlicher Zeiten und Räume aufeinander; ihre Flugbahnen kreuzen sich in einem solchen Raum: „’contact zone’ is an attempt to invoke the spatial and temporal copresence of subjects previously separated by geographic and historical disjunctures, and whose trajectories now intersect.” 936 Die Stadt Rom funktioniert im Gegensatz zu New York weniger auf der Grundlage einer Geschichtlichkeit der Stadt, die für Violaine in New York so viel ‚unbelasteter’ zu sein scheint, sondern aufgrund der anderen Körperlichkeit, die für Nina in dieser Stadt möglich ist. Denn sie fühlt sich in jener 930 Smaïl 2003, S. 699. 931 Vgl. dazu Ashcroft/ Griffiths/ Tiffin 1998a, S. 31ff. 932 Boulouque 2004, S. 135. 933 Ebd., S. 101. Vgl. dazu auch die Analysen von Richard Sennett 1995. 934 Boulouque 2004, S. 147. 935 Es wird auch deutlich, dass sich viele der Orte durch das Spiel mit den Stereotypisierungen und die wiederkehrenden literarischen Gestaltungen zu Topoi entwickeln. Literarische Räume werden so von Orten zu Topoi, wie Said es für den Orient beschreibt: „the Orient is less a place than a topos, a set of references…of characteristics, that seems to have its origin in a quotation, or a fragment of a text, or a citation from someone’s work on the Orient […].” Said 1978, S. 177. 936 Pratt 1992, S. 7. <?page no="248"?> Passagen schreiben 246 italienischen Metropole unsichtbarer und die körper- und lustbetonte Atmosphäre, die die Erzählerin in der Stadt wahrnimmt, führt zu einer Selbstfindung im eigenen Körper: „Je suis devenue heureuse à Rome. Mon corps portait autre chose. Une évidence. Une nouvelle personnalité. […] Je sortais de moi. Et je me possédais. Mon corps se détachait de tout.“ 937 Darüber hinaus zieht sich der Topos des Meeres durch die Beur-Literatur. Das Meer, und hier im Besonderen das Mittelmeer, dient als Projektionsfläche der Sehnsucht bei Charef, als die Jugendlichen am Ende des Romans aus ihrer banlieue herausfahren und am Meer ankommen; als Ort der Vergänglichkeit bei Kenzi, deren Protagonisten sich ja in Biarritz (bezeichnenderweise an einem Ort des Luxus) ihrer Endlichkeit bewusst werden; als Ort der Kindheit und der Freiheit bei Bouraoui 938 und humorvoll als Ort der Erzählung bei Tadjer, dessen Protagonist sich über das Bild des Zwischen-den- Stühlen-Sitzens lustig macht, indem er es wörtlich nimmt: „Tu sais, ma chère, avoir le cul entre la France et l’Algérie, c’est avoir le cul mouillé, et je ne supporte pas les fesses mouillés. [...] Je me suis acheté un immense transat qui, une fois déplié, s’étale de Tamanrasset à Dunkerque.” 939 Ferner werden in den Texten Heterotopien entworfen, die im Sinne Foucaults als reale Gegenorte und als Krisen- oder Abweichungsheterotopien funktionieren. In der diachronen Perspektive wird deutlich, wie Heterotopien ihre Funktion verändern können, aber auch wie unmittelbar sie mit Brüchen in der Zeit, den Heterochronien zusammenhängen. Die Dimension der Zeit führt Foucault aus u.a. an den Beispielen des Schiffs, das auch in den Beur-Romanen auftaucht. Die Verbindung zwischen Utopie und Heterotopie, die Foucault exemplarisch am Spiegel verdeutlicht, spielt auch in der Beur-Literatur eine Rolle. Foucault postuliert als ein Prinzip der Heterotopien, dass Heterotopien in allen Kulturen strukturell zu finden sind, da sie Momente der Krise und der Abweichung auffangen. Die von Foucault als Abweichungsheterotopien bezeichneten Orte sind auch in den untersuchten Romanen auszumachen, denn in den Texten werden Gefängnisse und Kinderheime beschrieben. Diese ähneln sich besonders in den frühen Texten in den Beschreibungen, sind Orte des Einschlusses von jugendlichen Straftätern oder elternlosen Kindern, bspw. wie bei Imaches Erzählerin Lil; es wird aber auch von imaginierten Fluchten erzählt. Doch auch die beschriebenen Orte des Elternhauses, der Schule und der banlieue sind als Räume zu bezeichnen, die sich als Gegenorte verstehen lassen. So wird besonders in den ersten beiden Generationen die Schule nicht nur zum Fluchtort, sondern zum Gegenort zur Lebenswelt der Beurs in ihrer Vorstadt und in ihrem Elternhaus entworfen; die 937 Bouraoui 2000, S. 184f. 938 Horvath bemerkt dazu: „Symbole le plus riche du roman, la mer est incontestablement l’élément clé du récit qui lie l’Europe à l’Afrique du Nord tout en les séparant.“ Horvath 2004, S. 198. 939 Tadjer 1984, S. 174. <?page no="249"?> Passagen schreiben 247 banlieue funktioniert als Ort der Ausschließung der Immigrantenfamilien aus dem Zentrum der Stadt. Dass dies ein postkoloniales Problem darstellt, betont auch der Soziologe Loïc Wacquant: [...] c’est des immigrés postcoloniaux dont il s’agit [...] Le théâtre politique qui se joue dans et à propos de « la banlieue », c’est, avec un demi-siècle de décalage, l’accomplissement des mouvements de décolonisation. 940 Allerdings funktioniert die cité einerseits - und dies wird in der diachronen Zusammenschau der Texte deutlich - als ein Ort der Ausschließung der (adoleszenten) Jugendbanden, wie sie in der öffentlichen Wahrnehmung gerne stereotypisiert werden, und andererseits werden sie zu eigenen Gegenorten durch die Beurs stilisiert. Wie in den synchronen Analysen der Romane deutlich wurde, wird die banlieue als eigenes Universum, als eigene „Zone“ 941 beschrieben, die die Erzählerinnen und Erzähler (besonders allerdings die männlichen Figuren) als ihren Lebensraum besetzen und beschreiben. 942 Die urbanen Strukturen dienen auf unterschiedliche Weise den Verortungen der maghrebinischen Immigrantenfamilien, wie auch Heinz Gorr untersucht. Die „Pariserfahrungen aus der maghrebinischen Perspektive“ in der Literatur der 1970er bis 1990er bilden den zentralen Gegenstand seiner Studie zur Repräsentation des Stadtbewusstseins in der postkolonialen Literatur. 943 Gorr bezieht den Roman Le thé au harem d’Archi Ahmed von Charef in seine Analysen ein, um auf die spezifische dezentrierte Perspektive aus der banlieue einzugehen, und untersucht, wie „sich Strukturen der Marginalisierung bzw. gegenläufige Diskursstrategien im Text niederschlagen“. 944 Durch die narrative (Re-)Konstruktion der banlieue als Schauplatz urbaner Krisenhaftigkeit wird der Raum neu besetzt (Gorr spricht hier von dem „Recht der Marginalisierten auf Bedeutung“ 945 ). Aus dieser „sozialen und ethnischen Untersicht“ wird der Mythos Paris erstmals aus dem Blick der Peripherie demontiert. Die Peripherie tritt ins Zentrum der Narration. Räume im Wohnviertel, aber auch in den Häusern wie Kellerverschlägen werden zur Metapher für die Position der Immigrantenkinder; die Orte 940 Wacquant 2006. Hervorhebungen im Original. 941 Vgl. bspw. den Dokumentarfilm von Mounir Dridi Ah ma zone! Vorstadtkids von 1994. 942 In einem Interview fasst Loïc Wacquant treffend die Bilder und Stereotype zusammen, die im Rahmen der Diskussionen um die Ghettoisierung der Vorstädte in Frankreich auftauchen: „n suggère ainsi que les banlieues populaires se seraient « ethnicisées », qu’elles seraient devenues des nids de ségrégation, de déréliction et de violence, mais tout ça reste très brumeux: on ne fournit jamais de données précises et on confond allègrement concentration ethnique, habitat taudifié, zone de pauvreté et ghetto, qui n’ont pourtant pas grand-chose en commun. [...] D’abord il faut rappeler que ‚ la banlieue’, singulier, cela n’existe pas, sauf dans l’imaginaire collectif.“ Wacquant 2006. 943 Gorr 2000. 944 Ebd., S. 17. 945 Ebd., S. 168. <?page no="250"?> Passagen schreiben 248 markieren „kulturhierarchisch die Konnotation ‚Tiefpunkt’“ und „sind ein Indikator für ihre Stellung im sozialen Raum“. 946 In der dritten Generation schließlich zeigt sich, dass die banlieue selbst immer wieder mit anderen Räumen und Imaginarien überschrieben wird: Sie wird zum Zentrum in Smaïls Vivre me tue gemacht, sie wird von einem fixen Ort zu einem Raum verwandelt, dessen Grenzen durch Autofahrten und Bahnfahrten ausgeweitet (wie bei Mounsi, Djaïdani und Smaïl) oder durch mediale Räume und Imaginarien von Film- und Fernsehbildern überblendet werden (wie bei Guène, der ferner auch als Bühne eine Rolle spielt wie bei B.). In Paul Smaïls Ali le magnifique bekommt die banlieue durch ihren Namen in diesem Sinne eine Doppelfunktion: Die „Cité des Poètes“, in der Sid Ali und seine Freunde leben, wird zum einen durch den euphemistischen Namen aufgewertet und näher an das Bildungszentrum gebracht, zum anderen markiert der Name aber auch die tatsächlichen Überschreibungen im urbanen Raum, die sich dann auch auf formaler Ebene in der dichten intertextuellen Verweisungsstruktur des Romans zeigen. Die banlieue spielt in einigen Romanen (bei Bouraoui, Rahmani und Boulouque) in ihrer exkludierenden stereotypen Form gar keine Rolle mehr. Es wird deutlich, dass die Heterotopien, dies ist ebenfalls einer der Grundsätze nach Foucault, ihre Funktionen wandeln können und dass diese mehrere reale Orte und Räume zu verbinden vermögen. 947 Zwei weitere Aspekte der Foucault’schen Konzeption scheinen mir besonders relevant für die Raumkonstruktionen in der Beur-Literatur zu sein: die Verbindung zu einer zeitlichen Achse, den Heterochronien, und die Beispiele des Spiegels und des Schiffs. Foucault erwähnt analog zu seinem Raummodell der Heterotopie auch die zeitliche Achse, deren zeitliche Brüche er als Heterochronien beschreibt. Les hétérotopies sont liées, le plus souvent, à des découpages du temps, c’est-àdire qu’elles ouvrent sur ce qu’on pourrait appeler, par pure symétrie, des hétérochronies ; l’hétérotopie se met à fonctionner à plein lorsque les hommes se trouvent dans une sorte de rupture absolue avec leur temps traditionnel […]. 948 Als Beispiele nennt er einerseits jene Heterotopien der Zeit, die die Zeit endlos akkumulieren, wie Bibliotheken oder Museen, und andererseits solche, die auf den flüchtigen Moment fixiert sind, wie bspw. das Fest. Auch in den von den Beurs beschrieben chronotopischen Konstruktionen werden eklatante Zeitbrüche (aber auch Kontinuitäten) beschrieben. Innerhalb der Heterochronie des Elternhauses haben die Eltern durch die Immigrationserfahrung einen Bruch in der Zeit erfahren, den sie - so beschreiben es zumin- 946 Ebd., S. 171. 947 Sehr anschaulich wird dies im Zusammenhang mit der banlieue in Abdellatifs Kechiches Film L’esquive (2003), in dem die Jugendlichen zwischen den Hochhäusern sich eine Bühne imaginieren, auf der sie ein Schultheaterstück einüben. Vgl. dazu meine Überlegungen in Struve 2007a. 948 Foucault 1984, S. 48. <?page no="251"?> Passagen schreiben 249 dest die Kinder in den ersten beiden Generationen - durch die Speicherung der Geschichts- und Zeiterfahrungen des Maghreb im Haushalt und im Viertel zu überwinden suchen. Ein weiterer Zeitbruch ergibt sich dann wiederum für die Kinder im Vergleich zum Ort der Schule; sie befinden sich hier, wie im vorangegangenen Kapitel erläutert, zwischen konkurrierenden Zeitsystemen. Hier soll das Beispiel des Spiegels aufgegriffen werden, das Foucault zur Veranschaulichung der Berührungspunkte zwischen Utopie und Heterotopie anführt, und da des Schiffs als Beispiel für die Heterotopie. Le miroir, après tout, c’est une utopie, puisque c’est un lieu sans lieu. Dans le miroir, je me vois là où je ne suis pas, dans un espace irréel qui s’ouvre virtuellement derrière la surface, je suis là-bas, là où je ne suis pas, une sorte d’ombre qui me donne à moi-même ma propre visibilité, qui me permet de me regarder là où je suis absent utopie du miroir. Mais c’est également une hétérotopie, dans la mesure où le miroir existe réellement, et où il a, sur la place que j’occupe, une sorte d’effet en retour; c’est à partir du miroir que je me découvre absent à la place où je suis puisque je me vois là-bas. 949 Der Spiegel ist - dies wurde besonders in den Analysen der Selbstentwürfe der dritten Generation deutlich - zunächst ein Medium der Gestaltung von Selbstbildern. In den vorangegangenen Analysen wurde er als Mittel und Metapher der Formulierung von Spaltungen und Doppelungen gelesen. Foucault aber weist hier auf eine räumliche, eine topische Lektüre hin. Er erläutert, dass der Spiegel zugleich als Utopie funktioniert, da er irreale Räume und Bilder erzeugt, und als Heterotopie, da er real existiert und ein Bild evoziert, was unmittelbar auf den gespiegelten Raum, also gewissermaßen das Urbild, Auswirkungen hat. Diese Auswirkungen sind, das haben auch die literarischen Analysen der Identitätskonstruktionen gezeigt, gleichermaßen Selbstbestätigungen wie Selbstverunsicherungen. Ein weiteres Beispiel von Foucault scheint mir besonders geeignet, um die Raumkonstruktionen und besonders die Bewegungen und Passagen in den Romanen zu untersuchen. Focault weist am Ende seines Aufsatzes nicht nur auf die Heterotopien der Kolonien als Gegenorte der (gewaltsamen) Herstellung von Ordnung hin, sondern wendet sich dem Schiff als „l’hétérotopie par excellence.“ 950 Foucault hebt auf die Beschaffenheit des Schiffs ab, das als Ort ohne Ort in der Weite des Meeres Häfen (und auch Kolonien) zu verbinden vermag. 951 Im Roman Les A.N.I du « Tassili » wäre dies die Fähre als Ort, der den Raum zwischen den nationalen Territorien herstellt. Dieser Raum stellt den Schauplatz der Unterhaltungen und den Ausgangspunkt der Erinnerungen und Träume der Passagiere dar, welche die Zeit der Überfahrt zwangsläufig miteinander verbringen müssen. An diesem Ort, der selbst eine Reise macht und damit einen eigenen Raum 949 Ebd., S. 47 950 Ebd., S. 49 951 Vgl. ebd. <?page no="252"?> Passagen schreiben 250 durchmisst und erschafft, finden Begegnungen statt, die sonst nicht stattgefunden hätten, überlagern sich die Erinnerungen und Geschichten in den vielen Gesprächen. Auch der RER bei Djaïdani funktioniert analog zu dem von Foucault genannten Schiff, der Zug während der Fahrten von Smaïls Sid Ali oder die Autofahrten und Flüge in so vielen Beur-Romanen. 952 Ein Ort, der gleichzeitig die lokale Position und die Bewegungen zu symbolisieren vermag, ist der Bahnhof, der in einigen Romanen eine Rolle spielt. Besonders wichtig erscheint er in dem Roman von Djaïdani, da der Protagonist ihn nicht nur als „seinen“ Ort beschreibt, sondern nur hier ein (wenn auch flüchtiger) Kontakt mit den vorbeieilenden Zugreisenden imaginiert werden kann. Der Bahnhof ist Mounirs Zielort auf seinem Weg durch sein Viertel, aber auch der Ausgangspunkt, von dem sich sein RER ins Zentrum bewegt. Die Verlassenheit dieses Vorortbahnhofes unterstreicht er noch mit dem Hinweis, dass sich dort so wenige Menschen aufhalten würden, dass der Bahnhof nicht mal in seiner Funktion als Ort der Passage, der Reise funktionieren würde. Was der Erzähler hier beschreibt, ist im Augé’schen Sinne als „non-lieu“ zu bezeichnen. Marc Augé konstatiert, dass die Übermoderne („la surmodernité“) Orte und Räume produziert, die keinen identitären, relationalen oder historischen Charakter haben. Si un lieu peut se définir comme identitaire, relationnel ou historique, un espace qui ne peut se définir ni comme identitaire, ni comme relationnel, ni comme historique définira un non-lieu. L’hypothèse ici défendue est que la surmodernité est productrice de non-lieux, c’est-à-dire d’espaces qui ne sont pas eux-mêmes des lieux anthropologiques et qui [...] n’intègrent pas les lieux anciens [...]. 953 Augé beschreibt die zeitgenössische Gesellschaft als durch Individualisierung, Passagen und den Augenblick („un monde promis [...] au passage, au provisoire et à l’éphémère“ 954 ) gekennzeichnete. Er definiert im Rahmen seiner Analysen Ort und Raum, indem er die Grenze zwischen Ort und Nicht- Ort benennt: „La distinction entre lieux et non-lieux passe par l’opposition du lieu à l’espace.“ 955 Während der Ort im Konreten und Realen verhaftet ist, zeichnet sich der Nicht-Ort durch Abstraktion aus, inbesondere durch Reise, also Verbindung von Orten, hervorgebracht. Doch Augé betont auch die Existenz von beschriebenen, imaginierten Räumen: „Certains lieux n’existent que par les mots qui les évoquent, non-lieux en ce sens ou plutôt lieux imaginaires, utopies banales, clichés.“ 956 Diese spatialen Imaginarien sind es, die in der Beur-Literatur ausprobiert und als Räume durch die Passagen und Bewegungen innerhalb der urbanen Umgebung beschrieben 952 Schumann weist zudem hin auf die Rolle der Zugfahrt bei Ahmed Alouaz sowie auf die Landstraße, auf der der Protagonist von Mustapha Raïth vor der Polizei flüchtet, vgl. Schumann 2002, S. 126. 953 Augé 1992, S. 100. 954 Ebd., S. 101. 955 Ebd., S. 104. 956 Ebd., S. 120. <?page no="253"?> Passagen schreiben 251 werden. Besonders die Literatur der zweiten und dritten Generation arbeitet mit jenen Klischees der Räume, in denen sie leben: Sie konterkarieren die Betonfassaden der banlieue, indem sie immer wieder die euphemistischen Namen der cité betonen oder die banlieue gar selbst nicht mehr als Lebensraum, sondern als gefährlich wahrnehmen, wie bei Djaïdani; sie lösen die sicheren Grenzen zwischen Peripherie und Zentrum auf, indem sie, wie bei Smaïl, Barbès wie einen Pariser Vorort beschreiben und so das Zentrum zur Peripherie machen; und sie schildern gar die Besetzung des Periphérique durch die Gebetsbewegungen des Immigrantenvaters bei Mounir. Doch Augé nennt nicht nur den Bahnhof als paradigmatischen Nicht-Ort der Übermoderne, sondern weist auch auf jene Räume hin, die in der Beur- Literatur eine zunehmende Rolle spielen: Neben dem Bahnhof ist dies etwa der Flughafen, die Straße, das Eisenbahnnetz u.a. 957 Auf diesen Traversen finden vielfältige Überschreibungen statt. Augé nennt sie bezeichnenderweise Palimpseste und macht damit auf die sprachliche, symbolische Seite der (Nicht-)Orte aufmerksam, wie sie auch - wie bereits ausgeführt - im Rahmen spatialer Imaginationen in der Beur-Literatur gestaltet werden und als tatsächliche Über-Schreibungen im Zusammenhang mit der écriture auszumachen sind. Auch in der postkolonialen Theoriebildung sind Palimpseste als Begriffsmetaphern für Überschreibungen von Orten bedeutsam: „Place itself”, heißt es da bei Ashcroft et al., “[...] is a palimpsest of a process in language; the naming by which imperial discourse brings the colonized space ‘into being’, the subsequent rewritings and overwritings[…].” 958 In der Forschung zur Beur-Literatur wird dieser vielfach überschriebene Ort als Zwischenraum diskutiert. „Die Zwischen-Räume: Reise, Flucht und Gefängnis sind Orte vollkommener Heimatlosigkeit, außerhalb von Raum und Zeit“, stellt Schumann fest, „Diejenige, die in diese Zwischenräume geraten, erleben sich als gescheitert.“ 959 Ähnlich argumentiert auch Hargreaves: Because Beur narratives are built in an in-between world, it is natural that many of them should retain an unfinished feel. The fresh departures with which so many Beur protagonists bow out are a measure of their inability to find a settled sense of belonging. 960 957 „Le lieu et le non-lieu sont plutôt des polarités fuyantes: le premier n’est jamais complètement effacé et le second ne s’accomplit jamais totalement - palimpsestes où se réinscrit sans cesse le jeu brouillé de l’identité et de la relation. Les non-lieux pourtant sont la mesure de l’époque; mesure quantifiable et que l’on pourrait prendre en additionnant, au prix de quelques conversions entre superficie, volume et distance, les voies aériennes, ferroviaires, autoroutières et les habitacles mobiles dits « moyens de transport » (avions, trains, cars), les aéroports, les gares et les stations aérospatiales […].“ Ebd., S. 101f. 958 Ashcroft/ Griffiths/ Tiffin 1998d, S. 175. 959 Schumann 2002, S. 127. 960 Hargreaves 1997a, S. 165f. <?page no="254"?> Passagen schreiben 252 Zuzustimmen ist dabei der Feststellung, dass die Etablierung jener Zwischenräume von den literarischen Figuren als prekär erlebt wird, d.h., dass diese nicht (mehr) eindeutig identifiziert sind, also keine stabilen Bindungen aufgebaut und damit keine gesicherten, dauerhaften Identitätskonstruktionen möglich erscheinen. Dennoch zeigt sich in den literarischen Gestaltungen der Selbstbilder und der Räume, dass die Zwischenräume nicht nur mit dem Gefühl des „Scheiterns“ belegt werden. Die Texte loten vielmehr das kreative Potenzial des „entre-deux“ aus. Diese symbolische, aber oftmals konkret lokalisierbare Sphäre stellt den Ausgangspunkt der Suchbewegungen in vielen Romanen dar, wie Horvath für Garçon manqué von Bouraoui feststellt: „Désigné comme l’origine du malaise de la narratrice, l’entre-deux géographique constitue l’un des principaux déclencheurs de sa quête identitaire.“ 961 Auf die Funktion des Zwischenraumes als Third Space, in dem hybride Subjekte formuliert werden, komme ich später zurück. Zunächst bleibt festzuhalten, dass sich in der Literatur unterschiedliche Formen des „parcours“, des Lebens‚weges’, durch den urbanen, globalen bzw. medialisierten Raum ausbilden. Die Bewegung der Protagonistinnen und Protagonisten kann sich äußern in einer Flucht, einem Umherfahren ohne bestimmtes Ziel oder gar in einem Pendeln. 962 Die Pendelbewegung wird humorvoll und ironisch in der Eingangspassage von Djaïdanis Mon nerf geschildert, in der der Ich-Erzähler zwischen den Zimmern der elterlichen Wohnung hin- und herläuft und so - zumindest noch für einen Moment - das Gefühl der Kindheit und der geschlechtlichen Unreife (sowie der kulturellen bzw. religiösen Unmarkiertheit) hinauszögern kann. Oder die Bewegung kann sich gänzlich einer Konzeption von Wegstrecke von einem Punkt zu einem anderen verweigern, indem sie zwischen Reise und Ankunft bewusst ‚verharrt‘ und mit der Paradoxie der Ankunft ohne Ankommen arbeitet. Dennoch, und das soll an dieser Stelle betont werden, beschreiben und gefallen sich die Erzähler und Erzählerinnen nicht nur in permanenten Bewegungen und Auflösungen, sondern verfolgen auch immer wieder Relokalisierungsstrategien. Es laufen folglich dynamische und resistente Verortungsmechanismen parallel ab. Wenn einerseits Boulouques Protagonistin etwa die Lebenslinien der Menschen verfolgt oder Bouraouis Nina ihre Freiheit an einem anderen Ort findet, sind beide Erfahrungen doch an die Sehnsucht nach konkreten Orte gebunden. Und andererseits sind in den frühen Beur-Texten, in denen ja, wie in den Analysen deutlich geworden ist, die Abgeschlossenheit ihrer Lebensorte als Orte massiver Exklusion und Restriktion immer wieder betont und bestärkt wird, auch Bewegungen und Überschreitungen von Grenzen und Öffnungen eigener Räume zu finden. Flucht spielt in den Beur-Texten aller Generationen insofern eine Rolle, als sie immer als Szenario gegen die Gefühle der Eingeschlossenheit und der elterlichen Restriktionen formuliert wird. „Je suis née dans un territoire ét- 961 Horvath 2004, S. 195. 962 Vgl. dazu auch meine Überlegungen in Struve 2008. <?page no="255"?> Passagen schreiben 253 roit. On me court après”, 963 beschreibt auch die Erzählerin von Rahmani und verbindet das belastende Gefühl eines beengenden Territoriums mit dem Gedanken der Verfolgung. Dieses Gefühl der Bedrohung kippt, verfolgt durch die Alpträume der Protagonistin von Rahmani, in die Bewegung der eigenen Flucht, die durch Paradoxa gekennzeichnet ist: „Partir, sortir, fuir. Trouver une porte. Un abri. Et tout ce temps, je m’enfermais à clé.“ 964 Besonders in den Texten der letzten Jahre zeigt sich, dass weniger die Verortungen von Belang sind, d.h. die Rekonstruktion eindeutiger Zugehörigkeiten zu Nationen, urbanen banlieues etc., sondern zunächst einmal die Grenze selbst, wie bspw. die Demarkationslinie zwischen Peripherie und Zentrum bei Mounsi, mit der sich der Protagonist sogar selbst identifiziert: „Nous étions une ligne de démarcation imaginaire, un équateur sur la circonférence du monde“ 965 , oder die Türschwelle bei Rahmani. 966 Doch zusehends treten die Bewegungen mit dem Auto, Zug oder gar mit dem Flugzeug in den Vordergrund, mit denen die Erzähler und Erzählerinnen nicht nur Grenzen überschreiten, sondern gerade ihren eigenen Lebens‚weg’ beschreiben. Und so ist es nicht verwunderlich, dass schon in einem der früheren Texte die Erzählerin in Boukhedennas Journal: Nationalité Immigrée gerade im Flugzeug ihre problematische Selbstverortung zwischen allen Zugehörigkeiten klar wird: „J’ai pris l’avion, déchirée par ces deux pays qui ne veulent plus de nous. J’étais pour l’un la putain, l’immigrée, et pour l’autre la Fatma qui fait le ménage et la bougnoule“. 967 Die Fahrt mit der RER ins Zentrum ist in Djaïdanis Mon nerf zwar immer wieder unterbrochen von Stillständen, allerdings nehmen dann die Imaginationen des Erzählers die Bewegung auf und führen sie solange fort, bis sich der Zug wieder in Bewegung setzt. Die räumlichen Dichotomien, wie sie noch in den ersten beiden Generationen die topologischen Konstruktionen prägen von Elternhaus vs. Schule bzw. Straße, banlieue als Peripherie vs. Zentrum, draußen vs. drinnen, oben vs. unten, vorne vs. hinten werden so durch die Bewegung verschoben und durch die Betonung jener Passage dekonstruiert. Während Cornelia Ruhe in Anlehnung an die Konzeptionen von Lotman den Fokus auf die Grenze legt, 968 scheint sich mir eine Tendenz ausmachen zu lassen, die sich nicht mit der Etablierung und Beschreibung von Grenzen als drittem Ort begnügt, sondern den Modus der Bewegung favorisiert. Wenn Smaïls Sid Ali mit dem Zug quer durch Frankreich reist, sein Ziel Marseille dabei vollkommen aus den Augen verliert und es dem Zufall überlässt, in welcher Stadt er aussteigt, so stellt dies die Bewegung und Resignifizierung des Landes Frankreich dar. Bouraoui beschreibt paradigmatisch das Gefühl einer Anreise 963 Rahmani 2005, S. 61. 964 Ebd., S. 63. 965 Mounsi 2003, S. 19. 966 Vgl. Rahmani 2005, S. 23 und 99. 967 Boukhedenna 1987, S. 102. 968 Vgl. Ruhe 2004, S. 19ff. <?page no="256"?> Passagen schreiben 254 ohne Ankunft - es ist diese Bewegung, in der sie sich wohl und zuhause fühlt, und nicht Rennes oder Alger: „Je profite du dépaysement. Je me sens libre. [...] Parce que je suis ivre de voyage. Parce que rien n’est vrai. […] Je suis ici sans y être vraiment.“ 969 Diese Paradoxie wird auch formuliert, wenn sie ihr stillstehendes Laufen beschreibt („Je cours, immobile.“ 970 ). Die Betonung der eigenen Verortung als Heimat, die nicht einen Ort, nicht einmal den Weg, sondern das auf-dem-Weg-Sein postuliert, kommt exemplarisch in Smaïls La passion selon moi zum Ausdruck, wenn der Erzähler in Spanien erleichtert feststellt: „Etranger mais indigène. [...] à mi-chemin, chez moi.“ 971 „Heimat als Fremde, Fremde als Heimat, Rückkehr ins nie Dagewesene“, 972 könnte man mit Ottmar Ette diese produktiven topischen Paradoxien zusammenfassend beschreiben. Dass sich die Räume als medial geprägte Sphären überlagern, beschreibt Hargreaves: „The different cultural traditions to which the Beurs are heirs simply cannot be held in separate territorial compartments. The secular values of modern France penetrate directly into the family home through powerful media such as television.” 973 Hier weist er auf jenes Phänomen hin, das in der vorliegenden Arbeit anhand der Selbstentwürfe der ‚Medienkids’ behandelt wurde: Die literarischen Figuren von B. und Guène, aber auch von Djaïdani und Smaïl überlagern ihre eigene banlieue und ihr Elternhaus mit Erzählungen von Filmen und Fernsehsendungen, von Werbetexten und politischen Parolen. Bewegungen werden auch in der aktuellen Migrationstheorie neu diskutiert. Klaus Müller-Richter resümiert, dass klassische Migrationstheorien zu kurz greifen, wenn sie schlicht nach Kausalzusammenhängen bei Migrationsmotivationen suchen (den Pushbzw. Pull-Faktoren) und damit eine „lineare, unidirektionale Bewegung“ 974 der Migration unterstellen. Er weist auf neuere Forschungen hin, die die Migrationsbewegungen und unterschiedlichste Beweggründe in den Blick nehmen. 975 Jene Bewegungen, die nicht mehr unidirektional verlaufen müssen, werden, so fährt Müller-Richter fort, in einen direkten Zusammenhang mit Identitätsprozessen von wiederum anderen Ansätzen gebracht. Wenn meine Analysen im Folgenden jene Bewegungen der Kinder der Postmigration in den Blick nehme, so geht dies mit den neueren Erkenntnissen der Disziplin konform, die die „Raumblind- 969 Bouraoui 2000, S. 19. 970 Ebd., S. 21. 971 Smail 1999, S. 130. 972 Ette 2005, S. 13. 973 Hargreaves 1997a, S. 52. 974 Müller-Richter 2007, S. 13. 975 „Demgegenüber haben neuere Ansätze in der Forschung zu internationalen Migration deutlicher die Migrationsnetzwerke und die Migrationskreisläufe in den Fokus gerückt. Durch diese Perspektive werden sowohl das in klassischen Migrationstheorien vorausgesetzte Postulat der Sesshaftigkeit [...] als auch die Reduktion der Migrationsmotivationen auf ökonomische und politische Gründe in Frage gestellt.“ Ebd., S. 14. <?page no="257"?> Passagen schreiben 255 heit“ der klassischen Migrationsforschung anprangern. Dabei geht es - so kann zusammenfassend festgestellt werden - nicht nur um die Infragestellung eines gegeben, prädiskursiven Raums, sondern auch um die konstitutive Rolle des Subjekts mit seinen Imaginationen und Narrationen, die jene Migrationsräume formulieren. 976 Die Koordinaten dieser Migrationsräume, die nun in der Beur-Literatur formuliert werden, sind einerseits durch die Immigration der Eltern geprägt (Maghreb und das Elternhaus), andererseits die Lebensräume der Beurs selbst, wie die Schule oder die Straße, aber auch das Gefängnis oder das Kinderheim. Dass sich die Beurs in einem Zwischenraum befinden, ist - so habe ich versucht zu zeigen - nicht nur an Utopien oder Heterotopien, im Sinne von lokalisierbaren Gegenorten, festzumachen. Vielmehr zeigen die literarischen Figuren, wie sie durch die Bewegungen und Passagen Räume erschaffen und ihren eigenen Weg formulieren, der weder Ausgangspunkt noch Ziel haben muss, sondern der die Entsprechung zu den instabilen hybriden Identitätskonstruktionen der Erzählerinnen und Erzähler darstellt - jenseits der kulturellen Dichotomien. Die Romane entwickeln komplexere Strategien der Selbstverortungen im Zwischenraum der Kulturen und bleiben nicht bei „symbolische[r] Territorialisierung und Grenzüberschreitungen“, 977 wie mit Neumann beschrieben werden könnte, stehen. Sie stellen nicht nur die kulturell konnotierten Räume in Frage, überqueren Grenzen und öffnen damit vermeintlich geschlossene Sphären. 978 Vielmehr dekonstruieren sie durch die Bewegungen, die nicht auf Grenzen rekurrieren müssen, sondern neue - durchaus prekäre - Räume kreieren, die Dichotomien von Identität und Alterität in einem neuen Modell von Hybridisierung. Jene Hybridisierung fasst Homi K. Bhabha in seiner Metapher des Dritten Raums, die für die Beur-Literatur als (neu zu konkretisierendes) Konzept zu beschreiben erlaubt, wie kulturelle Hybridität, Raum-Zeit-Erfahrungen im besonderen kulturellen Repräsentations- und Gestaltungsmedium Literatur zusammenzudenken sind und eine spatiale Metaphorik nutzen, um eine epistemologische Konzeption zu entwerfen. 979 976 „Solche Theorien [bezüglich des actor’s point of view, K.S.] berücksichtigen neben sozialen Relationen in der Herkunfts- und Zielregion den symbolischen Referenzrahmen von Verortung und Veränderungswillen, also Bewertungsprozesse, die mit Imaginationen und Narrationen der Migranten zu tun haben.“ Ebd., S. 15. 977 Neumann 2005a, S. 196. 978 Horvath stellt im Hinblick auf die symbolischen Konnotationen der Räume bei Bouraoui hin: „L’écriture de Nina Bouraoui mobilise notamment les éléments qui, tels que le soleil, le ciel, le désert ou la mer, se chargent d’un sens fort et obtiennent une valeur de symboles plus ou moins stables.“ Horvath 2004, S. 197. 979 Einige der folgenden Überlegungen sind unserem Artikel zur Kulturtheorie von Homi K. Bhabha entnommen. Vgl. Bonz/ Struve 2006. <?page no="258"?> Passagen schreiben 256 Identitäre Neukonstruktionen im Sinne der Bhabha’schen Hybridität speisen sich nicht aus zwei oder mehr Originalen und lösen sich in einer hegelianischen 980 Synthese auf, sondern müssen sich als neue Formen mit inhärenten Differenzen, Ambivalenzen und Widersprüchen ausbilden. So werden Spuren der Originale zwar aufgenommen, allerdings ohne dass sich eine Hierarchisierung von Original und Abbild - auch im Sinne von kolonialgeschichtlichem Autoritäts- und Machtdenken - noch vornehmen lassen kann: But for me the importance of hybridity is not to be able to trace two original moments from which the third emerges, rather hybridity to me is the ‘third space’ which enables other positions to emerge. This third space displaces the histories that constitute it, and sets up new structures of authority, new political initiatives, which are inadequately understood through received wisdom. 981 Diese Hybridisierungen finden in einer Sphäre statt, die Bhabha als Dritten Raum bezeichnet. In diesem Dritten Raum fallen Bhabhas Vorstellungen von Zeitlichkeit, kultureller Hybridisierung und Prozessualität zusammen: Der Dritte Raum stellt „an interstitial space and time of conflict and negotiation“ 982 dar. Der Fokus dieser Konzeption liegt dabei auf dem Moment des dekonstruktivistischen Da-Zwischen, für das Bhabha in seinen Lektüren ein ganzes semantisches Feld entwickelt: Er spricht von „beyond“, 983 der Brücke („the boundary“) nach Martin Heidegger 984 oder der De-platzierung („the displacement“ 985 ). Die zentrale Metapher aber, die Bhabha einem Kunstwerk der Künstlerin Renée Green entleiht, ist das des Treppenhauses, in dem zentrale Komponenten des Dritten Raums versinnbildlicht werden können, wie Prozessualität, raum-zeitliche Bewegungen, weder oben noch unten: The hither and thither of the stairwell, the temporal movment and passage that it allows, prevents identities at either end of it from settling into primordial polarities. This interstitial passage between fixed identifications opens up the possibility of a cultural hybridity that entertains difference wihtout an assumed or imposed hierarchy [...]. 986 980 So spricht sich Bhabha explizit gegen Hegel aus, indem er dessen Dialektik transzendiert: „To write contra Hegel requires that you “work through“ Hegel toward other „supplemental“ concepts of dialectical thinking. You do not surpass or bypass Hegel just because you contest the process of sublation. The lesson lies, I think, in learning how to conceptualize “contradiction” or the dialectic as that state of being or thinking that is “neither the one nor the other, but something else besides, Abseits,” as I’ve described it in The Location Of Culture.” Bhabha nach Mitchell 1995. 981 Bhabha nach Rutherford 1990, S. 211. 982 Bhabha nach Hoeller 1999. 983 Bhabha 1994, S. 1. 984 Ebd. 985 Ebd., S. 217. 986 Ebd., S. 4. Bhabha prägt die Bezeichnung Dritter Raum in einer Auseinandersetzung mit Frederic Jamesons gleichnamiger Konzeption. Vgl. dazu Bhabha 1994, S. 217ff <?page no="259"?> Passagen schreiben 257 Trotz der vielfachen - und sicher nicht unberechtigten - Kritik an diesem Modell 987 kann es im Rahmen der vorliegenden Untersuchung für die Analyse der Identitätskonstruktionen fruchtbar gemacht werden. Denn es betont mehrere Aspekte, die in den Analysen deutlich geworden sind und mittels der Begriffsmetaphorik des Dritten Raums und der Hybridität nach Bhabha beschrieben werden können: Erstens sind Bewegungen und Passagen zu Konstituenten der Selbst- und Raumkonstruktionen der Beurs avanciert. Diese „Zeiten in der Schwebe“, die „Orte im Fluss“, wie sie in den Romanen metaphorisiert werden, werden in ihrem transitorischen Charakter der Dekonstruktion kultureller Dichotomien beschreibbar. Sie bestehen nur in der Passage zwischen den Binaritäten, wie auch Bhabha betont: „The production of meaning requires taht these two places be mobilized in the passage through a Third Space“. 988 Unmittelbar mit dieser Metapher des Dritten Raums verknüpft, und hier wird bereits deutlich, dass Bhabha nicht bei der spatialen Konnotation stehen bleibt, ist die diskursive Beschaffenheit dieser Sphäre. Sie hinterfragt koloniale Diskurse und Machtsysteme und legt den Fokus auf die neuartig zu denkende Produktion (kultureller) Signifikation: The intervention of the Third Space of enunciation, which makes the structure of meaning and reference an ambivalent process, destroys this mirror of representation in which cultural knowledge is customarily revealed as an integrated, open, expanding code. Such an intervention quite properly challenges our sense of the historical identity of culture as homogenizing, unifying force, authenticated by the originary Past, kept alive in the national tradition of the People. [...] It is that Third Space, though unrepresentable in itself, which constitutes the discursive conditions of enunciation that ensure that the meaning and symbols of culture have no primordial unity or fixity; that even the same signs can be appropriated, translated, rehistoricized and read anew. 989 Die Gestaltung durch die Durchquerung von Raum stellt also mehr als nur den prozessualen Charakter hybrider Identifikationen und kultureller Formationen aus. Es weist auch auf den Konstruktcharakter, auf die diskursive Verhandlung jener Konzepte hin. Dies ist an zwei Momenten in der Literatur deutlich ablesbar: Einerseits beschreiben die Texte explizit die der jeweiligen Beur-Generation zugehörigen eigenen Zeit- und Raumkonzeptionen, andererseits wird besonders in den jüngsten Texten der Raum des Schreibens und des Textes, also die Selbstreferenzialität des Textes betont. Auf diesen Punkt werde ich im letzten Kapitel, in dem jener Aspekt als wichtiger Aspekt der écriture transculturelle beur herausgearbeitet wird, zurückkommen. Im Zusammenhang mit der Raumkonstruktion aber, und besonders durch die unterschiedlichen Bezugnahmen auf Frankreich und die unterschiedlichen Staaten im Maghreb, sind die eindeutigen Identifikationen mit 987 Zur Kritik an Bhabha vgl. Bonz/ Struve 2006, S. 151f. 988 Bhabha 1994, S. 36 989 Ebd., S. 37. <?page no="260"?> Passagen schreiben 258 jenen Territorien und Nationen in der gesamten Beur-Literatur problematisch - da sie zunehmend als konstruiert und damit willkürlich erscheinen. Jeder Grenzübergang ist nicht nur die Passage einer Staatsgrenze, sondern immer auch der Moment der Prüfung und der argwöhnischen Reaktionen. Die Reisepässe und Personalausweise zeugen von einer Zugehörigkeit, die bei den Erzählerinnen und Erzählern unterschiedlich affektiv belegt ist und von den literarischen Figuren in allen Generationen als „Tyrannei des Nationalen“, wie Gérard Noiriel die zwingende Identifikation mit der französischen Etat-Nation bezeichnet, 990 empfunden wird. Die diversen literarischen Gestaltungen von Utopien und Heterotopien, von alternativen Räumen und besonders von der Durchmessung der Räume zugunsten einer Etablierung eines Ortes, zeugen von jenem Bewusstsein, dass Zugehörigkeiten und damit auch Nationen konstruiert sind und dass diese als homogene „Kulturfiktionen“ (Welsch) entlarvt werden müssen. Auf der Ebene der Intention der Autorinnen und Autoren bestätigt Hargreaves dieses Ziel: „l’engagement de ces auteurs en faveur d’une dynamique qui consiste à remplacer une idée monolithique de la nation par une nouvelle vision identitaire privilégiant l’hybridité culturelle.“ 991 Diesen Gedanken verfolgt auch Benedict Anderson, wenn er seine Theorie der „imagined communities“ entwirft. 992 In seiner Untersuchung zur Nation und zum Nationalismus interessiert ihn, auf welche Weise die Imaginationen von Gemeinschaften hergestellt werden. Andersons definiert Nation in diesem Sinne: Sie ist eine vorgestellte politische Gemeinschaft vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist sie deswegen, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert. 993 In diese Richtung zielt auch die postkoloniale Definition von Ashcroft et al., die den Konstruktcharakter der Nation ebenfalls betonen: „[...] nations are not ‚natural’ entities, and the instability of the nation is the inevitable consequence of its nature as a social construction.“ 994 Die Beur-Romane nun stören und verstören jene Erzählungen in der Art und Weise, in der sie die Nationen stabilisierenden Instanzen wie die Schule, Polizeigewalt oder Politik in den Romantexten erzählen. Doch nicht nur die Zeitebenen und Räume spielen in ihren konstruierbaren Facetten und Beziehungen eine Rolle für die Selbstbeschreibungen der literarischen Figuren. Der Text als Raum gewinnt ebenfalls an zunehmender 990 Vgl. Noiriel 1991. 991 Hargreaves 2004, S. 30. 992 Anderson 1988. 993 Ebd., S. 15 (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu Bhabhas Ausführungen in seinem Aufsatz zur „DissemiNation“, Bhabha 1994, bes. S. 157ff. 994 Ashcroft/ Griffiths/ Tiffin 1998c, S. 150. <?page no="261"?> Passagen schreiben 259 Bedeutung. Dabei geht es um die Schrift selbst, die als neuer, imaginierter Raum wahrgenommen wird. Damit verschiebt sich die Perspektive vom erzählten Raum zum Erzählraum, bzw. vom Schreiben des Raums zum Raum des Schreibens. Dies wird im letzten Kapitel dieser Untersuchung ausgeführt, in dem die écriture als Ort der Zuflucht oder der Heimat, oder gar, wie Mounsi es formuliert, in Verbindung mit dem eigenen Raum als Ersatz für ein Land funktionieren kann: „en ce ‘Territoire d’Outre-Seine’ [...] Si je trouvais dans l’écriture un substitut à une terre, ça serait là.“ 995 Hier öffnet sich jene Sphäre, die auch Rainer Warning für seine Analysen des Flaneurs formuliert: „Der Text modelliert nicht einen begehrten Ort, sondern er wird selbst zum Ort des Begehrens.“ 996 3.3 Transkulturelle Identitätsfiktionen: „Suis du verbe suivre, ou du verbe être“ 997 Je fuis encore devant ces histoires de racines ! Ce qui importe, c’est la plante qu’on devient ! Annie Cohen: Géographie des origines Die Zusammenhänge zwischen Zeit- und Geschichtserzählungen bzw. Raumkonstruktionen einerseits und den Identitätskonstruktionen andererseits sind in den beiden vorangegangenen Kapiteln getrennt untersucht worden. Doch es ist auch deutlich geworden, dass die Geschichtserzählungen nicht ohne den Raum formuliert werden und die literarischen Gestaltungen des Raums immer Zeitwahrnehmungen mittransportieren. Mit Neumann werden die (fiktionalen) Erinnerungen auf einen Raum projiziert: „Der erzählte Raum ist [...] nicht nur ein Aktionsraum, vielmehr fungiert er zugleich als Projektionsfläche des erinnerungsbasierten Vergangenheitsbewusstseins von Gruppen und Individuen.“ 998 Die Analysen der Bewegungen und Passagen, die in der Beur-Literatur beschrieben und beschritten werden, haben dies deutlich gemacht. Diese Lebenswege der Beur-Protagonisten und -Protagonistinnen, die zwischen unterschiedlichen kulturell konnotierten Orten entstehen und die Wahrnehmungen von Zeit und Geschichte beinhalten, sollen im Folgenden im Generationenvergleich untersucht werden. 995 Mounsi 1995, S. 41. 996 Warning 2001, S. 179. 997 Smaïl 2003, S. 228. 998 Neumann 2005a, S. 195. Dies knüpft an die Konzeption der lieux de mémoire von Pierre Nora an. In seinem Werk Lieux de mémoire entwickelt Pierre Nora 1984-1986 ein Begriffsinstrumentarium, mit dem er Gedächtnisorte untersucht. Hier manifestiert sich die Zeit bzw. das Gedächtnis in einem besimmten Ort (oder in einem allgemein gefassteren Topos) und wird dort aufgehoben. Dabei differenziert Nora zwischen Gedächtnis und Geschichte und verknüpft kollektive und individuelle Ebenen der Erinnerung miteinander. Vgl. Nora 1990. Vgl. dazu auch die Studie deutscher Erinnerungsorte von François/ Schulze 2001. <?page no="262"?> Passagen schreiben 260 Der Fokus liegt nun nicht mehr auf Zeit- und Raumkonstruktionen, sondern auf den expliziten Selbstkonzeptionen: Wie beschreiben sich die literarischen Figuren in jener kulturellen contact zone, in der die Geschichte(n) und Räume gestaltet werden und in der diese sich überlagern? Wie wird die transkulturelle, hybride Verfasstheit der Subjekte formuliert? In diesem Zusammenhang werden Aspekte wieder aufgegriffen, die in den vorangegangenen Analysen bereits erwähnt wurden: zentral die Überschneidung kultureller Differenz und Geschlechterdifferenz, aber auch Fragen der Selbstinszenierungen, die gleichermaßen mit Stereotypen und Alteritätskonzepten arbeiten wie mit der literarischen Inszenierung fiktionaler und fiktiver Ereignisse. In den folgenden Analysen wird es dabei hauptsächlich um histoire-Ebene gehen, d.h. um Figuren, Motive und die inhaltliche Ausgestaltung identitärer Hybridität. Die formal-ästhetischen Aspekte der Hybridität werden hier nur schlagwortartig genannt, um sie im abschließenden Kapitel dieser Arbeit in einer Konzeption transkultureller écriture detaillierter auszuführen. Die Raum-Zeit-Konstruktionen in den untersuchten literarischen Texten zeigen in der diachronen Zusammenschau einen Prozess, der mit den Wahrnehmungen der literarischen Subjekte aufs Engste verknüpft ist. Beschreiben die literarischen Figuren ihr Elternhaus, die Schule oder ihr Wohnviertel, ihre Aufenthalte im Maghreb oder in anderen Ländern, so sind diese durch das Subjekt gebrochene und affektiv besetzte Konstruktionen. Auch Bachtin weist in seinen Untersuchungen darauf hin, dass der künstlerische Chronotopos stets affektiv besetzt ist: „In der Kunst und in der Literatur sind alle Zeit- und Raumbestimmungen untrennbar miteinander verbunden und stets emotional-wertmäßig gefärbt.“ 999 In der diachronen Perspektive auf die literarischen Beur-Romane wird zunächst deutlich, dass die geschilderten Räume und Wahrnehmungen von Zeit und Geschichte komplementär zu der Situation der Exklusion und Diskriminierung als „étranger“ in Frankreich konstruiert sind. So sind die ersten Romane eher vergangenheitsbezogen und die Orientierung der Figuren ist stark an Algerien, das Elternhaus und damit an die Immigrationsgeschichte der Eltern bzw. an die eigenen Erinnerungen an das verlorene ‚Heimatland’ gebunden. Doch von Anfang an stellt sich Algerien als Phantasma dar: Die Erzähler und Erzählerinnen haben kaum eigene Erinnerungen an das Land. Die Großfamilie, die oftmals dort noch lebt, erscheint zunehmend fremd. Der Maghreb bzw. Algerien als Land der Vergangenheit bietet sich für die literarischen Figuren immer weniger als identitätsstiftender Raum an. „Neben dem imaginierten Raum“, so stellt Schumann fest, „ist Algerien auch als ‚vergessene Zeit’ in den Werken der Beurs anzutreffen.“ 1000 999 Bachtin 1989, S. 192. 1000 Schumann 2002, S. 127. <?page no="263"?> Passagen schreiben 261 Die Gegenwart in Frankreich spielt sich einerseits in den unwirtlichen und unwirklichen bidonvilles ab, in denen sich die Immigrantenfamilien wie bei Begag (in einem nahezu kopierten Verhältnis zum bled in Algerien) auch in Frankreich wieder zusammenfinden. Hier in der Peripherie erleben sie die urbane und gesellschaftliche Marginalisierung, die an einem anderen Ort ebenfalls fortgeführt wird: in der Schule. Die Schule ist für die meisten Erzählerinnen und Erzähler in den Romanen der Ort der Diskriminierung, die gleichermaßen die unmögliche Existenz der Immigrantenkinder in der Gegenwart bedeutet, wie die Teilhabe an einer gemeinsamen Geschichte (bspw. durch das für sie absurde Diktum „nos ancêtres les Gaulois“ 1001 ). Die Beurs und Beurettes werden als Araber und Araberinnen diskriminiert und erleben den Kontakt mit der französischen Gesellschaft, der im Grunde nur in der Schule oder, wie bei Imache, im Kinderheim stattfindet, als unüberwindbaren Kulturkonflikt. Der verwehrte Zugang zur Vergangenheit der Eltern, das Trauma des Algerienkrieges sowie die abgeschlossenen Orte der Trabantenstädte oder der Schule zeigen, dass die literarischen Figuren die kulturellen Identifikationsangebote als unvereinbar erleben. Die Protagonisten und Protagonistinnen werden eindeutig dem arabischen Elternhaus zugeordnet und erleben alternativen Identitätsofferten als bedrohlich. Für die Immigrantenkinder stellt sich die Kulturkoexistenz als Ausgrenzung und als Kulturkonflikt dar, der sich in den hermetisch geschlossenen Orten ausdrückt, in denen sie keine eigene Geschichte (Une fille sans histoire) im doppelten Sinne zu erzählen vermögen. Die chronotopischen Konstruktionen scheinen in einer Art peripherer Vergangenheit erstarrt, die eine problematische Kontaktzone darstellt, wie Bauer auch den Chronotopos bezeichnet: „Der Chronotopos ist, mit anderen Worten, immer eine Kontaktzone und dort, wo es um menschliche Kontakte geht, mit dem ideologischen Milieu der einzelnen Interaktionspartner verbunden.“ 1002 Dennoch - und dies zeigt erst ein Blick aus der Perspektive transkultureller oder hybrider Identitätskonzeptionen - verbleiben die literarischen Figuren nicht allein inder Vergangenheit des Maghreb, denn auch in diesen jüngsten Texten gibt es bereits Grenzgänger. Damit sind nicht nur die Ferienaufenthalte bei der maghrebinischen Familie oder die Erinnerungen an Kindheitserlebnisse im Maghreb gemeint. Sie erleben (bspw. ganz im Gegensatz zu ihren Müttern, die oftmals tatsächlich nur im Haushalt oder dem Wohnviertel leben) die Marginalisierungen und Diskriminierungen durch das Übertreten der Türschwelle des Elternhauses in die französische Vorstadt oder in die französische Schule. Das Hinzutreten anderer Geschichten und Identifikationsangebote - und seien sie noch so assimilatorisch ausgerichtet - bringt die Selbstbilder der jungen Protagonistinnen und Protagonisten ins Schwanken. Somit schildern schon die Erzähler und Erzählerinnen der frühen Texte Phänomene kultureller Hybridisierung, das allerdings 1001 Vgl. bspw. Begag 1986, S. 62. 1002 Bauer 2005, S. 131f. <?page no="264"?> Passagen schreiben 262 durch deutliche, weil exklusions-mächtige Differenzen gekennzeichnet ist. Sie negieren die Möglichkeit einer Verbindung arabischer und französischer Identitätsmerkmale und beschreiben ihr Scheitern an einem homogenen, eindeutigen Identitätsmodell. Der Kulturkontakt wird zwar als interkultureller Konflikt konstruiert, doch eröffnen sich im literarischen Text auch erste Möglichkeiten der Überwindung jener temporalen, spatialen oder kulturellen Antagonismen. So werden bspw. auch in diesen frühen Beur- Romanen andere Räume, wie das Kinderheim oder der Wald konturiert, in dem bspw. die Erzählerin von Imache spielt. Die Protagonisten und Protagonistinnen erzählen ihre eigene Geschichte - auch wenn sie gleichzeitig die Unmöglichkeit dieses Unterfangens betonen und sicherlich keine harmonischen Identitätsmodelle entwerfen. Die Immigrationsgeschichte der literarischen Figuren oder ihrer Eltern ist insofern in der Literatur aufgehoben, als nur die Abreise und der Ausgangspunkt der Immigration, nämlich der Maghreb der Vergangenheit, formuliert werden können: Eine identifikatorische Ankunft bleibt den Kindern, verstärkt durch den omnipräsenten Rückkehrwillen der Eltern, verwehrt. Die Gestaltungen von Selbstpositionierungen jenseits der chronotopischen Dichotomien werden in den Texten der zweiten und dritten Generation immer weiter differenziert und als Experimentierfeld genutzt. Die Romane erweitern den in den Lebenswelten der literarischen Figuren sichtbaren Kulturkonflikt, indem sie neue Strategien des Umgangs damit entwerfen. Die literarischen Texte der zweiten Generation betonen dabei die Gegenwart in den banlieues, jenen Bannmeilen an den Rändern der französischen Städte. Es überwiegt zunächst weiterhin die Erfahrung, dass Frankreich und das Heimatland der Eltern im Maghreb unvereinbare Sphären sind, die sich in den Wahrnehmungen des Elternhauses und der Schule widerspiegeln. Diese Orte werden als kulturell eindeutig konnotiert beschrieben, besonders bei den Beurettes, die die Geschlossenheit des Elternhauses zusätzlich an ihre condition féminine als moslemische Tochter binden. Das Potenzial der Verschränkungen von kulturellen und Gender-Identitätskonstruktionen wird später wieder aufgegriffen. Zunächst aber muss festgehalten werden, dass die starren chronotopischen und identifikatorischen Abgrenzungen, aber auch die Betonung der Gegenwart in Frankreich zu einem gewissen Grad dem politisch-engagierten Impetus der Texte geschuldet ist, welche sich in den Diskurs der Politisierung der Beurs im Frankreich der 1980er und frühen 1990er Jahre einschreiben. 1003 Die Erzählsituation der Beurs ist in der Gegenwart und im Freundeskreis auf der Straße angesiedelt. Die Erzähler und Erzählerinnen erfahren Halt und Solidarität unter Jugendlichen, die (sogar Kulturen und Ethnien übergreifend in der Formation der Black-Blanc-Beurs) gemeinsam die Diskriminierungen erleiden und schließ- 1003 Schumann stellt für die Autorinnen und Autoren folgende Motivation fest: „Schreiben ist für sie eine Art Konfliktbewältigung und der Umsetzung interkultureller Konflikterfahrung in interkulturelle Kommunikation“ Schumann 2002, S. 172. <?page no="265"?> Passagen schreiben 263 lich die Marginalisierung gar stilisieren. Hier sind die Beurs und Beurettes in der Clique aufgehoben: So betonen die Erzähler und Erzählerinnen zwar die Freundschaft und emotionale Bindung aneinander, ohne die Figuren jedoch aus ihren kulturellen Kontexten zu lösen. Während Pierette Mothe also im Freundeskreis noch einen melting pot sieht („la bande est un ‚melting-pot’ où le sentiment identitaire est plus fort que les différences ethniques“ 1004 ), zeigen die Texte vielmehr, dass die Figuren in ihrer kulturellen Differenz durchaus weiterhin beschrieben werden und dies auch das Potenzial der Gruppe ausmacht bzw. als Modell für die französische Gesellschaft stehen kann. Für die Clique wird die urbane Peripherie zum Zentrum; zwar immer noch am Rand und mit begehrendem Blick bspw. auf den Eiffelturm, aber mit selbstbewusster Betonung der eigenen Lebenswelt. Und diese Selbstermächtigung wird in den literarischen Texten als Kritik, Ironisierung und Konterkarierung der als monolithisch empfundenen kulturellen Sphären formuliert, welche in dieser Generation so übermächtig erscheinen. Diverse Antagonismen werden benannt und in der Literatur verhandelt: Frankreich vs. Algerien, Schule vs. Elternhaus, jung vs. alt, französische Sprache vs. arabische Sprache etc. Zunächst betonen die Beurs und Beurettes noch ihren Status im Zwischenraum: Als „ni arabe ni français“ beschreibt sich ja Charefs Madjid und bringt damit die problematische Identitätskonstruktion zwischen arabischer und französischer Welt zum Ausdruck. Was sich hier noch ex negativo ausdrückt und zunächst mit einem Mangel behaftet scheint, wird allerdings nicht nur in einem miserabilistischen Ton erzählt. Die ironischen und humorvollen Textpassagen bei Charef und Begag etwa, dessen Protagonist Azouz die Rassismen der Lehrerin, aber auch die traditionelle Rückständigkeit der Eltern entlarvt, bringen kulturelle Dichotomien in Bewegung. 1005 Die folgenden Generationen schließlich loten diese neue, eigene Sphäre weiter aus, die Laronde noch folgendermaßen beschreibt: „[...] Les Beurs sont identifiés par défaut. La structure du degré « zéro » de l’identité (ni ceci, ni cela) fonctionne par brouillage du sens.“ 1006 Auch der Einsatz der Sprache, wie die Verwendung von Arabismen und arabisiertem Französisch oder aber der Jugendsprache und besonders dem Verlan deuten auf linguistischer Ebene auf die Besetzung jenes Zwischenraums hin. Larondes zentrales Identitätskonzept in diesem neuen Zwischenraum, das sich in einer doppelten Ablehnung formiert, ist die „identité en creux“, 1007 die einen „troi- 1004 Mothe 1992, S. 21. 1005 So konstatiert auch Monique Manopoulos bei ihrer Untersuchung zu Tadjers Les ANI du „Tassili“: „Culturally, Beurs are in a spatiotemporal region delineated by two poles (French und Maghrebian), bit simultaneously these two poles can be inverted and be of a multiple nature.“ Manopoulos 2001, S. 269. 1006 Laronde 1993, S. 63. 1007 Ebd., S. 21. <?page no="266"?> Passagen schreiben 264 sième degré d’un discours identitaire collectif“ 1008 zwischen „arabe“ und „français“ formuliert. Doch dieser Zwischenraum wird zunehmend nicht mehr nur als alternativer Raum zu den genannten binären Sphären, sondern zunächst auch als Schwellen- oder Grenzraum entworfen. Hier spielen etwa die Chronotopoi der Schwellen und der Wege eine zunehmend wichtige Rolle. Bachtin bestimmt den Chronotopos des Weges, auf dem sich zufällige Begegnungen ereignen können, 1009 und der Schwelle als „von hoher emotional-wertmäßiger Intensität durchdrungener Chronotopos“. 1010 Die Überschreitungen von Türschwellen und die Lebenswege der Protagonistinnen und Protagonisten, die mit vielen schmerzvollen Erfahrungen und der Trennung von der Familie wie bei Djura, Boukhedenna oder Benaïssa verbunden sein können, die aber auch in der Typologie des beur de réussite den Weg des schulischen Erfolgs bei Begag (der topologisch ja sogar analog als Umzug der Familie in eine HLM konstruiert wird) zeichnen, sind wiederkehrende Momente in den Romanen. 1011 Oder die Erzählsituation besteht gar selbst aus einer Bewegung, wie die Reise bei Tadjer zwischen dem Maghreb und Frankreich vor Augen führt. Die Immigrationsbewegung der Eltern und die Problematik der postmemory scheinen dabei in den Bewegungen der literarischen Figuren auf. Es wird deutlich, dass hier (auch mit politischem Engagement) der Kulturkonflikt betont werden soll, indes nicht in seiner ausschließenden, interkulturellen Form wie noch maßgeblich in der ersten Generation, sondern als Teil des Lebens in der Existenz der Figuren als Grenzgänger. Die literarischen Figuren demonstrieren, dass die Sphären sozial und kulturell konstruiert und determiniert werden und prangern die rassistischen und diskriminatorischen Mechanismen an. Aber sie zeigen auch die eigene Position auf, das Leiden und die Potenziale einer Position, die sich im entre-deux zwischen dem arabischen Elternhaus und dem französischen Heimatland befindet, welches doch die Beurs und Beurettes massiv ausgrenzt. Durch die 1008 Ebd., S. 29. Jenes dritte Identifikationsmoment bezeichnen Gaspard und Servan- Schreiber gar als „immigritude“ in Anlehnung an den (Kampf-)Begriff der „négritude“, vgl. Gaspard/ Servan-Schreiber 1985, S. 191ff. Dieses Konzept scheint mir ebenso problematisch wie der Begriff der „beuritude“, der sich nach Venturini (2005) allerdings nicht durchgesetzt hat. Gerade die diachrone Perspektive auf die Identifikationsstrategien der Beurs zeigt, dass es in den aktuellen Texten nicht mehr um die Reaktivierung der Geschichte und des Heimatlandes der Eltern geht und bereits seit den frühen Texten als Illusion und Enttäuschung erzählt wird. 1009 Vgl. Bachtin 1989, S. 192f. 1010 Ebd., S. 198. 1011 Diese Lebenswege metaphorisiert Fernandes in ihren Analysen von Belghouls Georgette! als „L’identité culturelle est un voyage“ und knüpft damit nicht nur an Erkenntnisse der kognitiven Linguistik an, sondern stellt auch die Verbindung zur Relevanz des Wegs als Konzept der koranischen Tradition. Im Islam wird das Leben der Gläubigen als Weg zu Allah verstanden, der die Gläubigen auf dem ‚richtigen’ Weg führt. Vgl. Fernandes 2007, S. 104f. <?page no="267"?> Passagen schreiben 265 humorvollen und oftmals sarkastischen Annäherungen an und Distanzierungen von der französischen Kultur - und besonders als Träger und Trägerinnen der Spuren der französischen Kolonialgeschichte - betonen sie gleichermaßen ihren eigenen Kampf mit ihrer Hybridisierung, der durch permanente Aushandlungs- und Übersetzungsprozesse gekennzeichnet ist, wie sie auch die französische Gesellschaft verunsichern. Die Auswirkungen aufseiten der Beurs, aber auch aufseiten der Franzosen beschreiben einen Mechanismus, den Bhabha in seinem Hybriditätskonzept immer mitdenkt. Die Konsequenzen der Kolonialsituation für Kolonisator und Kolonisierten beschreibt er als Strategie mit der Metapher der Mimikry. Die zweite Beur-Generation öffnet erstmals explizit den Horizont der Kulturkoexistenz, indem sie nicht nur chronotopische Alternativen formuliert, sondern die Erzählstimme jener Menschen repräsentiert, die sich mit Identifikationen in mehreren kulturellen Sphären konfrontiert sehen. Diese Mehrfachzugehörigkeiten aber in interkulturellen und multikulturellen Situationen, in denen sie sich einrichten müssen, charakterisieren erst dann hybride Subjekte, wenn sie durch Differenz markiert bleiben und sich im steten Prozess der Identifikation befinden. Dies geschieht auch in den literarischen Texten, in denen Dichotomien unterlaufende und querende Verfahren der Identitätskonstruktion formuliert werden. Bensmaïa konstatiert Strategien der Identifikationen jenseits der klassischen Kategorien von Nation, „Rasse“ oder Religion zugunsten einer Betonung der Prozessualität von spezifischen Identitäten: [...] identity no longer passes through traditional categories such as nationality, race, or even language or religion. These writers approach questions of identity and belonging with a total awareness of the transformations that have affected French society. The young people portrayed do not confuse their multiple and at times contradictory senses of belonging with any dimension of their (ethnic or religious) identity. This identity is no longer singular because it is itself in the process of becoming. 1012 Es geht also in den jüngsten literarischen Texten weniger um die Abgrenzung zur französischen Gesellschaft oder zum maghrebinischen Elternhaus, sondern die literarischen Texte formulieren eine eigene Sphäre durch stete Infragestellung und Aushandlung der kulturell aufgeladenen Raum-Zeit- Konstellationen. Jene „brouillage“, wie Laronde sie nennt, 1013 äußert sich in den Bewegungen der literarischen Figuren zwischen den Orten, die so einen neuen, einen eigenen Raum aufspannen, der mit Gewalt konturiert und immer noch mit Macht besetzt ist, jedoch als eigene Sphäre behauptet wird. In diesen Texten bestimmt der Modus der Bewegung und der „glissements“ die Wahrnehmungen der literarischen Figuren. Die Erzählsituationen sind an unterschiedlichen Orten angesiedelt, die jeweils mit Geschichtskonstruktionen, einer eigenen Gegenwart und Zukunftsbzw. Traumszenarien verbunden sind. Die Betonung liegt dabei auf der aktuellen Situation in der 1012 Bensmaïa 2003, S. 45. 1013 Laronde 1993, S. 63 <?page no="268"?> Passagen schreiben 266 banlieue, was Mounsi in seinem Essai betont, wenn er die Interdependenz zwischen Ort und Geschichte unterstreicht: „Pourtant, les fils de l’immigration sont inscrits dans la bitume de la ville. Ils sont la sécrétion la plus intime de ses pierres, les enfants de la prophétie. Ils ajoutent de l’histoire à la géographie et de la géographie à l’histoire.“ 1014 Die hier verfolgte simultane Perspektive auf Zeit und Raum rückt folglich gerade die Bewegungen und Passagen in den Blick, in denen durch das gleichzeitige Verstreichen von Zeit und das Vorübergehen von Orten die Kreation eines Raumes beschrieben werden können. Der Chronotopos realisiert sich folglich paradigmatisch in Bewegungsmomenten, wie Bachtin sie für den Weg und die Reise beschreibt. Die Reise als „Verzeitlichung des Raumes“ hat für Basseler und Birke unterschiedliche Funktionen „für den Prozess der Identitätsbildung des Erzählenden“: nämlich „von der Inszenierung einer identitätsstiftenden Funktion bis zur Darstellung der Reise als Konfrontation mit einem nicht zu überwindenden Trauma oder als Suche nach einem letztlich nicht mehr einholbaren Phantom“. 1015 In der Beur- Literatur gehen die von Basseler und Birke differenzierten Funktionen oftmals miteinander einher: Viele der literarischen Figuren in den Beur-Romanen fahren in die Heimatländer ihrer Eltern, bspw. bei Boukhedenna oder Tadjer, um sich ihrer maghrebinischen Identität zu vergewissern. Dieses Ansinnen scheitert in allen Romanen, das Trauma der eigenen Migration bzw. das der Eltern ist nicht durch den Aufenthalt im Maghreb zu überwinden: Wie der Rückkehrmythos der Eltern stellt sich auch die Bezugnahme auf deren Heimatland für die Kinder als illusionär heraus. Bei Tadjer wird dabei besonders deutlich, dass die Reise nicht in erster Linie die Funktion des Abreisens von einem bestimmten Ort und des Ankommens an einem ersehnten Ort hat, sondern vielmehr in der Bewegung Identifikationen möglich sind. Die Bewegungen und Passagen, die Dekonstruktion von dichotomen kulturellen Sphären, aber auch der Zweifel an der stabilisierenden Wirkung nationaler oder kultureller und urbaner Identifikationen, sind zentrale Merkmale der jüngsten Erzählungen. Flugbahnen, Lebenslinien 1016 und Spuren, die „Zeit in der Schwebe“ und der Rausch der Geschwindigkeit wie bei Mounsi, die Bewegungen des Herumirrens ohne Ziel, der Anreise ohne Ankunft oder die zirkulär angelegte Handlung, wie bei Smaïl oder Rahmani, deren Erzähler bzw. Erzählerin in der Erzählgegenwart der Extradiegese in Lissabon bzw. dem Gefangenenlager beginnen und am Ende der Erzählung dort wieder ankommen, sind die chronotopischen Konstruktionen, die auch als Metaphern für die hybriden Selbstbilder stehen können. Sie passen sich 1014 Mounsi 1995, S. 90. 1015 Basseler/ Birke 2005, S. 132. 1016 Der Lebensweg erscheint so als Erinnerungsweg: „Au milieu de la ville, je me fraye un chemin dans mes souvenirs, je fouille les ruelles en quête de ma vie.“ Mounsi 1995, S. 16f. <?page no="269"?> Passagen schreiben 267 in die Metaphorik des Begriffs des Dritten Raums (des „Treppenhauses“, des „Da-Zwischen“) ein, wie er im vorangegangenen Kapitel vorgestellt wurde und im folgenden Kapitel auf seine ästhetischen Erkenntnispotenziale hin noch ausgeweitet wird. In der dritten Generation funktionieren Chronotopoi und Identitätskonstruktionen ebenfalls komplementär; zwar erscheinen die Orte des Einschlusses, wie das Gefängnis oder die Wüste, zunächst als kontrastive, weil geschlossene Räume zu den prozessualen Selbstentwürfen der literarischen Figuren, sie werden jedoch immer wieder überschritten werden. Sowohl diese auflösenden Bewegungen und Passagen zwischen Orten und Zeiten, als auch die Resistenzen der kolonialen Immigrationsgeschichte sind mit dem von Ottmar Ette vorgeschlagenen Begriff der Vektorisierung m.E. sehr gut zu explizieren. Nach Ette zielen die literarischen Bewegungen nicht nur auf die Dekonstruktion spatialer, temporaler und kultureller Dichotomien und damit auf eine Art Transkulturalisierung von Zeit und Raum, sondern machen auch die Immigration ihrer Eltern wieder erfahr- und sichtbar: Die Vektorisierung, diese Speicherung alter (und künftiger) Bewegungsmuster, die in aktuellen Bewegungen aufscheinen und von neuem erfahrbar werden, greift weit über das je individuell Erfahrene und lebensweltlich Erfahrbare hinaus [...] Unter den gegenwärtigen Bewegungen - und hierauf zielt der Begriff der Vektorisierung - werden die alten Bewegungen wieder spürbar, vergegenwärtigt: Sie sind als Bewegungen im Wissen der Literatur gespeichert. 1017 Wenn also die Kinder der Immigranten ihre Verortungen durch Bewegungen beschreiben oder aber sie an transitorischen Orten wie dem Meer oder dem Bahnhof ansiedeln, so ist dies die dynamische Umsetzung resistenter Muster - die gespeicherte Erfahrung der Migration der Eltern schlägt sich in den Passagen der Beurs nieder. Dass in dieser Generation die Suche 1018 nach 1017 Ette 2005, S. 11. 1018 Das Moment der Suche ist in der zweiten Generation noch deutlicher dadurch verstärkt, dass es sich bei den literarischen Figuren meist um Kinder oder Jugendliche handelt, deren Eintritt in die Phase der Adoleszenz auch aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive prädestiniert für Abgrenzungsbewegungen gegen das Elternhaus oder Konflikte mit der Staatsgewalt ist. Dabei werden in der Literatur auch die Ebenen reformuliert, die Augustin Barbara als dreifache Identitätskrise mit sich selbst, den Eltern und der Gesellschaft diagnostiziert „la crise d’adolescence: qui suis-je (le face à face avec soi-même), la crise face aux parents qu’ils rejettent d’autant plus fortement qu’ils refusent l’image suranné dont ils sont porteurs. Cela entraîne des conflits intergénérationnels et interculturels à l’intérieur même de la communauté maghrébine (le face à face avec le groupe familial). Enfin cette crise se manifeste aussi face à la société (le face à face avec les autres) […] L’identité se substitue à l’identité professionnelle absente, inexistante (ou à l’identité scolaire ou étudiante valorisée).“ Barbara 1986, S. 135f. Die Erzähler und Erzählerinnen der dritten Generation, die zumeist im Erwachsenenalter sind, zeigen aber, dass die Thematik der Identitätskonstruktionen auch unabhängig von der Pubertät auftaucht und gerade anhand der kulturellen Identifikationsangebote ausgehandelt wird. <?page no="270"?> Passagen schreiben 268 einer Geschichte, einer Genealogie wie bei Boulouque oder Rahmani zum dringlichen Thema wird, weist nicht nur darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte seit den frühen Beur-Texten zentral ist. Es ist auch insofern zu verstehen, und dies zeigen die enttäuschenden und mit Zurückweisung verbundenen Reisen und Auseinandersetzungen mit den (Familien in den) maghrebinischen Heimatländern der Eltern, dass es hier nicht um das Einholen einer ursprünglichen Geschichte geht bzw. dass diese Versuche kläglich scheitern wie bspw. bei Boukhedenna. Die Beurs suchen nicht oder nicht mehr nach einer verlorenen Geschichte, als deren eigentliche Besitzer oder Erben sie sich deklarieren, sondern zeigen im Gegenteil, dass die Suche nach genealogischer Identifikation und das Schlagen von Wurzeln ein problematischer Prozess ist, der nicht im Maghreb initiiert werden kann. 1019 Die Beschäftigung mit der Geschichte, die Boulouques Erzählerin Violaine keine Ruhe lässt, ist keine Beschäftigung mit Wurzeln und Herkunft im traditionellen, authentischen, ja, kolonialen Sinne. Hier zeigt sich auch für die Kinder der Immigrantenfamilien, was Anil Bhatti als neuen Umgang mit der Vergangenheit bezeichnet und mit Rushdie als Fiktionalisierung beschreibt: Die [...] postkolonialen Literatur richten sich gegen eine ideologische Position, die Authentizität, Kulturwurzeln, Monolingualität, den Nationalstaat essentialisiert, und diese nicht als raum-zeitlich bedingt auffaßt. Die theoretischen Formulierungen in neueren Beiträgen zur Ethnologie und Geographie, die Betonung des Multiplen, des Bruchs, der Dezentrierung und der Heterogenität, der Hybridität, der Deterritorialisierung, des Nomadentums, der Mehrsprachigkeit, der Gleichzeitigkeit zielt darauf, die Suche nach identitätsstiftenden Wurzeln als Wert in Frage zu stellen. [...] Die Vergangenheit wird als Erinnerung, mit der man arbeiten kann, mit der man wie ein Konstrukteur basteln kann und neue Arrangements machen kann, in die Migration, ins Exil mitgetragen. Und wenn man zurückblickt, so doch im Bewußtsein der Tatsache, daß das Verlorene, wie Rushdie betont, außer in Fiktionen, als „imaginary homelands“ nicht mehr zu reklamieren ist. 1020 Jener Authentizitätsdiskurs wird auch in den untersuchten Texten hinterfragt oder unterlaufen. Nationale Zugehörigkeiten werden in Frage gestellt oder zumindest problematisiert. Und das Bild der Wurzel, wie Bhatti es anspricht und wie es in der postkolonialen Theorie immer wieder thematisiert wird, wird ebenfalls in den Beur-Romanen bearbeitet. Schon bei Charef 1019 Hargreaves unterstreicht: „Few if any Beurs wish to dissociate themselves entirely from their North African roots. An idea of where they come from is important to their sense of self.” Hargreaves 1997a, S. 151. Während ich die Aussage, dass die Beurs ihre Wurzeln in der maghrebinischen Kultur verankert sehen, kritisch betrachte, denn besonders in der diachronen Zusammenschau lässt sich erkennen, dass nicht nur in der letzten Generation, sondern schon von Anfang an eine problematische Bezugnahme auf Wurzeln und die Heimat Maghreb stattfindet, teile ich Hargreaves Einschätzung, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft ein virulentes Thema für die Beur-Protagonisten und -Protagonistinnen ist. Diese Herkunft wird oftmals an die allgemeinere Frage nach der eigenen Verortung, dem eigenen Ort verbunden. 1020 Bhatti 1997. <?page no="271"?> Passagen schreiben 269 spricht Madjid davon, dass er sich im Raum des „ni français ni arabe“ die eigenen Wurzeln erfinden muss: „s’inventer ses propres racines, ses attaches, se les fabriquer.“ 1021 Hier kommen zwei Aspekte zum Ausdruck: zum einen die Wurzelmetaphorik, die für den (vermissten) identitären Halt der literarischen Figuren stehen soll, und zum anderen auf die Selbstermächtigung, sich diese Wurzeln selbst zu erschaffen (mit Keupp et al. die literarische Konstruktion von „Lebenssouveränität“ 1022 ). Durch den Terminus des „Erfindens“ („inventer“) der Wurzeln wird neben dem Konstruktcharakter jener stabilisierenden Metapher auch auf die orginär künstlerischen, und in diesem Fall literarischen Potenziale der Fiktion hingewiesen. Wie schon bei Boulouque beschrieben, wundert sich die Familie über Violaines Sehnsucht nach Wurzeln in der Familiengeschichte. Ihre identitäre Suche führt sie in das Stadium eines Sujets libres. Erst in New York erfindet sie, so Marinella Termite, ihre Wurzeln neu: „S’enraciner signifie ainsi se réinventer, choisir une route dans le silence et l’oubli.“ 1023 Doch auch bei Allah superstar von B., wie bereits ausgeführt, wird die Metapher der Wurzel bemüht, allerdings gleichzeitig als Traumszenario entworfen und damit als Illusion entlarvt: Je me suis endormi en rêvant d’un jardin secret où il y avait pas de racines, rien que des branches, et pourtant ça poussait sans problème. C’était beau comme les jardins du paradis où les prophètes ils font la fête. Je sais pas trop analyser les rêves, mais toi, tu crois que c’est bon signe ? 1024 Hier entwirft der Erzähler eine postkoloniale Metapher, nämlich die des Wurzelgeflechts, des Rhizoms. 1025 Maßgeblich hat Édouard Glissant diese Metapher benutzt, um seine Konzeption von Identität zu verdeutlichen und rekurriert dabei auf die Arbeiten von Guattari und Deleuze. In ihrem Werk Tausend Plateaus beschreiben Félix Guattari und Gilles Deleuze bereits 1980 diese Konzeption, die wiederum ihr Schreiben so beeinflusst, dass die Publikation in Form von Plateaus als ein „Wurzel-Buch“ 1026 konzipiert ist: Fassen wir die wesentlichen Merkmale eines Rhizoms zusammen: im Unterschied zu Bäumen und ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen beliebigen Punkt, wobei nicht jede seiner Linien auf andere, gleichartige Linien verweist; es bringt ganz unterschiedliche Zeichenregime ins Spiel. Das Rhizom läßt sich weder auf das Eine noch auf das Mannigfaltige zurückführen. [...] Es besteht nicht aus Einheiten, sondern aus Dimensionen, oder 1021 Charef 1983, S. 17. 1022 Keupp/ Ahbe/ Gmür 1999, S. 16. 1023 Termite 2006, S. 56. 1024 B. 2003, S, 113. 1025 Manopoulos beschreibt ein ebensolches Geflecht, wenn sie ihren Analysen vorausschickt, dass die Beur-Kultur weder eine Synthese, noch eine Kreuzung unterschiedlicher kultureller Einflüsse sei, sondern „a multidimensional web made of a circumstantial network of possibilities between two cultures.“ Manopoulos 2001, S. 270. 1026 Deleuze/ Guattari 2002, S. 14. <?page no="272"?> Passagen schreiben 270 vielmehr aus beweglichen Richtungen. [...]. Man darf solche Linien und Umrißlinien nicht mit den Abstammungslinien des Baumtypus verwechseln [...]. Im Gegensatz zum Baum ist das Rhizom kein Gegenstand der Reproduktion [...]. Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie. Es ist ein Kurzzeitgedächtnis oder ein Anti-Gedächtnis. Das Verfahren des Rhizoms besteht in der Variation, der Expansion und Eroberung, im Einfangen und im Zustechen. 1027 Deleuze und Guattari sprechen hier mehrere Aspekte an, die für die untersuchten literarischen Texte relevant sind, so bspw. die Betonung von Linien 1028 und Bewegungen, von Geflechten, die das Mannigfaltige dem Eindeutigen und der Entität vorziehen sowie die Ablehnung einer eindeutigen, eindimensionalen Verwurzelung (in der Geschichte), die im Rahmen postmoderner und postkolonialer Identitäts- und Geschichtskonzeptionen nicht mehr denkbar sind. Die Problematiken der Geschichtskonzeption und der Herkunft, wenn man so will: die eindeutigen Verwurzelungen in Zeit und Ort, stellen auch für Édouard Glissant zentrale Aspekte seiner Identitätskonzeption dar. Seine Idee von Kreolisierung, créolisation, die er gegen die créolité nach Bernabé, Chamoiseau und Confiant 1029 in Anschlag bringt, geht von einer grundsätzlichen Prozesshaftigkeit aus, deren Resultat nicht in einer métissage, oder eben einer statischen Kreolität endet, sondern die unvorhersehbar und damit unkontrollierbar ist: „J’appelle créolisation, des contacts de cultures en un lieu donné du monde et qui ne produisent pas un simple métissage, mais une résultante imprévisible.“ 1030 Glissant entwickelt eine Poétique de la relation, in der er programmatisch das Relationale im kulturellen Kontakt betont und gleichzeitig in der Wurzelmetaphorik für seine Identitätskonzeption fündig wird: Gilles Deleuze et Félix Guattari ont critiqué les notions de racine et peut-être d’enracinement. La racine est unique […]; ils lui opposent le rhizome qui est une racine démultipliée, étendue en réseaux [...] La pensée du rhizome serait au principe de ce que j’appelle une poétique de la Relation selon laquelle toute identité s’étend dans un rapport à l’Autre. 1031 Hier entwickelt Glissant sein Verständnis einer „identité rhizome“, die in kompositorischen Kulturen ohne eigene Genese ausgebildet wird und für Glissant als neues Identifikationsmodell stehen soll. Sie ermöglicht die Begegnung mit dem anderen als Anderem und Veränderungen auf beiden Seiten: 1027 Ebd., S. 35f. 1028 Den Differenzierungen zwischen unterschiedlichen Linien und die genaue Erläuterung etwa der Fluchtlinie kann im Rahmen dieser Arbeit nicht detailliert nachgegangen werden. 1029 Vgl. Bernabé/ Chamoiseau/ Confiant 1993. 1030 Glissant nach Clermont/ Casamayor 1998. 1031 Glissant 1990, S. 23. <?page no="273"?> Passagen schreiben 271 [...] ce que j’appelle l’identité-relation, l’identité-rhizome. C’est l’identité ouverte sur l’autre, parce qu’il nous faut nous habituer à l’idée […] que je peux changer en échangeant avec l’autre sans me perdre moi-même. 1032 Ohne die Glissant’sche Kultur- und Literaturtheorie näher ausführen zu können, soll an dieser Stelle festgehalten werden, dass die von den Beur- Protagonisten formulierten Auflösungen oder ironischen Kommentare, wie bei B., einer einheitlichen, geschichtsbasierten Kultur und einer stabilen Identität mit diesem Konzept rhizomatischer Identitätsprozesse und relationaler Kulturverwebungen erläutert werden können. Diesen Ansatz nutzt auch Habiba Sebkhi, um die literarischen Identitäten in der Literatur der Kinder der Immigration in Québec und in Frankreich zu erläutern; sie versteht - ebenfalls unter Rekurs auf Deleuze/ Guattari und Glissant unter einer „identité rhizomatique“: À l’opposé d’une identité comme geôle, enfermement, fondamentalisme ou encore obsession, l’identité rhizomatique est aujourd’hui, dans le contexte, migratoire plus que jamais ce moment et ce lieu provisoire. 1033 Dieser provisorische Ort einer ephemeren Identität, eine eigene Geschichte, ein eigener Gründungsmythos als Genese, aber vielmehr noch eine eigene Präsenz wollen die Erzählerinnen und Erzähler in den Beur-Texten formulieren - nicht mehr im Sinne einer Rückbesinnung auf die entfernte Geschichte der Eltern, aber auch nicht durch die Assimilation und die Übernahme einer stabilen französischen Nationalidentität. Vielmehr - und dies war der Ausgangspunkt des Exkurses zur Wurzelmetaphorik 1034 - brechen sie mit der Vorstellung der Identifikation mit einer nationalen Geschichte, nicht nur durch die explizite Ironisierung von Wurzeln oder das Finden einer neuen Heimat in alternativen Räumen mit anderen Geschichten, sondern in den 1032 Glissant 1999, S. 52. Hervorhebungen im Original. 1033 Sebkhi 2006, S. 143. 1034 Im jüngsten autobiographischen Roman von Amin Maalouf eröffnet der Autor den literarischen Text mit der Problematik der Wurzeln und der nationalen Zugehörigkeit und favorisiert das Bild des Weges („les routes“) und die Identifikation innerhalb eines Netzes familiärer Beziehungen: „D’autres que moi auraient parlé de « racines »… Ce n’est pas mon vocabulaire. Je n’aime pas le mot « racines », et l’image encore moins. Les racines s’enfouissent dans le sol, se contorsionnent dans la boue, s’épanouissent dans les ténèbres ; elles retiennent l’arbre captif dès la naissance, et le nourrissent au prix d’un chantage : « Tu te libères, tu meurs ! »[…] A l’opposé des arbres, les routes d’émergent pas du sol au hasard des semences. Comme nous, elles ont une origine. Origine illusoire, puisqu’une route n’a jamais de véritable commencement ; avant le premier tournant, là derrière, il y avait déjà un tournant, et encore un autre. Origine insaisissable, puisqu’à chaque croisement se sont rejointes d’autres routes, qui venaient d’autres origines. S’il fallait prendre en compte tous ces confluents, on embrasserait cent fois la Terre . […] Je n’ai jamais éprouvé de véritable appartenance religieuse […] et je n’ai jamais ressenti non plus une adhésion totale à une nation - il est vrai que, là encore, je n’en ai pas qu’une seule. En revanche, je m’identifie aisément à l’aventure de ma vaste famille, sous tous les cieux. A l’aventure, et aussi aux légendes. Comme pour les Grecs anciens, mon identité est adossée à une mythologie, que je sais fausse et que néanmoins je vénère comme si elle était porteuse de vérité.“ Maalouf, 2004, S. 9f. (Hervorhebungen im Original). <?page no="274"?> Passagen schreiben 272 Passagen und den Öffnungen eigener Räume. Wie sich dieses rhizomatische Selbstverständnis im literarischen Text jenseits der inhaltlichen Ausarbeitung formalisieren lässt, d.h. welche Entsprechungen sich in der écriture finden, wird im folgenden Kapitel untersucht. Die Bewegungen verbinden nicht nur Orte, sondern spannen einen neuen, mit prozessualen Identitätskonstruktionen zu besetzenden Raum auf. Die glissements finden damit auch in den Selbstbeschreibungen statt: Hier unterstreichen die Erzählerinnen und Erzähler geradezu ihre inhärenten kulturellen, aber auch geschlechtlichen Differenzen. Sie halten die Paradoxien aus und besetzen weniger die kulturellen Sphären, etwa in einem „et français et arabe“, sondern die Passage zwischen den Identifikationen, wie etwa die Passage von Yasmina, über Nina und Ahmed zu Brio bei Bouraoui verdeutlicht hat. 1035 Bouraoui demonstriert die Dekonstruktion kultureller Dichotomien, wie Christina Horvath konstatiert : [...] l’écriture de Nina Bouraoui [...] se base moins sur une série d’oppositions binaires (algérienne/ française, garçon/ fille, fille de Maryvonne/ fils de Rachid, etc.) que sur l’inclusion d’un tiers espace qui permet de surmonter la plupart des dualités initiales. 1036 Diese Überwindung der Dichotomien in einer hybriden Figur stellt sich resümierend in zwei Aspekten dar: einerseits in der Selbstreflexion in Spiegelbildern und Doppelgänger-Figuren und andererseits im expliziten Selbstentwurf, inszeniert in der Namensgebung und in den narzisstischen Figuren. Die grundlegende Problematik der Bezugnahme auf unterschiedliche kulturelle Kontexte oder Identifikationsangebote ist bereits dargelegt und anhand der literarischen Texte beschrieben worden. Doch es ist kein Zufall, dass die Selbstbilder der literarischen Figuren oftmals mit Doppelungen erzählt werden; nicht nur Spiegelbilder und Doppelgänger sind Ausdruck dessen. Die Erzähler und Erzählerinnen müssen vor dem Hintergrund einer permanenten Doppelkodierung von Zeit und Ort - die Gegenwart in Frankreich wird immer wieder durch die (Immigrations-) Vergangenheit der Eltern überlagert - einen eigenen Raum behaupten. Die Namensbezeichnungen, wie ANI bei Tadjer, markieren auch auf einer sprachlichen, terminologischen Ebene die Deutungsmacht der Erzähler und Erzählerinnen: „Longtemps je fus nommé, aujourd’hui je nomme à mon tour.“ 1037 „Beur“ transportiert in den aktuellen Texten ein Verständnis von hybrider Kulturalität, welche sich nach Bhabha nicht durch eine kulturelle Vielfalt („cultural diversity“ 1038 ) wie bei den Black-Blanc-Beurs, sondern explizit durch kulturelle Differenz („cultural difference“ 1039 ) auszeichnet. Das „Vivons égaux 1035 Vgl. Bouraoui 2000, S. 163. Vgl. dazu auch meine Überlegungen in Struve 2007a. 1036 Horvath 2004, S. 193. 1037 Mounsi 1995, S. 20. 1038 Vgl. Bhabha nach Rutherford 1990, S. 208ff. 1039 Ebd. <?page no="275"?> Passagen schreiben 273 avec nos différences ! “ der 1980er Jahre kann als Motto für kulturelle Hybridität fortgeschrieben werden, in der kulturelle Differenzen und Inkommensurabilitäten nicht aufgelöst, sondern bewusst beibehalten und betont werden. Der postkoloniale Kulturtheoretiker Iain Chambers schreibt: „Beur bezeichnet eine Differenz, eine besondere Geschichte und einen besonderen Kontext, es ist ein Zeichen der Kreolisierung und der kulturellen Zweideutigkeit.“ 1040 So schaffen die Beurs eine prozessuale und kreative Neukonstruktion hybrider Identifikationen, die sich nicht aus zwei Originalen speist, sondern als neue Form, als „beur“, denken lassen. Dabei sind die Beur-Protagonisten und -Protagonistinnen in ihren Hybridisierungen nicht allein auf die kulturelle und ethnische Mehrfachzugehörigkeit, bedingt durch die Immigration der Eltern, reduzierbar: Ihre kreativen Identifikationsstrategien ergeben sich auch dadurch, dass vielfältige Identifikationsangebote, wie die Romantexte der medial geprägten Figuren gezeigt haben, genutzt und literarisch umgesetzt werden. Mit Reckwitz beschreibt diese (massen- und damit konsumorientierten) medialisierten Selbstkonzeptionen als „Technologien des Selbst“, in denen sich die Subjekte des 20. Jahrhundert entwerfen. 1041 In dieser Sphäre, dem „troisième degré d’un discours identitaire collectif“ 1042 nach Laronde, steht „beur“ paradigmatisch für eine Position jenseits, „beyond“ 1043 von kultureller Dichotomien. Die postkoloniale Beur-Literatur will nicht mehr eine „Beur-Identität“ in deutlicher Abgrenzung zur französischen Identität abbilden, sondern wirkt intensiv auf die französische Gesellschaft zurück, schreibt sich in den vorherrschenden Diskurs ein und beeinflusst ihn somit. Folglich scheint der Beur-Begriff geeignet, trotz der in der Einleitung geschilderten durchaus berechtigten Bedenken, die beschriebenen prozessualen Identifikationen, Dichotomien und essenzialistische, als Entitäten begriffene Kulturkonzepte dekonstruieren. Beur bezeichnet nicht allein Fremde, die sich gegenüber den Franzosen positionieren, sondern dient gerade als transzendentale Identifikationsfigur. Dieser „étranger moderne“, wie Laronde ihn beschreiben will, macht nicht die Alterität, sondern die inneren Widersprüche in jedem Menschen, jene „innere Fremdheit“ nach Julia Kristeva sichtbar: „Étrangement, l’étranger nous habite: il est la face caché de notre identité.“ 1044 Die Beur-Protagonisten und -Protagonistinnen stehen für die Transkulturalisierung von Gesellschaft und Individuum: mit Welsch also sowohl auf der Makroebene der Gesellschaft, auf der sich nicht mehr verschiedene Kulturkreise gegenüberstehen und ab- 1040 Chambers 1996, S. 110. 1041 „Technologien des Selbst, das heißt jener Aktivitäten, in denen das Subjekt jenseits von Arbeit und Privatsphäre unmittelbar ein Verhältnis zu sich selber herstellt und die vor allem Praktiken im Umgang mit Medien (Schriftlichkeit, audiovisuelle und digitale Medien) sowie im 20. Jahrhundert Praktiken des Konsums sind.“ Reckwitz 2006, S. 16f. (Hervorhebung im Original). 1042 Laronde 1993, S. 29. 1043 Bhabha 1994, S. 1. 1044 Kristeva 1991, S. 9. <?page no="276"?> Passagen schreiben 274 grenzbar sind, als auch auf der Mikroebene des Individuums, dem Fremdheit inhärent ist. Die Bezeichnung „beur“ markiert nach Laronde eine neue Art des (hybriden) Fremdseins, das einen eigenen Raum innerhalb der französischen Gesellschaft und im Rahmen der maghrebinischen Immigrationsgeschichte in Frankreich öffnet: un phénomène de nouvelle Etrangeté particulière à un lieu (la société française) et à un temps (les retombées au présent de l’immigration maghrébine): il y a mise en place d’un disours sur un Etranger hybride, moderne, dont la différence est inscrite dans divers codes de la société […]. 1045 „The time for ‚assimilating’ minorities to holistic and organic notions of cultural value has dramatically passed,” 1046 stellt Bhabha (vielleicht etwas optimistisch) das Ende der illusionistischen und gänzlich reaktionären Vorstellung von der Eingliederung der Minoritäten fest. Doch wie lässt sich nun eine, wenn auch prozessuale kulturelle Identifikation denken, die weder in der Assimilation aufgeht, noch einen Standpunkt als dezidierter Gegendiskurs einnimmt? Bhabha reformuliert zu diesem Zweck, wie bereits weiter oben erwähnt, am Beispiel (postkolonialen) Literatur das ehemals biologische Konzept der Mimikry, in der koloniale Imaginationen formuliert werden, als Beschreibungskategorie für den Umgang mit kulturellen Differenzen. Er schafft mit dieser Metapher ein Konzept für die heutige postkoloniale Situation in den urbanen Zentren, wie auch Chambers sie beschreibt: Das ehemals Periphere und Marginale taucht nun im Zentrum auf. Denn die Migrantin/ der Migrant ist zur Repräsentantin/ zum Repräsentanten der modernen Metropole geworden: Sie und er formulieren aktiv die Ästhetiken und die Lebensstile der Großstadt, indem sie Sprache neu erfinden und sich die Straßen der Herren aneignen. Ihre Anwesenheit stört die frühere Ordnung. [...] Die sprachlichen, literarischen, kulturellen, religiösen, musikalischen Codes der Mächtigen, der Herren werden übernommen, jedoch stets mit einer spezifischen Nuance. 1047 Bhabha benennt die Mimikry als „one of the most elusive and effective strategies of colonial power and knowledge“. 1048 Mimikry ist für Bhabha in Anlehnung an Lacan und Fanon eine performative Verfahrensweise, in der kulturelle Differenzen nicht camouflageartig angeglichen werden, sondern in der ‚Identität’ weiterhin als Störfaktoren bestehen bleibt. 1049 Postkoloniale Minderheiten produzieren innerhalb der majoritären Gesellschaft, in der sie leben, einen besonderen Effekt: Sie passen sich scheinbar in deren Sinnhorizont ein - zeichnen sich aber weiterhin durch Differenz aus. Sie verursachen „disturbances of cultural, racial and historical difference“. 1050 Die Macht der Kolonisatoren wirkt sich — wie Bhabha in Anlehnung an die Arbeiten von 1045 Laronde 1993, S. 50 (Hervorhebungen im Original). 1046 Bhabha 1994, S. 175. 1047 Chambers 1996, S. 29. 1048 Bhabha 1994, S. 85. 1049 Vgl. ebd., 90. 1050 Ebd., S. 88. <?page no="277"?> Passagen schreiben 275 Foucault formuliert — so aus, dass sie von den Kolonisierten eine absolute Anpassung durch die Internalisierung ihrer Normen fordern. Die Kolonisierten aber imitieren durch Kopie und Wiederholung vielmehr performativ die Kultur der Kolonisierenden. Somit zeigt sich hier „almost the same but not quite [...] almost the same but not white“. 1051 Bhabha geht dezidiert davon aus, dass es um den Akt des Formulierens, Repräsentierens und der Performativität selbst geht, und nicht um die Etablierung einer eigenständigen, präsenten Identität. „Mimicry conceals no presence or identity behind its mask“. 1052 Mimikry entlarvt in einer doppelten Bewegung die Ambivalenz innerhalb der Kolonialmacht und verstärkt und bricht diese durch Formulierung einer ambivalenten kulturellen Form. Durch die gleichzeitige (trügerische) Ähnlichkeit und die Demonstration der Differenz wird die koloniale Autorität unterwandert: In mimicry, the representation of identity and meaning is rearticulated along the axis of metonymy [...] mimicry is like camouflage, not harmonization of repression of difference, but a form of resemblance[…]. 1053 Für die Beur-Literatur, und besonders für die Erzählungen der dritten Generation, ist die Bhabha’sche Mimikry als Beschreibungskategorie insofern interessant, als die Annäherung und gleichzeitige Distanzierung von einer französischen Nationalidentität beschrieben werden können sowie die Irritationen, die mittels der (scheinbaren) Bestätigung von (durchaus rassistischen) Stereotypen ausgelöst werden. Während der Protagonist von Begag noch die ernsthafte Assimilation versucht, führt der Protagonist von B. die kompromisslose Assimilation als Chamäleon, (Kamel Léon) ad absurdum. Durch die literarische Identitätssuche der Beurs werden Bruchstellen und Widersprüchlichkeiten in der französischen, vermeintlich stabilen und einheitlichen Identität aufgespürt und aufgestemmt, die französische Nationalidentität wird als „große Erzählung“ nach Lyotard 1054 oder als „identité racine unique“ nach Glissant 1055 entlarvt und die Instabilität französischer Identifikationsmuster schließlich auch als Potenzial genutzt. Gleichzeitig wird aber auch die Konstruktion der Beurs als geschlossene Gruppe demontiert durch die Aufrechterhaltung der Unterschiede und Widersprüchlichkeiten innerhalb der Figur einer „Beur-Identität“. Der Selbstentwurf, der die Bewegung betont und weniger den Zustand, wird in dieser Lesart zu einer Strategie der ironischen und in Form einer Mimikry gestalteten Annäherung, wenn Sid Ali bei Smaïl zu seinem französischen Therapeuten sagt: „Suis du verbe suivre ou du verbe être: au choix, comme vous voudrez ! “ 1056 1051 Ebd., S. 89 (Hervorhebungen im Original). 1052 Ebd., S. 88. 1053 Ebd., S. 90. 1054 Lyotard 1979, bes. S. 63. 1055 Glissant 1997a, S. 38. 1056 Smaïl 2003, S. 228. <?page no="278"?> Passagen schreiben 276 Die Bewegungen und Brüche finden ihren Ausdruck in den Verunsicherungen der Erzähler und Erzählerinnen, ihren Gefühlen der Dissoziierung, der Ruhe- und Heimatlosigkeit, des ständigen Wandels. „Une identité double et brisée“ schreibt Bouraouis Protagonistin sich zu und konturiert so die Situation der literarischen Figuren. Doppelgänger und Spiegelbilder (oder gar optische Täuschungen) werfen ein Fremdbild zurück, das sich mit dem Selbstbild zu verbinden sucht. Der Spiegel funktioniert dabei nicht nur, wie im vorherigen Kapitel erläutert, als Verbindung von Heterotopie und Utopie. Er erwirkt darüber hinaus eine Verdoppelung - die Doppelgänger übernehmen diese Funktion in Gestalt anderer literarischer Figuren - und gleichzeitige Trennung und betont gleichzeitig den illusionären Charakter des Selbstbildes. Dies drückt paradigmatisch der Erzähler von Mounsi aus, dessen Spiegelbild ihn verunsichert, auch wenn er sich wiedererkennt. 1057 Hier wird ein Aspekt angesprochen, der sich ebenfalls in den selbstreflexiven Charakter der Erzählungen einpasst, nämlich die Anspielung auf die Illusion, das Trugbild. Das Spiegelbild verweist damit auf die Möglichkeiten, aber auch auf die Problematik der Selbstentwürfe und Selbstbilder. Die unsichere (Selbst-)Verortung wird auch durch die Positionierung der literarischen Figuren inszeniert; sie sind oftmals in sich gebrochen, labil und unsicher. So sind die Erzähler/ Erzählerinnen in Selbstdoppelungen oder -spaltungen aufgehoben oder gefangen: bspw. in Freundschaften, wie die von Madjid und seinem französischen Freund Pat bei Charef, oder in der innigen Kinderfreundschaft bei Bouraoui, in Liebesbeziehungen 1058 oder Geschwisterbeziehungen. 1059 Und auch das Motiv des Doppelgängers wird mit Freundschaft verknüpft: So beschreibt der Ich-Erzähler von Mounsi seinen besten Freund als „je voyais mon double, mon sosie“. 1060 Dies kann gar in das Gefühl münden, eine andere Person in sich zu beherbergen wie bei Bouraoui: „J’ai toujours eu l’impression d’avoir un secret. D’avoir une double vie. D’abriter quelqu’un d’autre que moi.“ 1061 Dieses Gefühl drückt die von den postkolonialen Theoretikern betonte inhärente kulturelle Differenz aus. Das hybride Subjekt beschreibt hier, dass es sich nicht als harmonische Synthese unterschiedlicher kultureller Identifikationen empfindet, sondern dass die inneren Spannungen und Differenzen auszuhalten sind. Es ist mehr als die von Laronde beschriebene doppelt alteritäre Position : „[…] être Beur, c’est être autre par rapport à deux identifications externes : l’ethnie française et l’ethnie arabe“. 1062 Bhabhas Identitätskonzept im Dritten Raum fasst genau dieses Moment. Im Dritten Raum gibt es nach Bhabha keine Identität, sondern Möglichkeiten der Identifikation im psy- 1057 Vgl. Mounsi 2003, S. 15. 1058 Vgl. bspw. Laroui 1998. 1059 Vgl. dazu bspw. Hamdi 2005 oder Kessas 1990. 1060 Mounsi 2003, S. 46. 1061 Bouraoui 2000, S. 157. 1062 Laronde 1993, S. 63. <?page no="279"?> Passagen schreiben 277 choanalytischen Sinne. Das Subjekt ist durch eine immanente Ambivalenz gekennzeichnet, die es durch die Identifikation mit dem anderen konstitutiv in sich trägt. 1063 Kennzeichen der Identifikation in Bhabhas Sinne ist damit die bleibende Fremdheit ihres Gegenstandes, die Bhabha versucht für seine Auffassung von postkolonialer, postmoderner Subjektivität produktiv zu machen. „It is in this overlapping space between the fading of identity and its faint inscription that I take my stand on the subject“. 1064 Each time the encounter with identity occurs at the point at which something exceeds the frame of the image, it eludes the eye, evacuates the self as site of identity and - most important - leaves a resistant trace, a stain of the subject, a sign of resistance. 1065 Den Widerstand beschreibt auch die Erzählerin von Rahmani, die sich nicht nur der eindeutigen nationalen Identifikation verwehrt und in die Wüste geht, sondern die jenes andere in sich beschreibt und schließlich in der Sprache sucht: „j’étais convaincue d’être autre chose et que de cette autre chose mes papiers ne tenaient pas compte.“ 1066 Dieses andere, das weder in einer Exklusionsbewegung vom Ich abgegrenzt, noch in einer Synthese mit dem eigenen vermischt und daher kontrolliert werden kann, bleibt in der postkolonialen Konzeption von Hybridität, wie Bhabha sie auch versteht, als interne kulturelle Differenz bestehen. Es wird in den Romanen in unterschiedlichen Identitätskonstruktionen sichtbar. Ich möchte im Folgenden zwei mir besonders relevant erscheinende herausgreifen: erstens die Gender-Konstruktionen, in denen mittels des ‚Körpers als Raum’ die Interferenzen von kultureller Differenz und Geschlechterdifferenz verhandelt werden, 1067 und zweitens die Selbstentwürfe der schizogenen und schizophrenen Erzähler und Erzählerinnen. Schon in den frühen Beur-Texten kommen die Probleme von Geschlechterhierarchien und -rollen zur Sprache und werden in ihrer konfliktären Stellung zu den Wertevorstellungen der französischen Gesellschaft beschrieben. Besonders in der zweiten Generation, und damit mit wenig Verspätung gegenüber den männlichen Autoren mit ihren männlichen Protagonisten, werden Stimmen der Beurettes laut. In Autobiographien oder Tagebüchern bzw. autobiographischen Romanen wird die Unterdrückung der Mädchen in den maghrebinischen Familien angeprangert. Die Ausgrenzung findet für die Beurettes nicht nur am Rande der französischen Städte und durch die Diskriminierungen der Mitschüler und Mitschülerinnen oder das 1063 Vgl. Bhabha nach Rutherford 1990, S. 211. 1064 Bhabha 1994, S. 56. 1065 Ebd., S. 49. 1066 Rahmani 2005, S. 86. 1067 Dabei bleibt die wechselseitige Beeinflussung von kultureller Identifikation und Gender-Konstruktion nicht die einzige Möglichkeit der Überschreibung. Winfried Woodhull unterstreicht unter Rekurs auf die Arbeiten von Etienne Balibar und Maxim Silverman: „how ethnicity is overdetermined by other dimensions of social experience as gender, class, and language.“ Woodhull 1997, S. 33. <?page no="280"?> Passagen schreiben 278 französische Lehrpersonal in den Schulen statt, sondern auch innerhalb der Familie sind sie von allen Freiheiten ausgenommen. Ihnen wird der Raum des elterlichen Haushalts und der Traditionen zugewiesen, den sie - gewalttätig sanktioniert - nicht verlassen dürfen. Die Romane erzählen die Lebenswege der Beurettes an diesen Exklusionsgrenzen entlang und die Flucht (-versuche) aus der Familie heraus. Schumann beschreibt ausführlich diese Situation der Beurette-Figuren in den Romanen. Im Zentrum steht die Rebellion der Erzählerinnen gegen die „Unumstößlichkeit des elterlichen Modells, das auf einer strikten geschlechtsspezifischen Hierarchie beruht und ihnen selbst die niedrigste Position in der Familie einräumt“. 1068 Die Bürde der Familienehre, deren Bewahrung den Mädchen in der Familie obliegt, wiegt schwer. Während die Brüder größere Freiheiten genießen und ihr Leben weitestgehend selbst gestalten können, müssen die Mädchen im Haushalt helfen und sich dem endogamen, oftmals mit Zwangsheirat verbundenen patrilinearen Familiensystem beugen. Die literarischen Texte tragen einen stark politischen Impetus, der „Wunsch nach Teilhabe am französischen Leben in Form von Kontakten zu gleichaltrigen Jugendlichen und der Zugehörigkeit zur Jugendkultur, sowie die Aussicht auf Bildung und Beruf“ 1069 steht im Vordergrund. Die Schule der Gegenwart in Frankreich erscheint für die Beurettes oftmals als einziger Weg aus dem elterlichen Raum, führt aber auch zu Konflikten. Besonders aber in den literarischen Texten der dritten Generation wird die testimoniale Textgattung verlassen, und andere Aushandlungen der gender-bestimmten Selbstbilder werden möglich. Während die frühen Texte, wie bereits ausgeführt noch von einer condition féminine ausgehen, die zwar deutlich als von den Eltern geprägt, aber dennoch unverrückbar erscheint, wird diese Problematik besonders in Wechselwirkung mit der kulturellen Differenz und auf den Feldern des Körpers und der Sprache verhandelt (zum Aspekt der Sprache und des Schreibens werde ich im folgenden Kapitel näher eingehen). Und hier reflektieren dann nicht nur die weiblichen Figuren, sondern auch die männlichen Erzähler Gender-Konstruktionen. Der Körper funktioniert dabei einerseits als eine „Verräumlichung der Zeit [...], in der sich Erinnerung in den Körper des Erinnernden selbst einschreibt“, 1070 und andererseits als Ort der Aushandlung von Gender-Konstruktionen. Die Interferenzen von kultureller Identifikation und Geschlechterkonstruktion stellen für die Protagonistin Nina in Bouraouis Garçon manqué die zentrale Identitätsproblematik dar. 1071 So beschreibt sie die geschlechtlichen Kategorien von Mann und Frau zunächst als einen jener Antagonismen, der 1068 Schumann 2002, S. 177. 1069 Ebd., S. 184. 1070 Basseler/ Birke 2005, S. 132. 1071 „D’autant que je devais régler deux problèmes d’identité, l’aspect franco-algérien et le côté fille ou garçon“, benennt dies die Autorin ganz explizit in einem Interview. Bouraoui 2006. <?page no="281"?> Passagen schreiben 279 neben den Nationalstaaten, Sprachen und Elternteilen formuliert wird. Ähnlich ergeht es auch der Protagonistin von Rahmani, die ihre geschlechtlichen Identifikationen ja in Abhängigkeit zur unausweichlichen ‚Anrufung‘ durch die Religion des Islam und damit durch ein patriarchalisch organisiertes Kollektiv beschreibt. Doch dann verschiebt Nina die Problematik - als Widerspiegelung ihres anderen Aufenthaltsortes in Italien - nicht nur auf das (durch den männlichen Blick geprägte) Land Algerien, sondern ferner auf das Terrain des Körpers. 1072 Hier fühlt sie sich plötzlich frei und betont, dass gerade ihr Körper sich von den Identifikationszwängen loszulösen vermag. Daran anschließend wird auch das Feld der Sexualität angedeutet, das Bouraoui in ihren weiteren Romanen durch die Thematik der Homosexualität ergänzt. Gender, Nation, Kultur und der weibliche Körper (sowie das Schreiben, auf das ich im abschließenden Kapitel eingehen werde) bilden die Koordinaten eines identifikatorischen Raumes für die Erzählerin, den sie durch unterschiedliche Nähe- und Distanzbeziehungen der identitätsstiftenden Momente, durch Überlagerungen oder Analogisierungen („L’Algérie est un homme.“ 1073 ) auslotet. 1074 Homosexualität bzw. die Macht der Virilität ist auch bei Smaïl ein wichtiges Thema. Schon in Vivre me tue wird anhand der Figur des Bruders diese Thematik eingeführt. In Ali le magnifique wird Männlichkeit literarisch inszeniert, indem Virilität, Bibzw. Homosexualität und Prostitution auf besondere Weise verhandelt werden: Sid Ali ist gleichzeitig Liebhaber einer Schulkameradin oder seiner Lehrerin und geht der homosexuellen Prostitution nach; er inszeniert sich als arabischer Macho und verkauft sich gleichzeitig an Männer. Erst im Gespräch mit Djamila, nachdem er sich tatsächlich in einen Mann verliebt hat, durchschaut ihn diese und erkennt seinen Narzissmus: Je l’ai su, Sid. Mais tu n’es pas pédé, tu n’es pas hétéro, tu n’es pas bi, Sid, tu es n’importe quoi. Tu es la seule personne au monde qui te fasse vraiment bander. Tu ne faisais pas l’amour avec moi : tu faisais l’amour avec toi faisant l’amour avec moi. 1075 Hier weist Djamila auf einen Umstand hin, der nicht nur Sid Ali, sondern auch bei vielen literarischen Figuren der letzten Generation eine Rolle spielt: den Narzissmus. Dieser Narzissmus ist der Motor der Erzählung von Sid Ali, die gesamte Erzählung dreht sich nur um seine Person, ist durch seine Assoziationen, Erlebnisse und Erinnerungen geprägt und transponiert die Brüche und Passagen, die Übereinanderlagerungen der Orte und Zeiten auf die Ebene der Selbstbilder, die im Extremfall vollkommen inkommensurabel sind - sie münden also in pathologische Formen der Selbstspaltungen. Bei 1072 Bouraoui 2000, S. 184f. 1073 Vgl. Ebd., S. 37. 1074 Vgl. zum Potenzial des weiblichen Schreibens aus der Peripherie ebenfalls Spivak (1996) und bell hooks. hooks betont besonders die Position in der Marginalität als „a site of radical possibility, a space of resistance.“ hooks 1990, S. 150. 1075 Smaïl 2003, S. 757. <?page no="282"?> Passagen schreiben 280 Sid Ali äußern sich die kulturellen Grenzüberschreitungen in der höchst metaphorischen Krankheit des borderline-Snydroms, das als Grenzfall zwischen Neurose und Psychose abermals die instabilen Identitätskonstruktionen auf der Grenze geradezu betont. Formen pathologisierter Selbstbeschreibungen finden sich in unterschiedlichen Romanen: als Depression bei Boulouque, in Form der Gespräche mit der Schulpsychologin bei Guène, in Tariks Weg zu seinem Psychotherapeuten bei Djaïdani, als Diagnosen der Schizophrenie bei Mounsi und den Angstzuständen der Erzählerin von Rahmani und schließlich in den komplexen psychotischen und neurotischen Störungen von Smaïls Sid Ali. Dies scheint auch das Ergebnis von Galsters Untersuchungen des britischen Romans zu belegen, nämlich dass „[h]ybride Identitäten [...] keineswegs als Allheilmittel zur Behebung der Identitätskrise des postmodernen Subjekts vorgeführt [werden]“. 1076 Bei Sid Ali münden diese verschiedenen Identifikationen in eine veritable Persönlichkeitsspaltung, was mit einem zwanghaften Fabulieren einhergeht - und damit explizit den Konstruktcharakter des Selbstbildes unterstreicht. Die Erzähler und Erzählerinnen reflektieren nicht nur die diskursiven Konstruktionen von nationalen Zugehörigkeiten, Stereotypen und urbanen Imaginarien, sondern kommentieren explizit ihre Selbstentwürfe. Sie beschreiben ironisch und naiv, distanziert, aber auch empathisch ihre Wahrnehmungen und Selbstbilder und stellen gleichzeitig deren ephemeren und transitorischen Charakter aus. Und dadurch, dass sich Sid Ali immer wieder als Dechiffrierer und Korrektor seiner zahlreichen Psychotherapeuten inszeniert, stellt er auch die Diagnose- und Deutungsmacht derer in Frage, die ihn für verrückt erklären. In diesem Zusammenhang möchte ich den Begriff der Identitätsfiktionen 1077 vorschlagen, der ja bereits durch die Andeutung der literarischen Herstellung von Identifikationen angeklungen ist. Er soll das Spiel mit der Selbstkonstruktion betonen, das nicht nur selbstreflexive Momente der Literatur beinhaltet, also die explizite Reflexion über die écriture, sondern auch das Spiel mit Fakt und Fiktion, mit fingierten und erlebten Ereignissen 1076 Galster 2002, S. 357. Damit möchte ich eine kritische Position gegenüber dem „Hype um Hybridität“, wie Kien Nghi Ha schreibt, unterstreichen. Vgl. Ha 2005. Ha beobachtet den Wechsel vom Identitäts- und zum Hybriditätsparadigma in der zeitgenössischen kulturtheoretischen und postkolonialen Debatte mit Skepsis, vermutet er doch, dass die Arbeit mit kulturellen Klischees, die durch ein semantisches Feld von Hybridität, Kreolisierung, multiplen Identitäten etc. dekliniert werden, eine Verkürzung der Hybriditätskonzepte darstellt und eine Instrumentalisierung und Degradierung der Migranten und Migrantinnen zu „unterhaltsamen Exoten“ zur Folge hat. Vgl. Ha 2004. 1077 Ein ähnliches Konzept wird in den letzten Jahren in einigen literaturwissenschaftlichen Arbeiten zur franko-kanadischen Literatur entworfen und bspw. von Sherry Simon als „fictions identitaires“ bezeichnet. Vgl. dazu die Ausführungen von Christiane Albert in ihrer Untersuchung L’immigration dans le roman francophone contemporain 2005, S. 86f. Vgl. zum Konzept der „Identitätsfiktion“ im Zusammenhang mit dem literarischen Œuvre Patrick Chamoiseaus auch Kamecke 2005, bes. S. 49f. <?page no="283"?> Passagen schreiben 281 meint. Die Relativierung von Authentifizierungsstrategien und Authentizitätsansprüchen, wie sie ja auch im postkolonialen Verständnis kultureller Identifikationen diskutiert werden, wird damit in den Blick gerückt. Es geht also um zwei zusammenhängende Aspekte: die Betonung der Konstruiertheit von Identitäten im literarischen Text durch die Nutzung spezifisch literarischer, nämlich fiktionaler Strategien. Dieses Charakteristikum, das sich sowohl auf der Ebene der literarischen Gattung in einem Spektrum von klassischer Autobiographie bis zur (postmodernen) Autofiktion abbildet, als auch auf der Ebene der Erzählung als eine Art intradiegetische Identitätsfiktion (also fiktiver und fingierter Identitätskonstruktionen), wird als Merkmal einer transkulturellen écriture im folgenden Kapitel diskutiert. In « Musulman » roman wird eingangs paradigmatisch erläutert, was Bhabha in diesem Zusammenhang unter „kulturelle[r] Konstruktion von nationalem Sein (nationess) als eine Form sozialer und textueller Zugehörigkeit“ 1078 versteht: Die Eindeutigkeit, in die nationale und religiöse Identifizierungen die Erzählerin zwingen wollen, macht ihr die literarische Erzählung oder Sprache unmöglich. Sie setzen gar ihrer Fiktion im Sinne ihres Zeugnisses, aber auch im Sinne ihrer Selbsterfindung ein Ende: „Cette condition a mis fin à ma fiction.“ 1079 Dieser ästhetischen Konstruktcharakter ist mit Wolfgang Iser folgendermaßen zu beschreiben: Identität ist nur erfahrbar und nicht mit gleicher Gewißheit auch wißbar. [...] Das macht den Identitätsbegriff so ‚ästhtikaffin’. Denn befaßt sich nicht gerade die Kunst mit den großen Themen wie Liebe, Tod, Ende - und eben auch dem der Identität, weil es hier um Erfahrungen geht, die man nur in Evidenz erleben, niemals aber wissen, geschweige denn erkennen kann? 1080 Auch Smaïls Sid Ali ist auf diese Selbsterzählungen angewiesen. Dies Fabulieren, also das Geschichten-Spinnen um das eigene Selbst, führt zu einem weiteren Aspekt, der zu einem zentralen Thema für die literarischen Figuren wird: das Schreiben. Hier wird das Schreiben, die Schrift und damit der Text selbst zum Ort der diskursiven Aushandlung, zum Refugium, zur Kampfarena. Die Selbstkonstruktion, die durch die Montage der eigenen Erinnerungen (Smaïl) oder die Niederschrift in der eigenen Handschrift oder auf der Schreibmaschine durch Polizisten (Mounsi) geschieht, ermöglicht eine Passage zwischen Sprachen und Diskursen. Die „Identität“ ist aber, so betont schon der Protagonist von Kettane, immer an die eigene Handlung gebunden - als Zufluchtsort ermöglicht sie Schutz und bestimmt gleichzeitig jegliches Handeln: L’identité est le refuge de l’âme. A chaque mot elle donne le ton, à chaque pensée elle donne le sens. Fontaine de jouvence des gens égarés par la solitude et le désarroi, elle est le terroir des exilés. […] La même quête, les mêmes incertitudes 1078 Bhabha 2000, S. 209. 1079 Rahmani 2005, S. 13. 1080 Iser 1979, S. 728. <?page no="284"?> Passagen schreiben 282 les unissaient. […] Mais peu importe, l’important c’est ce qu’on fait. Car c’est à partir de ce qu’on fait qu’on existe. 1081 Der Roman wird dabei nicht nur der Ort der Gestaltung von Heimat- und Orientierungslosigkeit, sondern das Schreiben selbst wird zum eigenen Ort kultureller Verhandlung, zu einer Art Heimat. Hier wird das Schreiben zur Waffe: Oui, je l’aurais, mon esprit de vengeance. Le même esprit que ceux qu’ils appelleront, un jour, Beurs. On ne pourra plus dire Arabe, en France. On dira Beur et même Beurette. Ça sera politique. Ça évitera de dire ces mots terrifiants, Algériens, Maghrébins, Africains du Nord. Tous ces mots que certains Français ne pourront plus prononcer. Beur, c’est ludique. Ça rabaisse bien, aussi. Cette génération, ni française ni vraiment algérienne. Ce peule errant. Ces enfants fantômes. Ces prisonniers. Qui portent la mémoire comme un feu. Qui portent l’histoire comme une pierre. Qui porte la haine comme une voix unique. Qui brûlent du désir de vengeance. Moi aussi j’aurais cette force. Cette envie. De détruire. De sauter à la gorge. De dénoncer. D’ouvrir les murs. Ce sera une force vive mais rentrée. Un démon. Qui sortira avec l’écriture. 1082 1081 Kettane 1985, S. 63. 1082 Bouraoui 2000, S. 129f. <?page no="285"?> 4 Écriture transculturelle beur - Literatur als Laboratorium des Transkulturellen C’est dans la Différence que gît tout l’intérêt. Victor Segalen: Essai sur l’exotisme Die Selbstentwürfe der literarischen Figuren und das Schreiben zwischen unterschiedlichen Welten wurden in den vorangegangenen Kapiteln in den Blick genommen: und zwar sowohl in generationsimmanenten als auch -übergreifenden Analysen. Dabei sind die Selbstbilder der Beur-Erzähler und -Erzählerinnen sowie deren Spiegelungen in den Raum-Zeit-Konstruktionen ins Zentrum gerückt und die Tradierungen und Neuformulierungen kultureller Identifikationsangebote sichtbar gemacht worden. Es hat sich gezeigt, dass die literarischen Texte nicht bei einer Rekonstruktion kultureller, sozialer, spatialer oder temporaler Dichotomien stehen bleiben. Vielmehr erzählen sie das „Dazwischen“, das gerade keine sichere, identitäre Verortung garantiert, sondern durch eine stete Suche danach gekennzeichnet bleibt. Diese durchaus prekären Identitätsentwürfe beinhalten demnach dezentrierte Identifikationen und gleichzeitig das Begehren nach einer Verortung jenseits von Essenzialisierungen. Hybride Selbstentwürfe werden in den Romanen in Form von Bewegungen und Passagen zwischen Orten und damit als eigene Räume gestaltet - eigene Räume, die zunehmend im Schreiben aufgesucht werden. In diesem abschließenden Kapitel, die vorangegangenen synchronen und diachronen Analyseachsen verschränkend, wird die selbstreferenzielle Funktion des Schreibens näher untersucht und Überlegungen zu Formen einer écriture transculturelle beur angestellt. 1083 Denn die Selbstreferenzialität betont und bestätigt die Grundannahme dieser Arbeit, dass die transkulturelle Thematik mit einer transkulturellen Schreibweise einhergeht. „Dans le roman postcolonial“, so schreibt Schmeling, und dies gilt für den Beur-Roman gleichermaßen, „l’hybridité culturelle et l’hybridité esthétique se déterminent mutuellement.“ 1084 In einem ersten Schritt wird daher das Konzept der écriture transculturelle beur - ausgehend vom Konzept der écriture décentrée (Laronde) und der paroles déplacées (Bonn) aus der Forschung der Beur-Literatur - durch eine wechselseitige Lektüre der Konzeptionen der écriture und der Transkultura- 1083 Weitere Aspekte des Konzepts der écritures transculturelles, wie sie sich besonders in der Interferenz von kultureller Differenz und Geschlechterdifferenz darstellen, werden in der Einleitung des Sammelbandes Écritures transculturelles entwickelt, vgl. Febel/ Struve/ Ueckmann 2007. 1084 Schmeling 2002, S. 408. <?page no="286"?> Écriture transculturelle beur 284 lität erläutert. In einem zweiten Schritt werden inhaltliche Merkmale einer transkulturellen écriture resümiert, wie sie sich in den Beur-Romanen gezeigt haben, und um weitere spezifisch formal-ästhetische Aspekte ergänzt. In einem dritten Schritt werden unterschiedliche Funktionen des Schreibens herausgearbeitet, die sich in einem Spektrum von versicherndem Schutzraum bis verunsicherndem Simulakrum ansiedeln lassen und zusammenfassend als Laboratorium des Transkulturellen konturiert werden sollen. Abschließend ist die in dieser Arbeit vorgeschlagene écriture transculturelle beur als Teil aktueller Diskussionen um französische und frankophone Literaturen und um die Etablierung einer neuen littérature-monde français zu betrachten. Die vorliegende Untersuchung wird daher mit einem Ausblick auf die Verbindung zu der jüngst von Lyonel Trouillot formulierten écriture-monde beschlossen. Im Rahmen dieser Arbeit geht es mir nicht um die Behauptung eines Genres des Beur-Romans oder fixierender Charakteristika eines solchen. Vielmehr haben die Analysen der literarischen Texte gezeigt, dass sie sich einer Kategorisierung zunehmend entziehen, und sei es nur im Hinblick auf oder in Ableitung von einer Nationalliteratur oder traditionellen literarischen Gattungen. So wird weder eine Schule noch ein fest umrissenes Genre etabliert. 1085 Dies geht mit der Position Ottmar Ettes konform, der die Kategorien der Migranten- oder Migrationsliteratur 1086 diskutiert und mit seinem Konzept des ZwischenWeltenSchreibens erstens die auch im Rahmen dieser Arbeit aufgezeigten literarischen transkulturellen Bewegungen durch Raum und Zeit betont, welche kulturelle Dichotomien zu dekonstruieren vermögen, und zweitens die Immigrationsgeschichte und den postkolonialen Kontext mitreflektiert. Drittens weist er darauf hin, dass die Bedingungen der Migrationsliteratur nicht allein auf die biographische Versicherung zurückzuführen sein müssen. Ette unterstreicht die Um-Schreibung bzw. die Dynamisierung von National- und Weltliteraturen, wie sie auch in der Beur-Literatur vorgenommen werden: Gerade weil die [...] zu entfaltende Begrifflichkeit der Literaturen ohne festen Wohnsitz nationale wie nationalliterarische Grenzziehungen aufzeigt und überschreitet, dynamisiert sie nachhaltig das oftmals statische Konzept einer Migrationsliteratur, die nicht länger in der (biographischen) Migration ihre einzige Bedingung findet [...] Im Brennpunkt steht ein ZwischenWeltenSchreiben, das sich zwischen verschiedenen Welten hin- und herbewegt. Es geht nicht um die Fixierung einer neuen Kartographie des Literarischen mit einer damit verbundenen Ausweisung neuer literarischer Räume, sondern um die Aufbrüche neuer trans- 1085 Analog zu Christine Alberts Ergebnis für die „Literatur der Immigration“ ist festzuhalten: „L’immigration n’est donc pas un discours littéraire comme un autre permettant de fonder un nouveau ’genre littéraire’ qui émergerait aux marges d’un champ national constitué“. Albert 2005, S. 193. 1086 Ette 2005, S. 39. <?page no="287"?> Écriture transculturelle beur 285 kultureller, translingualer und transarealer Bewegungsmuster jenseits der von Sprachverarmung geprägten Unterscheidung von National- und Weltliteratur. 1087 Dem Konzept der écriture transculturelle beur, wie es im Folgenden aus einer wechselseitigen Lektüre von écriture und Transkulturalität entwickelt werden soll, gehen Vorstellungen einer spezifischen Beur-Schreibweise voraus, wie sie maßgeblich von Laronde entwickelt wurden. Laronde nähert sich in seinem an den literar-ästhetischen Verfahren interessierten Zugang einem Problem, das Begag und Chaouite bereits 1990 aufwerfen, nämlich dem der Zuordnung der écriture beur: Cette écriture est-elle maghrébine ou française ? Les références imaginaires et les sources sont toujours marquées par des histoires spécifiques qui ne sont ancrées nulle part, sinon dans des situations sociales et spatiales périphériques. C’est là toute leur nouveauté, celle d’apporter un angle de vue décentré par rapport à tout ce qui est dit sur les immigrés et la société française. 1088 Die Autoren betonen hier, dass es weniger um eine vereindeutigende Zuordnung, als vielmehr um eine neue Umgangsform gehen sollte. Die écriture beur kann im Lichte einer solchen dezentrierten Perspektive betrachtet werden, da sie sowohl die vermeintlich stabilen Identitäten (die Stereotypien) der Immigranten als auch der französischen Gesellschaft in Frage stellt. 1089 Diese Dezentrierung nutzt Laronde als (ebenfalls spatiale) Metapher, um die (post-)kolonialen Machtgefälle zwischen Zentrum und Peripherie zu verdeutlichen. Die literarischen Texte sind demzufolge in einer écriture décentrée verfasst, die nicht mehr nur Dichotomien benennt, sondern diese zu überwinden und umzuschreiben vermag und somit einen „type d’écart dans la littérature contemporaine en France“ 1090 erzeugt. Unter écriture décentrée versteht Laronde eine Schreibweise, die innerhalb der französischen Kultur entsteht: „est décentrée une Ecriture qui, par rapport à une Langue et une 1087 Ebd, S. 15. Dabei überschreitet und hinterfragt in diesem Sinne die Beur-Literatur nicht nur die Grenzen zwischen National- und Weltliteratur. Die Zwischenwelten und Bewegungsmuster, die entstehen, finden sich auch in einem (neuen) Verständnis der Subgattungen des Entwicklungs- und Bildungsromans wieder. Die Lebenswege und besonders die Bildungswege der Beur-Protagonisten und -Protagonistinnen spiegeln sich auch im Genre des Bildungsromans wider, wie ihn Laura Reeck am Beispiel einiger Texte von Begag oder Djaïdani herausgearbeitet hat. Vgl. Reeck 2004. Bei ihren Analysen zu Djaïdanis Boumkœur kommt Reeck darüber hinaus zu dem für diese Arbeit wichtigen Ergebnis, dass nicht nur das Genre, sondern vor allem die écriture den Bildungsprozess reflektiert: „Son apprentissage [du narrateur, K.S.] (de soi) dérive donc de son rapport avec l’écriture, autrement dit l’écriture fonctionne en parallèle/ en simultané avec son processus de Bildung.“ Ebd., S. 85 (Hervorhebung im Original). 1088 Begag/ Chaouite 1990, S. 100. 1089 Susanne Stemmler hält analog für den franko-maghrebinischen Rap fest: „Der maghrebinische Rap - sei es in Frankreich oder in Algerien - stellt durch sprachliche Hybridisierung und Polyphonie sowohl eine französische als auch eine algerische Monokultur in Frage.“ Stemmler 2005, S. 155. Vgl. weiterhin den Aufsatz von Herr/ Ueckmann 2005 in dem Band. 1090 Laronde 1996, S. 7. <?page no="288"?> Écriture transculturelle beur 286 Culture centripètes, produit un Texte qui maintient des décalages linguistiques et idéologiques.“ 1091 Auch Charles Bonn greift die Metapher der anderen Position(ierung) auf, wenn er mittels seines Konzepts der „paroles déplacées“ das Unterlaufen der Hierarchisierungen zwischen Zentrum und Peripherie, aber auch zwischen Oralität und Literarizität benennt, 1092 wie auch Majumdar in ihren Analysen der Romane von Smaïl das Moment der Hybridität in der Freisetzung und Deplatzierung von Stimmen sieht: „L’hybridité, telle qu’elle existe chez lui, n’est pas la rencontre d’éléments disparates [...] l’hybridité s’exprime dans ses textes par une libération de la parole et de ses voix déplacées.“ 1093 Einige Jahre später differenziert Laronde seinen Ansatz in der Formulierung eines discours décentré und ergänzt das spezifische Potenzial des Beur-Romans, welcher aus der Situation der kulturellen Überlagerung heraus innerhalb der französischen Sprache und Kultur entsteht: En France, le roman beur est le seul discours romanesque à entrer dans cette catégorie; il est décentré par rapport au français et à la Culture française. [...] Si le roman beur est le seul discours de groupe en France à être décentré, c’est que la situation socio-culturelle de „la génération issue de l’immigration maghrébine“ est la seule à être en position de superposition de cultures[…]. 1094 Das Konzept der écriture transculturelle soll nun diesen Ansatz kritisch fortschreiben, indem die Idee der inneren Dezentrierung, der Verunsicherung dominanter Sprachen und Kulturen beibehalten, aber auf den Rekurs auf ein Zentrum verzichtet wird. Das Adjektiv „transculturelle“ betont die Prozesse der Verschiebungen, Übersetzungen, Verhandlungen und die querenden Verfahren in der Beur-Literatur und verzichtet konsequenter auf Vorstellungen von Dichotomien unterschiedlichster Art. Die Transgressionen, die sich in den Formen der écriture wiederfinden, sind integraler Bestandteil der Konzeptionen von Transkulturalität („L’idée de transculturalité existe ainsi dans celle de mobilité.“ 1095 ) und Hybridität. Die theoretische Voraussetzung für die Formulierung transkultureller Schreibweisen ist die poststrukturalistische Analogie zwischen Identitätskonstruktionen, kulturellen Formationen und den Formen einer écriture: Identifikationen, Kulturen und Schreibweisen sind gleichermaßen durch Prozessualität (Passagen und Bewegungen) und externe wie interne (kulturelle) Differenz gekennzeichnet. Das Konzept der écriture transculturelle beur verbindet das Konzept des Schreibens/ der Schrift im Sinne Derridas und 1091 Ebd., S. 8 1092 Vgl. Bonn 2004, S. 14 1093 Majumdar 2004, S. 122. 1094 Laronde 1999. Man sollte hinzufügen, dass Laronde hier die Beur-Literatur aus einer Position heraus aufzuwerten sucht, die sich gegen die gängige Rezeption richtet, welche die Beur-Romane nur als Lebenszeugnisse liest und ihnen jegliche literarästhetische Qualität abspricht. Es gibt in Frankreich selbstverständlich andere Literaturen, die die Überblendung unterschiedlicher kultureller Einflüsse verhandeln. 1095 Begag/ Chaouite 1990, S. 30. <?page no="289"?> Écriture transculturelle beur 287 Barthes’ mit dem Verständnis von Transkulturalität und Hybridität. Die in den Romanen analysierten unablässigen Bezugnahmen in Form von Distanzierungen, Annäherungen, Auflösungen und (Re-)Essenzialisierungen der identitätsstiftenden Angebote lassen sich auf der Ebene des Schreibens mittels des écriture-Begriffs von Jacques Derrida und Roland Barthes beschreiben. Derridas Begriff der écriture hängt unmittelbar mit seiner Konzeption der différance zusammen. Er betont das Primat der Schrift als Kritik am Logozentrismus und setzt zudem an dem Saussure’schen Modell der Verweisungsstruktur der Signifikanten an. Es sind diese Verschiebung und das Spiel der Differenzen, die für den hier entwickelten Begriff der écriture transculturelle beur relevant sind, denn dieses theoretische Konzept greift die Bewegung und die Inszenierung unterschiedlicher Varianten der (kulturellen) Differenz in dem Neologismus der différance wieder auf. Derrida entwirft sogar eine metaphorische, chronotopische Figur, denn die différance funktioniert für ihn als „Zeit-Werden des Raumes und Raum-Werden der Zeit“. 1096 Derrida rekurriert auf die schon bei de Saussure angelegte räumliche Vorstellung von Signifikanten, die innerhalb eines Verweisungsnetzes ihren bestimmten Platz haben bzw. relational zu anderen Signifikanten positioniert sind. Um die Verweisungsstruktur nicht historisch-teleologisch denken zu müssen, verwendet Derrida den Begriff des „Bündels“ („faisceau“), in dem sich systematisch die „unterschiedlichen Linien des Sinns“ verknüpfen. So entsteht eine „Bewegung des Bedeutens“, 1097 in der Sinn immer wieder in einem Netz von Oppositionen und Verweisungen für einen Moment hergestellt wird. 1098 Dieser Prozess der Signifikation, das Spiel mit Bedeutungen, das die durch Differenzbildung unendliche Verweisung eines Signifikanten auf den anderen darstellt, kann auf die Gestaltungen der Selbstkonstruktionen der Beurs besonders in den aktuelleren Romanen insofern übertragen werden, als in den literarischen Texten auch immer wieder mit neuen Selbstbildern experimentiert wird. Der palimpsestartige Lebensentwurf, den die literarischen Figuren beschreiben, beinhaltet stets „Spuren“ - so auch der Derrida’sche Begriff - vorheriger (Selbst-)Konstruktionen und führt nie zu einem stabilen Selbstverständnis. Die auch in den Romanen verwendete Metapher der Spur verweist nicht nur auf die Sehnsucht nach einer ‚Geschichte’, die den literarischen Subjekten einen (vermeintlichen) stabilen Platz, einen Ort, zuweist. Sie reflektiert darüber hinaus die Unmöglichkeit des Zugriffs auf ein vorgängiges ‚Original’ und berücksichtigt Einflüsse anderer, simultan existierender Selbst- und Fremdbilder. Soweit ist der Derrida’sche écriture-Begriff für die Beschreibung der literarischen Texte dienlich. Problematisch wird er, wenn man Derridas radi- 1096 Derrida 2004, S. 83. 1097 Ebd., S. 91. 1098 Vgl. zum Konzept der écritures auch die Überlegungen von Margot Brink und Christiane Solte-Gresser 2004, bes. S. 18ff. <?page no="290"?> Écriture transculturelle beur 288 kalen Gedanken, es gäbe keinen „hors-texte“, 1099 als apolitisch bewertet und versucht, ihn auf die spezifische transkulturelle Situation der Postmigration zu beziehen. Hier greift auch die Kritik von Sabine Bröck an, welche anhand ihrer Lektüre von Toni Morrisons Beloved die Grenzen des Derrida’schen Spurbegriffs für (post-)koloniale Texte aufzeigt. Bröck ist der Ansicht, dass das koloniale Trauma der Sklaverei im literarischen Text nicht in ein „unschuldiges“ Spiel der Verweisungen münden kann, sondern seine spezifischen Spuren im Text hinterlässt: Finally, shouldn’t texts like Beloved be seen to bound or frustrate Derrida’s trust in, and thrust of language as play, adventure, and innocent becoming? Threaded through the novel, Morrison has laid out what I will call ‘visceral signs’ as her kind of traces, subverting symbolic grounds of narrative, as well as of worded biblical scripture, of epistemology, of ideologies. 1100 Auf die Relevanz des Körpers als eigener Raum ist im Besonderen im Zusammenhang mit den Analysen von Bouraouis Garçon manqué bereits hingewiesen worden. Hier kann insofern eine Parallele zu Bröck gezogen werden, als eine Verschiebung der Funktion des Körpers vom Zeichen- oder Spurenträger hin zum initiatorischen Ort des Schreibens stattfindet (im Sinne eines „authorship“, wie Bröck es nennt 1101 ), welcher durch Spuren gekennzeichnet ist und in der metaphorisierten Form also durch „Narben in der Erzählung“ 1102 markiert bleibt. 1103 Jene kulturellen und Gender- Überlagerungen werden in vielen Romanen, und exemplarisch in Bouraouis Garçon manqué, durch Stimmenvielfalt, Doppelungen und Fragmentierungen formuliert, aber auch in einer steten Unruhe und einem Beben des Körpers und des Textes. 1104 Die feministischen und (post-)kolonialen kritischen Erweiterungen des écriture-Begriffs sind als Reaktion auf den Vorwurf der 1099 Derrida 1967, S. 227. 1100 Bröck 1995, S. 126f. 1101 Vgl. Bröck 1995, S. 130. 1102 Vgl. ebd., S. 127. 1103 An diesen Punkt ließe sich eine weitere Diskussion des écriture-Begriffs anschließen, nämlich des Begriffs, wie er im Diskurs der écriture féminine (maßgeblich nach Kristeva, Irigaray und Cixous) geführt und durch die postkoloniale Theorie in (trans- )kulturellen Kontexten neu konnotiert wird. Vgl. zur écriture féminine u.a. bei Boukhedenna, Imache und Belghoul die Analysen von Marta Segarra 1997, bes. S. 133- 164. Mit dem Begriff der écritures de troubles, den wir jüngst vorgeschlagen haben, soll auf die Interferenzen von kultureller Differenz und Geschlechterdifferenz im postkolonialen, frankophonen Gegenwartsroman aufmerksam gemacht werden. Vgl. Febel/ Struve/ Ueckmann 2007, bes. S. 26f. 1104 Besonders deutlich und eindrücklich wird dies, und daher wähle ich den metaphorischen Begriff des Bebens, in Bouraouis Roman Le jour du séisme, vgl. Bouraoui 1999, indem das Erdbeben, das die Erzählerin beschreibt, nicht nur ihren Körper, sondern den gesamten Romantext erfasst. Die Einbindung von Fragen der Gender-Konstruktionen in die écritures transculturelles beur ist in den Textanalysen deutlich geworden, kann aber im Rahmen dieser Arbeit nicht differenzierter verfolgt werden. <?page no="291"?> Écriture transculturelle beur 289 Vernachlässigung des Politischen oder Ethischen im Schreiben zu verstehen, dem Derrida in seinen späten Schriften bspw. im Bezug auf die Fragen von Recht und Gerechtigkeit offensiv begegnet. 1105 Um diesen Aspekt des ‚Engagements’ hier zu betonen und weiter zu verfolgen, soll das Konzept der écriture nach Roland Barthes hinzugezogen werden. Der écriture-Begriff von Roland Barthes ist allerdings schwierig zu resümieren, denn im Laufe des Barthes’schen Werkes erfährt er grundlegende Bedeutungsveränderungen. Richard Brütting verortet diesen Wandel in einem Spektrum, das tendenziell zwischen einem strukturalistisch-linguistischen Pol, wenn Barthes die écriture als Idiolekt bestimmt (etwa in Éléments de la sémiologie von 1964), und einem antilinguistisch-textuellen Pol angesiedelt ist, der in seinem Aufsatzband Le degré zéro de l’écriture von 1972 zum Tragen kommt. 1106 Ich möchte mich hier auf den écriture-Begriff konzentrieren, wie Barthes ihn in seinem Aufsatz „Qu’est-ce que l’écriture? “ entwickelt und gegen den Ansatz von Sartres engagierter Literatur (maßgeblich in seinem Essay „Qu’est-ce que la littérature? “ formuliert 1107 ) in Anschlag bringt. Während Sartre zwischen engagierter, referenzieller erzählender Literatur und selbstbezogener Prosa unterscheidet, betrachtet Barthes jegliche écriture als Engagement. Barthes postuliert eine „morale de la forme“ 1108 bzw. eine „éthique de l’écriture“ 1109 als „formalistische Replik auf den inhaltsbezogenen Sartre’schen Engagementbegriff“, wie Andreas Gelz zusammenfasst. 1110 Der Wandel in der Beur-Literatur von testimonialen Texten mit explizit appellativem Charakter zu den Romanen, die die ästhetische und selbstreferenzielle Funktion betonen, ist in diesem Sinne zu verstehen, denn die Formen des Schreibens stellen unterschiedliche Formen des Engagements dar. Die écriture nach Barthes wird als potenzieller Ort des Angriffs auf tradierte Denk- und Schreibweisen verstanden. Ferner vermag sie, so betont er in seinen späteren Schriften, Körper, Text und Schreiben miteinander zu verbinden: „Le texte a une forme humaine, c’est une figure, une anagramme du corps.“ 1111 Barthes geht davon aus, dass die écriture zwischen der sozial bestimmten Sprache und dem biographisch determinierten Stil anzusiedeln ist 1112 - die Freiheit in der écriture liegt ihm zufolge in der Freiheit der Wahl. Der Barthes’sche écriture-Begriff zielt ferner auf die selbstreferenzielle Funktion der Literatur, wie Brütting unterstreicht: Was versteht nun R. Barthes unter écriture? [...] Im literarischen Text liegt eine doppelte Kommunikation vor; einmal wird ein bestimmter ‚Inhalt’ vermittelt, 1105 Vgl. Derrida 1996. 1106 Brütting 1976, S. 59ff. 1107 Sartre 1948. 1108 Barthes 1972, S. 19 1109 Ebd., S. 73. 1110 Gelz 1996, S. 11. 1111 Barthes 1973, S. 30. 1112 Vgl. zu diesem Aspekt des écritures-Begriffs auch Brink/ Solte-Gresser 2004, bes. S. 18- 21. <?page no="292"?> Écriture transculturelle beur 290 zum anderen wird signalisiert, daß es sich um einen literarischen Text handelt. Die letzte dieser beiden Bestimmungen nennt R. Barthes écriture: Sie ist ein von den literarischen Institutionen entwickeltes, historisch variables System von Konnotationen, die einen Text als literarisch ausweisen. 1113 Die Funktion der écriture ist nach Barthes genuin geschichtlich und liegt zwischen Kreation und Gesellschaft: „l’écriture est une fonction: elle est le rapport entre la création et la société, elle est le langage littéraire transformé par sa destination sociale, elle est la forme saisie dans son intention humaine et liée ainsi aux grandes crises de l’Histoire“. 1114 Die écriture besitzt die Möglichkeit, die große Geschichte („l’Histoire totale“) anzuzweifeln. 1115 Auf das Konzept der Kulturen übertragen ist mittels der écriture die Hinterfragung an der homogenen, monolithischen Kultur als Entität (die „Kulturfiktion“ mit Welsch) möglich. So wenig es für Barthes die eine offizielle Geschichte gibt („Histoire“), so wenig kann es für ihn eine singuläre écriture geben. Vielmehr formuliert er eine Zersplitterung in viele Schreibweisen (von denen in dieser Arbeit die écriture transculturelle beur eine ist), die mit der Krisenhaftigkeit einer absoluten Geschichte einhergeht: L’unité de l’écriture classique, homogène pendant des siècles, la pluralité des écritures modernes, multipliées depuis cent ans jusqu’à la limite même du fait littéraire, cette espèce d’éclatement de l’écriture française correspond bien à une crise de l’Histoire totale […] 1116 An diesem Ort der Freiheit, oder der kulturellen Aushandlung, wie Bhabha sagen würde, werden Hybridisierungen und transkulturelle Identitätskonstruktionen formuliert. Transkulturalität, wie in der Einleitung bereits ausgeführt, ist nicht als ein abgeschlossenes Konstrukt zu betrachten, sondern durch den Prozess permanenter Aneignung und Umgestaltung tradierter und neuer kultureller Identifikationsangebote gekennzeichnet. Diese Dynamik ist es auch, die die Grundlage des Konzepts von Hybridität und des Dritten Raums nach Bhabha bildet - besonders sein Verständnis einer Hybridität, die weiterhin durch kulturelle Differenz gekennzeichnet ist („cultural difference“ vs. „cultural diversity“) und die sich in der Zusammenführung von kulturellen „Inkommensurabilitäten“ als transitorisches, ephemeres Phänomen ausmacht. Dabei wird der Fokus auf die verunsichernden, querenden Verfahren gelegt und nicht auf ein Nebeneinander von Kulturen oder Identitätsentwürfen. Hier sind zwei Momente wichtig, die später für die Metapher der Literatur als Laboratorium und für das Denken 1113 Brütting 1976, S. 60. 1114 Barthes 1972, S. 18. 1115 Die écriture ist Verbindung von Historischem und Progressivem: „Der Staub der Vergangenheit klebt also an jeder écriture“, schreibt Richard Brütting, „sie hat immer einen Aspekt das Traditionellen, ja des Konservativen, und ist darum nur als ein Kompromiß zwischen der Freiheit des Engagements und der Verstrickung in bereits überwundene Geschichte [...]“. Brütting 1976, S. 60. 1116 Barthes 1972, S. 20. <?page no="293"?> Écriture transculturelle beur 291 von transkulturellen Subjekten herangezogen werden: die Unkontrollierbarkeit und die resistente Differenz. Victor Segalen betont beide Aspekte in seinem Konzept des Exotismus, in dem er die Erfahrung des Anderen als „Schock“ beschreibt, um so den touristischen Blick des Exotismus zu überwinden. Segalen entwickelt darauf aufbauend eine Ästhetik des Diversen: L’exotisme n’est donc pas cet état kaléidoscopique du touriste et du médiocre spectateur, mais la réaction vive et curieuse au choc d’une individualité forte contre une objectivité dont elle perçoit et déguste la distance. 1117 Es ist dieser Schock in der Begegnung mit dem anderen, der das von Segalen angenommene starke Subjekt bzw. Individuum zu sich selbst finden lässt. In diesem Schockzustand, der ähnlich wie die Glissant’sche Unvorhersehbarkeit im kulturellen Kontakt der créolisation angelegt ist und der unaufhebbaren Differenz im Hybriditätskonzept von Bhabha entspricht, liegt das Potenzial der Begegnung mit dem Anderen. In diesem Moment, in „der Differenz des Anderen konfrontiert sich der Mensch mit seinen offenen Grenzen, dem Diversen, das erst sein eigenes Erleben intensivieren kann“, konstatiert Febel. 1118 Es ist jene Beibehaltung kultureller Differenz, die nicht nur im Selbst ihre Entsprechung findet (analog zu Kristevas Konzeption des „étrangers à nous-mêmes“ 1119 oder Todorovs Erkenntnis: „de les reconnaître à la fois comme égaux et comme différents.“ 1120 ), sondern auch ohne Vereinnahmung oder Verabsolutierung der Alterität auskommt, der die Segalen’sche Konzeption von Exotismus und die Ästhetik des Diversen avisiert. Im Begriff der écriture transculturelle nun vermögen sich beide Konzeptionen zu reflektieren und theoretisch zu befruchten. 1121 Die écriture bekommt demnach einen dezidiert kulturellen und postkolonialen Hintergrund. Sie erscheint im Sinne Barthes als eine engagierte Schreibweise, die sich im Prozess der Aktivierung der „sozialen Energien“ (Steven Greenblatt 1122 ) befindet, die zwischen Sprache und Stil als ephemerer Ort der Freiheit funktioniert und im Sinne einer „liberté souvenante“ 1123 nicht unabhängig von ihrem geschichtlichen Erbe gedacht und formuliert werden kann. Dies geht mit der Bachtin’schen Vorstellung der Polyphonie und Dialogizität des Wortes konform, welches Spuren vergangener Konnotationen in sich trägt und, obwohl es in seinen historischen Kontext eingebettet ist, dennoch Normen und Strukturen stören oder gar sprengen kann. Tritt nun das Attri- 1117 Segalen 1955, S. 750. 1118 Febel 2006, S. 70. 1119 Kristeva 1991. 1120 Todorov 1982, S. 81. 1121 Eine Untersuchung transkultureller Schreibweisen fordert zu einer analogen Konzeption der Lektüre heraus. Es wäre folglich eine transkulturelle Rezeptionsästhetik, Formen einer lecture transculturelle, zu entwickeln, die die Rezeptionsverfahren betont. Vgl. dazu die Ansätze in der Dissertationsschrift von Annika McPherson (i.V.). 1122 Greenblatt 1994. 1123 Barthes 1972, S. 20. <?page no="294"?> Écriture transculturelle beur 292 but des Transkulturellen an die Seite der écriture, so vermag es im Sinne kultureller Hybridisierungen das Moment der Verhandlung und der Prozessualität und der glissements zu betonen. 1124 Doch anders als die poststrukturalistisch orientierten Textspiele der postmodernen Literatur, wird durch die Akzentuierung der postkolonialen Hybridität gerade das historische, gesellschaftliche, kulturelle und besonders politische Moment im écriture-Begriff wieder betont (so wie Barthes ihn auch als gesellschaftlich und in der „Histoire“ verankert intendiert und im Sinne eines spezifischen ‚involvierten Engagements’ versteht). Hier, nämlich in der postkolonialen Idee von Referenzialität, liegt der theoretische Unterschied zur postmodern(istisch)en Ausrichtung der écriture. Es geht um die engagierte, textuelle Gestaltung transkultureller Subjekte, aber nicht in erster Linie um „die Auflösung der Subjektivität im Textexperiment“. 1125 In der anderen Lesrichtung erfahren auch das Konzept der Transkulturalität und die Begriffe der Hybridität oder des Dritten Raums eine wichtige Erweiterung bzw. konnotative Färbung. Dem der Arbeit zugrunde gelegte Begriff der Transkulturalität, wie Welsch ihn formuliert, werden nicht nur die Konzepte der Hybridität und des Dritten Raums von Bhabha hinzu gefügt, sondern er lässt sich aus der Perspektive der écriture nochmals plausibilisieren, aber auch entscheidend erweitern. Bhabha generiert nämlich seine Theorien bezeichnenderweise anhand diverser Beispiele aus der Literatur und der bildenden Kunst. Er berücksichtigt nicht nur das Potenzial jener künstlerischen Sphären (hier ist er dem Bachtin’schen Verständnis der künstlichen Hybride sehr nah), sondern reflektiert explizit sprachtheoretische Annahmen, maßgeblich diejenigen Saussures und der weiterführenden poststrukturalistischen Lesarten. Bhabha vollzieht eine Art linguistic turn im Denken von Kulturkontakt, weil er von einer grundsätzlichen Symbolpraxis der Kulturen ausgeht „all cultures are symbol-forming and subject-constituting, interpellative practices“, 1126 und dies auch in seinen Konzepten bspw. der Übersetzung zum Ausdruck bringt. Hybridität erscheint folglich aufgrund ihrer explizit diskursiven und damit sprachlichen Verfasstheit als besonders écriture-affin, so dass die kulturelle Differenz von Bhabha in eine Bewegung der (kulturellen) différance überführt werden kann. Analog könnte damit auch für den Begriff der Transkulturalität ein Schwerpunkt gesetzt werden, der über das Transkulturalitätskonzept von Welsch hinausgeht. Betont écriture die sprachliche Verfasstheit des Kontakts von Kulturen und Menschen, so rücken die sprachlichen und literarischen Verfahren im Rahmen transkultureller Situationen in den Blick. Ferner ist in dieser Per- 1124 Vgl. zur linguistischen Ausgestaltung der glissements und der différance im Beur-Roman von Tadjer die Analysen von Manopoulos 2001. 1125 Zima 2001, S. ix. 1126 Bhabha nach Rutherford 1990, S. 209f. Auf die Bedeutung der Anrufung nach Althusser, nach dem Subjekte erst in der Identifizierung (mit Nationen, Staaten etc.) entstehen und die Bezugnahmen auf Lacan kann hier nicht weiter eingegangen werden. <?page no="295"?> Écriture transculturelle beur 293 spektive nicht der Rekurs auf ein Zentrum, auf eine Nationalsprache oder eine Nationalliteratur interessant, sondern die in der Vergänglichkeit und der ständigen Verweisung innerhalb der Signifikation formulierte kulturelle Hybridisierung und Transkulturalisierung. Das in der vorliegenden Arbeit aus den Texten herausgearbeitete metaphorische Reservoir bspw. der Spuren und der Rhizome, der Interferenzen, 1127 Überlagerungen und Palimpseste ist ein weiterer Indikator für die fruchtbare gegenseitige Reflexion der Begriffe. Die transkulturellen Phänomene im Schreiben sind außerdem oftmals an Oxymora bzw. Paradoxa gebunden: So war bspw. von Bewegungen ohne Start- und Zielpunkt, von einer Ankunft ohne Ankommen, einer Zeit in der „Schwebe“ und „Orte im Fluss“ die Rede. Diese Wendungen weisen auf die grundlegende Figur der Gleichzeitigkeit von Dynamik und Resistenz hin, mit der die kulturellen Formationen, aber auch die Identitätskonstruktionen beschrieben werden müssen. Besonders hinsichtlich der Selbstentwürfe zeigen sich die gegenläufigen Bewegungen im literarischen Subjekt: die Sehnsucht nach einer eindeutigen Identität und die gleichzeitige Auflösung in ephemere Identifikationen („l’éclatement identitaire“, so Khalid Zekri 1128 ). Die Raum-Zeit-Konstellationen fordern ein eigenes, neues Schreiben mit Bhabha: „We need another time of writing that will be able to inscribe the ambivalent and chiasmatic intersections of time and place that constitue the problematic ‚modern’ experience of the Western nation“, 1129 und eine eigene wissenschaftliche Sprache über die écriture transculturelle beur. Die Romane stellen ein ganzes semantisches Feld bereit für die rhizomatischen Identitätsentwürfe und die Spuren oder Schreibräume, die die Konzeptionen der Hybridität, des Dritten Raums oder der Transkulturalität als „travelling concepts“ (Mieke Bal 1130 ) rekontextualisieren. Im Folgenden sollen nun zentrale Merkmale der écriture transculturelle beur beschrieben werden, die weder Anspruch auf Vollständigkeit erheben, noch im Sinne eines fixierenden Kriterienkatalogs zu verstehen sind. Vielmehr stellen sie Parameter transkulturellen Schreibens dar, wie sie sich aus den Textanalysen der Beur-Romane ergeben haben. Die Formen der écriture transculturelle beur generieren sich zwar aus den untersuchten Texten, sollen 1127 Der Metapher der Interferenz bedient sich Bouraoui explizit in Mes mauvaises pensées. Hier beschreibt die Erzählerin in einem Monolog gegenüber einer angesprochenen Therapeutin, wie die Erfahrungen und Eindrücke in Frankreich plötzlich von Bildern und Erinnerungen aus Algerien überlagert werden: „C’est cette superposition d’images qui entre dans ma vie, c’est cette interférence, je suis rattrapée, je suis envahie, je suis dépassée“. Bouraoui 2005, S. 16. 1128 Zekri 2006, S. 27. 1129 Bhabha 1994, S. 141. Vgl. zur metaphorischen Figur des Chiasmus auch die Arbeiten des marokkanischen Autors und Theoretikers Abdelkebir Khatibi, wie Elisabeth Arend erläutert, vgl. Arend 1998. 1130 Vgl. Bal 2002. <?page no="296"?> Écriture transculturelle beur 294 aber darüber hinaus auch in ihrem konzeptuellen Potenzial für die Analyse weiterer Texte kritisch hinterfragt werden. Folgende Parameter einer transkulturellen écriture beur konnten in den Analysen herausgearbeitet werden: auf der inhaltlichen Ebene erstens die spezifischen Geschichts- und Zeitkonstruktionen, die mit der postkolonialen (Immigrations-)Geschichte und Erfahrungen des (traumatischen) Bruchs, der Spuren und der postmemory verbunden sind; zweitens die Raumkonstruktionen in Formen von Utopien und Heterotopien; drittens die permanente Transgression als Passagen und Bewegungen (durch den Raum, die Geschichte aber auch zwischen Selbstentwürfen); viertens die Hybridisierung der literarischen Subjekte, welche sich zwischen oder jenseits dichotomer kultureller Sphären verorten und in dezentrierten, durch inhärente Differenzen gekennzeichneten Selbstbildern formulieren; und schließlich fünftens der Entwurf einer eigenen Sprache durch Sprachspiele, Code-Switching oder die Jugendsprache des Verlan. An dieser Stelle wird deutlich, dass die transkulturellen Phänomene nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf sprachlicher und formal-ästhetischer Ebene in den literarischen Texten verhandelt werden, also auch gemäß formaler Parameter, die Dubiel als „Gestaltungen der Hybridität“ 1131 herausgearbeitet hat. Die Überlagerungen und Bewegungen, die sich in den chronotopischen und identitären Konstruktionen gezeigt haben, finden ihre Entsprechungen in textuellen Überschreibungen und Transgressionen. Die Analysen haben gezeigt, dass die erzählte Zeit in die Erzählzeit übergreift, der erzählte Raum Auswirkungen auf den Erzählraum hat sowie in welcher Form das hybride Subjekt auch textuelle Hybridisierungen erwirkt. Aus den Analysen lassen sich demnach formalästhetische Merkmale festmachen: erstens als Formen intertextueller und intratextueller Verweisung (als Dialogizität und Palimpsest), zweitens als Spiel mit Fakt und Fiktion (auf der Ebene der literarischen Gattung in Form von autobiographischem und autofiktivem Schreiben und als Spiel mit der Autorschaft und auf der Ebene der Handlung im Sinne einer Inszenierung zuverlässiger oder unzuverlässiger Erzählinstanzen). Die Verbindungen inhaltlicher und formaler Interdependenzen werden besonders deutlich bei der literarischen Gestaltung des Textraumes, 1132 bei dem die weißen Seiten 1133 als eigener Raum genutzt werden. Exemplarisch seien Djaïdani und Rahmani genannt: Bei Djaïdani sind es die comicartigen Geräusche/ Interjektionen wie das „ “ des Weckers, die Beschilderungen der Häuser oder das Türschild seines Psychiaters, die im Text typographisch ausgestellt sind, und bei Rahmani die schwierigen Erinnerungs- 1131 Vgl. zur Poetologie von Hybridität Dubiel 2007, bes. S. 188-202. 1132 Vgl. dazu weiterhin die Konzeption der „räumlichen Textualität“, wie Bronfen sie ausgehend von Lessings Laokoon-Schrift in Anlehnung an Genette, Barthes und Frank entwickelt, Bronfen 1986, bes. S. 316-335. 1133 „Je ne cesse de vouloir comprendre ce territoire où je me perds et je me rejoins. Dans le calme de la page blanche, toute violence a disparu de mon être. L’eau grise de la Seine roule dans mes yeux emportant Paris tout entier.“ Mounsi 1995, S. 124. <?page no="297"?> Écriture transculturelle beur 295 prozesse und die Zerrissenheit der Erzählerin, die ihre Entsprechungen in den zahlreichen Absätzen und „blancs“ finden. Doch auch in den frühen Texten sind solche Markierungen des Textes als Raum festzustellen, bzw. indem der Brief, der die Autobiographie von Benaïssa eröffnet, als solcher auch typographisch repräsentiert wird. Des Weiteren fungieren die Romaneröffnungen durch die vorangestellten Motti als spatiale Schwellen (zum Romantext). Bei Benaïssa markiert das Motto gleich in zweifacher Hinsicht eine Schwelle, denn es stellt den Übergang zum Haupttext dar und besteht aus der mütterlichen Warnung an die Tochter, wenn diese die Türschwelle übertritt und das Haus verlässt. 1134 Diese Beispiele illustrieren eine Tendenz in den Beur-Romanen, die zunächst die Sprache und dann dezidiert das Schreiben selbst als eigenen Raum begreift, der gar zur eigenen Heimat werden kann. Mounsi verdeutlicht diesen (zu besetzenden) Sprachraum: „Le seul espace où je puisse poser mes empreintes, c’est celui de la langue, c’est la seule identité possible, le seul territoire, la seule patrie possible“. 1135 Charles Bonn betont die Interdependenz zwischen den Semantisierungen des Raumes und der écriture. „Dès lors, l’espace n’est plus ni un simple référent, ni un symbole univoque : “, schreibt Bonn, „en devenant un entre-deux, il apparaît de plus en plus comme une métaphore de l'écriture elle-même, dont le déplacement, la mouvance, sémantiques autant que spatiales, sont alors des éléments constitutifs.“ 1136 Und neben dem (Zwischen-)Raum ist es für Bonn auch die Migrationsbewegung selbst, die als konstitutiver Teil der écriture erscheint: „La migration et la marge apparaissent [...] comme l’écriture-même.“ 1137 Die transitorischen Phänomene bilden auch die Anschlussmöglichkeiten zu der von Birgit Mertz-Baumgartner beschriebenen „Ästhetik der Transkulturalität“ für den französischsprachigen maghrebinischen Roman. 1138 Transkulturalität wird ihr zufolge nicht nur als Thema im Text ausgearbeitet, sondern auch zur textuellen Figur. Ferner beinhalten sich die literarischen Topologien und Chronologien als veritable Chronotopoi gegenseitig: In den Romanen geht es um Geschichtsspuren und Speicherung von Erinnerungen in der banlieue oder im Elternhaus (als lieux de mémoire) sowie um Entwürfe von eigenen ‚Zeiträumen’ und Zukunftsszenarien - ganz im Sinne der in der Einleitung bereits erwähnten écriture prospective mémorielle von Sebkhi. 1139 Mir erscheint bei diesem Kon- 1134 Vgl. Benaïssa 1990, S. 15. Vgl. dazu auch die theoretischen Ausführungen von Genette zum paratextuellen Raum u.a. der Motti und Widmungen bes. in Seuils 1987 sowie Richter 2007b. 1135 Mounsi nach Lamrani 1996, S. 168. 1136 Bonn 2004, S. 12. 1137 Ebd. 1138 Birgit Mertz-Baumgartner rekurriert - nicht ganz unproblematisch - zur Annäherung an eine „Ästhetik der Transkulturalität“ im französischsprachigen maghrebinischen Roman auf das kanadische Konzept der „écritures migrantes“. Vgl. Mertz-Baumgartner 2004, S. 51f. 1139 Vgl. Sebkhi 2003. <?page no="298"?> Écriture transculturelle beur 296 zept neben Sebkhis spezifischer Geschichtskonzeption auch das Oxymoron interessant, das auf ein wichtiges Merkmal hybriden Schreibens der Beurs hinweist. Denn die Begriffsmetapher nimmt die textuelle Figur der Verbindung von Unvereinbarem wieder auf. Sebkhi favorisiert - ohne es explizit zu reflektieren - die Verbindung von Paradoxa, wenn sie vom „Dedans-Dehors“ und vom „Provisoire Définitif“ im Zusammenhang mit der Literatur der Postmigration spricht. 1140 Der Topos der Passage und Bewegung schließlich bietet sich an, dichotome Räume und Geschichtswahrnehmungen zu überwinden und gleichzeitig zu verbinden. Daher gilt mein Interesse weniger der Grenze zwischen den vielfältigen Dichotomien, als vielmehr den Prozessen, die auf der Grenze gestaltet werden als Verfahren der Überquerung - so explizit oder implizit, konfliktträchtig oder harmonisierend, so subversiv oder affirmativ sie auch sein mögen. Damit rücken weniger die Bruchstellen in den Blick, welche historisch durch die Immigration der Eltern begründet sind oder räumlich in der Abtrennung vom Zentrum bestehen, als vielmehr die Möglichkeiten in den Räumen des Da-Zwischen. Dies betont auch Albert für ihre „écriture de l’entre-deux“, die sie für die frankokanadische Literatur haitianischen Immigrationshintergrunds entwickelt: Cette écriture n’est donc pas une tentative pour réparer la rupture de l’immigration mais elle est, au contraire, un moyen de lui donner forme. Elle ne peut se déployer que dans les interstices, les espaces intermédiaires où s’effectuent les échanges entre les cultures. 1141 So entstehen literarische Subjekte, die die Machtgefälle und die Gewaltpotenziale kultureller Identifikationen am eigenen Körper erleiden müssen, die sich aber auch ironisch davon distanzieren oder chamäleonartig mit großer Selbstsicherheit für Verunsicherungen sorgen können. Ironie und Humor sind daher wichtige stilistische Merkmale der Beur-Literatur. Sie stellen Schreib- und Identifikationsbewegungen der Distanzierung und Annäherung dar. Selbstironie ist Ausdrucksmittel der Selbstdistanzierung. 1142 Auffällig ist dabei in den jüngsten Romanen die Häufung an Doppelungen und Gefühlen der Dissoziierung, der schizophrenen oder psychisch labilen bzw. gestörten Figuren. Diese stellen sich als diskursiv konstruierbare Selbstentwürfe dar, so dass die Erzähler und Erzählerinnen als überschriebene, diskursiv konstruierte und transkulturelle Subjekte erscheinen. Diese Überlagerungen kultureller Identifikationen, die nicht in eine Synthese münden, sondern in ihren Schichten sichtbar bleiben, finden als Überschrei- 1140 Vgl. Sebkhi 2006, S. 139f. Auch Shaden M. Talgedin kommt bei ihren Analysen der literarischen Texte von Boukhedenna und Ali zu ähnlichen Beschreibungen, wenn sie die literarischen Gestaltungen des Motivs der Nostalgie bspw. als „making the present to the future“ bezeichnet. Tageldin 2003, S. 234. 1141 Albert 2005, S. 156. 1142 Vgl. zur Funktion der Ironie in der Beur-Literatur die Ausführungen von Schumann 2002, S. 234ff sowie den Aufsatz von Martine Delvaux, die Ironie als literarische Strategie des Dritten Raums deutet, vgl. Delvaux 1995. <?page no="299"?> Écriture transculturelle beur 297 bungen der literarischen Subjekte ihre Entsprechungen in der formalen Gestaltung der Texte. Die Bewegungen und Brüche in den Zeit- und Raumerzählungen spiegeln sich auch narratologisch in den unterschiedlich gestalteten Anachronien oder den wechselnden Fokalisierungen. 1143 Die transkulturellen, hybridisierenden Selbstbeschreibungen weisen nicht nur Brüche und Überquerungen auf, sondern zeigen sich zudem auch in der Überlagerung von Texten. So sind sie als Phänomene der Intertextualität, der Intratextualität (also innerhalb eines Wortes in seinen intratextuellen, historischen Tiefenschichten) sowie als spielerischen Überblendung von faktualem und fiktionalem sowie metafiktionalem Erzählen zu analysieren. 1144 Sie sollen im Folgenden als Phänomene der „Transtextualität“ nach Genette, also der expliziten oder impliziten Bezugnahme auf andere Texte, untersucht werden und nach Genette als intertextuelle Verweisungszusammenhänge sowie nach Bachtin als intratextuelle Hybridisierungen beschrieben werden. Genette unterscheidet in seiner Untersuchung Palimpsestes 1145 verschiedene Typen von (expliziter wie impliziter) Transtextualität: erstens Intertextualität, wozu er Zitat, Plagiat und Anspielung zählt und damit von einer bewussten Bezugnahme ausgeht, zweitens Paratextualität (Titel, Vorworte etc.), Metatextualität (Kommentar etc.), Hypertextualität (Imitation, Parodie etc.) sowie Architextualität (Genrebezüge). In den untersuchten Beur-Romanen sind alle Typen der transtextuellen Bezugnahmen zu finden, besonders auffällig ist dabei die Transgression der Gattungen durch die von Genette als intertextuell bezeichneten Anspielungen auf andere literarische Texte sowie die als Hypertextualität bezeichneten Imitationen und Parodien. Besonders in Smaïls Ali le magnifique, dies hat Cornelia Ruhe in ihrer Arbeit gezeigt, sind zahlreiche 1146 intertextuelle Bezüge zu Werken unterschiedlicher Nationalliteraturen zu finden, die in einem ganzen Spektrum hypertextueller, d.h. parodistischer Ausführungen, 1147 paratextueller, d.h. in Form eines Vorwortes und eines Nachwortes (eines fingierten Autors, darauf komme ich später noch zurück) oder als metatextuelle Kommentare gestaltet sind. 1143 Wie bspw. in Imaches Roman Une fille sans histoire oder Belghouls Georgette! , in denen immer wieder zwischen autodiegetischer und homodiegetischer Erzählerin gewechselt wird. Vgl. dazu die Analysen von Daphne McConnell, die „a certain narrative instability“ feststellt, McConnell 2001, S. 255. Auch Hargreaves weist auf auf die Multiperspektivik hin: „Few if any Beur narratives present a single viewpoint [...] the reader encounters a range of perspectives, and the relationship between them is complex.” Hargreaves 1997a, S. 96. 1144 Jochen Dubiel schlägt für die formale Gestaltung die dialogische oder intratextuelle Hybridität nach Bachtin, vgl. Dubiel 2007, bes. S. 189-193, die intertextuelle Hybridität unter Berücksichtigung der Transtextualität nach Genette, vgl. ebd., bes. S. 193-198, sowie die intermediale Hybridität vor. Vgl. ebd., bes. S. 198-202. 1145 Genette 1982. 1146 Ruhe hat über 90 Autorennamen zusammengetragen. Vgl. Ruhe 2004, S. 181f. 1147 Neben den zahlreichen Zitaten in Ali le magnifique imitiert Smaïl in La Passion selon moi (1999) auch die literarische Form des west-östlichen Diwan. <?page no="300"?> Écriture transculturelle beur 298 Weitere Bezüge zeigen sich als Architextualität in Genre-Montagen oder Gattungsmischungen, wie sie Christin Galster mit dem Begriff der „generischen Grenzüberschreitungen“ 1148 als ein zentrales Merkmal hybriden Schreibens bezeichnet oder Josias Semujanga ins Zentrum seiner „poétique transculturelle“ 1149 stellt. Genre-Mischungen finden sich, wie bereits erläutert, in der gesamten Beur-Literatur: Das Spektrum reicht dabei von den eingebundenen Tagebucheinträgen, Gedichten oder Liedzeilen von Rap-Songs bis hin zur Auflösung von Gattungskonventionen, so bspw. bei Rahmani, deren Text so verdichtet ist, dass er sich eher zwischen Prosa und Poesie einordnen lässt. Interessant ist in diesem Zusammenhang besonders die Metapher des Palimpsestes, die Genette für textuelle Bezugnahmen nutzt, und die ja auch in der postkolonialen Literaturtheorie aufgenommen worden ist. Ashcroft et al. betonen im Hinblick auf dieses Schlüsselkonzept: The concept of the palimpseste is a useful way of understanding the developing complexity of a culture, as previous 'inscriptions' are erased and overwritten, yet remain as traces within present consciousness. This confirms the dynamic, contestatory and dialogic nature of linguistic, geographic and cultural space as it emerges in post-colonial experience. 1150 Die Überschreibungsmetapher des Palimpsestes macht auch Elke Richter auf der Ebene der literarischen Gattung für ihre Analyse der postkolonialen Autobiographie fruchtbar: La métaphore du palimpseste se prête bien à la description de l’autobiographie postcoloniale, parce qu’elle attire l’attention sur les traces ineffaçables des conceptions identitaires précoloniales et de leurs expressions narratives dans les textes postcoloniaux. […] elle véhicule également l’idée de la perte de l’origine et de l’originalité. 1151 Das Palimpsest als Metapher für die Überschreibung eines Textes, bei dem also das Original nur noch in Spuren zu erkennen ist, geht mit dem dieser Arbeit zugrunde gelegten Hybriditätsverständnis konform. In den Vermischungen sind die ‚kulturellen Originale’ noch zu erkennen, ohne dass auf sie rekurriert werden könnte. Wie schon in der Einleitung für das Hybriditätskonzept dargelegt, scheint mir das Potenzial dieses Begriffs in der Betonung der inhärenten Differenz zu liegen. Nicht ein kulturelles Amalgam, wie bei Djaïdani karikiert, sondern eine hybride, in sich kulturell differente Sphäre wird geschaffen. 1152 1148 Vgl. Galster 2002. 1149 Vgl. Semujanga 1999. 1150 Ashcroft/ Griffiths/ Tiffin 1998d, S. 176. 1151 Richter 2006, S. 167. 1152 Auch Manfred Schmeling betont die antikonsensuelle Ausrichtung des Hybriditätsbegriffs: „Tout cela aboutit à une stratégie littéraire qui se nourrit de la différence et non du consensus, et qui s’épanouit parfaitement dans les zones hybrides.“ Schmeling 2002, S. 413. <?page no="301"?> Écriture transculturelle beur 299 Zusätzlich spiegelt das Konzept des Palimpsestes in gewisser Weise auch die strukturelle Anlage und damit eine zentrale Aussage dieser Arbeit. Denn die Überschreibungen, auf die Genette mit diesem Begriff hinweist, sind nicht nur auf einer synchronen Ebene der Gegenwart zu betrachten, sondern verlangen auch eine Verankerung in einem historischen, diachronen Sinne. Die Bedeutung dieses Konzeptes für das Verständnis der Selbstentwürfe in den Beur-Romanen liegt nun darin, hybride Identitätskonstruktionen auf einer synchronen wie auf einer diachronen Achse zu erkennen. So wichtig die vielfachen Bezugnahmen und Überlagerungen unterschiedlicher kultureller Identifikationen in der jeweiligen Gegenwart der literarischen Figuren sind, so wenig sind sie von vorgängigen Selbstbildern bzw. den (kolonialen) Spuren der Immigrationsgeschichte der Eltern zu trennen. Ferner macht diese textuelle Begriffsmetapher darauf aufmerksam, dass Subjekte von ihrer diskursiven Gestaltung abhängen (daher scheint mir die Metapher der Überschreibungen so geeignet), sowie ebenso, dass die intertextuellen Bezugnahmen (wie bspw. bei Smaïl die manischen Anhäufungen von Intertexten) mit den kulturellen Verortungsbestrebungen der Erzähler und Erzählerinnen einhergehen. Diese Überlagerungen tragen nicht zu einer Selbststabilisierung bei, sondern können - wie in der extremen Form bei Smaïl - gar zum gegenteiligen Effekt führen: „Zugleich führt aber diese Überfrachtung mit Interpretationsperspektiven letztlich dazu, dass Sid Ali als Leerstelle im Zentrum des Textes hinterbleibt.“ 1153 Smaïls Protagonist, aber auch die Erzähler und Erzählerinnen von Guène, B. oder Djaïdani suchen ihr Gegenüber und ihre diskursiven Selbstkonstruktionen in der Orientierung an Medien. So sind die intermedialen Verweisungen (nach Galster die „extragenerischen Grenzüberschreitungen“) als Überlagerungen von Texten und medialen Diskursen, aber auch von Texten fiktionaler und nicht-fiktionaler Art zu untersuchen. In der Beur- Literatur finden sich zahlreiche Verweise auf Medienformate: Fernsehserien, Kinofilme, Internetereignisse, politische Parolen, Musiktexte etc. Diese dienen u.a. als Spiegelbild des erzählenden Subjekts (bspw. dient ja der Stendhal’sche Julien Sorel dem Erzähler Sid Ali als Gegenüber, bis der Protagonist sogar mit dem literarischen Vorbild verschmilzt 1154 ), als imaginierte Bühnen, auf denen sich die Protagonistinnen und Protagonisten produzieren können (wie die Fernsehsendungen bei Guène oder das Vorbild von Jamel Debbouze bei Y.B.), sowie als Erzähldispositive, die Neumann als „Erzählgeneratoren“ bezeichnet. 1155 Dies zeigt sich exemplarisch bei Smaïls Sid Ali, wenn der Erzähler das Ende seiner Beziehung zu Mme Rénal im Stile 1153 Ruhe 2004, S. 40. 1154 Diese Spiegelung findet auch auf der Ebene der Autoren statt, wenn Smaïl und Léger als zwei Namen/ Identitäten einer Person fungieren. 1155 Erzählgeneratoren werden von Neumann als kulturell etablierte Geschichtsmuster beschrieben, an denen sich Personen bei autobiographischen Erinnerungen orientieren und die „qua kulturspezifischer Schemata auf individueller Ebene wirksam werden.“ Neumann 2005b, S. 157. <?page no="302"?> Écriture transculturelle beur 300 eines Filmdrehbuchs beschreibt: „Bon. Et maintenant, donc, en rediff: Cécile- Sid Ali - le best-of. Les meilleures scènes, tournées entre début septembre 1998 et le 13 janvier 1999[…]“. 1156 Doch die intertextuellen Bezüge sind noch auf einer anderen Ebene relevant, die mit der in den Romanen angelegten Metaphorik umschrieben werden kann: Sie öffnen und kreieren einen Textraum, in den sich die Protagonistinnen und Protagonisten einschreiben. Auch Renate Lachmann fragt nach der Funktion für den Kontext: „Verändert nicht auch jeder Text den Gedächtnisraum, indem er die Architektur, in die er sich einschreibt, verändert? “ 1157 Hier verwendet Lachmann die Metapher des Raumes, um ihre Konzeption von Gedächtnis auf textuelle Verfahren zu übertragen. Dabei betont sie nicht nur die Speicherung anderer Texte („Das Gedächtnis des Textes ist seine Intertextualität.“ 1158 ) und die Wiederaufnahme des extratextuellen Gedächtnisraums, sondern auch den Aspekt der Veränderung der „Architektur“ des bestehenden Gedächtnisraumes. Scheiding nun beschreibt das spezifisch interkulturelle, intertextuelle Verfahren als eines, das neue Räume zu öffnen vermag, die - wie schon Lachmann betont - sich wiederum als andere Stimme in den bestehenden Diskurs einschreiben. Er unterstreicht damit, „dass die aus der Interferenz der Texte resultierende ambivalente Vermischung der literarischen Texte zwischen Erzählweisen Zwischenräume eröffnet, in welchen sich entgegen dem monologisch agierenden Herrschaftsdiskurs die Fremdstimme konstituiert.“ 1159 Damit heben Lachmann und Scheiding auf den funktionsgeschichtlichen Aspekt von Literatur ab, wie er auch in den bereits beschriebenen Geschichts- und Gedächtniskonzeptionen angeklungen ist. Dieser Fokus ist im Zusammenhang mit der Referenzialität und dem Engagement der écriture transculturelle beur bereits integriert. Von den intertextuellen, also nach außen gerichteten Verweisungen, soll nun der Fokus auf die intratextuellen Auswirkungen transtextueller Verfahren gelegt werden. Die intratextuellen Hybridisierungen können mit Bachtins Theorie der Dialogizität und der Polyphonie sichtbar gemacht werden - ein Modell, das Kristeva später wiederum in die intertextuelle Zielrichtung weiterführen wird. 1160 Ausgangspunkt ist dabei der in der postkolonialen Literaturtheorie neu aufgegriffene Ansatz Bachtins, der den Roman als grundsätzlich hybrid denkt und auf der Ebene des Wortes die Beziehungen zu gesellschaftlichen Diskursen untersucht. Die Begegnung und das croisement der Sprachen und die Redevielfalt (Polyphonie) sind für das 1156 Smaïl 2003, S. 353. 1157 Lachmann 1990, S. 35. 1158 Ebd. 1159 Scheiding 2005, S. 59. 1160 Vgl. dazu die Argumentation Manfred Pfisters, der Bachtins Theorie als „dominant intratextuell, nicht intertextuell“ ausweist in „Konzepte der Intertextualität“, Schmeling 1985, S. 1. Zur Umdeutung bei Kristeva vgl. ihren Essay 1967 sowie die Ausführungen von Arend 2005, bes. S. 82f. <?page no="303"?> Écriture transculturelle beur 301 Verständnis von Hybridität für Bachtin zentral. So beschreibt Bachtin in seiner Ästhetik des Wortes: Was ist Hybridisierung? Sie ist die Vermischung zweier sozialer Sprachen innerhalb einer einzigen Äußerung, das Aufeinandertreffen zweier verschiedener, durch die Epoche oder die soziale Differenzierung (oder sowohl durch diese als auch durch jene) geschiedener sprachlicher Bewußtseine in der Arena der Äußerung. Eine solche Vermischung zweier Sprachen innerhalb einer Äußerung im Roman ist ein beabsichtigtes künstlerisches Verfahren. 1161 Bachtin geht es also um ein Aufeinandertreffen und eine Vermischung zweier Sprachen, die direkt an „Bewußtseine“, also an Weltsichten und -wahrnehmungen gekoppelt sind. Der metaphorische Ausdruck der „Arena der Äußerung“ verweist auf die hierarchischen Beziehungsverhältnisse, in denen Sprachen oder kulturelle Codes zueinander stehen, und damit auf Deutungskämpfe von Sinnsystemen. 1162 Für Bachtin trägt jedes Wort nicht nur seine engere Bedeutung mit sich, sondern, über diese hinausgehend, auch die Konnotationen, die Spuren von früheren, insbesondere gesellschaftlich bestimmten Verwendungszusammenhängen. Oliver Scheiding fasst diese diachrone Funktion zusammen: „Bachtin theoretisiert [...] kein Speichermodell der Literatur, sondern ein dynamisches System der Ent- und Reaktivierung des kulturellen Gedächtnisses im Roman.“ 1163 Dies wird in den Beur-Romanen auf der Ebene der Sprache besonders augenfällig inszeniert und soll hier der exemplarischen Verdeutlichung der intratextuellen Hybridisierung dienen. So ist die Redevielfalt nicht nur auf synchroner Ebene, also durch die Anspielung auf die Sprachen der Gegenwart, literarisch gestaltet, sondern durch die Arabismen bzw. das arabisierte Französisch werden auch die Immigrationsgeschichte der Eltern sowie ihre Marginalisierungen im französischen Mehrheitsdiskurs aufgerufen. 1164 Weiterhin 1161 Bachtin 2006, S. 244. 1162 Hier ist der historische und politische Kontext der Entstehungen der Bachtin’schen Theorie nicht zu vernachlässigen, wendet er sich doch gegen den russischen Formalismus und den kommunistischen Herrschaftsdiskurs. Dennoch ist es m.E. möglich, gerade diese politisch-ideologische Verankerung in eine Analogie mit (post-)kolonialen Situationen zu setzen, denn auch hier wird der vermeintlich einheitliche, monolithische Roman in französischer Sprache durch die Perspektive auf die historischen, aber auch peripheren Konnotationen in seiner Komplexität erst sichtbar gemacht. 1163 Scheiding 2005, S. 58. 1164 Albert beschreibt die Betonung der selbstreflexiven Funktion des Aussagens in den Romanen der Immigration mithilfe des Begriffs der „scénographie“, die sie für den Beur-Roman in der urbanen wie sozialen Peripherie ansiedelt und innerhalb der kolonialen Geschichte verankert (analog also zu den im Rahmen der vorliegenden Arbeit analysierten Chronotopoi). Die Distanz/ Differenz zwischen dem Ausgesagten und den Bedingungen der Aussage benennt Albert als „écriture de l’entre-deux“ und weist zuallererst auf den „Ethos“ der literarischen Stimme hin. Damit meint sie die Sprachkonstruktionen und -vermischungen, die sie folgendermaßen für den Beur- Roman resümiert: „Associant verlan, argot des banlieues et néologismes inspirés de la langue arabe ce français constitue une sorte ‚d’antilangue’ qui permet à un groupe <?page no="304"?> Écriture transculturelle beur 302 spielen bei den künstlerischen Gestaltungen der Hybridisierung die Evozierung des Raumes, nämlich durch die Regionalismen und die Bindung an die Sprache in der jeweiligen banlieue (das „patois du quartier“), sowie die Evozierung der Zeit - als Bindung an den Soziolekt der Jugendlichen (das „parler jeune“) - eine Rolle. Schumann legt hier sogar das Kriterium für die ästhetische Qualität der Romane an: „[...] man kann sagen, dass ihre literarische Qualität gerade darin besteht, dass es ihnen gelingt, das sprachliche Umfeld ihrer Protagonisten zur Charakterisierung der kulturellen Identität zu nutzen.“ 1165 Gerade die Infragestellung des Französischen als „sprachliche Heimat“ und „Muttersprache der Beurs“ schafft Transgressionen 1166 und Dezentrierungen. Im Schreiben wird nach Hargreaves ein dritter Weg beschritten (abermals eine spatiale Metapher), „une troisième voie qui, tout en incorporant des éléments français et maghrébins, leur permettra d’affirmer la particularité que est [sic ! ] la leur“. 1167 Auf diesen dritten Weg werde ich im Zusammenhang mit der Etablierung einer dezentrierten écriture noch zurückkommen. d’exprimer une appartenance identitaire et de marquer sa marginalité par rapport à la société.“ Albert 2005, S. 151. 1165 Schumann 2002, S. 235. Zudem ist Bachtin die Verklammerung der gesellschaftlichen Verhältnisse, also im weitesten Sinne der Kultur, und des Wortes im Roman wichtig - dies ist zwar vor dem Hintergrund des russischen Formalismus zu verstehen, geht aber m.E. über die Reaktion auf die gesellschaftspolitischen und literaturtheoretischen Hintergründe (und Angriffspunkte) Bachtins hinaus. Alfonso de Toro, der seit Jahren an den Themenkomplexen der Transkulturalität, der Postkolonialität (so sein Terminus) und der Hybridität bzw Hybridisierung arbeitet, formuliert im Rahmen eines von ihm entwickelten Hybriditätsmodells ähnliche Funktionen und Zielrichtungen von Hybridität, wie sie auch hier in der Arbeit angelegt ist (auch wenn sie bei ihm nicht das zentrale Paradigma darstellt). Allerdings lehnt er das Bachtin’sche Konzept der Hybridisierung ab, da das Konzept nicht in einem postkolonialen Sinne intendiert war. Doch m.E. kann die Theorie Bachtins auf den postkolonialen Beur- Roman übertragen werden, fließen in ihm doch ebenfalls die Problematik der Speicherung und Reaktivierung zurück liegender sozialer Sprachen ein, wenn auch oder gerade weil in der transkulturellen Interferenz dialogische oder polyphone Strukturen in der vermeintlich einheitlichen französischen Sprache sichtbar werden. Vgl. dazu exemplarisch de Toro 2002 sowie 2006. Die literarischen Formen des „métissage culturel“ im Beur-Roman, wie auch Schumann sie untersucht, liegen ja in der Vermischung der Sprachen und in der Betonung einer bestimmten Oralität, also der „Verwendung eines umgangssprachlichen und mit arabischen Ausdrücken durchsetzten Französisch“. Schumann 2002, S. 234. 1166 Mounsi spricht noch eine andere Transgression an, die auch bei Begag immer wieder betont wird: die Möglichkeit des Ausbrechens aus der sozialen und kulturellen Marginalisierung durch die Beherrschung der französischen Sprache. „La véritable transgression, pour un enfant du ghetto, consiste à s'approprier la langue.“ Mounsi 1995, S. 81. Während hier aber noch im Rahmen erfolgreicher Assimilation argumentiert wird, liegt mein Fokus auf den Sprachmischungen und -neuschaffungen, die sich gerade nicht am français standard ausrichten und darüber hinaus besonders in den aktuellen Texten auch Einflüsse aus der Mediensprache, der englischen Sprache oder der Comicsprache integrieren. 1167 Hargreaves 1990, S. 80. <?page no="305"?> Écriture transculturelle beur 303 Die Funktion der intertextuellen Überlagerung von Texten wie der intratextuellen Hybridisierungen ist dabei nicht nur die der Etablierung jenes eigenen (dritten) Wegs oder der eigenen Stimme, sondern auch die der Dekonstruktion von Binaritäten auf unterschiedlichsten Ebenen. Schmeling nennt folgende: […] le mélange hybride des faits et de fiction, de vie et de narration, d'histoire et d'histoires, qui constitue lui aussi un élément caractéristique de la conception postcoloniale du roman, nous apparaît maintenant placé sous le signe de la rencontre avec l'altérité culturelle. 1168 Die Anlage der Beur-Romane bewegt sich - und hiermit möchte ich die von Schmeling angesprochene Verquickung von Fakt und Fiktion aufgreifen - zwischen testimonialer und fiktionaler Literatur. Dabei ist im Laufe der Jahre eine Schwerpunktverlagerung von der ersten Kategorie hin zur zweiten zu beobachten: Die Romane zeichnen sich demgemäß durch zunehmende Fiktionalisierung aus. Die Relevanz des testimonialen Schreibens und das Spiel mit der Gattung Autobiographie werden in der diachronen Zusammenschau der Texte sichtbar. Während die frühen Beur-Texte, die stark dokumentarischen und autobiographischen Charakter hatten, von der Rezeption oftmals als Betroffenheitsliteratur (dis)qualifiziert wurden, setzen sich die Autorinnen und Autoren der neuen Beur-Literatur eher mit den Möglichkeiten und Grenzen autobiographischen Schreibens auseinander. Während die ersten Romane also Autobiographien im klassischen Lejeune’schen Sinne sind und den autobiographischen Pakt einhalten, lösen sich die Texte der 1990er Jahre bis heute tendenziell immer mehr von diesem Pakt. Das Spektrum geht demnach von Romanen wie Journal: Nationalité immigrée oder Née en France: Histoire d’une jeune beur, 1169 von denen ersteres schon durch die Anlage des Tagebuchs den testimonialen Charakter garantiert, bis hin zu Texten von Autoren, die sich hinter Initialen wie Y.B. verbergen oder gar, wie bei Paul Smaïl, ihre Existenz als realer Autor gänzlich verschleiern. Smaïls literarische Texte stellen ein extremes Beispiel von Romanen dar, in denen die Kategorie des autobiographischen Erzählens ad absurdum geführt wird. 1170 Die Verunsicherung des Genres passt sich in das 1168 Schmeling 2002, S. 410. 1169 Bei dem Text von Benaïssa, daran sei an dieser Stelle erinnert, ist handelt es sich um eine augezeichnete Autobiographie, wie die Journalistin Ponchelet in ihrem Postscriptum betont, handelt es sich bei dem Namen Aïcha Benaïssa um ein Pseudonym, so dass nur Ponchelet die ‚wahre’ Identität der jungen Beurette bekannt ist. Dieses Verfahren der Co-Autorschaft findet sich bis heute in den bereits erwähnten Werken, die die Zwangsheirat zum Thema machen wie bspw. Leïla/ Cuny 2004. Dass die Co- Autorschaft dabei von Franzosen und Französinnen übernommen wird, die über die ‚subalternen’ Beurettes sprechen, stellt nach Hargreaves eine neokoloniale Strategie der Entmachtung („dispossession“) dar. Vgl. Hargreaves 2006. 1170 Ins Extrem der Fiktionalisierung geführt, finden sich auch noch weitaus ‚experimentellere’ Texte wie die Science Fiction-Erzählung „Cocktail Story“ von Nasser in Beurs Stories. Nasser entwirft hier eine Welt, in der Exklusions- und Inklu- <?page no="306"?> Écriture transculturelle beur 304 Gesamtbild des literarischen Œuvres von Paul Smaïl ein, der nach Majumdar auf unterschiedlichsten Ebenen Grenzüberschreitungen vornimmt. 1171 Der (französische) Autor Jack-Alain Léger bleibt bis zum Jahr 2003 hinter seinem Pseudonym Paul Smaïl verborgen. 1172 So entlarvt er aber auch die Lektüregewohnheiten der französischen Literaturkritik, die sich in den Feuilletons in xenophobe, ja rassistische Rezensionen versteigt. In den feuilletonistischen Diskussionen bildet sich ab, welche Diskurse über die Beurs herrschen, die gerade durch die Verschleierung der ethnischen und nationalen Herkunft des Autors umso stärker hervortreten. Kulturalistische und diskriminierende Kritiken decken die Textanalyse regelrecht zu: Der Text wirkt nicht mehr für sich, sondern wird meist allein auf die Psychologie und Biographie des Autors zurückgeführt. 1173 Ziel dieses Verwirrspiels mit der Autorschaft ist dabei nicht nur, die Literaturkritik in ihren kulturalistischen oder rassistischen Deutungen entlarven zu können, sondern auch die Möglichkeit der Ausweitung von Bedeutungen und Sinngebungen. 1174 Mit Foucault gesprochen, betonen sie die Angst der Literaturkritik (und im weiteren Sinne der Leserschaft) vor der Uneindeutigkeit: „Der Autor ist demnach die ideologische Figur, mit der man die Art und Weise kennzeichnet, in der wir die Vermehrung der Bedeutung fürchten.“ 1175 Sichert eine Autorinstanz mit dem eigenen Namen und der Biographie eine mögliche Deutung von Texten, so verwehrt sich Smaïl gerade dieser Möglichkeit einer eindeutigen Lektüre. Doch Smaïl inszeniert nicht nur die ‚Identität’ zwischen ihm und dem Erzähler Paul Smaïl in Vivre me tue, sondern operiert in der Diegese mit mesionsmechanismen auf der Grundlage von Besitz von Zeit funktionieren. Vgl. Nasser 2001. 1171 Majumdar stellt für Paul Smaïl fest: „[...] il brouille les frontières entre les auteurs et les personnages, entre le réel et le fictif, en nous plongeant dans un monde romanesque qui englobe tout et où tout est matière à fiction légitime.“ Majumdar 2004, S. 118. 1172 Vgl. Ruhe 2004, S. 209ff. 1173 Vgl. dazu die ausführliche Zusammenstellung von Presseartikeln ebd., S. 166, aber auch die verlagsinternen Ankündigungen, die die Biographie des Erzählers mit der Biographie des Autors gleichsetzen. 1174 Der Erzähler kommentiert in Vivre me tue mit unverhohlenem Spott sogar explizit das literaturkritische Verfahren bzw. die Lesehaltung, nach der Literatur nur bei Übereinstimmung von Autor- und Rezeptionshintergrund gelesen werden und die Qualität danach beurteilt werden darf. Der Erzähler führt diese Haltung ad absurdum und erhebt das Prinzip der literarischen Qualität (die er nur anhand von Beispielen des Literaturkanons verdeutlicht) als einziges Kriterium. In einem Streit mit seiner nur scheinbar liberalen, aber von Paul als Rassistin entlarvten Chefin im Buchladen bricht es aus ihm heraus: „Les ratons ne devraient lire que des bouquins de ratons, selon vous ? Proust, c’est seulement pour les pédés, alors ? Et Melville, aussi ? Et Virginia Woolf, pour les gousses ? Et les Bretons, alors, il faut qu’ils lisent Chateaubriand ? Les Russes, Tolstoï ? Mais pas Dickens, hein, Dickens c’est pour les Anglais ! Il était anglais, Dickens. Un raton peut pas lire Dickens ! C’est ça que vous voulez, hein ? Chacun chez soi ! Les Serbes avec les Serbes, les Croates avec les Croates, et les autres derrière les barbelés ! Qu’est-ce que j’ai à foutre de la littérature arabe ? Pour moi, il y a les bons livres et les mauvais - point.“ Smaïl 1997, S. 92f. 1175 Foucault 2000, S. 229. <?page no="307"?> Écriture transculturelle beur 305 tafiktionalen Passagen. Er lässt in Ali le magnifique sogar den Autor Paul Smaïl als Figur auftauchen und den Namen (seines) Protagonisten Sid Ali Benengeli etymologisch erläutern. Zudem inszeniert er sich als fingierter Autor auch noch im paratextuellen „Avis“ und „Envoi“. Im „Avis“ betont der Autor: „Les propos tenus en monologue intérieur par le misérable héros de ce roman sont d’un dément, d’un schizophrène, purement fictifs et parfaitement délirants.“ 1176 Dieser für Smaïls Schreiben typische und ironische Hinweis auf die strikte Trennung von Realität und Fiktion wird im Folgenden dadurch ergänzt und bestätigt, dass sich der fingierte Autor in die Tradition von Molière und Stendhal stellt, welche vermeintlich gefährliche Aussagen ihrer Protagonisten durch kommentierende Bewertungen der literarischen Figuren als Schurken, Atheisten etc. entschärfen. Zudem beschreibt sich der Autor auch in der Nachfolge Stendhals und Flauberts, die wie Smaïl ‚authentische’ Fälle als Inspirationsquelle für ihre Romane genutzt haben. 1177 Das Spiel mit der Autorschaft, die vorweggenommene Konturierung seines Erzählers als Antiheld, die intertextuellen Verweise und Traditionen; all dies sind Problematiken, die im gesamten Roman aufgegriffen werden. Auf diese Weise wird die Konstruiertheit der Figuren in gleicher Weise transparent gemacht, wie eine Verankerung in einer ‚realen’ Lebenswelt fingiert wird. Den Roman beschließt ein „Envoi“, in dem der Autor seine Leserschaft dazu auffordert, die Bildschirme auszuschalten und stattdessen auszugehen, zu lesen, zu leben und zu lieben und sich statt der Telearbeit das Leben und die Literatur zurückzuerobern: „Et vive la littérature! Vive le romanesque! Il n’y a que ça de vrai.“ 1178 Zwischen den Autobiographien bspw. in Form des Tagebuchs und den Romanen des fingierten Autors Smaïl ist die Autofiktion einzuordnen (Serge Doubrovsky), wie sie bspw. von Bouraoui, Djaïdani oder Boulouque geschrieben wird. Doubrovsky beschreibt diese Art Literatur mittels der Metapher eines Zwischenraums, der weder Autobiographie noch Roman ist und in dem Text und Leben auf eine spezifische Weise verknüpft sind: „Ni autobiographie, ni roman, donc, au sens strict, il [le texte, K.S.] fonctionne dans l’entre-deux [...]. Texte/ vie: le texte, à son tour, opère dans une vie, non dans le vide.“ 1179 Diesen Zwischenraum besetzten die Protagonisten und Protagonistinnen in der Beur-Literatur nicht nur in der Diegese, er findet sich eben- 1176 Smaïl 2001, S. 9. 1177 Und schließlich weist er noch auf die Eigenheit der okzidentalen Kultur hin, indem er mit Cervantes darauf beharrt, seinen Figuren realistische Konturen geben zu dürfen: „de refaire le monde sur le papier, au gré de sa fantaisie, mais d’une fantaisie réaliste.“ Ebd., S. 10. 1178 Ebd., S. 765. Er bedankt sich abschließend, bevor er sich an seinen ungeborenen Sohn wendet und damit eine zukunftsweisende Ausrichtung des Romans unterstreicht) bei Romanfiguren und ‚realen’ Personen wie Isabelle Adjani, Zebda oder der Redaktion der Zeitschrift Pote à pote - ähnlich wie in einem Beiheft zu einer Musikplatte oder -CD und analog zu dem Verfahren bei Djaïdani. 1179 Doubrovsky 1988, S. 70. <?page no="308"?> Écriture transculturelle beur 306 falls im kritischen Umgang auf der Ebene der Textgattung bzw. der Beziehung von Kontext, in diesem Zusammenhang von Autor bzw. Autorin und Text. Das Spiel mit der Autorschaft, das mit einer ‚Authentizität’ des Geschriebenen arbeitet, ist auch in der Ausgestaltung des fiktionalen Erzählens in den literarischen Texten zu finden. Die Romane entwickeln eigene Antworten auf Majumdars Frage „Le roman n’est-il pas cette hésitation entre le vrai et le vraisemblable ? “ 1180 Analog zu dem Spiel mit der Autorenidentität wird deutlich, dass die Romane reale Ereignisse und Traumszenarien nicht mehr nur nebeneinander (und in der Folge hierarchisch unterschieden), sondern gerade ineinander verschränkt, also überlagernd, inszenieren. Hier lassen sich zwei Beobachtungen machen: Erstens zitieren die Erzählerinnen und Erzähler immer wieder reale Personen, historische Ereignisse, Filme, Fernsehserien, Werbungen etc., die sie derart mit ihrer eigenen Geschichte verweben und sie in die fiktiven Schilderungen einbauen, dass eine Verunsicherung über den ‚Wahrheitsgehalt’, also den empirischen Referenten ausgelöst wird. Zweitens aber werden die eigenen irrealen Tagträume und Erinnerungen nicht immer als solche markiert, so dass auch auf der Ebene der Diegese ein Zweifel über den ‚authentischen’ Wert der Aussagen aufkommt. 1181 So ergibt sich ein Spiel mit fiktionalen und faktualen Erzählelementen sowie mit dem Status fingierter Wahrnehmungen und Erlebnisse: Reales und Fiktives wirken im Romantext fingiert. Hargreaves betont in diesem Zusammenhang noch den realistischen Anspruch der Romane: „Almost all Beur fiction operates within a realistic aesthetic, i.e. the reader is meant to regard the events recounted in it as if they have actually happened, rather than as mere fantasies.” 1182 Diese realistische Ästhetik wird m.E. aber immer schon durch die unsichere Verortung der Erzähler und Erzählerinnen gebrochen, was sich - wie bereits erläutert - in der Mimesis der Erinnerung ausdrückt oder in der Überblendung von erzählendem und erlebendem Ich. Das realistische Erzählen, die Ausgestaltung von Authentizität und das textuelle Spiel mit Fiktion und Diktion 1183 lassen sich allgemeiner als Problematisierung der Referenzialität bezeichnen. Die unterschiedlichen Formen autobiographischen oder fiktionalen Erzählens und die inszenierten Verunsicherungen der Protagonisten und Protagonistinnen hängen unmittelbar 1180 Majumdar 2004, S. 134. 1181 Vgl. Zipfel 2001. Das Moment des „Fingierens“ das auch Martinez/ Scheffel zur Unterscheidung von Fiktivem und Fiktionalem anführen, spielt eine zentrale Rolle, wie schon im Zusammenhang mit der Mimesis-Illusion ausgeführt worden ist und weiter unten wieder aufgenommen wird. Vgl. Martinez/ Scheffel 2003, S. 13. Detaillierte narratologische Analysen fiktionalen und faktualen Erzählens führt Genette durch. Vgl. Genette 1991. 1182 Hargreaves 1997a, S. 74. 1183 Ette bezeichnet dieses Spiel als „Friktionalisierung“: „Die durch das Oszillieren zwischen Fiktion und Diktion ausgelöste Friktionalisierung der Erzählerstimme“. Ette 2005, S. 57. <?page no="309"?> Écriture transculturelle beur 307 mit dem Konzept der écriture und der beschriebenen transkulturellen Lebenswelt zusammen. Die Kritik an der Repräsentation vereint zwei widersprüchliche Tendenzen im Schreiben: einerseits die (in den literarischen Texten ja explizit vorgenommene) Betonung des Textraumes und der ephemeren Schrift, in der die Subjekte erst entstehen, bzw. ihren Tod finden (wie bei Belghouls Georgette! ) oder als „leeres Zentrum“ 1184 eines unüberschaubaren intertextuellen Verweisungssystems zurückbleiben (wie bei Smaïls Sid Ali). Hier scheint sich das Subjekt in den Textstrukturen aufzulösen. Andererseits betonen die Romane aber auch den lebensweltlichen Bezug: Sie verfolgen also einen „retour au récit“, 1185 indem sie Welten im Schreiben erfinden, die zwar das Schreiben und die Schrift betonen können, aber in keinem Fall zu einer Ablösung von literarischen Subjekten in ihren Welten führen. 1186 Dies ist m.E. der transkulturellen und postkolonialen Spezifik dieser Literatur geschuldet. Referenzialität meint in diesen Romanen nicht die naive Bezugnahme auf ein vorgängiges Subjekt oder eine prädiskursive Welt und verschreibt sich folglich nicht einem Repräsentationsmodell, das von bloßer Spiegelung außerliterarischer Sachverhalte ausgeht und damit einem platonischen Mimesis-Begriff sowie einem prästrukturalistischen Sprachbegriff anhängt. 1187 Vielmehr muss von einem konstruktivistischen Verständnis der Referenzialität her gedacht werden, das in allen literarischen Texten eine Berücksichtigung oder Betonung des postkolonialen Kontextes begründet. Referenzialität erscheint in dieser Perspektive nicht als Re-Präsentationsverfahren, sondern als ein produktives Verweisungsverfahren, das sich weniger auf eine diskursiv formatierte Welt bezieht, als vielmehr auf die Bedingungen, die diese Formationen des Wissens konstituieren. Diese Bedingungen sind besonders in der (post-)kolonialen Situation durch Gewaltakte und Traumata gekennzeichnet; sie produzieren Brüche und Risse in der Geschichte und biegen gewaltsam den Raum. Die postkoloniale Situation führt 1184 Vgl. Ruhe 2004, S. 40. 1185 Vgl. dazu exemplarisch die Ausführungen von Wolfgang Asholt, der die Rückwendung von einem „Aventure d’ une écriture“ zu einer „Écriture d’une aventure“ und damit ein „retour au récit“ beschreibt. Vgl. Asholt 1994, bes. S. 7f. Diese Rückwendung zum Erzählen von Welten gilt dabei tendenziell für die gesamte französische Gegenwartsliteratur seit den 1980er Jahren. Die lebensweltliche Bindung der écriture beur ist folglich auch vor diesem Hintergrund zu verstehen, darüber hinaus aber in der Spezifik als transkulturelle Beur-Literatur begründet. 1186 Mit Ette könnte man hier im Sinne einer Formulierung von „Überlebenswissen“ argumentieren. Vgl. Ette 2004 sowie die Konzeption des Graduiertenkollegs „Lebensformen und Lebenswissen“ in Potsdam/ Frankfurt a.d. Oder. 1187 Für die Auswirkungen des „linguistic turn“ in den Geschichtswissenschaften fasst Hans-Jürgen Goertz zusammen, was auch für den theoretischen Zugang zu den hier analysierten literarischen Texten gilt. Dieser behauptet keinen Antirealismus, aber betont die sprachliche Vermitteltheit : „Ontologisch wird durchaus eine Realität vorausgesetzt, erkenntnistheoretisch erscheint sie in sprachlicher Gestalt.“ Goertz 2001, S. 17. <?page no="310"?> Écriture transculturelle beur 308 damit stets - denn eine Negierung scheint unmöglich - den politischen und historischen Kontext als „Narben in der Erzählung“ 1188 wieder ein, die massiven Machtmechanismen und Gewaltpotenziale, und damit den prekären transkulturellen Hintergrund der französischen Gegenwartsgesellschaft. Das Resultat sind Formen einer écriture transculturelle, die ohne ein Verhalten zu einem ‚Engagement’ nicht denkbar sind. Das politische Engagement hat allerdings eine Art ‚Phasenverschiebung’ erfahren, die die literarischen und essayistischen Texte der postkolonialen Autoren der ‚ersten Stunde’ - wie die Autoren der Négritude, aber auch Autoren und Autorinnen wie Tahar Ben Jelloun, Amin Maalouf oder Assia Djebar - von den Romanen issus de l’immigration maghrébine deutlich unterscheidet. Wie in der diachronen Zusammenschau der Beur-Romane deutlich wurde, hat sich der politische oder ethische Impetus, der die Texte als ‚Stimme des Fremden’ verstanden wissen will, verändert zugunsten einer Betonung der Situation in Frankreich (wenn also „Ränder Mitte werden“ 1189 ) und dem Schreiben innerhalb der französischen Gesellschaft/ Kultur/ Literatur und einer bewussten Markierung der Literarizität des Schreibens. 1190 Die Literatur ist dabei nicht mehr in einem bloßen Sinne des writing back angelegt, sondern reflektiert aus dem Zentrum heraus über das Schreiben selbst. Die Funktionen des Schreibens in den Beur-Romanen sind divers: als Schutzraum („Seule l’écriture protégera du monde“ 1191 ), als möglicher (utopischer) Zufluchtsort („[...] le livre est le mieux en mesure de porter secours à l'homme.“ 1192 ) ,als Kampfarena, 1193 als Montage der Selbstentwürfe, als „Selbstverhandlung“ und Vergangenheitsbewältigung 1194 sowie als Versuch der Ordnung. 1195 Damit treten Text und Selbstentwurf selbst als konstruierbar und darüber hinaus noch als Sphäre der Täuschung hervor. Analog zu der Verunsicherung über den eigenen Status und zu dem spielerischen - mehr oder weniger lust- oder leidvollen - Umgang mit dem diskursiv verhandelbaren Selbstbild werden auch die Erinnerung und die Eindrücke der Umwelt in Zweifel gezogen. Verbunden mit einer exzessiven Medienrezep- 1188 Vgl. Bröck 1995, S. 127. 1189 Adobati et al. 2001. 1190 Vgl. dazu die Ausführungen von Albert 2005, bes. S. 10ff, die den Unterschied zwischen jenen Autoren der ersten Generation postkolonialer Literatur und jenen, die aus einem Immigrationskontext heraus schreiben, im Moment des Exils ausmacht. 1191 Bouraoui 2000, 20. 1192 Mounsi 1995, S. 61. 1193 „Écrire est le seul acte de résistance capable d'affirmer mon identité: celle d'un enfant du ‘Maghreb périphérique’.“ Mounsi 1995, S. 42. 1194 In einem Interview beschreibt Bouraoui die innere Aufspaltung und Selbstverhandlung: „Je suis double. Par ma nationalité, mon métier, ma personnalité. […] Je rattrape ma vie par l’écriture... […] L’écriture, c’est une négociation avec soi-même.“ Bouraoui nach Simonnet 2004. 1195 „Écrire, c'est juste tenter de déposer un moment son désordre sur cette page afin de voir si cela a un sens quelconque.“ Mounsi 1995, S. 13. <?page no="311"?> Écriture transculturelle beur 309 tion (wie bei Guène oder Y.B., deren Protagonisten sich ja vornehmlich in Medienformaten erfinden können) oder einer Medienkritik (wie bei Sid Ali, der die Bilder der Medien für die Realität erklärt und damit ihren fingierenden Mechanismus bloßstellt („C’est le réel puisque vous l’avez vu à la télé. L’écran fait écran à la réalité, à la vie vécue.“ 1196 ), werden Medienbilder in ihrer Diskursivität ebenso als ‚Simulakren’ entlarvt, wie die Potenziale der Schrift als Simulakrum entdeckt werden. Im Schreiben können die Protagonisten sich nicht nur erfinden, sondern auch ihren unsicheren Status revidieren („gommer“ bei Smaïl), neu montieren (wie bei Guène oder Y.B.) oder als problematisches Konstrukt stehen lassen (die kippende Schrift bei Mounsi). Mounsis Erzähler Tarik beschreibt die fingierende Funktion der Medien, indem sie aus den Menschen Krimihelden machen: „Ils firent de nos vies un roman noir jeté à la foule qui veut des monstres, des héros et des victimes.“ 1197 Mit Jean Baudrillard gesprochen führt Sid Ali hier vor, dass die Medien ein wirklicheres Bild erzeugen, als es die Realität zu zeigen vermag - in den Romanen finden sich, wie gezeigt werden konnte, viele (von Baudrillard ebenfalls genannte) Spiegelungen und Abbilder, deren Wahrheitsgehalt und deren Aussagekraft von den Erzählern und Erzählerinnen ja auch explizit angezweifelt wird. 1198 Schon zu Beginn von Smaïls Ali le magnifique wird ein Verwirrspiel mit Realität und Fiktion angedeutet, wenn Sid Ali auf die berühmte Genette’sche Formulierung des „C’est moi et ce n’est pas moi“ 1199 anspielt: „ Et mon portrait présumé [...] Ce n’était pas moi. C’était mais ce n’était pas moi. D’ailleurs, cela n’a jamais été vraiment moi dans la réalité. 1200 Und Charles Bonn weist, dies schließt an meine Ausführungen zur Problematik des autobiographischen Schreibens an, auf die fingierten Identitäten von Autoren hin, die ebenfalls das Spiel mit dem Simulakrum der Literatur bzw. des Schreibens unterstreichen: Dans ce contexte nouveau l'identité faussée d'un Paul Smaïl ou d'un Chimo n'estelle pas aussi une manière de désigner la littérarité par le simulacre, la liberté du 1196 Smaïl 2003, S. 609. 1197 Mounsi 2003, S. 109. 1198 „Aujourd’hui, l’abstraction n’est plus celle de la carte, du double, du miroir ou du concept. La simulation n’est plus celle d’un territoire, d’un être référentiel, d’une substance. Elle est la génération par les modèles d’un réel sans origine ni réalité : hyperréel. […] Il s’agit d’une substitution du réel par des signes du réel“. Baudrillard 1981, S. 10f. 1199 Vgl. Genette 1991, S. 87. 1200 Smaïl 2001, S. 15f. Er selbst bietet als Erklärung für die Medienbilder die Theorie Guy Debords an: „C’est le délire de la fiction, c’est la folie du Spectacle qui, un temps, m’ont sauvé, fou que j’étais, dans la réalité. On ne me voyait pas tel que je suis mais, comme la pub l’indique sur les paquets de lessive qui vont vous changer la vie, ou les paquets de purée en flocons magiques, ou les paquets de couches qui absorbent mieux l’urine bleue du bébé, […] C’est le réel puisque vous l’avez vu à la télé. L’écran fait écran à la réalité, à la vie vécue. « Dans le monde réellement renversé, le vrai est un moment du faux. » Guy Debord, La Société du Spectacle […].“ Ebd., S. 609 (Hervorhebung im Original). <?page no="312"?> Écriture transculturelle beur 310 jeu duquel elle a toujours tiré sa fascination, à l'encontre des discours idéologiques d'exclusion et de leur lourdeur? 1201 Des Weiteren deuten die vielfachen Verortungen in den Beur-Romanen in eigenen Räumen auf eine Bewegung hin, die analog zu der Ablösung der Wurzelmetaphorik durch die des Rhizoms (im Anschluss an Deleuze/ Guattari und Glissant) zu lesen ist. Hier passt sich auch die Argumentation von Stuart Hall ein, der in den urbanen Zentren Verbindungen zu geschichtlichen Wurzeln und Wegen sieht: „a connection with earlier historical ‚routes’ and ‚roots’“. 1202 Diese Verflechtungen sind in der écriture selbst zu finden, wie Habiba Sebkhi ausführt: L’écriture issue de l’immigration ne fixe pas les origines, ne reproduit pas un modèle mais dessine une carte dont elle arpente les territoires, les crée, les déplace et leur permet de se recontrer dans l’imaginaire […]. 1203 Ferner ist das rhizomatische Schreiben, bedingt durch die rhizomatischen Selbstbilder, in den Texten auch durch die diversen transtextuellen Bezüge gestaltet. Dabei ist dieser Textraum zunehmend grenzüberschreitend: In den Beur-Romanen werden die Referenzen auf Texte französischer und maghrebinischer Provenienz durch transtextuelle Verweise auf Literaturen Europas und US-Amerikas erweitert. Allerdings zielen die Verweise auf andere Texte oder Medien nur auf den ersten Blick auf die Negierung oder die Dekonstruktion von Nationalliteraturen. 1204 Ruhe führt im Rahmen ihrer Analysen zu Smaïls Ali le magnifique bspw. aus, dass der Autor das Projekt verfolge, sich durch die dichte intertextuelle Verweisungsstruktur in eine Weltliteratur einzuschreiben. Meines Erachtens sind die Hybridisierungen in Form von Transtextualität und Intermedialität nicht nur diesem Ziel geschuldet. Vielmehr führt der Text eine transkulturelle écriture vor Augen, die die Prozesse der Dynamiken und Resistenzen transkultureller Identitätsfiktionen formuliert. Dabei ist die Betonung des „Passagen Schreibens“ mehr als nur ein writing back oder die Teilhabe an einer Weltliteratur oder das Spiel mit territorial-gebundener National-Literatur. 1205 Wir haben in diesem Zusammenhang an anderer Stelle den Begriff der écritures transculturelles für den frankophonen Gegenwartsroman vorgeschlagen sowie die Begriffsmetapher der „querenden Literaturen“, die Transgressionen und Passagen 1201 Bonn 2004, S. 11. 1202 Vgl. Hall 2003, S. 191 1203 Sebkhi 2006, S. 143. 1204 Ette weist auf diesen Umstand hin, wenn er schreibt: „Derartige Prozesse [Übersetzungs- und Übertragungsphänomene, K.S.] ausschließlich als Zeichen kultureller Homogenisierung oder Hybridisierung zu werten, zeugt eher von begrifflicher Verarmung. Es sollte zu einer wichtigen Aufgabe aktueller Philologien werden, die Dynamiken, Spielräume und Bewegungsfiguren zwischen beiden Polen genauer zu erfassen und auszuloten.“ Ette 2005, S. 41. 1205 Vgl. dazu Bhabhas Kanonkritik sowie seine Kritik an der Konstruktion von Nation durch Narration in seinem Aufsatz „Introduction: Narrating the nation“ 1990. <?page no="313"?> Écriture transculturelle beur 311 thematisieren und gleichzeitig die Grenzen zwischen Nationalliteraturen, aber auch zu einer Weltliteratur zu überschreiten vermögen: Die Metapher der ‚querenden Literaturen’ oder der ‚littératures transversales’ vermag diese Aspekte zu akzentuieren: Es geht um Literaturen, die sich nicht mehr in Nationalliteraturen einordnen lassen, genauso wenig aber im traditionellen Modell der klassischen Weltliteratur aufgehen, die also quer zum literarischen Kanon stehen. Es sind zudem Literaturen, die oft selbst über Grenzen hinweg wirken und rezipiert werden und gleichzeitig Bewegungen, also Überquerungen und Übersetzungen zum Thema haben. Nicht selten wirken sie als etwas Widerständiges: Sie verweigern sich einer Kategorisierung, sie verstören, befragen vermeintlich homogene Kulturen, Nationalsprachen, Kanonbildungen und schlichte Weltanschauungen und sind insofern oftmals ‚unbequem’. In der deutschen Lesart mag auch die Assoziation zu ‚queer’, also das Moment der Geschlechterkonstruktion, hinzugedacht werden [...]. 1206 Das Schreiben funktioniert demnach als eine Art Seismograph, als Laboratorium des Transkulturellen - eine Funktion, die die Möglichkeiten des Schreibens betont und gleichzeitig postkoloniale Kritik an machtbesetzten Marginalisierungen und historischem Erbe zu fassen vermag. Damit bleibt die Beur-Literatur, ohne dass sie als schlicht testimoniale ‚Betroffenheitsliteratur’ gelesen würde, eine „luttérature“ (Djaïdani 1207 ). In den Romanen ist immer wieder deutlich geworden, dass das Schreiben wie ein Experimentierfeld und Versuchsraum der Identifikationen in der transkulturellen Situation der Beurs genutzt wird. „La littérature est depuis toujours“, schreiben Fridrun Rinner et al. „le lieu où s’expriment la dynamique et les tensions issues de la relation complexe entre le Moi et l’Autre.“ 1208 Hier werden bewusste wie unbewusste Identifikationsfiguren ausprobiert, verworfen und dynamisch gestaltet. Machtverhältnisse in Form von rassistischen Diskriminierungen und Marginalisierungen werden in Frage gestellt und angeprangert, die Hybridisierungen auf der Ebene des literarischen Subjekts und auf der Ebene der Bezugnahme auf unterschiedliche Diskurse in einem weiten Spektrum entworfen. Der Begriff des Laboratoriums bedarf dabei weiterer Erläuterungen, denn er ruft im postkolonialen Diskurs erstens das Laboratorium des karibischen Raums als zu homogenisierendes koloniales Territorium und zweitens die Entwürfe einer idealen métissage auf, die in Konzepten einer raza cósmica oder in der éloge de la créolité Ausdruck finden. 1209 Der hier angelegte Begriff 1206 Febel/ Struve/ Ueckmann 2007, S. 26f. 1207 „À mon stylo/ qui sur le ring de mon cahier aura luttératuré/ jusqu’au round de la page finale“. Djaïdani 2004, o. S. (Motto). 1208 Rinner/ Geiser/ Giesener et al. 2006, S. 5. 1209 Vgl. zur Metaphorik des Laboratoriums bspw. Ette 2001, bes. S. 461-465 sowie Lüsebrink 1995. Außerdem möchte ich mich bei den Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Romanistischen Kolloquium Literaturwissenschaft. Forum für neue Forschungen unter der Leitung von Ottmar Ette bedanken, die mit mir engagiert meinen theoretischen Ansatz und den Begriff des Laboratoriums im Juni 2007 diskutiert haben. <?page no="314"?> Écriture transculturelle beur 312 des Laboratoriums ist jedoch nicht in dieser Tradition zu lesen, sondern vielmehr im Sinne eines Experimentierraums gemeint, der - ähnlich einer alchimistischen Versuchsanordnung - zu unabsehbaren, unkontrollierbaren 1210 Ergebnissen führt. Im Sinne Glissants wird in dieser Literatur keine vorhersehbare métissage erzielt, die repräsentierbar und damit fixierbar wäre, sondern es werden andere Imaginarien 1211 im Textexperiment erst hergestellt, was - um in der Metaphorik des Laboratoriums zu bleiben - höchst explosive Mischungen oder sich schnell verflüchtigende Substanzen zur Folge haben kann. So sieht auch der franko-kanadische Autor italienischer Abstammung Antonio d’Alfonso das Potenzial der Literatur in ihrer Funktion als Laboratorium: „The literary space is a laboratory where we study the fragments of our past and where a future built to our scale shall be designed.” 1212 Das Verständnis von Literatur als Laboratorium transkultureller Identitätsfiktionen ermöglicht auch vielfältige Anschlussmöglichkeiten an Analysen anderer Literaturen, die aus Zusammenhängen anderer Immigrationshintergründe in Frankreich entstanden sind, wie etwa die Literatur der zweiten Generation der Immigration aus den ehemaligen, subsaharischen Kolonien, wie sie in der Identitätsfigur der Black-Blanc-Beur ja schon angedeutet wurden. Die Romane der „enfants de la postcolonie“, wie Abdourahman A. Waberi jene zweite und dritte Generation nennt, 1213 wären ebenso zu untersuchen, wie in einem weiteren Sinne die Vielfalt der frankophonen Gegenwartsromane. 1214 1210 Mit dem Bild des Unkontrollierbaren arbeitet auch Jospeh Paré, der für seine Analysen des frankophonen Romans das Konzept der „démaîtrise“ entwickelt, das Albert im Sinne einer „écriture de la démaîtrise“ für die frankophone (afrikanische und maghrebinische) Literatur fruchtbar macht. Vgl. Albert 2005, bes. S. 133-147. 1211 „Or, c’est une fonction de la poésie et de la littérature que de changer cet imaginaire des humanités […].“ Glissant 1999, S. 52. 1212 D’Alfonso 1996, S. 31f. Gronemann und Gehrmann betonen im Zusammenhang mit der postkolonialen Autobiographie ebenfalls dieses Potenzial literarischer Texte. Die Literatur bringt demnach kulturelle Hybridität erst hervor und wird zum paradigmatischen Experimentierfeld: „Dans cette pensée, le réel se constitue à partir de la langue et le texte devient le lieu par excellence de l’expérimentation de l’hybridité culturelle. À partir de ces réflexions, les concepts du postcolonial et de l’hybride permettent justement de repenser les conditions socio-historiques et culturelles de l’écriture autobiographique.“ Gronemann/ Gehrmann 2006, S. 13. 1213 Waberi 1998. 1214 Vgl. die Analysen unterschiedlicher Écritures transculturelles mit besonderem Augenmerk auf die Verflechtungen von kultureller Differenz und Geschlechterdifferenz Febel/ Struve/ Ueckmann 2007, zum aktuellen Roman ‚afrikanischer’ Autoren Chevrier 2004 sowie die Arbeit von Christiane Albert 2005, die Literaturen der Immigration in maghrebinischer, ‚afrikanischer’, franko-kanadischer Literatur und schließlich auch im Sinne einer World Fiction des Commonwealth (bes. S. 166ff.) untersucht. <?page no="315"?> Écriture transculturelle beur 313 Wenn auch, um das Argument des Moments der Transgression von National- und Weltliteratur wieder aufzunehmen, die Beur-Literatur nicht nur als eine Kritik an Nationalliteraturen zu lesen ist und sich nicht ausschließlich in einer Weltliteratur, wie Ruhe sie versteht, subsumieren lässt, so ließe sich die hier vorgeschlagene écriture transculturelle im Rahmen jener Weltliteratur denken, die jüngst als littérature-monde en français von vielen namhaften ‚frankophonen’ Autoren und Autorinnen vorgeschlagen wurde. Ausgehend von einer generellen Kritik am Begriff der Frankophonie, wie sie in den letzten Jahren laut geworden ist und wie sie bspw. Amin Maalouf 2006 in seinem Artikel „Contre „la littérature francophone“ formuliert, 1215 haben sich ein Jahr später eine Reihe französischsprachiger Autoren und Autorinnen in einer Art Programmschrift dem neuen Konzept einer littérature-monde en français gewidmet. In dem der Publikation vorausgegangenen ‚Manifest’ „Pour une littérature-monde“ betonen die Verfasser und Verfasserinnen emphatisch den Machtverlust des französischen Zentrums im französischsprachigen Literaturbetrieb, nachdem die wichtigen Literaturpreise in jenem Jahr an frankophone Autoren und Autorinnen außerhalb des Hexagons gegangen waren: Le centre, ce point depuis lequel était supposé rayonner une littérature francofrançaise, n’est plus le centre. [...] le centre […] est désormais partout, aux quatre coins du monde. Et naissance d’une littérature-monde français. 1216 In ihrem Sammelband zu diesem Konzept nun finden die Autoren und Autorinnen unterschiedliche Antworten auf die Frage nach dem Umgang mit der littérature-monde. Gemeinsam ist ihnen, dass sie einerseits den Begriff der Frankophonie in seiner unablösbaren kolonialen Tradition ablehnen. Andererseits betonen sie durch den Welt-Begriff nicht nur die Neustrukturierung des (Machtgefälles des) Zentrums und der Peripherie, sondern zielen bewusst auf die Erzählung von Welten. Sie lehnen rein formalistische Literatur ab und fordern einen „retour au récit“. Das Erzählen von Welten ist zentrales Merkmal jener Literaturen, in denen (transkulturelle) Identifikationen eine Rolle spielen und die - wie bereits im Sinne der in der vorliegenden Arbeit angelegten, poststrukturalistisch inspirierten, aber postkolonial historisierenden écritures transculturelles ausgeführt - auf extraliterarische Welten Bezug nehmen. Der haitianische Autor und Literaturprofessor Lyonel Trouillot stellt in dem Band sein Konzept einer écriture-monde vor, das mit den Formen einer écriture transculturelle durchaus kompatibel ist. Er unterscheidet das Konzept der Literatur von dem der écriture, indem er dies an der Relevanz für das Individuum und am Gebrauch der Sprache festmacht: Peut-être faut-il tenter d’établir la différence entre l’écriture et la littérature. L’écriture relève de l'humain, comme un mal de l’espèce. La littérature 1215 Maalouf 2006, S. 2. 1216 „Pour une littérature-monde“2007. <?page no="316"?> Écriture transculturelle beur 314 n’appartient qu’aux sociétés, n'étant jamais demain ce qu’elle était hier, n’ayant pas été hier ce qu’elle sera demain. [...] L’écriture n'a pas de langue fétiche. Les littératures en ont. 1217 Trouillot betont somit die Erzählung des Menschen bzw. des Menschlichen und gleichzeitig die formale Seite der literarischen Texte. Zudem spielt er in der Betonung einer der Literatur angebundenen „langue fétiche“ auf das Konzept der Nationalliteratur in der dazugehörigen Nationalsprache an, das er entschieden ablehnt. Die formale Seite führt er noch weiter aus, wenn er von der Evozierung unterschiedlicher Welten und Realitäten in der écrituremonde en français spricht, die ihre Historizität nicht verleugnet und gleichzeitig gegen Geschichtsschreibung anschreibt und die wiederum als Laboratorium unterschiedlicher Träume und Imaginationen fungieren kann: L’idée d’une écriture-monde en français ne peut tenir sa subversion que du principe de la transcription et de l’interpellation des multiples réalités, des multiples rêves des humains tels que façonnés par l’histoire, tels qu’en révolte contre l’histoire. Et de la pluralité des genres et des formes. 1218 Pluralitäten von Identitätskonstruktionen und unterschiedliche literarische Formen sind die neuen Felder, die in den Beur-Romanen bearbeitet werden. Sie sind die Räume für den von Laronde anvisierten „Étranger moderne“. „Élevé dans un monde bigarré, tissé d’influences kabyles et impregné de culture française, je revendique aujourd'hui une conscience cosmopolite, celles des immigrés du monde“, schreibt Mounsi in seinem Essai und fordert damit eine kosmopolitische, migrantische Ethik im Umgang miteinander ein. 1219 Er weist damit auf einen Umstand hin, den auch Amartya Sen jüngst in den Blick nimmt, wenn er von der Illusion der Singularität spricht: Woran hapert es nun bei der Erklärung des aktuellen Weltgeschehens durch die Berufung auf unterschiedliche Kulturen? Ihre größte Schwäche besteht wohl [...] darin, daß sie von der Illusion der Singularität in einer besonders ambitionierten Version Gebrauch macht. Hinzu kommt ein weiteres Problem: die Schlichtheit, mit der die Weltkulturen beschrieben werden; sie erscheinen weit homogener und geschlossener, als sich aus empirischen Untersuchungen der Vergangenheit und Gegenwart ergibt. Die Illusion der Singularität stützt sich auf die Annahme, ein Mensch sei nicht als Individuum mit vielen Zugehörigkeiten oder als Mitglied vieler verschiedener 1217 Trouillot 2007, S. 197. 1218 Ebd., S. 202 (Hervorhebungen im Original). Es ist auffällig, dass zwar viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen frankophoner Provenienz in dem Sammelband vertreten sind, darunter auch Abdourahman A. Waberi, der den Begriff der „enfants de la postcolonie“ prägte und damit für die nachfolgenden Generationen der Immigranten in Frankreich steht, aber kein Autor und keine Autorin aus der Generation der Kinder der maghrebinischen Immigration. Gründe für die Abwesenheit dieser Schriftsteller und Schriftstellerinnen könnten vermutlich darin liegen, dass sich die Schreibenden nicht mehr als Gruppe oder gar Generation begreifen und - als Autoren und Autorinnen wie auch in den Romanwelten - Individualisierung und den Verlust der Bezüge auf Kollektive zum Thema haben. 1219 Mounsi 1995, S. 39. <?page no="317"?> Écriture transculturelle beur 315 Gruppen zu betrachten, sondern ausschließlich als Mitglied eines einzigen Kollektivs, das ihm eine Identität von überragender Bedeutung verleiht. 1220 Mounsi und Sen betonen, dass Identitäten in ihrer Pluralität zu denken sind. Sie gehen nicht in einer einfachen Zugehörigkeit zu einem als homogen imaginierten Kollektiv auf, zeichnen sich aber auch nicht durch eine harmonische und unkomplizierte Mehrfachzugehörigkeit aus. Vielmehr liegt das Potenzial einer Ethik des Kulturkontakts in der Betonung der Bezugnahme, der relationalen historischen Verankerungen, der Prozessualität von Selbstentwürfen und kann so durch die Bewegung, die Migration und das Nomadisieren einen gemeinsamen Raum eröffnen, der sich durch den momenthaften Kontakt auszeichnet. Dass die Literatur den Raum für den Austausch mit dem anderen bieten kann, zeigen die Formen der écriture transculturelle beur auf vielfältige und faszinierende Weise. 1220 Sen 2007, S. 58. <?page no="318"?> Danksagung Diese Dissertationsschrift wäre ohne die Unterstützung unterschiedlicher Menschen in so vielerlei Hinsicht nicht denkbar gewesen. Während der Promotionszeit haben mich viele Freunde und Freundinnen, Kollegen und Kolleginnen unterstützt - ihnen allen gilt mein aufrichtiger Dank. Ich möchte mich herzlich bei Prof. Dr. Gisela Febel bedanken, die mit ermutigendem Fördern und umsichtigem Fordern meine Arbeit, mein Denken und Schreiben geduldig und inspirierend begleitet hat und mir Betreuerin, Mentorin und stete Gesprächspartnerin bei zahllosen Kaffeestunden war. Mein Dank gilt ebenfalls meiner Zweitgutachterin, Prof. Dr. Sabine Bröck, die meinem Projekt mit großer Offenheit und begeisternder Neugier begegnet ist. Ich danke der Zentralen Forschungsförderung der Universität Bremen für die Gewährung eines Promotionsstipendiums im Rahmen des interdisziplinären Doktorandenkollegs Prozessualität in transkulturellen Kontexten: Dynamik und Resistenz. Die intensiven und konstruktiven Diskussionen mit Professoren und Professorinnen sowie den Kollegiaten und Kollegiatinnen unterschiedlicher Disziplinen haben meine Arbeit entscheidend geprägt. Besonders den kritischen und freundlichen Gesprächen mit Jochen Bonz, Andrea Lilge und Katrin Molnár sowie den Revisionen von Kapitelentwürfen und Vortragstexten in der Schreibwerkstatt des Doktorandenkollegs habe ich viel zu verdanken. Und ohne das ‚Schreibexil’ bei Marcus Meyer und Nadine Beaumart und am Elbdeich bei Uwe Weseloh wären viele Gedanken sicher ungedacht geblieben. Meinen Korrekturleserinnen Christiane Solte-Gresser, Elke Richter, Katrin Molnár und Christine Schanze bin ich für ihre kordialen, kritischen und klugen Anmerkungen, die ‚Energie’, das Füllhorn an der Wand und die nächtlichen Telefonate sehr dankbar - ebenso wie Stephan Jürgens, der das Titelbild der Überlagerungen und Spiegelungen entworfen hat. Ich bedanke mich bei der VG Wort für den großzügig gewährten Druckkostenzuschuss sowie bei Herrn Freudl vom Narr Verlag für die unkomplizierte und produktive Zusammenarbeit. Ohne den Rückhalt meiner Familie hätte ich diese Arbeit nicht schreiben können. Daher bedanke ich mich bei Christian, Rosi, Axel und Jan Struve, die in den letzten Jahren mit freundlichem Kopfschütteln und unerschütterlichem Vertrauen in mich an meiner Seite waren. Meinen Eltern, die der schweren Krankheit meiner Mutter mit bewundernswertem Lebensmut begegnen, ist diese Arbeit gewidmet. Mein besonderer Dank aber gilt Uwe Weseloh, der in allen Passagen bei mir ist. <?page no="319"?> Literaturverzeichnis Primärtexte B., Y.: Allah superstar. Grasset et Fasquelle 2003 Begag, Azouz: Le gone du Chaâba. Seuil 1986 Belghoul, Farida: Georgette! Barrault 1986 Bena ssa, A cha/ Ponchelet, Sophie: Née en France. Histoire d’une jeune Beur. Payot 1990 Boukhedenna, Sakinna: Journal: „Nationalité immigré(e)“. L’Harmattan 1987 Boulouque, Clémence: Sujets libres. Gallimard 2004 Bouraoui, Nina: Garçon manqué. Stock 2000 Charef, Mehdi: Le thé au harem d’Archi Ahmed. Mercure de France 1983 Djaïdani, Rachid: Mon nerf . Seuil 2004 Djura: Le Voile du silence. 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