eBooks

1968/2008

Revision einer kulturellen Formation

1210
2008
978-3-8233-7463-3
978-3-8233-6463-4
Gunter Narr Verlag 
Isabella von Treskow
Christian von Tschilschke

Eine allgemeingültige Wahrnehmung der Ereignisse von "68" gibt es nicht. Folgerichtig ist 2008 das Jahr des Rückblicks nicht nur auf politische und kulturelle Geschehnisse, sondern vor allem auf Etappen der Geschichtsbildung und Prozesse der Mythisierung. Die in dem Band versammelten Aufsätze liefern zum ersten Mal eine umfassende Einschätzung der Begebenheiten aus romanistischer Perspektive und stellen zugleich deren Vermittlung in ein neues kritisches Licht. Das thematische Spektrum reicht von der Darstellung des "Mai 68" in Literatur und Film über seine gesellschaftlichen und theoriegeschichtlichen Auswirkungen bis hin zu aktuellen erinnerungspolitischen Fragen. Auch Zeitzeugen kommen zu Wort.

<?page no="0"?> edition lendemains 11 Gunter Narr Verlag Tübingen 1968 / 2008 Revision einer kulturellen Formation herausgegeben von Isabella von Treskow und Christian von Tschilschke <?page no="1"?> 1968 / 2008 <?page no="2"?> edition lendemains 11 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück) und Hans Manfred Bock (Kassel) <?page no="3"?> Isabella von Treskow und Christian von Tschilschke (Hrsg.) 1968 / 2008 Revision einer kulturellen Formation Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Titelbild: Events of May 1968. Demonstrations. Paris, place de la République, on May 13, 1968. © ullstein bild - Roger-Viollet Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Frankoromanistenverbandes e.V. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6463-4 <?page no="5"?> Inhalt Isabella von Treskow/ Christian von Tschilschke Einleitung .............................................................................................................. VII Silja Behre Une ‚bataille de la mémoire’? - Zur Genese der Erinnerung an 68 in Deutschland und Frankreich ................................................................................. 1 Joseph Jurt Mai 68 in Frankreich: die Infragestellung der symbolischen Ordnung. Deutungen damals, Einschätzung heute ........................................................... 15 Gabriele Blaikner-Hohenwart Ein doppelter Blick auf Mai 1968: die sechzehnjährige Zeitzeugin und eine späte Bilanz ........................................................................................... 31 Sybille Große Sarkozy et l’héritage de 1968 - Mythisierung oder Entmythisierung? .......... 43 Esther Suzanne Pabst « L’antichambre de mon aventure essentielle ». Mai 68 im weiblichen Blick ............................................................................................. 61 Albrecht Buschmann 1968 autofiktional: der Pariser Mai als narratives Konstrukt in Wort und Bild ................................................................................................... 85 Vincent Kaufmann La théorie littéraire au service de la révolution .............................................. 105 Kai Nonnenmacher Totalitäre Sprachen 1968: Jean Pierre Faye zwischen Stéphane Mallarmé und Carl Schmitt ................................................................................................. 115 Konstanze Baron Die Revolutionen der Psyche und die Aktualität von 68: Julia Kristevas Theorie der Revolte ............................................................................................ 129 Marie-Laure Basuyaux « Nous étions sur la touche ». Jean Cayrol et Mai 1968 ................................. 147 <?page no="6"?> Timo Obergöker Une journée à Nanterre. Le 22 mars dans Derrière la vitre de Robert Merle .............................................................. 159 Beatrice Schuchardt Reisen auf dem Hippie-Trail: Luc Vidals La route - mon journal de hippy .... 173 Klaus-Dieter Ertler Axiologische Vektoren der 68er-Generation im frankokanadischen Erzählsystem. Zur Globalisierung eines Diskursdesigns .............................. 197 Jan Henschen Die Frage der Gewalt steht im Raum. Über 68, Gewalt und Filme von Jean-Luc Godard, Bernardo Bertolucci und Margarethe von Trotta ........... 219 Jan-Henrik Witthaus Stammheim und die Affäre Croissant. Wegmarken des Intellektuellen in Frankreich ....................................................................................................... 231 Silke Segler-Meßner Obsessionen des Erotischen - Inszenierung von Sexualität in der littérature scandale (Michel Houellebecq, Christine Angot) ........................... 249 Zu den Autorinnen und Autoren ..................................................................... 265 <?page no="7"?> Isabella von Treskow/ Christian von Tschilschke Einleitung „lâchez les tigres affamés de la révolution heureuse“ Daniel Biga, Kilroy was here! , 1972 „On était des tigres en papier, nous aussi.“ Olivier Rolin, Tigre en papier, 2002 1. 1968/ 2008 1968 ist eine Ordnungszahl unseres historischen Gedächtnisses. 1968 gilt als Kulminationspunkt auf der Bahn der Ereignisse zwischen Zweitem Weltkrieg und Fall des Eisernen Vorhangs, Hiroshima und Ende des Kalten Kriegs. 1968 hat damit geradezu peripetale Qualität, nicht nur seiner symmetrischen Position zwischen 1945 und 1989 wegen, sondern auch, weil damit der offene Ausbruch zuvor schwelender Konflikte verbunden wird, die nach Lösung riefen, ein Ausbruch, der schließlich den nachhaltigen Wandel von Denken und Verhalten, Sozialpraktiken und politischen Ordnungsmustern, die Politisierung der Zivilbürger und moralische Liberalisierung, Demokratisierungsschübe und Emanzipationsbewegungen, neue ,populäre’ Kunstformen und künstlerische Grenzüberschreitungen in Gang gesetzt haben soll. Dass 1968, vor allem in Deutschland, als Vorbote neuer Zivilbürgerlichkeit und allgemein als wichtiger Motor zur Entkrustung gesellschaftlicher Strukturen und damit als Fundierungsfaktor moderner westlicher Demokratien begriffen wird, verschafft der Chiffre im Jahr 2008 besonders hohe Aufmerksamkeit. Das Interesse nach vierzig Jahren wäre allerdings weniger groß, wenn 68 sich nicht auch gut in den aktuellen Gedenk-Boom eingliedern ließe, sich nicht glänzend als willkommener Anlass eines Hypes eignete, von dem alle Medien ausgiebig profitieren - der vorliegende Band eingeschlossen. Dabei spielt der Umstand eine nicht unerhebliche Rolle, dass die Beteiligten sich vielfach in einem Alter befinden, in dem sie sowohl die Ereignisse und deren Folgen für ihre eigene Biographie Revue passieren lassen als auch ein starkes Bedürfnis nach Verbreitung ihrer Einschätzungen empfinden. Unter den Diskutanden sind etliche, deren Sozialisation und Selbstbild eng mit jener Zeit verbunden sind und die sich heute an einem Punkt befinden, an dem sie mit Abstand auf die Verflechtung von individuellen und soziologischen Faktoren im geschichtlichen Ablauf zurückblicken. Es ist aber auch die Heterogenität der Ereignisse und Strömungen, die immer wieder neue Anlässe zu Diskussionen bietet. Die aktuelle <?page no="8"?> Isabella von Treskow/ Christian von Tschilschke VIII europäische Erinnerungssehnsucht und ein virulentes Interesse an den Ereignissen und ihren Deutungen am Kreuzpunkt von individueller und nationaler ,Biographie’ schlagen sich gegenwärtig in einer unübersehbaren Zahl kultureller Formen der Aufarbeitung, Rückschau und Neupräsentation nieder. Doch geschieht all dies nicht zuletzt auch deswegen, weil der Gedenkrhythmus im Dezimalsystem pulsiert - und weil von Gewaltakten eine anhaltende, medial verstärkte Faszination ausgeht: 1968 wäre kein Fixpunkt unserer Erinnerung, hätte es nicht den Pariser Mai gegeben, die Nacht der Barrikaden, fliegende Steine, Tränengas, umgestürzte Autos. 2. Revision einer kulturellen Formation Kaum eine Jahreszahl wird zum Code, wenn damit nicht Gewalt verbunden ist, sei es, dass sie massiv ausgeübt wird, sei es, dass man ihr energisch Einhalt gebietet. Mit 1968 verhält es sich nicht anders, und doch auch um einiges komplizierter, denn die Chiffre umfasst letztlich keinen einzelnen historischen Moment, sondern steht zum einen für die Protestbewegungen der sechziger und beginnenden siebziger Jahre, für Widerstand, Revolte und Rebellion über einen längeren Zeitraum hinweg, für die nachdrückliche Durchsetzung der Rechte Diskriminierter, auch Frauen, und zum anderen für eine optimistische Aufbruchsstimmung, für Ideale oder Utopien des Friedens und der Gerechtigkeit, für das Postulat der Aufhebung jeglicher Repression. Die mit diesen Beispielen angedeuteten Umrisse einer „verwilderten Landschaft ,Achtundsechzig’“ (Negt 2008: 3) lassen die Schwierigkeiten erahnen, mit denen sich jede Deutung konfrontiert sieht. Die heutige Beurteilung ringt immer noch mit der Vielfalt der Ereignisse in Europa und Übersee, mit der Widersprüchlichkeit der Intentionen und den vielschichtigen Beziehungen zwischen Wort und Tat. Mit Daniel Lindenberg lässt sich daher festhalten: „La nature même de ce qui s’est passé en mai-juin 1968 continue, quarante ans après, à faire problème.“ (Lindenberg 2008: 9) Demgegenüber signalisiert die Rede von der „Revision einer kulturellen Formation“ eine entscheidende Verschiebung des Erkenntnisschwerpunkts: von der Ergründung der ,Natur’ der Ereignisse hin zur Erforschung der Bedingungen und der Geschichte ihrer Wahrnehmung und Deutung, von der Vergangenheit zu gegenwärtigen Bedürfnissen und Interessen, vom Horizont der Erfahrung zu dem des Gedächtnisses. Eine solche Betrachtungsweise setzt die Einsicht voraus, dass die Ereignisse des Jahres 1968 ihre politische Brisanz für die meisten eingebüßt haben und gerade dadurch für die Vielfalt der gegenwärtig zu beobachtenden Hinwendungsformen frei geworden sind. Vor diesem Hintergrund verfolgt der Band ein doppeltes Ziel: Mit gleichsam ‚archäologischem’ Interesse soll ein Blick auf die unterschiedlichen Manifestationen der ‚kulturellen Formation 68’ und ihre unmittelbare Vor- und Nachgeschichte geworfen werden, wobei der Schwerpunkt auf jenen Aspekten liegen soll, die vor allem aus der zeitlichen <?page no="9"?> Einleitung IX Distanz heraus und gegebenenfalls erst durch neuere theoretische und methodische Ansätze sichtbar werden. Daneben soll aber auch der wachsende zeitliche Abstand selbst Thema sein, und zwar insofern er Anlass zu der Frage gibt, welche unterschiedlichen medialen Darstellungen, Sichtweisen und Bewertungen der Mai 68 als historisches Ereignis, als „Mythos, Chiffre und Zäsur“ (Kraushaar 2000) bis heute erfahren hat und aktuell erfährt. 3. Vierzig Jahre Mai 68 Das vierzigjährige Jubiläum des Mai 68 ist aus verschiedenen Gründen ein besonderes Jubiläum. Allerdings zeichnete sich schon der dreißigste Jahrestag, zumindest in Deutschland, durch eine Besonderheit aus: die symbolische Koinzidenz der runden Jahreszahl mit dem rot-grünen Wahlsieg vom 27. September 1998. Mit der Ernennung des ehemaligen Juso- Vorsitzenden und bekennenden Marxisten Gerhard Schröder zum Bundeskanzler und des früheren Frankfurter Spontis Joschka Fischer zum Außenminister der Bundesrepublik Deutschland schien die 1967 von Rudi Dutschke ausgegebene Parole vom „Marsch durch die Institutionen“ in ungeahnter Weise Wirklichkeit geworden zu sein, auch wenn die neuen Amtsträger in Wort und Tat alles daran setzten, um diesen Eindruck nicht aufkommen zu lassen, und von echten Kontinuitätslinien zwischen 1968 und 1998, abgesehen von „einzelnen Personen, ihrem Lebensstil und einigen ihrer Ideen“ (Kocka 2008: 25), auch kaum ernsthaft die Rede sein kann. 2008, das vierzigste Jubiläumsjahr, stellt nun in doppelter Hinsicht einen Einschnitt dar: erinnerungskulturell und vergangenheitspolitisch. Wie die kulturwissenschaftliche Forschung zu Erinnerung und Gedächtnis betont, markiert der Abstand von vier Jahrzehnten im Zusammenhang mit epochalen historischen Ereignissen und traumatischen Geschichtserfahrungen eine bedeutsame Schwelle: Nach vierzig Jahren kündigt sich das Ende der Zeitzeugengeneration an, beginnt sich der Abschied von den Geschichtsteilnehmern zu vollziehen. Schon in den biblischen Berichten spiele daher die Zahl Vierzig eine große Rolle, so Jan Assmann (1998: 43). In der Terminologie Assmanns lässt sich präzisieren: Mit dem Abschied von den Zeitzeugen tritt an die Stelle des lebendigen kommunikativen Gedächtnisses unwiderruflich das symbolisch geformte kulturelle Gedächtnis (Assmann 2002: 48-56). Für den Fall 68 gilt, dass die meisten der jungen Protagonisten von damals mittlerweile ins ‚Rentenalter’ gekommen sind. In dieser Phase des Übergangs stellt sich für alle Betroffenen in besonders dringlicher Weise nicht nur die Frage nach der eigenen Haltung gegenüber der Vergangenheit, sondern ebenso das objektive Problem der medialen <?page no="10"?> Isabella von Treskow/ Christian von Tschilschke X Vermittlung, zukünftigen Verarbeitung und Speicherung dessen, was zu bewahren ihnen wichtig ist. 1 In welchem Maße diese Feststellung auf die aktuelle Situation zutrifft, lässt sich an einer Reihe von Begebenheiten illustrieren. Während sich die einstigen Kontrahenten Daniel Cohn-Bendit und Maurice Grimaud, der damalige Polizeipräsident von Paris, im April 2008 in Paris in einem symbolischen Akt der Versöhnung umarmten und damit signalisierten, dass sie die Auseinandersetzung über die Vergangenheit als abgeschlossen betrachteten, 2 hatte der Post-68er Nicolas Sarkozy ziemlich genau ein Jahr zuvor in seinem „Discours de Bercy“ vom 29. April 2007 noch einmal energisch Öl in das bereits erlöschende Feuer gegossen und mit seinem Rundumschlag gegen die angeblich desaströsen Langzeitfolgen des Mai 68 einen Sturm der Entrüstung entfacht. Leicht übersehen kann man bei diesen oberflächlich so konträren Haltungen, dass sie zumindest in einem Punkt konvergieren: in der Geste der Verabschiedung des Mai 68. Beschwört Sarkozy im Wahlkampf die historische Chance, das Erbe von 68 ein für allemal zu „liquidieren“, 3 so ist dieses Erbe für den Europa-Parlamentarier Cohn-Bendit historisch längst abgegolten und angesichts der politischen Aufgaben, die sich in der Zukunft stellen, ohne weitere Bedeutung. Forget 68 lautet dann auch programmatisch der Titel des Interview-Bandes, mit dem er sich zum aktuellen Jubiläum zu Wort meldete (vgl. Cohn-Bendit 2008b). Indem der 1955 geborene Sarkozy, der 1968 dreizehn Jahre alt war, die 68er pauschal zum Sündenbock für all das stempelte, was ihm an der gegenwärtigen französischen Gesellschaft kritikwürdig erschien, hatte er, vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, seinen vermeintlichen Gegnern gleichwohl einen denkbar großen Dienst erweisen. Denn nun konnten selbst diejenigen, die das vierzigste Jubiläum in jedem Fall genutzt hätten, um sich selbst und ihre Rolle in der Geschichte noch einmal ins rechte Licht zu 1 Dass die Symbolik dieser Schwelle durchaus auch den 68ern selbst bewusst ist, zeigen die Ausführungen des früheren Kampfgenossen Che Guevaras und heutigen Kultur- und Medienwissenschaftlers Régis Debray, der in seiner Kolumne für die Zeitschrift Le monde des religions auf die „norme biblique des quarante ans“ verweist und vielsagend mit den Worten schließt: „il faut toujours attendre quarante ans, dans le Palais des légendes, pour soulever le tapis“ (Debray 2008: 21). 2 Vgl. dazu Cohn-Bendit in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 29.4.2008: „Vorige Woche habe ich eines [sic] der bewegendsten Momente meiner Verarbeitung von 1968 erlebt. Das war unglaublich. Ich habe mich mit dem ehemaligen Polizeipräsidenten von Paris getroffen, Monsieur Grimaud, heute 94 Jahre alt. Ich kam in seine Wohnung und er umarmte mich und sagt: Dany, endlich. Er sagt zu mir: Mein großes Problem war es, Nachfolger von Papin zu sein, des Kollaborateurs, den man später wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt hat. Wie sollte ich als Linker euch klar machen, sagte Grimaud, dass Polizeipräsident nicht gleich Polizeipräsident ist. Das können wir erst heute verstehen.“ (Cohn-Bendit 2008a). Zu Grimaud vgl. auch Cohn-Bendit (2008b, 22f.). Maurice Grimauds persönliche Erinnerungen an 68 erschienen im Jahr 2007 (Grimaud 2007). 3 Vgl. Sarkozy wörtlich: „Dans cette élection il s’agit de savoir si l’héritage de mai 68 doit être perpétué ou s’il doit être liquidé une bonne fois pour toutes“ (Sarkozy 2007). <?page no="11"?> Einleitung XI rücken, behaupten, dass sie von sich aus nicht mehr auf die Ereignisse zurückgekommen wären, wenn sie nicht Sarkozy mit seinen aus ihrer Sicht falschen und beleidigenden Vorwürfen dazu genötigt hätte, sich erneut verteidigen zu müssen. An die Fakten erinnern und die Deutungshohheit über die Geschichte nicht dem konservativen französischen Präsidenten überlassen, so lautete explizit die Devise der meisten Veteranen von 68, die 2008 mit neuen Veröffentlichungen hervortraten, ob Daniel Cohn-Bendit, Alain Geismar oder Patrick Rotman, um nur einige prominente Namen zu nennen. 4 Dass der Politiker Nicolas Sarkozy - von seinem Privatleben nicht zu reden - in Wahrheit gar nicht so konservativ sei, wie seine maßlose Polemik gegen die 68er glauben mache, ja dass diese Polemik im Grunde nur dazu diene, die Tatsache zu verschleiern, dass er so radikal wie keiner seiner Vorgänger im Präsidentenamt mit überholten Traditionen der französischen Gesellschaft breche und daher als der eigentliche Erbe von 68 anzusehen sei - dieser argumentative Kunstgriff ist ein weiterer Topos, der in den aktuellen Debattenbeiträgen ehemaliger 68er immer wieder auftaucht (vgl. z.B. Cohn-Bendit 2008b: 15, 37f., 43f., 68f.). Eine ähnliche diskursive Konstellation wie in Frankreich begegnet uns auch in Deutschland, nur hieß der agent provocateur hierzulande Götz Aly. Mit seiner in der Streitschrift Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück (2008) entwickelten suggestiven Analogie zwischen der nationalsozialistischen Massenbewegung von 1933 und der studentischen Protestbewegung von 1968 sorgte der Historiker, der sich seinerzeit in der linksradikalen Roten Hilfe engagiert hatte, für das Maß an öffentlicher Erregung, das verhinderte, dass sich der Rückblick auf das Jahr 1968 in nostalgischen Erinnerungen und in der scheinbar unbefangen von den Massenmedien beschworenen Sehnsucht nach einer ‚wilden Zeit’ und einem vergangenen ‚Lebensgefühl’ erschöpfte. So wie Sarkozys Rede in Frankreich wirkten Alys Veröffentlichung und die sie flankierenden Interviews und Talk-Show- Auftritte in Deutschland als Katalysator für eine ganze Flut weiterer 4 Vgl. Cohn-Bendit: „Ich hätte zu 68 nichts mehr gesagt. Verlage wollten das schon vor zwei Jahren von mir. Dann aber hat Sarkozy in der letzten Phase seines Präsidentschaftswahlkampfs eine Rede gehalten und gesagt: Wir müssen das Erbe von 68 liquidieren. Da habe ich gesagt: Das kann ich nicht akzeptieren. Deswegen meldete ich mich zu Wort. Aber klar ist: 1968 ist vorbei, wir haben eine andere Welt und andere Probleme.“ (Cohn-Bendit 2008a) Alain Geismar eröffnet seinen autobiographischen Rückblick mit den Worten: „Le 29 avril 2007, Nicolas Sarkozy, à Bercy, assena un discours qui me sidéra: Mai 68 nous avait imposé le relativisme intellectuel et moral.“ (Geismar 2008: 9) Weiter schreibt er: „J’ai longtemps refusé d’écrire sur Mai. […] Mais comment laisser aujourd’hui passer les attaques qui travestissent Mai 68 en une odieuse caricature? “ (Geismar 2008: 20) Geismar rückt die Strategie Sarkozys in die Nähe von George W. Bushs Rede von der „Achse des Bösen“ (Geismar 2008: 16). Patrick Rotman leitet sein Gespräch mit Laurence Devillairs folgendermaßen ein: „C’est d’ailleurs ces incantations dont le président de la République a reconnu, une fois élu, qu’elles étaient ‚terrifiantes de mauvaise foi’, qui m’ont incité à répondre aux amicales sollicitations de Laurence Devillairs.“ (Rotman 2008: 9) <?page no="12"?> Isabella von Treskow/ Christian von Tschilschke XII Stellungnahmen. Vergleichbar mit den Reaktionen auf Sarkozy war auch die Rhetorik, mit der ‚bekennende’ 68er wie Peter Schneider auf den ‚getarnten Wiedergänger’ Aly reagierten: „Tatsächlich sind es die Anti-68er in aller Welt, die die Fackel der 68er weitertragen.“ (Schneider 2008b) 5 4. Kleine Typologie der aktuellen 68er-Literatur Obwohl, wie zu erwarten, auch heute noch die 68er selbst mit ihren autobiographisch gefärbten Berichten innerhalb der 68er-Literatur eine zentrale Stellung einnehmen, haben sich doch die Art, wie dies geschieht, und das Spektrum derer, die über 68 schreiben, in den letzten Jahren stark diversifiziert. Von der reinen Quantität der Veröffentlichungen ganz zu schweigen. So meldete Jürg Altwegg, der Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, im Frühjahr 2008 aus Paris: „Zum Mai 1968 sind hundertfünfzig Bücher angekündigt.“ (Altwegg 2008: 36) In Deutschland nahm die Welle nicht ganz so große Ausmaße an, war aber immer noch beträchtlich. 6 Um zu einem ersten Überblick zu gelangen, genügt es, sich an den Titeln zu orientieren. Zwei Modelle scheinen besonders produktiv zu sein: Als erstes fällt die Betonung der subjektiven Perspektive der sich erinnernden Geschichtsteilnehmer ins Auge: Alain Geismar nennt seinen Bericht Mon Mai 1968 (2008), Daniel Lindenberg äußert sich unter dem Titel Choses vues. Une éducation politique autour de 68 (2008). In Deutschland titelt Götz Aly Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück (2008), und Peter Schneider überschreibt seine kritische Selbstdiagnose mit Rebellion und Wahn. Mein ’68. Eine autobiographische Erzählung (2008a). Die Betonung der Augenzeugenschaft, des Dabeigewesenseins scheint diesen Autoren gerade auch deswegen ein Anliegen zu sein, weil sie sich mit einer neuen Generation konfrontiert sehen, in der entsprechende Geschichtskenntnisse aus erster Hand keineswegs mehr selbstverständlich sind. So unterstreicht Patrick Rotman unter Bezug auf Sarkozys Ausführungen zu 68: „Il était d’autant plus facile de dire n’importe quoi que, aujourd’hui, les moins de soixante ans n’ont pas vécu l’événement.“ (Rotman 2008: 9) Folglich insistiert Rotman auf dem pädagogisch- 5 Vgl. auch Cohn-Bendit auf die Frage, ob Alys Buch mehr als eine Provokation sei: „Nein, das macht er in bester 68er Manier und es ist ihm gelungen. Das heißt: Er braucht sich gar nicht zu distanzieren, er ist ein 68er geblieben.“ (Cohn-Bendit 2008a), und zu Sarkozy als „soixante-huitard contrarié“ Cohn-Bendit (2008b: 37 [Zitat], 38 u. 43f.). 6 Vgl. u.a. Aly (2008), Faber/ Stölting (2008 [2002]), Frei (2008), Gilcher-Holtey (2008a/ b), Koenen/ Veiel (2008), Kraushaar (2008), von Lucke (2008), Mohr (2008), Schneider (2008), Sievers (2008), Schnibben/ Hannover (2007) sowie das Reprint der Kursbuch- Nummern 11-15 (2008) und die Zeitschriftenausgaben 68 - Neue Runde im Deutungskampf. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte (2008) und 1968. Aus Politik und Zeitgeschichte (2008). <?page no="13"?> Einleitung XIII didaktischen Charakter seiner publizistischen Intervention: Mai 68 raconté à ceux qui ne l’ont pas vécu (2008). Einen ähnlichen Weg wählen, wenn auch mit ironischem Unterton, André Glucksmann und sein Sohn Raphaël mit Mai 68 expliqué à Nicolas Sarkozy (2008). Schon die doppelte Autorschaft verweist hier auf den Abstand der Generationen. Der von Vater und Sohn Glucksmann thematisierte Generationenunterschied prägt aber noch in anderer Hinsicht die gegenwärtige Beschäftigung mit 68. Vermehrt verschaffen sich nun die Nachgeborenen, die Söhne und Töchter der Aktiven von einst mit ihrer Version der Dinge Gehör. Zu ihnen gehört die Dokumentarfilmerin und Sachbuchautorin Virginie Linhart (geboren 1966), die sich in Le jour où mon père s’est tu (2008) mit dem Schicksal ihres psychisch kranken Vaters, des prominenten Mitbegründers der UJC(ML) (Union des jeunesses communistes marxistes-léninistes), und dem anderer Kinder von politischen Führern der 68er auseinandersetzt. In Deutschland ist dieses Darstellungsmuster zum Beispiel durch die witzigmelancholische Erzählung Lenin kam nur bis Lüdenscheid (2005) von Richard David Precht (geboren 1964) vertreten. 7 Den Gegenpol zu den persönlichen Rückblicken der Zeitgenossen und ihrer Nachkommen bilden die im Großkollektiv verfassten umfangreichen enzyklopädischen Darstellungen, deren Stunde ‚vierzig Jahre danach’ ebenfalls gekommen zu sein scheint. So bieten Antoine Artous, Didier Epsztajn und Patrick Silberstein mit La France des années 1968. Une encyclopédie de la contestation (2008) auf 901 Seiten eine alphabetisch geordnete, globale Synthese, deren Stichworte von „Affiches et atelier populaire des Beaux- Arts“ bis „Violence révolutionnaire“ reichen. Nicht weniger ambitioniert und mit 847 Seiten auch kaum weniger umfangreich ist das chronologisch und thematisch aufgebaute, einen Zeitraum von zwanzig Jahren umfassende, von den Historikern Philippe Artières und Michelle Zancarini- Fournel herausgegebene Gemeinschaftswerk 68. Une histoire collective 1962- 1981 (2008). Auf Frankreich konzentriert, soziologisch-politologisch ausgerichtet und stärker in die Tiefe gehend ist dagegen der 29 Beiträge umfassende Sammelband Mai-Juin 68 (2008a, 446 Seiten). „Il faut restituer à Mai-Juin 68 en France son tranchant“ ist das Anliegen der Herausgeber Dominique Damamme, Boris Gobille, Frédérique Matonti und Bernard Pudal (2008b: 11). Eine besondere Erwähnung im Reigen der aktuellen Überblicksdarstellungen zu 68 verdient schließlich die Monographie des Pariser Philosophen Serge Audier La pensée anti-68. Essai sur l’origine d’une restauration intellectuelle (2008), der sich mit der Entstehung und Wandlung des Anti-68er-Diskurses von den 1960er Jahren bis heute beschäftigt. Und die fiktionale Verarbeitung des Mai 68? Auch das vierzigste Jubiläumsjahr hat vorerst nichts daran geändert, dass die autobiographischessayistische und die (populär-)wissenschaftliche Auseinandersetzung mit 7 Vgl. auch den am 17.4.2008 auf ARTE ausgestrahlten Dokumentarfilm von Jürgen Bevers Kinder der 68er - Die Erben der Revolte (Bevers 2008). <?page no="14"?> Isabella von Treskow/ Christian von Tschilschke XIV der Thematik im Vordergrund stehen. 8 Eine künstlerisch anspruchsvolle Darstellung der Ereignisse lässt weiter auf sich warten. So kann man einstweilen nur entsprechenden Erwartungen Ausdruck verleihen: Und wünschen wir uns, dass die Schriftsteller oder die Filmemacher, also die großen Erzähler, sich 1968 annehmen. Weil sich doch vieles gar nicht findet in den Unterlagen. Ich meine die Emotion. Das kann nur die Literatur. Es gibt zu wenig Kunst, die uns das vermitteln will. (Cohn-Bendit 2008a) Unter den Neuerscheinungen des Jahres 2008 ist allein Hervé Hamons Demandons l’impossible. Le roman-feuilleton de Mai 68 herauszuheben, ein an die Dramaturgie und den Erzählstil einer Fernseh-Soap angelehnter Unterhaltungsroman, der am Beispiel einer Familiengeschichte ein Panorama an Gemeinplätzen über 68 in Szene setzt. 9 Im Bereich der fiktionalen Literatur bleibt die interessanteste und ästhetisch überzeugendste Darstellung also weiterhin Olivier Rolins bereits im Jahr 2002 erschienener, von der Kritik viel gelobter Roman Tigre en papier (vgl. u.a. Gobille 2006). Im Bereich des Spielfilms erfüllt diese Rolle, nach Bernardo Bertoluccis The Dreamers (2003), Philippe Garrels Les amants réguliers (2005). 5. 68 aus romanistischer Perspektive Erstaunlicherweise ist 68 für die deutschsprachige Romanistik immer noch unvertrautes Terrain. Während es in der Germanistik eine lebendige, wissenschaftlich wie lebensgeschichtlich geprägte Auseinandersetzung mit 68 gibt, wird man in der Romanistik vergeblich nach vergleichbaren Spuren suchen. 10 Die Beschäftigung mit dem französischen Mai 68 scheint in Deutschland bisher weitgehend eine Angelegenheit der Historiker und Soziologen geblieben zu sein. Wissenschaftlich, als Forschungsgegenstand 8 In den populären Bereich fallen auch die Comics über 68. Erwähnt sei zum einen das dezidiert als Geschichtsmanual konzipierte Comicbuch Mai 68 - Histoire d’un printemps (2008) von Alexandre Franc und Arnauld Bureau, das gattungstypologisch sowohl beim historischen Roman als auch beim Sachbuch Anleihen macht, und zum anderen die Sonderausgabe der Zeitschrift Pilote. Diese Ausgabe, erschienen im April 2008, präsentiert einzelne Comic-Strips von sechzig Autoren zum ,Geburtstag’ des Mai 68. Das Titelbild zeigt ein junges Hippie-Paar (der Mann trägt die Frau), das vor tanzenden Bürgern, darunter ein CRS-Polizist, in die Zukunft läuft. Die Ausgabe ist mit dem Motto versehen „le journal qui s’amuse à lancer un pavé“ - eine Aufmachung folglich, die optisch auf der Linie derer liegt, die an Mai 68 als einen frühlingshaft-spielerischen Aufbruch erinnern wollen. Mit den Blumen, eigentlich Blümchen, als vorherrschendem Titelmotiv belebt die Zeitschrift das vielfach aufgerufene madrigaleske Element wieder: Mai ist hier ce joli mois de mai. 9 Hervé Hamon ist auch zusammen mit Patrick Rotman Verfasser der zum Bestseller avancierten zweibändigen historischen Dokumentation Génération (1987/ 1988), die zum vierzigsten Jahrestag 2008 neu aufgelegt wurde. 10 Vgl. zur germanistischen Auseinandersetzung mit 68 etwa die Sammelbände von Rosenberg/ Münz-Koenen/ Boden (2000) und Ott/ Luckscheiter (2001) sowie den Ausstellungskatalog von Ott/ Pfäfflin (1998). <?page no="15"?> Einleitung XV spielt 68 in der Romanistik kaum eine Rolle. 11 Die wenigen einschlägigen Veröffentlichungen lassen sich an einer Hand aufzählen. Über die Gründe für dieses Desinteresse kann man nur spekulieren: die zögerliche Wahrnehmung der postexistentialistischen Literatur und Kultur Frankreichs, die sich insbesondere aus der Fremdperspektive aufdrängende Prävalenz des Nouveau Roman und der poststrukturalistischen Theorie oder auch die mit herkömmlichen Kriterien, Methoden und Wertmaßstäben nur schwer einzuordnenden neuen künstlerischen Praktiken selbst. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass sich die zum Thema vorliegenden Studien im Wesentlichen auf die traditionelle Gattungstrias Roman (Sonina 1973; Eichelberg 1987), Drama/ Theater (Robra 1985) und Lyrik (Coenen-Mennemeier 1997) beschränken. 12 Erst in der jüngeren Zeit und aus einer nicht genuin romanistischen Perspektive fanden neue Konzepte in die Erforschung der künstlerischen Verarbeitungen des Pariser Mai Eingang, so etwa durch Michael Lommels, der Intermedialitätsforschung zuzurechnenden Arbeit zum Kino (2001) oder Elfriede Müllers und Alexander Ruoffs Studie zum Kriminalroman als alternativer Form der Geschichtsschreibung (2007). 13 Dieser vergleichsweise spärliche Befund steht im Kontrast zu der Tatsache, dass die Ereignisse des Jahres 1968 auf die Biographien und beruflichen Laufbahnen zahlreicher Romanisten erheblichen Einfluss hatten. In gut der Hälfte der 37 von Klaus-Dieter Ertler im Band Romanistik als Passion. Sternstunden der neueren Fachgeschichte (2007) zusammengestellten autobiographischen Berichte emeritierter Professoren kommen die Auswirkungen der Studentenbewegung mehr oder weniger ausführlich zur Sprache. Sie werden als persönliche Katastrophe oder als Befreiung erlebt, als Karriereende oder als Karrierechance beschrieben, als Anlass, die nationalsozialistische Vergangenheit mancher Fachvertreter ans Licht zu bringen oder auch aggressive Formen studentischen Protests ihrerseits als ‚Nazimethoden’ zu brandmarken. Zu den Konsequenzen, die sich für das Fach selbst ergeben, werden unter anderem Veränderungen in der akademischen Selbstverwaltung und in den Verbandsstrukturen gerechnet, aber auch ein spürbarer Verwissenschaftlichungsschub und vor allem die im Umfeld von 1968 aufkommende Methodendiskussion, die auch noch die folgenden Jahre prägen sollte. 14 Diese Hinweise mögen genügen, um zu verdeutlichen, dass 11 Immerhin enthält die von Jürgen Grimm herausgegebene Französische Literaturgeschichte dazu ein substantielles Kapitel „Die Literatur im Zeichen der Studentenbewegung“ (Biermann/ Coenen-Mennemeier 2006: 381-386). 12 Zu erwähnen sind darüber hinaus die interessante Quellendokumentation von Wolfgang Drost und Ingrid Eichelberg (1986) sowie einzelne Studien zu Graffitis (Helmich 1981), zur literarischen Behandlung der question juive (Coenen-Mennemeier 1998) und zu Darstellungen der 68er Jahre in Schulbüchern (Kohser-Spohn 2005) und, ganz aktuell, des französischen Mai im Spiegel der Pressekarikatur (Fekl 2008; Ronge 2008). 13 Zur Bedeutung von 68 für den französischen Kriminalroman vgl. auch Einfalt (1998). 14 Vgl. dazu die Stellungnahme des Freiburger Romanisten Frank-Rutger Hausmann, der im Rahmen der Podiumsdiskussion „Zeitzeugen im Gespräch“ am 11. Juni 1998 in <?page no="16"?> Isabella von Treskow/ Christian von Tschilschke XVI nicht nur das Forschungsfeld 68 als noch wenig erschlossen gelten darf, sondern dass auch die Frage, welchen Einfluss die 68er-Ereignisse auf die Fachgeschichte und die wissenschaftliche Praxis hatten, weiterhin nach Antworten verlangt. 6. Zu den Beiträgen dieses Bandes Die sechzehn Beiträge dieses Bandes geben auf einige dieser offenen Fragen erste Antworten. Ihr gemeinsames Thema ist die ,Konstruktion’ von 68 in Literatur, Theorie, Film und Zeugenbericht. Das zeitliche Spektrum reicht vom Beginn der sechziger Jahre bis in die unmittelbare Gegenwart. Die Spannbreite der vertretenen Perspektiven erstreckt sich von persönlichen Stellungnahmen von Zeitzeugen, die Mai 1968 in Paris verbrachten, bis hin zu den Einschätzungen einer nachgeborenen Generation. Dabei spiegelt sich der weite Horizont der erinnerungskulturellen Problematik ebenso im Einzelfall, wie sich umgekehrt die Aufschlüsselung partikularer Phänomene als sehr erhellend für den größeren Zusammenhang erweist. Der Band gliedert sich in zwei Teile. Der erste umfasst Beiträge, die im engeren Zusammenhang mit der Erinnerung aus heutiger Sicht stehen: Rückblicke von Romanisten, panoramaartige Darstellungen und Studien, die aktuelle Formen der Instrumentalisierung und Selbstinszenierung in den Mittelpunkt stellen. Die Beiträge des zweiten Teils widmen sich eher Einzelphänomenen. Sie untersuchen Texte und Filme im direkteren Zusammenhang mit der ,Konstruktion’ des Mai 68 bzw. dem Entstehen neuer Paradigmen. Die Auseinandersetzung steht hier unter der Prämisse des ,revidierenden’ Blicks. So wird die Verflechtung von Theorie, Fiktion und Medien mit den jeweiligen Denk- und Diskursmustern der entsprechenden Zeiten und Orte transparent. Die Anordnung dieser Beiträge folgt mehr oder weniger dem Muster der Chronik. Das bringt mit sich, dass zum Ende des Bandes mit Michel Houellebecq und Christine Angot wieder der Anschluss an die Gegenwart gefunden wird. Im Sinne der ,Revision’ der Aufarbeitungsformen und Erinnerungsmechanismen zeichnet der erste Beitrag von Silja Behre die Leitlinien der Diskussionen und zeitlich wechselnden Deutungsmodelle nach, in deren Rahmen 68 seit 1978 thematisiert wird. Die Bestandsaufnahme verdeutlicht anhand des deutsch-französischen Vergleichs den Prozess, in dem sich in konvergierenden, aber auch divergierenden Bewegungen das aktuelle Bild entwickelte. Dabei wird unter anderem erkennbar, dass in den siebziger Jahren die öffentliche Debatte in Deutschland ganz wesentlich unter dem Eindruck der terroristischen Gewalt stand, wobei sich ,68’ zunächst gegen Berlin u.a. Folgendes sagte: „Aus meiner Sicht endet […] 1968 im Grunde genommen die Tradition des 19. Jahrhunderts, die in der Romanistik über den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, über die Nazizeit gehalten hatte, 1968 dann aber letztlich zerbrochen ist.“ (Rosenberg/ Münz-Koenen/ Boden 2000: 315) <?page no="17"?> Einleitung XVII ,67’ behaupten musste, das Jahr, in dem Benno Ohnesorg erschossen wurde, während sich in Frankreich zur selben Zeit der schwere Abschied von linken Ideologien vollzog. Es war dies ein Abschied, der heute, im Jahr 2008, noch Folgen hat, insofern die Rede von 68 sich als weitgehend entpolitisiert präsentiert. Das einstige prinzipielle ,Wohlwollen’ gegenüber kommunistischen Ideen scheint nach wie vor die kritische Auseinandersetzung mit den Grundlagen entsprechend orientierter Staatsmodelle zu verhindern. Das Politische der 68er-Bewegung bleibt möglicherweise auch aus diesem Grund ein blinder Fleck in der Wahrnehmung der historischen Geschehnisse. Sicher ist, wie Silja Behre ausführt, dass schon die ersten Rückblicke von einem heftigen Kampf um Deutungshoheit geprägt waren, aus dem in Frankreich die Nouveaux Philosophes siegreich hervorgingen. In der Folge etablierte sich in den achtziger Jahren das Bild des ,fröhlichen Mai’ als eines Moments spielerischer Provokation, eine Vorstellung, die wir auch in dem bereits erwähnten aktuellen Buch André Glucksmanns und seines Sohns wiederfinden. Zugleich tritt erst jetzt die Gewaltfrage auf den Plan, die in Deutschland die 68er-Diskussion seit jeher mitbestimmte. Im Gegensatz zu dieser ausgreifenden Rekonstruktion des Erinnerungsverlaufs zeigt der folgende Beitrag von Joseph Jurt, wie sich Erzählung, Kritik und Deutung verbinden lassen, wenn man eine stärker subjektive Sichtweise in Anschlag bringt. Das eigene Erleben des damals 28jährigen hindert den Autor indessen nicht, die schnelle, schon 1969 erfolgte Historisierung von 68 in Bezug auf ihre Begrenzungen zu hinterfragen. Dies geschieht insbesondere auch am Beispiel eines selbstverfassten Zeitungsbeitrags und im Abgleich zwischen damaliger Erfahrung und heutigem Kenntnisstand. Ähnlich geht der Beitrag von Gabriele Blaikner-Hohenwart vor: Dass aus heutiger Sicht das Konservative, aber auch die Offenheiten der französischen Gesellschaft leicht vergessen werden, wird hier anschaulich demonstriert. Ebenfalls aus der Zeugenperspektive verfasst, macht er transparent, wie die spontane Nacherzählung der Ereignisse von den eigenen Notizen aus dem Mai 1968 abweicht, wie sich also die individuelle Erinnerung zusammen mit den grands récits der Erinnerung verändert, ihnen angeglichen hat. Die berühmte Rede Nicolas Sarkozys im Palais Omnisports de Bercy basiert ebenso - wenn auch aus ganz anderen Gründen - auf der Anpassung an aktuelle Erinnerungsgewohnheiten. Sybille Große zeigt detailliert auf, wie der Redner verfährt, um die Diskreditierung der politischen Linken durch Kritik am (vermeintlichen) ,Erbe von 68’ zu erreichen. Im Rückgriff auf diffuse Topoi und populäre Interpretationen entwickelt Sarkozy mit Hilfe bestimmter grammatikalischer Ersetzungstechniken eine „Pseudoargumentation“, mit der er sich seinen Wählern als Restaurator einer angeblich guten Ordnung ante 68 empfiehlt. Von der Analyse dieser Anti-68-Rede geht der Blick zur kritischen Revision des Bildes von 1968 aus weiblicher Sicht. Esther Suzanne Pabst legt dar, welche Verdrängungsmechanismen in der Geschichtsschreibung wirksam sind, welche simplifizierenden <?page no="18"?> Isabella von Treskow/ Christian von Tschilschke XVIII Ansichten zur Rolle der Frauen während der Ereignisse kursierten und welchen hohen Rang die Geschehnisse ganz im Gegensatz zur historiographischen Verdrängung in den Erinnerungen beteiligter Frauen haben. Deutlich wird in ihrem Beitrag, dass der Wandel von Geschlechterkonstruktionen ab 1968 zunächst im kleinen Rahmen angestoßen wurde und sich eine Sensibilisierung für feministische Fragen erst entwickeln musste, zu der auch die Thematisierung des Widerspruchs zwischen der ,offiziellen’ Forderung nach Aufhebung sozialer Hierarchien bei gleichzeitiger Beibehaltung der Ungleichheit der Geschlechter gehört. Die männliche Gegenseite gerät in den autobiographischen Selbstinszenierungen von Jacques Foccart, Maurice Grimaud und Frédéric Fajardie ins Visier. Sie präferieren, wie Albrecht Buschmann erläutert, eine wenig selbstkritische Vorführung ihrer Rolle im Kampffeld des Mai und formen das Erlebte, im Einklang mit der jeweils ,großen Erzählung’ ihrer Peer-Group, zum Sieg, sei es über die protestierenden Rebellen und deren Anfeindungen des Staates, sei es momentweise über eben jenen Staat, wobei dann gerade dieser Moment zum einzigartigen Augenblick in der Geschichte stilisiert wird. Die Beiträge von Vincent Kaufmann und Kai Nonnenmacher zur Entwicklung der Literaturtheorie im Zusammenhang mit den ideengeschichtlich-politischen Prämissen von 68 eröffnen den zweiten Teil des Bandes. Vincent Kaufmann weist auf marxistische Übernahmen vor allem bei Jean-Joseph Goux und Jean Ricardou hin, denen die Vorstellung vom Warencharakter der Kunst zur Grundlage einer neuen Ästhetik dient. Der legendäre Tod des Autors wird von Kaufmann als Teil einer antikapitalistischen Utopie bzw. Ergebnis der Anverwandlung marxistischer Theoreme gedeutet: Der schöpferische Akt wird in einen industriellen verwandelt, der Entstehungsort ist nicht mehr das ,Atelier’, sondern die Fabrik, von Produktion und Fabrikation ist die Rede, von Mehrwert und Tauschvorgängen. Den zeitlich und ideell parallel zu situierenden theoretischen Gratwanderungen Jean Pierre Fayes widmet sich Kai Nonnenmacher. Faye formulierte seine Theorien ebenfalls unter Rückgriff auf antikapitalistische Ideen, er protestierte indes nicht nur gegen Machtausübung durch Sprache, sondern forderte auch, die Revolution ästhetisch umzusetzen - und begeisterte sich gleichzeitig für Martin Heideggers Sprachkunst. Zwischen Literaturtheorie und Soziologie, Avantgarde und Neokonservativismus bleibt Faye schwer einschätzbar. Eine eigene Idee der Verstetigung der Revolte entwickelte Julia Kristeva. Konstanze Baron zeigt die Implikationen ihrer nicht zuletzt aus der psychoanalytischen Praxis hervorgehenden Argumentation, die als Auseinandersetzung sowohl mit den Errungenschaften von 68 wie mit den Vereinfachungsvorgängen im Prozess der Erinnerung interpretiert werden kann. Marie-Laure Basuyaux wirft ein neues Licht auf Jean Cayrol, der hierzulande meist nur durch den Film Nuit et brouillard bekannt ist. Ihre Analyse fördert die tiefgreifende Wirkung der Mai-Ereignisse auf Cayrols Schreiben zutage, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Infragestellung seiner selbst <?page no="19"?> Einleitung XIX als einer Person, die nicht nur zwischen den Generationen, sondern auch zwischen Establishment und künstlerischer Distanz zur Bürgerlichkeit stand. Ähnlich mag man die Position Robert Merles ansehen, Autor des von Timo Obergöker vorgestellten Campus-Romans Derrière la vitre (1970) über die Studentenproteste in Nanterre 1968. Gerade das Aufgreifen der ,klassischen’ Erzähltradition macht die Abenteuerlichkeit dieses so früh die 68er- Ereignisse fiktionalisierenden Textes aus, der Kritik an den zurückgebliebenen und autoritären Universitätsstrukturen der sechziger Jahre übt. Beatrice Schuchardts Analyse von Luc Vidals Reisebericht La route - mon journal de hippy bringt uns ebenfalls einen Text näher, in dem Kritik an den ,herrschenden’ gesellschaftlichen Bedingungen zutage tritt, eine Kritik, die sich in der Hinwendung zu neuen Erfahrungswelten niederschlägt. Die Doppeldeutigkeit des trip stiftet die Grundbewegung der Erzählung, die inhaltlich Widersprüche des merkantil eingestellten Reisenden aufdeckt, der auf dem Weg zur transzendentalen Erfahrung von Einheimischen Waren zu Niedrigpreisen erwirbt, um sie gewinnbringend an Europäer zu verkaufen. Dabei ist seine Orientwahrnehmung durchaus von der europäischen Reiseliteratur und den Vorstellungen von einer besseren Welt, wie sie in Europa seit dem 18. Jahrhundert kursieren, gekennzeichnet. Klaus-Dieter Ertler beleuchtet, geographisch in die Gegenrichtung weisend, die frankokanadische Literatur. Nicht erst im Jahr 1968 haben wir es hier mit 68er-Charakteristika zu tun. Die heute als dominant eingeschätzten Diskursfaktoren finden sich etwa schon 1965 bei Marie-Claire Blais, die gesellschaftliche Autoritätsstrukturen kritisiert. Mehr als üblich steht die Beschäftigung mit Gewalt im Fokus dieser Literatur - ein Tribut an die innenpolitischen Vorgänge in Québec. Wie Gewalt im Film, speziell die Gewalt des Mai 68 von Jean-Luc Godard und Bernardo Bertolucci dargestellt wird, untersucht Jan Henschen. Überraschend zeigt sich, dass Gewalt nicht direkt, sondern ästhetisch mehrfach gefiltert und vermittelt präsentiert wird, dass gerade die Straße, der historische Ort der Gewalt und gewissermaßen ihr Emblem, an den Rand von Filmerzählungen verlagert wird, die tendenziell eine Sicht auf das Intime und Private privilegieren. Jan-Henrik Witthaus stellt die Frage nach der Verquickung von Intellektuellen-Status, medialen Effekten und den Folgen des Stammheim-Besuchs Jean-Paul Sartres sowie der Affäre Croissant vor allem für die Entwicklung von Michel Foucaults Denken. Auch in diesem Fall mündet die Diagnose in die Aufdeckung einer Leerstelle: Michel Foucaults Schweigen zu Sartres Stammheim-Besuch wird als Zeichen einer Distanznahme sowohl vom Terrorismus als auch vom Sympathisantentum lesbar, das in dieser Form eine subtile persönliche Stellungnahme jenseits der Koordinaten der öffentlichen Debatte markiert. Silke Segler-Meßners Reflexionen zu Michel Houellebecqs Particules élémentaires und Christine Angots L’inceste runden den Band ab. Mit der Gegenüberstellung von Houellebecqs narrativer Auseinandersetzung mit den kapitalistischen Wandlungen postmoderner Sexualität und Angots <?page no="20"?> Isabella von Treskow/ Christian von Tschilschke XX Exzess narrativer Geständnisse ihres persönlichen Intimlebens rücken abschließend zwei aktuelle Beispiele für den Zusammenhang zwischen dem Diskurs der Sexualität nach 1968 und seiner literarischen Vermittlung in den Fokus. 7. Danksagung Dieser Band geht auf die Sektion „1968/ 2008 - Revision einer kulturellen Formation“ zurück, die anlässlich des sechsten Kongresses des Frankoromanistenverbandes vom 24. bis 26. September 2008 in Augsburg stattfand. Er enthält fast alle der in diesem Rahmen präsentierten Vorträge. Zusätzlich aufgenommen wurde der Beitrag von Esther Suzanne Pabst zum weiblichen Blick auf 68. Unser Dank gilt allen Autorinnen und Autoren für die Bereitschaft, ihre Manuskripte innerhalb einer ungewöhnlich kurzen Frist fertigzustellen. Wir danken zudem den Herausgebern der edition lendemains, Wolfgang Asholt und Hans Manfred Bock, für die Aufnahme des Bandes in ihre Reihe. Sie steht speziell für den deutsch-französischen Dialog, dem sich dieser Band in besonderer Weise verpflichtet fühlt. An den Verlag geht der Dank für die schnelle und problemlose Drucklegung. Für Korrektur und redaktionelle Überarbeitungen danken wir Birgit Olk und Michael Gebhard in Mannheim sowie Beatrice Schuchardt, Andrea Stahl und Pauline Stei in Siegen. <?page no="21"?> Einleitung XXI Literaturverzeichnis Filme Bernardo Bertolucci, The Dreamers (Frankreich/ Großbritannien/ Italien 2003). Jürgen Bevers, Kinder der 68er - Die Erben der Revolte (Deutschland 2008). Philippe Garrel, Les amants réguliers (Frankreich 2005). Literatur 68 - Neue Runde im Deutungskampf. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 3/ 2008. Jürg Altwegg, Pardon, wir haben gewonnen. Vierzig verweht: André Glucksmann und sein Sohn erklären Sarkozy den Mai ’68, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 83/ 9.4.2008, 36. Götz Aly, Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück, Frankfurt a.M. 2008. Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008. Antoine Artous/ Didier Epsztajn/ Patrick Silberstein (Hrsg.), La France des années 1968. Une encyclopédie de la contestation, Paris 2008. Aleida Assmann/ Jan Assmann, Niemand lebt im Augenblick. Ein Gespräch mit den Kulturwissenschaftlern Aleida und Jan Assmann über deutsche Geschichte, deutsches Gedenken und den Streit um Martin Walser, in: Die Zeit 50/ 1998, 43f. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2002 [1992]. Serge Audier, La pensée anti-68. Essai sur l’origine d’une restauration intellectuelle, Paris 2008. Karlheinrich Biermann/ Brigitta Coenen-Mennemeier, Nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Jürgen Grimm (Hrsg.), Französische Literaturgeschichte, Stuttgart, Weimar 5 2006 [1989], 359-396. Daniel Biga, Né nu suivi de Oiseaux mohicans et de Kilroy was here, Paris 1984. Brigitta Coenen-Mennemeier, Mai 68 in Frauengedichten, in: dies., Französische Dichterinnen. Studien zur Erweiterung des Lyrikkanons, Heidelberg 1997, 116- 122. Brigitta Coenen-Mennemeier, „Nous sommes tous des juifs allemands“. Mai 68 und die literarische Behandlung der ‚question juive’, in: Christoph Miething (Hrsg.), Jüdischer Republikanismus in Frankreich, Tübingen 1998, 138-153. Daniel Cohn-Bendit, Ich bin ein Held, in: FR-online.de, 29.4.2008 (31.10.2008). (2008a) Daniel Cohn-Bendit, Forget 68. La Tour d’Aigues 2008. (2008b) Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008. (2008a) Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal, Mai-Juin 68 en France, le temps de comprendre, in: dies. (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 11-14. (2008b) Régis Debray, Toujours quarante…, in: Le monde des religions 27(1)/ 2008, 21. Wolfgang Drost/ Ingrid Eichelberg, Mai 68. Une crise de la civilisation française. Anthologie critique de documents politiques et littéraires, Frankfurt a.M. 1986. Ingrid Eichelberg, Mai 68 im französischen Roman. Die Suche nach dem Glück in einer besseren Gesellschaft, Marburg 1987. <?page no="22"?> Isabella von Treskow/ Christian von Tschilschke XXII Michael Einfalt, Jean-Patrick Manchette, Jean-François Vilar und Jean-Bernard Pouy auf der Suche nach der (verlorenen) Revolution, in: Hubert Pöppel (Hrsg.), Kriminalromania, Tübingen 1998, 129-143. Klaus-Dieter Ertler (Hrsg.), Romanistik als Passion. Sternstunden der neueren Fachgeschichte, Wien, Berlin, 2007. Richard Faber/ Erhard Stölting (Hrsg.), Die Phantasie an die Macht? 1968 - Versuch einer Bilanz, Hamburg 2008 [2002]. Walther Fekl, Der Mai der anderen. Der französische Mai 68 im Spiegel der deutschen Pressezeichnung, in: Lendemains 130/ 131/ 2008, 128-143. Alexandre Franc/ Arnauld Bureau, Mai 68 - Histoire d’un printemps. Paris 2008. Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008. Alain Geismar, Mon Mai 1968, Paris 2008. Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968. Vom Ereignis zum Mythos, Frankfurt a.M. 2 2008 [1998]. (2008a) Ingrid Gilcher-Holtey, 1968. Eine Zeitreise, Frankfurt a.M. 2008. (2008b) André Glucksmann/ Raphaël Glucksmann, Mai 68 expliqué à Nicolas Sarkozy, Paris 2008. Boris Gobille, Le refus de vieillir. Mai 68 dans la réception critique des romans d’Olivier Rolin en France, in: Isabelle Charpentier (Hrsg.), Comment sont reçues les œuvres? Actualités des recherches en sociologie de la réception et des publics, Paris 2006, 165-175. Maurice Grimaud, Je ne suis pas né en mai 68. Souvenirs et carnets 1934-1992, Paris 2007. Hervé Hamon/ Patrick Rotman, Génération I. Les années de rêve, Paris 1987. Hervé Hamon/ Patrick Rotman, Génération II. Les années de poudre, Paris 1988. Hervé Hamon, Demandons l’impossible. Le roman-feuilleton de Mai 68, Paris 2008. Werner Helmich, Maueraphoristik. Einige kommunikationstheoretische Überlegungen zu den Graffiti des Mai 68, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte/ Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes 5/ 1981, 281-295. Jürgen Kocka, Gespräch mit Jürgen Kocka. Neubestimmung des Verhältnisses von Geist und Politik, in: 68 - Neue Runde im Deutungskampf. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 3/ 2008, 21-27. Gerd Koenen/ Andres Veiel, 1968. Bildspur eines Jahres, Köln 2008. Christiane Kohser-Spohn, Die 68er Jahre in französischen und deutschen Geschichtsschulbüchern, in: Internationale Schulbuchforschung 27/ 3 2005, 278- 291. Wolfgang Kraushaar, 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000. Wolfgang Kraushaar, Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008. Kursbuch 1968, 11-15, Reprint, Frankfurt a.M. 2008. Daniel Lindenberg, Choses vues. Une éducation politique autour de 68, Paris 2008. Virginie Linhart, Le jour où mon père s’est tu, Paris 2008. Michael Lommel, Der Pariser Mai im französischen Kino. 68er-Reflexionen und Heterotopien, Tübingen 2001. Albrecht von Lucke, 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht, Berlin 2008. Reinhard Mohr, Der diskrete Charme der Rebellion. Leben mit den 68ern, Berlin 2008. Elfriede Müller/ Aleander Ruoff, Geschichtsschreibung im französischen Kriminalroman nach 1968, Bielefeld 2007. Oskar Negt: Demokratie als Lebensform. Mein Achtundsechzig, Essay, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 14-15/ 2008, 3-8. <?page no="23"?> Einleitung XXIII Ulrich Ott/ Roman Luckscheiter (Hrsg.), Belles lettres. Graffiti. Soziale Phantasien und Ausdrucksformen der Achtundsechziger, Göttingen 2001. Ulrich Ott/ Friedrich Pfäfflin (Hrsg.), Protest! Literatur um 1968. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Verbindung mit dem Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und dem Deutschen Rundfunkarchiv im Schiller- Nationalmuseum Marbach am Neckar, Marbach am Neckar 1998. Pilote - Mai 68 Mai 2008, numéro exceptionnel pour un drôle anniversaire, hors série, April 2008. Richard David Precht, Lenin kam nur bis Lüdenscheid, Berlin 2005. Klaus Robra, Mai ’68 und das französische Theater, in: Französisch heute 16/ 1985, 225-231. Olivier Rolin, Tigre en papier, Paris 2002. Peter Ronge, Französische Karikaturen des Präsidenten Charles de Gaulle aus der Zeit um das Krisenjahr 1968, in: Lendemains 130/ 131/ 2008, 144-161. Rainer Rosenberg/ Inge Münz-Koenen/ Petra Boden (Hrsg.), Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich. Wissenschaft - Literatur - Medien, Berlin 2000. Patrick Rotman, Mai 68 raconté à ceux qui ne l’ont pas vécu. Entretien avec Laurence Devillairs, Paris 2008. 1968. Aus Politik und Zeitgeschichte 14-15/ 31.3.2008. Nicolas Sarkozy, Discours à Bercy, 29 avril 2007, s.p. URL: http: / / www.u-mp.org/ site/ index.php/ s_informer/ discours/ nicolas_sarkozy_a_bercy (16.10.2008). Peter Schneider, Rebellion und Wahn. Mein ’68. Eine autobiographische Erzählung, Köln 2008. (2008a) Peter Schneider, 40 Jahre 68. Der Skandal der Rebellion, FR-online.de, 10.4.2008 (31.10.2008). (2008b) Rudolf Sievers, 1968. Eine Enzyklopädie, Frankfurt a.M. 2008. Cordt Schnibben/ Irmela Hannover, I Can’t get no. Ein paar 68er treffen sich wieder und rechnen ab, Köln 2007. Lenina A. Sonina, Der Mai 68 und die französische Literatur, in: Kunst und Literatur. Zeitschrift für Fragen der Ästhetik und Kunsttheorie 2/ 1973, 241-259. <?page no="25"?> Silja Behre Une ‚bataille de la mémoire’? - Zur Genese der Erinnerung an 68 in Deutschland und Frankreich 1. Vorbemerkungen Es war ein aufregendes Jahr - sowohl für die ehemaligen 68er-Akteure als auch für all jene, Journalisten, Wissenschaftler und andere, die über sie nachdachten, alte Fragen diskutierten und neue aufwarfen. Waren die 68er tatsächlich nur die Kinder der 33er? War die Rote Armee Fraktion die konsequente Folge der Studentenbewegung? Und: Muss man das vermeintliche Erbe von 68 auslöschen, um Frankreich zu reformieren? Das vierzigste Jubiläumsjahr neigt sich dem Ende zu, das sprichwörtliche Rauschen im Blätterwald des Feuilletons ist leiser geworden und dem Historiker bietet sich die Gelegenheit, eine erste Bestandsaufnahme der neuerlichen Publikationswelle zu 68 vorzunehmen. Seit nunmehr dreißig Jahren erscheinen im Rhythmus der Jubiläumsjahre Rückblicke ehemaliger 68er- Akteure, Dokumentationen und Erinnerungsschriften, die jene sich in der Chiffre ‚68’ kristallisierenden Ereignisse einem andauernden Wandlungs- und Umdeutungsprozess unterwerfen. In diesem Prozess werden abhängig von jeweiligen Gegenwartsinteressen und aktuellen Problemen in symbolischen Kämpfen um die Deutungshoheit einige Elemente besonders hervorgehoben, andere vernachlässigt. Der Berg der Literatur, die an 68 erinnert, auf das Jahr Bezug nimmt und es deutet, wächst beständig und kann als Teil des ‚Memory-Booms’ gedeutet werden, der sich gegenwärtig in den Geistes- und Sozialwissenschaften in einer verstärkten Hinwendung zur kollektiven Gedächtnis- und Erinnerungskulturforschung niederschlägt (vgl. Winter 2001). Doch der bisher vielfach sorglose Umgang mit dem - auf den französischen Soziologen Maurice Halbwachs zurückgehenden - Begriff des ‚kollektiven Gedächtnisses’ sowie mit dem eine Hochkonjunktur erlebenden Terminus ‚Erinnerung’ verschleiert dabei eine herrschende methodische Unsicherheit im Umgang mit der Erinnerungsthematik im Allgemeinen und in Bezug auf 68 im Besonderen. Die französische Soziologin Marie-Claire Lavabre hat auf die Bedeutung der Arbeiten Halbwachs’ hingewiesen, aber auch auf die Grenzen seiner Argumentation und deren Ergänzung durch neuere Arbeiten auf dem Gebiet der Soziologie der Erinnerung (vgl. Lavabre 2005). Im Folgenden gilt es, nicht nur die Genese der Erinnerung an 68 in Deutschland und Frankreich bis zu ihren Anfängen in den siebziger Jahren <?page no="26"?> Silja Behre 2 in einer rein deskriptiven Beschreibung zurück zu verfolgen. Mit Hilfe eines theoretischen Bezugsrahmens, der sich an Begriffen und Methoden der von Halbwachs begründeten und lange Zeit vernachlässigten Erinnerungssoziologie sowie neueren Forschungen zum selben Thema orientiert, soll anhand der Erinnerungsjahre 1977/ 78, 1988, 1998 und 2007/ 2008 die Konstruktion der Erinnerung an 68 in Deutschland und Frankreich in einem synchronen und diachronen Querschnitt auf Basis der von ehemaligen Akteuren der Bewegung, aber auch von Kritikern und Beobachtern verfassten Selbstzeugnisse und mit Rekurs auf bisher vor allem auf französischsprachiger Seite unternommenen Analysen verfolgt werden. Angelehnt an die Arbeiten von Halbwachs wird im Folgenden davon ausgegangen, dass Erinnerung immer aus einer gegenwartsbezogenen Perspektive heraus in kommunikativen Prozessen kollektiv konstruiert wird und - gefiltert durch aktuelle Interessen - einer Selektion unterliegt (vgl. Halbwachs 1994). Dabei lassen sich bereits im Vorfeld mindestens zwei Erinnerungsebenen ausmachen: Zum einen wird nach Akzentuierungen und Ausblendungen in der Erinnerung an 68 gefragt, zum anderen nach den den Ereignissen zugeschriebenen Folgen. In einer zeitgeschichtlichen Kontextualisierung sollen Erinnerungsmechanismen und -träger in den Fokus rücken sowie erste Hypothesen zu möglichen kollektiven Gedächtnisprozessen aufgestellt werden. Obwohl in Bezug auf die 68er-Bewegungen deren internationale Gleichzeitigkeit betont wird, so dass zuweilen der Eindruck von Synchronizität erweckt und eine Lesart der Ereignisse als plötzlicher Ausbruch einer weltweiten Jugendrevolte favorisiert wird, bildet die Analyse von transnationalen Zusammenhängen und Diffusionsprozessen vor, während und nach den Protesten immer noch ein Forschungsdesiderat. Ein doppelter Blick, eine komparatistische Perspektive auf die Erinnerung an 68 in Deutschland und Frankreich bietet sich trotz struktureller Unterschiede an (vgl. Gilcher- Holtey 1997) - und zwar nicht nur, um einen wünschenswerten Blick über den nationalen Tellerrand zu werfen, sondern auch um den schon während der Proteste entwickelten transnationalen Bezugnahmen sowie den Verbindungen und Wechselwirkungen Rechnung zu tragen, die über die deutschfranzösische Symbolfigur der Bewegungen, Daniel Cohn-Bendit, hinausgehen. Die folgenden Ausführungen skizzieren exemplarisch einige Problemstellungen und Fragen, die sich bei der Beschäftigung mit dem Themenkomplex ‚Erinnerung an 68’ ergeben. 1 1 Eine tiefer gehende Analyse werde ich im Rahmen meiner Dissertation 1968 in der Erinnerung. Kollektive Repräsentationen der Proteste zwischen 1978 und 2008 im deutschfranzösischen Vergleich vornehmen. <?page no="27"?> Une ‚bataille de la mémoire’? 3 2. Das Ende der Utopien? - Die Erinnerung an 68 in den siebziger Jahren Noch spricht die Öffentlichkeit nicht von den ‚68ern’, als in der Bundesrepublik 1977 die ersten Erinnerungsbücher erscheinen. Noch gilt - auf deutscher Seite - der 2. Juni 1967, als der Germanistikstudent Benno Ohnesorg während der Berliner Anti-Schah-Demonstration erschossen wird, als Fixpunkt, an dem sich die Veröffentlichungen zehn Jahre später orientieren. Wenige Monate bevor der Terrorismus der RAF im ‚Deutschen Herbst’ seinen Höhepunkt erreicht, erscheinen die ersten Bilanzen ehemaliger Akteure, deren Herangehensweise und Struktur recht unterschiedlich sind, aus denen sich aber dennoch Themenschwerpunkte herausfiltern lassen, die für die Erinnerung zehn Jahre nach Benno Ohnesorgs Tod als charakteristisch gelten können (vgl. Buhmann 1977; Deppe 1977; Mosler 1977). Immer wiederkehrende Motive in den Rückblicken der einstigen Protagonisten sind 1977 die erlebte Polizeigewalt auf Demonstrationen und Räumungen, die als Auslöser für selbst ausgeübtes gewalttätiges Verhalten gesehen wird, sowie die als repressiv empfundenen Maßnahmen seitens des Staates, wie die als ‚Radikalenerlass’ bekannt gewordenen, 1972 erlassenen „Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“. Ein weiteres Motiv ist die Erinnerung an das Ende der sechziger Jahre vorherrschende, sehr ‚moderne’ Gefühl, Geschichte zu gestalten und das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Hinzu kommen erste Interpretationsansätze, wie die nüchterne Feststellung, die Bewegung sei „politisch gescheitert“ (Mosler 1977: 245). Diese aus der Feder ehemaliger Protagonisten stammende Deutung wird in der Folgezeit, und vor allem nach der Erfahrung des ‚Deutschen Herbstes’, von der Öffentlichkeit übernommen und währt bis heute fort. In Frankreich bedingt eine andere Art von Gewalt den Erinnerungsprozess. Ein Teil der aus der 68er-Bewegung hervorgegangenen französischen jungen Intellektuellen, die medienpräsenten Nouveaux Philosophes wie André Glucksmann oder Bernard Henri Lévy, begeht 1978 das zehnjährige Jubiläum der Ereignisse, die im Nachhinein unter dem Topos ‚Mai 68’ resümiert wurden, unter dem Vorzeichen einer resoluten Abkehr von marxistischen Ideologien. Nach dem so genannten ‚Solschenizyn- Schock’ infolge der Veröffentlichung von Der Archipel Gulag (1973/ 75) durchlebt die französische Linke eine schwere Krise angesichts der Aufdeckung totalitärer Verhältnisse in Ländern, die ihr lange als Vorbild galten. Obwohl ihre Interpretation nicht repräsentativ für die 1978 erscheinende Erinnerungsliteratur ist, erlangt sie doch in der Folgezeit eine gewisse Deutungshoheit, die sich in einer depolitisierten und entideologisierten, auf die kulturellen Folgen konzentrierten Wahrnehmung der Ereignisse widerspiegelt (vgl. Sommier 1994: 69). Gegen die medienpräsente Strömung der Nouveaux Philosophes, die sich von allen linkslastigen Ideologiekonzepten distanzieren, um stattdessen das Konzept eines überideologischen Humanis- <?page no="28"?> Silja Behre 4 mus zu postulieren, wenden sich anlässlich der zehnjährigen Wiederkehr der Ereignisse ehemalige Akteure des französischen Mai. Régis Debray, Schüler der École Normale Supérieure, der Ende der sechziger Jahre an der Seite Che Guevaras in Bolivien kämpfte und dort festgenommen wurde, nimmt in seiner 1978 erschienenen Erinnerungsschrift Modeste contribution aux discours et cérémonies officielles du dixième anniversaire indirekt Bezug auf die Nouveaux Philosophes, in deren um die Idee der Menschenrechte kreisendem Denken er ein Indiz für die vollständige politische Sinnentleerung von 68 sieht (Debray 1978: 89). Zugleich verortet er den Aufstieg eines hedonistisch-individualistischen Zeitgeistes im Kontext von 68 und greift damit - nicht ohne den somit entstandenen Ursachen- und Wirkungszusammenhang zu problematisieren - einer sich vor allem in den achtziger Jahren etablierenden Interpretation vor. Auch Jean-Claude Guillebaud attackiert in Les années orphelines (1978) einen Vertreter der Nouvelle Philosophie, den ehemaligen Protagonisten der linksextremen Gauche Prolétarienne André Glucksmann. Dessen Wandel vom „myope volontaire“ (Guillebaud 1978: 11) zum von der Klarheit ideologischer Verfehlungen Geblendeten sei erstaunlich. An den gegenseitigen, auch indirekten Bezugnahmen innerhalb des Feldes ehemaliger Akteure lassen sich zwei Aspekte der Erinnerungskonstruktion ablesen: Sie vollzieht sich, wie Halbwachs befand und wie bereits gesagt wurde, in einem kommunikativen Akt, der wiederum in einem von gegenwärtigen Interessen gebildeten Rahmen stattfindet. Zieht man Aspekte der kultursoziologischen Überlegungen Pierre Bourdieus hinzu, so verdeutlichen der teilweise kontrovers geführte Austausch über 68 und die Antworten ehemaliger Akteure auf die Nouveaux Philosophes in den siebziger Jahren Konkurrenzkämpfe um Symbole, um die Deutungshoheit der Ereignisse, in denen ‚68’ zum Mittel der Positionierung innerhalb des kulturellen Feldes, zur Durchsetzung von Interessen und Ideen wird (vgl. Schwingel 1993). 3. 1988 - Interpretationen einer ‚génération 68’ Eine Tendenz, die sich in Frankreich bereits am Ende der siebziger Jahre abzeichnet, verfestigt sich anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums zu einem wahren Interpretationsprogramm: Die Wahrnehmung der Geschichte durch eine 68er-Generation hat sich in der Öffentlichkeit durchgesetzt. Diese Entwicklung drückt sich in Frankreich zum einen in dem von Patrick Rotman und Hervé Hamon herausgebrachten Interviewband Génération (1988) und in der darauf basierenden Fernsehreihe aus. Zum anderen ist seit den achtziger Jahren nunmehr die Rede von den ‚68ern’, die als generationelle Einheit wahrgenommen werden. Auch aus diesen Harmonisierungstendenzen heraus ergibt sich - im französischen Fall - eine Lesart der Ereignisse, die auf eine breitenwirksame Interpretation eines ‚coolen’ Mai, eines jugendlichen Festes im Namen der Menschenrechte, der individuellen <?page no="29"?> Une ‚bataille de la mémoire’? 5 Befreiung und der spielerischen Provokation hinauslaufe (vgl. Rioux 2008: 7). Hinweise auf die politischen Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Gruppierungen sowie die Rolle der Arbeiter und des Generalstreiks würden - so der Historiker Jean-Pierre Rioux - ausgeblendet (Rioux 2008: 7). Bereits in den Veröffentlichungen des Jahres 1988 zeichnet sich ab, was der Historiker Robert Frank zehn Jahre später konstatiert: Dass in der französischen Erinnerung der ‚fröhliche Mai’ über den ‚kämpferischen Mai’ gesiegt habe (vgl. Frank 1998). Gegen die in der Öffentlichkeit vorherrschende Wahrnehmung einer homogenen génération 68 erhebt Guy Hocquenghem bereits 1986 in einem offenen Brief in Buchform seine Stimme. Sie seien vom ‚Mao- Kragen’ zum ‚Rotary-Club’ übergegangen. Er wehrt sich gegen den Generationsbegriff, der ihm als Eingeständnis eines gescheiterten Traums, eines andauernden Grolls (vgl. Hocquenghem 1986: 16) erscheint und kritisiert die selbstgerechte „auto-célébration“ (Hocquenghem 1986: 21) ehemaliger Mitstreiter, ihren Wandel von revoltierenden Barrikadenkämpfern zu politischen Opportunisten, die er vor allem im Umkreis François Mitterrands vermutet. „Vous proclamez la mort des idéologies“ (Hocquenghem 1986: 197) schreibt er, und verweist damit auf einen Wandel der Denk- und Wahrnehmungsschemata unter postmodernen Vorzeichen, eine sich seit Mitte der siebziger Jahre entwickelnde - im vorherigen Kapitel beschriebene - Absage an Ideologien und Utopien, die das ‚moderne’ in zahlreichen Erinnerungsschriften erwähnte Moment von 68 ausmachten. Auch in den 1988 erschienenen deutschsprachigen Veröffentlichungen überwiegt der Tenor einer ‚kulturellen Revolte’, einer Revolution der Lebensformen (vgl. Bieling 1988; Mündemann 1988). Ähnlich wie in Frankreich unterliegt die Deutung der Ereignisse dem Einfluss des Generationenkonstrukts. Daniel Cohn-Bendit und Reinhard Mohr publizieren 1988 1968. Die letzte Revolution, die noch nichts vom Ozonloch wußte und setzen 68 in den Kontext des jugendlichen Aufbegehrens gegen die als gesellschaftlich und moralisch verkrustet empfundene bundesrepublikanische Gesellschaft der fünfziger und sechziger Jahre. Nicht intendierte, einst als Enttäuschung erfahrene Folgen der Bewegung, wie beispielsweise die Bildung der sozialliberalen Koalition 1969, bekommen erst im Zuge der achtziger Jahre, des Jahrzehnts der Bürger- und Ökologiebewegung, der Gründung der Grünen 1979 sowie der verstärkten Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, eine positive Konnotation. Während das politische Moment der Bewegung durch die ehemaligen Akteure unter Berufung auf das Argument des ‚politischen Scheiterns’ weitgehend vernachlässigt wird, erfährt 68 von offizieller Seite eine genuin politische Interpretation. Dass sich im Laufe der achtziger Jahre die Deutung der Bewegung als Wegbereiter eines aus eigenen gesellschaftlichen Kräften hervorgebrachten Demokratisierungsschubs etabliert, wird durch die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990, in der er die Verankerung des demokratischen Grundgedankens durch die im Zuge der 68er-Ereignisse betont, offizia- <?page no="30"?> Silja Behre 6 lisiert. Dies verdeutlicht die Rolle der Ereignisse im Selbstverständnis der Bundesrepublik: Die Erinnerung an 68 ist nicht mehr nur Teil des - mit Jan Assmann gesprochen - trägergebundenen kommunikativen Gedächtnisses, sondern sie geht über in das kulturelle Gedächtnis der Bundesrepublik und wird Teil der Selbstverständigungsdebatte nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Assmann 1999). Wir halten für die deutsche Erinnerung an 68 fest: Während die Erinnerungsliteratur weiterhin die kulturelle Tragweite der Ereignisse akzentuiert, wird 68 von öffentlicher Seite eine genuin politische Bedeutung, nämlich ein tiefgreifender Demokratisierungsschub in Folge der Ereignisse, zugeschrieben. Nun bleibt zu fragen, inwieweit - trotz eines Beharrens auf dem Diktum des ‚politischen Scheiterns’ - nicht auch die unter dem Label ‚kulturelle Revolution’ laufenden Veränderungen ‚politisch’ sind. 2 4. 1998 - Die politische Rückkehr von 68? Ein Jahr nach dem zwanzigjährigen Jubiläum ist die weltpolitische Konstellation 1989 im Wandel begriffen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges markieren nicht nur auf weltpolitischer Ebene, sondern auch in der Erinnerung an 68 eine Zeitenwende. In der von der Wiedervereinigung geprägten Bundesrepublik beeinflusst eine ‚konservative Wende’ die Erinnerung an 68, als zu Beginn der neunziger Jahre angesichts steigender Jugendkriminalität eine erste Debatte um eine mal ‚Wertewandel’, mal ‚Werteverfall’ genannte Entwicklung entbrennt. Angesichts dieser Schuldzuweisungen erscheint eine Reihe von Rechtfertigungsschriften, die überwiegend die bereits in den achtziger Jahren geläufige Argumentation eines in der Folge von 68 in Gang gekommenen Demokratisierungsschubs aufnehmen. Es gibt sowohl in Frankreich als auch in Deutschland Beispiele für öffentliche Debatten, in denen Bezug auf 68 genommen, in denen die Erinnerung an die Ereignisse zur Referenz wird, um sich im politischen Feld zu positionieren. So weckten die großen Streiks im Dezember 1995 in Frankreich Erinnerungen an den Generalstreik von 1968; im Jahr 2001 muss sich Außenminister Joschka Fischer wegen seiner militanten Vergangenheit rechtfertigen. Diese Diskussionen werden in eine ausführliche Analyse eingebunden, die hier allerdings nicht thematisiert werden soll. 1998 gewinnt 68, oder besser, gewinnen die sogenannten ‚68er’, an politischer Aktualität. Mit der Regierungsübernahme durch die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer gerät die Vergangenheit einiger Regierungsmitglieder in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Obwohl sich angesichts des ungenauen Begriffs ‚68er’ darüber streiten lässt, inwieweit Gerhard Schröder und Joschka Fischer als deren 2 Ansätze zur näheren Erforschung des Politischen bieten die Arbeiten des Bielefelder Sonderforschungsbereichs 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“. Vgl. dazu u.a. Steinmetz (2007). <?page no="31"?> Une ‚bataille de la mémoire’? 7 Vertreter gelten können, stellt sich der neue Bundeskanzler mit seiner Regierungserklärung vom 10. November 1998 selbst in die Tradition der Bewegung. Er präsentiert sich und seine Regierung als Teil einer Generation, die „im Aufbegehren gegen autoritäre Strukturen und im Ausprobieren neuer gesellschaftlicher und politischer Modelle“ (Schröder 1998) aufgewachsen sei. Dieser Regierungsantritt wird im Allgemeinen als Ankunft der 68er in der Realpolitik gesehen. Doch so vereinfacht fällt das Urteil der 1998 erschienenen Erinnerungsliteratur nicht aus. Die interpretatorische Unsicherheit nach der weltpolitischen Wende von 1989/ 90 spiegelt sich in einer widersprüchlichen Erinnerungsliteratur, die zum Teil die These einer ‚Revolution der Lebensstile’ aufnimmt. Waren die Kinderladen-Bewegung und das Experimentieren mit alternativen Erziehungsmethoden in der Erinnerungsliteratur der siebziger und achtziger Jahre nur Themen am Rande, findet der Begriff ‚antiautoritäre Erziehung’ Eingang in das 1998 erscheinende Buch 68 und die Folgen. Ein unvollständiges Lexikon. Die Herausgeber Christiane Landgrebe und Jörg Plath spielen augenzwinkernd mit dem enzyklopädischen Anspruch eines Nachschlagewerks. In ihrem ‚Lexikon’ versammeln sie Erinnerungen, Erklärungen und Essays zu Stichworten wie ‚Drogen’, ‚K-Gruppen’, ‚Marxismus’, ‚Raubdrucke’ und ‚Vernunft’, geschrieben von ehemaligen Akteuren, aber auch Nachgeborenen. In seinem Vorwort knüpft der Journalist und Schriftsteller Peter von Becker an die Werteverfall-Debatte an und relativiert die Vorwürfe. Er sieht in den von Kritikern als Werteverlust stigmatisierten Erscheinungen vorrangig Folgen der Modernisierung in den westlichen Industrienationen. Trotz der zum Teil zutreffenden Kritik an den 68ern, so argumentiert er, könne sich wohl niemand freiwillig in die Zeit vor 1968 zurückwünschen. Die sich durchsetzende Betonung von 68 als kultureller Revolution und politisch gescheiterter Bewegung findet sich sowohl in Peter von Beckers Vorwort als auch in dem von Herausgeber Jörg Plath verfassten Nachwort wieder: „So überlebt die Revolte gegen die Institutionen als Revolution der Lebensstile“ (Landgrebe/ Plath 1998: 139). Andere wehren sich gegen diesen Interpretationsstrang. Lutz Schulenburg argumentiert in seinem sowohl Analysen als auch Dokumente der Zeit versammelnden Kompendium gegen die Wahrnehmung von 68 als reinem Generationenkonflikt, der kulturell erfolgreich, politisch aber gescheitert sei. Zwar wirke die Bewegung in Phänomenen wie der Ökologie- oder Frauenbewegung der siebziger und achtziger Jahre nach, aber von einem politischen Scheitern könne man nicht sprechen, da es gar nicht Ziel der Bewegung gewesen sei, sich politisch zu institutionalisieren. Die sehr unterschiedliche Bewertung der Folgen rückt in der Erinnerungsliteratur weiter in den Vordergrund und geht mit den bereits beschriebenen symbolischen Kämpfen um die Deutung der Ereignisse einher. Während das Jahr 1998 in der Bundesrepublik im Zeichen der - so scheint es - politischen Wiederkehr von 68 steht, fallen die trente ans de 68 in Frankreich ruhiger aus. Zwar ergibt sich eine imposante Publikationsliste an <?page no="32"?> Silja Behre 8 Erinnerungsliteratur, doch darunter befinden sich einige Wiederauflagen aus dem Jahr 1988, wie das Buch des einstigen Mitbegründers der Ligue communiste révolutionnaire, Henri Weber. Daher soll hier kurz auf ein Werk verwiesen werden, das zwar nicht zur Reihe der Selbstzeugnisse im engeren Sinne gehört, dessen Analyse und Deutung der Ereignisse um 1968 jedoch charakteristisch für den in diesem Kapitel behandelten Zeitabschnitt ist. Mit seinem Buch Mai 68, l’héritage impossible zieht der französische Soziologe Jean-Pierre Le Goff Bilanz und schlägt eine neue Lesart der événements vor. Dabei geht seine Analyse von einem sich aus der französischen Bewegung ergebenden Widerspruch zwischen „gauchisme culturel“ und „‚gauchisme politique“ (Le Goff 1998: 472) aus. Der auf dem Mythos der Revolution basierende „gauchisme politique“ habe sich in der Folgezeit als problematisch für die politische Linke Frankreichs herausgestellt. Gleichzeitig hätten die vom „gauchisme culturel“ postulierten Ideen - wie ein freierer Umgang mit Sexualität oder neue Erziehungskonzepte - zur Implosion des „gauchisme politique“ und seinen politischen Zielsetzungen geführt. Während die Entwicklung des letzteren das Ende einer Epoche bedeute, signalisierten das Aufkommen und der Erfolg des „gauchisme culturel“ den Beginn einer neuen Zeit. Hier stellt sich - ohne dass Jean-Pierre Le Goff näher darauf eingeht - die Frage nach dem Verhältnis von Moderne und Postmoderne und die Rolle, die 68 darin spielt. Zur selben Zeit findet in Frankreich - wie Jean-Pierre Rioux bemerkt - eine Re-Ideologisierung des Mai 68 statt, die ihren vorläufigen Höhepunkt während des Präsidentenwahlkampfs im Jahr 2007 findet (Rioux 2008: 12). Halten wir fest: Je weiter wir uns vom historischen Ereignis 68 entfernen, desto mehr rücken seine Repräsentationen und die ihm zugeschriebenen Folgen, wie bereits Kristin Ross (2005: 7) festgestellt hat, in den Vordergrund. Diese Tendenz wird anlässlich des aktuellen Jubiläumsjahres noch einmal deutlich. 5. 2007/ 2008: 68 und seine langen Schatten Eigentlich - so kommentierte Volker Ullrich im Mai 2007 - müsste man angesichts der historischen Zäsur des 2. Juni 1967 zumindest in der Bundesrepublik von den ‚67ern’ sprechen (Ullrich 2007: 60). Dreißig Jahre nachdem erste Bilanzen gezogen wurden, nach dem Aufkommen des Etiketts ‚68’ in den achtziger Jahren und dem Rhythmuswechsel 1988, wird im Jahr 2007 wieder 1967 zum Fixpunkt für die öffentliche Erinnerung in Deutschland und zum Auftakt einer neuerlichen Publikationswelle. Der Grund: 2007 ist ein doppeltes Erinnerungsjahr, in dessen Verlauf der 2. Juni sich zum vierzigsten Mal und der 18. Oktober 1977 - Todestag Hanns Martin Schleyers - sich zum dreißigsten Mal jähren. Beide Daten gelten als Eckdaten des ‚roten Jahrzehnts’ (vgl. Koenen 2001). <?page no="33"?> Une ‚bataille de la mémoire’? 9 Das zweifache Erinnerungsjahr 2007 wurde mit der in den Massenmedien ausgetragenen Debatte um die Freilassung ehemaliger RAF- Terroristen sowie dem Aufflammen der bereits in den neunziger Jahren begonnenen Werteverfall-Diskussion auch doppelt von seiner Vergangenheit eingeholt. Auch in Frankreich ist ‚Mai 68’ vor dem eigentlichen Jubiläumsjahr 2008 in der Öffentlichkeit präsent. Eine Woche vor dem zweiten und entscheidenden Urnengang zur Wahl des neuen Président de la République, versammelt der UMP-Kandidat Nicolas Sarkozy am 29. April 2007 noch einmal seine Anhänger im Pariser Palais Omnisports de Bercy. Von seiner Rede ist im Nachhinein vor allem ein Anliegen in Erinnerung geblieben und vielfach zitiert worden: „liquider l’héritage“ von 68. 3 ‚Mai 68’ wird von ihm im Wahlkampf zu einem Symbol für die krisengeschüttelte und - in seinen Augen gescheiterte - Linke. Der Wähler hat zu entscheiden: entweder das Erbe von 68 (bzw. ‚die Linke’) setzt sich durch oder es wird ein für allemal - durch Sarkozy - ausgelöscht. Seine Rede wird zum Aufhänger für eine Reihe von Erinnerungsschriften ehemaliger Akteure, welche sich als Antwort auf ‚Bercy’ verstehen. Alain Geismar, ehemaliger Sprecher der linksextremen Gauche Prolétarienne hatte sich zuvor geweigert, über seine 68er-Erfahrungen zu schreiben, doch er sah sich angesichts der Äußerungen Sarkozys genötigt, seine Version von 68 zu veröffentlichen (Geismar 2008: 20). Geismars autobiographische Erinnerungen unterscheiden sich in ihrer Argumentation von der Mainstream- These des kulturellen Erfolgs und politischen Scheiterns der Bewegung. Als einer der wenigen insistiert er auf den genuin politischen Folgen, die sich in der langfristigen Demokratisierung hierarchischer Strukturen in Unternehmen und politischen Institutionen, aber auch in der Wiederaufnahme der Idee der autogestion widerspiegelten (Geismar 2008: 237; 242). Explizit wehrt er sich gegen die ihm als einseitig erscheinende Interpretation einer rein generationell bedingten und auf seine kulturellen Folgen reduzierten Jugendrevolte (Geismar 2008: 101; 239) Mit dieser Einschätzung stellt er sich gegen eine weithin vorherrschende Deutung. Große mediale Aufmerksamkeit wurde ihm nicht zuteil. Ganz anders verhält es sich bei André Glucksmann, einem der Nouveaux Philosophes der siebziger Jahre, der zusammen mit seinem Sohn Raphaël dem Kandidaten ebenfalls in Form eines Buchs antwortete: Mai 68 expliqué à Nicolas Sarkozy. Das Besondere daran ist, dass sich André Glucksmann, Ex- Maoist und wie Alain Geismar früheres Mitglied der Gauche Prolétarienne, von seinem 68er-Engagement distanzierte und sich bis zum Jahr 2007 zum offiziellen Unterstützer Nicolas Sarkozys entwickelte. Doch anders als Alain Geismar, der sowohl die politische Komponente der Bewegung hervorhebt als auch bisherige Tabus wie die bewegungsinterne Gewalt thematisiert, bemüht sich André Glucksmann in seinem philosophischen Essay ein fröhliches, gewaltfreies und spielerisches Bild des Mai 68 zu zeichnen. Seine 3 Zum tatsächlichen Wortlaut vgl. den Beitrag von Sybille Große in diesem Band. <?page no="34"?> Silja Behre 10 Sicht der Dinge entspricht der in Frankreich lange gehegten, sehr unpolitischen, romantisch-verklärenden Wahrnehmung der Ereignisse als Jugendrevolte. Aus dieser Sicht erklärt sich dann auch seine Antwort auf die Rede des von ihm unterstützten Präsidentschaftskandidaten, der Mai 68 zum Instrument im politischen Wahlkampf machte. Seine öffentliche Unterstützung für den Kandidaten der gaullistischen UMP - Glucksmann war während der Rede im Palais de Bercy anwesend - bringt ihn in Konflikt mit ehemaligen Weggefährten. In einem wenige Tage nach der Rede in der Zeitung Libération abgedruckten öffentlichen Brief bezichtigen sich Daniel Cohn-Bendit und Alain Geismar in einem enttäuscht-ironischen Ton, an Frankreichs kulturellem Verfall in der Folge von 68 schuld zu sein: Nous sommes coupables d’avoir fait souffler un vent de liberté et d’autonomie à la radio-télévision d’Etat d’alors; ce que semble regretter Nicolas Sarkozy. Nous sommes coupables d’avoir rêvé d’autonomie et de démocratie dans les écoles, les universités et les usines. Coupables d’avoir désiré la justice et l’égalité au travail comme à la maison; ce qui semble déranger Nicolas Sarkozy“ (Cohn- Bendit/ Geismar 2007). Zuletzt wenden sie sich direkt an André Glucksmann, den sie als „maître penseur sarkozyste“ bitten, sie selbst doch in seinem Sinne neu zu erziehen. Die neuerliche Politisierung des Mai 68 hat auch zu neuen Grabenkämpfen im Lager der ehemaligen 68er-Akteure beigetragen. Diese hier beispielhaft skizzierte Auseinandersetzung ist erneuter Ausdruck der in regelmäßigen Abständen in Autobiographien und im Feuilleton ausgefochtenen symbolischen Kämpfe um die Deutungshoheit der Ereignisse und ihrer Folgen. Wie bereits kurz angedeutet, gewinnt die in der französischen Diskussion lange Zeit tot geschwiegene und in der Bundesrepublik in der Erinnerung an 68 sehr präsente Gewaltfrage nach der Jahrtausendwende mehr und mehr an Bedeutung. Dabei ist es erstaunlich zu beobachten, inwieweit die bundesrepublikanische Entwicklung und der Terrorismus der RAF als Negativfolie dienen und erste Hinweise auf mögliche transnationale Erinnerungsprozesse geben. Während André Glucksmann die RAF als spezifisch deutsche Entwicklung sieht, die sich aus der NS-Vergangenheit erklärt und dadurch auch seine Deutung eines friedlichen, spielerisch-revolutionären Mai unterstreicht, spricht Alain Geismar die zu Beginn der siebziger Jahre durchaus reale Gefahr vieler Linker, in den Terrorismus abzugleiten, an, wobei ihn das Beispiel der Bundesrepublik davor habe zurückschrecken lassen (Geismar 2008: 211). Auffallend bleibt die Fokussierung der französischsprachigen Erinnerungsliteratur auf die 68er-Ereignisse in Frankreich und insbesondere auf die Mai-Ereignisse in Paris. In der Bundesrepublik wurde das zweifache Erinnerungsjahr 2007 mit der in den Massenmedien ausgetragenen Debatte um die Freilassung ehemaliger RAF-Terroristen sowie dem Aufflammen der bereits in den neunziger Jahren begonnenen Werteverfall- und Erziehungsdiskussion auch doppelt von seiner Vergangenheit eingeholt. <?page no="35"?> Une ‚bataille de la mémoire’? 11 Kai Diekmann, Chefredakteur der BILD-Zeitung, stellt in seiner im November 2007 veröffentlichten Streitschrift Der große Selbstbetrug 68 an den Pranger. Er fragt nach der ‚Verantwortung’ von ‚68’ für die aktuellen gesellschaftspolitischen Probleme der Bundesrepublik und beantwortet die Frage selbst. Der Tenor ist eindeutig: 68 ist schuld, sei es am gespannten Verhältnis der Deutschen zu ihrem Land, sei es an der Bildungspolitik. Allerdings stimmt diese Deutung mit der einiger Akteure in einem Punkt überein. Politisch sei 68 gescheitert, resümiert er im Schlusskapitel. Seine Argumentation erinnert an die bereits zu Beginn der neunziger Jahre geführte Diskussion über den ‚Werteverfall’ als Folge der antiautoritären Erziehung. Angesichts dieser Vorwürfe treffen sich vierzig Jahre nach den Ereignissen sechzehn ehemalige Akteure, darunter die Grünen-Bundestagsabgeordnete Krista Sager und der Spiegel-Redakteur Cordt Schnibben, für ein Wochenende wieder, ,rechnen ab’ und veröffentlichen ihre Gespräche in Buchform (Hannover/ Schnibben 2007). Ihr sich im Austausch vollziehendes gemeinsames Erinnern und Rekonstruieren der eigenen Vergangenheit vermittelt ein plastisches Bild des von Maurice Halbwachs beschriebenen kommunikativen Charakters der Erinnerung. Ihre Erinnerungen an die gemeinsam als Schüler in Bremen erlebten Ereignisse und deren Deutungen sind keineswegs einheitlich und konkurrieren mitunter. Doch die als prägend empfundenen Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der Rolle der eigenen Eltern, die Empörung über den via Fernsehbildschirm übertragenen Vietnamkrieg, die Lust an der Lektüre und der Provokation bei allen Teilnehmern fügen sich zu einem Grundmuster der Erinnerung zusammen. Es kommen durchaus auch selbstkritische Haltungen zum Ausdruck, die der jugendlichen Naivität von damals gelten. Auffallend gegenüber früheren Darstellungen ist die spürbare Tendenz, die 68er-Bewegung und ihre Folgen nicht mehr in ihrer gesellschaftlichen Dimension, sondern verstärkt in Bezug auf ihre Konsequenzen für das Individuum, für die eigene Biographie zu reflektieren. Zwar gilt 68 in den Darstellungen als Ausgangspunkt der persönlichen Politisierung, deren früherer ideologischer Rigorismus wird im Nachhinein aber verurteilt. Dagegen wird das kulturelle Erbe der Bewegung als bis heute positiv fortwirkender Bestandteil in die eigene Biographie eingewoben. Die Äußerung eines Zeitzeugen, der von seinen Schwierigkeiten berichtet, sich aus ideologisch vorgefestigten Strukturen zu befreien, zeugt von einem unter dem postmodernen Paradigma vollzogenen Wandel der Denk- und Wahrnehmungsschemata: „[...] ich betrachte die Welt und füge aus den Fundsachen meine Sicht auf die Dinge zusammen, von der Weltanschauung zur Weltbetrachtung“ (Hannover/ Schnibben 2007: 342). Während in den am Ende der siebziger Jahre erschienenen Rückblicken ehemaliger 68er-Akteure vor allem an die seitens der Polizei ausgeübte Gewalt erinnert wird, zieht sich seit der Erfahrung des RAF-Terrorismus die Frage der bewegungsinternen Gewalt während und in Folge der Ereignisse wie ein roter Faden durch die 68er-Rezeption und gewinnt im zweifachen <?page no="36"?> Silja Behre 12 Jubiläumsjahr 2007 an Brisanz. Zuletzt soll auf das Buch des Historikers Götz Aly hingewiesen werden, das unter dem Titel Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück für zahlreiche Echos und Diskussionen in Feuilleton und TV-Talkshows gesorgt hat. Seine These, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Aktionismus und den Protestpraktiken der nationalsozialistisch gesinnten Studenten sowie der jungen akademischen Elite, die am Ende der Weimarer Republik den Aufstieg Adolf Hitlers unterstützte, und den revoltierenden Studenten von 1968 gebe, die auf seine Veröffentlichung folgenden kontroversen Reaktionen offenbaren zwei dazu im Kontext der Erinnerung an 68 interessante Aspekte. Zum einen verdeutlicht die Debatte um Alys Neuerscheinung 2008 die Rolle von 1968 im bundesrepublikanischen Selbstverständigungsdiskurs, zum anderen verkörpert sie - wie auch die anderen angeführten Beispiele - den Deutungskampf um die Interpretation der Ereignisse und den ihnen zugeschriebenen Folgen. Was Pierre Bourdieu beispielhaft für das politische Feld gezeigt hat, illustriert ebenso die interpretatorischen Auseinandersetzungen um 68 (vgl. Bourdieu 2001). Diese können mit Bourdieu als symbolische Kämpfe „um die Bewahrung oder Veränderung der sozialen Welt durch die Bewahrung oder Veränderung der Sicht- und Teilungsprinzipien“ (Bourdieu 2001: 81) aufgefasst werden. In unserem Zusammenhang bedeutet das: Die hier nur angerissenen fortwährenden Interpretations- und Umdeutungsprozesse von 68 durch konkurrierende Akteure im kulturellen, aber auch im politischen Feld sind Mittel in einer Auseinandersetzung um die Wahrnehmung der sozialen Welt, die Positionierung innerhalb dieser Welt sowie ihre Veränderung. Um diese Prozesse analytisch zu erfassen, muss die Genese der Erinnerung an 68 in ihrem zeitgeschichtlichen Entstehungskontext, in ihren „cadres sociaux“ (Halbwachs 1994) untersucht werden. Dabei bieten die auf der Weiterentwicklung der Thesen von Halbwachs beruhenden Arbeiten, unter anderem von Jan und Aleida Assmann auf deutschsprachiger Seite sowie die Untersuchungen von Roger Bastide (1970) und Marie-Claire Lavabre (1994) in Frankreich, das methodische Handwerkszeug, um kollektive Erinnerungsmechanismen zu untersuchen. Die hier aufgezeigten thematischen Akzentuierungen und Ausblendungen sind Folgen der für die Konstruktion kollektiver Erinnerungsstrukturen typischen Homogenisierungstendenzen. Sie spiegeln Politisierungs- und Depolitisierungstendenzen in Bezug auf die Interpretation von 68 wider und werfen zahlreiche Forschungsfragen auf. Näher betrachtet werden müssten neben dem Wechselspiel politisierter und depolitisierter Wahrnehmungen auch die Frage nach den Konsequenzen postmoderner Wahrnehmungsschemata für die Interpretation der Deutungskämpfe um 68 und das Problem des Verhältnisses zwischen der Bewegung und ihren Folgen und dem Übergang zwischen Moderne und Postmoderne. Auch wenn hier die Frage nach thematischen Akzentuierungen im Mittelpunkt stand, heißt das nicht, dass es nicht noch andere Möglichkeiten der Auswertung von Selbstzeugnissen ehemaliger 68er-Akteure gibt, wie beispielsweise die Untersuchung mit <?page no="37"?> Une ‚bataille de la mémoire’? 13 literaturwissenschaftlichen Ansätzen aus der Autobiographie-Forschung oder die Anwendung sprachanalytischer Methoden, etwa auf den wechselnden Gebrauch der Begriffe ‚Revolte’ und ‚Revolution’ oder den Umgang mit Anführungszeichen. Zu überprüfen bleibt auch, ob der RAF-Terrorismus die einzige französische Bezugnahme in einem möglichen transnationalen Erinnerungsmechanismus ist. In diesem Sinne bildet dieser Beitrag nur einen Überblick möglicher Forschungsschwerpunkte oder, mit den 68ern gesprochen: Ce n’est qu’un début. Literaturverzeichnis Götz Aly, Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück, Frankfurt a.M. 2008. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 1999. Roger Bastide, Mémoire collective et sociologie du bricolage, Paris 1970. Rainer Bieling, Die Tränen der Revolution. Die 68er zwanzig Jahre danach, Berlin 1988. Pierre Bourdieu, Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001. Inga Buhmann, Ich habe mir eine Geschichte geschrieben, München 1977. Daniel Cohn-Bendit/ Reinhard Mohr, 1968. Die letzte Revolution, die noch nichts vom Ozonloch wusste, Berlin 1988. Daniel Cohn-Bendit/ Alain Geismar, Nous sommes tous de minables coupables..., in: Libération, 2.5.2007. URL: http: / / www.liberation.fr/ rebonds/ 251105.FR.php (1.8.2008). Régis Debray, Modeste contribution aux discours et cérémonies officielles du dixième anniversaire, Paris 1978. Frank Deppe (Hrsg.), 2. Juni 1967 und die Studentenbewegung heute, Dortmund 1977. Kai Diekmann, Der große Selbstbetrug. Wie wir um unsere Zukunft gebracht werden, München 2007. Robert Frank, 1968 - ein Mythos? Fragen an die Vorstellung und an die Erinnerung, in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998, 301-307. Alain Geismar, Mon Mai 68, Paris 2008. Ingrid Gilcher-Holtey, 1968 in Deutschland und Frankreich: Ein Vergleich, in: Etienne François/ Matthias Middell/ Emmanuel Terray/ Dorothee Wierling (Hrsg.), 1968. Ein europäisches Jahr? , Leipzig 1997, 67-77. André und Raphaël Glucksmann, Mai 68 raconté à ceux qui ne l’ont pas vécu, Paris 2008. Jean-Claude Guillebaud, Les années orphelines. 1968-1978, Paris 1978. Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1994. Hervé Hamon/ Patrick Rotman, Génération, Paris 1988. Irmela Hannover/ Cordt Schnibben (Hrsg.), I can’t get no. Ein paar 68er treffen sich wieder und rechnen ab, Köln 2007. Guy Hocquenghem, Lettre ouverte à ceux qui sont passés du col Mao au Rotary, Paris 1986. Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967- 1977, Köln 2001. <?page no="38"?> Silja Behre 14 Christiane Landgrebe/ Jörg Plath (Hrsg.), 68 und die Folgen. Ein unvollständiges Lexikon, Berlin 1998. Marie-Claire Lavabre, Le fil rouge. Sociologie de la mémoire communiste, Paris 1994. Marie-Claire Lavabre, Halbwachs: les fondements d’une sociologie empirique de la mémoire, in: Hermann Krapoth/ Denis Laborde (Hrsg.), Erinnerung und Gesellschaft/ Mémoire et société, Wiesbaden 2005, 233-246. Jean-Pierre Le Goff, Mai 68. L’héritage impossible, Paris 1998. Peter Mosler, Was wir wollten, was wir wurden. Zeugnisse der Studentenrevolte, Hamburg 1977. Tobias Mündemann, Die 68er und was aus ihnen geworden ist, München 1988. Jean-Pierre Rioux, L’événement-mémoire. Quarante ans de commémoration, in: Le débat 149/ 2008, 4-19. Kristin Ross, Mai 68 et ses vies ultérieures, Brüssel 2005. Lutz Schulenburg, Das Leben ändern, die Welt verändern. 1968 - Dokumente und Berichte, Hamburg 1998. Markus Schwingel, Analytik der Kämpfe. Macht und Herrschaft in der Soziologie Pierre Bourdieus, Hamburg 1993. Gerhard Schröder, Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder vom 10. November 1998 vor dem Deutschen Bundestag. URL: http: / / archiv.bundesregierung.de/ bpaexport/ regierungserklaerung/ 16/ 69116/ multi.htm (27.10.2008). Isabelle Sommier, Mai 68: Sous les pavés d’une page officielle, in: Sociétés contemporaines 20/ 1994, 63-82. Willibald Steinmetz (Hrsg.), Politik. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit, Frankfurt a.M. 2007. Volker Ullrich, Müssten die „68er“ in Wahrheit „67er“ heißen? , in: Die Zeit, 21/ 2007, 60. Henri Weber, Vingt ans après. Que reste-t-il de Mai 68? , Paris 1988. Jay Winter, Die Generation der Erinnerung. Reflexionen über den ‚Memory-Boom’ in der zeithistorischen Forschung, in: Werkstatt Geschichte 30/ 2001, 5-16. <?page no="39"?> Joseph Jurt Mai 68 in Frankreich: die Infragestellung der symbolischen Ordnung. Deutungen damals, Einschätzung heute 1. Ausgangspunkt 1968 war ich 28 Jahre alt. Trotzdem kann ich mich wohl nicht im vollen Sinne des Wortes als ‚68er’ bezeichnen. Ich war kein Akteur; ich war nicht mehr Student, sondern stand schon im Berufsleben als Lehrer. Ich verfolgte aber die Revolte der Studenten mit größtem Interesse. Während des ganzen Sommers 68 wohnten meine Frau und ich in der Cité universitaire in Paris, weil ich damals in der französischen Nationalbibliothek an einem kleineren Forschungsprojekt arbeitete. Hier bekam ich etwas vom ‚68er-Geist’ mit. Es war wohl relativ ruhig. Die Sorbonne wurde von Polizisten bewacht. Die gepflasterten Straßen im Quartier Latin waren mit Asphalt überdeckt worden. Aber etwas hatte sich verändert. Es herrschte ein Klima großer kommunikativer Offenheit. Jeder sprach mit jedem. Der Geist von 68 hat mich zweifellos beeinflusst. Ich hatte eine feste Anstellung als Lehrer. Ich hätte ein Leben lang auf dieser Stelle bleiben können. Hier in Paris empfand ich nun plötzlich Angst vor der Verbürgerlichung, Angst davor, dass sich nun das Leben immer auf denselben Gleisen bewegen, dass die Berufstätigkeit zur Routine würde. Darum begann ich mich umzusehen, bewarb mich für ein zeitlich beschränktes Forschungsprojekt, gab eine Stelle auf Lebenszeit auf und bewarb mich auf eine Assistentenstelle in Deutschland, die prekär war und die nicht die Sicherheiten bot, die ich vorher in der Schweiz genoss. Bereut habe ich es nicht. Ausgelöst wurde das alles sicherlich auch durch die ‚Ereignisse’ von 68. Es gibt wohl für jede Generation ein bestimmendes historisches Ereignis. Für unsere Generation war es der Mai 68. Aber auch für Kollegen, die etwas älter sind als ich, die damals schon Hochschullehrer waren, war 68 ein einschneidendes Ereignis. Letztes Jahr erschien unter dem Titel Romanistik als Passion ein umfangreicher Sammelband mit Zeugnissen von emeritierten Romanisten (vgl. Ertler 2007). Fast alle sprechen von 68 als einer traumatischen Erfahrung. In Freiburg publizierte die Universität im Rahmen des Jubiläums zu ihrem 550-jährigen Bestehen einen Band Erzählte Erfahrung. Nachdenkliche Rückblicke Freiburger Professoren aus den Jahren 1988 bis 2007. In der Einleitung schreibt der Rektor: „Bei beinahe allen hier versammelten <?page no="40"?> Joseph Jurt 16 Gelehrten [wirken] die Unruhen der 68-er Jahre nach. Die Stellungnahmen sind sowohl im Blick auf die Ereignisse selbst wie auf die hochschulpolitischen Folgen für die Universitäten einhellig vernichtend, mit [einer] Ausnahme, [die] [...] im Unterschied zu den meisten anderen Beiträgern, die Perspektive des damaligen Mittelbaus und der Studenten auszieht.“ (Schramm 2008: 8) Ich darf nun sagen, dass ich diese Einschätzung überhaupt nicht teile. Ich empfand und empfinde 68 als eine Befreiung. Man muss nur daran denken, wie eng und muffig die Verhältnisse vor 68 waren. Heute und eigentlich schon seit einiger Zeit gibt es eine starke Polemik gegen die sogenannten ‚68er’ (vgl. Audier 2008). In Deutschland stellt man eine nicht übersehbare Abrechnung mit der damaligen Revolte fest. Der Historiker Götz Aly, der selber damals mitmachte, vergleicht die Bewegung von 68 in einem Buch mit dem unzweideutigen Titel Unser Kampf (2008) mit der Bewegung der jungen Nationalsozialisten im Jahre 1933 - vor allem wegen des untoleranten Stils, der Stoßrichtung des Widerstands gegen das ‚System’ (vgl. auch Grottian/ Narr/ Roth 2008). Eine unsägliche Verkürzung! In Frankreich berief sich Nicolas Sarkozy im Wahlkampf auch auf linke Denker wie Jean Jaurès und Léon Blum. Wovon er sich aber ganz entschieden distanzierte, das war Mai 68. Dieses Erbe, das in seinen Augen für den Zerfall vieler Werte verantwortlich sei, wolle er „liquidieren“. Mit dieser Parole traf er die Befindlichkeit von Senioren, die ihre Angst von damals nicht vergessen hatten, nicht aber die der Mehrheit der Franzosen. Gemäß einer Umfrage im Magazin Le Nouvel Observateur solidarisieren sich heute 77% der Befragten in Frankreich mit den Studenten und den Streikenden von damals. Für 84% hat Mai 68 wichtige Folgen für die Gesellschaft gezeitigt. In der Bedeutungsskala rangiert Mai 68 gemäß dieser Umfrage noch vor dem Ende des Kalten Krieges, vor dem Algerienkrieg und vor dem Wahlsieg der Linken von 1981 (Etchegoin/ Courage 2008: 16). Serge July, selber ein Akteur der 68er-Bewegung, räumt ein, dass es objektiv gesehen, während der letzten fünfzig Jahre wichtigere Ereignisse gab, aber für die französische Gesellschaft habe damals zum letzten Mal eine Bewegung, die Art und Weise zusammenzuleben und die Zukunft zu denken, neu erfunden. Es habe für die Generation, die 68 erlebt habe, in der Folge kein wichtigeres Ereignis gegeben (July 2007: 7). Historiker vergleichen Mai 68 in Frankreich heute mit der Französischen Revolution. Auch an diesem Ereignis entzündet sich eine heftige Debatte für und wider, die belegt, dass 1968 noch nicht historisch geworden ist. Die so heftigen Reaktionen zeigen, dass Mai 68 zu einem Kristallisationspunkt von sozialen Phantasmen geworden ist, denen man aber heute durch eine historische Analyse begegnen muss. <?page no="41"?> Mai 68 in Frankreich 17 2. Deutungen von damals (1969) Die Auseinandersetzung mit Mai 68 begann schon unmittelbar danach. Bereits 1969 zählte man 80 Bücher über die Mai-Ereignisse. In der Schule, in der ich damals unterrichtete, bat man mich um einen Vortrag über die Studenten-Revolte in Frankreich, der dann im Juni 1969 in zwei Wochenendausgaben der Zeitung Vaterland meiner Heimatstadt veröffentlicht wurde. Ich habe den Artikel im Archiv der Zeitung wiedergefunden und blicke nun mit einem gewissen archäologischen Interesse auf das zurück, was ich damals geschrieben habe (Jurt 1969). In der Einleitung schrieb ein Redakteur der Zeitung: „Die Analyse der Ereignisse selber, die im Mai 1968 Frankreich erschüttert haben, ist in vollem Gange. Dass dabei auch die Stimme der Jungen selber gehört werden muss, selbst wenn sie nicht in allem unsere Zustimmung finden sollte, scheint uns selbstverständlich zu sein. Der Verfasser des nachfolgenden Berichts hat einen Teil seiner Studien an der Sorbonne absolviert; er lebte zeitweilig in der Pariser Cité Universitaire. Wir betrachten seine Darlegungen als Diskussionsbeitrag.“ Im Beitrag untersuchte ich zunächst Ursachen der Studentenunruhen, um dann die Ereignisse selber zu analysieren. Zunächst zu den Ursachen. Zuerst wurde der internationale Charakter der Studentenbewegung unterstrichen: Die Studentenbewegung sei ein globales Phänomen. Es sei abwegig, in den Studentenunruhen nur eine bürgerliche Revolte, eine Dekadenzerscheinung des Spätkapitalismus sehen zu wollen. Wie könnte man sich dann den Aufstand der tschechoslowakischen, polnischen, jugoslawischen Studenten erklären, die doch unter einem sozialistischen Regime geboren sind. Studenten in Ost und West wollten dasselbe: Freiheit der Kritik und Selbstbestimmung, eine freiere und bessere Welt. Die Studentenbewegung ist international, sie richtet sich nicht gegen ein Regime, eine politische Richtung, sondern einen Lebensstil, einen Lebensstil, der durch die Welt der Technik und die Produktionsforderungen der fortschrittlichen Industriegesellschaft geprägt wird. Die Struktur der westlichen und der östlichen Länder ähnelt sich viel mehr als die Ideologen wahrhaben wollen. Herbert Marcuse hat seit langem auf diese Verwandtschaft hingewiesen. In seinen Augen sei auch die westliche Gesellschaft wegen der ökonomischtechnischen Gleichschaltung durch die Manipulation der Bedürfnisse totalitär. Die Studenten lehnen diese ganze Gesellschaft ab. Einzelne Ereignisse seien bloß Auslöser der Revolte: so der Vietnamkrieg und die Rassenfrage in den USA, die Notstandsgesetze und die Manipulation der Massen durch den Springerkonzern in Deutschland, ein völliges Fehlen der Ausdrucksfreiheit in Polen, die schlechten Wohnverhältnisse in den Studentenheimen in Prag, die Besetzung der Sorbonne durch die Polizei am 3. Mai 1968 in Frankreich. Bei der Analyse der Ursachen in Frankreich wurde zuerst auf den Ausgangspunkt Nanterre mit der Bewegung des 22. März von Daniel Cohn- Bendit hingewiesen. Die Besetzung der Universität sei schon ein Jahr zuvor <?page no="42"?> Joseph Jurt 18 in Godards prophetischem Film La Chinoise vorausgesehen worden (vgl. de Baecque 2008a). In der von Bidonvilles umgebenen Universität werde die Entfremdung von Universität und Gesellschaft besonders offensichtlich (vgl. Lemire 2008). Als zweiter Grund wurde die Diskrepanz zwischen den wachsenden Studentenzahlen und den unsicheren Berufschancen erwähnt. Viele Studenten wüssten nicht, ob sie mit ihrer eingeschlagenen Studienrichtung einen Broterwerb finden würden. Diese soziale Unsicherheit schaffe ein revolutionäres Bewusstsein, das sich gegen die bestehende Gesellschaft richte. Schließlich wurde die zentralistische Universitätsstruktur angeführt. Sie werde von einer autoritären Administration beherrscht. Der Aufstand der Studenten sei so ein teils emotionaler, teils rationaler Protest gegen die immer unentrinnbareren Zwänge einer durch und durch verwalteten Welt. Der Zerfall der Studentengruppierungen wurde als ein letzter Grund aufgeführt. Das Studenten-Syndikat UNEF wurde von der Regierung nicht mehr als repräsentativ anerkannt. Die KP hatte ihren Studentenverband (UEC) an die Kandare genommen. Der Zerfall der Studentenorganisationen und die daraus resultierende Heimatlosigkeit der Studenten sei einer der Hauptgründe des Ausbruchs der Maiunruhen. Nun zur Analyse der Ereignisse selber. Schon damals wurde deren historische Bedeutung unterstrichen. Dazu bloß einige Zitate (nach Jurt 1969): „Eine ungestüme und selbstlose Jugend begeistert sich für die öffentliche Sache wie nie seit einem Jahrhundert.“ (Pierre Abraham, Europe) „Die ganze Gesellschaft von oben bis unten wurde erschüttert wie nie seit der Befreiung im Jahre 1944.“ (Jean-Marie Vincent, Les Temps Modernes) „Wir haben soeben die erste Phase der ersten post-marxistischen Revolution in Westeuropa erlebt.“ (Esprit) Hinsichtlich der Charakteristika der Mai-Ereignisse unterschied ich vier Aspekte. 1. Der Aufstand war in erster Linie eine spontane Aktion. Er entsprang nicht einem vorbereiteten Plan, setzte nicht eine Ideologie in die Tat um. Die Ereignisse waren selbst für die Studenten unerwartet. In der Aktion einten sich Studenten, die sich in keiner Diskussion einig waren. 2. Der transitorische Charakter, den der Studentenstatus mit sich bringt, erklärt dann den weitgehend symbolischen Charakter ihrer Aktionen. Die Besetzung der Sorbonne am 13. Mai wurde zu einem großen Fest des Wortes, wo in endlosen Diskussionen direkte Demokratie gespielt wurde. Am 13. Mai führten die Studenten die Arbeiter in einer gewaltigen Demo von Denfert-Rochereau ins Quartier Latin und öffneten ihnen so einen Bereich, der vorher ein gutbürgerliches Ghetto war. Am 17. Mai marschierten die Studenten zu den Renault-Werken und stellten so den Brückenschlag zur Arbeiterklasse her. Am 15. Mai wurde das Odéon als „Bastion des bürgerlichen und gaullistischen Kulturlebens“ gestürmt. Am 24. Mai entfachten Studenten in der Börse als dem „Tempel des Kapitalismus“ ein Feuer. In den Straßenschlachten errichteten die Studenten Barrikaden aus <?page no="43"?> Mai 68 in Frankreich 19 Pflastersteinen - ein Symbol der Kämpfe des 19. Jahrhunderts. Alle diese Aktionen waren ohne bleibende Wirkung; sie funktionierten bloß als Zeichen. 3. Der studentische Protest verstand sich als Kritik an der Gesellschaft schlechthin. Die kulturelle Debatte mündete in eine soziale und politische Kritik. Der Protest weitete sich aus in eine Ablehnung der gesamten Konsumgesellschaft, die die Freiheit einschränkte. Die Studenten forderten die Rechte der Person ein und protestierten gegen die Entpersönlichung durch eine geschlossene, hierarchische Gesellschaft. 4. Schließlich ortete ich in der Revolte auch eine Suche nach spirituellen Werten. Die Maikrise, so sagte Malraux auf Radio Europe 1 im Juni 1968, „offenbarte die pathetische Suche nach neuen Werten der Zivilisation in einer Welt, die sich plötzlich dieser Werte beraubt sieht und daran erstickt.“ 3. Die Einschätzung heute Was ist angesichts der historischen Distanz und der neueren Untersuchungen von der Analyse von 1969 zu halten, die ja nicht so sehr eine persönliche war, sondern den Diskussionsstand ein Jahr nach den Ereignissen wiedergab? Zweifellos würde man die sehr allgemeinen Ausführungen über den totalitären Charakter der Gesellschaft in Ost und West heute differenzieren. Serge July führt etwa auch frankreichspezifische Gründe an. Frankreich hatte sich seit 1945 innerhalb kürzester Zeit modernisiert. Hochgeschwindigkeitszüge, das Überschallflugzeug Concorde, die Atomkraftwerke zeugten davon. Im Alltagsleben blieben die traditionellen autoritären Strukturen jedoch bestehen. In den gaullistischen Milieus ebenso wie innerhalb der Kommunistischen Partei (July 2007: 9). Man würde sich auch nicht mehr auf die Mai-Ereignisse allein konzentrieren. Heute weiß man, dass sich ein gesellschaftlicher Wandel schon seit dem Beginn der sechziger Jahre abzeichnete. In einem Beitrag im Sammelband Mai-Juin 68 über die Formen der häuslichen Herrschaft wird eine erste Lockerung in den sechziger Jahren festgestellt: die Kinder werden früher eingeschult; Körperstrafen werden verpönt. Frauen durften - endlich! - ab 1964 ohne die Erlaubnis des Mannes ein Konto eröffnen und einen Pass beantragen. Das Ordnungsdispositiv war schon vor 1968 Gegenstand eines Aushandelns (vgl. Memmi 2008). Die symbolische Ordnung bekam auch Risse im Bereich der Hochschule, die vorher einer sozialen Elite vorbehalten war. Von 1960 bis 1967 nahm die Studentenzahl in Frankreich um 130 Prozent zu. Die Demokratisierung erwies sich indes als trügerisch. Die beiden Soziologen Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron stellten in ihrer damals vielbeachteten Untersuchung Les héritiers (1964) fest, dass das Studium nicht per se die soziale Mobilität förderte, da das kulturelle Kapital des Ursprungsmilieus für den Erfolg entscheidend blieb (vgl. Pudal 2008; Chapoulie/ Kourchid/ Robert/ Sohn <?page no="44"?> Joseph Jurt 20 2005). Der ab 1965 einsetzende studentische Anti-Imperialismus im Kontext des Vietnamkrieges war nicht eine Weiterführung des früheren Antikolonialismus, sondern wurde durch die sich nun ausbildenden trotzkistischen und maoistischen Gruppen strukturiert. Zu den politisiertesten Gruppen zählte die 1956 gegründete Studentenorganisation Union des Etudiants Communistes (UEC), die auf ihrem Höhepunkt etwa 6000 Mitglieder zählte und mit ihrer Zeitschrift Clarté große Resonanz fand. Die Organisation verfolgte aber eine relativ autonome Linie gegenüber der KP, die die Gruppe wieder der Parteidisziplin unterordnen wollte. Das gelang 1965 durch den Ausschluss oder den Austritt fast der Hälfte der Mitglieder, von denen sich viele unter den Aktivisten des Mai-Aufstandes wiederfanden, während die KP mit ihren autoritären, teilweise stalinistischen und gleichzeitig puritanischen Methoden der Studentenrevolte wenig abgewinnen konnte (vgl. Matonti/ Pudal 2008). Wenn ähnlich wie für die Französische Revolution nach den intellektuellen Ursprüngen der Mai-Revolte gefragt wird, so stellt man eine große Resonanz des kritischen Denkens fest (Marcuse, Paul Nizan, Frantz Fanon) und zugleich auch neue kostengünstige Formen der Verbreitung etwa durch den Verlag Maspero. Hinsichtlich des Wandels, der sich nun in den sechziger Jahren abzeichnet, verweist Frédérique Matonti auf die Verschiebung der Grenze zwischen dem Normalen und dem Pathologischen. Schon der Wissenschaftshistoriker Canguilhem hatte diese Frage aufgegriffen; für seinen Schüler Michel Foucault stand sie vor allem in seiner Histoire de la Folie von 1961 im Zentrum. Diese Forschungen führten dazu, die Formen sozialer Repression in den ‚Irrenhäusern’ und in den Gefängnissen anzuklagen. Der Strukturalismus, der ab den sechziger Jahren den Existentialismus ablöste, wurde immer wieder als unpolitisch eingestuft. Dieselbe Autorin zeigt aber auf, dass diese Denker (Foucault, Roland Barthes, Jacques Lacan, Louis Althusser), die an marginalen Institutionen lehrten und sich gegen die herrschenden akademischen Tendenzen wendeten, damals nicht nur als intellektuell, sondern auch als politisch radikal rezipiert wurden. Foucaults Denunzierung des Humanismus als eine Ideologie, etwa in Les mots et les choses (1966), fand hier durchaus Gehör und Althussers strukturalistische Marx-Lektüre erschien als Garantie der politischen Dimension des Strukturalismus (vgl. Matonti 2008). Die symbolische Dimension der studentischen Aktionen wird auch heute hervorgehoben. Mit den Kategorien des Soziologen Erving Goffman (1971) kann man durchaus eine Logik der Demonstrationen erfassen. Bei den Demonstrationen ging es um Präsenz an Orten im öffentlichen Raum, denen eine symbolische Bedeutung zukommt. Zunächst kämpften extreme Rechte und extreme Linke um den Raum der Universität in Nanterre und dann an der Sorbonne. Das Eindringen der Polizei in die Universität wurde als Profanation empfunden. Die Bereiche der Herrschaft - das Parlament, der Elysée-Palast, das Fernsehgebäude - wurden von den studentischen Demonstrationen verschont. Die Gewalt der Ordnungskräfte gegen die <?page no="45"?> Mai 68 in Frankreich 21 Studenten während der Barrikadennacht vom 10. auf den 11. Mai weckte die Solidarisierung der Gewerkschaften, deren Demonstration von ‚ihrem‘ Raum, der Place de la République, ausging. Die große gaullistische Demonstration vom 30. Mai verstand sich als Antwort und fand bezeichnenderweise auf der offiziellen Prachtstraße, den Champs-Elysées statt (vgl. Mathieu 2008). Von der Mai-Revolte haben sich vor allem die Bilder der Pflastersteine werfenden Studenten und der die Manifestierenden niederschlagenden CRS (vgl. Jobard 2008) eingeprägt. Gleichzeitig betonen damalige Akteure, dass sich die Gewalt in Grenzen hielt. Das Faktum, dass die Unruhen sich im Wesentlichen auf das Quartier Latin beschränkten, belegt nach Daniel Cohn- Bendit, dass es sich um eine Revolte und nicht um eine intendierte Machtergreifung gehandelt hatte (Cohn-Bendit 2008: 44f.). Es gab wohl bei den Ordnungskräften fast 2000 Verletzte und bei den Demonstranden etwa 1500. Ein Polizist wurde in Lyon getötet, zwei Arbeiter kamen in den Peugeot-Werken in Sochaux um und ein Gymnasiast, der den Polizisten entkommen wollte, ertrank in Flins. Serge July betont aber, dass es auf beiden Seiten eine Selbstbeschränkung der Gewalt gab und dass während der ganzen Unruhen kein Schuss fiel. 1 Schließlich entstanden im Anschluss an die Studentenrevolte in Frankreich keine terroristischen Vereinigungen wie die Roten Brigaden in Italien (vgl. Girard 2008) und die RAF in Deutschland (vgl. Linhardt 2008). Dieses Faktum wurde unter anderem auch darauf zurückgeführt, dass die Bewegung Gauche prolétarienne die Gewalt zu kanalisieren verstand und dass die Polizei subtile Infiltrationsmethoden anwandte (vgl. Zancarini-Fournel 2008a). Bei der Frage nach den Bildern von Mai 68, die sich den Zeitgenossen eingeprägt haben, sind es die Barrikaden und die Sorbonne, die Gegen- Demonstration auf den Champs-Elysées und ganz am Schluss die besetzten Renault-Werke. Es ist in der Tat erstaunlich, dass dieser Streik - der größte Streik Frankreichs mit neun Millionen Streikenden während drei Wochen - sich so wenig ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat. Der Generalstreik zur Volksfrontzeit blieb in der Erinnerung haften, weil er mit einem politischen Sieg einherging, während 1968 die Gewerkschaften sich auf quantitative Forderungen beschränkten, indes die Wahlen von Juni 1968 einen Kontersieg der Gaullisten brachten. 1936 war die Arbeiterklasse zu 1 “De manière spontanée, il y a eu une autolimitation de la violence de la part des manifestants, décrétée et acceptée par tous, à travers tout le pays. L’irréparable n’a pas eu lieu: la rue est tout, sauf folle […]. Aucune arme à feu ne fut utilisée durant les semaines de Mai. Le même phénomène se retrouve parmi les forces de l’ordre qui, sous la responsabilité du Premier ministre Georges Pompidou et du préfet de Paris Maurice Grimaud, cherchent à éviter à tout prix le dérapage catastrophique qui transformerait la révolte en insurrection. A Paris, personne ne tire, ni les policiers ni les bâtisseurs de barricades, tandis que la Garde nationale tire à plusieurs reprises aux Etats-Unis, que la police réprime dans le sang des manifestations étudiantes en Pologne, au Brésil, au Mexique, en Italie, en Allemagne.” ( July 2007: 1) <?page no="46"?> Joseph Jurt 22 einem Akteur geworden, nach 1968 fragmentierte sie sich immer mehr (vgl. Pudal/ Retière 2008; Vigna 2008a). Dass der Umbruch von Mai/ Juni 1968 alle Sphären der Gesellschaft erfasste, konnte man erst aus der Langzeitperspektive erkennen: Das wird belegt für den Bereich der Kunst und der Architektur, wo das alte Rollenverständnis hinterfragt und die Kreativität aller gefördert wird (vgl. Violeau 2008), für den Bereich des Films (vgl. Mariette 2008/ de Baecque 2008b), der Schule und der Hochschule, wo eine autoritäre Pädagogik in Frage gestellt wird zugunsten innovativer pädagogischer Experimente (vgl. Damamme 2008/ Laval 2008). Selbst im Bereich der politischen Macht wird eine Veränderung festgestellt. Nach den Mai-Ereignissen zeitigte die charismatische Machtausübung durch de Gaulle nicht mehr dieselbe Wirkung; eine egalitärere politische Ordnung setzte sich unter Pompidou durch (vgl. Gaiti 2008). Boris Gobille, einer der Herausgeber des Sammelbandes Mai-Juin 68, wendet sich so dagegen, Mai/ Juni 68 nur als Generationenkonflikt, als Lockerung der Sitten, als ludischen Hedonismus zu sehen. In seinen Augen wurde hier die gesamte symbolische Ordnung in Frage gestellt, die gängige vertikale und horizontale Arbeitsteilung, die jedem eine bestimmte Rolle und Funktion zuweist. Davon zeugten die bisher verkannten neuen Beziehungen zwischen Studenten und Arbeitern, die Aufhebung der Barrieren zwischen Fachleuten und Laien, die neue Wertschätzung der Kreativität, die auch das alltägliche Leben verändern sollte (vgl. Gobille 2008). All das scheint der Historiker Michel de Certeau damals übersetzt zu haben, als er schrieb: „On a pris la parole comme on a pris la Bastille en 1789.“ (zit.n. Artières 2008: 373) Es gibt zweifellos eine ganze Reihe von empirisch feststellbaren sozialen Veränderungen in der Folge der Legitimitätskrise von 1968. Die gauchistischen Bewegungen wandten sich nun neuen Problematiken zu, so der Entfremdung der Arbeiter und ihrem Streben nach Autonomie (vgl. Sommier 2008; Brillant 2008). Innerhalb der Arbeiterschaft ließ sich eine Opposition gegenüber autoritären Strukturen der Betriebe und der Bevormundung durch Gewerkschaftsverantwortliche feststellen (vgl. Vigna 2008b; Hatzfeld 2008). Auch die Medien, die unter einer massiven staatlichen Kontrolle standen, so vor allem das Fernsehen, veränderten sich hinsichtlich des Stils, aber auch durch größere Professionalität, was eine stärkere Politisierung keineswegs ausschloss (vgl. Zancarini-Fournel 2008b; Lagneau/ Léveque 2008). Selbst bei den jungen Bauern manifestierte sich ein neues Berufsverständnis, das sich in neuen genossenschaftlichen Praktiken äußerte (vgl. Bruneau 2008). Im Bereich der Schule ging es darum, nicht mehr Wissen einzutrichtern, sondern die Schüler als verantwortliche Personen zu betrachten, die man auf ein eigenständiges Erwachsenenleben vorbereiten musste (vgl. Pagis 2008). Im Kontext der sechziger Jahre ließ sich zweifellos eine Lockerung der vormals so strengen Sitten feststellen. Peace and love waren schon <?page no="47"?> Mai 68 in Frankreich 23 Schlüsselbegriffe der Beat-Generation in Kalifornien gewesen. Wenn in Frankreich mit dem Ende des Algerienkrieges (1962) eine Zeit des Friedens eingeläutet wurde, so bedeutete dann das Ende dieses Jahrzehnts auch das Ende einer kleinbürgerlichen, verschlafenen Periode. Es war bezeichnend, dass die Studentenrevolte in Nanterre sich an der Forderung der Studenten nach freiem Zugang zu den Zimmern der Kommilitoninnen in den Studentenheimen entzündete! Die meisten schulischen Einrichtungen waren damals noch nach Geschlechtern getrennt. Erst 1967 wurde ein Gesetz über die Empfängnisverhütung („Loi Neuwirth“) vom Parlament verabschiedet, allerdings zunächst mit drakonischen Einschränkungen. Eine junge Frau unter 21 Jahren brauchte für ein Pillen-Rezept das Einverständnis der Eltern (vgl. Rebreyend 2008). Wenn sich im Mai/ Juni 68 die jungen Frauen massiv an den Demonstrationen beteiligten, so wurden ihnen doch keine führende Positionen zugebilligt. Dann aber bildete sich an der Sorbonne die Gruppe Féminin masculin avenir (FMA), die mit den in Paris lebenden amerikanischen Feministinnen des Women’s Lib in Kontakt stand. Die Geburtstunde einer breiteren Bewegung, des Mouvement de libération des Femmes (MLF), war der 26. August 1970, als Frauen am Grab des Unbekannten Soldaten einen Kranz für die „unbekannte Frau des Soldaten“ niederlegten (vgl. Rochefort 2008a). Die Frauen optierten auch für radikalere Protestformen, so wie sie im Mai 68 in der Studentenbewegung erprobt wurden. Beim MLF handelte es sich um eine relativ lose Struktur, die die Formen männlicher Herrschaft klassenübergreifend bekämpfen wollte. Der Kampf für die Legalisierung der Abtreibung bildete eine der Hauptachsen des Kampfes, vor allem auch mit dem „Manifeste des 343 salopes“ vom April 1971, das auch Simone de Beauvoir unterzeichnete (vgl. Zancarini-Fournel 2008a; Fournier 2008). In der Folge bildete sich eine eigene Bewegung, die das Recht der Frauen auf ihren Körper verteidigte: das Mouvement pour la liberté de l’avortement et de la contraception (MLAC). Der Erfolg stellte sich dann dank politischer und professioneller Unterstützung (in der 68er-Bewegung involvierter junger Ärzte des Groupe d’information santé [GIS]) (vgl. Garcia 2005) ein mit der Proklamierung des Gesetzes vom Januar 1975, das den Schwangerschaftsabbruch innerhalb einer Zehnwochenfrist legalisierte. Wenn die Frauenorganisationen in der Öffentlichkeit auf die zahlreichen Diskriminierungen aufmerksam machten, unter denen Frauen zu leiden hatten, so lösten sie auch auf der individuellen Ebene bei den Frauen einen Bewusstwerdungsprozess aus, der sie ermunterte, ihre Rechte wahrzunehmen, und eröffneten so einen Raum der Möglichkeiten, der vor 68 noch nicht denkbar war. Catherine Achin und Delphine Naudier konnten das sehr schön in einer Fallstudie zu Auxerre aufzeigen (vgl. Achin/ Naudier 2008). Das neue kulturelle Klima artikulierte sich so auch in einem neuen Verständnis des Körpers. Im Laufe der sechziger Jahre hatten sich neue ‚Körper-Praktiken’ entwickelt, die die traditionellen Normen überschritten (vgl. Rochefort 2008b) und die als Zeichen einer Gegen-Kultur galten, die <?page no="48"?> Joseph Jurt 24 später allerdings von der Mode und der Konsumindustrie vereinnahmt wurden. Zuerst manifestierte sich der Wandel etwa in den Frisuren der ‚braven’ Rebellen, der Beatles, bis hin zu viel radikaleren körperlichen Manifestationen einer Jugend-Kultur. Mit den Monokinis äußerte sich eine neue Haltung zum Körper, die von einer puritanischen Umwelt als Provokation betrachtet, dann aber auch von der Werbeindustrie aufgegriffen wurde, die den erotisierten Körper der Frau zu ihrem bevorzugten kommerziellen Vektor machte. 2 Die Disziplinierung des Körpers durch Schule, Familie, Fabrik, Gefängnis wurde nun wahrgenommen und in Frage gestellt. In den Gymnasien revoltierten die Schüler gegen die strikten Normen (Hosenverbot für Mädchen, Verbot der langen Haare für Jungen). Wenn die Gauchisten durchaus noch eine ‚revolutionäre’ Disziplin vertraten, so plädierte Raoul Vaneigem von der situationistischen Bewegung in seinem Traité de savoirvivre à l’usage des jeunes générations (1967) für Freiheit und Genuss und widersetzte sich mit politischen Kriterien einem System des Zwanges und der Unterdrückung. Die Begeisterung für eine sanfte Gymnastik und für Kurse in Ausdruckstanz belegten eine analoge Tendenz. Theoretisch begleitet wurde die Bewegung durch Foucaults Analyse in Surveiller et punir (1975), der die vielfältigen Formen einer Biopolitik aufzeigte, die sich in die Diskurse, in das Wissen und das Begehren einschlichen. Auch Pierre Bourdieus Habitus-Begriff ging davon aus, dass sich Herrschaftsstrukturen und namentlich auch die männliche Herrschaft in den Körper einschreiben (Jurt 2008: 58-69). Der im Mai 68 initiierte Wandel war vor allem kultureller, und nicht so sehr politischer Natur. Serge July, der damals zu den extrem linken Akteuren gehörte, gesteht heute gegen seine damaligen Überzeugungen ein, dass der Wandel vor allem kultureller Art war. 3 Auch Daniel Cohn-Bendit unterstreicht die dominante libertäre Dimension gegenüber den maoistischtrotzkistischen Positionen. Die 68er-Bewegung sei zuerst eine Bewegung für die Autonomie und die persönlichen Lebensentscheidungen der Individuen gewesen. „Le début des années 68 est en réalité, et avant tout, une révolte pour la vie quotidienne, la musique, le rapport entre les hommes et les 2 Zu dem 1965 vom Modeschöpfer André Courrèges lancierten minijupe siehe Elodie Nowinski (2008). Die Autorin fragt sich allerdings, ob die minijupe vor allem einem männlichen Begehren entgegenkommt oder als selbstbewusste Affirmation des eigenen Körpers zu interpretieren ist. 3 „L’histoire est amère pour tous les généraux du gauchisme (dont je fus) qui planifiaient d’inévitables révolutions et qui ont assisté, impuissants, à la naissance d’un nouveau monde qui leur tournait le dos en pleurant de rire et en leur faisant des grimaces, en réalisant certains de leurs rêves les plus chers au prix de nouvelles aliénations […]. Les révoltés d’hier ne sont pas devenus pour autant des politiciens […]. En France, la génération de 1968 est restée du côté de la société, de la culture, de l’entreprise.” (July 2007: 13) <?page no="49"?> Mai 68 in Frankreich 25 femmes, la vie, la sexualité, la libération. C’est cela qui fait 68 ...“ (Cohn- Bendit 2008: 50). Diese Dimension äußerte sich auch in den zahllosen Graffitis, in deren Poesie sich die Revoltierenden wiedererkannten. Die Mauern von Paris, so Cohn-Bendit, beschützten die Anonymität des Dichters, aber der Dichter sprach zu jedermann und jeder fand sich darin wieder (Cohn-Bendit 2008: 20f.). Nach Cohn-Bendit war sich die 68er-Bewegung einig in ihrem Ziel: die Freiheit für das Volk von Vietnam, Freiheit für jeden Einzelnen. Wo man sich nicht mehr einig war, das war hinsichtlich der Frage nach dem Weg, der zu einer freieren Gesellschaft führen könne. Die maoistisch-trotzkistischen Gruppen orientierten sich am Modell der chinesischen Kulturrevolution, an Vietnam, ohne sich um die stalinistischen Methoden von Ho Chi Minh zu kümmern. Wieder andere plädierten für das kubanische Modell, ohne die Freiheitsfrage zu stellen. „Bref, ces groupuscules ont une conception politique révolutionnaire de la révolte qui les amène à des propositions de société abominables.“ (Cohn-Bendit 2008: 50) Boris Gobille hat das, was Cohn-Bendit im Rückblick spontan formulierte, konzeptualisiert. Aus der Analyse der diskursiven Produktion des Mai 68 gehe hervor, dass sich im Laufe der ‚Ereignisse’ ein Konflikt innerhalb der involvierten politischen Gruppierungen und Aktionskomitees abzeichnete. Den traditionellen marxistisch-leninistischen revolutionären Modellen machte eine immer stärker werdende ‚Künstlerkritik’ die symbolische Autorität streitig (vgl. Gobille 2004; 2005). Das Konzept ‚Künstlerkritik’ ist von Luc Boltanski und Eve Chiapello in die Diskussion eingebracht worden. 4 Innerhalb der Mai-Bewegung standen sich so zwei Idealtypen eines revolutionären Imaginären gegenüber: Der erste Typus, immer nach der Analyse von Boris Gobille, war der der außerparlamentarischen linksextremen Gruppierungen. Das Bezugssystem war hier die Oktoberrevolution und die leninistische Theorie. Das Proletariat galt als das zentrale revolutionäre Subjekt. Der Marxismus wird hier vor allem in der Lesart von Lenin, Trotzki oder Mao rezipiert. Der zweite Typus des revolutionären Imaginären wurde von den Studenten getragen, die sich nicht im Rahmen linksextremer Gruppierungen mobilisierten. Die Bezugnahme auf den ‚Marxismus’ äußerte sich vor allem in der Form der Künstlerkritik am Kapitalismus. „Kritisiert werden die fortschreitende Umwandlung der Welt in eine reine Warenwelt, die Entzauberung des 4 Die ‚Künstlerkritik’ artikulierte sich erstmals unter der Julimonarchie in Frankreich, als es dem Bürgertum gelang, gleichzeitig die ökonomische und die politische Macht zu erobern. Die Künstlerkritik konzentrierte sich vor allem auf die Engstirnigkeit, die ‚Dummheit’ des Bürgertums (siehe etwa die Korrespondenz Gustave Flauberts), die schöpferische Einfallslosigkeit, die Unterwerfung unter das Nützlichkeitsprinzip. Die Opposition gegen den bürgerlichen Mief artikulierte sich im Lebensstil als bohémien oder als Dandy, vor allem aber in der Konzeption des l’art pour l’art, die den wirtschaftlichen Erfolg als für die Kunst kompromittierend einschätzte (vgl. Chiapello 1998; Boltanski/ Chiapello 1999). <?page no="50"?> Joseph Jurt 26 Alltags und die Unechtheit der menschlichen Beziehungen. Die Losungen lauten: Befreiung der Sprache und Befreiung der schöpferischen Kraft, sexuelle Befreiung und Selbstverwaltung (autogestion).“ (Gobille 2004: 177) Die Kritik richtet sich gegen Institutionen, Organisationen, Hierarchien und Autoritäten. Historische Referenz sind die ‚Räte’ - von der Pariser Kommune bis zu den katalonischen Räten von 1936. Mit der Losung „Das Leben verändern“ beruft man sich auf Rimbaud und André Breton, auf den Surrealismus und die Situationisten (vgl. Chollet 2008). Der Begriff der Avantgardepartei wird abgelehnt und die theoretische Reflexion als nicht so bestimmend angesehen. Wenn Denker bemüht werden, dann eher Freud, Wilhelm Reich, die Frankfurter Schule oder Henri Lefebvre als Lenin oder Mao. Als Inkarnation einer ‚permanenten Revolution’ erscheint Che Guevara. Die Sozialkritik wird nicht abgelehnt, tritt aber hinter der Künstlerkritik zurück. Das Konzept der ‚Revolution’ wird so neu interpretiert. Die Verbreitung der Künstlerkritik und des Künstler-Imaginären ist nach Boris Gobille einer der bemerkenswertesten Aspekte des Mai 68. Sie ermöglichte potentiell auch eine Symbiose zwischen den Schriftstellern und den revolutionären Projekten der studentischen Aktionskomitees (Gobille 2004: 177). 5 Mit der Künstlerkritik wurde man hellhörig nicht allein für die Phänomene der ‚Ausbeutung’ in der Arbeitswelt (Sozialkritik), sondern für die Formen der ‚Entfremdung’ in zahllosen Bereichen auch außerhalb der Arbeitswelt. Hier setzten sich die Folgen am Nachhaltigsten durch. 5 Boris Gobille stellt in diesem Kontext auch eine Neukonfigurierung der Hierarchien literarischer Legitimität fest. Der Pol der Großproduktion wurde von der revolutionären Reproblematisierung der schöpferischen Praxis wenig berührt. Die Schriftsteller dieses Pols identifizierten sich mit der herrschenden Ordnung und mit den bestehenden Institutionen und konnten in der Studentenrevolte nur eine Manifestation der Anarchie sehen. Der Pol der Avantgarde wurde durch die Krise viel mehr herausgefordert. Die Vorstellung, dass ein jeder über ein schöpferisches Potential verfügt, stellt das Konzept einer professionellen Avantgarde in Frage. Gehör finden hier nun auch die Vorstellungen der Surrealisten und der Situationisten, die die Trennung von ‚Kunst’ und ‚Leben’ durch die Verwandlung des ganzen Lebens in ein Kunstwerk überwinden wollen. Die Gruppe Tel Quel, die die gute ästhetische und politische Radikalität repräsentierte, wurde vor allem durch die Nähe zur KP etwas delegitimiert. Ihr erwuchs nun durch andere avantgardistische Gruppen um die Zeitschriften Change von Jean-Pierre Faye und Action poétique Konkurrenz. Diese standen der Radikalität der Studentenbewegung näher und betonten über den Bezug auf die linguistische Theorie Chomskys die These einer universellen Kreativität viel mehr als die Gruppe Tel Quel mit ihrem Kult des ‚Textes’. <?page no="51"?> Mai 68 in Frankreich 27 Literaturverzeichnis Catherine Achin/ Delphine Naudier, Les féminismes en pratique, in: Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 383-399. Götz Aly, Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück, Frankfurt a.M. 2008. Götz Aly, Die Väter der 68er, in: Frankfurter Rundschau, 30. Januar 2008. Philippe Artières, ‚Je crie, j’écris.’ Quand la révolution passe par la prise de la parole et de l’écriture, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 373-378. Serge Audier, La pensée anti-68. Essai sur l’origine d’une restauration intellectuelle, Paris 2008. Antoine de Baecque, „La Chinoise de Jean-Luc Godard“, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 57-61. (2008a) Antoine de Baecque, De l’‚affaire Langlois’ au Festival de Cannes: ‚Le cinéma s’insurge’, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 316-322. (2008b) Luc Boltanski/ Eve Chiapello, Le nouvel esprit du capitalisme, Paris 1999. Bernard Brillant, Le gauchisme et ses cultures politiques, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 552-559. Ivan Bruneau, Quand les paysans deviennent ‚soixante-huitards’, in: Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 344-356. Jean-Michel Chapoulie/ Olivier Kourchid/ Jean-Louis Robert/ Anne-Marie Sohn (Hrsg.), Sociologues et sociologies. La France des années 60, Paris 2005. Eve Chiapello, Artistes versus Managers. Le management culturel face à la critique artiste, Paris 1998. Laurent Chollet, Guy Debord et les situationistes, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 180- 188. Daniel Cohn-Bendit, Forget 68. La Tour d’Aigues 2008. Dominique Damamme, Laboratoires de la réforme pédagogique, in: Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 245-258. Klaus-Dieter Ertler (Hrsg.), Romanistik als Passion. Sternstunden der neueren Fachgeschichte, Wien, Berlin, 2007. Marie-France Etchegoin/ Sylvain Courage, Les Français votent 68, in: Le Nouvel Observateur, Nr. 2264, 27. März 2008, 12-16. Martine Fournier, Mai 68 et la libération des moeurs, in: Sciences humaines, 193/ Mai 2008, 6-8. Brigitte Gaiti, Le charisme en partage: Mai-Juin 1968 chez les gaullistes, in: Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 259-273. Sandrine Garcia, Expertise scientifique et capital militant. Le role des médecins dans la lutte pour la législation de l’avortement, in: Actes de la recherche en sciences sociales, 158/ Juni 2005, 96-115. <?page no="52"?> Joseph Jurt 28 Pierre Girard, De 1968 au terrorisme: Les Brigades rouges et l’Italie des ‚années de plomb’, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 462-470. Boris Gobille, Literarisches Feld und politische Krise. Mobilisierung französischer Schriftsteller im Mai 68 und Verzeitlichungslogiken des Feldes, in: Berliner Journal für Soziologie, 2/ 2004, 173-187. Boris Gobille, Les mobilisations de l’avant-garde littéraire française en mai 1968. Capital politique, capital littéraire et conjoncture de crise, in: Actes de la recherche en sciences sociales, 158/ Juni 2005, 31-53. Boris Gobille, La vocation d’hétérodoxie, in: Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 274- 291. Erving Goffman, Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum, Gütersloh 1971. Peter Grottian/ Wolf-Dieter Narr/ Roland Roth, Keinerlei Ähnlichkeit. Der Parallelismus von 1933 und 1968. Ein Binsenirrtum! Eine Erwiderung an Götz Alys Essay ‚Die Väter der 68er’, in: Frankfurter Rundschau, 9. Februar 2008. Nicolas Hatzfeld, Les établis: du projet politique à l’expérience sociale, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 546-550. Fabien Jobard, Matraques, gaz et boucliers: la police en action, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 281-285. Serge July, La dernière fois, c’était il y a quarante ans, in: Jean-Louis Marzorati (Hrsg.), La France en 1968. Paris 2007, 6-13. Joseph Jurt, Die Studentenunruhen in Frankreich - ein Jahr danach, in: Vaterland (Luzern), 31. Mai und 7. Juni 1969. Joseph Jurt, Bourdieu, Stuttgart 2008. Eric Lagneau/ Sandrine Léveque, Les journalistes dans la tourmente, in: Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 357-369. Christian Laval, Imaginer l’école d’une société libre, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 608- 615. Vincent Lemire, Nanterre, les bidonvilles et les étudiants, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 137-143. Dominique Linhardt, La Fraction armée rouge et les autres: la guerrilla en RFA, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 470-477. Audrey Mariette, Le monde du cinéma en Mai 68, in: Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 234- 245. Lilian Mathieu, Les manifestations en mai-juin 68, in: Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 195- 206. Frédérique Matonti, Structuralisme et prophétisme, in: Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 172- 185. <?page no="53"?> Mai 68 in Frankreich 29 Frédérique Matonti/ Bernard Pudal, L’UEC ou l’autonomie confisquée (1956-1968), in: Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 130-143. Dominique Memmi, Mai 68 ou la crise de la domination rapprochée, in: Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 35-46. Elodie Nowinski, La minijupe, une révolution du tissu, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 71-75. Julie Pagis, ’Déscolarisons l’école’, in: Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 370-382. Bernard Pudal, Ordre symbolique et système scolaire dans les années 1960, in: Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 62-74. Bernard Pudal/ Jean-Noel Retière, Les grèves ouvrières de 68, un mouvement social sans lendemain mémoriel, in: Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 207-22. Anne-Claire Rebreyend, La révolution de la pilule, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 451- 455. Judith Revel, Sartre-Foucault: on change d’intellectuel, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 626- 633. Florence Rochefort, L’insurrection féministe, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 538- 546. (2008a) Florence Rochefort, La politisation des corps, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 615- 622. (2008b) Gottfried Schramm (Hrsg.), Erzählte Erfahrung. Nachdenkliche Rückblicke Freiburger Professoren aus den Jahren 1988 bis 2007. Freiburg 2008. Isabelle Sommier, Les gauchismes, in: Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 295-305. Xavier Vigna, Insubordination et politisation ouvrières: les occupations d’usines, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 378-385. (2008a) Xavier Vigna, L’insubordination ouvrière dans l’après 68, in: Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 319-328. (2008b) Jean-Louis Violeau, L’expérience 68, peinture et architecture entre effacements et disparitions, in: Dominique Damamme/ Boris Gobille/ Frédérique Matonti/ Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-Juin 68, Paris 2008, 222-233. Michelle Zancarini-Fournel, Changer le monde et changer sa vie, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 405-443. (2008a) Michelle Zancarini-Fournel, La maison ronde: l’ORTF en mai-juin 68, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 332-335. (2008b) <?page no="55"?> Gabriele Blaikner-Hohenwart Ein doppelter Blick auf Mai 1968: die sechzehnjährige Zeitzeugin und eine späte Bilanz 1. Vorbemerkungen Ein doppelter Blick auf 68 - aus der heutigen Perspektive auf den Mai und auf das, was die sechzehn Jahre alte Schülerin damals erlebte und wahrnahm. Dieser doppelte Blick ist in meinem Fall folglich mehrfach gesplittet: Der distanzierte Blick ist (heute) hauptsächlich durch den Zeit- und Altersabstand zwischen 1968 und 2008 begründet, aber (damals) durch die Tatsache, dass ich in Paris lebte und Ausländerin war. Zusätzlich wurde er noch - ‚historisierend’ - durch die laufenden Kommentare meines österreichischen Vaters gedoppelt, mit dem ich die événements 68 verfolgte und erlebte, welche er mit seinen Erfahrungen als Student im Wien von 1934 konfrontierte. Beschriebe man meine sowohl durch enge Beteiligung und Anteilnahme wie zurückhaltende Neugier zu charakterisierende, schließlich durch mein Alter und meinen Status als Österreicherin in Paris mehrfach distanzierte Haltung in Bezug auf die Ereignisse mit den Begriffen der ‚partizipierenden Feldforschung’ (vgl. Panoff/ Perrin 2000), so wäre diese zusätzliche Färbung meiner Wahrnehmung durch die Erläuterungen meines Vaters als peripherical comment zu bezeichnen. Die Kommentare, die Vergangenheit und Gegenwart betrafen, schärften meinen sehr naiven Blick; sie bildeten daher einen zusätzlichen Referenzrahmen in dieser Studentenrevolte, die phasenweise bürgerkriegsähnliche Züge annahm. Natürlich ist eine sechzehnjährige Schülerin, auch wenn sie ‚vor Ort’ gewesen ist, a priori nicht die ideale reflektierende Zeitzeugin: Es fehlen Vor/ erfahrungen, Parallelerlebnisse, die seriöse Einordnungen und kritische Beurteilungen möglich machen. Es fehlten (natürlich) relevante politische, soziologische und kulturwissenschaftliche Parameter, kurz: Professionalität, Abstraktionsfähigkeit und methodische Schulung, d.h. die Standards der Feldforschung. Dennoch: ‚partizipierende Feldforschung’ hat als wesentliche Bedingung, das Leben der zu untersuchenden community zu teilen und primär ‚induktiv’ vorzugehen, d.h. ohne vorab eine restriktive Hypothesenbildung vorzunehmen, sich auf Unerwartetes einzulassen und nicht davon ab ovo zu abstrahieren. In meinem Fall wurde ich wirklich in eine ‚Feldforschungssituation’ gestoßen. Zugleich stellte und stelle ich gerade durch meine Unvoreingenommenheit wahrscheinlich eine valide ‚Informantin’ dar, die jetzt zur mehrschichtigen Darstellung der Mai-Ereignisse eine <?page no="56"?> Gabriele Blaikner-Hohenwart 32 aktive Rolle einnehmen kann. Wieder aus Sicht der partizipierenden Feldforschung beschrieben, kann die Position der Gymnasiastin, die ich war, als die einer ,Forscherin’ verstanden werden, die in der untersuchten community lebt, wenn auch als ,Fremdkörper’, die einen Blick von außen mit einem Blick von innen kombiniert. Eine Art Symbiose von Innen und Außen ist ebenso die Folge wie das Zusammenfallen von Partizipation und Auswertung. Es muss an dieser Stelle die Informantin in ihrem sozialen Umfeld vorgestellt werden: Ich lebte seit drei Jahren in Paris, in meiner österreichischen Familie, war reguläre Schülerin des Lycée Victor Duruy (Paris, 7 e arrondissement) und hatte zu diesem Zeitpunkt einige französische Freundinnen. Ich war als Sechzehnjährige ,unmedial’: hörte kaum Radio, sah nicht fern, war kaum an der politischen Berichterstattung in den Printmedien interessiert; Geschichte und Instruction civique waren Unterrichtsfächer. Stattdessen spielte ich Gitarre und hörte laufend klassische Musik und Chansons. Ich war unpolitisch, wie mein bürgerliches Schulumfeld, abgesehen von meinem großen - historisch bedingtem - Problem als germanophone mit österreichischer Herkunft, was in den sechziger Jahren in Frankreich noch eine Trennlinie darstellte. Vor allem lebte ich für die Schule, da ich mich sehr bemühen musste, einen passablen bis guten Durchschnitt zu erzielen. (vgl. Blaikner-Hohenwart 2003) Die ,Vorboten’ von Mai 1968 kommentierte mein politisch interessierter und wacher Vater. Mich berührte das kaum - naja: wieder ein Streik! So bemerkte ich zunächst nur die sich steigernde Unruhe im Lycée: Unsere Professorinnen ‚politisierten’ (was in Frankreich verboten ist). Nach und nach deklarierten und outeten sie sich: Unsere Hauptlehrerin (L/ F) teilte uns ihre Mitgliedschaft beim SNES und SNES Sup. mit, auch ihre aktive Teilnahme an politischen Versammlungen und Aktionen; unsere Mathematiklehrerin schrie eines Tages vor der Tafel hysterisch auf (sie war offensichtlich Gaullistin): „La France est assassinée.“ 2. Kulturelles Umfeld - revisited In der Retrospektive ist mir das makrokulturelle Umfeld nur über Literatur einsehbar. Meine Pariser Freunde und Freundinnen lachen, wenn ich sie befrage, sie weisen auf ironische Zeitungsartikel hin: Sie stehen seit über dreißig Jahren im Berufsleben. Ich höre Daniel Cohn-Bendits Aussage: „Il faut oublier 68“. Waren die studentischen Revolten vorbereitet, gelenkt, medial gesteuert, spontan? Waren das auslösende Ereignis wirklich die „sessions uniques éliminatoires“? A d’autres de trouver la réponse! Mein schulisches bzw. kulturelles Umfeld sehe ich gut: Madame la directrice - unerreichbar, aber Madame le censeur, Madame la surveillante générale, les pionnes, die jeweils grauen oder blauen Schulschürzen mit eingestickten Namen und Klasse, so dass man immer aufgeschrieben <?page no="57"?> Ein doppelter Blick auf Mai 1968 33 werden konnte. Ich höre die höfliche Ansprache „Mademoiselle“ und denke an das tableau d’honneur, an den Klassenwechsel in allen Pausen, damit die Professorinnen ihre Klassenräume behielten, und an das Verbot, ins gegenüberliegende Café Villars zu gehen (was ich aber am Abend heimlich tat! ). Frankreich stellt sich in meiner Rückschau als ein zutiefst bürgerliches Land dar. Frankreich, symbolisiert durch Louis de Funès als prototypischen flic (les principes und l’esprit gaulois), sowie durch die Comédie de boulevard, wo man niemals zu weit ging, wo sich (nur hier) die Gesellschaft sich in der ,freien’ Liebe mischte. Es herrschte eine Koexistenz von Humor und viel Rigidität, von Bürgerlichkeit mit etwas Charme, von hehren Hochzeiten und etwas Montmartre, und dem Wunsch, viele Kinder zu haben, wie, verriet der Biologieunterricht der troisième (Herzkreislauf und Lungenfunktion) nicht. Das Lycée de Jeunes filles Victor Duruy war Zentrum meines Lebens, mit den nervösen blassen dünnen Mädchen, die Migräne, die crises de foies hatten und immer fatiguées waren, in deren Lebensmittelpunkt auch der Schulerfolg, den Simone de Beauvoir in ihren Romanen fokussiert hat, stand. (vgl. Beauvoir 1967) Unruhe vor jeder der zahlreichen compositions in allen Fächern, Glück und Enttäuschung, wenn alle Plätze vorgelesen wurden. Wir waren im Mai 1966 und 1967 nur an den Stadien-Nachmittagen in der frischen Luft gewesen, denn da fanden die letzten Schularbeiten statt. Wir analysierten Victor Hugos „Ce siècle avait deux ans“; wir erfuhren gleichzeitig die heroische Geschichte der Revolution und Napoleons Siege: Niemand hatte Zeit für Reflexion, außer einer kleinen Italienerin, die über das Kapital referieren wollte. Soziale Durchlässigkeit war nicht erwünscht. Ausländerinnen wurden immerhin toleriert, denn die Lehrerschaft war (auch im 7 e ) mehrheitlich ,links’. War das Schuljahr zu Ende, fuhr man zehn Tage später weg. Zuvor gab es kein Schulfest, keine Schikurse oder Sportwoche, keinen gemeinsamen Theaterbesuch. Es zählte die Leistung, mit viel Fairness trotz Druck - Abschreiben war verpönt und wurde streng bestraft, bis hin zu Schulausschluss. Wer unentschuldigt gefehlt hatte, durfte am Unterricht nicht teilnehmen. Am besten ist es, dachte ich mir, gar nicht zu fehlen, um nichts zu versäumen. Aber wir sezierten auch Kleintiere und diskutierten über die Gefühle der ,Anderen’, im Literaturunterricht oder in Geschichte. Ich las Mademoiselle Age Tendre und Fotoromane, dachte über Bonjour Tristesse nach, sah im Theater 1968 Françoise Sagans Château en Suède, lauschte Françoise Hardy, Johnny Halliday, Jacques Brel et al. und arbeitete gewissenhaft die wöchentlich aufgegebenen Aufgaben ab, eine gute Vorbereitung für die Uni. Ich ging ins Kino (François Truffauts Bücherverbrennung) und in Boutiquen, kaufte mir Gitanes, was ,in’ war und im Schulhof erlaubt - alle rauchten. Auch ich war dünn geworden, dünn und schnell und nervös. <?page no="58"?> Gabriele Blaikner-Hohenwart 34 3. Mai 68 Mai 68 begann am 10. Mai mit der Aufforderung meines Vaters, mir die Radionachrichten anzuhören: „Ab morgen sind alle Schulen Frankreichs bis auf weiteres geschlossen.“ Wie man weiß, sollten die Schulen sechs Wochen lang geschlossen bleiben. Bezieht man sich auf die ,offizielle’ Geschichte, so sieht man, dass vom 10. zum 11. Mai die so genannte Nuit des barricades stattfinden sollte, die der französische Polizeipräsident Maurice Grimaud offensichtlich irgendwie ,voraussah’. 1 Dieses Datum koinzidiert auch mit der Haltung der Gewerkschaften SNES und SNES Sup., die Forderungen der Studenten (mit der UNEF) und nunmehr auch Schüler und Lehrer zu unterstützen. Subjektiv war mir dies weder klar, noch war es für mich von Bedeutung. Von mir (und den heute so belächelten ,bürgerlichen’ Jugendlichen Frankreichs) fiel sogleich eine große Last von den Schultern: die Unterbrechung einer Kette von Aufgaben, die Unterbrechung eines starren Alltagskorsetts - ausschlafen, aufs Dach klettern, um die Ereignisse zu beobachten, vom Dach aus zu sehen, wer noch in die Schule ging oder gehen wollte. Sehr schnell hatten sich vor unserer Schule piquets de grève gebildet, Jungen vom Lycée Buffon, die die Schülerinnen, die trotz allem zur Schule gehen mussten und somit ,Streikbrecherinnen’ waren (vielleicht Schülerinnen der terminale, die vor dem baccalauréat standen), vom Schulbesuch abhalten wollten. Mein Vater reagierte schnell und umsichtig: Er veranlasste meine Mutter und meine kleine Schwester dazu, relativ bald nach Wien zu fahren, kurz nachdem der Bäckerstreik begonnen hatte, der in allen von uns Reminiszenzen an den viel schlimmeren Bäckerstreik 1956 in Österreich auslöste. Am 13. Mai wurde in Frankreich der Generalstreik ausgerufen. Mein Vater hob vor der Schließung des Crédit Lyonnais eine große Summe Geld ab, um die Gehälter der Angestellten weiter auszahlen zu können. Er erkundigte sich, wie ich, im Falle einer Ausweitung der Unruhen, Frankreich verlassen könne, nachdem der Generalstreik begonnen hatte: Es gab Busse, die noch bis zur belgischen Grenze fuhren. Er beobachtete vor allem, via Nachrichten, Zeitungen und Informanten (so über den Germanisten Pierre Bertaux, der von 1949 bis 1951 Direktor der Sûreté nationale gewesen war) 2 die Aktivitäten des Polizeipräsidenten. Er hatte als Student 1934 in Wien die Studentenunruhen erlebt, bei denen geschossen worden war und es Tote gegeben hatte. Dies bildete seinen historischen Hintergrund, die Folie, von der aus er mir die événements näher brachte. Solange kein Schießbefehl gegeben werde, so seine (meines heutigen Erachtens richtige) Ansicht, drohe kein Bürgerkrieg. Dies sollte das spätere Protokoll Grimauds bestätigen: 1 Vgl. die Aufzeichnungen des Polizeitpräfekten Maurice Grimaud, En Mai, Fais ce qu’il te plaît, Paris 1977. Man denke dabei auch an François Rabelais’ „Fais que vouldras“. 2 Vgl. URL: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Pierre_Bertaux (14.9.2008). <?page no="59"?> Ein doppelter Blick auf Mai 1968 35 Du coup. À travers cette ville en congé d’ordre public, on [notre équipe; Einfügg. v. Verf.] prit l’habitude de nous consulter sur un peu tout: fallait-il décommander ce conseil d‘administration, maintenir cette assemblée de fidèles, annuler ce concert, reporter cette vente de charité, tenter de remettre en marche la ligne de Sceaux ou retirer de leurs caves les billets de la Banque de France? 3 Jean Pollini ou moi répondions de notre mieux aux uns et aux autres, en ne consultant que le bon sens qui avait remplacé le Journal officiel, et nous n’étions pas loin de penser que, bientôt, ne subsisteraient que deux pouvoirs dans Paris: celui des gauchistes dans leurs réduits et le nôtre sur le reste de la cité. Ce sentiment [un certain sentiment de bonheur; Einfügg. v. Verf.], on le devine, n’était pas déplaisant, à condition que cela ne dure pas trop et que personne n’en prenne ombrage. C’est pour en garder le souvenir que j’adoptai comme maxime, par devers moi et dans le secret de mon cœur: „En mai, fais ce qu’il te plaît! “ L’autre sentiment qui me resta de ces journées se nourrissait d‘un fond d’inquiétude. Dans le feu de l’action, nous n’avons pas vraiment redouté, mes collaborateurs et moi, de voir les insurgés prendre le pouvoir. (Grimaud 1977: 10f.) Mein Vater betrachtete einige Straßenschlachten (aus der Ferne); mir verbot er dies strikt, da ich sonst meinen permis de séjour als Ausländerin verloren hätte, wie es einem anderen Österreicher passiert war, und dann in Frankreich nicht mehr das baccalauréat hätte ablegen können. Die Tragweite und auch die Brutalität der Straßenschlachten - speziell durch das Durchgreifen der C.R.S. - waren mir also en direct nicht wirklich bewusst. Während die manifestants und die Pariser Polizei im Verein mit den C.R.S. im Quartier Latein fünfundzwanzig Tage lang ,kämpften’ (vgl. die Protokolle in: UNEF/ SNE Sup. 1968), hatte das Leben ohne Schule, ohne Métro und ohne Benzin eine individualisierende Strukturierung meines neuen Alltags zur Folge: Zwei Nachmittage pro Woche schlichen wir ins Lycée, wo bei schönem Wetter der Französischunterricht im Garten stattfand, gehalten von der höchst offiziell streikenden linken Gewerkschaftsvertreterin, die jedoch zugleich agrégée de français war und sich somit verantwortlich für unser Bac de français in der première fühlte. Aufgaben erhielten wir nicht mehr. Wir diskutierten rege untereinander über die Mitbestimmung und das, was wir täglich erlebten. Ich besuchte Demos, hörte (und höre sie bis heute noch! ) die abertausenden Demonstranten während eines Konzerts anderthalb Stunden lang vorüber ziehen: „Bon Anniversaire, mon Général“. Mein Vater fotografierte Graffiti und legte eine Sammlung an. Ich ging mehrmals zur Sorbonne, um mit den camarades zu diskutieren - alle duzten sich -, ich frequentierte das streikende Odéon, um den 3 Ähnliche Fragen stellten sich auch meinem Vater, der von 1965 bis 1971 das Österreichische Kulturinstitut in Paris leitete. <?page no="60"?> Gabriele Blaikner-Hohenwart 36 Diskussionen zu lauschen - es ging wohl um die Spontaneität der Kunst. Nous nous baladions dans Paris, einer plötzlich jungen Stadt, bei immer strahlendem Wetter, fuhren per Autostop oder mit Militärlastwagen, wenn wir Paris verlassen wollten, ein Paris, das wie Oran irgendwie isoliert war, aber nicht durch die Pest, sondern von Streiks lahmgelegt. Paris, nach New York das zweite Touristenzentrum der Welt, wurde eine Stadt ohne Touristen. Paris wurde eine Stadt, in der jeder mit jedem sprach: würde es Stromunterbrechungen geben? Wo konnte man (über die Hintertür) Brot kaufen? Warum hatte die Mutter einer Mitschülerin Zucker in der Badewanne gehortet, der sich beim nächtlichen Bad der Tochter auflöste. Wer hatte noch Benzin für Notfälle? Plötzlich, da in dieser Bewegung die Minderheiten und Randgruppen thematisiert und eingebunden wurden, fühlte auch ich mich integriert und akzeptiert, und fand es ,toll’, dass Daniel Cohn-Bendit Deutscher war. Implizit, so denke ich heute, entdeckten wir auch unsere Pubertät: Da wir in Kontakt mit älteren ,aufbegehrenden’ Jugendlichen (den Studenten) traten, mehr Zeit für uns selbst hatten, entdeckten, dass ,Jugend’ und ,Jugendkultur’ genuine Kategorien waren, wir traten in Kontakt mit Jugendlichen aus anderen Klassen und interessierten uns für die Anliegen der Arbeiter (Stichwort la semaine de quarante heures, le SMIG). Heute denke ich, dass unsere Eltern - hier und jenseits des Rheins - uns nach ihren Jugenderfahrungen möglichst ,unschuldig’ halten, erhalten wollten, jenseits der großen Themen Eros und Thanatos, dass wir ihnen durch unsere Jugend ermöglichen sollten, ihre Traumata zu vergessen, sie mit uns eine zweite kindliche Jugend erleben wollten bzw. auch konnten: gemeinsame Picknicks, Spiele, die Modetrends, Tanzpartys, wo sie ja immer ,dabei’ waren. Im Denken dieser Generation über uns gab es ,die Pubertät’ noch nicht, jung zu sein (für ein unverheiratetes Mädchen) war ,gefährlich’, Verführung wurde mit Vergewaltigung fast gleichgesetzt, und Information bzw. Wissen hieß bereits, ,verdorben’ zu sein. Ernsthaft wurde in einer Elterngruppe anderthalb Jahre später (wir waren nun in der Terminale) überlegt, ob die Eltern uns aufklären sollten. Wir bezogen unser ,Sexualwissen’ aus der Literatur, aus Illustrierten, aus Anspielungen älterer Mädchen. Dieser Blickpunkt ist bürgerlich eingeschränkt, doch die Jugendlichen waren - neben den streikenden Arbeitern - von 1968 betroffen bzw. hatten die Studentenbewegung wenn nicht ausgelöst, so doch - ,befreit’ - mitgetragen. 4 Bürgerliche Mädchen waren bildungsmäßig und finanziell sicherlich ,privilegiert’, doch vom echten Leben, abgesehen von couture und éducation physique, abgeschnitten, sozusagen blutleer; es zählten nur die Kategorien Bildung bzw. die der ,gesicherten bürgerlichen Existenz’, ohne Alternativen. Künstler waren immer andere, man konnte ja in Ausstellungen im Grand Palais gehen. 4 Vgl. aber Pier Paolo Pasolinis Gedicht „Vi odio, figli di papà“ (Pasolini 1998). <?page no="61"?> Ein doppelter Blick auf Mai 1968 37 Schon zwei oder drei Jahre später begriff ich, was uns ganz tief und prinzipiell von der Elterngeneration trennte: Unsere Eltern hatten, sehr euphemistisch salopp ausgedrückt, in ihrer Jugend genug ,Abenteuer’ erlebt, die Kriegsgeneration war, so z.B. meine Mutter, traumatisiert in die Erwachsenenwelt getreten. Abenteuer wollte diese Generation nie mehr, und uns wollte sie Erfahrungen aufregender Art ,ersparen’. Sie wünschten uns aus ganzem Herzen einen normalen, geregelten Alltag, der aber für uns grau und nicht beruhigend war. Wir wollten so etwas wie off the beaten track und bewunderten die Hippies und nicht die brav arbeitenden Eltern, Lehrer und die ,staatstragenden’ Personen. Wir spürten wohl, ohne dies zu wissen, dass diese ewige Ruhe trügerisch war, dass darunter ein Substrat lag, das jenseits von Sätzen wie „Honig ist gesund, und wir hatten lange keinen“ lag. Aber auch hier wurden wir nicht aufgeklärt. Krieg war Teil des Geschichtsunterrichts, mit Daten, Namen und Tests. Dennoch wirkten in meiner Erinnerung andererseits die Ereignisse in Paris in der Phase vor dem Eingreifen von Schlägertruppen in Konfrontation mit den C.R.S. auch auf die ältere Generation ,befreiend’, durch die Kategorienmischung, durch die Wiederholung von Demos, Barrikaden, auch Streiks ohne ultimative Eskalation, 5 in dem Genese und Eskalation der événements 68 zusammengefasst werden, mit der abschließenden Feststellung über die Barrikadennacht und andere Auseinandersetzungen im Mai 68 in Paris: Miracolosamente, e a differenza di quanto accadrà più tardi in situazioni analoghe in Italia, non si registrarono vittime: forse anche per questo il Maggio francese è rimasto nell’immaginario collettivo con una connotazione tutto sommato positiva. (Acquaviva 1998: 24) Jedenfalls bemerkte ich nirgends Angst oder Hassgefühle gegen diese Jugend oder diese Arbeiter, und auch wenig Panik. So betont auch Jacques Sauvageot, damals Vertreter der UNEF, 1968 in einem Interview, das die Bevölkerung politisch auf der Seite der Studenten gestanden habe (vgl. Sauvageot/ Geismar/ Cohn Bendit 1968: 21). Auch die Älteren, die ja ebenfalls streikten bzw. streiken mussten, wurden von der Entschleunigung der Großstadt erfasst, auch für sie ergab sich unvermutet eine Ruhepause inmitten ihrer vielen Pflichten und Verantwortungen als brave Bürger. Und sicher empfanden auch sie so etwas wie Neugier, zu beobachten, wie man sich gegen Autorität, Ordnung, Disziplin und Regeln auflehnen konnte. Vielleicht fand in gewisser Weise eine mentale Auseinandersetzung - im Umfeld der manifestations und Straßenkämpfe - statt, nach dem für die okzitanische Bewegung kreierten Motto Martis (hier auf die Bürgerlichen von Paris bezogen): „il pais que vol viure“. Hier begann wohl die Individualisierung der Gesellschaft, die von Gerhard Schulze in seinem Werk Die Erlebnisgesellschaft analysiert werde sollte (vgl. Schulze 1994). 5 Vgl. das einführende Kapitel „Il contesto internazionale“ in: Quel mitico 68 (1998: 23f.). <?page no="62"?> Gabriele Blaikner-Hohenwart 38 War ein Motto der Studenten „La beauté est dans la rue“, so stellte sich - immer dringlicher - parallel die Frage: „Wem gehört die Straße? “, auch wenn die Straßenkämpfe auf ziemlich genau abgezeichnete Areale im Quartier Latin begrenzt waren. In ihrem Aufbau und Ablauf hatten sie irgendwie den Charakter eines wiederkehrenden Rituals, zu dem auch das Tränengas gehörte. Und sie fanden vor dem ikonischen Hintergrund der Misérables in Paris statt, im Herzen der Stadt, während unter dem Innenminister Nicolas Sarkozy die großen Zusammenstöße zwischen Polizei und Vorstadtjugendlichen in der Vorstadt stattfinden sollten, die aus Paris verbannt waren: Auf meine Frage, ob Paris bedroht sei, antwortete meine Freundin, eine Politikwissenschaftlerin: „Ils n’osent pas rentrer dans Paris. Ils brûlent leurs propres voitures.“ 1968 gewöhnten wir uns rasch an die Bilder aufgerissener Straßen (dépavé - ein neues Wort? ) und verbrannter Autos, dies gehörte, ebenso wie die vielen Graffiti, Plakate und tracts, die überall herumflatterten, zum neuen Straßenbild. Auch die Müllabfuhr streikte. Es gab, natürlich, auch Ratten, die man aber nur bei Nacht sah. - Ich erinnerte mich, immer wieder, vage an meine Kindheit in Wien, in der Nachkriegszeit, mit den schadhaften und zerschossenen Straßen, dem Schmutz und, eben den Ratten, und dachte zugleich an Oran. Auch dieser ,Alltag’ wurde zum vertrauten Alltag - bis sich die Fronten radikalisierten, sich schnell große Unruhe, ja Angst breit machte, und als Charles De Gaulle Paris verließ. Auf eine Großdemonstration der C.G.T. am 29. Mai folgte, am 30. Mai, die Gegengroßdemonstration der Bürgerlichen: Eine Million Menschen (eine beeindruckende Massenanhäufung, die für mich nicht lange zu ertragen war) defilierten auf den Champs Elysées. Mai 1968 war beendet. 4. Wie verlässlich ist das Gedächtnis: Verschiebung, Verdichtung, Verklärung Nach der Niederschrift der ersten Notizen für diesen Beitrag fand ich mein altes Notizbuch, meinen Agenda von 1968 wieder. Dieses würde meine Beobachtungen bestätigen, dachte ich. Die Durchsicht war enttäuschend, zugleich öffnete sie mir endgültig die Augen für meine nachträgliche Verklärung: Die genannte Feldforschung, so verstand ich, muss sofort notiert werden. Einige Fakten meiner nachträglichen Erinnerungen stimmten gerade nicht: In den ersten Tagen des Schulstreiks wurde das Lycée noch weitergeführt, wurden noch schnell die letzten Schulagenden (Chemie- und Mathematik-Schularbeiten, Referat in Geschichte über Metternich) durchgeführt, gab es - vor der endgültigen Schließung - in der ersten Zeit noch eine Permanence. Es fanden dann im Lycée Victor Duruy Versammlungen statt, commissions (29.5.1968, 31.5.1968) und eine Assemblée générale (1.6.1968), die uns, d.h. die Eltern und die Lehrer, beruhigen sollten und zugleich Signale der neuen participation darstellten. Offensichtlich <?page no="63"?> Ein doppelter Blick auf Mai 1968 39 beeindruckten sie mich nicht, da ich mich, auch jetzt, nur sehr vage daran erinnere. Bis zum Schulschluss fand dann kein Unterricht mehr statt („Schulschluss“, 26.6.1968, ist durchgestrichen), abgesehen von den Französischstunden im Garten. Mitte Juni (15./ 16.6.1968) verließ ich Paris wegen einer Kieferoperation, während meine Mutter und meine Schwester nach Paris zurückkehrten. Für mich begann eine Wiener Zeit mit Partys bei meinen Wiener Schulfreundinnen, doch verfolgte ich das weitere Geschehen aufmerksam von Wien aus. Am 14. Juli 1968 kehrte ich wieder nach Paris zurück. Am 11.5. steht „Manifestation vor dem Lycée“, am 15.5. „piquet de grève“. Immer wieder „Streik“ oder „grève“, mehrfach: „Sorbonne“, so am 18.5.1968: „Nachmittag Sorbonne, toll“. Dazwischen „kurz Schule“ (27.5. 1968) oder „keine Schule“(25.5.1968) oder: „Schule sehr nett“ (7.6.1968). In meinem Tagebuch, in dem ich das, was mich bewegte, festhielt, steht gar nichts - rien. Denken wir nicht an Ludwig XVI. 5. Versuch einer Synthese der Splitter - aus weiblicher Sicht Zum Schluss eine persönliche Liste dessen, was ich als Errungenschaften von und Veränderungen ab 68 festhalten möchte. Zunächst sei gesagt, dass die Massendemonstrationen die (fast paradoxe) Folge hatten, dass es mehr Freiheit gab, vor allem aber eine Individualisierung (intellektuelle Emanzipation). Versammlungen bekamen Diskussionscharakter. Die Studenten erhielten einen eigenen Status (Tiers Etat). Weiter: 5.1. Frauen/ Mädchen waren bei ‚männlich besetzen Aktivitäten’ auch dabei. Die Annäherung zwischen den Geschlechtern, mit Jeans und knabenhaften Figuren (Mädchen) und langen Haaren und bunten Hemden (Männern) beginnt: Sie werden Partner und ,Geschwister’. 5.2. Langfristig: Der Versuch, Strukturen (Institutionen, Militär, Familie) aufzulösen und durch ,Mengen’ (ensembles, bzw. ensembles flous: ‚unscharfe Mengen’) zu ersetzen, hat zu Verunsicherung geführt (man denke an die Warnung des Ulysses in der „degree-Tirade“ von William Shakespeares Troilus and Cressida), da Struktur = Hierarchie und Ordnung auch klare Verhältnisse bedeutet, wo jeder seinen Platz kennt und ,hat’. (Wie bei jeder Revolution folgte aber auch eine Art Restaurationsphase mit Valéry Giscard d’Estaing). Dennoch wurden Strukturen dauerhaft beschädigt bzw. wurden Alternativen zu Realitäten, welche nicht nur am Rande existierten und marginalisiert wurden, dies gilt z.B. für die Institution Familie, die immer mehr durch ensembles ersetzt wurde und wird. Parallel wird auch der ,Single’ als neues Lebensmodell entdeckt. <?page no="64"?> Gabriele Blaikner-Hohenwart 40 5.3. Generalisierung der Freiheit der Frauen, welche nicht mehr auf Rebellinnen, Emanzen und Künstlerinnen beschränkt blieb. Vieles wurde Norm und ,normal’, wie z.B. die künstliche Empfängnisverhütung. Heute tragen alle Studentinnen Hosen und reisen ,wie Männer’ in der Welt. Heute sind Frauen nicht Mütter oder emanzipiert bzw. Mütter oder alte Jungfern, wie oft meine Lehrerinnen in Folge des Zweiten Weltkriegs. Frauen sind heute z.T. weder jung noch alt, wie auch die neuen forever-young-Männer, und haben ,Spaß’. Diese letztere Verschiebung verunsichert die nächsten Generationen (vgl. die Zuordnung: Eltern = Älteren). 5.4. Den bürgerlichen Bildungsschichten stellten/ stellen sich neue Fragen. Diese sind gesellschaftspolitischer Natur und zielen zumindest auf eine ouverture d’esprit ab. In einer liberalen, vom Staat getragenen Gesellschaft entstand aber auch der so genannte ,Sozialschmarotzer’. 5.5. Eine Pluralität der Denkweisen und der Methoden (Stichwort: ,Streitkultur’) wurde zugelassen, nach und sogar parallel zu einer Phase des linken Dogmatismus. Hierbei wurde auch das bisherige Karrieredenken/ Karriereschema in Frage gestellt. Nicolas Weill schreibt in seinem Leitartikel Les années 1968 sans folklore ni pavés: „C’étaient les carrières ellesmêmes et les hiérarchies qui étaient en cause, et non l’insuffisance des places à occuper.“ (Weill 2008: 2) Heute werden alte Verhältnisse durch den Gesetzgeber wiederhergestellt, vor allem an den Universitäten, die Eliten ausbilden sollen. 5.6. ,Initiationsriten’ wie knock-out-Prüfungen wurden durchlässiger gestaltet oder gar ersatzlos gestrichen. (Auch diese Reform wurde allerdings z.T. zurückgenommen). Somit waren und sind aber die Lebensphasen nicht deutlich markiert; das Bewusstsein, ,erwachsen’ und ,verantwortlich’ und zugleich zu eigener Kreativität fähig zu sein, wurde und wird teilweise ersetzt durch combines, Netzwerken vor der Zeit, mit neuen anderen Abhängigkeiten. Der Begriff ‚Leistung’ wurde parallel aufgeweicht. Entstanden sind neue Erwachsene, die ,Softies’. Anzumerken ist auch, dass mit der Pluralität der Ausbildungsmethoden auch Missbrauch betrieben werden kann. Es wurde nicht hinterfragt, ob der Mensch (in der Gemeinschaft) Initiationsriten (rites de passage) braucht. Hingegen werden (z.T. sehr naiv, polemisch oder stark ideologisch geprägt) die sozialen Normen in Frage gestellt und problematisiert (Stichwort: ,Meinungsterror’ der Altachtundsechziger). 5.7. Reaktion: Während die ältere Generation (in Paris), die den Krieg und das Heer gekannt hatte, den événements mit relativ viel Ruhe begegnete, sich auch weniger vor den C.R.S. fürchtete, reagierte sie stark auf längerfristige Folgen: Die Älteren/ Alten (heute sehr Alten), gegen die sich die Opposition wendete, wichen und weichen nicht von ihren ,Posten’, so lange sie <?page no="65"?> Ein doppelter Blick auf Mai 1968 41 konnten/ können, es sei denn für gleichgesinnte Jüngere, um die valeurs traditionnelles zu retten. Es ist dies auch der alte Gedanke des: sauver l’occident. Sie suchten und suchen nach geeigneten Mitstreitern aus ihrem Lager wie auch aus dem gegnerischen Lager (i.e. die arrivierten 68er): Der neue Aufsteiger im Sakko, der leger und ,progressiv’ wirkt, aber hart bleibt, entsteht. Die Mitstreiter wurden integriert. 5.8. Aufbrechen der psychosozialen Strukturen: Soyons réalistes, demandons l’impossible. Das berühmte Motto Che Guevaras war ein Leitmotiv von 1968, und noch heute wird dieser Satz wehmütig-nostalgisch zitiert und daran erinnert, als an eine wunderbare Utopie, die nicht stattgefunden habe - man denke z.B. an die Diskussion in Club 2, im österreichischen Fernsehen am 9. April 2008. Doch mit diesem Zitieren ist m.E. eine larmoyante und bürgerlich-individualistische, vor allem zu einengende Interpretation einer Guerilla-Durchhalteparole verbunden. „Demandons l’impossible“ entsprach immer schon dem Lebensgefühl der Jugendlichen, man muss hier nicht Romeo und Julia zitieren … Dieses Übergangsstadium bzw. das existentielle Gefühl, das Künstler lebenslang in sich tragen, wurde 1968 mit „soyons réalistes“ als Anspruch an die Erwachsenen herangetragen und mit jungen, zukünftigen Erwachsenen im zivilen Leben verbunden. Hintergrund war, dass der ,alte Realismus’ „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ nicht mehr Vorbildfunktion hatte, er vielmehr zugunsten der Kreativität, der ‚Leichtigkeit des Seins’ des individuellen Lebensentwurfs, zurückgewiesen wurde: die Vorbild- und Leitfunktion der Älteren wurde nicht mehr anerkannt (vgl. Cespedes 2008). De facto aber ist das langfristige Resultat ein anderes - seither hält ein Kippeffekt mit einer erweiterten und erweiterungsfähigen midlife crisis an. Die Jugendlichen von heute wiederum werden - vor der Zeit - mit gesellschaftlichen und sexuellen Realitäten konfrontiert, die sie ,realistisch’ bewältigen sollen. So sie dies - gegen ihre Emotionen - schaffen, sind sie ,realistisch’ und ,erfolgreich’ und erreichen „l’impossible“. Mit anderen Worten: „L’impossible“ wurde, gerade von der 68er-Generation, neu besetzt, nur der Terminus ist geblieben, doch bedeutet er etwas Anderes als damals. Jedenfalls gibt man der Jugend heute weder die Zeit, noch den Raum, das weite Land der Träume (das 1968 unser war), das weite Reich der Lektüre (das ebenfalls unser war) stressfrei zu erforschen und selbständig „l’impossible“ zu erfinden, zu wünschen und zu verlangen. Das Resultat ist eine angepasste Jugend, die Utopien und Kulturrevolutionen wie 1968 für einen (nostalgischen) Luxus hält. Ihr „impossible“ bezieht sich nun auf virtuelle Welten: dieses soziologische Phänomen wird kontextfrei wissenschaftlich untersucht, was zu kurz greift, denn ,authentisch’ leben braucht Zeit, Muße, Reflexion. <?page no="66"?> Gabriele Blaikner-Hohenwart 42 6. Schlusswort 1968 stand in Österreich nicht so sehr das Happening (die „Simultanaktion“ mit Günther Brus) des Hörsaals 1 am 7. Juni 1968, sondern das Ende des Prager Frühlings mit der sowjetischen Invasion am 21. August in Prag, bei der Österreich die Rolle der internationalen Berichterstattung innehatte, im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Dem Mai joyeux folgte die Ernüchterung des Realkommunismus. 6 Wahrscheinlich verloren die ,linken Utopien’ der camarades, die nicht am Eisernen Vorhang lebten, in jenen Tagen ihren Glanz und ihre Sinnhaftigkeit. Literaturverzeichnis Sabino Acquaviva: „Il contesto internazionale“ in: Quel mitico 68. La storia della Contestazione, trent’anni dopo, Milano 1998, 19-25. Simone de Beauvoir, Les belles images, Paris 1967. Gabriele Blaikner-Hohenwart, „Vous êtes-bilingue? “ - Ein Selbstzeugnis, in: Barbara Czernilofsky/ Georg Kremnitz (Hrsg.), Trennendes. Verbindendes. Selbstzeugnisse zur individuellen Mehrsprachigkeit, Wien 2003, 70-76. Vincent Cespedes, Mai 68. La philosophie est dans la rue! Paris 2008. André Glucksmann, Wut eines Kindes, Zorn eines Lebens. Erinnerungen, Frankfurt a.M. 2007 [2006]. Maurice Grimaud, En Mai, fais ce qu’il te plaît, Paris 1977. Michel Panoff/ Michel Perrin, Taschenwörterbuch der Ethnologie. Begriffe und Definitionen zur Einführung, Berlin 3 2000 [1973]. Pier Paolo Pasolini, „Vi odio figli di papà“, in: Quel mitico 68. La storia della Contestazione, trent’anni dopo, Milano 1998, 126-128. Quel mitico 68. La storia della Contestazione, trent’anni dopo, Milano 1998. Jacques Sauvageot/ Alain Geismar/ Daniel Cohn-Bendit (Hrsg.), Aufstand in Paris oder Ist in Frankreich eine Revolution möglich? Hrsg. v. Hervé Bourges. Reinbek bei Hamburg 1968. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, Frankfurt ³1993 [1992]. Gerhard Schulze, Der Weg in die Erlebnisgesellschaft. Metamorphosen der Sozialwelt in den fünfziger Jahren, in: Ulrich Winkler (Hrsg.), Das schöne Leben. Eine interdisziplinäre Diskussion von Gerhard Schulzes „Erlebnisgesellschaft“, Thaur, Wien, München 1994, 9-16. UNEF/ SNE Sup., Le Livre noir des journées de mai, Paris 1968. Nicolas Weill, Les années 1968 sans folklore ni pavés, in: Le Monde, 26.2.2008, 2. URL: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Pierre_Bertaux (14.9.2008). 6 Vgl. hierzu André Glucksmann, der in seiner Autobiographie die Zurückweisung des Kommunisten Louis Aragon durch Daniel Cohn-Bendit schildert (am 9. Mai 1968) und mit folgender These schließt: „Dieser Vorfall ist alles andere als ein belangloses Ereignis. Das Neuartige und die Strahlkraft, die den französischen Mai auszeichneten, führten zum Bruch mit der kommunistischen Ideologie, wenn auch zaghaft und häufig unbewusst.“ (Glucksmann 2007: 141-143) <?page no="67"?> Sybille Große Sarkozy et l’héritage de 1968 - Mythisierung oder Entmythisierung? Das Erstaunen André Glucksmanns mag an jenem Abend des 29. April 2007 im Palais Omnisports de Bercy groß gewesen sein, als er Nicolas Sarkozy, den er im Präsidentschaftswahlkampf unterstützte, weil er der französischen Linken kein Vertrauen mehr entgegenbringen wollte, gegen Mai 1968 polemisieren hörte. 1 Für André Glucksmann selbst war 68 historisch und politisch schon lange abgehakt. Aber Glucksmann war nicht nur erstaunt, sondern auch amüsiert über die Aufnahme des Mythos ‚Mai 68’ in die Taktik von Sarkozys Wahlkampf. Dass Sarkozy den Ereignissen von 1968 insgesamt eine solche Bedeutung beimaß, belustigte Glucksmann jedoch weit weniger: Promettre, à la veille d’un scrutin décisif, „à cet instant si grave, si solennel, si unique dans une vie d’homme“, de „tourner la page de Mai 68“, serait accorder une importance démesurée à un simple monôme étudiant. Force est de constater que le manège tourne toujours. (Glucksmann/ Glucksmann 2008: 16) 2 Eben dieser Umstand war für André Glucksmann Grund genug, gemeinsam mit seinem Sohn Raphaël einen Essay-Band zu verfassen, in dem er Sarkozy den Mai 1968 ‚erklärt’: Ce livre naît le 29 avril 2007, au Palais omnisports de Bercy. Lors du dernier meeting électoral de Nicolas Sarkozy, un spectre surgit d’un passé que l’on pensait enfoui, à la manière des crimes oubliés de la série Cold Case: quarante ans après, l’affaire 68 est rouverte avec fracas et s’impose comme l’ultime clivage des présidentielles. (Glucksmann/ Glucksmann 2008: 11) Nun soll es hier nicht mein Anliegen sein, Glucksmanns Auffassung zu den Ereignissen und Folgen des Pariser Mai 1986 für Frankreich und die 1 Glucksmann beschreibt den Beginn seiner Unterstützung wie folgt: „Fin janvier 2007, entre Ségo et Sarko, le résultat restait imprévisible, mais je rejetais une France figée en musée-hôpital, livrée aux infections nosocomiales: égoïsmes, discriminations, fureurs, dépressions. Je publiai dans Le Monde un article intitulé: ‚Je choisis Nicolas Sarkozy’. J’y exposais un souhait précis: un ticket ‚Sarkozy-Kouchner’, lequel me valut les sourires apitoyés des experts - ‚incorrigible naïf’, ‚doux rêveur’.“ (Glucksmann/ Glucksmann 2008: 19) 2 „Ich bin kein Fetischist des Mai ’68, ob nun in Berlin oder Paris die Barrikaden brannten. Natürlich erlebten wir Augenblicke der wahren Freiheit. Kaugummi kauende GIs und küssende Frauen. Nichts ist unsinniger als zu behaupten: Die 68er Generation hat etwas Relevantes getan. ‚Die Generation 68’ existierte genau drei Wochen, sie hat sich dann zerstreut. Es war eine kurze Erhellung über das 20. Jahrhundert. Mehr nicht.“ (Glucksmann 2008: VIII) <?page no="68"?> Sybille Große 44 französische Linke wiederzugeben, sondern die Strategie und die Mechanismen von Sarkozys Wahlkampfrede in Bercy zu untersuchen, die nicht nur eine ungeheure Mediendebatte auslöste, sondern auch zu seinem Wahlerfolg erheblich beitrug. Unstrittig ist, dass die Attacke Sarkozys auf Mai 1968 als Herzstück seiner Redestrategie und auch die Härte seines Angriffs an jenem Abend wohl kalkuliert waren. Die französische Autorin Yasmina Reza, die Nicolas Sarkozy ein Jahr lang begleitete, hat ihre Beobachtungen in einem Tagebuch literarisch verarbeitet, das sie im Herbst 2007 veröffentlichte. Sie hält vor dem Auftritt Sarkozys in Bercy folgende Gesprächssequenz fest: Nicolas: (répétant une phrase de son discours de Bercy: ) Entre Jules Ferry et 68, ils ont choisi … Bon, c’est limite mauvaise foi … Y.: Je suis contente de te l’entendre dire … Nicolas: (il rit) Oui. c’est même terrifiant de mauvaise foi, mais enfin, il faut y aller! (Reza 2007: 159). Von der Rede Sarkozys in Bercy blieb in den Medien und bei seinen Widersachern, wie Daniel Cohn-Bendit, 3 daher vor allem sein bereits eingangs erwähnter Wunsch zurück, 1968 ein für alle Mal aus der Geschichte zu streichen: „Je veux tourner la page de mai 68 une bonne fois pour toutes.“ 4 Nun war es nicht das erste Mal im Laufe seines Wahlkampfs, dass sich Sarkozy zu den Folgen von 1968 für die französische Gesellschaft äußerte. Sein Auftritt in der von der UMP (Union pour un mouvement populaire) organisierten Université d’été des jeunes in Marseille im Sommer 2006, bei dem er sich schon einmal mit den Auswirkungen von 1968 auf Frankreich auseinandergesetzt hatte, war indes von den französischen 3 Am 2. Mai 2007 erschien in Libération in Form eines ‚Schuldeingeständnisses’ („Nous sommes coupables …“) die Antwort von Daniel Cohn-Bendit und Alain Geismar auf die Angriffe Sarkozys auf 1968. Darin heißt es beispielsweise: „Nous sommes génétiquement coupables d’un désir d’égalité, de solidarité et de liberté. Nous sommes génétiquement coupables de penser que le pouvoir n’est pas la propriété privée d’un homme ou d’une femme. Nous sommes génétiquement coupables de rêver d’une mondialisation écologiquement et socialement régulée. Nous sommes génétiquement coupables de croire que le kärcher ne résout rien et que la police ne peut pas tout.“ (Cohn-Bendit/ Geismar 2007) 4 Anders als bei früheren Präsidentschaftswahlkämpfen in Frankreich waren bzw. sind zahlreiche Reden der wichtigsten Kandidaten auf verschiedenen Web-Seiten als Textbzw. Videodateien zugänglich. Das gilt auch für die von mir ausgewertete Rede Sarkozys. Alle im Folgenden angeführten Zitat aus dem „Discours à/ de Bercy“ beziehen sich auf Sarkozy (2008) und werden - das entsprechende Dokument ist unpaginiert - ohne Seitenangaben wiedergegeben. Neben der Metaphorik des Ausdrucks „tourner la page“ ist es vor allem seine Feststellung vom Tod der Idéologie („L’idéologie de Mai 1968 sera morte le jour où dans la société on osera enfin rappeler chacun à ses devoirs“), die die Eindeutigkeit von Sarkozys Haltung zu den damaligen Ereignissen verdeutlicht. Auch wenn Sarkozy in seiner Rede von Bercy durchaus das Lexem „liquider“ gebraucht, spricht er nicht ausdrücklich von „liquider l’héritage de mai 1968“, so wie es in den französischen Medien zitiert wurde (vgl. u.a. Nouvelobs.com vom 30. April 2007). <?page no="69"?> Sarkozy et l’héritage de 1968 45 Medien deutlich weniger diskutiert worden. 5 Umso mehr Aufmerksamkeit darf daher der Kontext des neuerlichen Angriffs auf dieses Erbe in der Rede von Bercy beanspruchen. Bercy war das letzte Wahlmeeting von Nicolas Sarkozy vor dem entscheidenden zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am 6. Mai 2007. Hier galt es für ihn in erster Linie, die unentschiedenen Wähler, die Wechselwähler, insbesondere des politischen Zentrums sowie jene der heillos zerstrittenen Linken zu überzeugen und sich so deren Stimme im zweiten Wahlgang zu sichern. Diese persuasive Funktion, die man in Sarkozys Rede erkennt, ist bei Wahlkampfreden generell die primäre, d.h. die konstituierende Sprachfunktion; ihr wichtigstes Verfahren bleibt auch in den Zeiten einer ungeheuren medialen Verbreitung politischer Kommunikation allgemein die Argumentation (vgl. Girnth 2002: 41f.; Spieß 2006: 28). Die Ausführungen zu 1968, die den Kern der Argumentation bilden, werden von Sarkozy gut vorbereitet und geschickt gerahmt. Bevor er in seiner Rede die „katastrophalen“ Folgen des Mai 1968 debattiert, präsentiert er sich als volksverbundener Kandidat, der mit den Franzosen im Wahlkampf in Kontakt und ins Gespräch kam und sich für ihre Sorgen interessierte, indem er zu Anfang seiner Rede in Bercy mehrfach wiederholt: „Je suis allé à la rencontre des Français […]“ Dabei spart er auch die problematischen Begegnungen und Äußerungen nicht aus, wie seinen Vergleich französischer Jugendlicher mit Gesindel oder den Vorschlag, die Pariser banlieue, vor allem La Courneuve, mit dem „Kärcher“ zu reinigen: C’était le jour de la fête des pères, deux bandes rivales s’affrontaient au pied de l’immeuble et ce petit garçon a pris une balle perdue. C’était le jour où j’ai parlé du Karcher. Je ne regrette pas d’avoir stigmatisé celui qui est capable de tuer un petit garçon de 11 ans le jour de la fête des pères. 6 Die Probleme Frankreichs werden von ihm an Einzelschicksalen exemplifiziert und dadurch emotionalisiert, bis er schließlich betont, dass derartige „Ungerechtigkeiten“ von ihm nicht weiter hingenommen würden: „Moi, je veux changer tout cela parce que ces injustices ne sont pas acceptables.“ In dem Bewusstsein, dass er manche Wähler auch deshalb nicht von sich überzeugen kann, weil er der Kandidat der mitterechtsgerichteten Partei UMP ist, grenzt er sich von dieser seiner Parteifunktion ab: „Voilà la France pour qui je veux aller à la rencontre. Au fond, je ne parle 5 Sarkozy hatte sich bei dieser Gelegenheit u.a. folgendermaßen zu 1968 geäußert: „Les étudiants qui se sont révoltés en mai 68 étaient des enfants gâtés par les Trente glorieuses. Vous êtes les enfants de la crise. Ils ont vécu sans contrainte. Vous payez aujourd’hui la facture.“ (Sarkozy 2006) 6 Am 25. Oktober 2005, zu Zeiten der Unruhen in den französischen Vorstädten, hatte der Innenminister Nicolas Sarkozy sich abfällig über die „randalierenden“ Jugendlichen geäußert und sie als ‚racailles’ beschimpft. Diese Äußerung hat im Nachhinein in der französischen Presse und Öffentlichkeit für Aufsehen und Diskussion gesorgt. <?page no="70"?> Sybille Große 46 pas à un parti politique, je suis libéré de mes attaches, de mes combats antérieurs.“ Dabei stilisiert er sich zum Kandidaten aller Franzosen: Je veux être le candidat du peuple de France et non celui des médias, des appareils ou de tel ou tel intérêt particulier, des intérêts partisans, des sectarismes. Je veux être le candidat du peuple parce que pendant des mois j’ai vu ce que le peuple vivait, ce qu’il ressentait. Sarkozy greift zudem das Argument, dass die französische Bevölkerung politikverdrossen sei, auf und setzt dieses in Verbindung zur Moral in der Politik: Ensemble, c’est sans doute le mot le plus important à mes yeux de cette campagne. C’est le mot qui appelle plus de volonté politique et plus de nation. J’ai voulu remettre la volonté politique et la France au cœur du débat politique. Au cours de cette campagne, je n’ai finalement parlé que de la France. La volonté politique et la nation c’est toujours pour le meilleur et aussi pour le pire. Le peuple qui se mobilise, qui devient une force collective, c’est une puissance redoutable qui peut aussi bien agir pour le meilleur que pour le pire. Faisons en sorte que ce soit pour le meilleur. Nous conjurerons le pire en respectant les Français, en tenant nos engagements, en respectant la parole donnée. Nous conjurerons le pire en remettant de la morale dans la politique. Oui j’ose le mot, de la morale dans la politique. (Hervorhebung S. G.) Und genau dieses Lexem „morale“ sowie die Konzeption von Moral sind der Ausgangspunkt, an dem Sarkozys Argumentationskette zum Mai 1968 ansetzt. Bevor ich mich eingehender damit beschäftige, möchte ich auf einige Möglichkeiten textbzw. diskurslinguistischer Analyse politischer Kommunikation verweisen. Patrick Charaudeau (2005) führt drei wesentliche Analysefelder an: die lexikometrische Analyse, die statistisch fundiert ist und die Eingebundenheit der Sprecher in bestimmte politische bzw. ideologische Strömungen durch die Analyse der Lexeme fokussiert; die Äußerungsanalyse, welche die Sprecherhaltungen analysiert sowie die Argumentationsanalyse, die versucht, die verschiedenen Argumentationsstränge und Gedankengänge zu rekonstruieren: […] une analyse lexicométrique qui, en utilisant une méthode de traitement statistique des corpus, essaye de déterminer des univers sémantiques et des positionnements des locuteurs impliqués d’une façon ou d’une autre dans le champ politique, une analyse énonciative qui met en évidence les comportements locutifs des acteurs de la vie politique et au-delà leur positionnement idéologique; une analyse argumentative qui tente de mettre en évidence les logiques de raisonnement qui caractérisent lesdits positionnements. (Charaudeau 2005: 28) In meiner folgenden Analyse wende ich mich besonders der dritten Möglichkeit, der Argumentationsanalyse, zu. Mit dem bereits erwähnten Lexem „morale“ leitet Sarkozy zum Mythos des Mai 68 in Frankreich über. Er behauptet, ohne es zu beweisen, dass er es ist, der die Moral zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder in das Zentrum <?page no="71"?> Sarkozy et l’héritage de 1968 47 einer Wahlkampagne stellt. Damit liefert er zugleich ein hervorragendes Beispiel für eine Pseudoargumentation, wie wir sie auch in anderen Teilen seiner Rede und in politischen Reden allgemein finden. Die Grundaussage der weiteren Abschnitte von Sarkozys Rede lässt sich wie folgt formulieren: Das Erbe von 1968 sei verantwortlich für die Krise des Landes, eine Krise, die alle Bereiche erfasse und eben auch eine Krise des sozialen Bewusstseins sei. Die Erben von 1968 seien die heutigen Linken. Sprachlich bemerkenswert für die weitere Entwicklung der Rede erscheint mir vor allem diese Gleichsetzung von 1968 bzw. dessen Erben mit der Linken. In keinem Fall paraphrasiert und erläutert Sarkozy explizit, dass die französische Linke - im Sinne der Aussage „1968, c’est la gauche“ - Erbe des Gedankenguts von 1968 sei. Nein, er geht subtiler vor, indem er im Verlauf seiner Rede die Subjekte seiner Äußerungen, die eine thematische Funktion erfüllen, einfach austauscht und mit einem bestimmten Artikel bzw. Determinanten versieht. Dadurch entsteht der Eindruck sprachlicher Rekurrenz, die auf der semantischen Ebene impliziert werden muss. Um diesen Zusammenhang besser verdeutlichen zu können, habe ich im folgenden Redeausschnitt einen Großteil der Subjekte fett hervorgehoben: Le mot „morale“ ne me fait pas peur. La morale, après 1968, on ne pouvait plus en parler. C’était donc un mot qui avait disparu du vocabulaire politique. Pour la première fois, depuis des décennies, la morale a été au cœur d’une campagne présidentielle. Mai 68 nous avait imposé le relativisme intellectuel et moral. Les héritiers de mai 68 avaient imposé l’idée que tout se valait, qu’il n’y avait donc désormais aucune différence entre le bien et le mal, aucune différence entre le vrai et le faux, entre le beau et le laid. Ils avaient cherché à faire croire que l’élève valait le maître, qu’il ne fallait pas mettre de note pour ne pas traumatiser les mauvais élèves, et surtout qu’il ne fallait surtout pas de classement. La victime comptait moins que le délinquant. Ils avaient cherché à faire croire qu’il ne pouvait exister aucune hiérarchie des valeurs. D’ailleurs il n’y avait plus de valeurs, plus de hiérarchie, ils avaient réussi, il n’y avait plus rien du tout, et eux-mêmes, c’était pas grand-chose ... Ils avaient proclamé les héritiers de 1968 que tout était permis, que l’autorité c’était fini, que la politesse c’était fini, que le respect c’était fini, qu’il n’y avait plus rien de grand, plus rien de sacré, plus rien d’admirable, plus de règle, plus de norme, plus d’interdit. Beau résultat en vérité. Souvenez-vous du slogan de mai 68 sur les murs de la Sorbonne: „Vivre sans contrainte et jouir sans entrave.“ Eh bien voyez comment l’héritage de mai 68 a liquidé l’école de Jules Ferry qui était une école de l’excellence, du mérite, du respect, une école du civisme, une école qui voulait aider les enfants à devenir des adultes et non à rester de grands enfants, une école qui voulait instruire et non infantiliser, parce qu’elle avait été construite par de grands républicains qui avaient la conviction que l’ignorant n’est pas un homme libre. Eh bien voyez comment l’héritage de mai 68 a liquidé une école qui transmettait une culture commune et une morale partagée grâce auxquelles tous les Français pouvaient se parler, se comprendre et vivre ensemble. Parce que si nous n’avons pas une culture commune et une morale partagée, c’est notre <?page no="72"?> Sybille Große 48 capacité à nous supporter, à nous comprendre, à nous parler, à vivre ensemble qui est gravement remise en question. Voilà pourquoi il fallait tourner cette page. Mais, je veux aller plus loin, parce que l’héritage de mai 68 a introduit le cynisme dans la société et dans la politique. Voyez comment le culte de l’argent roi, du profit à court terme, de la spéculation, comment les dérives du capitalisme financier ont été portés par les valeurs de mai 68. Puisqu’il n’y a plus de règles, plus de normes, plus de morale, plus de respect, plus d’autorité, puisque tout se vaut, alors tout est permis. […] Je le dis les héritiers de mai 68 ont abaissé le niveau moral de la politique. Voyez tous ceux qui se réclament de l’héritage de mai 68, vous les reconnaîtrez certainement, ils donnent aux autres des leçons qu’ils ne s’appliquent jamais à eux-mêmes, ils veulent imposer aux autres des comportements, des règles, des sacrifices qu’ils ne s’imposent jamais à eux-mêmes. Voyez-les, écoutez-les, ils proclament toujours: „Faites ce que je dis, ne faites surtout pas ce que je fais! “ Voyez-la, écoutez-la cette gauche héritière de mai 68. Cette gauche qui n’aime pas la République parce qu’elle n’aime pas l’égalité […]. Die oftmals parallele Konstruktion seiner Äußerungen erleichtert dem Zuhörer die Zuordnung der Informationen, die für die jeweiligen, von mir fett markierten Subjekte (hier Thema der Äußerung) gegeben werden. 7 Neben der parallelen Struktur ist auffällig, dass die Äußerungen oftmals sehr kurz sind, was gleichfalls ihr Verständnis fördert. 8 Es ist aufschlussreich zu sehen, welche rhematischen Elemente er dem Mai 1968 und seinen legitimen oder eben illegitimen bzw. irrtümlichen Erben jeweils zuschreibt. Es handelt sich um eine umfangreiche Liste von Problemen, die als charakteristisch für die moderne französische Gesellschaft dargestellt werden: intellektueller sowie moralischer Relativismus, fehlende Wertehierarchie, Verfall der Werte, Mangel an Hierarchie, Autorität, Höflichkeit, Respekt, Exzellenz, Gemeinkultur und Moral, Zynismus in der Politik, skrupelloser Kapitalismus ohne jegliche Ethik: Mai 68 nous avait imposé le relativisme intellectuel et moral. Les héritiers de mai 68 avaient imposé l’idée que tout se valait, qu’il n’y avait donc désormais aucune différence entre le bien et le mal, entre le vrai et le faux, entre le beau et le laid. Ils avaient cherché à faire croire que l’élève valait le maître, qu’il ne fallait pas mettre de note pour ne pas traumatiser les mauvais élèves, qu’il ne fallait surtout pas de classement. 7 Nur in Einzelfällen, am Ende des Ausschnitts, wurden auch Objekte einbezogen. 8 Serge Raffy hat in dieser Perspektive die Reden von Ségolène Royal und Nicolas Sarkozy analysiert und kommt zu folgendem Schluss: „Ils font des phrases courtes, 25 mots maximum pour lui, 36 pour elle. Ils interpellent le public, semblent prendre à bras-le-corps les problèmes de chacun, au cas par cas.“ (Raffy 2007: 27) <?page no="73"?> Sarkozy et l’héritage de 1968 49 Ils avaient cherché à faire croire qu’il ne pouvait exister aucune hiérarchie des valeurs. Il n’y avait d’ailleurs plus de valeurs, plus de hiérarchie, ils avaient réussi, il n’y avait plus rien du tout, et eux-mêmes, ce n’était pas grand-chose ... Ils avaient proclamé que tout était permis, que l’autorité c’était fini, que la politesse c’était fini, que le respect c’était fini, qu’il n’y avait plus rien de grand, plus rien de sacré, plus rien d’admirable, plus de règle, plus de norme, plus d’interdit. Voyez comment l’héritage de mai 68 a liquidé l’école de Jules Ferry qui était une école de l’excellence, du mérite, du respect, une école du civisme, une école qui voulait aider les enfants à devenir des adultes et non à rester de grands enfants, une école qui voulait instruire et non infantiliser, parce qu’elle avait été construite par de grands républicains qui avaient la conviction que l’ignorant n’est pas un homme libre. Voyez comment l’héritage de mai 68 a liquidé une école qui transmettait une culture commune et une morale partagée grâce auxquelles tous les Français pouvaient se parler, se comprendre et vivre ensemble. Mais, je veux aller plus loin, parce que l’héritage de mai 68 a introduit le cynisme dans la société et dans la politique. Voyez comment le culte de l’argent roi, du profit à court terme, de la spéculation, comment les dérives du capitalisme financier ont été portés par les valeurs de mai 68. Les héritiers de mai 68 ont abaissé le niveau moral de la politique. Voyez tous ceux qui se réclament de l’héritage de mai 68, vous les reconnaîtrez certainement, ils donnent aux autres des leçons qu’ils ne s’appliquent jamais à euxmêmes, ils veulent imposer aux autres des comportements, des règles, des sacrifices qu’ils ne s’imposent jamais à eux-mêmes. Voyez-les, écoutez-les, ils proclament toujours: „Faites ce que je dis, ne faites surtout pas ce que je fais! “ Voyez-la, écoutez-la cette gauche héritière de mai 68. Cette gauche qui n’aime pas la République parce qu’elle n’aime pas l’égalité […]. Trotz der Explizitheit des Angriffs auf 1968 und die Linke, die diese Aussagen kennzeichnet, bleibt Glucksmann der Auffassung, dass Sarkozy nicht die Grundlagen des Mai 1968 angegriffen habe, sondern nur eine diffuse Vorstellung des ‚Geistes’ von 1968: Il attaque, j’en reste convaincu, ce qu’on nomme „l’esprit de Mai“. Non pas l’expérience de la liberté, celle de la rue, celle des usines occupées, mais un fantôme, une illusion rétrospective, un simulacre porté à son comble mythologique, lorsque François Mitterrand, dix ans plus tard, en fleurit son <?page no="74"?> Sybille Große 50 „Programme commun“ avec les communistes. (Glucksmann/ Glucksmann 2008: 25) 9 Die Analyse zeigt allerdings, dass Sarkozy auch ganz konkrete Aspekte der von Glucksmann beschriebenen Freiheit angreift und darüber hinaus Mai 1968 insgesamt, oder, wenn man so will, den ‚Geist’ des Mai 1968 als Instrument für seine Abrechnung mit der Linken einsetzt. Die Rede so auszurichten, war durchaus riskant, aber innerhalb einer Wahlkampfstrategie, die von der permanenten Suche nach Polarisierung, Brüchen und Dissens geprägt war, letztlich erfolgreich: Le coup tactique de Bercy s’inscrit dans la stratégie mise en place dès 2002 par Sarkozy: polariser le débat autour de ses prises de position, réinventer des clivages, créer le dissensus plutôt que le consensus. Ce choix du conflit est en soi une rupture par rapport aux habits rassembleurs de Mitterand en 1988 ou Chirac en 1995 et 2002. Il contribue largement au réveil civique qui caractérise la campagne. (Glucksmann/ Glucksmann 2005: 23) Für die sprachliche Charakterisierung dieses Teils der Rede von Sarkozy ist der Gebrauch von ‚Hochwertwörtern‘ im Sinne von Kettemann und Spieß 10 oder ‚Symbolwörtern‘ im Sinne Heiko Girnths bzw. von ‚formules‘ 11 wesentlich. Als Beispiele hierfür können „le peuple“, „l’homme de la Nation“ (= „le président“) sowie die im vorangehenden Textausschnitt unterstrichenen Lexeme und Kollokationen „la morale“, „l’autorité“, „l’hiérarchie des valeurs“, „l’homme libre“ und „la culture commune“ genannt werden. 12 Die Aufgabe von Symbolwörtern ist, „die komplexe 9 Unbestreitbar ist, und dies wird beispielsweise auch für die Analysen apolitischer Kommunikation durch Charaudeau herausgestellt, dass mit zeitlicher Entfernung von bestimmten historischen bzw. politischen Ereignissen eine Verklärung einsetzt und die Elemente der Imagination an Gewicht gewinnen: „Les expériences vécues dans le passé, c’est bien connu, acquièrent avec le temps une aura particulière mais surtout elles créent de l’identité et de la différence: identité avec ceux qui les ont partagés, de quelque nature qu’elles puissent être (guerre d’Algérie, Mai 68), différence et plus encore altérité avec les générations pour lesquelles ces expériences sont déjà historiques.“ (2005: 164) 10 „Hochwert- und Stigmawörter können innerhalb von Argumentationen verschiedene Funktionen haben. Sie werden gebraucht, um kontroverse Standpunkte zu verschleiern oder hervorzuheben, um sich des Wortes der Gegenpartei zu bemächtigen oder das der Gegenpartei abzuwerten, um der eigenen Vorstellung auf der Basis eines allgemein anerkannten Konzeptes Akzeptanz zu verschaffen.“ (Spieß 2006: 33) 11 Die formale Vielfalt derartiger ‚formules‘ ist gemäß Charaudeau sehr groß: Sie reicht von einfachen Lexemen wie „immigration“, über feste Wendungen wie „purification ethnique“, über elliptische Phrasen wie „Plus jamais ça! “ und definitorische Phrasen wie „Nous sommes tous des juifs allemands“ bis hin zu Ausrufen wie „L’imagination au pouvoir! “ (vgl. Charaudeau 2005: 76-77). Dabei gibt es aus unserer Perspektive in den bei Charaudeau angegebenen Beispielen zwischen den elliptischen Phrasen und den Ausrufen nur eine ungenügende Differenzierung. 12 Um zu den für den politischen Diskurs notwenigen ‚formules‘ zu gelangen, beschreibt Charaudeau (2005: 75) zwei Verfahren: die Singularisierung (‚singularisation‘) und die Verallgemeinerung (‚essentialisation‘). <?page no="75"?> Sarkozy et l’héritage de 1968 51 Wirklichkeit, vereinfachend, man könnte auch sagen verdichtend, darzustellen“ (Girnth 2002: 52). Diese Art der Vereinfachung (‚simplification‘) ist ein grundlegendes Charakteristikum politischer Argumentation, das allerdings für den Hörer das Risiko birgt, dass die Wirklichkeit verzerrt oder falsch abgebildet wird. 13 Ein Vorteil dieser zumeist sehr kompakten Hochwertwörter oder Formulierungen ist aber, dass sie, obwohl sie oftmals semantisch, d.h. im Denotat und vor allem Konnotat, durchaus sehr beladen oder vielschichtig, gleichzeitig aber auch wieder diffus genug sind, um auf die Mehrzahl der Rezipienten eine spürbare Anziehungskraft auszuüben, so wie es in psychosoziologischen Studien beschrieben wird (vgl. Charaudeau 2005: 76). 14 Mit dem Gebrauch der oben genannten Lexeme fühlen sich letztlich nicht allein die Mitte-Rechts-Wähler der UMP angesprochen, sondern auch Wähler, die politisch deutlich linksgerichteter sind, bei denen mit den genannten Lexemen andere Wissensbestände aktiviert werden, d.h. möglicherweise andere Inferenzen auftreten. 15 Ein wichtiger Aspekt der semantischen Verarbeitung von Texten allgemein stellt dementsprechend die Verknüpfung der im Text angezeigten Konzepte mit dem Weltwissen dar (oder eben prototypischem, enzyklopädischem und kontextuellem Wissen), das im Text nicht expliziert wird. Dieser Prozess wird als ‚Inferenz’ beschrieben. 16 Gerade der Bereich kulturspezifischer bzw. kulturbedingter und in Teilen sachbezogener Inferenzen kann das Verstehen des Textes ohne die Kenntnis bestimmter kultureller Symbole bzw. Standards erschweren, eventuell sogar hemmen, was im Kontext einer Wahlkampfrede besonders schwerwiegend wäre. Nehmen wir 13 Vgl. Charaudeau (2005: 75): „C’est là qu’apparaît le risque, car simplifier peut aboutir à une vérité faussée, à une vérité non prouvée ou même à une contrevérité […].“ 14 Vgl. Klein (2006: 20): „Wörter enthalten vielfach ein Handlungspotenzial, das bei manchen Wörtern kontextübergreifend zur konventionellen Bedeutung des Worts gehört, bei anderen in Abhängigkeit vom Kontext aktualisiert wird und das sich aus verschiedenen ‚Dimensionen der Bedeutung‘ ergibt: der sachorientierten ‚kognitiven‘, der gefühlsausdrückenden ‚emotiven‘, der (damit häufig gleichgesetzten) ‚evaluativen‘ und der willens- und sollensbetoneneden ‚präskriptiven‘ Bedeutungsdimension.“ 15 Vgl. Klein (2006: 23): „Politische Texte enthalten entsprechend ihrer komplexen Handlungsstruktur vielfach ein breites Angebotsspektrum für das Verstehen, aus dem sich je nach Relevanzsetzung der Rezipienten unterschiedliche und gleichzeitig korrekte Verständnisse oder Teilverständnisse ergeben. Verstehen von Texten ist abhängig von der Möglichkeit, sie in Zusammenhänge einordnen zu können.“ 16 Sigrid Kupsch-Losereit (2000: 2) formuliert, dass Inferenzen „Textinhalte mit dem Wissen über sprachliches Handeln, dem Interaktionswissen (vgl. Heinemann/ Viehweger 1991: 96-108) sowie Erfahrungs- und Weltwissen [verbinden - S. G.], um einen kohärenten und in sich stimmigen Textsinn zu erhalten“. Ein Text ist demnach nicht Träger von Bedeutungen. Er dient vielmehr als Auslöser für mentale Konstruktionsprozesse, die teils von der externen Textinformation und teils von der internen (im semantischen Gedächtnis gespeicherten) Vorwissensinformation angeleitet werden. Diese Konstruktionsprozesse führen zum Aufbau einer mentalen Repräsentation des im Text beschriebenen Sachverhalts, was subjektiv als „Erfassen der Textbedeutung“ (Schnotz 2006: 224) erlebt wird. <?page no="76"?> Sybille Große 52 als Beispiel für einen Kulturstandard die von Sarkozy erwähnte Schultradition Jules Ferrys. Hier vertraut Sarkozy interessanterweise nicht allein der Kenntnis der Vorteile der von Ferry eingeführten Schulpflicht und dem damit verbunden Schulumbau, sondern definiert diese von Ferry geschaffene Schule nochmals in ihren positiven Aspekten. Das bedeutet, dass Teile der Inferenzleistung durch den Rezipienten von Sarkozy vorweggenommen werden und er zugleich die Richtung der Inferenz vorgibt: Eh bien voyez comment l’héritage de mai 68 a liquidé l’école de Jules Ferry qui était une école de l’excellence, du mérite, du respect, une école du civisme, une école qui voulait aider les enfants à devenir des adultes et non à rester de grands enfants, une école qui voulait instruire et non infantiliser, parce qu’elle avait été construite par de grands républicains qui avaient la conviction que l’ignorant n’est pas un homme libre. Eh bien voyez comment l’héritage de mai 68 a liquidé une école qui transmettait une culture commune et une morale partagée grâce auxquelles tous les Français pouvaient se parler, se comprendre et vivre ensemble. Parce que si nous n’avons pas une culture commune et une morale partagée, c’est notre capacité à nous supporter, à nous comprendre, à nous parler, à vivre ensemble qui est gravement remise en question. Voilà pourquoi il fallait tourner cette page. Sarkozys Argumentation ist in diesem Abschnitt erneut vereinfacht und mit zahlreichen Hochwertwörtern gespickt („excellence“, „mérite“, „civisme“, „instruire de grands républicains“, „homme libre“), die die allgemeine Zustimmung der Zuhörer finden sollen. Ob diese Werte jedoch wirklich Werte sind, die man der Schule Jules Ferrys zuordnen kann, wird von ihm nicht erörtert. Eine politische Argumentation ist eben keine juristische: Es kommt nicht darauf an, dass das Gesagte wahr ist, sondern dass man es für wahr hält (vgl. Charaudeau 2005: 77). Die politische Konsequenz, die sich aus dem angeblichen Bruch der Schule Jules Ferrys durch Mai 1968 für Sarkozy und seine Partei zu ergeben schien, wird von ihm klar und deutlich ausgesprochen: „Il fallait tourner cette page“. Diese Deutlichkeit bzw. Direktheit ist für Dominique Wolton (2007: 6) ein grundsätzliches Merkmal des Redestils Nicolas Sarkozys und zeigt sich im Verlauf der Rede auch in der Darstellung der Arbeiter als „victimes“. Zudem wendet Sarkozy im überwiegenden Teil seiner Argumentationen zum Mai 1968 das Prinzip der Kausation an, indem er dem Mai 1968, den Erben oder auch dem Erbe von 1968 die Verantwortung für die breite politische und soziale Krise Frankreichs zuschreibt. 17 17 Girth (2002: 87) unterscheidet drei wesentliche Argumentationskategorien: Kausation, Konsekution und Motivation. Sprachlich markiert wird die Kausation durch den Gebrauch argumentativer Marker wie „Voilà pourquoi“ (siehe auch Adam 2006: 123ff., [Hervorhebung S. G.]). Die Wirkung solcher Marker wie „parce que“, „puisque“, „en effet“, „comme“, „même“ etc. kann man auch sehr gut an dem folgenden Beispiel verdeutlichen, bei dem Sarkozy mit dem eher harmlos bzw. nichtig wirkenden „d’ailleurs“ Argumente einleitet, die die Absurdität eines bestimmten Ansinnens herausstellen sollen: „Ils avaient cherché à faire croire qu’il ne pouvait exister aucune <?page no="77"?> Sarkozy et l’héritage de 1968 53 Sehen wir uns nun noch ein anderes Beispiel seiner Strategie an. Um überhaupt argumentieren zu können und in diesem Fall den Mai 1968 und seine Erben, die französischen Linken, in Verbindung mit der derzeitigen Krise bringen zu können, muss Sarkozy Argumente liefern. 18 Diese Argumente können - das scheint im politischen Diskurs sehr häufig der Fall zu sein - durchaus aus zahlreichen Behauptungen bestehen. 19 Das folgende Beispiel lässt das deutlich werden: Cette gauche qui n’aime pas la République parce qu’elle n’aime pas l’égalité ; Cette gauche qui prétend défendre les services publics mais qui ne prend jamais les transports en commun ; Cette gauche qui aime tellement l’école publique qu’elle n’y met pas ses enfants ; Cette gauche qui adore la banlieue, qui en parle brillamment, mais qui se garde bien d’y habiter ; Cette gauche qui trouve toujours des excuses aux voyous à condition qu’ils restent dans des quartiers où elle ne va jamais ; Cette gauche qui fait des grands discours sur l’intérêt général mais qui s’enferme dans le clientélisme, dans le corporatisme et dans l’immobilisme ; Cette gauche n’est pas avare pour signer des pétitions quand on expulse des squatters mais qui n’accepterait pas que l’on s’installe chez elle ; Cette gauche entre Jules Ferry et mai 68 elle a choisi mai 68 ; Cette gauche condamne la France à un immobilisme dont les travailleurs, les plus modestes, les plus pauvres, seraient les principales victimes. Elle a renoncé cette gauche au mérite et à l’effort. Elle a cessé de parler aux travailleurs, de se sentir concernée par le sort des travailleurs, d’aimer les travailleurs. Au fond, elle ne parle plus des travailleurs parce qu’elle rejette la valeur du travail, parce que la valeur du travail ne fait plus partie de ses valeurs, parce que son idéologie à elle ce n’est pas l’idéologie de Jaurès, ce n’est pas l’idéologie de Blum, Jaurès et Blum respectaient le travail, aimaient les travailleurs, parlaient des travailleurs. Aujourd’hui, elle parle de statuts, d’assistanat, d’égalitarisme, de nivellement, des 35 heures. Elle a tourné le dos hiérarchie des valeurs. Il n’y avait d’ailleurs plus de valeurs, plus de hiérarchie, ils avaient réussi, il n’y avait plus rien du tout, et eux-mêmes, ce n’était pas grandchose…“ [Hervorhebung S. G.]. 18 Zur Beschreibung der Argumentation siehe Spieß (2006: 31): „Die Intention des Handlungsmusters Argumentieren ist das Klären einer strittigen Frage mittels Unstrittigem. Dabei geht es immer auch um das Überzeugen des Gegners von der in Frage stehenden These durch die glaubhafte und plausible Abstützung bzw. Begründung.“ 19 Die Vielfalt möglicher Argumente wird unter anderem bei Charaudeau (2005: 78f.) beschrieben. Vgl. dazu auch Kopperschmidt (1989: 17). <?page no="78"?> Sybille Große 54 aux travailleurs de notre pays. Je le dis à la gauche: je veux réhabiliter le travail et parler des travailleurs. Die Behauptungen haben eine ebenso parallele (Anapher „Cette gauche qui …“) wie antithetische Struktur. Es handelt sich im Wesentlichen um Attributisierungen, die der Linken bestimmte Eigenschaften zuschreiben, die sie aber im Verständnis Sarkozys eigentlich nicht besitzt. Der Gebrauch der adversativen Konjunktion „mais“ markiert Gegensätze zwischen Äußerungen und Handlungen der Linken, die von den Textrezipienten mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen aber noch entsprechend inferiert bzw. situiert werden müssen. Folglich wird die Antithese hier erstaunlicherweise allein durch „mais“ syntaktisch bzw. lexikalisch gestützt. 20 Die Argumentation ist erneut stark vereinfacht. Durch die parallele Konstruktion der einzelnen Behauptungen wird eine Verstärkung erzielt sowie die Akzeptanz der transportierten Inhalte erhöht (Kettemann 1990: 180). 21 Im letzten Abschnitt des vorgestellten Zitats wird die nicht mehr vorhandene Nähe der Linken zu den Arbeitern stärker illustriert. Mit der Behauptung, dass die Linke, die den Arbeitern bzw. der Arbeiterklasse traditionell sehr eng verbunden war, sich nun mit der Einführung der 35- Stundenwoche von ihr entfernt hätte, sollen jene Wähler, die üblicherweise links wählen, mobilisiert werden. Mit Beispielen dieser Art steigt der emotionale impact der Rede deutlich an (vgl. Van Dijk 2006: 93). Innerhalb der gesamten Rede lassen sich zahlreiche Tropen nachweisen; besonders häufig sind die Beispiele für Klimax („se parler“, „se comprendre“, „vivre ensemble“, „instruire et non infantiliser“, „devenir et non rester“ etc.) oder für Anaphern („Ce jour-là“, „Je propose“, „Je suis allée“ etc.). Ihre Wirkung liegt in der vereinfachten Memorisierung und in der Verstärkung der jeweiligen Aussagen. Auf der Ebene der Informationsstruktur können wir erkennen, dass Sarkozy recht oft von der Wortstellung Subjekt-Verb-Objekt abweicht und bestimmte Elemente topikalisiert („La morale, après 1968, on ne pouvait plus en parler“) bzw. fokussiert („Voyez-la, écoutez-la cette gauche héritière de mai 68“), um die Aufmerksamkeit der Zuhörer gezielt auf bestimmte Aussagen zu lenken. In Sarkozys Rede finden sich außerdem zahlreiche Beispiele und Anekdoten. Diese dienen gleichfalls der Emotionalisierung der Rede, die schon seit Aristoteles als wichtiges Kennzeichen der politischen Rede angesehen wurde; denn nicht auf die Nähe zur außersprachlichen Realität 20 Alain Rabatel (2001: 158) vertritt die Auffassung, dass „mais“ allein zur Markierung eines Sprecherstandpunktes ausreichend ist und keiner weiteren Marker bedarf. 21 Dafür finden sich insgesamt zahlreiche Beispiele in der Rede, unter anderem: „Je veux être le président de la France…“ oder „Il me fallait… Un doute…“ oder wie folgt: „Je propose aux Français de rompre avec les idées de mai 68. Je propose aux Français de renouer en politique avec la morale, l’autorité, le respect, le travail, la nation. Je propose de reconstruire un État qui fasse réellement son métier. Je propose de refaire une République une et indivisible contre tous les communautarismes et tous les séparatismes. Je propose de rebâtir une nation fière d’elle-même.“ <?page no="79"?> Sarkozy et l’héritage de 1968 55 kommt es an, vielmehr auf die zur Gefühlswelt der Zuhörer. 22 Auch dazu zwei Beispiele aus der Rede von Bercy: J’ai rencontré dans les hôpitaux des malades qui ajoutaient aux souffrances de la maladie la douleur de se sentir exclus, le scandale d’être mis à l’écart de la société qui ne voulait même plus les regarder. Je me souviens d’une infirmière dans un hôpital pleurant en me racontant comment la désorganisation due aux 35 heures l’empêchait de s’occuper autant qu’il aurait été nécessaire des malades pour lesquels elle était le dernier lien avec la vie. Les 35 heures ont brisé toute forme d’organisation de l’hôpital français. Les 35 heures ont brisé toute forme d’organisation de l’hôpital français. Je me souviens de ce jeune rugbyman dans ce centre de rééducation qui tentait avec toutes les forces qui lui restaient de rassembler les morceaux d’une vie brisée par un accident qui l’avait rendu tétraplégique. Il a sa place dans la société qui est la nôtre. Je me souviens d’une visite à la prison pour femmes de Rennes et de la rencontre avec une mère d’une petite fille de 7 ans qui était sa seule raison de vivre. J’ai vu la misère des prisons françaises si souvent indignes de la patrie des droits de l’Homme. J’ai vu les femmes martyrisées dans les centres d’accueil où elles tentent de se reconstruire. J’ai vu dans les maisons de retraite la tristesse qui était dans le regard des vieillards frappés par la dépendance et qui n’avaient plus l’impression de vivre, mais de survivre parce qu’ils étaient abandonnés de tous, parce qu’ils n’avaient besoin que d’un peu d’amour et de respect que plus personne ne leur donnait sous prétexte qu’ils étaient dépendants. Cette société-là, nous n’en voulons pas. De tous ces malheureux que la vie a brisés, que la vie a usés, je veux être le porteparole. Je veux être celui qui leur rendra une place dans la République, qui leur redonnera un peu de cette considération et de cet espoir sans lesquels il n’y a plus d’humanité. Wichtig für die Emotionalisierung der Rede ist auch die direkte Ansprache der Zuhörer, die so genannte tua res agitur: „Voyez“, „Oui, mes chers amis“, „C’est à vous que je veux donner la parole. C’est à vous que je veux rendre le pouvoir“, „Vous allez le faire, mes chers compatriotes, parce que c’est votre devoir de citoyens, parce qu’à la fin, il faut que la France soit gouvernée, parce que c’est la responsabilité de chacun de faire vivre la démocratie“ etc. Nun würde diese Art der sprachlichen Mittel, die oftmals sehr einfachen und bekannten rhetorischen Prinzipien folgen, nicht ausreichen, um aus Sarkozy einen begabten Redner zu machen, der sich in die Zuhörer einzufühlen versucht und sie von seiner Kraft überzeugt. Um gut zu 22 Vgl. Charaudeau (2005: 63): „Pour d’autres, en revanche, il convient de tenter de catégoriser les passions et de les intégrer au processus argumentatif car celles-ci participent de la construction des jugements. Dans la construction d’un discours interviendraient avec une égale importance des catégories de raison et des catégories de passion. C’est en tout cas ce qui se passe dans le discours politique“. Charaudeau spricht in diesem Zusammenhang auch von ‚Pathos‘ (2005: 62). Ähnlich Classen (1992: 265): „Voraussetzung für den Erfolg ist, eine größere Gruppe auf ein Thema einzustimmen, gemeinsam für oder gegen eine Idee, eine Institution, eine Maßnahme oder eine andere Gruppe zu gewinnen und durch Emotionen ansprechende oder die Emotionen weckende Mittel zu begeistern.“ <?page no="80"?> Sybille Große 56 sprechen, müssen auch Aspekte der Stimmführung beachtet werden: nicht zu stark, nicht zu laut, nicht zu langsam, nicht zu militärisch usw. (vgl. Charaudeau 2005: 131). Dazu mag sich Sarkozy in geschulte Hände begeben haben. 23 Der Redner sollte aber auch von großer, stattlicher Statur sein (vgl. Charaudeau 2005: 132). Diese kann Sarkozy nun keineswegs vorweisen. So gleicht er dieses Manko durch eine umfangreiche, ausgeprägte und einnehmende Gestik aus, die die Zuhörer überzeugen soll (vgl. Auffray 2008). 24 Abschließend möchte ich noch kurz auf einen Vorwurf eingehen, den man Sarkozy, aber auch zahleichen anderen modernen Politikerinnen und Politikern macht: den des Populismus und der Beschädigung der politischen Kommunikation durch die Art des Gebrauchs der Massenmedien. 25 In Bezug auf das Sprachregister ist die Rede Sarkozys in Bercy keineswegs als ‚populär’, sondern ganz klar als ‚gewählt’ (‚soutenu‘) zu bezeichnen, wenngleich man Sarkozy in manchen Interviews durchaus einen Hang zum Gebrauch eines eher umgangssprachlichen Französisch nachsagen kann. 26 Inhaltlicher Populismus, gestützt durch den Gebrauch unzähliger Symbolwörter, wäre als Charakterisierung seiner Rede schon eher zutreffend, nur ist dies, wie auch Charaudeau zeigen konnte (vgl. 2005: 242f.), der allgemeinen Tendenz politischer Kommunikation zur Simplifizierung zuzuschreiben, die rechts wie links im politischen Spektrum schon immer existierte. 27 Charaudeau stellt allgemein eher eine neue politische Ethik fest (vgl. 2005: 243). Populistisch ist Sarkozy als Politiker vor allem in ganz anderer Hinsicht: Wenn er die Welt der Politik mit der Welt der Medien und der Unterhaltung verknüpft, wie er es sehr häufig getan hat (vgl. Raffy 2007: 23 Gerade hier lagen auch Defizite bei Ségolène Royal, seiner linken Kontrahentin im Präsidentschaftswahlkampf 2007. 24 Hier stellt sich die Frage nach der Theatralität der Inszenierung politischer Wahlkampfreden, die an dieser Stelle nicht untersucht werden kann. Dass umgekehrt Debatten aus Präsidentschaftswahlkämpfen auch für das Theater adaptierbar sind, zeigten Jean-François Balmer und Jacques Weber, als sie im Mai 2007 im Théâtre de la Madelaine in Paris die Debatten von François Mitterand und Giscard d’Estaing (1974- 1981) mit großem Erfolg aufführten. 25 Simone Bonnafous greift diesen Vorwurf auf und zeigt, dass bereits in der Antike ähnliche Tendenzen zur Kritik am Redner nachzuweisen sind. Sie zitiert als Beispiel aus dem Dialog über die Redner von Tacitus (vgl. Bonnafous 2003: 250). Für Bonnafous handelt es sich bei diesem Vorwurf um einen Allgemeinplatz, der mit großer Regelmäßigkeit aufgegriffen wird (vgl. Bonnafous 2003: 251). Allerdings zeigt sie sehr genau, dass die antiken Texte keinesfalls mit heutigen politischen Texten gleichgesetzt werden könnten, da die erst genannten sich am Ideal der éloquence orientierten, heute hingegen die Aspekte des öffentlichen Raumes, der Argumentation und der Demokratie im Zentrum der Debatten stünden (vgl. Bonnafous 2003: 255ff.). 26 Raffy (2007: 27) verweist hier auf das Beispiel: „C’est pas un boulot pour un inquiet“. 27 Dieser starken Simplifizierung hat sich Ségolène Royal innerhalb ihres Wahlkampfes durch stärkere Kommunikation, d.h. größeren Austausch mit den Wählern entzogen, ohne mit dieser Art der Auseinandersetzung jedoch erfolgreich sein zu können (vgl. Dupin 2007). <?page no="81"?> Sarkozy et l’héritage de 1968 57 27). Dieser Aspekt harmoniert hervorragend mit seinem ausgeprägten Egozentrismus, wie er jedenfalls u.a. an seiner Rede ablesbar ist. Obwohl das Motto seines Wahlkampfs „Ensemble pour faire gagner la France“ lautete, sprach er sehr selten von „nous“ und nahezu ausschließlich von „Moi, je“ und personalisierte damit seine gesamte Kampagne. Er selbst, so der Eindruck, den er damit vermutlich erzeugen wollte, werde alle Probleme, die mit der von den 68er-Erben heraufbeschworenen Krise verbunden sind, lösen. 28 Dass diese Krise nicht unbedingt mit 1968 zu tun hat, scheint Sarkozy im April des vergangenen Jahres egal gewesen zu sein. 29 Wichtig war allein, für die Rede von Bercy einen Angriffspunkt gefunden zu haben, um die Linke und damit seinen unmittelbaren politischen Gegner, zu stigmatisieren. Dass Nicolas Sarkozy selbst entscheidend zur erneuten Mythisierung der Ereignisse von 1968 beigetragen hat, wird ihm vielleicht erst nach der Rede und dem gewaltigen Medienecho bewusst geworden sein. Dass André Glucksmann mit dieser Art der Mythisierung der Ereignisse nicht zufrieden sein konnte, zeigt er in seinen 2008 erschienenen Essays sehr deutlich und schlussfolgert: „[…] arrêtez de fétichiser Mai 68 ou de lui accorder la paternité de tous les vices.“ (Glucksmann/ Glucksmann 2008: 40) 30 Ob Sarkozy aber mit seiner durch die Rede ausgelösten, erneuten Debatte über die Ereignisse und Auswirkungen von 1968 auch zur Entmythisierung von 1968 als grundlegendem Element für die Modernität der französischen Gesellschaft (vgl. Le Goff 2008) beigetragen hat, lässt sich aus meiner Sicht schwer entscheiden. Für Jean-Pierre Le Goff (2008: 18) jedoch steht eins fest, und in dieser Hinsicht stimmt er auch mit André Glucksmann überein: Weder die französische Linke noch die französische Rechte scheinen die Ereignisse vom Mai 1968 je wirklich verstanden zu haben. 28 Vgl. Auffray (2008: 8): „Il n’utilise le nous que lorsque les problèmes sont complexes, à propos du rôle de la Caisse des dépôts ou de la conjoncture par exemple.“ 29 Vgl. dazu Glucksmann (2008: VIII): „Der Mai 68 ist weder der Grund unseres heutigen Glücks noch unseres Unglücks. Diese Studenten, die reflektierten und sich auseinandersetzten waren damals aus einem ganz simplen Grund links - auch ich ging deshalb zu den Kommunisten: Die Rechte hatte mit Hitler kollaboriert. Nach 1945 eroberte sich daher die Linke die kulturelle, ideologische und intellektuelle Hegemonie.“ 30 In diesem letzten Aspekt sind sich André Glucksmann und Daniel Cohn-Bendit erstaunlich einig: „Lever le rideau sur 68, c’est enfin démasquer l’imposture qui voudrait l’associer à tous les maux de ce monde. Pour avoir écrit sur les murs ‚il est interdit d’interdire’, la génération de 68 serait responsable de la violence dans les banlieues, de l’individualisme exacerbé, de la crise de l’enseignement, des ‚parachutes dorés’, du déclin de l’autorité et, tant qu’on y est pourquoi pas du réchauffement de la planète! “ (Cohn-Bendit 2008: 18) <?page no="82"?> Sybille Große 58 Literaturverzeichnis Jean-Michel Adam, La linguistique textuelle. Introduction à l’analyse textuelle des discours, Paris 2006. Johannes Angermüller, L’analyse du discours en Allemagne et en France. Croisement nationaux et limites disciplinaires, in: Langage et Société 2/ 2007, 5-16. Alain Auffray/ Marie Guichoux/ Didier Pourquery, Figures de style. Petites et grosses ficelles rhétoriques du chef de l’État, in: Libération, 9.1.2008, 8. Simone Bonnafous, La dégénérescence du discours politique, un „lieu commun” de l’Antiquité et de la fin du vingtième siècle? , in: Simone Bonnafous/ Pierre Chiron/ Dominique Ducard/ Carlos Levy (Hrsg.), Argumentation et discours politique, Rennes 2003, 249-257. Klaus Brinker/ Gerd Antos/ Wolfgang Heinemann/ Sven F. Sager (Hrsg.), Text- und Gesprächslinguistik/ Linguistics of Text and Conversation, Berlin, New York 2000. Jean-Paul Bronckart, Activité langagière, textes et discours. Pour un interactionnisme socio-discursif, Lausanne 1996. Armin Burkhardt, Politolinguistik. Versuch einer Ortsbestimmung, in: Josef Klein/ Hajo Diekmannshenke (Hrsg.), Sprachstrategien und Dialogblockaden, Berlin, New York 1996, 75-100. Patrick Charaudeau, Le discours politique, les masques du pouvoir, Paris 2005. Patrick Charaudeau/ Dominique Maingueneau (Hrsg.), Dictionnaire d’analyse du discours, Paris 2002. Rudolph Chimelli, Entwaffnende Vulgarität. Die Dramaturgin Yasmina Reza porträtiert Nicolas Sarkozy, in: Süddeutsche Zeitung, 25./ 26.8.2007, 10. Carl Joachim Classen, Die Rhetorik im öffentlichen Leben unserer Zeit, in: Carl Joachim Classen/ Heinz-Joachim Müllenbrock, Die Macht des Wortes. Aspekte gegenwärtiger Rhetorikforschung, Marburg 1992, 247-269. Daniel Cohn-Bendit, L’héritage insaisissable de Mai 1968, in: Le Figaro, 17./ 18.5.2008, 18. Daniel Cohn-Bendit/ Alain Geismar, Nous sommes tous de minables coupables..., in: Libération, 2.5.2007. URL: http: / / www.liberation.fr/ rebonds/ 251105.FR.php (11.7.2007). Eric Dupin, Sarkozy contre Royal, c’est aussi le duel entre la propagande et la communication, in: Le Figaro.fr, 4.5.2007 (11.7.2007). Heiko Girnth, Sprache und Sprachverwendung in der Politik. Eine Einführung in die linguistische Analyse öffentlich-politischer Kommunikation, Tübingen 2002. André Glucksmann, André Glucksmann über Engagement, in: Süddeutsche Zeitung, 16./ 17.2.2008, VIII. André Glucksmann/ Raphaël Glucksmann, Mai 68 expliqué à Nicolas Sarkozy, Paris 2008. Serge Halami, Les recettes idélogiques du président Sarkozy, in: Le monde diplomatique, 6(1)/ 2007, 8-9. Bernhard Kettemann, Strategien der Überzeugung in George Bushs „Acceptance Speech”, in: Florian Menz/ Ruth Wodak (Hrsg.), Sprache in der Politik - Politik in der Sprache. Analysen zum öffentlichen Sprachgebrauch, Klagenfurt 1990, 179- 190. Josef Klein, Pragmatik und Hermeneutik als Gelingensbedigungen für Politolinguistik, in: Heiko Girnth/ Constanze Spieß (Hrsg.), Strategien politischer Kommunikation, Pragmatische Analysen, Berlin 2006, 17-26. <?page no="83"?> Sarkozy et l’héritage de 1968 59 Josef Kopperschmidt, Methodik der Argumentationsanalyse, Stuttgart, Bad Cannstatt 1998. Alice Krieg-Planque, Formules et lieux discursifs: propositions pour l’analyse du discours politique, in: Semen 21/ 2006, 19-47. Sigrid Kupsch-Losereit, Kognitive Prozesse, übersetzerische Strategien und Entscheidungen, 2000. URL: http: / / www.fask.uni-mainz.de/ user/ kupsch/ strategien. html (11.2.2007). Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, München 1976. Jean-Pierre Le Goff, Un événement qui n’appartient à personne, in: Le Figaro 17./ 18.5.2008, 18. Dominique Maingueneau, Analyser les textes de communication, Paris 2007. Edgar Morin, C’est un personnage plastique, in: Liberation.fr, 9.1.2008 (9.1.2008). Violaine de Nuchèze/ Jean-Marc Colletta (Hrsg.), Guide terminologique pour l’analyse du discours, Bern 2002. Georg M. Oswald, Auch ein Verriss schafft Ruhm, in: Süddeutsche Zeitung 119, 24./ 25.5.2008, 17. Alain Rabatel, La valeur délibérative des connecteurs et marqueurs temporels „mais”, „cependant”, „maintenant”, „alors”, „et” dans l’embrayage du point de vue, in: Romanische Forschungen 113/ 2001, 153-170. Serge Raffy, La dictature de l’émotion, dans: Libération, 12.6.2007, 27. Yasmina Reza, L’aube le soir ou la nuit, Paris 2007. Marie-Claude Rosat, A propos de réalisations orale et écrite d’un texte argumentatif, in: Études de linguistique appliquée 81/ 1991, 119-130. Nicolas Sarkozy, Discours à l’Université d’été des jeunes populaires UMP de Marseille, 1er septembre 2006, s.p. URL: http: / / www.20minutes.fr/ article/ 106162/ France-Le-discours-integral-de-Nicolas-Sarkozy.php (26.10.2008). Nicolas Sarkozy, Discours à Bercy, 29 avril 2007, s.p. URL: http: / / www.u-mp.org/ site/ index.php/ s_informer/ discours/ nicolas_sarkozy_a_bercy (16.10.2008). Hermann Schlüter, Grundkurs der Rhetorik, München 1991. Wolfgang Schnotz, Was geschieht im Kopf des Lesers? Mentale Konstruktionsprozesse beim Textverstehen aus der Sicht der Psychologie und der kognitiven Linguistik, in: Hardarik Blühdorn/ Eva Breindl/ Ulrich Hermann Waßner (Hrsg.), Text - Verstehen. Grammatik und darüber hinaus, Berlin, New York 2006, 222-238. Constanze Spieß, Zwischen Hochwort und Stigma - Zum strategischen Potenzial lexikalischer Mittel im Bioethikdiskurs, in: dies./ Heiko Girnth (Hrsg.), Strategien politischer Kommunikation, Pragmatische Analysen, Berlin 2006, 27-45. Hans Strohner, Textverstehen. Kognitive und kommunikative Grundlagen der Sprachverarbeitung, Opladen 1990. Hans Strohner, Textverstehen aus psycholinguistischer Sicht, in: Hardarik Blühdorn/ Eva Breindl/ Ulrich Hermann Waßner (Hrsg.), Text - Verstehen. Grammatik und darüber hinaus, Berlin, New York 2006, 187-204. Teun A. Van Dijk, Politique, idéologie et discours, in: Semen 21/ 2006, 73-102. Michel Winock, La révolution a-t-elle eu lieu? , in: Histoire 330/ 2008, 52-59. Dominique Wolton, Sarkozy use de mots directs, in: Le Figaro, 22.8.2007, 6. <?page no="85"?> Esther Suzanne Pabst « L’antichambre de mon aventure essentielle ». Mai 68 im weiblichen Blick Mai 68 ist in Frankreich zu einem allgemein anerkannten „Markenzeichen sozialen Wandels“ (Frank 2008: 411) geworden. Mit wachsendem zeitlichem Abstand rücken zunehmend die Folgen des historischen Ereignisses in den Fokus der französischen Diskussionen. Als eindeutigste und nachhaltigste Auswirkung werden immer wieder die Frauenbewegung der 1970er Jahre, die von ihr durchgesetzten Fortschritte und vor allem das Ziel der Geschlechtergleichstellung genannt. In der Tat entstand die autonome Frauenbewegung in Frankreich - wie in anderen europäischen Ländern auch - in der Folge der Revolte vom Mai 68. 1 Zum Gründungsmythos wurden zwei Ereignisse im Jahr 1970. 2 Das erste Ereignis stellt die Kranzniederlegung einer kleinen Gruppe feministisch engagierter Frauen am Grab des unbekannten Soldaten in Paris, „ce must du patriarcat“ (Zelensky-Tristan 2005: 50), in Erinnerung an seine Frau im August 1970 dar. „Il y a plus inconnu que le soldat inconnu: sa femme“ und „Un homme sur deux est une femme“ lauteten ihre provokanten Parolen. Dass die Polizei eingriff, sicherte dem Ereignis das Interesse der Medien, die es als Beginn einer neuen feministischen Bewegung inszenierten. Die Bezeichnung Mouvement de libération des femmes (MLF) entstand in diesem Zusammenhang in Anlehnung an die bereits seit einigen Jahren aktive US-amerikanische Frauenbewegung. In der Namensgebung deutet sich das Selbstverständnis an, dass es nicht (mehr nur) um die 1 Zur französischen Frauenbewegung der 1970er Jahre vgl. das Grundlagenwerk von Picq (1993). Einen deutschsprachigen Überblick bietet Pabst (2007: 343ff.). 2 Just zum Zeitpunkt der Redaktion des vorliegenden Aufsatzes im Oktober 2008 findet in den französischen Medien eine kontrovers geführte Diskussion um den Entstehungszeitpunkt der Frauenbewegung statt. Sie wurde ausgelöst durch die unter Feministinnen stark umstrittene Aussage von Antoinette Fouque, dass die Ursprünge der Frauenbewegung auf das Jahr 1968 zurückzuführen seien, dem Jahr, in dem die Bewegung von ihr selbst ‚gegründet’ worden sei (vor allem letztere Behauptung ruft Kritik und Empörung hervor). Dieser Sichtweise entsprechend hat der von ihr gegründete Frauenverlag gerade eine Sammlung von Erinnerungsschriften mit dem Titel Génération MLF: 1968-2008 herausgebracht. Die Titelwahl lässt das Buch als ‚weibliches’ Pendant zu der von Hervé Hamon und Patrick Rotman 1986 und 1988 veröffentlichten zweibändigen Publikation Génération erscheinen. Die aus erinnerungskultureller Sicht auch für den vorliegenden Aufsatz aufschlussreiche Publikation von Fouque zum - ihrer Rechnung zufolge - vierzigsten Geburtstag des MLF konnte leider nicht mehr in die Untersuchung mit einbezogen werden, da sie zum Zeitpunkt der Fertigstellung im französischen Buchhandel noch nicht erhältlich war. <?page no="86"?> Esther Suzanne Pabst 62 Erweiterung von ‚Frauenrechten’ ging, sondern dass die neu entstehende Bewegung einen ganz grundlegenden Wandel der Situation der Frau in der französischen Gesellschaft anstrebte: ihre Befreiung von patriarchaler Abhängigkeit und Unterdrückung. Als zweites Gründungsereignis gilt die Sonderausgabe der Zeitschrift Partisans mit dem programmatischen Titel „Libération des femmes: année zero“ (Oktober 1970). Auch in der Formulierung des Titels wird deutlich, dass eine neue Etappe im Emanzipationsprozess von Frauen in der französischen Gesellschaft eingeleitet werden sollte, ein Neuanfang, der mit veränderten Zielen begründet war und sich ausdrücklich von bürgerlichen und proletarischen Frauenbewegungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert und ihren Forderungen abgrenzte. Indem die französische Frauenbewegung der 1970er Jahre traditionelle Geschlechterkonstruktionen und daraus abgeleitete Rollenzuschreibungen in Frage stellte und zugleich alternative Entwürfe zur Geschlechterordnung sowie das Recht der Frauen auf Verfügungsgewalt über den eigenen Körper in die französischen Diskussionen einbrachte, setzte sie einen nachhaltigen gesellschaftlichen und kulturellen Umbruch in Gang. Dieser führte dazu, dass neben der feministischen Forderung nach Geschlechtergleichstellung in allen gesellschaftlichen Bereichen auch das Selbstbestimmungsrecht der Frauen zu einem zentralen Leitbild der französischen Gegenwartskultur wurde. Dem vom MLF vorangetriebenen Wandel kultureller Leitbilder, Werte und Normen folgten konkrete politische und juristische Maßnahmen: 1974 die Einrichtung eines Ministeriums für Frauenrechte, 1975 die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, 1983 die Verpflichtung der Krankenkassen zur Kostenerstattung von Schwangerschaftsabbrüchen und ein Gesetz zur beruflichen Gleichstellung von Frauen und Männern. Auch die Einführung des Paritätsgesetzes im Jahr 2000 ist eine langfristige Folge des in den 1970er Jahren durch die französische Frauenbewegung eingeleiteten bzw. vorangetriebenen Mentalitäts- und Bewusstseinswandels. Der historischen Bedeutung entsprechend, sind die vom MLF ausgelösten Debatten und Reformen in den letzten Jahren - in Folge der seit Mai 1968 wirksamen Pluralisierung französischer Erinnerungskulturen (vgl. Hartwig/ Stenzel 2007: 383) - zu einem wichtigen Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses in Frankreich geworden. Lieux de mémoire (Pierre Nora) sind heute vor allem Ereignisse aus der Debatte um die Legalisierung der Abtreibung, die das zentrale und verschiedene Positionen bzw. Strömungen verbindende Thema der zweiten feministischen Welle war (so wie es das Frauenwahlrecht für die erste Bewegung von ca. 1870 bis 1944 war, dem Jahr, in dem in Frankreich - im europäischen Maßstab verspätet - das Wahlrecht auch für Frauen eingeführt wurde). Zu diesen neuen ‚Erinnerungsorten’ zählen das „Manifeste des 343“, der „Procès de Bobigny“ und das Gesetz zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs („Loi Veil“). <?page no="87"?> Mai 68 im weiblichen Blick 63 Das „Manifeste des 343“ erschien am 5. April 1971 in der linksliberalen Wochenzeitschrift Le Nouvel Observateur. Darin bezichtigten sich 343 Frauen, berühmte und unbekannte, öffentlich der Abtreibung, also nach damaliger Gesetzgebung („Loi de 1920“) einer Straftat. Die Frauen, die dieses Manifest unterzeichneten, klagten Staat und Gesellschaft an: Mit seiner Gesetzgebung zwinge der französische Staat Millionen von Frauen dazu, Abtreibungen illegal und unter Lebensgefahr durchzuführen. Der Staat sei damit verantwortlich für deren Leiden und Sterben, das vermeidbar sei. Solange die Gesellschaft dazu schweige, mache sie sich schuldig. Die Forderung lautete entsprechend: Einlösung des Rechts der Frau auf Selbstbestimmung durch Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Die ganze Nation sprach über die Aktion, die die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Problematik vergegenwärtigte, welche bis dahin als „affaire de bonnes femmes“ (Veil 2004: 77) abgewertet und damit aus der öffentlichen Diskussion ausgegrenzt wurde. In der Tat hatte die Provokation den gewünschten Erfolg: Sie sensibilisierte die öffentliche Meinung für die Fragwürdigkeit der gültigen Gesetzgebung sowie für die Notwendigkeit ihrer Reform. Ein weiterer Wendepunkt in diesen Entwicklungen ist der „Procès de Bobigny“ von 1972: Die feministische Anwältin Gisèle Halimi, Gründerin der heute noch existierenden feministischen Vereinigung Choisir, verteidigte ein der Abtreibung angeklagtes siebzehnjähriges Mädchen. 3 Sie machte aus dem Prozess eine politische Angelegenheit von nationalem Interesse, indem sie die Legitimität des Gesetzes von 1920, das Abtreibung als Straftat definierte, als „loi d’un autre âge“ (2006 [1973]: 189) in Frage stellte. 2005 wurde der Prozess von François Luciani mit zwei weiblichen Filmstars in den Hauptrollen als Doku-Fiktion für das französische Fernsehen verfilmt (2006 ausgestrahlt). Der Film will das historische Ereignis als entscheidenden Motor gesellschaftlicher und politischer Modernisierung im kulturellen Gedächtnis vergegenwärtigen. Daran sieht man beispielhaft, welche Bedeutung dem Ereignis im Emanzipationsprozess von Frauen in der französischen Gesellschaft beigemessen wird. Der Wandel in der öffentlichen Meinung, der mit dem berühmten „Manifeste des 343“ und dem Prozess von Bobigny eingeleitet wurde, setzte die französische Regierung unter Zugzwang (vgl. Veil 2004: 61). In diesem Zusammenhang präsentierte die Gesundheitsministerin Simone Veil 1974 der Nationalversammlung einen Gesetzesvorschlag zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Das Gesetz wurde nach langer und kontroverser Debatte verabschiedet. Die in dieser Debatte vorgebrachten Argumente gegen die Reform der „Loi de 1920“ (vgl. Veil 2004: 65ff.) spiegelten beispielhaft die Angst von Männern - die Nationalversammlung war Ende 1974 nahezu ausschließlich männlich besetzt - vor dem Verlust ihrer Macht, die in der patriarchalen Gesellschaftsordnung vor allem auf der Kontrolle über den weiblichen Körper gründet. 3 Vgl. hierzu die Dokumentation in Choisir la cause des femmes 2006 [1973]. <?page no="88"?> Esther Suzanne Pabst 64 In dieser Perspektive macht das Abstimmungsergebnis den Bewusstseinswandel in der französischen Gesellschaft deutlich, den die Frauenbewegung in der ersten Hälfte der 1970er Jahre maßgeblich vorangetrieben hat. Dass die Rede Simone Veils ebenso wie ihre Erinnerungen an die damit verbundene Debatte dreißig Jahre später, 2004, erstmals unter dem aussagekräftigen Titel Les hommes aussi s’en souviennent. Une loi pour l’Histoire veröffentlicht wird, zeigt die historische und erinnerungskulturelle Bedeutung, die dieser Gesetzesreform für die Lebensentwürfe von Frauen und Männern in der französischen Gegenwartsgesellschaft zugewiesen wird. 4 Mit wachsendem zeitlichem Abstand hat der hier umrissene Kontext die mittlerweile gängige Vorstellung entstehen lassen, dass der MLF zu den besonders bedeutenden Auswirkungen von Mai 68 zu zählen sei, wenn er nicht sogar als dessen Folge schlechthin begriffen wird. Diese erinnerungskulturelle Konstruktion wirft aber zugleich die Frage nach dem Verhältnis von Frauen zum Mai 68 ‚selbst’ auf. Dieser Frage soll im vorliegenden Beitrag nachgegangen werden. Welchen ‚Ort’ hatten die Frauen im Mai 68, in den von der Protestbewegung formulierten Problem- und Kritikfeldern, in ihren Zielen und Forderungen sowie theoretischen und ideologischen Konfigurationen? Wie nehmen politisierte Frauen bis heute Mai 68 als historisches Ereignis wahr, wie stellen sie es dar und wie bewerten sie es? Und welchen Zusammenhang konstruiert der ‚weibliche Blick’ auf das Ereignis ‚Mai 68’ mit seiner unmittelbaren Nachgeschichte, der Entstehung der Frauenbewegung um 1970? 4 Der MLF hat aber nicht nur historische Bedeutung. Die in den 1970er Jahren aufgeworfenen Problemfelder und die in diesem Kontext formulierte Kritik an patriarchalen Strukturen sind auch in den gegenwärtig virulenten gesellschaftlichen Diskussionen (wieder) präsent. Dies verdeutlichen beispielhaft die bis heute auch unter Feministinnen kontrovers geführte Debatte um die Einführung des Paritätsgesetzes und das Auftreten der sozialistischen Kandidatin Ségolène Royal im Wahlkampf 2007 um das höchste politische Amt des Landes. Letzteres ist insofern bemerkenswert, als sich Royal in einer für eine französische Politikerin bis dahin unüblichen Weise offen als überzeugte Feministin inszenierte. Sie entwarf dabei einen direkten Zusammenhang zwischen den von der Frauenbewegung der 1970er Jahre formulierten Zielen, Problem- und Kritikfeldern und ihrer eigenen Politik. Besonders deutlich tat sie dies in einer symbolisch aufgeladenen Rede in Dijon am 7. März 2007, am Vortag des Internationalen Frauentags, in der sie der berühmten republikanischen Devise „liberté, égalité, fraternité“ den vom MLF geprägten Begriff „sororité“ (Schwesterlichkeit) hinzufügte. Damit revidierte sie provokativ die dominante republikanische Erinnerungskultur, die traditionell die Revolution von 1789 und die in diesem Rahmen formulierten Menschen- und Bürgerrechte, die den französischen Frauen bis 1944 verweigert wurden, zum zentralen Bezugspunkt nationaler Identität macht. Ihr Auftreten sensibilisierte die Öffentlichkeit für die feministische Kritik an einer tief in der französischen Kultur verwurzelten Frauenfeindlichkeit, die in der in Frankreich trotz Paritätsgesetz bis heute männlich dominierten Politik besonders offen zutage tritt. <?page no="89"?> Mai 68 im weiblichen Blick 65 1. Rien sur les femmes In Anbetracht der wachsenden Sensibilisierung für feministische und gendertheoretische Fragestellungen erscheint es verwunderlich, dass die Forschung zum französischen Mai 68 diese Fragen im Wesentlichen gar nicht stellt. Das Thema ‚Mai 68 und die Frauen’ wird von einschlägigen Publikationen in der Regel mit einem Ausblick auf die zwei Jahre später erfolgende Formierung der Frauenbewegung behandelt. 5 An der Vorstellung, dass damit der Gender-Perspektive genüge getan sei, hat sich offensichtlich auch im vierzigsten Jubiläumsjahr nicht viel geändert. 6 Abbildung 1: „La beauté est dans la rue“ 7 Bereits eine stichprobenartige Betrachtung von Bilddokumenten und Texten aus der Protestbewegung von Mai 68 unter der Frage, welche Präsenz, Rolle und Bedeutung Frauen und ihre spezifischen Sichtweisen, Themen, Ziele und Forderungen darin haben, zeigt sehr deutlich: Mai 68 war eine männliche Revolte. 8 So kommen auf den Plakaten Frauen nahezu nicht vor (vgl. 5 Eine der wenigen Ausnahmen ist Christine Faurés Band Mai 68 jour et nuit. Hier werden im Kapitel „Témoignages et documents“ immerhin zwei Dokumente zum Verhältnis von Mai 68 und der ‚Frauenfrage’ angeführt bzw. daraus zitiert (vgl. 2008: 118f.). 6 Das zum vierzigsten Jahrestag veröffentlichte Buch von Eric Donfu Ces jolies filles de mai (2008) geht - ohne dass diese Annahme explizit gemacht wird - vom Konzept der années 68 aus. Die vom Autor formulierte These, dass Mai 68 vor allem eine Revolte der Frauen gewesen sei (worauf der Untertitel verweist), stützt sich also auf eine Untersuchungsperspektive, die ‚68’ nicht auf die wenigen Wochen im Frühling 1968 beschränkt, sondern die Frauenbewegung der 1970er Jahre mit umfasst. 7 „La beauté et dans la rue“, in: Affiches de mai/ juin 1968, URL: http: / / achard.info / Mai/ # (10.10.2008). 8 Die hier angestellten Überlegungen stützen sich auf eine Betrachtung gängiger Quellen aus der einschlägigen Forschung zur Mai-Revolte. Die Tragfähigkeit der Thesen, die auf dieser Grundlage formuliert werden, gilt es ggf. durch eine Ausweitung der Unter- <?page no="90"?> Esther Suzanne Pabst 66 auch Fauré 1998: 117). Eines der wenigen Plakate, das eine Frau abbildet, zeigt eine Pflastersteine werfende weibliche Silhouette mit der Unterschrift „La beauté est dans la rue“ (vgl. Abbildung 1). Damit reproduziert auch diese Darstellung den für die französische Kultur spezifischen, in der Galanterie begründeten (vgl. Pabst 2007: 337) Weiblichkeitsentwurf, der Frauen insofern diskriminiert, als er sie als Inkarnation verführerischer Schönheit und damit in erster Linie als Objekt männlicher Bewunderung und Begierde begreift und sie auf diese Funktion reduziert. Die zeitgenössischen Fotografien, die im vierzigsten Jubiläum in den einschlägigen Publikationen in vergleichsweise großer Zahl zu finden sind, zeigen unübersehbar, dass die historischen Leitfiguren von Studenten- und Arbeiterbewegung allesamt Männer waren. Sie besetzten die vordersten Reihen der Straßendemonstrationen und Versammlungen. Die den französischen Mai 68 kennzeichnende Verbindung von Studenten- und Arbeiterbewegung erweist sich aus dieser Sicht als reines ‚Männerbündnis’, das Frauen die Rolle des anonymen ‚Fußvolks’ zuschrieb. Man sieht auf den Fotos von Massendemonstrationen auch Frauen, die mitmarschierten. Die Pflastersteine werfenden Demonstranten sind aber ausschließlich männlich. Wenn Frauen in Straßenschlachten gezeigt werden, dann als am Rande Zusehende und mit den männlichen Opfern Mitfühlende oder aber selbst als Opfer von männlicher Gewalt. Denn auf der ‚anderen Seite’, in den Reihen der polizeilichen Ordnungskräfte, stehen ebenfalls nur Männer. Ansonsten sieht man Frauen auf den Fotos als fröhlich ausgelassene Tänzerinnen auf den Barrikaden, als erstaunt interessierte Bürgerinnen, die nach den Straßenschlachten die Verwüstungen betrachten. Oder sie sind als passive, aber aufmerksame Zuhörerinnen z.B. im Hof und in den Versammlungen der besetzten Sorbonne präsent. Frauen hatten in der Protestbewegung vom Mai 68 vor allem eine allegorische Funktion inne. Denn wenn die zeitgenössischen Fotos sie als aus der Masse herausragende Individuen zeigen, dann auf männlichen Schultern sitzend und Fahnen schwenkend. Sie fungieren so als historisches Zitat der Marianne als Symbol der Revolutionen von 1789 und des 19. Jahrhunderts. Die entsprechenden Fotos stilisieren die darauf abgebildeten Frauen zu Mariannes de 68 (vgl. z.B. das international berühmt gewordene Foto in Abbildung 2), indem sie den Vergleich mit Eugène Delacroix’ Gemälde La liberté guidant le peuple (1830/ 31) beschwören. Dieses Bild, das zum kulturellen Wissen Frankreichs gehört, gestaltet „eine Szene auf den Barrikaden in Paris, mit deren Bau in der Julirevolution von 1830 der Sturz der Restaurationsmonarchie eingeleitet wird“ (Hartwig/ Stenzel 2007: 183). suchungsbasis zu überprüfen. Es steht aber nicht zu vermuten, dass dadurch die These von einer durch den männlichen Blick auf die Welt, die Gesellschaft und die Geschlechterordnung geprägten Mai 68-Revolte grundsätzlich widerlegt wird; sie kann allenfalls etwas differenziert werden. In dieser Sicht erscheint es legitim, die These vom ‚männlichen’ Mai 68 zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen zu machen. <?page no="91"?> Mai 68 im weiblichen Blick 67 Im Zentrum des Bildnisses verkörpert eine Frauengestalt die Freiheit. Sie steht damit „in einer republikanisch-revolutionären Traditionslinie der weiblichen Allegorie, die in der Gestalt der Marianne mündet, die zum offiziellen Sinnbild der Republik werden wird“ (ebd.). Die Fotos der Mariannes des Mai 68 schreiben diese Traditionslinie fort. Abbildung 2: „Marianne de 68“ 9 Es erscheint mir allerdings bedeutsam, dass sich der Ort und die Rolle der Frauen in der Revolte im Verlauf der Ereignisse offensichtlich gewandelt haben. Diesen Rückschluss lassen zumindest Fotos (abgebildet in Donfu 2008: o.S.) von der Besetzung des Verwaltungsturms der Universität von Nanterre in der Nacht des 22. März, die als Ausgangspunkt der im Mai 1968 ihren Höhepunkt erlebenden Revolte, als „naissance du mouvement“ (Donfu 2008: o.S.) gilt, und von der anschließenden Besetzung des Campus zu. Denn diese zeigen, dass an diesen wirkmächtigen Initial-Aktionen vergleichsweise viele Frauen in vorderster Reihe teilnahmen. Sie spielten somit beim ‚Startschuss’ der Bewegung (noch) eine bedeutende aktive Rolle. Erst mit der Erstarkung und Ausweitung der Revolte über den Campus von Nanterre hinaus scheinen die Frauen in der weitgehend anonym bleibenden Masse zu ‚verschwinden’. Wenn sich die einschlägige Forschung nicht für die Frage nach dem Ort der Frauen in der Revolte vom Mai 68 selbst zu interessieren scheint, so hat das Thema zum vierzigsten Jahrestag doch Eingang in die mediale Darstellung des historischen Ereignisses gefunden. Das auf France 3 ausgestrahlte Fernsehmagazin Droit d’inventaire, das filmische Reportagen mit anschließenden débats en plateau verbindet, hat in seiner Sondersendung zum Mai 68 vom 23. Januar 2008 gleich zwei neue Sichtweisen eingenommen: Es hat nicht nur der Compagnie républicaine de sécurité (CRS) als zentrale Akteurin der Ereignisse breitenwirksamen Raum gegeben, um dem durch den berühmten Slogan „CRS=SS“ geprägten Bild in der französischen 9 „La Mariane de Mai 68“, © Jean-Pierre Rey. <?page no="92"?> Esther Suzanne Pabst 68 Öffentlichkeit die eigene, davon abweichende Perspektive gegenüber zu stellen. Sie hat zudem die hier auch gestellte Frage formuliert „Où sont les femmes? “. 10 Ausgehend von einer exemplarisch gesetzten Analyse zeitgenössischen Bild- und Filmmaterials formulierte die einleitende Filmreportage die (im Kontext der von den französischen Medien ansonsten vorangetriebenen Mythisierung des Mai 68) durchaus provokante These, dass die Frauen in der Revolte zwar präsent gewesen seien, aber nur am Rande, an der ‚Peripherie’, „sur les bords, à la marge du mouvement“, während die Männer das ‚Zentrum’ besetzten. Der Beitrag hob hervor, dass die nahezu alle Hierarchien in Frage stellende Protestbewegung die Ungleichheit von Mann und Frau in der patriarchalen Ordnung nicht als vorrangiges Problemfeld betrachtet habe. Darüber hinaus habe die Bewegung sogar insofern die traditionelle Geschlechterhierarchie in der französischen Gesellschaft reproduziert, als auch in der Revolte des Mai 68 die Rollen und Aufgaben entsprechend geschlechtsspezifisch definiert und aufgeteilt waren: Die Frauen waren passive Betrachterinnen und Zuhörerinnen, ihre Funktion war eine rein allegorische, indem sie als Mariannes des Mai 68 die republikanischrevolutionäre Tradition verkörperten. Das Denken hingegen, die politische Aktion und das öffentliche Reden war den Männern vorbehalten („la parole est monopolisée par les hommes“). Es lässt sich also festhalten: „[D]ans l’ensemble, l’imaginaire de la révolte est plutôt masculin et met en scène un affrontement entres hommes - des fils contre leur pères, des étudiants se rêvant résistants contre des ‚CRS=SS’“ (Bard 2001: 170; vgl. auch die Überlegungen in Atack 1999: 86ff.). Wenn Frauen in der Revolte das Wort ergriffen, dann haben sie dies kaum als Frauen getan. In der besetzten Sorbonne fand nur eine einzige Diskussion über ‚Frauen und Revolution’ statt. Als dann die auslösende Welle abgeflacht war und nur noch Splittergruppen übrig blieben, teilten sich die Rollen folgendermaßen auf: Männer als Denker und Sprecher, Frauen leisten Unterstützung, betreiben die Vervielfältigungsgeräte, verteilen Flugblätter und nettes Lächeln. (Picq 1997: 55; zur in diesem Zitat angeführten Diskussion vgl. den Bericht in Tristan/ de Pisan 1977: 37ff.) Dieser Befund wurde in dem oben angeführten Fernsehmagazin Droit d’inventaire in einem Interview von Evelyne Garrec, Journalistin und Akteurin im historischen Ereignis, als Zeitzeugin folgendermaßen kommentiert: „C’est comme si elles n’avaient rien à dire pour elles en tant que femmes.“ Wenn Frauen die Slogans des Mai 68 aufgriffen, so Garrec weiter, dann handelte es sich um die der Männer, bei denen man ganz selbstverständlich davon ausging, dass sie die Bewegung in ihrer Gesamtheit repräsentierten. ‚Frauenspezifische’ Ziele und Forderungen, ausgehend von einer weiblichen Lebens- und Erfahrungswelt sowie einer weiblichen Perspektive auf 10 Hier und im Folgenden zitiere ich nach einer privaten Mitschrift der Sendung, die am 23. Januar 2008 auf France 3 ausgestrahlt wurde. <?page no="93"?> Mai 68 im weiblichen Blick 69 Gesellschaft und Geschlechterordnung, tauchten darin so gut wie nicht auf. 11 Ein Blick in einschlägige Dokumentensammlungen zum Mai 68 bestätigt diesen Befund. Warum war das so? Warum haben die im Mai 68 politisierten und in der Bewegung aktiven Frauen nicht als Frauen das Wort ergriffen und damit einer ‚parole de femmes’ bereits während der Protestbewegung selbst Ausdruck verliehen? 12 Auch auf diese Frage formulierte das Fernsehmagazin Droit d’inventaire eine Antwort: Nichts habe die Frauen auf eine öffentliche Wortergreifung vorbereitet. Das im Frankreich der 1960er Jahre gängige Frauenbild, so suggerierte die mediale Darstellung mit der Einblendung der Formel „Soit belle et tais toi“, reduzierte die Frauen auf die kulturelle Konstruktion von Weiblichkeit, die auch das oben bereits angeführte Plakat aus Mai 68 mit dem Slogan „La beauté est dans la rue“ spiegelte, festigte und weiter transportierte. Diese Position stützt auch die Erinnerung von Anne Zelensky: „Dame, une si vieille habitude de servir ne se défait pas en un mois! “ (Zelensky 2008: 2). In der Tat verwiesen die im Frankreich der 1960er Jahre gängigen geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen die Frauen auf den privathäuslichen Bereich, während der öffentliche Raum, also die eigentlichen Orte der Protestbewegung von Mai 68 (die Straße, das Mikrofon in den Versammlungen und Demonstrationen etc.) den damit wirksamen kulturellen Konstruktionen zufolge Männern vorbehalten war. Die Gesetzgebung des Code Civil spiegelte und stabilisierte die in den 1960er Jahren herrschende Vorstellung, nach der die Festlegung der Frau auf die soziale Rolle der Ehefrau, Hausfrau und Mutter und ihre dem Mann untergeordnete Position als von der Natur vorgegeben erklärt wurde. Sie machte die Frau zu einem vom Willen des Ehemanns abhängigen Wesen, das ohne Erlaubnis des 11 Wenn Donfu (2008: 15) anführt, dass man im Jahr 2008 von den Frauen von 1968 in Erinnerung behalte, „[qu’]elles prennent la parole dans les assemblées générales, […]. Lors des manifestations, elles sont en tête de cortège, défilent mains dans la main avec les garçons […]. Elle passent et parfois lancent les pavés contre les CRS“, dann bleibt er für diese Behauptung den Beleg schuldig. Auch die seinem Text hinzugefügten, zum Teil unbekannten (weil in den gängigen Publikationen zum Mai 68 nicht enthaltenen) Fotos bilden keine Pflastersteine werfenden Frauen ab, sondern zeigen sie ebenfalls als Opfer männlicher Gewalt in Straßenschlachten. Ansonsten erscheinen sie als Zuhörerinnen und als Demonstrantinnen in der Menge oder eben in der oben beschriebenen allegorischen Funktion. Damit widerlegen auch diese Fotos nicht die hier formulierte These, dass Mai 68 eine Revolution gewesen sei, die nahezu ausschließlich von Männern geprägt und bestimmt und im Wesentlichen (zumindest von ihren Forderungen und Zielen her betrachtet) für Männer gemacht bzw. auf eine männliche Lebens- und Erfahrungswelt ausgerichtet war. 12 Parole de femmes lautet der Titel eines Bestsellers aus der MLF-Zeit: Der 1974 erschienene, breit rezipierte und 2001 neu aufgelegte Essay von Annie Leclerc, der theoretische Positionen mit fiktional-narrativen Passagen verbindet, ist wegweisend für die erst nach Mai 68 entstehende Vorstellung, dass eine in der patriarchalen Ordnung unterdrückte ‚weibliche’ Sprache und Perspektive auf Gesellschaft und Kultur erst zu entwickeln sei. <?page no="94"?> Esther Suzanne Pabst 70 ‚Familienvorstands’ bis 1965 nicht erwerbstätig sein und kein eigenes Bankkonto einrichten konnte sowie bis 1970 nicht im gleichen Maße erziehungsberechtigt war wie der Vater der gemeinsamen Kinder. Auch wenn Simone de Beauvoirs Essay Le deuxième sexe, der die kulturelle Konstruktion, nach der das Männliche als Norm gilt und die Frau mit dem ‚Anderen’ identifiziert wird, als Grundpfeiler patriarchaler Ordnung kennzeichnet, bereits 1949 erschienen ist, so hatte sich diese Erkenntnis, die dann den französischen Feminismus der 1970er Jahre prägen wird, im Frankreich Ende der 1960er Jahre noch nicht verbreitet oder gar durchgesetzt. Noch war das Selbstbild der französischen Frauen, z.T. auch der politisierten jungen Frauen (vgl. dazu den Abschnitt unten zur erinnerungskulturellen Dimension), von einer Erklärung und Deutung der Geschlechterdifferenz als Alteritätskonstruktion geprägt, die letztlich dazu führte (so Beauvoirs Analyse), dass die Frau als das andere, als das minderwertige und abhängige Geschlecht erscheint. Weil die Frau in diesen kulturellen Denkmodellen stets in Bezug zum Mann gedacht wird, waren für sie die für den Mann gültigen Freiheits- und Autonomieansprüche, die im Mai 68 so vehement formuliert und eingefordert wurden, 1968 (noch) nicht denkbar bzw. (noch) nicht in aller Öffentlichkeit zu artikulieren. Auch in dieser Hinsicht waren die Frauen nicht auf eine Wortergreifung ‚in eigener Sache’ vorbereitet. „‚Eine Frau ist ein Mann wie jeder andere’ - mit diesem Selbstverständnis hatten sich die Pariser Studentinnen der Mai-Bewegung angeschlossen“ (Christadler/ Hervé 1994: 184). Das hier umrissene Selbstbild lässt sich auch als Erklärung dafür anführen, dass die 68er-Forderung nach Befreiung von als restriktiv empfundenen Sexual- und Moralvorstellungen die weibliche Perspektive, die auf der spezifischen Lebens- und Erfahrungswelt von Frauen gründet, gänzlich ausgrenzte. Die libération sexuelle bewirkte auch bei Frauen einen Bewusstseinswandel, durch den traditionelle Normen und Tabus in Frage gestellt werden konnten: Chacun, chacune, s’employait […] à écouter ses désirs et surtout à réconcilier corps et esprit, deux entités fortement éloignées l’une de l’autre par notre éducation. […]. Les femmes prenaient conscience qu’elles pouvaient faire l’amour sans culpabilité et arrière-pensée, que leur destin n’était pas déterminé par l’existence d’un mari et le devoir conjugal. (Flamant 2007: 23) Allerdings, so erläutert die hier zitierte Zeitzeugin Françoise Flamant weiter, ging die sexuelle Befreiung der Männer zu Lasten der Frauen: „Cette nouvelle liberté profitait bien plus aux hommes qu’aux femmes: la plupart d’entre eux finissaient par disposer de plusieurs femmes; l’inverse était exceptionnel. La crainte d’une grossesse non désirée planait toujours“ (ebd.). Ihrer Darstellung zufolge ließ die Protestbewegung nicht nur dadurch die Ungleichheit der Geschlechter bestehen, dass Männern andere bzw. größere sexuelle Freiheiten als Frauen zugestanden wurden. Sie tat es auch, indem sie die mit der Révolution sexuelle (so der Titel des Referenzwerks von <?page no="95"?> Mai 68 im weiblichen Blick 71 Wilhelm Reich) als zentralem mot d’ordre von 68 eigentlich untrennbar verbundene Forderung nach freiem Zugang zu Mitteln der Empfängnisverhütung und nach Legalisierung der Abtreibung nicht formulierte. Diese Forderung tauchte im Mai 68 selbst noch nicht auf, zumindest nicht als öffentlichkeitswirksame Parole, die den Gegenstand als besonderes Problemfeld für Frauen verstand. Dies geschah erst in den siebziger Jahren, als die autonome Frauenbewegung das Thema aufgriff. Dabei prägte diese Problematik das Leben französischer Frauen 1968 (und auch noch die Jahre danach) ganz nachhaltig. Davon zeugen die umfassenden Forschungen von Xavière Gauthier (2002 u. 2004; vgl. auch Veil 2004: 46f., 55ff.). Ungewollte Schwangerschaften bzw. die Angst davor und illegale Abtreibungen waren in den 1960er Jahren ein konstitutiver Bestandteil vieler weiblicher Biographien. Warum wurde diese Problematik, die alle Frauen unabhängig von sozialer Herkunft betraf, im Kontext des berühmten ‚prendre la parole’ im Mai 1968 nicht offen formuliert? Diese auf den ersten Blick erstaunlich wirkende Tatsache lässt sich mit dem gesellschaftlichen Tabu begründen, das illegale Abtreibungen in Frankreich bis in die 1970er Jahre umgab. Die Tabuisierung grenzte das Thema wirksam aus öffentlichen Diskussionen aus, indem es zur Privatsache von Frauen erklärt wurde. 13 Vor diesem Hintergrund zeigt sich noch einmal, dass Frauen und ihre Kritik an der herrschenden Ordnung im ‚männlichen’ Mai 68 keinen Ort hatten bzw. dass sie aufgrund der dominanten kulturellen Geschlechterkonstruktionen, die sich nur sehr langsam veränderten, keinen finden konnten. Diesen Geschlechterkonstruktionen und den davon abgeleiteten Zuschreibungen entsprechend, fanden die ersten Debatten um ‚frauenspezifische’ Themen und Probleme dann auch nicht in großen Versammlungen statt, in denen Männer das Wort ‚besetzten’. Sie begannen in kleinen, spontan entstehenden Diskussionsrunden in den Universitätsinstituten, auf der Straße, auf dem Hof der besetzten Sorbonne. 14 Françoise Picq, 1968 Studentin der Soziologie und heute Spezialistin für die französische Frauenbewegung der 1970er Jahre, erinnert sich im oben angeführten Filmbeitrag des TV-Magazins Droit d’inventaire, dass im Mai 1968 und vor allem in der Zeit unmittelbar danach unter den politisierten Frauen zunächst allmählich, dann aber stetig ein Bewusstsein von der Unterdrückung der eigenen spezifischen Forderungen entstand. Frauen nahmen im Mai auch an Besetzungen von Unternehmen teil und nutzten den damit entstandenen Raum, im örtlichen wie auch zeitlichen Sinne, um sich über ihre eigene Perspektive in der Protestbewegung bewusst zu werden, sich damit 13 Une affaire de femmes heißt dementsprechend auch der Film von Claude Chabrol von 1988 mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle, der die Geschichte von Marie-Louise Giraud erzählt, die während der Vichy-Regierung geköpft wurde, weil sie illegale Abtreibungen durchgeführt hatte. 14 Vgl. z.B. das in Fauré (2008: 118) abgedruckte Informationsblatt des Mouvement démocratique féminin, das an einem Stand auf dem Hof der Sorbonne verteilt wurde. <?page no="96"?> Esther Suzanne Pabst 72 auseinanderzusetzen und sich untereinander über eigene Positionierungen zu verständigen. Auf dieser Grundlage entstanden auch die ersten Slogans, die nicht nur die feministische Perspektive, sondern auch ein Bewusstsein von der Problematik der männlichen Ausrichtung des Mai 68 klar und deutlich zum Ausdruck brachten: „Vous avez les micros, nous avons la sténo“, brachten die politisierten Frauen ihre Kritik an der männlichen Revolution auf den Punkt. Oder sie erläuterten ausführlicher, dass sie die ungleiche und ungerechte Aufgabenteilung, die die Revolution ihnen zuwies und die die Rollenzuschreibungen der ansonsten so harsch kritisierten Gesellschaftsordnung reproduzierte, nicht länger als gegeben hinnahmen. 15 Im September 1968 entstanden an der Universität von Vincennes die ersten Frauenversammlungen, die Männer ausschlossen, um einen von männlicher Bevormundung und Unterdrückung freien Raum zur (Selbst-) Verständigung und Selbstfindung zu schaffen: […] une vingtaine d’intellectuelles, convaincues que ‚le steak d’un militant est aussi long à cuire que celui d’un bourgeois’, ont régulièrement tenté de cerner ce ‚nous’ décidément inassimilable par les programmes des divers partis ou groupuscules. (Hamon/ Rotman 1988: 222) Um die hier angesprochene Vorstellung von einem ‚nous’, einem Wir- Gefühl unter Frauen, die über die spezifische Erfahrung des Frau-Seins in einer patriarchalen Gesellschaft zu einem Kollektiv verbunden sind, überhaupt erst entwickeln zu können, wurde die non-mixité zum prägenden Prinzip des MLF. Denn vielen Frauen wurde entre-femmes klar, dass das, was sie selbst erlebten, nicht privates Schicksal oder individuelle Unzulänglichkeit war, sondern System hatte (vgl. Picq 1993: 41ff. u. Châtel 2006: 67). Da es im Französischen kein Wort gab, mit dem die (neue) Solidarität unter Frauen hätte bezeichnet werden können - was ein Indiz dafür ist, dass sie im kulturellen Bewusstsein bis zu diesem Zeitpunkt nicht präsent war - wurde analog zur fraternité der Begriff der sororité gebildet. Aus den hier angestellten Überlegungen zum Ort der Frauen in der Protestbewegung von Mai 68 lässt sich festhalten: Die Marginalisierung und Ausgrenzung von Frauen und ihrer weiblichen Perspektive aus den Theorien, Gegenständen, Forderungen, Zielen und Aktionen der Revolte gehört zu den Problemfeldern, zu jenen inneren Widersprüchen und Brüchen des esprit de mai 68, die im Laufe der Mythisierung des historischen Ereignisses 15 Vgl. dazu ein Flugblatt aus dem Herbst 1968: „Ras-le-bol de leurs idéologie pourrie! Qui fait la cuisine pendant qu’ils parlent de la révolution? Qui garde les enfants pendant qu’ils vont à des réunions politiques? Qui tape les sténos pendant qu’ils rédigent et qu’ils organisent l’avenir? Qui prend des notes pendant qu’ils ont le micro? Qui n’est pas à la tribune des meetings? Qui voit toujours ses initiatives récupérées au niveau de la parole et de l’action? C’est nous, toujours nous! On nous dit: ‚Il sera toujours temps d’aborder ça plus tard.’ Plus tard: après la révolution. Mais quelle révolution, faite par qui? Ici et maintenant, par nous partie intégrante du peuple. Le pouvoir à tout le peuple! “ (vgl. Hervé/ Rotman 1988: 223). <?page no="97"?> Mai 68 im weiblichen Blick 73 zunehmend verdeckt wurden. Der zeitliche Abstand zum Ereignis und die seitdem - konkret: seit der im Anschluss an Mai 68 entstandenen Frauenbewegung - entwickelte Sensibilisierung für feministische und gendertheoretische Fragen sowie die Konzeptualisierung entsprechender Untersuchungsperspektiven ermöglichen es, diese Widersprüche (wieder) aufzudecken. 2. Mai 68 im weiblichen Blick: die erinnerungskulturelle Dimension Die hier umrissene neue Fokussierung des Mai 68 unter feministischen und gendertheoretischen Fragestellungen ermöglicht noch einen weiteren Befund. Denn was die mediale Darstellung in der Sondersendung von Droit d’inventaire, die, wie gesehen, vierzig Jahre danach die Frage nach dem Ort der Frauen in der Protestbewegung stellte und eine durchaus provokante Antwort formulierte, (immer noch) nicht zu interessieren schien, ist die zweite Frage, welcher der vorliegende Aufsatz nachgeht: ‚Qu’en disent les femmes? ’ Auf eigentümliche Weise reproduzierte diese Sondersendung sogar die im Filmbeitrag so deutlich als Problematik von Mai 68 herausgestellte Marginalisierung der Frauen. So ist augen- und sinnfällig, dass die Diskussionsrunde nahezu ausschließlich von Männern gestaltet wurde. Allein zur Erörterung des Themas ‚Mai 68 und die Frauen’ war - in gewisser Weise zwangsläufig, weil vom Gegenstand der Diskussion vorgegeben - auch eine weibliche Zeitzeugin geladen worden, die Schauspielerin Marina Vlady. Der neben der jungen Moderatorin einzigen Frau in dieser Runde wurde allerdings auch zur Erörterung der ‚Frauenfrage’ nur vergleichsweise kurz das Rederecht erteilt. Sie durfte lediglich einige wenige Sätze zum „Manifeste des 343“, das sie 1971 mit unterzeichnet hatte, und den Hintergründen dieser provokanten feministischen Aktion formulieren. Gleich darauf wendete sich die Moderatorin zur eigentlichen Diskussion der Marginalisierung von Frauen im Mai 68 wieder an Daniel Cohn-Bendit. Dieser kennzeichnete dann wie gewohnt beredt und in bemerkenswert scharf artikulierter Selbstkritik die Bewegung und ihre männlichen Leitfiguren, zu denen er gehörte, als zutiefst ‚chauvinistisch’. Er bestätigte und bestärkte damit die Position, die kurz vorher Alain Krivine, ebenfalls einer der männlichen Leader von Mai 68, in der die Diskussion einleitenden Filmreportage eingenommen hatte. Die mit dem zeitlichen Abstand und im Rückblick auf das historische Ereignis möglich gewordene Erkenntnis vom machisme der berühmten Protestbewegung wurde also wieder nur von Männern formuliert. Auf diese Weise wurde die Frau als Zeitzeugin und Akteurin auch vierzig Jahre danach in der medialen Inszenierung der Erinnerung - wie im Mai 1968 selbst - erneut auf die Rolle der passiven Zuhörerin männlicher Reden verwiesen. <?page no="98"?> Esther Suzanne Pabst 74 Bleibt also die Frage, wie denn nun politisierte Frauen den Mai 68 als historisches Ereignis wahrnehmen, wie sie es darstellen und wie sie es bewerten. Und welchen Zusammenhang konstruiert der ‚weibliche’ Blick auf Mai 68 mit seiner unmittelbaren Nachgeschichte, der Entstehung der Frauenbewegung um 1970? Diesen Fragen ist die einschlägige Forschung zum Mai 68 bislang nicht genauer nachgegangen. Als Erklärung dafür, dass auch in der erinnerungskulturellen Dimension die Gender-Perspektive gewissermaßen ‚ausgeblendet’ wurde bzw. immer noch wird, 16 kann die Feststellung angeführt werden, dass die öffentliche Diskussion um die ‚richtige’ Deutung und Erinnerung an Mai 68 und seines Erbes von den Akteuren von damals geprägt ist, die in den oft autobiographisch ausgerichteten Publikationen ihrer Sicht auf Mai 68 Ausdruck verleihen und konträre Positionen verhandeln. Wie wir gesehen haben, sind die historischen Leitfiguren der Studenten- und Arbeiterbewegung allesamt männlich, so dass auch die gegenwärtige Debatte wieder nahezu ausschließlich von männlichen Stimmen bestimmt ist. Es sind also Männer, die ihre individuellen Sichtweisen und Deutungen in die kollektive Erinnerung an Mai 68 und in seine Historiographie einschreiben. Wie aber nehmen Frauen das Ereignis wahr, das ihnen nur eine Existenz an der Peripherie zugestanden hat? Begibt man sich auf eine entsprechende ‚Spurensuche’, so lassen sich vor allem in Erinnerungsschriften von Frauen, die den MLF der 1970er Jahre mit getragen und ihn geprägt haben, Positionen und Deutungen aus weiblicher Perspektive zum Mai 68 finden. Auf dieser Grundlage soll hier eine Antwort auf die Frage ‚Qu’en disent les femmes? ’ formuliert werden. Als erstes Ergebnis lässt sich festhalten, dass in den zur Untersuchung herangezogenen Schriften Mai 68 oftmals als ein ganz wesentlicher Bezugspunkt präsentiert wird. Vor allem die Erinnerungen von Anne Zelensky heben die Bedeutung der Protestbewegung als Zäsur in den Lebensentwürfen und in der Politisierung von Frauen hervor: „Et voilà que mai est arrivé. Ce que j’attendais sans savoir que c’était ça. […] Je me suis embarquée sans l’ombre d’un doute sur cette fabuleuse comète. Et je n’ai jamais débarqué“ (Zelensky 2008: 2). 17 Um die in diesem Zitat zum Ausdruck kommende besondere, weil die Autorin so nachhaltig prägende Bedeutung von Mai 68 hervorzuheben, vergleicht Zelensky den Einschnitt, den die Revolte in ihrem Leben darstellt, an anderer Stelle mit einer ‚zweiten 16 Einzige Ausnahme ist eine Publikation von 2004, in der die Erinnerungen von 22 Frauen an Mai 68 nach alphabetisch geordneten Stichworten in Form eines Wörterbuchs präsentiert sind. Inwiefern Antoinette Fouques neueste Publikation Génération MLF (2008) der hier gestellten Frage systematisch nachgeht, kann im vorliegenden Beitrag, wie bereits erwähnt, nicht geklärt werden. 17 Anne Zelensky hat zu verschiedenen Zeitpunkten entweder unter ihrem feministischen Pseudonym Tristan, unter ihrem eigentlichen Namen Zelensky oder unter einem Doppelnamen aus beiden Texten veröffentlicht. Vgl. Tristan (1977), Zelensky-Tristan (2005), Zelensky (2008). <?page no="99"?> Mai 68 im weiblichen Blick 75 Geburt’, der dann die politische ‚Taufe’ folgte: „Moi, je suis née une deuxième fois en 68. […] Moi qui n’avais jamais fait de politique […] j’ai eu là mon baptême“ (Zelensky-Tristan 2005: 39f.). 18 Diese außergewöhnliche Bedeutung habe Mai 68 für sie gehabt, weil die Protestbewegung erstmals das Träumen von einer anderen, einer besseren Gesellschaft ermöglicht habe, in der auch die Frage nach der Geschlechterordnung neu gestellt und diskutiert werden konnte: Mai nous a décoincé la case, où, en chacun de nous, couine la fameuse scie: ‚Il ne faut pas rêver.’ Ce soir-là, dans le grand amphi [die Autorin spricht von der einzigen Diskussion, die im Mai 1968 zum Thema ‚Les femmes et la révolution’ in der besetzten Sorbonne stattfand], Jacqueline et moi avons fait un rêve magnifique. (Zelensky-Tristan 2005: 40) Es ist diese intensive und für sie unvergessliche Erfahrung, sich als Teil eines Aufbruchs in eine bessere Zukunft zu empfinden, die sie Mai 68 auch aus weiblicher Sicht als einzigartigen „moment de grâce“ definieren lässt (Zelensky 2008: 4). Auch andere Erinnerungsschriften von Frauen heben die besondere Wirkung von Mai 68 als zugleich grundlegendem und wegweisendem Einschnitt und Wendepunkt in ihrem Leben hervor. Oftmals wird dessen Bedeutung aber insofern relativiert, als sich mit der Euphorie, die mit der Protestbewegung aufkam und sie mitriss, schnell auch ein Unbehagen verband, das zunächst nicht in Worte gefasst, sondern nur vage empfunden und entsprechend auch nicht begründet und erklärt werden konnte: „l’ombre d’une déception planait sur notre enthousiasme“ (Zelensky 2008: 2). Nadja Ringart, damals Studentin der Soziologie, beschreibt ebenfalls die Wirkung, die die Ereignisse im Mai 68 auf sie ausübten, als faszinierend anziehend und fremd zugleich: „Pendant les ‚événements’ de Mai 68, Nadja est inscrite en sociologie à Censier. […] on lui ordonne d’avaler Lénine. […] Mais elle aimerait discuter du couple, de l’amour, des Mémoires d’une jeune fille rangée - lecture majeure de ses quinze ans“ (Hamon/ Rotman 1988: 197). 19 Die im Mai 68 von den ‚tonangebenden’ männlichen Revolutionären 18 In ähnlichen Sprachbildern vergleichen auch einige Frauen des Collectif (2004) die Revolte vom Mai 68 mit einer Geburt: „Ce qui se passe en mai est pour moi le début d’une renaissance“ (Chantal Cambronne-Desvignes); „je suis mûre pour naître, vraiment, cette fois“ (Luce Haccard-Perrin). 19 In dieser von Hamon/ Rotman herausgegebenen Publikation kommen die befragten Zeitzeugen und Zeitzeuginnen meist nicht direkt, sondern über weite Passagen indirekt über die als Erzählungen inszenierten Berichte der Autoren zu Wort. Dieses Darstellungsverfahren kann gerade auch bei den hier untersuchten Erinnerungen von Frauen an Mai 68 unter der genannten Fragestellung als männliche Kontrolle weiblicher Diskurse aufgefasst werden. Das sich aus dieser Überlegung ableitende und aus gendertheoretischer Sicht gewichtige Problem, wie mit diesen durch männliche Erzählstimmen vermittelten weiblichen Erinnerungen an Mai 68 unter der hier umrissenen Untersuchungsperspektive umgegangen werden soll, kann im vorliegenden Beitrag nur benannt, aber nicht weiter verfolgt werden. <?page no="100"?> Esther Suzanne Pabst 76 (diese sind wohl mit dem „on“ bezeichnet) zur Diskussion gestellten Themen und Denkmodelle boten ihr kein Identifikationspotential, und jene sie eigentlich interessierenden Fragen und Gegenstände aus ihrer spezifischen Lebens- und Erfahrungswelt als Frau in der französischen Gesellschaft der 1960er Jahre hatten im Mai 68 keinen Ort. „Je ne pouvais être que là, mais je portais des paroles qui n’étaient pas les miennes“, fasst Nadja zwanzig Jahre nach dem historischen Ereignis ihre Empfindung des Dabeiseins und zugleich Fremdseins zusammen (vgl. Hamon/ Rotman 1988: 197). Diesem zwiespältigen Gefühl liegt wohl auch die Wahl des Begriffs ‚mitlaufen’ zugrunde, mit dem die Partizipation von Frauen im Mai 68 in ihrer Erinnerung zum Ausdruck gebracht wird (so z.B. in denen von Alice Schwarzer 2008 an ‚ihren’ Mai 68 u.a. in Paris). Das in den hier beispielhaft angeführten Zitaten noch relativ unbestimmte Gefühl des Unbehagens, des diffusen Fremdseins, wird im analytischen Rückblick einer bereits im Mai 68 aktiven Feministin zu einer Kritik, die die Marginalisierung von Frauen und ihrer spezifischen Sicht auf die Welt, die Gesellschaft und die Geschlechterordnung als Ursache dafür anführt: Cette matinée-là, nous étions dans la cour de la Sorbonne […]. Ravies, mais un peu perplexes. Parmis tous les slogans qui fleurissaient sur les murs, rien sur les femmes. Allaient-elles être encore les oubliées de l’Histoire? Il y avait déjà quinze jours que la fête battait son plein. Étions-nous invitées au bal seulement pour faire les cafés et tirer les tracts? (Tristan-Zelensky 2005: 40; vgl. auch Zelensky 2008; Tristan 1977: 38) In der Erinnerung an die zugleich von Euphorie über die Entwicklungen und Skepsis geprägten Empfindungen im Hof der besetzen Sorbonne rekurriert die Retrospektive auf eine Tradition, in der die Frauen in den historischen Revolutionen im 18. und 19. Jahrhundert, die die französische Gesellschaft umwälzten, aktiv teilnahmen, im Verlauf der Aufstände selbst von den männlichen Revolutionären und im Nachhinein von der Geschichtsschreibung jedoch ausgegrenzt und marginalisiert wurden, eine Traditionslinie, die auch die Revolte des Mai 68 und ihre Historiographie ungebrochen fortzuschreiben scheinen. Die Erkenntnis, dass die Protestbewegung, die angetreten war, gesellschaftliche Hierarchien aufzubrechen, die Ungleichheit der Geschlechter bestehen ließ, erscheint in den Erinnerungen von Frauen an Mai 68 als ein wichtiger Grund dafür, dass die Bewegung ihnen wenig oder gar kein Identifikationspotential bot. „Quant aux femmes, l’alternative qui leur est offerte se résume à jouer les secrétaires ou se viriliser. S’abaisser ou se nier“ (Hamon/ Rotman 1988: 221), fasst eine Feministin in der eingangs bereits angeführten Sonderausgabe zum ‚Jahr Null der Frauenbefreiung’ des Partisans vom Oktober 1970 ihre Sicht auf den Ort der Frauen im Mai 68 zusammen. Frauen, die aus diesen geschlechtsspezifischen Rollenschemata, die sie zur Anpassung und Unterordnung oder aber zur Selbstentfremdung <?page no="101"?> Mai 68 im weiblichen Blick 77 zwangen, ausbrechen wollten, sahen sich auch innerhalb der Protestbewegung dem männlichen „racisme qui s’exerce à l’égard des femmes“ (Hamon/ Rotman 1988: 221) 20 ausgesetzt: „Je me souviens de n’avoir jamais été considérée comme une militante ‚sérieuse’ pendant longtemps, simplement parce que je portais des minijupes (ça ne fait pas sérieux quand on veut faire la révolution …)” (Hamon/ Rotman 1988: 221). Was es für Frauen ihren Erinnerungen nach ebenfalls problematisch machte, sich uneingeschränkt mit der Protestbewegung, die sie gleichwohl in den Bann zog, zu identifizieren, war die ihr inhärente Dimension der Gewalt: En mai, j’ai, disons, souffert avec joie. J’avais la trouille, il y avait un côté jeu de mecs. Avant les manifs, nous étions quelques filles terrifiées, honteuses d’éprouver cette terreur, certaines que nous allions détaler devant les grenades. J’avais l’esprit de famille et je croyais à la révolution, mais les hiérarchies d’organisation, c’était grotesque, la guéguerre me révulsait. (Hamon/ Rotman 1988: 198) 21 Das in den angeführten Zitaten als noch relativ vage wahrgenommene Gefühl, von einem ‚Männerbündnis’ und seinen ihm inhärenten Regeln abgestoßen und ausgeschlossen zu sein, wurde den hier untersuchten Erinnerungsschriften zufolge erst zum Gegenstand konkreter Auseinandersetzungen, als Frauen begannen, die Frage der Geschlechterordnung zu theoretisieren und in die öffentlichen Diskussionen einzubringen. Sie widersetzten sich damit der damals gängigen Vorstellung, „que l’oppression masculine n’est qu’une contradiction secondaire, une variation mineure de la contradiction principale. Sortons du capitalisme, et le reste nous sera donné par surcroît“ (Hamon/ Rotman 1988: 219). In diesem Zusammenhang erscheint mir wichtig zu betonen, dass die Kritik am machisme des Mai 68 und seinen männlichen Trägern konstitutiv war für die Formierung, Entwicklung und damit indirekt auch für die immense gesellschaftliche und kulturelle Wirkung der autonomen 20 N.B.: Der Begriff ‚Sexismus‘ wird erst in den 1970er Jahren für den hier angeführten ‚Rassismus gegenüber Frauen’ geprägt. 21 Zu weiteren Beispielen dafür, dass die gewalttätige Dimension der Protestbewegung eine Identifikation für Frauen erschwerte, vgl. die Erinnerungen von Prisca Bachelet (Hamon/ Rotman 1988: 229f.), von Françoise Picq (Hamon/ Rotman 1988: 217) und J.K. (Hamon/ Rotman 1988: 221). Vgl. auch entsprechende Überlegungen in Artières/ Zancarini-Fournel (2008: 539). Es sei an dieser Stelle hervorgehoben, dass ich, wenn ich hier entsprechende Zitate aus Erinnerungsschriften von Frauen an Mai 68 und die darin deutlich werdende Sicht auf die Protestbewegung als Beleg für eine ‚frauenspezifische’ Sichtweise anführe, damit keine Aussagen treffe, die auf Vorstellungen einer wie auch immer gearteten ‚weiblichen Natur’ beruhen. Es soll hier also keine essentialistische Position über die Konzeptualisierung von Geschlechterdifferenz entworfen oder gar begründet werden. Hier wird lediglich in einer diskursanalytischen Untersuchungsperspektive der Frage nachgegangen, welche Sichtweisen auf Mai 68 sich in den hier zur Untersuchung herangezogenen Erinnerungen von Frauen als immer wieder kehrende ‚Versatzstücke’ ausmachen lassen. <?page no="102"?> Esther Suzanne Pabst 78 Frauenbewegung von 1970. Aus dieser Sicht nennt Simone de Beauvoir in einem Interview mit Alice Schwarzer im Jahr 1972 als wichtigen Grund für Frauen, eine autonome Bewegung zu schaffen, die Tatsache, dass „selbst in den linken, ja sogar in den revolutionären Gruppen und Organisationen eine tiefe Ungleichheit zwischen Mann und Frau besteht.“ Sie fährt fort: Selbst innerhalb dieser Gruppen also, die im Prinzip dazu da sind, alle zu befreien - auch die Frauen und die Jugend -, selbst da blieb die Frau minderwertig. Es ist also unbedingt notwendig, daß die Frauen selbst ihr Schicksal in die Hand nehmen. (Beauvoir 1972: 30f.) 22 Dies ist den Erinnerungen von 1968 politisierten Frauen zufolge insofern nötig geworden, als auch im Mai 68 der Bereich des Denkens, Redens und Theoretisierens männlich konnotiert war, eine Vorstellung, die die Aufteilung der Aufgaben und Bereiche in der Protestbewegung auf die Geschlechter bestimmte (s.o.). Erst der Feminismus ermöglichte es den Frauen de s’aventurer dans le vaste champ de la pensée […] ce pays de la pensée officiellement interdit aux femmes. […], c’est ce sentiment informulé de nous lancer sur des chemins doublement inédits. Double audace: prendre le féminisme comme sujet à part entière, ce féminisme tant décrié, et en faire la voie d’accès à une compréhension renouvelée de la sexualité et de la révolution. (Zelensky- Tristan 2005: 43). Der durch den Ausschluss der Männer sich entwickelnde feministische Blick ermöglichte die Überschreitung des „axiome fondateur de l’action partisane: un militant = un militant, qu’il soit mâle ou femelle. Exclure les mecs […], privilégier une parole spécifique […], c’est déplacer le champ politique tout entier“ (Hamon/ Rotman 1988: 222). Die neue feministische Perspektive machte sichtbar, dass und wie der auch von Frauen verinnerlichte männliche Blick auf sie selbst und ihre Position in der Gesellschaft ihr Denken, Wahrnehmen und Sprechen beeinflusst hatte. Diese Erkenntnis öffnete ganz neue, bisher unvorstellbar erscheinende Dimensionen des politischen Handelns. „Le féminisme m’a délié l’esprit et la langue“ (Tristan-Zelensky 2005: 44) - erst mit und in der feministischen Bewegung wurde die aus weiblicher Sicht ‚echte’, weil mit ihren spezifischen Bedürfnissen und Perspektiven identische Befreiungsrevolte möglich. „Alors la révolution qui me permettra d’avoir un corps, de rire et de garder ma propre tête, il faut que je la fasse ailleurs, moi-même“, so formuliert es ein Artikel in der feministischen Zeitschrift Le torchon brûle, die die Autorinnen der einzelnen Beiträge niemals mit (ganzem) Namen nennt (zit. in Hamon/ Rotman 1988: 240). Die hier angesprochene ‚eigene’ Revolution der Frauen, die ihrer spezifischen Sicht und gesellschaftlichen Situation Rechnung trug, war nur möglich, 22 Auch andere Erinnerungsschriften von Feministinnen vertreten die Position, nach der die Abgrenzung vom machisme der männlichen Revolutionäre von Mai 68 als Ausgangspunkt der Gründung einer autonomen Frauenbewegung aufgefasst wird; vgl. z.B. Zelensky-Tristan (2005: 42, 46ff.) sowie die Erinnerungen in Picq (1993: 18). <?page no="103"?> Mai 68 im weiblichen Blick 79 wenn sie ohne Männer stattfand. Die non-mixité der 1970 entstehenden Frauenbewegung, so postulieren die feministischen Erinnerungen an Mai 68, war unabdingbare Grundlage dafür, dass die Vorstellung von Frauen als eigenem Kollektiv, als einem „‚nous’ décidément inassimilable par les programmes des divers partis ou groupuscules“ (Hamon/ Rotman 1988: 222) überhaupt erst entstehen konnte, ein Wir-Gefühl, das den Entwurf einer eigenen Identität und Sprache ermöglichte. 23 Denn auch Mai 68 hat den Frauen die Subjektwerdung verweigert: On ne supporte plus d’être un objet qui ne comprend pas, qui distribue des tracts et des sourires, qui répète les discours politiques avec un dévouement pathétique. Il y a des mecs qui ressentent tout cela, mais il n’y a que les femmes qui puissent le remettre en cause - pour eux, aussi. Le mouvement des femmes, on y respire, on ose se parler et même se tromper. Nous voulons élaborer la politique que nous allons appliquer. (Erinnerungen von Nadja Ringart und Françoise Picq in Hamon/ Rotman 1988: 241) Hier wird deutlich, dass ein Wandel im Denken und Selbstbild der Frauen, die sich nicht länger als das ‚andere Geschlecht’ begreifen und in der damit verbundenen Perspektive, die sie verinnerlicht hatten, wahrnehmen wollten, nur abseits der (sie be-)herrschenden männlichen Denkschemata zu entwickeln war. Die Frauen schafften sich durch den Ausschluss der Männer einen von männlicher Bevormundung und Unterdrückung freien Raum zur Selbstverständigung und Selbstfindung. Erst in Abgrenzung von der Mai-Bewegung und ihren männlichen Trägern konnten die Frauen ihre eigene Revolte denken und formulieren sowie entsprechende Ziele durch gemeinsames Handeln in die Tat umsetzen. Die Atmosphäre in den reinen Frauenversammlungen wird im Rückblick als zugleich neu, fremd und aufregend anziehend beschrieben: „Tout est ouvert, tout est à inventer. Tout est incertain. Ce qui meurt dans ce désordre, c’est le militantisme-rédemption, la supériorité du militant qui connaît l’oppression que l’opprimé supporte et parle à sa place“ (Hamon/ Rotman 1988: 237). In diesem Zusammenhang betrachtet, ist die berühmte Hymne des MLF „Debout femmes esclaves et brisons nos entraves! Debout! debout! “ 24 also in erster Linie als eine Aufforderung zu begreifen, die sich 23 Vgl. dazu auch entsprechende Berichte in Hamon/ Rotman (1988: 220ff.). Die Erinnerungen der im Mai 68 erstmals politisierten Nadja Bringart an diese Zeit legen auch Zeugnis davon ab, dass die erste Erfahrung einer von männlicher Bevormundung und Fremdbestimmung befreienden sororité (noch bevor dieses Wort überhaupt geprägt wurde) sogar in gesellschaftlichen Institutionen wie dem Frauengefängnis stattfinden konnte: „Pour la première fois de sa vie, elle a séjourné durablement dans un espace exclusivement féminin; et elle s’est aperçue que cette donnée de l’experience n’était pas source de frustration - au contraire: une parole différente naissait alors, simultanément irréductible et rassurante“ (Hamon/ Rotman 1988: 216). 24 Vgl. Chantsdeluttes.free.fr. URL : http: / / chantsdeluttes.free.fr/ feminisme/ pages% 20feminisme/ hymnedumlf.html (14.10.2008). <?page no="104"?> Esther Suzanne Pabst 80 gegen die männlichen Trägergruppen der Protestbewegung vom Mai 68 richtete: „On veut se libérer des libérateurs“ (Picq 1993: 15). Die ersten Texte, in denen „la ‚question des femmes’ cessait d’être un état d’âme“, in denen offen ausgesprochen wurde, „que l’idée de classe ouvrière n’englobait pas le prolétariat dans son extension vraie“, eröffneten eine Perspektive, die den Weg zur Entstehung einer autonomen Frauenbewegung wies: „un seuil a été franchi, les bouches se sont ouvertes“ (Hamon/ Rotman 1988: 219). In ganz ähnlichen Sprachbildern schildert Alice Schwarzer heute ihre Empfindungen zu 1968: „Worte hatten wir Frauen damals noch nicht für unser Unbehagen. Die kamen erst mit der Frauenbewegung“ (Schwarzer 2008: 2). Mit dem Erstarken des Feminismus zu einer autonomen Bewegung fanden die Frauen für das 1968 noch ‚unaussprechliche’ Gefühl des Unbehagens Worte, durch die geschlechtsspezifische Grenzen und Normsetzungen auf einmal überwindbar schienen. Les mots pour le dire (so der Titel eines autobiographischen Romans von Marie Cardinal von 1975, der einen weiblichen Selbstfindungsprozess schildert und mit dem Ausblick auf Mai 68 endet) wurden erst möglich mit dem Bewusstwerdungsprozess, der 1968 zwar seinen Anfang hatte, „à ce moment unique où se débridaient des paroles si longtemps contenues, où elles circulaient de l’un à l’autre, dégagées de cette bienséance mortifère qui nous condamnait sur ces choses là au silence“ (Zelensky 2008: 3f.), der sich aber erst in der Abgrenzung zu dieser männlichen Revolte entfaltete. In ihrer Erinnerung entwirft Anne Zelensky(-Tristan) das Leben als einen Prozess der Selbstfindung: Avec le recul, ma vie […] m’apparaît essentiellement comme un long cheminement vers l’existence. […]. Ma rencontre avec le Mouvement des femmes est l’aboutissement d’une recherche et d’une réflexion qui ont tendu vers cette existence. (Tristan 1977: 15) Im Zusammenhang mit der Metaphorik, die sie in ihrer oben zitierten Sicht und Bewertung von Mai 68 verwendet, wird die Bedeutung und Hierarchie, die die Autorin rückblickend den Revolten von Mai 68 und der des MLF in den 1970er Jahren zuschreibt, folgendermaßen sinnfällig: In dem von ihr beschriebenen Selbstfindungsprozess ist Mai 68 die Geburt, ein Ereignis also, das als Ausgangspunkt der Existenz noch durch einen unbewussten Zustand gekennzeichnet ist. Erst der MLF ist dann das Ereignis, das ihr Bewusstwerdung und Selbstfindung ermöglichte - und somit Identität. Die Zeit zwischen diesen beiden Ereignissen beschreibt Anne Zelensky in ihren Erinnerungen als eine Art ‚Leerlauf’, oder, um im Bild zu bleiben, als Phase einer Adoleszenz in der Entwicklung, die zur Identitätsfindung, zur ‚wahren Existenz’ führte: J’ai très mal vécu la ‚fin’ des évènements […] Heureusement il y avait FMA. […] Pendant les deux années qui vont nous séparer de la renaissance du féminisme, <?page no="105"?> Mai 68 im weiblichen Blick 81 en 1970, nous nous occuperons, comme nous pourrons. (Zelensky-Tristan 2005: 43) 25 Im Mai 68 selbst konnte der Feminismus noch keine Dynamik entwickeln. Die Metaphorik von Geburt und Selbstfindung weist 68 im ‚weiblichen’ Rückblick die Rolle des Ausgangspunktes für einen Bewusstwerdungsprozess zu, der erst in der Abspaltung von der ‚männlichen’ Protestbewegung, mit der Formierung der autonomen Frauenbewegung sich entfalten und zu sich selbst finden konnte. In der Perspektive, die die hier untersuchte Erinnerungsliteratur von Frauen auf Mai 68 entwirft, wird das historische Ereignis als einschneidende Zäsur, als ‚Startschuss’ gedeutet, der den Weg zur Frauenbefreiungsbewegung, zur ‚eigentlichen’ Revolte bereitet hat, die individuelles und kollektives Leben der im Mai politisierten Frauen, ihr Bewusstsein und ihre Wahrnehmung grundlegend beeinflusste. Zugleich entlarvt der ‚weibliche’ Blick zurück die kollektive Erinnerung an Mai 68 als eine männliche Heldenerzählung, in und mit der das Ereignis erst seine mythische Bedeutung bekommen konnte: „[…] je ne doutais pas encore que mai n’était que l’antichambre de mon aventure essentielle. Que mai allait rouvrir le chemin au féminisme“ (Tristan-Zelensky 2005: 40). Das für den vorliegenden Aufsatz titelgebende Zitat bringt es auf eine griffige Formel: Aus weiblicher Sicht ist die Entstehung der autonomen Frauenbewegung (als zweite feministische ‚Welle’, deshalb wohl der Begriff „rouvrir“) und die immense gesellschaftliche und kulturelle Wirkung, die sie in den 1970er Jahren entfaltete und damit das Leben von Frauen wie auch von Männern so nachhaltig veränderte, das eigentlich zentrale Ereignis, das die in den öffentlichen, von männlichen Stimmen und Kommentierungen beherrschten Diskussionen so betonte Bedeutung von Mai 68 übertrifft. Literaturverzeichnis Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective (1962-1981), Paris 2008. Margaret Atack, May 68 in French Fiction and Film. Rethinking Society, Rethinking Representation, Oxford 1999. Christine Bard, Les femmes dans la société française au 20 e siècle, Paris 2001. Simone de Beauvoir, Le deuxième sexe, Paris 1949. Simone de Beauvoir, „Ich bin Feministin“. Simone de Beauvoir, Weggefährtin der neuen Frauenbewegung. Paris 1972. in: Alice Schwarzer (Hrsg.), Simone de Beauvoir heute. Gespräche aus zehn Jahren. 1971-1982, Reinbek bei Hamburg 1983, 25-44. Véronique Châtel, Au-delà du féminisme, les femmes, Paris 2006. 25 Die Abkürzung FMA steht für eine der ersten feministischen Vereinigungen Féminin Masculin Avenir, die bereits im Mai 68 gegründet wurde und sich nach dem Ausschluss der Männer aus ihr in Féminin Marxisme Avenir umbenannte. <?page no="106"?> Esther Suzanne Pabst 82 Choisir la cause des femmes, Le procès de Bobigny. [Sténotypie intégrale des débats du Tribunal de Bobigny, 8 novembre 1972], Paris 2006 [1973]. Marieluise Christadler, Eine Kulturrevolution - auf Abruf? Frauen und gesellschaftlicher Wandel, in: Marieluise Christadler/ Florence Hervé (Hrsg.), Bewegte Jahre - Frankreichs Frauen, Düsseldorf 1994, 163-186. Collectif, Filles de mai - 68 mon mai à moi. Mémoires de femmes, Lormont 2004. Alain Delale/ Gilles Ragache, La France de 68, Paris 1978. Éric Donfu, Ces jolies filles de mai. 68, la révolution des femmes, Paris 2008. Wolfgang Drost/ Ingrid Eichelberg, Mai 1968, une crise de la civilisation française. Anthologie critique de documents politiques et littéraires, Frankfurt a.M. 1986. Christine Fauré, Mai 68 jour et nuit, Paris 2008 [1998]. Françoise Flamant, À titre d’elles. Itinéraires de féministes radicales des années 1970, Rennes 2007. Antoinette Fouque (Hrsg.), Génération MLF: 1968-2008, Paris 2008. Robert Frank, 1968 - ein Mythos? Fragen an die Vorstellung und die Erinnerung, in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968. Vom Ereignis zum Mythos, Frankfurt a.M. 2008, 403-411. Xavière Gauthier, Naissance d’une liberté. Avortement, contraception: le grand combat des femmes au XX e siècle, Paris 2002. Xavière Gauthier, Paroles d’avortées. Quand l’avortement était clandestin, Paris 2004. Hervé Hamon/ Patrick Rotman, Génération I. Les années de poudre, Paris 1988. Susanne Hartwig/ Hartmut Stenzel, Einführung in die französische Literatur- und Kulturwissenschaft, Stuttgart 2007. Jean-Jacques Lebel/ Jean-Louis Brau/ Philippe Merlhès (Hrsg.), La Chienlit. Dokumente zur französischen Mai-Revolte, Darmstadt 1969. Jean-Philippe Legois, Les slogans de 68, Paris 2008. Emmanuelle Loyer, Mai 68 dans le texte, Paris 2008. Esther S. Pabst, Kristallisationspunkte der französischen Kultur (und Literatur). Patriarchale Ordnung und Feminismus, in: Susanne Hartwig/ Hartmut Stenzel, Einführung in die französische Literatur- und Kulturwissenschaft, Stuttgart 2007, 333-351. Françoise Picq, Der Mai 1968 und die Frauenbewegung, in: Etienne François (Hrsg.), 1968 - Ein europäisches Jahr? Leipzig 1997, 55-64. Françoise Picq, Libération des femmes: Les années-mouvement, Paris 1993. Florence Rochefort, L’insurrection féministe, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective (1962-1981), Paris 2008, 538- 546. Kristina Schulz, Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik und in Frankreich 1968-1976, Frankfurt a.M. 2002. Kristina Schulz, Macht und Mythos von „1968“: Zur Bedeutung der 68er Protestbewegung für die Formierung der neuen Frauenbewegung in Frankreich und Deutschland, in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968. Vom Ereignis zum Mythos, Frankfurt a.M. 2008, 341-362. Alice Schwarzer, Mein persönliches 68. URL: http: / / www.emma.de/ mein_68_ 2008_30.html (14.10.2008). Anne Tristan [Zelensky]/ Annie de Pisan [Sugier], Histoires de MLF, Paris 1977. Simone Veil, Les hommes aussi s’en souviennent. Une loi pour l’histoire. Discours du 26 novembre 1974, suivi d’un entretien avec Annick Cojean, Paris 2004. Michelle Zancarini-Fournel, Le moment 68. Une histoire contestée, Paris 2008. <?page no="107"?> Mai 68 im weiblichen Blick 83 Anne Zelensky, Mai 68 et les femmes, un moment de grâce, in: Riposte Laïque, 39/ 2008. URL: http: / / www.ripostelaique.com (14.10.2008). Anne Zelensky-Tristan, Histoire de vivre. Mémoires d’une féministe, Paris 2005. <?page no="109"?> Albrecht Buschmann 1968 autofiktional: der Pariser Mai als narratives Konstrukt in Wort und Bild 1. Stadtraum und Kunstraum, neu codiert Ab Mitte Mai 1968 arbeiten die Druckwerkstätten der Pariser École des Beaux-Arts auf Hochtouren. Hier entstehen als Lithographien oder im seinerzeit hochmodernen Siebdruckverfahren Tag für Tag in hohen Auflagen politische Plakate, die anschließend von Helfern auf Mauern und Gebäude geklebt werden. In konsequenter Verweigerung der gängigen Regeln der Kunstwelt entstehen diese Plakate streng anonym, auch wenn namhafte Künstler wie Alexander Calder, Jacques Carelman, Jean-Jacques Sempé oder Daniel Milhaud an den Entwürfen mitwirken. Welche der Entwürfe gedruckt werden, entscheidet ein Kollektiv. Das Ich der oft namhaften Künstler geht auf im Wir der Werkstatt. Aufgehängt werden die Plakate nicht in Galerien oder Museen, sondern auf der Straße. Diese Kunstwerke kann man nicht kaufen, sondern gratis sehen, und sie sind keine Unikate, sondern Massenware. Kunst ohne erkennbares Künstlersubjekt, ohne Preis, ohne Signatur, ohne separierten Raum - beinahe scheinen sie eine Utopie zu verwirklichen, verheißen sie doch ganz konkret die Inversion zentraler Codes im Symbolsystem ‚Bildende Kunst’. Wohl deshalb sinniert die Hauptfigur eines Romans über den Pariser Mai, die der fruchtlosen Diskussionen müde ist: En revanche, nous collâmes des centaines d’affiches des Beaux-Arts et des Arts- Déco. Eux furent à la hauteur, produisant sans cesse, se renouvelant chaque jour, liant harmonieusement théorie et pratique sans jamais racoler pour un groupuscule. (Fajardie 1988: 47) Auf manchen der Plakate sind jene teilweise bis heute gebräuchlichen Slogans in situationistischer Manier zu lesen, mit denen die Wirklichkeit in witzige Paradoxe überführt wird: „Il est interdit d’interdire.“ Andere zeigen komplexe Bild-Text-Kombinationen, die die zeitgenössischen politischen Ereignisse kommentieren, persiflieren, zuspitzen - etwa in dem am 21. Mai erstmals geklebten Plakat zu Charles de Gaulles Diktum vom 19. Mai: „La réforme oui! La chienlit non! “ Der deftige Slogan wird aufgenommen und gegen seinen Urheber gewendet: Wer so etwas sagt, ist selbst „chienlit“. Doch bleibt es nicht bei dieser starren Rhetorik, in der einer Behauptung <?page no="110"?> Albrecht Buschmann 86 eine Gegenbehauptung entgegengestellt wird. Denn im Ikonotext wird de Gaulle nicht einfach abgebildet, sondern maximal vereinfacht dargestellt, erkennbar nur an der langen Nase plus Offiziersmütze, und solcherart als Kinderpuppe präsentiert. Die Respektsperson als Handpuppe, die Autorität im Kontext des Infantilen, de Gaulle als lächerlich zappelndes Spielzeug. Text und Ikonotext des Plakats stellen frech die politische Hierarchie der fünften Republik auf den Kopf, ohne sich aber selbst zu wichtig zu nehmen. Denn dafür fehlt dem Text jener vollmundige Duktus protestierender Selbstgewissheit („Non à…! “ - „… jamais! “), zudem sieht die Handpuppe einfach nur niedlich aus (vgl. Abbildung). 1 Inversion eines kulturellen Codes, Inversion der politischen Hierarchie, und wenn wir uns nun die Plakate im Raum der Stadt vorstellen, zunächst an den Mauern der Renault-Fabrik in Boulogne-Billancourt, dann im Quartier Latin, an Mauern und Wohnhäusern, unter Straßenschildern oder an öffentlichen Gebäuden klebend, gerät auch die gewohnte Relation zwischen öffentlichem Stadtraum und dem üblicherweise privaten Kunstraum in Schwingung. Die Kunst verlässt ihre heiligen Orte, ist plötzlich dans la rue, was die Wahrnehmung des Stadtraums verändert, vor allem aber auch das Verständnis davon, was als Kunst zu gelten hat. Der schwarze Rahmen des Plakats trennt von der Fläche des Stadtraums einen Bereich ab, der Alterität beansprucht, einmal aus sich selbst heraus, aber auch in Relation zu dem ihn umgebenden Stadtraum und dem von ihm verlassenen Kunstraum. Die Vielzahl der Plakate bilden Fremdkörper am Leib der Stadt, die das gewohnte Stadtbild aufrauhen. Ohne zwischen politischer Aussage und kulturellem Statement zu unterscheiden, sind ihre Inversionen präsent für jeden, der auf die Straße geht, und so wird la rue, dieser emblematische Ort des Pariser Mai, in einem Atemzug politisch und kulturell neu codiert. 2 * Das Ich, das aufgeht im Wir, und die Dynamisierung der Räume im Kontext des Pariser Mai 1968, sind die Eckpunkte der folgenden Untersuchung. Was aber war der Pariser Mai 1968? Ein événement oder ein mouvement, eine révolte oder eine révolution? Für General Charles de Gaulle bestanden seinerzeit keine Zweifel, in seinen Augen handelte es sich um eine Verschwörung mit dem Ziel, in Frankreich eine totalitäre kommunistische Diktatur zu errichten: „La France en effet est menacée de dictature [...] [, de] la tyrannie exercées par des groupes organisés de longue main.“ (de Gaulle 1968) So seine Äußerung bei der ereignisgeschichtlich entscheidenden Radioanspra- 1 Dieser Effekt sticht besonders deutlich ins Auge, wenn man die auf de Gaulle gemünzte Graphik mit der auf Nicolas Sarkozy übertragenen Fotomontage (vgl. URL: http: / / imaginaction.over-blog.org/ article-19991872-6.html, 15.10.2008) vergleicht. 2 Zur Geschichte der Druckgraphik aus der École des Beaux-Arts im Kontext des Pariser Mai vgl. Fraenkel (2008). <?page no="111"?> 1968 autofiktional 87 che am Nachmittag des 30. Mai 1968. Nicht weniger drastische Worte hatte bereits zwei Wochen zuvor sein Premierminister Georges Pompidou gewählt, als er am 14. Mai vor der Nationalversammlung erklärt hatte: „A ce stade, ce n’est plus, croyezmoi, le gouvernement qui est en cause, ni les institutions, ni même la France. C’est notre civilisation elle-même.“ (Pompidou 1968) Das war am Tag nach dem Beginn des größten französischen Generalstreiks seit 1934, am Tag drei nach der so genannten nuit des barricades vom 10. auf den 11. Mai, die für die Geschichtsschreibung zum Pariser Mai 1968 den Übergang vom studentischen Protest im Quartier Latin zum sozialen Protest im ganzen Land markiert. 3 Das Ende der Zivilisation. Große Worte, die Georges Pompidou in die Diskussion wirft, und an großen Worten mangelt es generell nicht, wenn über 1968 und speziell über den Pariser Mai gesprochen wird, weder seinerzeit noch in den späteren Beschreibungen und Bewertungen der Zeitzeugen. Wie kaum ein zweites Ereignis der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die studentischen Proteste dieser Wochen, haben die Besetzung der Sorbonne, haben die Straßenkämpfe um die Universität, der Generalstreik, das Taktieren der alten Linksparteien, das Zaudern der Regierung, gipfelnd in Großdemonstrationen auf den Grands Boulevards und in erneuten Straßenschlachten im Quartier Latin, zu persönlichen Wortmeldungen animiert. Viele Zeitgenossen, vor allem diejenigen, die dem mouvement Sympathie entgegenbrachten, fühlen sich offensichtlich aufgerufen zum (meist auf das eigene Erleben fokussierenden) Erzählen. Die Folge davon ist, dass hinter einer Flut von Geschichten das „Ereignis zum Mythos“ wird - so der treffende Untertitel des Sammelbandes 1968 von Ingrid Gilcher-Holtey (2008). 3 Vgl. Gilcher-Holtey (1995: 32): „Die Ereignisse in der Nacht vom 10. auf den 11. Mai veränderten die Bewegung. Sie dehnte sich räumlich und sozial aus. Sie übersprang das Quartier Latin und das Studentenmilieu sowie die Kreise der sympathisierenden Schüler und Jugendlichen. Sie löste eine nationale Welle der Solidarisierung mit den Studenten in der breiten Öffentlichkeit aus und verknüpfte die organisierte Arbeiterbewegung mit der Studentenbewegung zu einer gemeinsamen Demonstration gegen die Regierung.“ <?page no="112"?> Albrecht Buschmann 88 2. Kritische Momente unter autofiktionaler Perspektive. Das Korpus Im Folgenden sollen, um die Entstehung dieses mythischen Bildes von 1968 besser verstehen zu können, einige Wortmeldungen aus der Zeit und über die Zeit analysiert und zueinander in Beziehung gesetzt werden: Erinnerungen und Memoiren der politischen Akteure beider Seiten, der Vertreter des Staates wie der Demonstranten, daneben Romane, Dokumentationen, Filme und, wie eben gesehen, Plakate, die seit 40 Jahren - und, wie gerade jetzt wieder, meist zu den jeweiligen runden Gedenktagen erscheinend - rezipiert werden und ihren Teil zur Mythisierung beitragen. 4 Um diese „histoire collective“ (so der Untertitel von Artières/ Zancharini-Fournel 2008) wenigstens exemplarisch als narratives Konstrukt beschreiben zu können, werde ich mein Augenmerk auf die Darstellung zweier Einzelereignisse richten: auf die nuit des barricades sowie auf das rätselhafte Verschwinden Charles de Gaulles am 29. Mai, beides „kritische Momente“ im Sinne Pierre Bourdieus (1988: 254ff.). Dass es sich um ereignisgeschichtliche Schlüsselmomente handelt, betont die Historiographie (vgl. Gilcher- Holtey 2008: 15ff.); hinzu kommt, dass die beiden Momente unter kommunikationsgeschichtlicher Perspektive besonders relevant und gewissermaßen komplementär sind: In der Nacht der Barrikaden wird, dank der Live-Übertragung des Radiosenders RTL, schon landesweit über das Ereignis kommuniziert, noch während es sich ereignet, 5 wohingegen der 29. Mai der Tag des abwesenden, des schweigenden, des seine Mitarbeiter und Vertrauten nicht informierenden Präsidenten ist, dessen Radioansprache am folgenden Tag 4 Einen analytischen Vergleich der sich wandelnden Schwerpunkte der Erinnerung an das Ereignis ‚1968’ bietet Rioux (2008). 5 In der Nacht der Barrikaden stellten zahlreiche Anwohner der Straßen des Quartier Latin ihre Radios auf die Fensterbänke, was bei den Protestierenden auf der Straße schon im Augenblick der Aktion deren Rezeption ermöglichte: „De toutes parts, dans la rue, on était baigné dans les sons de l’événement: il y avait instantanéité totale entre l’événement et l’information, l’information et sa réception.“ (Bernard 1990: 258) Ein anderer Zeitzeuge beschreibt die euphorisierende Wirkung dieser Simultaneitätserfahrung: „Dès que j’ai entendu un transistor, cela m’a énormément réconforté. Ils ont parlé d’une trentaine de barricades. J’ai sauté de joie et on a tous crié: On n’est pas seuls! “ (zit.n. Gilcher-Holtey 2005: 244) Die Schlüsselerfahrung des Einzelnen, Teil eines größeren ‚Wir’ zu sein, das via Radio-Live-Schaltung in ganz Frankreich wahrgenommen wird, generiert einerseits ein gestärktes Selbstbild, andererseits trägt es zu einem „enthousiasme communicatif“ bei (wie Le Monde es am Tag danach nannte, vgl. Gilcher-Holtey 1995: 245), der im Erzählen von den Ereignissen all die vielen Ichs auf den Barrikaden und in ihrer Nähe auf eine nationale Ebene transzendiert, sie zu Akteuren von (in diesem Augenblick) nationaler Tragweite macht. Und man darf annehmen: Auch viele andere, die in dieser Nacht nicht selbst auf den Barrikaden waren, sondern mitfiebernd vor ihrem Radio saßen, fühlten sich im Nachhinein als Teil der Ereignisse. <?page no="113"?> 1968 autofiktional 89 auch deshalb so große Wirkung entfaltet, weil zuvor bei seinen Anhängern die Sorge bestand, er könnte sie womöglich für immer verlassen haben. 6 Die Erzählungen über diese Momente möchte ich als autofiktionale Konstruktionen begreifen, als petits récits, die das eigene Leben und Erleben einpassen und anpassen an die grands récits vom Mai 1968. Es geht dabei nicht darum, ausgehend von einem bipolaren Modell zu prüfen, wer im Vergleich zu ereignisgeschichtlichen Darstellungen oder soziologischen Analysen vermeintlich korrekt erzählt und wer nicht, sondern vielmehr herauszuarbeiten, wie das, was sich seit nunmehr vierzig Jahren als Bild vom Pariser Mai verdichtet, als diskursives Konstrukt entsteht. Schließlich räumen auch Historiker wie Norbert Frei ein, dass man ‚1968’ kaum ereignisgeschichtlich und nur diskursanalytisch auf die Schliche kommen könne. Er schreibt: ‚68’ ist mehr als der Inbegriff des einen realen Geschehens. ‚68’ ist der Assoziationsraum gesellschaftlicher Zuschreibungen und auktorialer Selbstdeutungen, eine beispiellos florierende Begegnungsstätte, in der die Aussagen der Akteure und die Entgegnungen ihrer Kritiker, die Wahrnehmungen der Zeitgenossen und die Beobachtungen der Nachgeborenen aufeinandertreffen. ‚68’ ist das Ergebnis von Interpretation und Imagination im ‚weltweiten Schein der Gleichzeitigkeit’. Genau darin liegt die historiographische Tücke des Objekts. (Frei 2008: 211) Aus diesen Überlegungen leitet der Historiker seine (diskurszentrierte) Definition dessen ab, was einen Achtundsechziger auszeichnet: „,68er’ zu sein, hieß schon damals und heißt bis heute, über ‚68’ zu reden.“ (Frei 2008: 210) Mit autofiktionalen Konstrukten ist also das gemeint, was Norbert Frei die „auktorialen Selbstdeutungen“ (Frei 2008: 211) nennt, und ihre Analyse soll ohne die sich anbietenden präskriptiven Festschreibungen des fiktionalen Status der jeweils ins Blickfeld rückenden Genres vonstatten gehen: Die sogenannten Tagebücher, Erinnerungen, Protokolle wie auch die eingangs zitierten Reden sollen zunächst äquivalent zu Romanen oder Filmen betrachtet werden. Der hier verwendete Begriff der ‚autofiktionalen Konstruktion’ meint damit etwas anderes als jener der autofiction, wie ihn Serge Doubrovsky 1977 eingeführt hat und der sich exklusiv auf Romane bezieht, die im Englischen als autobiographical novel bezeichnet werden würden. Auch die von Gérard Genette (1991: 86f.) in die Diskussion um den französischen Begriff der autofiction eingebrachte Differenzierung in „vraie 6 Wegen der durchschlagenden Wirkung der Rede - und um die prekäre Lage in den Stunden zuvor zu überspielen - wurde aus dem Umfeld de Gaulles die Erklärung lanciert und vertreten, dieses Verschwinden sei ein genialer Schachzug des Präsidenten gewesen, mit dem es ihm gelungen sei, sich wieder in eine offensiv gestaltende Position gegenüber seinen Widersachern zu bringen (vgl. auch die Analyse der Darstellung von Jacques Foccart im Abschnitt 3). Diese These diskutiert Gilcher-Holtey und gelangt zu dem Fazit: „Die historische Forschung indes […] kann die These, daß der Flug nach Baden-Baden ein intendierter, taktischer Schachzug de Gaulles war, nicht stützen […].“ (1995: 404) <?page no="114"?> Albrecht Buschmann 90 autofiction“ (wenn sich die dreifache Identität von Autor, Erzähler und Protagonist im rein fiktionalen Kontext situiert) und „fausse autofiction“ (wenn sie im Kontext realer Ereignisse dargestellt ist) möchte ich nicht a priori übernehmen, weil durch die Begriffe ‚wahr’ und ‚falsch’ an der Trennlinie zwischen fiktionalen und diktionalen Texten eine Konnotation eingeführt wäre, deren wertender Charakter offensichtlich ist. 7 Folgende Erzählungen der Ereignisse sollen untersucht und miteinander verglichen werden: Aus der Perspektive derjenigen, die den Demonstranten gegenüber standen, kommen Maurice Grimaud, seinerzeit Polizeipräfekt von Paris, und Jacques Foccart zu Wort, einer von Charles de Gaulles politischen Freunden aus der Zeit der Résistance und 1968 offiziell sein Generalsekretär für Afrikapolitik. Beide veröffentlichen ihre Erinnerungen mit mehr als dreißig Jahren Abstand. Für die Perspektive der Protestierenden möchte ich Louis Malles Film Milou en Mai (1988) und Frédéric Fajardies Roman Jeunes femmes rouges toujours plus belles (1988) heranziehen sowie die dokumentarische Montage Génération von Hervé Hamon und Patrick Rotman (1987). Allen Texten ist gemeinsam, dass sie nach den Ereignissen veröffentlicht wurden, folglich in Kenntnis der ereignisgeschichtlichen Abläufe sowie mindestens der ersten Phase der Rezeption um den ersten Jahrestag 1978. Es soll nun nicht darum gehen, Entwicklungslinien der Rezeption aufzuzeigen, etwa mit Blick auf die bisher vier runden Jahrestage, 8 sondern vielmehr zu skizzieren, wie die konkrete Zeitangabe ‚1968’, deren Semantik als Epochenbegriff ja immer diffuser wird, sich in Erzählmuster übersetzt, vor allem, wie sie sich in Raumwahrnehmungen konkretisiert. Karl Schlögel schreibt Im Raume lesen wir die Zeit (2003) und darum werden die genannten Artefakte insbesondere daraufhin untersucht, wie sie das Geschehen des Pariser Mai 1968, insbesondere die kritischen Momente und die sich an sie anlagernden Interpretationen, im Raum darstellen, in Raumsymbolik überführen oder, im Fall des eingangs erwähnten Plakats „La chienlit c’est lui! “, sich selbst im euklidischen Raum konstituieren. Beginnen wir von innen, vom Blick aus dem Zentrum der Macht auf das Zentrum der Machtausübung, mit Jacques Foccarts 1997 veröffentlichtem zweiten Teil seiner Erinnerungen Le Général en Mai. Journal de l’Élysée II. 1968-1969. 7 Zur Diskussion um die problematischen Begriffe ‚Autobiographie’, ‚autofiction’ und ‚Neue Autobiographie’ vgl. de Toro (2004). 8 Den Versuch einer solchen Gedächtnisgeschichte der Ereignisse bieten Rioux (2008) sowie der Beitrag von Silja Behre in diesem Band. Eine chronologische Diskursgeschichte der autofiktionalen Erzählungen vom Pariser Mai kann, da hierfür ein Korpus von einigen hundert Texten herangezogen werden müsste, nicht Gegenstand dieses Aufsatzes sein. <?page no="115"?> 1968 autofiktional 91 3. Jacques Foccarts Le Général en Mai. Journal de l’Élysée II. 1968-1969 (1997): Rückbesinnung auf die ‚großen Tage’ In den Erinnerungen dieses engen Vertrauten de Gaulles im Kabinett werden die Maitage als dramatisches Ringen um die Kontrolle der Exekutive über die Ereignisse beschrieben. Der Text ist streng chronologisch nach Eintragungen Tag für Tag gegliedert, wobei innerhalb dieser ein authentisches Tagebuch emulierenden Form erkennbar narrativ verdichtet wird, etwa mit pointierten Dialogen, ausführlichen Charakterskizzen und offensichtlich nachgetragenen resümierenden Beurteilungen, die nicht frei von Pathos sind. So heißt es am Ende des Eintrags zum 29. Mai: Telle a été cette journée effroyable, angoissante, déchirante de drame personnel, le drame du vieux gaulliste que je suis, éprouvé dans toute l’affection que j’ai pour le Général, brisé de voir cet homme en arriver au point de se poser de telles questions. Enfin, c’était épouvantable. (Foccart 1997: 149) Im Präsens der Erzählung wird der Leser dank dieser Erzählweise zum Augen- und Ohrenzeugen von Kabinettssitzungen und Telefonaten, Krisengipfeln und Hinterzimmerbesprechungen. In direkter Rede ist beispielsweise Premierminister Georges Pompidou zu hören, der am 30. Mai zum Erzähler sagt: „Je pense que je suis démissionaire, je ne peux plus continuer à travailler dans ces conditions.“ (Foccart 1997: 149) Doch Foccart kann gerade noch steuernd eingreifen und entgegnet: „Georges, ce n’est pas le moment de faire cela.“ Woher die Sicherheit des Ich-Erzählers? Er ahnt, dass de Gaulle keineswegs unüberlegt vorgeht, weshalb er Pompidou erklärt: „Si, d’ailleurs de toute façon, je pense que le Général doit avoir des intentions.“ (152) Foccart selbst wie das von ihm beschriebene Personal bewegen sich allein in geschlossenen Räumen, die Orte der Ereignisse (die Pariser Innenstadt, die Boulevards, das Quartier Latin) werden kaum einmal benannt, vom Erzähler weder selbst gesehen noch medial vermittelt beschrieben. Dieser räumlichen Leerstelle in Jacques Foccarts Bild von den Ereignissen entspricht die als beängstigend wahrgenommene Leere im Élysée-Palast, als am 29. und 30. Mai der General verschwunden ist. Gefüllt wird sie mit einer deutlich als solchen erkennbaren Re-Konstruktion der Vorgänge, mit der der autofiktionale Erzähler seine sich bewahrheitenden Vorahnungen und vor allem seine Rolle bei der Rettung Frankreichs betont. Schon für den 29. Mai heißt es bei Foccart „J’ai senti qu’un drame se jouait à l’Élysée“ (145), und am Nachmittag des 30. ist es allein Foccarts beherzte Ansprache an den soeben nach Paris zurückgekehrten General, die das Blatt der Geschichte wendet. Folgendermaßen habe er zu de Gaulle gesprochen: „Mon Général, le pays a soif d’ordre et d’autorité […]. Il veut être commandé, c’est tout simplement cela. Si vous le lui dites, c’est gagné. C’est gagné ! On n’a pas le droit de continuer comme cela, ce n’est pas possible…” - Eh bien, oui ! <?page no="116"?> Albrecht Buschmann 92 Foccart, on le fera. On va le faire, j’y suis décidé. (Foccart 1997: 150; Hervorhebg. im Orig.) Dank der Ansprache des Erzählers habe der General wieder seine Zuversicht „des grands jours” (150), gemeint ist der Kampf in der Résistance, zurückgewonnen: „Je retrouve un homme tout à fait différent, un homme transformé, décidé, qui est en train de griffonner sur un papier ce que je lui dis.“ (150) Daraufhin will er ihm die Eckpunkte seiner bevorstehenden Rede diktiert haben. Auch die von allen Kommentatoren post quem hervorgehobene Bedeutung der festen Stimme des Generals für den Erfolg der nachmittäglichen Radioansprache des 30. Mai ist aus Foccarts Sicht ihm zu verdanken, 9 war er es doch, der de Gaulle folgenden Ratschlag gegeben haben will: „Mon Général, si vous parlez haut et ferme, c’est possible.“ (150) Höhepunkt dieses erinnerten Dialogs ist die ans Ende der Erzählsequenz gestellte Szene der körperlichen Nähe des Erzählers zum General nach dem hier zusammengefassten Gespräch, die deutlich als Kompensation zu der zuvor schmerzlich erlebten Trennung arrangiert ist. Noch einmal Foccart: „Alors, le Général se lève, et la poignée de main est extrêmement émouvante. Je suis porté par un élan à l’embrasser, et lui aussi je crois. Enfin, nous en restons à la poignée de main.“ (151) Die Präsenz des Körpers de Gaulles in seinem Amtssitz, seine unmittelbar erlebte körperliche Nähe, sowie die Körperlichkeit seiner Stimme am Radio, beides vom Erzähler-Ich mit seinem eigenen Wirken eng verknüpft, werden so erinnert, dass sie das Subjekt der Erzählung an einer Schlüsselstelle für die Sicherung der politischen Macht positioniert. Ein in seiner räumlichen Wahrnehmung eingeschränktes und, wie der folgende Vergleich mit den Erinnerungen Maurice Grimauds zeigen wird, auffallend stark auf das Erzähler-Ich fokussiertes autofiktionales Konstrukt. 4. Maurice Grimauds Je ne suis pas né en mai 68. Souvenirs et carnets 1934-1992 (2007): Friedfertigkeit als Werteklammer Maurice Grimaud, seinerzeit Polizeipräfekt von Paris, legt in seinem Buch Je ne suis pas né en mai 68. Souvenirs et carnets 1934-1992 den Akzent der Erzählung auf die Betonung seiner Rolle bei der Deeskalation des Geschehens auf den Straßen der Hauptstadt. 10 Auch seine Erinnerungen präsentieren sich als authentisches Tagebuch, allerdings mit einem höheren Grad an Glaubwürdigkeit als im Falle Foccarts, etwa weil in den chronologischen Aufzeichnungen mehrfach metasprachlich kommentierend festgehalten wird, dass 9 In der der historischen Datenbank für Tondokumente des Anbieters www.ena.lu kann man sich die Rede Charles de Gaulles in der Originalaufnahme anhören (vgl. de Gaulle 1968). 10 Bereits mit En Mai fais ce qu’il te plaît (1977) hatte er im Vorfeld des ersten runden Jubiläums ein Buch über die Ereignisse von 1968 vorgelegt. <?page no="117"?> 1968 autofiktional 93 wegen der sich überstürzenden Ereignisse an diesem oder jenem Tag keine Eintragungen möglich gewesen seien: Die explizit benannte Ellipse als Teil einer erzählerischen Beglaubigungsstrategie. Sich selbst zeigt Grimaud mehrfach in Szenen fürsorglicher Paternalität für die ihm unterstellten Polizisten, die er beispielweise ohne schützende Eskorte und quasi inkognito in seiner privaten Dauphine auf ihren Posten aufsucht, um ihnen Mut zuzusprechen (Grimaud 2007: 325). Nicht nur der Text, auch der Ikonotext hebt die dialogische Kompetenz des Ich-Erzählers hervor und dokumentiert seine Präsenz dans la rue: Fotos im Buch zeigen Grimaud bei Diskussionen mit Anwohnern und Journalisten auf den Straßen des Quartier Latin. 11 Maurice Grimauds Blick auf die zentralen Akteure der Regierung ist deutlich kontrastiv angelegt. Dem Präsidenten de Gaulle, der den Ereignissen lieber mit offensiven Polizeiaktionen, etwa der sofortigen Räumung des besetzten Théâtre de l’Odéon, begegnen möchte, steht Premierminister Pompidou gegenüber, bei dessen Beschreibung Grimaud mehrfach Ruhe und Besonnenheit betont. 12 Zu der ersten gemeinsamen Besprechung nach de Gaulles Rückkehr nach Frankreich am 18. Mai heißt es zusammenfassend: Le Général a constamment parlé d’un ton vif et colérique, le visage un peu rouge, le pied impatient sous la table. Son autorité est certaine et Pompidou et les autres marquent bien leur attitude respectueuse. Cependant, ils disent ce qu’ils ont à dire avec un certain courage, surtout Pompidou qui est intervenu très calmement pendant toute cette scène, évitant manifestement de dramatiser. (Grimaud 2007: 329; vgl. auch 325) Selbst die aus polizeilicher Sicht unproblematische Gewerkschaftsdemonstration im Stadion von Charléty (27. Mai) hätte de Gaulle am liebsten verbieten lassen. Grimaud hingegen, unterstützt von Pompidou, habe auf die Kanalisierung des Protests in solchen Großveranstaltungen gesetzt, weil sie von den Gewerkschaften und den klassischen Linksparteien organisiert wurden und leichter zu kontrollieren waren. Dank mehrfacher Intervention Grimauds widersetzt sich de Gaulle schließlich nicht mehr der Genehmigung der Veranstaltung. „[I]l se résigne“ (332), übermittelt man dem Polizeipräfekten aus dem Élysée. Wieder erkennen wir einen Erzähler, der den General erfolgreich lenkt und, diesmal deeskalierend, Schlimmeres verhindert. Auch bei Grimaud schreibt sich der Ich-Erzähler gezielt als Teil des gaullistischen Erfolgs in die Geschichte der Nation ein, wenn er am 31. Mai über das Verhalten de Gaulles resümierend urteilt: „Une fois de plus le Général a su intervenir de façon décisive au moment crucial.“ (337) 11 In historischen Filmaufnahmen ist er auch im Hintergrund der Kämpfe am Boulevard Saint-Michel zu sehen, also tatsächlich an einem der Orte der Ereignisse. 12 Im Gegenzug lobte Pompidou vor der Nationalversammlung die humanité im Vorgehen Grimauds (vgl. Pompidou 1968). <?page no="118"?> Albrecht Buschmann 94 Für die Stunden des Verschwindens des Generals am 29. Mai gesteht Grimaud seine völlige Unkenntnis ein, er kann auf den diesbezüglichen Seiten nur referieren, was ihm an sich widersprechenden Informationen zugetragen wird. Da er sich aber nicht nur im Polizeipräsidium oder durch Ministerien bewegt, sondern auch an den Orten des Protests zugegen ist, gelangt er kurz vor der Apotheose der politischen Krise der letzten Maitage zu der die Raum-Verhältnisse sehr hellsichtig erkennenden und luzide formulierten Aussage, wonach der schnelle Wechsel zwischen innehaltender Positionsbestimmung und Vorwärtsbewegung das Kennzeichen der Zeit sei. Er schreibt: „Chacun cherche à se placer et, en même temps, à courir pour ne pas être dépassé et, pendant ce temps, on a l’impression que la rue reste le grand recours et la grande menace.“ (333) Dass er die Straße nicht nur als Raum der Bedrohung, sondern auch als Ort der Rettung begreift, dürfte dem in der erzählten Zeit noch nicht gewussten Effekt der gaullistischen Großdemonstration vom 30. Mai auf den Champs-Élysées geschuldet sein. Die aus eigenem Antrieb wechselnde Präsenz des Erzählers im Innenraum der Macht - wie bei Foccart spielen zahlreiche Szenen in Ministerien, Besprechungsräumen, der Préfecture de Police - und im Raum der Protestierenden im Quartier Latin erlaubt dem Erzähler die persönlicher Anschauung geschuldete Einschätzung, tatsächlich Zeuge einer ‚Revolution’ zu sein. Überraschend für einen (ehemaligen) Polizeichef und vermutlich ebenfalls der distanzierten Rückschau zuzuschreiben ist die positiv wertende Aussage, dieses ‚Abenteuer’ aus nächster Nähe erlebt haben zu dürfen: „Incroyable aventure de la contestation de toute notre société par sa jeunesse. Et pour moi, quel singulier destin que de vivre cette révolution dans le poste de préfet de police! “ (325) Grimauds Rückblick ist demnach gekennzeichnet durch die Erzählung aus und über Innen- und Außenräume, woraus sich bei ihm eine Sicht der Ereignisse ergibt, die nicht starr bipolar konstruiert ist. Ungeachtet dieser Differenzierung bleibt auch bei seiner Darstellung kein Zweifel daran, dass er sich als Teil der siegreichen Seite positioniert und dass ein Teil des Erfolgs der Gaullisten - gemeint ist die Tatsache, dass im Mai 1968 keine Todesopfer zu beklagen waren - vor allem ihm zu verdanken ist. Gedächtnisgeschichtlich auffällig ist, dass Grimaud einen prospektiv anschlussfähigen Wert hervorhebt - die Suche nach gewaltfreier Konfliktbewältigung -, während Foccart retrospektiv argumentiert und den Erfolg de Gaulles mit der (von ihm eingeleiteten) Rückbesinnung auf die alten Tage des Kampfes gegen die deutsche Besatzung erklärt. Wo Foccart mit Reflexen aus dem Krieg arbeitet, schreibt sich Grimaud nicht nur als erfolgreicher Verfechter der Deeskalation in die Ereignisgeschichte ein, sondern lehnt sich zugleich an den in der Rezeption von ‚1968’ immer stärker hervortretenden Aspekt der Friedlichkeit im „Mai ‚cool’ et ludique“ (Rioux 2008: 7) an. Damit gelingt ihm das doppelte autofiktionale Kunststück, sich als aktiv gestaltende Figur in die Geschichte des Gaullismus und als Wegbereiter des Wertewandels durch ‚1968’ darzustellen. <?page no="119"?> 1968 autofiktional 95 5. Frédéric Fajardies Jeunes femmes rouges toujours plus belles (1988): Desillusionierung des revolutionären Underdogs Frédéric Fajardies Roman Jeunes femmes rouges toujours plus belles erzählt den Sommer 1968 aus zwei sich abwechselnden Perspektiven. Einmal sehen wir den Protagonisten und Ich-Erzähler Freddy, einen jungen Mann mit abgebrochener Schulkarriere, wie er sich 1968 durch die Mai-Unruhen kämpft, bei denen er die proletarische Radikalität gegenüber der politischen Naivität der Studenten verkörpert. Auf der zweiten Erzählebene sehen wir einen gealterten Freddy, der, auch hier als Ich-Erzähler, im Mai 1988 nach zwanzig Jahren im afrikanischen Exil, wo er u.a. in Mosambik militärisch für seine revolutionären Ideale kämpfte, nach Paris zurückkehrt und seine Stadt, vor allem das Quartier Latin, nicht wiedererkennt. Frankreich hatte er seinerzeit inkognito verlassen müssen, weil er - wenn auch in Notwehr - einen Polizisten erschossen hatte. Jeunes femmes rouges toujours plus belles ist ein Desillusionsroman, der das Scheitern der Revolution in eine sehr klare symbolische Raumordnung übersetzt. Dem Quartier Latin in der Erzählebene von 1968 entspricht das Afrika der rückblickenden Perspektive von 1988; in beiden Räumen sind es politische Winkelzüge (die der Studentenführer von 1968, die der afrikanischen Politiker in den achtziger Jahren), 13 die den ehrlich kämpfenden Underdog um die Erfüllung seiner politischen Hoffnungen bringen. In beiden Kämpfen wird Freddy zurückgeworfen auf Innenräume ohne Handlungsoptionen: Im Sommer 1968 muss er in der Dachkammer seiner Geliebten Francine untertauchen, in Afrika wird er mehrfach als Soldat gefangen genommen und im Gefängnis inhaftiert. In den abbildrealistisch beschriebenen Straßenkämpfen im Quartier Latin sind es von der Polizei blockierte Straßen, 14 in Afrika Stacheldrahtverhaue, die die freie Bewegung des Ich und die Realisation seiner politischen Ideale verhindern. Und auch die Bewegung zwischen den beiden Räumen der Revolution ist symbolisch aufgeladen: Schließlich erfolgt die Reise von dem nicht mehr revolutionären Paris in das noch revolutionäre Afrika auf einem Frachter, während die Rückreise prosaisch im Flugzeug stattfindet. Man könnte beinahe annehmen, Fajardie habe Michel Foucaults Aufsatz Des espaces autres aus dem Jahr 1967 gelesen, 15 wo es heißt: „Le bateau a été pour notre civilisation […] la plus grande réserve d’imagination. Le navire, c’est l’hétérotopie par 13 Allein schon die Tatsache, dass die Führer der Studenten mit dem Staat verhandeln, ist den jungen Arbeitern suspekt: „Teddy et moi ne nous sentions pas représentés par les ambassadeurs étudiants, mais nous n’avions guère d’alternative: le pouvoir nous dégoûtait […].“ (Fajardie 1988: 32) 14 So ist es bei der Lektüre dank präziser Angaben der Straßennamen möglich, den Weg der Demonstranten durch das Paris der nuit des barricades auf dem Stadtplan zu verfolgen. (vgl. Fajardie 1988: 29ff.) 15 Zur Bedeutung dieses Aufsatzes für das Verständnis sozialer Räume als relationale Konstruktionen durch Ausschluss eines ‚Anderen’ vgl. Dünne (2006). <?page no="120"?> Albrecht Buschmann 96 excellence.“ (Foucault 1994: 762) Es ist genau ein solches heterotopes Schiff, auf dem der Protagonist zu seinem zweiten Revolutionsversuch aufbricht. Aber bleiben wir noch in Paris und betrachten die Darstellung des zweiten kritischen Moments. Den 30. Mai nimmt Freddy vor allem als Bestätigung seiner schon in den Tagen zuvor resigniert gespürten Schwächung der Bewegung wahr. In einer Szene, die am 23. Mai spielt, hatte er bereits voller Prophetie gedacht: „Mais paradoxalement, plus le nombre de grévistes augmentait, plus la dynamique du mouvement s’émoussait.“ (Fajardie 1988: 47) Wieder erkennen wir eine autofiktionale Konstruktion, in der der Ich- Erzähler vorher schon gewusst haben will, wohin die Ereignisse führen werden. Am 30. Mai selbst wird er nicht Augenzeuge dessen, was sich um den Arc de Triomphe abspielt, sondern sieht es nur angewidert im Fernsehen und vergleicht die Menschenmenge der Unterstützer de Gaulles und der etablierten Ordnung mit „les foules acclamant Pétain“ (49). Auf diese Einschätzung folgt - diegetisch vorangetrieben durch den Mord an dem Polizisten - das physische Verschwinden des Erzählers, zunächst in den privaten Gegen-Raum (Francines Dachkammer als locus amoenus der perfekten Liebe), dann hinaus aus Frankreich nach Afrika, mit der Waffe in der Hand in den seinerzeit als ideal empfundenen Raum der Revolution. Das Ende des Buchs setzt einen doppelten Schlussstrich unter die politische Handlung, denn die Erkenntnis des eigenen Scheiterns beider revolutionärer Projekte wird einerseits befördert durch die Tatsache, dass die Polizei, wie Freddy erfährt, das Verfahren gegen ihn eingestellt hat, und andererseits dadurch, dass er nunmehr aufbricht zum lang ersehnten Wiedersehen mit Francine, die ihn bezeichnenderweise nicht in Paris, sondern in Südfrankreich erwartet. 16 6. Louis Malles Milou en Mai (1988): Mediale Brechung und politische Ironisierung Wo Frédéric Fajardie in seinem Rückblick Ende der achtziger Jahre ganz auf die Archivierung der wütenden Perspektive des jungen Proletariers setzt, ungebrochen durch eine relativierende Gegenperspektive, sei es aus der Sicht eines Studenten oder eines Repräsentanten der gaullistischen Staatsmacht, optiert Louis Malle in seinem dezent ironischen Film Milou en Mai aus der gleichen Zeit für eine Kopräsenz der anderen Seite, die vor allem intermedial durch das ständige Hören von Radioübertragungen eingeholt wird. Während seine Figuren im Mai 1968 in einem südfranzösischen Landgut isoliert sind und es nicht schaffen, die in der zu Beginn der Handlung an einem Schlaganfall verstorbene Mutter der Hauptfigur Milou (gespielt von Michel Piccoli) zu beerdigen, kommen via Radio die 16 Eine Lektüre des Romans als politisch-historischen Krimi bieten Müller/ Ruoff (2007: 309ff.). <?page no="121"?> 1968 autofiktional 97 Nachrichten aus Paris, so dass mal die Live-Reportage aus dem Quartier Latin in die Totenwache funkt, mal eine Ansprache de Gaulles in das familiäre Mittagessen gesendet wird. So feiert der Film die Kraft des alten Mediums Radio, in vielfältiger Weise präsent zu sein und simultan Kopräsenz herstellen zu können, und nicht zufällig wird der Radioapparat auf dem Höhepunkt des Generalstreiks aus dem Haus getragen, um auch unter freiem Himmel über den (revolutionären) Lauf der Geschichte informieren zu können. Auf den ersten Blick scheint die Konstruktion der symbolischen Räume klar gezeichnet: Hier die fast unsichtbare Metropole, von der nur die Tonspur der événements zu hören ist, da das einsam stehende Landhaus in der Provinz, wo gerade ein sehr privates, familiäres Ereignis zu bewältigen ist. Doch diese Gegenüberstellung von Zentrum und Peripherie wird vielfach unterlaufen und dynamisiert, allein schon durch die intermediale Präsenz der Stimmen der Hauptstadt im peripheren Landhaus. Weitere Verfahren der räumlichen Überblendung lassen sich finden: Manche Szenen spielen die Ereignisse des Nordens in Form einer Farce im Süden nach, wenn etwa der Pfarrer, die rote Fahne schwenkend, einen Protestmarsch der Dorfbewohner gegen den Großgrundbesitzer anführt - der ironische Widerhaken besteht darin, dass das der weitgehend mittellose Milou ist. Oder sie werden in den Augenzeugenberichten derer ins Landhaus hereingeholt, die in Paris dabei gewesen sind. Diese Augenzeugen treten als autofiktionale Erzähler in Erscheinung, und zwar in all den zahlreichen Sequenzen von Milou en Mai, in denen sie von ihren Erlebnissen aus Paris erzählen und auf diese Weise ihr persönliches Erleben in einen historischen Rahmen einbauen: Sei es der Lastwagenfahrer Grimaldi, der von den sexuellen Vergnügungen mit sich befreienden Bürgersfrauen schwadroniert, oder Milous Neffe Pierre-Alain, der tatsächlich auf den Barrikaden dabei gewesen ist, der aus erster Hand von den Kämpfen und der Brutalität der Polizei berichtet und selbstbewusst die studentischen Forderungen nach Amnestie und Enteignung, neuer Sozialordnung und Befreiung vertritt. 17 Im Verlauf der Diegese werden zahlreiche politische Schlüsselthemen, die die Wahrnehmung des Pariser Mai und des Mythos 1968 prägen, in die familiäre Handlung eingeblendet, oft in ironischer Brechung. Dazu nur drei Beispiele: In den familiären Kontext übersetzt werden die Kritik an Privatbesitz und am Materialismus (bei jedem Streit um die Aufteilung des Erbes), die Forderung nach einer neuen Geschlechterordnung und einer freieren Sexualität (wir werden, auch dank der neuen Pille, Zeuge von Partnertauschspielen, Fesselpraktiken, lesbischer Liebe und Betrug am bürgerlich angetrauten Partner) oder die Aufarbeitung der eigenen Kolonialgeschichte für die Protestbewegung (der Großvater der Familie ging 17 Der überforderte Vater des Studenten Pierre-Alain, Milous Bruder Georges, ist bezeichnenderweise ein Journalist, der gerade an einer De-Gaulle-Biographie schreibt und seine Felle davonschwimmen sieht, sollte sein Idol zurücktreten. <?page no="122"?> Albrecht Buschmann 98 regelmäßig nach Afrika zur Großwildjagd, und dessen Jagdtrophäen werden nun zu Requisiten eines bizarren Maskenballs - in den jäh die Nachricht vom Verschwinden de Gaulles platzt). So bekommt der Zuschauer eine Welt vor Augen geführt, in der beinahe jede private Handlung im Haus von den Codes beeinflusst ist, um deren Gültigkeit in Paris gerade vehement gekämpft wird. Von einer Trennung der symbolischen Räume kann also nicht mehr die Rede sein, und da deren Verbindungen zudem durchgehend kommentiert werden, wird auch die Semantik der Codes selbst in Frage gestellt. 18 Eine Schlüsselszene zur Analyse der Raumwahrnehmung und Raumsymbolik zeigt Milous Neffen Pierre-Alain bei einem Picknick im Garten. Mit entblößtem Oberkörper sitzt er mit seiner Cousine Claire und deren Freundin Marie-Aude zusammen, die beide um die Aufmerksamkeit des jungen Helden von den Barrikaden buhlen. Erschreckt sehen sie die vielen Blutergüsse auf seinem Rücken, woraufhin er jeden der Striemen nonchalant mit einer Ortsangabe kommentiert: „Ici, c’était la rue Gay-Lussac, et ça, c’était à la Bourse.“ Die Topographie des studentischen Widerstands erscheint wie eingeschrieben in den Körper des Kämpfers, der damit gleichermaßen die repressive Gewalt des Staates archiviert und als der eines gebrandmarkten Opfers stilisiert wird. So wie Pierre-Alain stellvertretend für die Protestierenden des Quartier Latin in Südfrankreich präsent ist, ist auf seinem Körper exemplarisch die Gewalt des Staates zu erkennen. 19 7. Das Quartier Latin als doppelte Heterotopie des Pariser Mai All die bis hierher knapp vorgestellten Artefakte zeigen autofiktionale Erzähler, die sich in Bezug zu den Ereignissen von 1968 stellen und dieses Geschehen in eine räumliche Ordnung übersetzen. 20 Die einen dergestalt, 18 So sind, um nur zwei Beispiele zu nennen, beinahe alle Paare im Verlauf der Handlung in neuen Konstellationen sexuell aktiv, aber am Ende stehen wieder feste Paarungen und sogar eine (symbolträchtige) Hochzeit zwischen Dienstmädchen und Soldat. An anderer Stelle wird der revolutionäre Elan der Dorfbewohner musikalisch ironisiert, indem die Internationale, die ihrem Auftritt unterlegt ist, allmählich den Rhythmus wechselt und in beschwingten Zigeuner-Jazz übergeht. Eine Analyse von Milou en Mai als Komödie bietet Lommel (2001: 70ff.). 19 Womit zwar eine der Grundideen des mouvement - die Aufhebung der Grenze von privater und öffentlicher Sphäre - erfüllt ist, aber in ganz anderer Art als intendiert. Auch dies wieder einer der ironischen Kommentare des Regisseurs. 20 Wobei letztlich nicht zwischen dem Rückbezug auf die Ereignisse und der seinerzeit medial vermittelten Wahrnehmung der Ereignisse zu trennen ist (vgl. Fußnote 5). Schon die Benennung nuit des barricades verwischt, durch den evidenten Rückbezug auf die Kämpfe der Pariser Commune (besser: auf die Ikonographie der Kämpfe der Pariser Commune), die Grenze zwischen dem ‚Ereignis’ (dem für Durchgangsverkehr hinderlichen Anhäufen von ausgebrannten Pkw und anderem Sperrmüll mitten auf der Straße) und dem ‚wahrgenommenen Ereignis’, dem Bau einer ‚Barrikade’. Erst diese Benennung - und die nachfolgend beinahe exklusive Kommunikation mittels dieser <?page no="123"?> 1968 autofiktional 99 dass nur ihre eigene Sphäre beschrieben und berücksichtigt ist (Foccart, Fajardie), die anderen, indem sie eine modellhafte Gesamtschau versuchen, die beide Sphären, die der Macht und die des Protests, in bestimmten Räumen aufgehen lässt: Die der Regierung in ihren bekannten Palästen und repräsentativen Gebäuden (der Élysée-Palast, das Polizeipräsidium etc.), die der Protestierenden in den Straßen vor allem des Quartier Latin. In Louis Malles Film werden die beiden Räume intermedial überblendet (die Stimme des Radios) oder stellvertretend inkorporiert (Pierre-Alains Blutergüsse), und in Maurice Grimauds Erinnerungen erfolgt die Verbindung der Räume, indem der für Dialog und Deeskalation plädierende Ich-Erzähler sich selbst in beiden Sphären bewegt und in beiden kommuniziert. Bezeichnenderweise wird in Frédéric Fajardies Roman der ereignisgeschichtliche Schlüsselmoment, die Wende des 30. Mai, als der Augenblick hervorgehoben, in dem die Repräsentanten der Gegenseite ihre Paläste der Macht verlassen und selbst auf die Straße gehen, um dort für die Regierung zu demonstrieren; damit okkupieren sie gewissermaßen den Raum, der bis dahin der des antistaatlichen Protests war. 21 Gemeinsam ist allen vier Beispielen, dass ihre Ich-Erzähler sich im Nachhinein zu den Ereignissen dergestalt in Beziehung setzen, dass sie antizipierend als Gestalter des Erfolgs (Foccart, Grimaud) oder als hellsichtige Opfer der Niederlage (Freddy, Pierre-Alain) erscheinen. Der Wissensstand der Erzählzeit wird zur Aufwertung der Sprecher in der erzählten Zeit verwendet, mit triumphalischer Rhetorik bei Foccart, als Bescheidenheitsgeste bei Grimaud, als Pose melancholischer Abgebrühtheit bei Fajardie, und im Gestus ironisierter Naivität bei Malle. Eine weitere signifikante Besonderheit für die Raumsymbolik ist in ihrem Verhältnis zur Körperlichkeit festzumachen. Wie sich Geschichte in den Körper schreibt, wurde am Beispiel von Milou en Mai bereits gezeigt, und eine ganz ähnliche Szene, diesmal vor einem Spiegel, findet sich auch in Jeunes femmes rouges toujours plus belles. Unmittelbar vor seinem ersten Spaziergang ins Quartier Latin, das er zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wiedersehen wird, betrachtet Freddy seinen nackten Körper mit den Narben, die er sich im afrikanischen Buschkrieg eingehandelt hat: Là, cette longue cicatrice de vingt-cinq centimètres, c’était une balle P.M.… Là, les sept ou huit lignes semblables à des frises, c’était l’indélébile empreinte des barbelés dans lesquels j’étais resté attaché pendant huit heures… Là, cette grosse cicatrice boursoufflée, c’était un piège de brousse…“ (Fajardie 1988: 20) Benennung - macht aus einer Behinderung des Straßenverkehrs einen revolutionären Akt, schließt das eigene Handeln mit historischen Großereignissen kurz und transzendiert das eigene Tun in einen übergeordneten diskursiven Zusammenhang. 21 Die Namen der namhaften Demonstranten in vorderster Reihe - André Malraux, Alain Peyrefitte, Michel Debré, Christian Fouchet - werden einen Absatz lang voller Verachtung aufgezählt (vgl. Fajardie 1988: 49f.). <?page no="124"?> Albrecht Buschmann 100 Die Beschreibung und Kommentierung seiner sichtbaren körperlichen Verletzungen aus dem postkolonialen Stellvertreterkrieg leiten bezeichnenderweise die Rückkehrszene ein, bei der er an den Ort des Geschehens kommt, das seinem Leben die entscheidende Wende gegeben hatte: „Mai 68, source de ma vie gâché“, heißt es unmissverständlich im Text (Fajardie 1988: 19). Im Quartier Latin, so suggeriert dieser sich schließende Kreis, begann das, was nun seinen Körper zeichnet, nämlich eine Serie revolutionärer Niederlagen. Bei Frédéric Fajardie wie bei Louis Malle werden die Körper zu Trägern der Zeichen der Niederlage, der gescheiterten Hoffnungen auf ein anderes Leben, und die Körper-Zeichen erinnern an die Orte dieser Niederlagen: die Straßen des Quartier Latin bei Malle, an das mit dem Pariser Kampf durchgehend parallelisierte Afrika bei Fajardie. Eine äquivalente Semantisierung der Körper findet sich in den Erzählungen aus der Sicht des herausgeforderten Staates nicht, dennoch ist die Evokation des Körpers auch dort von besonderer Bedeutung. Gemeint ist die Bedeutungszuschreibung auf den Körper des abwesenden Charles de Gaulle. Dieser Körper wird im Rückblick, aus der Kenntnis der ungeheuren Wirkung seiner physischen Rückkehr nach Paris, allein schon dadurch überhöht, dass er so ausführlich thematisiert wird. Dieser kurzfristig abwesende Körper wird zur Projektionsfläche, vor allem für die ungeheuren Ängste seiner Anhänger, aber auch für die kurz vor dem Scheitern stehenden Hoffnungen seiner Gegner. Das Motiv des abwesenden Körpers taucht in der Ereignisgeschichte des Mai 1968 ja noch ein zweites Mal auf, schließlich wurde Daniel Cohn-Bendit nach seinem Besuch in Deutschland die Wiedereinreise verweigert. In Hervé Hamons und Patrick Rotmans Montage-Dokumentation Génération wird nun versucht, den Effekt der Rückkehr so auf Cohn-Bendit zu übertragen, dass er - in expliziter Anlehnung an den Fall des Generals - eine ähnlich mythische Wirkung bekommen soll. Zunächst wird Cohn-Bendits Rückkehr über die grüne Grenze Ende Mai als Bestätigung der subversiven Energie der Protestierenden und der Schwäche des Staates benannt: „Son retour signifie que les sorbonnards restent capables de bafouer l’État.“ (Hamon/ Rotman 1987: 557) So weit, so dokumentarisch, schließlich wird diese Wahrnehmung seines unerwarteten Auftauchens in einer Vollversammlung an der Sorbonne auch in der historischen Literatur beschrieben (vgl. Frei 2008: 21ff.; Artières/ Zancarini-Fournel 2008: 233ff.). In einem zweiten Schritt nutzen die Autoren nun aber die Gelegenheit, den (zurückgekehrten) Körper des Studenten zu dem des Präsidenten in Beziehung zu setzen, wenn sie schreiben: „On a retrouvé Dany, on a perdu de Gaulle,“ und zwar ausgerechnet zu Beginn des Abschnitts über die 24 Stunden des 29./ 30. Mai. Eine Erzählstrategie, die den Studentenführer und den Präsidenten der Republik auf eine Ebene stellt, womit eine semantische Übertragung ermöglicht wird, die Cohn-Bendit das gleiche politische Gewicht zuschreibt wie de Gaulle. <?page no="125"?> 1968 autofiktional 101 In den entscheidenden Tagen des Mai 1968, so der symbolische Code aller hier miteinander verglichenen Texte, erscheint das Quartier Latin und vor allem der Boulevard Saint Michel als doppelte Heterotopie. Einerseits bedeutet dieser Raum um die Universität für die Staatsmacht den Gegenort schlechthin, es ist der Raum derjenigen, die das eigene Wertesystem in Frage stellen und zugleich das eigene Machtmonopol. Andererseits verheißt es einen Freiraum, in dem eine andere, eine bessere Gesellschaft möglich zu sein scheint. Oder, um es noch einmal mit den Worten Michel Foucaults aus dem bereits zitierten Aufsatz zu sagen: Das Quartier Latin, verstanden als Heterotopie, ist für die einen „l’envers de la société“, für die anderen „la société elle-même perfectionnée“ (Foucault 2006: 755). 8. Beschreiben, einschreiben, umschreiben Um auf die Leitfrage nach den autofiktionalen Einschreibungen in den Diskurs über 1968 zurückzukommen, so bestätigen die hier untersuchten Artefakte die Ausgangsvermutung, dass das Ereignis ‚1968’, in unserem Beispiel der Pariser Mai 1968, ungeachtet des fiktionalen Status der jeweiligen Textsorte (Roman, Tagebuch, Kinofilm) zu autofiktionalen Konstrukten animiert. 22 Über die symbolische Codierung des Raums sowie des Körpers im Raum gelingt es dem jeweils erzählenden Ich, sein Erleben in einem grand récit aufgehen zu lassen und es so zu transzendieren. Für die gaullistischen Erzähler besteht dieser grand récit im Sieg der eigenen Sache angesichts des herausgeforderten Staates (wenn nicht der bedrohten Zivilisation), für die Protestierenden ist es das Empfinden, Teil eines einzigartigen kritischen Moments gewesen zu sein. Wohlgemerkt - diese Selbsteinschreibungen erfolgen und funktionieren, ohne dass die autofiktionalen Erzähler tatsächlich relevanter Bestandteil dieser Rahmenhandlung und ihrer Erzählung gewesen sein müssen. Diese beiden Rahmenerzählungen - die von der Rettung der Fünften Republik durch de Gaulle und die von der beinahe gelungenen Revolution - kristallisieren sich um die doppelte Heterotopie ‚Quartier Latin’ und funktionieren demnach komplementär zueinander. 23 Die Anziehungskraft der gaullistischen Rahmenerzählung ist evident, 22 Im Fall von Louis Malles Film müsste man genauer formulieren und sagen, dass ‚1968’ dazu animiert, solche autofiktionalen Erzähler zu zeigen. 23 Die damit verbundene doppelte Bedeutungszuschreibung mag ein Grund dafür sein, dass sich so viele Zeitzeugen (und inzwischen nicht mehr nur die) in solcher Menge zu Wortmeldungen aufgerufen fühlen. Dutzende Autobiographien und Erinnerungen von Politikern hätten für diese Untersuchung als Beispiele herangezogen werden können sowie ein Vielfaches an Romanen und Filmen. Schon 1984 mochte Patrick Combes, als er in seiner Studie La littérature et le mouvement de Mai 68 eine Auswahl von über vierzig Romanen zu untersuchen hatte, sich allenfalls „juste une introduction, une contribution“ zutrauen (Combes 1984: 13). Alle diese Stimmen tragen, in gleicher Weise wie die hier exemplarisch vorgestellten, dazu bei, ‚1968’ vom „Ereignis zum Mythos“ (Gilcher-Holtey 2008) zu machen. <?page no="126"?> Albrecht Buschmann 102 schließlich ist sie - ereignisgeschichtlich gesprochen und auf dem Sommer 1968 blickend - die Siegergeschichte. Die Rahmenerzählung der Protestierenden hingegen regt aus mehreren Gründen zum Erzählen an: Weil sie für ihre Epoche Einmaligkeit beanspruchen kann (der größte Generalstreik, das Wanken der Republik), weil die Simultaneitätserfahrung im Generationenprotest euphorisiert (vgl. Anmerkung 5), aber auch aufgrund der Tatsache, dass Verlierer einer historischen Auseinandersetzung immer einen höheren diskursiven Aufwand betreiben müssen als die Sieger, um sich als „Erinnerungsgemeinschaft“ (Burke 1991: 298) zu konstituieren. 24 Wie wirkmächtig diese durch unzählige autofiktionale Konstrukte generierte und vermittelte Gegenerinnerung der Protestierenden ist, erkennt man daran, dass es ihr über lange Zeit gelang, zum dominierenden Diskurs über ‚1968’ zu werden. 25 So hat das selbstbewusste Reden über und Erzählen vom jeweils eigenen ‚1968’ in der Summe aus der gefühlten Niederlage einen diskursiven Sieg gemacht. Literaturverzeichnis Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective (1962-1981), Paris 2008. Anja Bandau/ Albrecht Buschmann/ Isabella von Treskow, Literaturen des Bürgerkriegs - Überlegungen zu ihren soziohistorischen und ästhetischen Konfigurationen, in: dies. (Hrsg.): Bürgerkriege der Romania, Berlin 2008, 7-18. Luc Bernard, Europe 1. La grande histoire dans une grande radio, Paris 1990. Pierre Bourdieu, Homo academicus, Frankfurt a.M. 1988. Peter Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Aleida Assmann/ Dietrich Harth (Hrsg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen kultureller Erinnerung, Frankfurt a.M. 1991, 289-304. Patrick Combes, La littérature et le mouvement de Mai 1968. Écritures, mythes, critique, écrivains 1968-1981, Paris 1984. Jörg Dünne, Soziale Räume, in: ders./ Stefan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a.M. 2006, 289-303. Frédéric Fajardie, Jeunes femmes rouges toujours plus belles, Paris 1988. Jaques Foccart, Le Général en Mai. Journal de l’Élysée, 1968-1969, Bd. 2, Paris 1997. Michel Foucault, Des espaces autres, in: ders., Dits et Ecrits, 1980-1988, Bd. 4, Paris 1994, 752-762. 24 Den methodischen Horizont eines literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsfeldes, das die Frage untersucht, wie und in welchen Phasen als traumatisch erlebte innergesellschaftliche Gewaltkonflikte künstlerisch aufgearbeitet werden, diskutieren Bandau/ Buschmann/ von Treskow (2008). 25 Wie peinigend diese Diskursmacht für die Anhänger der gaullistischen Sicht der Dinge ist, wird etwa in der aggressiven Wucht von Nicolas Sarkozys Rede im Palais Omnisports de Bercy deutlich, den Sybille Große in diesem Band eingehend analysiert. <?page no="127"?> 1968 autofiktional 103 Béatrice Fraenkel, Les affiches de Mai: l’atelier populaire des Beaux-Arts, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective (1962- 1981), Paris 2008, 276-281. Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008. Charles de Gaulle, [Radioansprache vom 30.5.1968]. URL: http: / / www.ena.lu/ discours_charles_gaulle_evenements_mai_68_paris_mai_1968-012600052.html. (17.10.2008). Gérard Genette, Fiction et diction, Paris 1991. Ingrid Gilcher-Holtey, „Die Phantasie an die Macht”. Mai 68 in Frankreich, Frankfurt a.M. 1995. Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968. Vom Ereignis zum Mythos, Frankfurt a.M. 2008. Maurice Grimaud, Je ne suis pas né en mai 68. Souvenirs et carnets 1934-1992, Paris 2007. Hervé Hamon/ Patrick Rotman, Génération I. Les années de rêve, Paris 1987. Hervé Hamon/ Patrick Rotman, Génération II. Les années de poudre, Paris 1988. Jerôme Leroy, Frédéric H. Fajardie, Monaco 1994. Michael Lommel, Der Pariser Mai im französischen Kino. 68-er Reflexionen und Heterotopien, Tübingen 2001. Elfriede Müller/ Alexander Ruoff, Histoire noire. Geschichtsschreibung im französischen Kriminalroman nach 1968, Bielefeld 2007. Georges Pompidou, [Rede vor der Assemblée Nationale vom 14.5.1968]. URL: http: / / www.georges-pompidou.org/ epoque/ documentation_diverse/ pol_int/ - 14mai68.htm. (17.10.2008) Als Filmdokument: URL: http: / / mai68.ina.fr/ index.php? vue=notice&from=fulltext&mc=discours%20politique&num_notice- =2&total_notices=11. Jean Pierre Rioux, L’événement-mémoire. Quarante ans de commémorations, in: Le Débat 149/ 2008, 4-19. Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, München 2003. Alfonso de Toro, Die postmoderne „neue Autobiographie“ oder die Unmöglichkeit einer Ich-Geschichte am Beispiel von Robbe-Grillets Le miroir qui revient und Doubrovskys Livre brisé, in: ders./ Claudia Gronemann (Hrsg.), Autobiographie revisited: Theorie und Praxis neuer autobiographischer Diskurse in der französischen, spanischen und lateinamerikanischen Literatur, Hildesheim, Zürich, New York 2004, 79-115 Abbildungsnachweis „La chienlit c’est lui“, in: Affiches de mai/ juin 1968, URL: http: / / achard.info / Mai/ # (10.11.2008) <?page no="129"?> Vincent Kaufmann La théorie littéraire au service de la révolution 1. La faute au structuralisme Le déclin de la littérature n’échappe pas à la règle. Il fait partie des nombreuses calamités sociales imputées à Mai 68, au même titre que l’anti-autoritarisme, l’individualisme, l’anti-humanisme, l’immoralisme et le néo-libéralisme. Les acteurs de ces joyeux événements doivent être aujourd’hui étonnés d’avoir réussi à ce point à transformer le monde, surtout à titre posthume. Ce n’est pas nouveau. Roland Barthes, Jacques Derrida, Jacques Lacan et Michel Foucault, figures tutélaires de l’âge de la théorie littéraire, ont été épinglés par un futur ex-ministre de l’Éducation et son complice dès 1985 dans La Pensée 68 (Ferry/ Renaut 1985). Dans cette perspective comme aujourd’hui dans celle de Tzvetan Todorov (2007), très lié avec Luc Ferry, c’est l’anti-humanisme qui fait figure de principal accusé et de responsable du déclin de la culture littéraire, caractérisée selon Todorov par une hégémonie à la fois nihiliste et formaliste. L’anti-humanisme promu au titre de trademark de Mai 68 - on imagine l’enthousiasme des situationnistes ou des trotskystes pour une telle interprétation de ces événements - se serait incarné dans le formalisme et dans les conceptions autoréflexives de la littérature et n’aurait laissé derrière lui que des ruines : des professeurs de lycée annonçant des rudiments de linguistique plutôt que de passionner leurs élèves pour les grandes œuvres, et des écrivains nihilistes, cyniques, friands de médias plutôt que de style soigné. La ficelle est grosse et les objections trop faciles. L’idée que la culture littéraire contemporaine est dominée par le théorico-formel laisse perplexe. Complètement ignoré dans les médias, le théorico-formel, qui a toujours été minoritaire dans les universités françaises, même en ses plus beaux jours, a aujourd’hui complètement disparu de l’agenda des études littéraires. Cellesci sont pour l’essentiel néo-positivistes, elles relèvent d’une histoire littéraire la plupart du temps extrêmement spécialisée dont on peut douter qu’elle soit capable de redonner à qui que ce soit un goût apparemment perdu pour la littérature. Passons également sur la responsabilité du théorico-formel dans l’avènement d’une littérature nihiliste : que Stéphane Mallarmé, Maurice Blanchot ou Claude Simon soient responsables de l’avènement de Michel Houellebecq ou de Frédéric Beigbeder restera, pour l’instant du moins, un mystère de l’histoire des idées. On s’étonnera enfin que Todorov n’ait pas réfléchi aux changements intervenus dans l’environnement médiatique. Le basculement de la grapho- <?page no="130"?> Vincent Kaufmann 106 sphère dans la vidéosphère, puis dans l’hypersphère 1 numérique aurait mérité d’être au moins évoqué parmi les causes d’un éventuel déclin de la littérature, même si l’hégémonie de l’audio-visuel a par ailleurs contribué à un come-back spectaculaire, c’est le cas de le dire, de l’auteur, naguère décrété mort par les anti-humanistes. Obligé aujourd’hui de squatter en permanence les médias, l’auteur a perdu l’habitude et le goût de mourir, il n’a vraiment plus de temps pour cela : est-ce raisonnable de mettre une telle résurrection sur le compte de Blanchot, Barthes ou Foucault, qui avaient autrefois décrété la mort de l’auteur ? Soyons sérieux. Les années soixante, caractérisées par la montée en puissance de la réflexion théorique sur la littérature, doivent être réinterprétées non pas comme l’agent d’un irréversible déclin de la littérature, mais comme l’ultime résistance à une perte d’autorité générale de l’écrit, comme le ‹ chant du cygne › d’une culture littéraire. Pendant une quinzaine d’années, et dans l’imminence d’une chute, on a valorisé, voir fétichisé le ‹ travail de l’écriture ›, la ‹ production du sens ›, l’autonomie de la littérature ainsi que l’auteur lui-même, hypostasié et sacralisé par sa disparition même. Le théorico-formel incriminé par Todorov aura été, historiquement, le dernier moment où on s’est passionné pour la littérature ; pour sa compréhension théorique, mais aussi pour les grandes œuvres et les maîtres. 2. Eloge de la valeur d'usage Il y a donc passablement de mauvaise foi dans les thèses avancées par Todorov, qui fait du théorico-formel un bouc-émissaire lui-même indexé par cet autre bouc-émissaire que semble être devenu Mai 68, responsable littéralement de tout et de rien. La chose la plus regrettable dans un tel montage est qu’il empêche paradoxalement de réfléchir sérieusement à la convergence du théorico-formel et de Mai 68. Et si le lien suggéré par Todorov entre le théorique et Mai 68 en cachait un autre ? Le théorique a existé dès les années cinquante, avec notamment le Nouveau Roman ou les œuvres critiques de Barthes et Blanchot, ce qui rend quand même problématique son identification à Mai 68. Mais il est vrai aussi qu’il a bénéficié d’un énorme regain de popularité à partir de ces événements, et ceci à peu près jusque vers la fin des années soixante-dix, qui consacrent la disparition des gauchismes. Il est donc indéniable que le théorico-formel a été politiquement en phase avec le zeitgeist des années 68, même s’il me paraît absurde de lui reprocher un déclin subséquent de la littérature - à mon avis ce serait plutôt le contraire. 1 Je reprends ici ces termes dans le sens que Régis Debray leur a donnés et plus généralement, je dois à celui-ci le cadre théorique permettant de formuler l'hypothèse que l'état actuel de la culture littéraire doit beaucoup à sa mise en concurrence avec d'autres médias (cf. Debray 1991). <?page no="131"?> La théorie littéraire au service de la révolution 107 Comment expliquer une telle convergence ? Elle a beaucoup à voir, c’est mon hypothèse, non seulement avec les impasses de l’action politique classique, mais aussi et plus directement avec la crise du modèle de l’engagement sartrien de l’écrivain. Dès les années cinquante, le théorico-formel constitue une alternative à la crise du marxisme officiel et des modèles d’action politique que celui-ci légitime ou rend possible. Il est une solution de repli, il participe de ce que Mallarmé appelait « l’action restreinte » (1945 : 369ssq.), il permet de réinvestir, en période de retombée de l’espérance révolutionnaire, l’énergie politique dans l’écriture et plus généralement dans les pratiques artistiques, dont on affirmera du même coup jalousement l’autonomie. Les enjeux réels du théorico-formel, ou en tout cas les clés nécessaires à l’explication de son succès, restent ainsi politiques, en France du moins : on le voit avec l’intrication de son histoire avec celle des avant-gardes (le Nouveau Roman, Tel Quel, etc.), beaucoup plus significative que son histoire académique, qui est un après-coup. L’époque de la théorie littéraire a eu comme horizon l’utopie d’un communisme de l’écriture. En tout état de cause elle a été extrêmement démocratique, puisque la connaissance des mécanismes de la langue a été la seule chose requise dans un tel contexte pour faire autorité. A ce titre elle a donc constitué une attaque frontale contre le mandarinat érudit, et c’est peut-être ce que ni un ministre de l’Éducation ni un poéticien devenu lui-même érudit et humaniste ne peuvent lui pardonner. Pour le montrer je me concentrerai ici sur un exemple que j’espère particulièrement éclairant : celui de la production textuelle, notion essentielle à la mise en place de l’utopie d’un communisme de l’écriture dont on pourrait dire que c’est justement la spécificité de la culture des années 68 d’avoir tenté de la concrétiser, de façon analogue à ce qui se fait à la même époque dans d’autres pratiques artistiques. Tout (re)commence en France avec le ‹ comment c’est fait › hérité des formalistes russes, avec la littérarité jakobsonienne transmise aux structuralistes 2 . Mais au cours de la seconde moitié des années soixante, et notamment sous l’impulsion du groupe Tel Quel, le ‹ comment c’est fait › s’effacera progressivement derrière un ‹ comment c’est produit ›, plus prolétarien, plus matérialiste et d’autant plus prestigieux qu’il est aussi plus collectif, plus communautaire. On dira que ce sont des nuances, mais avec la notion production (du texte ou du sens, etc.), l’auteur prend définitivement congé de l’artisan, du fabricateur. Produire plutôt que fabriquer, c’est passer de l’atelier à l’usine, ou encore de l’idéalisme de l’artiste travaillant seul au monde réel, celui d’une production anonyme plus compatible également avec la « mort de l’auteur », alors très en vogue 3 . C’est une des particularités 2 Les Français découvrent les formalistes russes avec une anthologie de textes formalistes traduits par Tzvetan Todorov (! ) et publiés dans la collection de Tel Quel (1965). C’est dire que le structuralisme français est un bel exemple d’héritage anticipé, puisque l’activité structuraliste en France commence au cours des années cinquante. 3 Je renvoie ici aux textes canoniques avec lesquels la mort de l’auteur a été décrétée: Roland Barthes (1984) et Michel Foucault (1994). <?page no="132"?> Vincent Kaufmann 108 de ce moment de l’histoire des avant-gardes. Alors que celles-ci se déterminent tout au long du siècle contre un assujettissement au monde à l’économie, alors qu’elles opposent en général la nécessité d’une révolution culturelle aux révolutionnaires dogmatiques qui relèguent la littérature à l’étage des superstructures pour mieux l’instrumentaliser, la mouvance structuraliste et surtout post-structuraliste va au contraire s’approprier toute une problématique de la production. Elle va la détourner, pourrait-on dire, et l’incorporer à la question du langage poétique. Volontairement dépouillé de ses privilèges d’auteur bourgeois plus ou moins inspiré, l’écrivain est désormais sommé de trahir sa classe d’origine pour accéder à l’enviable statut de producteur et de prolétaire engagé dans un combat révolutionnaire. Parmi les nombreux travaux qui ont valorisé une thématique de la production, ce sont ceux de Jean-Joseph Goux, grand lecteur de Karl Marx, Sigmund Freud, Jacques Derrida et Ferdinand de Saussure, qui lui ont donné sa portée la plus significative. Son point de départ est la célèbre distinction de Marx entre ‹ la valeur d’usage › et la ‹ valeur d’échange ›. Le signe, comme n’importe quel autre produit, comporterait une valeur d’usage (le signifiant, la matérialité du langage) dont c’est le destin, comme dans le cas de celle de la marchandise, d’être méconnue, passée sous silence par la valeur d’échange (le signifié, le sens, le langage dans sa fonction de communication). Dans cette perspective, le signe est non seulement un produit, que sous peine d’idéalisme il ne faut pas occulter comme tel, mais il est le moyen de production d’autres produits (d’autres signes), il est un principe de production, il travaille : Tout comme un produit est le moyen de production d’autres produits (le détour par lequel on fabrique d’autres produits - moyennant une certaine dépense de force de travail) les signes (ensemble de signes, ou parties d’ensembles) forment les moyens de production d’autres signes (d’autres combinaisons de signes ? ). La méconnaissance de la valeur d’usage des signes n’est donc pas autre chose que l’occultation de leur valeur productive. Occultation du travail ou du jeu des signes, sur et avec d’autres signes. La valeur opératoire, l’efficace propre des signes dans la production du sens, le calcul, l’instance purement combinatoire, ce que nous pourrions nommer d’un mot heureusement ambigu la fabrique du texte (travail et structure, fabrication et façon) se trouve gommée (ou plutôt oubliée/ refoulée) sous la transparence négociable. (Goux 1968 : 188sq.; italiques de Goux) De même qu’il existe un corps de la marchandise qui disparaît derrière sa valeur d’échange, de même il existe un « corps de la lettre » (Goux 1968 : 190), qui serait en somme le nom matérialiste du signifiant 4 , occulté notamment par la ‹ parole ›, lieu d’articulation d’un sens et d’une voix que la théo- 4 Le nom matérialiste, mais compatible avec la psychanalyse, faut-il préciser, puisque la corporéité du signifiant qu’il revient au texte littéraire de faire revenir est dans un rapport de continuité et de solidarité avec la corporéité du sujet lui-même - comme en témoigne par exemple la notion de ‹ chora sémiotique › développée par Julia Kristeva (1974). <?page no="133"?> La théorie littéraire au service de la révolution 109 rie littéraire des années soixante et soixante-dix, sous l’influence de Derrida notamment, s’efforce de destituer de ses supposés privilèges philosophicopolitiques 5 . Ce dispositif permet à Goux de réactiver dans une perspective à l’époque politiquement correcte un postulat dont les origines sont également à chercher du côté du romantisme : celui de l’intraductibilité du langage ‹ poétique › (dont un Mallarmé dirait qu’elle garantit son essentialité, soit tout aussi bien sa singularité signifiante). Goux continue ici d’articuler Derrida et Marx. La traduction est du côté de la substitution, de l’échange, de la subtilisation, et donc du vol, comme dans le cas de l’appropriation capitaliste de la force de travail du prolétaire : Or si le travail de l’écriture ne peut donner lieu à la « transparence d’une traduction neutre », le travail concret, comme force et corps, comme usage et création de valeur d’usage, est aussi une inscription hiéroglyphique qui ne souffre aucune substitution, aucun échange. « Un corps verbal ne se laisse pas traduire ou transporter dans une autre langue. Il est cela même que la traduction laisse tomber. » De même le travail concret ne peut être évalué sans être subtilisé. (Goux 1968 : 202; italiques de Goux) 6 Tout travail est écriture, toute écriture est travail. S’il est difficile d’imaginer que la première partie de ce théorème ait jamais permis d’éviter de désespérer les ouvriers de Boulogne-Billancourt, les bénéfices de la seconde partie sont tangibles, du moins sur le marché des images de l’écrivain. L’écriture, dans son essentiel matérialisme, est du côté de la production, elle permet d’opposer une logique de la valeur d’usage à la valeur d’échange (à la communication). Du même coup l’écrivain - ou plus exactement le cidevant écrivain, l’auteur décrété mort - passe lui-même du côté d’une avantgarde enfin prolétarienne. Les surréalistes - c’est une question d’autonomie - ont toujours hésité à mettre le surréalisme au service de la révolution (prolétarienne), ils en sont restés à l’impossible articulation entre deux révolutions. Les situationnistes ont pris acte d’une telle impasse en décrétant que la révolution devait être au service de la poésie, qu’elle ne pouvait avoir lieu que comme réinvention (poétique) de la vie quotidienne. Avec l’avantgarde post-structuraliste, un pas de plus est franchi, à moins qu’il ne s’agisse d’un pas en arrière : l’écrivain recyclé en producteur de sens n’a plus à se mettre au service de la révolution puisqu’il y est de facto à partir du moment où il joue le corps de la lettre contre le sens, où il lutte contre l’asservissement au sens, notamment en écrivant des textes qui s’honoreront en général d’être illisibles : 5 Rappel, pour aller très vite: selon Derrida, la voix est le point d’appui ou la clé de voûte de toute la tradition métaphysique occidentale et de sa stratégie de la vérité, souvent décrite en termes de ‹ logocentrisme ›. Celui-ci est à comprendre comme une procédure d’exclusion de ce qui résiste à l’idéalité de la voix et de la parole: soit précisément la lettre, la trace, l’inscription, l’(archi)-écriture qui sont pourtant la condition de possibilité du discours métaphysique. Je renvoie bien sûr à Derrida (1967a), Derrida (1967b), et Derrida (1967d). 6 Les citations à l’intérieur de cette citation renvoient à Derrida (1967c: 293ssq.). <?page no="134"?> Vincent Kaufmann 110 L’asservissement du travailleur, par le capital, perpétué par l’intermédiaire de la forme argent, est donc identique à la servitude de l’écriture opératoire abaissée par l’élément du sens, réprimée par la subsomption logocentrique. Assujettir l’écriture à la sphère de l’échange (du langage) alors que l’efficace et la réalité de son action appartiennent à la production et à l’usage (écriture productive : ‹ poésie ›, mathématiques, sciences), c’est occulter, par l’éclat du discours marchand, le travail (ou le jeu) qui permet et entretient ce discours. (Goux 1968 : 205) Prolétaires de tous les pays, écrivez, écrivains de tous les pays, prolétarisezvous par l’investissement du signifiant et de sa productivité, du même coup libérée, mise au service de la révolution. Communiquer, échanger, c’est toujours s’en tenir à une plus-value de sens extorquée au langage dont on refoule du même coup la matérialité, c’est occulter ce que Bataille appelait la « besogne des mots », c’est se retrouver du côté d’une très longue chaîne de maîtres et d’oppresseurs inaugurée par Platon : Le mépris ouvert de Platon pour l’écriture signifie ainsi l’extorsion ouverte (dans l’esclavage) du surtravail. Le philosophe est dispensé d’une façon ouverte de l’écriture comme la classe dominante est dispensée du travail. La dispense du détour de production entretient la parole politique (qui évolue dans l’immédiateté et l’évidence du sens) et impose en retour le travail producteur. (Goux 1968 : 210) 3. Poésie faite par tous Où chercher les théoriciens qui se sont véritablement jetés dans le bain de la production signifiante ? Le cas le plus exemplaire, d’un point de vue à la fois théorique et pratique, me semble être celui de Jean Ricardou, qui aura longtemps servi de passeur entre d’une part un Nouveau Roman dont il radicalise les enjeux et les pratiques et d’autre part Tel Quel. Il est celui qui aura pris la théorie de la productivité du signifiant véritablement à la lettre, celui qui aura été le plus loin dans la théorisation mais aussi la pratique de ce qui n’est plus alors une simple affaire de production mais bien d’‹ autogénération › du texte littéraire à partir d’un dispositif signifiant parfois minimal. Le modèle le plus ‹ didactique › de la démarche de Ricardou, c’est Raymond Roussel, origine logique de ce qu’il appelle précisément l’ « activité roussellienne » (Ricardou 1971 : 91-117). Rappelons de quoi il s’agit. Dans Comment j’ai écrit certains de mes livres, publié significativement à titre posthume, Roussel a expliqué les procédés de fabrication de ses Impressions d’Afrique, de Locus solus, de L’étoile au front et de Poussières de soleil. Pour en rester aux Impressions d’Afrique, l’ensemble de l’œuvre serait sortie du bout de phrase suivant : les lettres du blanc sur les bandes du vieux billard. Le blanc d’une inscription à la craie devient blanc par opposition au noir (l’Africain), le billard se transforme en pillard, les bandes en ‹ hordes de nègres ›, les lettres en missives, etc. De ces transformations qui toutes activent d’une manière ou d’une autre la productivité du signifiant, surgit ainsi un récit <?page no="135"?> La théorie littéraire au service de la révolution 111 fantastique, exubérant, dont les surréalistes avaient déjà perçu le caractère enchanteur (mais non les ressorts textuels et la logique autoréflexive ou auto-explicative). C’est cela, l’« activité roussellienne », 7 dont Ricardou analyse et différencie systématiquement les différents procédés, les formes spécifiques de ‹ générateurs › pour les reverser au compte d’une théorie générale de la productivité textuelle. 8 Celle-ci détermine de part en part le contenu des fictions rousselliennes, mais elle est également à l’œuvre, selon Ricardou, chez beaucoup d’autres auteurs : Gustave Flaubert, Marcel Proust ainsi que la plupart des écrivains réunis à l’enseigne du Nouveau Roman (notamment Alain Robbe-Grillet et Claude Simon). « Inhumaine rigueur de la fabrique », écrit Ricardou, toujours à propos de Roussel (1971 : 95). On lui a beaucoup reproché cette inhumanité à propos de ses propres romans (notamment L’observatoire de Cannes et La prise de Constantinople) mais aussi à propos de ses analyses critiques. Il y a chez lui un extrémisme de la production du texte sur lequel peu l’ont suivi, probablement non seulement parce qu’appliqué aux plus grandes œuvres son radicalisme n’est pas toujours convaincant, mais également parce qu’il a des conséquences politiques qu’il reste un des seuls à avoir véritablement assumées. Car à l’horizon de sa démarche, il y a clairement une autre question qui se profile et devant laquelle la plupart de ceux qui se sont avancés dans cette direction ont prudemment fini par reculer : celle d’un véritable ‹ communisme de l’écriture ›. Pourquoi l’auteur doit-il céder la place au producteur ? Précisément parce que celui-ci, contrairement à l’auteur, ne s’approprie pas les moyens de production (le langage), parce qu’au contraire il le remet en jeu, parce qu’il le remet au service de la collectivité. Le ‹ comment c’est fait › est une question démocratique et partant, toute la mouvance structuraliste l’a été. Le ‹ comment c’est produit › est non seulement démocratique, mais en fin de compte communiste. Il implique que l’écrivain devenu simple producteur est désormais le sujet d’une pratique qui pourrait être celle de tout le monde, ou plus exactement encore que sa ‹ pratique signifiante › a précisément pour but de se partager, d’être reprise par d’autres. Le rôle de la théorie est en somme de permettre à chacun d’activer pour son propre compte la productivité du langage. Là où était l’auteur, effet d’une logique de la propriété (du sens) et d’une économie de la rareté, doit advenir la foule anonyme des producteurs assurant à l’infini le partage du sens et détruisant par conséquent toutes les institutions littéraires qui confèrent à l’auteur ses droits et son autorité. Les producteurs ne sont plus des auteurs, ils ne sont pas propriétaires du sens, 7 L’autre aspect de l’‹ activité roussellienne ›, également central dans la démarche de Ricardou, c’est ce qu’on pourrait appeler la productivité de la description. En proliférant, en se déboîtant de détail en détail, celle-ci s’autonomise, se libère de la tutelle du récit et du sens et subvertit, chez Roussel comme chez certains nouveaux romanciers, les conventions du récit réaliste. 8 Pour une synthèse de ces différentes procédures, on consultera notamment Ricardou (1973: 75ssq). <?page no="136"?> Vincent Kaufmann 112 ils sont sans autorité. Ricardou insiste à de nombreuses reprises sur ce point. Lors d’un colloque consacré à Claude Simon, il s’oppose à une intervenante mettant en cause ses propres talents ou capacités littéraires : Que l’on soit conduit à des aveux de ce genre montre à quel point on peut être victime de l’idéologie dominante, précisément, en matière de littérature. Je viens de le rappeler l’une des institutions majeures chargées de la véhiculer est l’Université. Or, sur quoi se construit cet édifice ? Sur une très singulière parcellisation du travail d’écriture. Il y aurait deux sortes de gens : les créateurs et les professeurs […]. Le malheur, pour vous, il me semble, c’est que vous pensez si intensément à l’intérieur de cette dichotomie pratique/ théorie que vous êtes induite d’une part à condamner trop vite vos propres possibilités d’écriture, d’autre part à vous installer trop vite dans la position de repli. (Ricardou 1971 : 28sq.) Ricardou, c’est explicite dans la suite de cet échange, part du principe qu’il existe chez tout le monde un ‹ désir d’écrire › dont la société capitaliste et les institutions littéraires qui en sont l’effet (avec des auteurs-propriétaires) empêchent la réalisation. Personne ne dispose d’un droit de naissance ou d’une exclusivité en matière d’écriture, personne ne devrait être auteur, jouir de droits d’auteur, vivre de sa plume, puisqu’une telle position repose sur un principe d’exclusion. L’auteur existe parce que (presque) tout le monde renonce à l’être ou, plus exactement dans les termes de Ricardou, est empêché de l’être. De même que le sens profite de l’écriture (cf. Goux 1968), qu’il l’exploite, de même, pourrait-on dire, l’auteur exploite les non-auteurs volontaires ou involontaires, réduits pour une raison ou une autre à la passivité de purs lecteurs-spectateurs. Il ne s’agit donc plus de donner un sens plus pur aux mots de la tribu, comme le voulaient Mallarmé et dans une certaine mesure encore Francis Ponge, mais de redonner à la tribu l’initiative, le sens des mots et de leur productivité. Transformer les consommateurs passifs d’œuvres et de biens en producteurs actifs de sens, telle est véritablement et de façon revendiquée l’utopie sociale de Ricardou ou sa version de l’engagement révolutionnaire de l’écrivain : Montrer à chacun qu’il peut écrire finit par déboucher sur le refus de l’exploitation sociale. Et je ne doute pas qu’il s’agisse là d’une des raisons de la terrible réticence, au plan idéologique, que rencontrent, ici et ailleurs, certaines de mes propositions (Ricardou 1971 : 30). Cette position conduira Ricardou à mettre en place, depuis maintenant trente ans, ses célèbres ateliers de textique au centre culturel de Cerisy-la- Salle : une fois de plus la révolution aura ainsi viré à une pédagogie destinée à la préparer indéfiniment. Je conclus là-dessus. Dans ses aspects les plus radicaux, la théorie littéraire des années soixante et soixante-dix a été partie prenante d’un mouvement plus large, qui trouve effectivement dans les suites de Mai 68 son point culminant et qui aura consisté dans l’utopie d’un partage généralisé des moyens d’expression. Pour l’humaniste comme pour le responsable à venir des institutions chargées de la transmission de la culture <?page no="137"?> La théorie littéraire au service de la révolution 113 littéraire nationale, ce n’est sans doute pas acceptable. Le problème, pourrait-on lui rétorquer, c’est que depuis ce dernier et glorieux épisode où la littérature a été quasiment une affaire d’État, on n’a pas encore trouvé autre chose pour rendre la chose littéraire passionnante. Bibliographie Roland Barthes, La mort de l’auteur, in : id., Le bruissement de la langue, Paris 1984, 61-67. Régis Debray, Cours de médiologie générale, Paris 1991. Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967. (1967a) Jacques Derrida, L’écriture et la différence, Paris 1967. (1967b) Jacques Derrida, Freud et la scène de l’écriture, in : id., L’écriture et la différence, Paris 1967, 293-340. (1967c) Jacques Derrida, La voix et le phénomène, Paris 1967. (1967d) Luc Ferry/ Alain Renaut, La pensée 68. Essai sur l’anti-humanisme contemporain, Paris 1985. Michel Foucault, Qu’est-ce qu’un auteur, in : Daniel Defert/ François Ewald (éds.), Dits et écrits 1954-1988, 1, Paris 1994, 789-821. Jean-Joseph Goux, Marx et l’inscription du travail. Théorie d’ensemble, Paris 1968. Julia Kristeva, La révolution du langage poétique, Paris 1974. Stéphane Mallarmé, Œuvres complètes, Paris 1945. Jean Ricardou, L’activité roussellienne. Pour une théorie du nouveau roman, Paris 1971. Jean Ricardou, Le nouveau roman, Paris 1973. Tzvetan Todorov, Théorie de la littérature, Paris 1965. Tzvetan Todorov, La littérature en péril, Paris 2007. <?page no="139"?> Kai Nonnenmacher Totalitäre Sprachen 1968: Jean Pierre Faye zwischen Stéphane Mallarmé und Carl Schmitt 1. Neue Mission des Intellektuellen En voulant justifier des actes considérés jusque là comme blâmables, on changera le sens ordinaire des mots. (Thukydides, zit.n. Faye 1972: 101) Der Titel dieser Untersuchung, Totalitäre Sprachen 1968, ist doppeldeutig gewählt, denn nicht nur Jean Pierre Fayes monumentale Kritik der ideologischen Erzählungen der konservativen Revolution lautet entsprechend - Langages totalitaires -, sondern im vierzigsten Publikationsjahr behauptet auch der deutsche Rückblick provokativ das grundlegend Totalitäre der Achtundsechziger-Bewegung. 2008 tritt vor allem Götz Aly mit Unser Kampf: 1968 (2008) 1 eine breitere Feuilletondebatte los, Andreas Rödder urteilt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: In sozial-kultureller Hinsicht sticht der Vergangenheitsbezug der 68er auf den Nationalsozialismus heraus. Er stand allerdings nicht unter originär historischmoralischen, sondern unter genuin sozialistisch-„antifaschistischen“ Vorzeichen. So besaß er in erster Linie eine antikapitalistische und somit zugleich antibürgerliche Stoßrichtung, wie sie für „68“ charakteristisch ist. (Rödder 2008: Literaturbeilage) Rödder fasst zusammen, der Gegenbegriff ‚bürgerlich‘ habe dazu gedient, eine kleinbürgerliche Sozialkultur als repressiv zu entlarven und „durch andere Kollektivformen zu ersetzen“; dies habe „freilich mitten in die Illiberalität einer eben nicht pluralistischen und freiheitlichen Ordnungsvorgabe, in den doktrinären Zwang des ‚neuen Menschen‘“ (ebd.) geführt, diese münde wiederum direkt in die männlich-ästhetische Selbstinszenierung terroristischer Gewaltexzesse der siebziger Jahre (man muss hier nur an Jean-François Revels La tentation totalitaire [1976] erinnern). Nicht der antiliberale Habitus der 68er hätte demnach zur Liberalisierung der Gesellschaft beigetragen, sondern diese habe sich seit den fünfziger Jahren sowieso auf Veränderungen vorbereitet und werde erst nachträglich von den 68ern 1 Rezensionen finden sich u.a. in Frankfurter Rundschau vom 16. Februar, Süddeutsche Zeitung vom 19. Februar, Die Zeit vom 21. Februar, taz vom 23. Februar (alle Jahresangaben: 2008). <?page no="140"?> Kai Nonnenmacher 116 für sich reklamiert. 2 In Die Tageszeitung kehrt Jan Feddersen das Argument geradezu um: Insbesondere in Deutschland habe der Unterschied zu 1933 gerade darin bestanden, dass man für den Totalitarismus der neuen Vordenker 1968 eben nicht mehr empfänglich gewesen sei (vgl. Feddersen 2008: 4). Die Kette solcher Umdeutungsstrategien reicht aber weiter zurück. 3 Als Beispiel sei der Streit um Daniel Lindenbergs Le rappel à l’ordre genannt, der eine anscheinend kohärente Themenreihe der neuen Reaktionäre benennt: „contre la culture de masse, contre les droits de l’homme, contre 68, contre le féminisme, contre l’antiracisme, contre l’islam“ (Lindenberg 2002: 98). In der Folge titelte Laurent Joffrin im Nouvel Observateur vom 21. November 2002 mit der Frage „Sommes-nous tous devenus réacs? “, und folglich war für Aude Lancelin in derselben Ausgabe „L’hégémonie intellectuelle de la gauche“ bedroht. 4 Anfang 2003 reagierte Michel Houellebecq auf diese Debatte mit einem Text über die Linke, wie überhaupt seine Rezeption von der Abwicklung der Achtundsechziger gar nicht zu trennen ist (vgl. Houellebecq 2003). 5 Was für 1968 die Gegenbegriffe waren, auf deren Verneinung sie ihre ‚Mission‘ gründeten, ist gleichwohl nicht eindimensional zu benennen. Das Totalitäre wäre wohl eines dieser Gegenkonzepte (vgl. Christofferson 2004; Bosshart 1992). In seiner Analyse von 1968 ging Jean-Paul Sartre von einer problematischen Kontinuität der Intellektuellen aus, und das trifft möglicherweise auch für Jean Pierre Fayes kontinuierliches Projekt zwischen Dichtung, Roman und politischem Essay zu: „En fait, ils ont tous pensé que Mai était l’occasion de réaliser des idées qu’ils avaient avant. [...] Ils ont essayé vainement de faire ressembler Mai à leur schéma préconçu.“ (Sartre 1972: 464) Das Versagen vor Mai 1968, das Sartre hier in L’ami du peuple konstatiert, meint das der Schriftstellerorganisationen im Besonderen - hier war Faye ja einer der Hauptakteure 6 - und der 2 Faye erklärt übrigens, seine Studie über die totalitären Sprachen sei bereits 1958/ 59 begonnen worden (vgl. seine Biobibliographie in Partouche 1980: 214). In „Wachsen der Welt“, Fayes Beitrag zum Jubiläumsheft von Lettre international 2008, erzählt er vom Initiationsritus seiner Reise 1958 nach Freiburg im Breisgau, wo er das Buch Der totale Staat des Carl Schmitt-Schülers Erwin Schulhoff suchte, das später ein wichtiger Bezugspunkt seiner Arbeit wurde. (vgl. Faye 2008: 147) 3 Albrecht von Lucke geht von einer kontinuierlichen Umdeutung seit 1989 aus, die heute u.a. auch die Diskussion um eine ‚Neue Bürgerlichkeit‘ grundiert (vgl. von Lucke 2008). 4 In Deutschland wurde die Debatte reihum symptomatisch gelesen (vgl. die Äußerungen von Johannes Wetzel, Dorothea Hahn, Rudolf Walther, Jörg Uthmann und Manfred Pflügge; alle 2002). 5 Vgl. hierzu u.a. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Januar 2003 und Frankfurter Rundschau vom 11. Januar 2003. 6 Fayes Aktionsfelder um 1968 wie seine Mitgründung des Aktionskomitees Studenten- Schriftsteller (Comité d’Action Etudiants-Ecrivains, C.A.E.E.) am 18. Mai, der Vereinigung der Schriftsteller (Union d’Ecrivains, U.E.) am 21. Mai dokumentiert Patrick Combes (vgl. Combes 1984: 55ff.). Er zieht die Bilanz: „Faye restera de ces écrivains qui tireront continûment ressource du travail critique de 68, s’y référant comme à une expérience politique et langagière essentielle“ (Combes 1984 : 57). <?page no="141"?> Totalitäre Sprachen 1968 117 etablierten Intellektuellen im Allgemeinen. Bis hin zur Form ihres Wissens (vgl. Sartre 1972: 462) in Frage gestellt, bedurfte es der apprentis-intellectuels: der Jugend, für die die intellektuelle Existenz (noch) kein Brotberuf war. Als bürgerliche Verkürzung des Universalen gerät ihnen das Wissen selbst in Verdacht; die neue Mission des Intellektuellen hätte nach Sartre das, wie er es nennt, ‚konkrete Universale‘ zu sein: Il faut d’abord qu’il se supprime en tant qu’intellectuel. Ce que j’appelle intellectuel donc, c’est la mauvaise conscience. Il faut qu’il mette ce qu’il a pu retirer des disciplines qui lui ont appris la technique de l’universel directement au service des masses. Il faut que les intellectuels apprennent à comprendre l’universel qui est désiré par les masses, dans la réalité, dans le moment, dans l’immédiat. (Sartre 1972: 467) Sartres Plaidoyer pour les intellectuels (1965) hatte zuvor bereits an der Figur des Schriftstellers und damit am literarischen Werk diese Mission ausgeführt, die auf Mitteilung des Nicht-Mitteilbaren zu zielen habe: Literatur ist auf der Ebene des Nicht-Wissens zugleich „restitution de l’être dans un monde qui nous écrase“ und andererseits die „affirmation vécue de la vie comme valeur absolue et exigence d’une liberté qui s’adresse à toutes les autres“ (Sartre 1972: 454). Das Universelle wird in dieser Dopplung ebenso als Erzeuger von Singularität erkennbar, wie die Singularität ihrerseits als Wölbung (‚courbure‘) und unsichtbare Grenze des Universalen begreifbar wird. Dies entspricht ästhetisch nicht einer besonderen poetischen Formensprache, sondern ist je spezifisch bei Proust, Kafka oder auch Robbe-Grillet erkennbar. Sartres Gegenüberstellung wäre in Jean Pierre Fayes nachträglichen Stellungnahmen unschwer auf seine Abkehr von der Gruppe Tel Quel und ihrem Wortführer Philippe Sollers zu übertragen. In der Interviewreihe, die Bettina Knapp mit den neuen Autoren der Zeit führte, ist der etwas konstruiert-programmatische Rahmen ihres Gesprächs mit Faye bemerkenswert: Bettina Knapp: What was your background? How were you ‚formed‘? Jean-Pierre Faye: Nothing ‚forms‘ us, or to put it another way, it’s what deforms us that forms us. In other words, what teaches us to see transformations. (Knapp 1976: 74) Nach diesem Auftakt mutet das parolenartige Ende des Interviews fast peinlich an: „we never stop moving.“ (Knapp 1976: 92) Und doch kündigt diese Parole den problematischen Anspruch jeder perpetuierten Revolution an. Formation als Bildungs- und Einflusskonzept und transformation haben sich in Fayes These gezielt überlagert, Wissen und Revolte sind ununterscheidbar geworden: „le procès même de l’histoire se manifeste en chaque instant comme double - action et récit.“ (Faye 1972: 24) Nicht zuletzt deshalb verknüpft Michel Pierssens das Kollektiv mit der Aura musikalischer Gegenkultur: <?page no="142"?> Kai Nonnenmacher 118 ‚ Times are changing‘, chantait-on au moment où Change s’inaugurait dans la brisure multipliée d’une époque dont, de ce qui en son fond d’inertie pourtant la soulevait, il faut bien dire que nous n’avions rien su. (Pierssens 1974: 369) Pierssens erklärt vor dem Hintergrund des ‚Dinosauriers‘ Strukturalismus: „L’arrivée de Change permit alors que de fécondes dissidences s’organisent.“ (Pierssens 1974: 369) Statt eines objektivierten Manifests oder einer Doktrin werden transitorische Bilder der Plötzlichkeit, des Wandels benutzt, wie passage, traverser: [...] ce qui change, dans le texte collectif à mesure qu’il se produit, ou plutôt: ce par quoi il se dérobe à toute tentative de fixation - c’est d’être maintenu constamment ouvert à cela qui l’investit du dedans comme du dehors. 7 Schreiben als Transformationsprozess, als materieller Tauschvorgang überträgt in der Erzählung eine konkrete Energie - und schreibt sie in der kritischen Narration um. Fayes Geschichtssemantik ist eine Reflexion über die Macht der Erzählung, der Sprachsoziologie, versteht sich zugleich als surrécit - in der durch Faye von Velimir Chlebnikow zitierten Terminologie. 8 Diese Transformation des Sozialen bedarf für ihn einer nomadischen Poetik - bleibt zu fragen: Wer ist der Adressat einer auf Breitenwirkung wie avantgardistische Unlesbarkeit angelegten Poetik? Changer le vivant, c’est transformer les lois sociales mais aussi révolutionner les regards et les mémoires qui le produisent. Le change fayen n’est pas tant le désir d’un homme nouveau que l’enrichissement par les imaginaires et les directions de l’homme présent. […] L’image brisée, en écart, présente, est le point sensible à atteindre. L’aliénation finira lorsque le sujet entreprendra dans la dispersion, le nomadisme du sens et du son, de s’appartenir. (Partouche 1980: 11) Ulrike Ackermann leitet die literarische Erfahrungsgebundenheit der Totalitarismuskritik aus der zeitweisen Unmöglichkeit philosophischer Konzeptualisierung und empirischer Untersuchung her. 9 Für Faye müssen wir aber auch von einem problematischen Adressaten ausgehen. 2. Dritte Kritik und Transformation Dans les recoins de petites bibliothèques, dans les limbes des bâtiments, de petites ronéos tirent quelques bulletins pour douze personnes sur la critique de la société. Ce qui reste de la grande révolution occidentale depuis deux siècles. 10 7 Zit.n. Pierssens (1974: 370) als: Change, première suite, 431. 8 Vgl. Pierssens (1974 : 375): „A l’horizon, dans cet espace où l’on ne saurait conclure: une sémantique de l’histoire, que Faye sans doute saura nous donner, du même geste par lequel se poursuit sa réflexion, l’une des plus aiguë d’aujourd’hui, sur les puissances du récit.“ 9 Vgl. Ackermann (2000: 122) und insbesondere das Kapitel: „Das Jahr 1968 und die Folgen für die französische Totalitarismuskritik“ (Ackermann 2000: 126ff.). 10 Jean Pierre Faye, „Les portes des villes du monde“ (in: Partouche 1980: 191). <?page no="143"?> Totalitäre Sprachen 1968 119 An Jean Pierre Faye lässt sich zeigen, dass seine Methode ‚kritischer Narration‘ totalitärer Sprachen, die er auch seither an anderen ‚rechten‘ Erzählungen entwickelt hat - noch einmal im Jahr 1996 an der langage meurtrier, aber ebenso am Linksterrorismus der siebziger Jahre, am Antisemitismus (La Déraison antisémite et son langage, 1993), am Ideologiebegriff der Moderne (Le Siècle des idéologies, 2002) und in der französischen Heidegger-Kontroverse (La raison narrative, 1990) - sich als kritische versteht und sich zugleich fasziniert zeigt für die Macht der Sprache, Wirklichkeit zu verändern. Eine Sichtung totalitarismusbezogener Werke der letzten Jahre ergab für mich eine zwiespältige Diagnose: Faye wird fast überall einleitend kurz zitiert, eine wirkliche Auseinandersetzung mit seiner Methode findet aber praktisch nicht statt - seine Methode ist möglicherweise für die heutige Politikwissenschaft in der Verknüpfung mit semiotischen und ästhetischen Präsuppositionen auch nicht mehr leicht nachvollziehbar. Bernard Brillants Studie Les clercs de 68 zeigte an zeitgenössischen Quellen, wie die Grundhaltung der Revolte zu einer vielfältigen Erneuerung kommunikativer Praxis und zu neuen Ritualen führte. Seine semantische ‚grammaire de la contestation’ benennt Funktionen (wie Kritik, Subversion, Forderung), Formen (z.B. Transgression, Gewalt, Provokation, Humor) und Moden (z.B. Symbolismus, Bruch, Utopie, Irrationalität) einer ganzen Bewegung der Delegitimierung (vgl. Brillant 2003: Kap. XII). Im Juniheft 1968 von Europe schrieben bereits neun Autoren über den Mai 1968: Madeleine Braun betitelte ihre tageweise Chronik „Le film des événements“ (31-55), ein Fazit der Radioberichterstattung liefert Guy Gauthier, Jacques Gaucheron berichtet aus einem besetzten Lycée, und André Wurmser versucht bereits ein panoramatisches Fazit zu geben: A présent, je veux dire aujourd’hui vingt juin 1968, le combat se déplace. Il opposa les ‚contestants‘ aux conservateurs, dix millions de grévistes à un patronat confondu avec le gouvernement auquel il a délégué ses commis. Il oppose, dans le secret des urnes, la peur au courage, la crainte du changement à la volonté de renouveau, le faisceau reconstitué, dix ans après le Sacre, de la racaille fasciste, des Grandes Compagnies, et de la petite bourgeoisie facilement épouvantée, à une gauche moins unie qu’elle ne devrait l’être. Mais si ces élections ne provoquent pas un changement de politique, elles ne seront qu’une étape d’un combat dont l’issue peut être différée, mais non modifiée. (Wurmser 1968: 31) Wie Antonio Gramsci hoffte, sich an der bekämpften Hegemonie der katholischen Kirche zugleich ein Beispiel für die Wirkmächtigkeit des eigenen politischen Projekts nehmen zu können, konzentriert sich Change, das von Faye mitgegründete (und nach einem seiner Gedichte getaufte) Gegenkollektiv zu Tel Quel, 11 auf Konzepte der Transformation. 12 Dieses <?page no="144"?> Kai Nonnenmacher 120 positiv besetzte Prinzip ist es aber auch - und das hat doch zumindest einen seltsamen Beigeschmack -, das Faye an den politischen formules der konservativen Revolution interessiert: Et corrélative de cette accumulation occidentale, dans la langue des marchandises, est l’intervention récurrente, ou le cycle, des neue Prozesse: des „nouveaux procédés“. Changement dans la „forme“ de la fonction de production, comme le dit Schumpeter à propos de l’innovation; et changement périodique, periodische Wechsel, comme le dit Marx, également à son propos. […] Le mouvement du changement formel par le travail humain, cette sorte de langage lourd objectivé, ou matérialisé, se développe dans la créativité de l’innovation et s’amasse dans les puissances de l’accumulation - et dans les deux cas, de façon pulsionnelle ou, si l’on veut, cyclique. (Faye 1996: 263) Die Fokussierung der rechten Sprache lässt sich mindestens doppelt lesen: als Aufarbeitung und Entsorgung autoritärer Sprache bzw. Gegenbild des eigenen Entwurfs, aber auch als gefährliches historisches Exempel der eigenen Selbstautorisierung, durch Narration gesellschaftliche Wirklichkeiten umzuschreiben. Es wäre m.E. wünschenswert gewesen, Faye hätte sein Verfahren auch bezogen auf die Bewegung von 1968 diskutiert. Gegenwärtige konservative Umdeutungsversuche von 1968 setzen ja paradoxerweise Fayes Methode fort, wenn etwa Houellebecq den Begriffswandel als dialektische Kapitalisierung hin zum neoliberalen change management verfolgt und dabei einer in den Romanen aufscheinenden menschenfreundlichen Utopie der Beständigkeit entgegenhält. Auch wenn diese ihrerseits regressiv und konservativ daherkommt. Was bedeutet es, wenn Jean Pierre Faye seine als Einführung zu den Langages totalitaires gedachte Théorie du récit mit einem Zitat von Stéphane Mallarmé einleitet: „énoncer signifie produire“? (zit.n. Faye 1972: 3) 13 Zunächst ist diese Stelle aus Mallarmés Divagations/ Crayonné au théâtre auf die Bühnenkunst gemünzt: Il est (tissonne-t-on), un art, l’unique ou pur qu’énoncer signifie produire: il hurle ses démonstrations par la pratique. L’instant qu’en éclatera le miracle, ajouter que ce fut cela et pas autre chose, même l’infirmera: tant il n’admet de lumineuse évidence sinon d’exister. (zit.n. Thibaudet 1959: 447, Hervorhebg. v. Verf.) 14 11 Vgl. zum Prozess der Politisierung einer zunächst keineswegs engagierten Gruppe Marx-Scouras 1996. 12 Faye bildet polemisch die Opposition aus Manifesten beider Gruppen, um der Statik von Tel Quel die Dynamik von Change entgegenzusetzen: „I want the world and I want it as it is“ (Tel Quel, Declaration No.1, Frühjahr 1960, Epigraphe); „The activity of man which draws his own picture of the world, changes reality.” (Change, Havana Manifesto, 8. Januar 1968, Epigraphe; vgl. Knapp 1976: 88). 13 Daneben ein analoges Zitat von Jules Michelet: „ce qu’elle dit, elle le produit“. 14 Vgl. die Kommentare zur performativen Dimension des Zitats von Shaw (1993: 14). Das Mallarmé-Zitat wird viel zitiert; vgl. auch Léonard (1974: 26) u. Rey (1991: 91). Auch marxistisch argumentierende Texte der Zeit verweisen auf die Stelle, etwa La Nouvelle critique: revue du marxisme militant, Nr. 191-197 (1968: 58). <?page no="145"?> Totalitäre Sprachen 1968 121 Nicht nur auf der Theaterbühne bewahrheite sich Mallarmés Programm, sondern auch auf der politischen Bühne, so die Ausweitung in der Zeitschrift Change (Nr. 2, 1973: 10). Wenn Fayes Werk als gesamtes betrachtet werden muss, 15 dann gilt nicht nur für seine politischen Arbeiten, sondern gerade auch für die poetischen Texte und die Romane: Was in allen diesen Texten erscheint, „ce sont les coupes, les rejets d’une chaîne de langage à une autre, - c’est une sorte de ‚prosodie‘ des langues […] que l’on trouve, ici, liée à l’engendrement de l’action“ (Faye 1972: 11). Die Politisierung einer zunächst ästhetisch gemeinten performativen Kraft der Zeichen gerät zum Motto für das Vertrauen der Intellektuellen um 1968, nicht nur das Schaffen von Wirklichkeit durch Sprache kritisch zu beschreiben, sondern selbst mit ihren Texten, Manifesten und Pressekonferenzen den Wandel von Gesellschaft zu erschaffen, zu erzwingen. Bereits der Anfang der Théorie du récit ist weniger als analytische Distanznahme zu bezeichnen, 16 sondern als kritische Einschreibung (wo nicht gar Umschreibung) von Geschichtserzählung zu lesen, in die narrative Praxis Eingang zu finden: Parce que l’histoire ne se fait qu’en racontant, une critique de l’histoire ne peut être exercée qu’en racontant comment l’histoire, en se narrant, se produit. Ce qui se développe ici ne se ramène ni au discours philosophique ni à l’enquête empirique, mais de part en part se constitue en narration critique. Celle-ci met en jeu son objet en le rapportant: par elle on entre dans ce rapport tout premier de la pratique humaine avec ce qu’elle porte dans ses mains, ou touche du doigt. Mettre à découvert ce rapport ne peut se faire qu’en entrant entièrement dans la pratique narrative, sans „s’élever“ au-dessus d’elle à aucun moment sous le prétexte de discourir sur tout autre objet, puisque c’est elle qui nous donne, par le „rendre compte“ - ou le „demander conte“ -, ce rapport à l’objet et ce rapport de l’objet qui ouvrent toute possibilité. (Faye 1972: 9, Hervorhebung durch Verf.) Dass sich (wie eingangs vermutet) Wissen und Transformation überlagern müssen, wird damit evident. Mitsou Ronats Band über Faye von 1980 druckt unter einer doppeldeutigen Kapitelüberschrift dessen Thesen zu einer ‚dritten Kritik‘ ab, welche eine Aufhebung der Grenze von Kunst und Gesellschaftskritik beinhaltet: „Fiction d’un discours sur le réel“. Faye setzt die ‚dritte Kritik‘ in diesem Text mit Bezug auf Mallarmé explizit von der der Vernunft und der Ökonomie ab: 15 Auf diese Notwendigkeit deutet u.a. der Untertitel der von Marie-Christine Balcon herausgegebenen aktuelleren Werkschau: Lire Jean Pierre Faye. L’œuvre narrative entre poésie et philosophie. Un terrain d’aventure (2006). 16 So passt Fayes Schreibweise nicht in die bourdieusche Binäropposition: ‚Essayismus‘ und ‚prophetische Geste‘ vertritt für den französischen Soziologen einen Gegenpol zur eigenen wissenschaftlichen Äquidistanz, denn Bourdieu versuchte, „die Aktualität soweit wie möglich den Anforderungen des wissenschaftlichen Erkennens zu unterwerfen und die Gegenstände zu politisieren, indem man sie verwissenschaftliche.“ (Jurt 2003: 281) <?page no="146"?> Kai Nonnenmacher 122 Ce ne sont pas les larmes et l’attendrissement propres au siècle de la „Raison“ qui nous sont promis, devant le fait actif du récit. Ce sont les armes de la critique, à l’œuvre sur la différence du langage./ […] les armes critiques se tournent maintenant vers ce troisième voile, parmi les „grands transparents“ de la pensée humaine: après l’acte d’application de la raison à ses objets, et l’acte de l’échange économique des objets marchands,/ voici le rapport à l’objet et à l’acte lui-même comme langage rapportant, ou narration échangée, et la façon dont ses transformations mêmes changent l’acte rapporté./ Car ici, on vient de le voir/ „énoncer signifie produire“/ un effet. Cette troisième Critique se place d’elle-même dans la perspective sporadique, ou la diaspora, qui est propre au mouvement du „change des formes“. Ou au transformationnisme. (zit.n. Ronat 1980: 199) 17 Fayes Théorie du récit wird deshalb im Untertitel typographisch unkonventionell bezeichnet als la raison Vernunft critique de narrative Kritik der narrativen l’économie Ökonomie Avantgardistisch-typographische Experimente kennzeichnen Fayes fiktionale Texte: Lücken und Leerstellen, Rhythmisierungen, coups de dés auf der Seite sind in der Théorie du récit sonst nicht zu finden (im literarischen Werk sehr wohl), umgekehrt versteht sich der gesamte Romanzyklus Hexagramme als ästhetisch-politisches Projekt, sechs europäische Städte ineinanderzuschachteln. Das geteilte Berlin wird etwa in L’Ecluse ins himmlische Jerusalem überblendet, und die strukturalistisch geschulte Romanform verweigert sich der Fixierung zu einem Text mit Anfang und Ende, weil immer der offene, schwebende Moment vor der Fixierung, vor der Geschichtswerdung, interessiert (vgl. dazu Albérès 1974). Sprachmaschinerie und Städtemaschinerie beziehen sich aufeinander - „the machinery of language which speaks to us and inscribes itself in us“ einerseits, „the machinery of cities which writes and speaks the history of the world“ (Knapp 1976: 82) andererseits: Chicago, Paris, München, Basel, Berlin und Troja sind zugleich politische und Sprach-Räume. Auf die Gattungswechsel angesprochen, antwortet Faye im Interview mit Knapp mit seiner Begründung einer doppelten Sprachenergie, der poetischen vs. der narrativen: Jean-Pierre Faye: Poetry? the novel? Or rather: prosodiacal power, narrative power? Both are a question of desire. First comes the desire for things. You can mold language around them. Or displace it with them. To mold or to displace; such is language’s dual power. Which is the most direct? „Poetry,“ because it molds language around the things themselves: their shape, their contour. „Narrative,“ because it grasps relationships between things by displacing itself along with them. (Knapp 1976: 74) Die Stadt, die polis, strukturiert als Kreuzungspunkt der Erzählungen bereits in den 1960er Jahren Fayes literarisches Schreiben. Hieraus definiert sich für 17 Jean Pierre Faye titelt: „La ‚troisième critique‘“. <?page no="147"?> Totalitäre Sprachen 1968 123 ihn ein besonderes Verständnis des ‚Engagements‘ (vgl. Knapp 1976: 79) der Protagonisten, ein ästhetisches Engagement. 3. Sprachmuskel: Zur Einheit des Werks von Jean Pierre Faye A un volume conçu primitivement au pluriel, chaque contribution devant exposer, discuter ou commenter selon le code en usage l’une ou plusieurs des activités langagières d’un même auteur,/ dans ce cas/ la poésie/ (pour un quadrangle)/ la pensée ( pour une sociologie des langages) la politique/ la narration/ pour un hexagramme) de J E A N P I E R R E F A Y E ,/ c’est substitué insensiblement un volume duel, où l’auteur „expériente“ un mode du dire nouveau pour lui, un mode du dire qui donne à voir le mouvement même de la pensée, de la divagation mallarméenne. (Ronat 1980: 11) „Publizist, Philosoph, Romancier“ (Schiwy 1971: 74): Jean Pierre Faye übersetzt drei Jahre vor 1968 Hölderlin. Er ist am 19. Juli 1925 geboren und feiert im Juli 1968 seinen 43. Geburtstag, diese Generationenzugehörigkeit sollte man nicht übersehen - Faye war bei Kriegsende 1945 bereits zwanzig Jahre alt. Das Kollektiv Change begründet Revolution auf der Basis strukturaler Konzepte, durch sie wird eine „linguistische, poetologische, ökonomische und sozialphilosophische“ (Schuh 1984: 1) Transformation in Gang gesetzt. Narrative Strukturen werden zugleich als Erzählung und als Handlung gesehen, also als sprachliches wie pragmatisches Ereignis, eine kritische Narration setzt Tiefenstrukturen und Oberflächenstrukturen in ein Wirkungsverhältnis: Geschichte, die berichtet wird, vollzieht und produziert sich hierbei zuallererst selbst. Von der statischen Form auf die permanente Veränderung des Objekts umzuschalten, bedeutet für Faye wie für Jacques Roubaud, die wirklichkeitsverändernde Macht des Erzählens anzuerkennen, eine Haltung, die - wie eine fichteanische Setzung, die materialistische Konsequenzen hat - das Paradoxe eines Ideenmaterials produktiv nutzen will, weil Faye auf die Veränderbarkeit von Wirklichkeit durch Sprache baut. Die Titel der Reihe Change schwanken auch zwischen politischen und strukturellen Titeln: Die Nummern „rupture“ (7), „oppression violence“ (8), „violence“ (9), „Prague poésie front gauche“ (10, die Werbebroschüre aus den siebziger Jahren kündigt hierzu an: „Le double du cercle de Prague: politique et poésie comme ‚Révolution culturelle‘“), „change mondial“ (20) wechseln sich ab mit abstrakteren Konzepten des Wandels: „montage“ (1), „destruction“ (2), „mode“ (4), „mémoire“ (6), „désir“ (12), „traduction“ (14, 19). Fayes Romane im Zyklus des Hexagramme (Entre les rues, La cassure, Battement, Analogues, L’écluse, Les Troyens) kommunizieren die poetologische Überlagerung der politischen Räume und Diskurse. Mallarmés Divagations, 28 Jahre vor Fayes Geburt publiziert, stehen für eine Poetik der Bewegungen, die bei Faye ontologisch ereignishaft werden. <?page no="148"?> Kai Nonnenmacher 124 Als Faye im Jahr 1961 Heideggers Forderung von 1933/ 34 übersetzt, sich aus dem Völkerbund zurückzuziehen, wird dies in Critique zu einer regelrechten zweiten Heidegger-Kontroverse, bis zu Bourdieus Entlarvung der „nichtssagenden sprachlichen Künstlichkeit des ‚ordentlichen Professors‘ als Ausdruck der deutschen Romantik, als Idiom des Blut-und-Boden- Jargons“ (Altwegg 1988: 17f.). Fayes Stellungnahme zur Heidegger-Debatte wählt nicht die Geste des Entlarvens, sondern beginnt mit der eigenen ästhetischen Begeisterung für die deutschen Dichter und Denker. So wie sich Faye immer wieder auf das Epische als Prinzip seiner Arbeit stützt (v.a. auf Dante und Homer), so beginnt er auch als verzauberter Entzauberer gegenüber einem „Volk mit dem Gefühl fürs ‚Absolute‘“ (Faye 2008: 147), wie Faye anlässlich seiner Einladung in die Villa Waldberta am Starnberger See schreibt (vgl. auch Faye 1999): Beginnen wir mit den Bildern. Das Heideggers war für uns, für mich, nicht zu trennen von denen, die wir liebten - Rilke und Hölderlin, Novalis, Husserl und Nietzsche, jener Nietzsche, an dem ich immer mehr entdeckte, wie sehr er „Antinazi“ war, ohne jedoch den Moment seines radikalen Bruchs mit dem „verfluchten Antisemitismus“ klar zu erkennen. Mit ihnen wurden die deutsche Sprachen nah und vertraut und die Sprachen des Mords ausgelöscht. Meine Wahl von Freiburg im Breisgau, um mich diesem vertrauten Bild der Sprache besser zu nähern, war nicht ohne Beziehung zu jenem philosophischen Umfeld. Der im Schwarzwald verbrachte Herbst war ganz mit der Lektüre von Hölderlins Elegien und Hymnen ausgefüllt. Und doch war es in dieser Stadt, die terrassenförmig an den Berg angelehnt ist, so daß sie sich dem Abendland zuwendet, wo mir die Freiburger Studentenzeitung die politischen Reden, die Anrufe des Jahres 1933 bekannt machte und mir ein deutscher Freund ein Exemplar des Bekenntnis anvertraute: das Bekenntnis Martin Heideggers, abgelegt am 11. November in Leipzig. Dort, wo Hitler einen Monat früher den totalen Staat ausgerufen hatte. (Faye 1988: 145) Als „origineller Exponent einer avantgardistischen Literaturtheorie und praxis“ (Schuh 1984: 2) erlebt Faye eine uneinheitliche und ambivalente Rezeption - wie einer der seltenen deutschen Sekundärtexte andeutet -, insbesondere gegenüber seinen teils als esoterisch empfundenen Konzepten. Um Jean Pierre Faye ist es etwas still geworden, auch wenn er selbst für 2009 eine deutsche Neuauflage von L’Ecluse ankündigt. Faye ist in Deutschland, soweit ich sehe, nicht in dem Maße und in der Breite seines Werks rezipiert worden wie andere Weggefährten. Vor dem Hintergrund der Jubiläumspolemiken um ,vierzig Jahre 1968’ ging es mir darum, sein ästhetisches und sein politisches Projekt zusammen zu lesen und den Vorwurf einer Faszination der Achtundsechziger für die Macht des Totalitarismus zu prüfen. Zuletzt wird man den Vorwurf von Götz Aly an ihn zurückgeben müssen. Alys Form der Delegitimierung von 1968 wurde doch erst durch 1968 möglich. In ähnlichem Sinne trifft Sartres eingangs zitierter Vorwurf an die Intellektuellen auch Jean Pierre Faye, dessen faszinierte Abarbeitung an der Wirkmächtigkeit der formules totalitärer Sprache (wie die folgenreiche <?page no="149"?> Totalitäre Sprachen 1968 125 Rede vom ‚totalen Staat‘ des Carl Schmitt-Schülers Erwin Schulhoff) sich positiv gewendet im Transformationskonzept von Change nachweisen ließ. Das darf mit Alys Polemik freilich nicht verwechselt werden. Um abschließend die besondere literarische Erkenntnisqualität von Jean Pierre Fayes Texten zumindest anzudeuten, soll ein physiognomischer Aspekt exemplarisch zeigen, wie auf körperlicher Ebene einige von Fayes sprachkritischen Ideen eine Form (Faye würde sagen: Transformation) erfahren. Fayes Physiognomie der Stadt Berlin bringt eine politische Topologie mit ausgefeilter Lichtmetaphysik zusammen, in der das Dunkle immer zugleich das Nicht-Gewusste, das verrätselte Schweigen, aber auch in der schleusenhaften Anlage der Stadt die politische Teilung und die mögliche Zirkulation darstellt: Il lui arrive bientôt de songer à la ville d’où elle vient, et aux rues, parcourues bien entendu de corps vivants et vêtus, aux maisons qui sont implantées en tous sens, parcourues de corps mobiles et moins habillés ou même tout à fait nus, épais ou agiles, déformés ou fort bien limités, par cette ligne incertaine qui a forme pour nom. Elle voit, mais comment voit-elle (puisqu’elle voit juste la banquette sombre devant elle quand elle rouvre les yeux), elle voit un mur devant elle fraîchement reconstruit, aveugle et nu, traversé seulement en son milieu par un long tuyau fraîchement peint lui aussi, surmonté par un champignon de fer tout en haut, qui dépasse le toit un petit peu, et se découpe bien sur le ciel. Sans doute ne le raconte-t-elle pas ainsi: elle le voit tout d’un coup, mur et aussi tuyau - mais le conte le dit en son lieu, ralentissant tout ce qu’il dit, et elle suit elle-même des yeux ce ralentissement non sans s’étonner, et pour un peu elle écarquillerait les yeux: pour avoir vu les choses si nettement. Car ce qu’elle voit est aussi lent que s’il y avait des mots qui glissaient tout au long. (Faye 1964: 13) Dann, in seiner Théorie du récit, widmet Faye ein ganzes Kapitel, „Figures“, nur den Gesichtern der von ihm aufgesuchten reaktionären Protagonisten: ‚Überlebensgesichtern‘, an denen noch Wortfetzen totalitärer Narration haften. Carl Schmitts leutseliges Gesicht, Ernst Jünger hinter der Maske herzlich-kalter Höflichkeit zurücktretend: „(Visage au sourire élégant, attitude correcte d’officier, démarche raide de grand blessé pensionné d’idéologie.)“ (Faye 1972b: 120) Hugo Fischers gerunzeltes, brummelndes Gesicht. Gerhard Günther, das Gesicht eines Pastors mit weißen Haaren. Ernst Niekisch, blind mit kahlem Schädel. Ernst Forsthoff, Physiognomie eines Professors, der voller List einen Examenskandidaten anhört. Möglicherweise sind es solche Stellen, die über Fayes Generation und die Halbwertszeit von Theoriebildung hinaus Bestand haben. Körper und Sprache sind in dieser Physiognomie verbunden, deshalb spielt Faye mit der Doppeldeutigkeit der langue als Sprachzeichen und Zungenmuskel, die er an anderer Stelle (z.B. Faye 1972a: 70) in Bildern der Körperbewegung und des Lichts ausgeführt hatte: „la langue est ce muscle fragile et flexible, attaché sur les bords du visage d’homme, et capable d’articuler matériellement, comme monde, les différences des choses.“ (Faye 1972a: 135f.) <?page no="150"?> Kai Nonnenmacher 126 Literaturverzeichnis Ulrike Ackermann, Sündenfall der Intellektuellen. Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute, Stuttgart 2000. René Marill Albérès, La thématique de la Ville et L’Hexagramme de Jean Pierre Faye, in: ders., Littérature, horizon 2000, Paris 1974, 63-81. Jürg Altwegg, Heidegger in Frankreich - und zurück? , in: ders. (Hrsg.), Heidegger- Kontroverse, Frankfurt a.M. 1988, 14-25. Götz Aly, Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück, Frankfurt a.M. 2008. Marie-Christine Balcon (Hrsg.), Lire Jean Pierre Faye. L’œuvre narrative entre poésie et philosophie. Un terrain d’aventure, Paris 2006. David Bosshart, Politische Intellektualität und totalitäre Erfahrung. Hauptströmungen der französischen Totalitarismuskritik, Berlin 1992. Bernard Brillant, Les clercs de 68, Paris 2003. Michael Scott Christofferson, French Intellectuals against the Left. The Antitotalitarian Moment of the 1970’s, New York 2004. Patrick Combes, La littérature & le mouvement de mai 1968. Ecriture, mythes, critique, écrivains, 1968-1981, Paris 1984. Jean Pierre Faye, L’écluse, Paris 1964. Jean Pierre Faye, Théorie du récit, Paris 1972. (1972a) Jean Pierre Faye, Langages totalitaires, Paris 1972. (1972b) Jean Pierre Faye, La ‚troisième critique‘, in: Mitsou Ronat, Faye, Paris 1980. Jean Pierre Faye, Heidegger, der Staat und das Sein, in: Jürg Altwegg (Hrsg.), Heidegger-Kontroverse, Frankfurt a.M. 1988, 145-155. Jean Pierre Faye, Le langage meurtrier, Paris 1996. Jean Pierre Faye, Jenseits der Grenzen. Rousseau - Novalis - Nietzsche, in: Wolfgang Müller-Funk (Hrsg.), Nationalismus und Romantik, Wien 1999. Jean Pierre Faye, Jean Pierre Faye, in: Jerôme Garcin (Hrsg.), Le Dictionnaire. Littérature française contemporaine, Paris 2004 [1988], 184-196. Jean Pierre Faye, Wachsen der Welt, in: Lettre international, 81, Jubiläumsheft 2008, 147-150. Jan Feddersen, Götz Alys ‚Unser Kampf‘. Ein hässliches Spiegelbild, in: taz, 25.2.2008, 4. Philippe Forest, Jean Pierre Faye, in: Jacques Julliard (Hrsg.), Dictionnaire des intellectuels français, Paris 2002, 565-566. Dorothea Hahn, Das Phantom einer heroischen Politik, in: taz, 5.12.2002. Michel Houellebecq, L’homme de gauche est mal parti, in: Le Figaro, 6.1.2003, 1 u. 13. Laurent Joffrin, Sommes-nous tous devenus réacs? , in: Nouvel Observateur, 21.11.2002. Josef Jurt, ‚Le silence des intellectuels‘? Zu einer Debatte im Frankreich Mitterands, in: Hanspeter Plocher, Bernadette Malinowski (Hrsg.), Esprit civique und Engagement. Festschrift für Henning Krauß zum 60. Geburtstag, Tübingen 2003, 277-293. Bettina Knapp, Jean Pierre Faye, in: dies., French novelists speak out! , New York 1976, 73-92. Auch abgedruckt in: L’Esprit créateur, XIII(1)/ 1973, 71-83. Aude Lancelin, L’hégémonie intellectuelle de la gauche, in: Nouvel Observateur, 21. November 2002. Albert Léonard, La crise du concept de littérature en France au XX e siècle, Paris 1974. Daniel Lindenberg, Le rappel à l’ordre. Enquête sur les nouveaux réactionnaires, Paris 2002. <?page no="151"?> Totalitäre Sprachen 1968 127 Albrecht von Lucke, 1968 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht, Berlin 2008. Danielle Marx-Scouras, The Cultural Politics of Tel Quel. Literature and the Left in the Wake of Engagement, Pennsylvania 1996. Maurice Partouche (Hrsg.), Jean Pierre Faye, Paris 1980. Manfred Pflügge, Die Papiertiger fauchen wieder, in: Freitag, 13.12.2002. Michel Pierssens, Jean Pierre Faye: Vers une sémantique de l’histoire, in: L’Esprit créateur, XIV(4)/ 1974, 369-375. Jean-François Revel, La tentation totalitaire, Paris 1976. Jean-Michel Rey, La naissance de la poésie. Antonin Artaud, Paris 1991. Andreas Rödder, Der Not gehorchend? Die 68er mal in kritisch-distanzierter, mal in freudlos-orthodoxer Perspektive, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.3.2008, Literaturbeilage. Mitsou Ronat, Faye, in: Cahiers Cistre 7, 1980, 11. Jean Paul Sartre, Situations VIII. Autour de 1968, Paris 1972. Hans Manfred Schuh, Jean Pierre Faye, in: Wolf-Dieter Lange (Hrsg.), Kritisches Lexikon der romanischen Gegenwartsliteraturen, Tübingen 1984. Mary Lewis Shaw, Performance in the Text of Mallarmé, University Park, Pennsylvania 1993. Albert Thibaudet, La poésie de Stéphane Mallarmé, Paris 1959. Jörg Uthmann, Die neuen Reaktionäre. Richtungskämpfe zerfleischen die französische Linke, in: Die Welt, 12.12.2002. Rudolf Walther, Pflastersteine. Ein neues Pariser Manifest, in: Frankfurter Rundschau, 11.12.2002. Johannes Wetzel, Die Entmythologisierung des Mai 1968, in: Berliner Zeitung, 23.11.2002. André Wurmser, Panorama du mois de mai, in: Europe 470-472/ 1968, 28-31. <?page no="153"?> Konstanze Baron Die Revolutionen der Psyche und die Aktualität von 68: Julia Kristevas Theorie der Revolte 1. Das (Ge-)Denken der Revolte Anlässlich des dreißigsten Jahrestages von Mai 1968 veröffentlichte die französische Schriftstellerin, Literaturtheoretikerin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva unter dem Titel L’avenir d’une révolte eine Aufsatzsammlung, in der sie sich mit dem Phänomen der Revolte beschäftigt. Drei Jahrzehnte nach 68 steht dabei für sie weniger das Ereignis selbst als vielmehr die verschiedenen Formen seiner Kommemoration im Vordergrund. Im Vorwort beschreibt Kristeva die Haltung, die sie selbst bezüglich des markanten Jubiläums einnimmt: Tandis qu’on célèbre les événements de Mai 1968, les uns en écrivant un roman, les autres en dénonçant l’imposture, j’écoute les analysants frayer dans des mots usés leur éternel retour. Les enragés ont repris le chemin de la révolte intime. C’est le même, celui des réalistes qui veulent l’impossible. (Kristeva 1998: 11) Noch bevor sie ihre eigene Haltung präzisiert, wird hier deutlich, was die (Erinnerung an die) Revolte für Kristeva erst einmal nicht ist: Sowohl die romantische Verklärung (‚écrire un roman’) als auch die Kritik des falschen Bewusstseins (‚dénoncer l’imposture’) werden von ihr verworfen. Gegenüber diesen beiden Haltungen oder Einstellungen zu Mai 1968 wählt Kristeva einen anderen, dritten Weg: Sie beschreibt sich in der Rolle der Analytikerin, die gebannt den aufgewühlten und aufwühlenden Worten ihrer PatienntInnen lauscht. Scheinbar abgewandt von den politischen Kontroversen der Vergangenheit und ihrem nicht minder kontroversen Nachhall in der Gegenwart konzentriert sie sich auf die diskursive Praxis der Psychoanalyse und die leidensvollen Erfahrungen, die darin zum Ausdruck kommen. Die Tatsache, dass Kristeva im Vorwort eines Textes zur ‚Zukunft der Revolte’ der Psychoanalyse einen derart dezidierten Vorrang vor anderen Formen der Auseinandersetzung mit 68 erteilt, mag irritieren. Was sich hier bekundet, so könnte man meinen, ist eine mutwillige und beinahe ignorant zu nennende Abwendung von der Politik und dem Politischen, die einer Theoretikerin von ihrem Format eigentlich schlecht ansteht. 1 Dieser 1 Diese Ablehnung der Politik bzw. des Politischen ist jedoch durchaus typisch für Kristeva: Unter allen post-strukturalistischen DenkerInnen ist sie diejenige, die am <?page no="154"?> Konstanze Baron 130 Vorwurf, so man ihn denn machen wollte, geht jedoch fehl: Denn tatsächlich verrät das Zitat, dass für Kristeva selbst gar kein Gegensatz besteht zwischen der Praxis der Psychoanalyse einerseits und der Praxis der Revolte andererseits. Im Gegenteil: Die Psychoanalyse, so wird unterstellt, ist mit der Revolte vergleichbar, wenn nicht gar identisch („C’est le même“); begrenzt auf den überschaubaren Bereich der Intimität („révolte intime“) weist sie nichtsdestotrotz unübersehbare Parallelen zu den Revolten der Vergangenheit auf. Auch hier geht es nämlich um Wut, um Sehnsüchte und (verlorene) Ideale, auch hier geht es um das spannungsgeladene Verhältnis zwischen einem konstruktiven und einem kritischen Umgang mit den Mächten der Vergangenheit. Um Kristevas These von der Psychoanalyse als einer „révolte intime“ zu verstehen, muss man sie in ihrem Zusammenhang sehen. In einer Reihe von Schriften, Vorträgen und Seminaren, die allesamt in den späten 90er Jahren entstanden sind, beschäftigt sich Kristeva mit der Frage nach der Aktualität der Revolte. „Quelle révolte aujourd’hui“ ist eine ihrer Interventionen zu diesem Thema überschrieben (vgl. Kristeva 1996: 7). Schon die Formulierung zeigt, dass die Revolte für Kristeva kein zeitenthobenes, überhistorisches Konzept ist, sondern dass sie in einem jeweils spezifischen historischen Kontext zu verorten ist. Jede Zeit hat ihre eigene Revolte, so kann man die theoretische Grundüberzeugung Kristevas zusammenfassen. Doch die Historizität der Revolte anzuerkennen impliziert zugleich, dass sich über die Revolte nicht abstrakt spekulieren lässt. Vielmehr bedarf es einer konsequenten Auseinandersetzung mit den konkreten Gegebenheiten der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Aktualität. Auf diese Aktualität nun gibt die Psychoanalyse eine Antwort: Die Psychoanalyse steht bei Kristeva für eine zeitgemäße Form der Revolte, also für eine Revolte, die den Bedingungen unserer heutigen Gesellschaften entspricht und darauf reagiert. Kein Wunder also, dass sie sich so plakativ von der Auseinandersetzung um 68 ab- und ihren PatientInnen zuwendet: Die Revolte anders zu deuten als 68 (nämlich als „révolte intime“ oder als psychoanalytischer Diskurs) heißt für sie nichts anderes, als der historischen Differenz (dem Unterschied zwischen dem Damals und dem Heute) im Denken der Revolte Rechnung zu tragen. Doch damit nicht genug: Kristevas Beitrag zur Aufarbeitung der Revolte beschränkt sich nicht darauf, der Revolte von 68 eine andere, zeitgemäßere Form der Revolte gegenüberzustellen. Zwar geht es Kristeva tatsächlich primär um die Definition einer aktuellen Form der Revolte, doch die spezifische Aktualität der Psychoanalyse besteht nun - paradoxerweise -gerade darin, dass sie sich intensiv mit der Vergangenheit beschäftigt. Die Psychoanalyse ist eine diskursive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, im wenigsten die politische Auseinandersetzung gesucht hat und die sich am stärksten gegen die politische Vereinnahmung ihrer Schriften durch Dritte zur Wehr gesetzt hat. Besonders repräsentativ ist in diesem Zusammenhang ihre Einstellung zu Feminismus und Geschlechterpolitik. Vgl. dazu Gubermann (1996: 95 ff.). <?page no="155"?> Julia Kristevas Theorie der Revolte 131 Zuge derer der ‚Sinn’ (d.h. die Bedeutung und die Ausrichtung) der Vergangenheit in Frage gestellt und neu verhandelt wird. Die Psychoanalyse, so wie Kristeva sie versteht, impliziert eine permanente Umwälzung des Bewusstseins, eine Umwälzung, die festgefahrene Strukturen aufbricht und die die menschliche Psyche immer neuen Sinnes-Konfigurationen unterwirft. In dieser Eigenschaft als ‚retour-retournement-déplacement-changement’ der Vergangenheit wird die Psychoanalyse gar zum Wegweiser einer neuen Politik: […] dans la mesure où il s’agit d’une mutation du rapport de l’homme au sens, cette révolte […] concerne intrinsèquement la vie de la cité, et elle a par conséquent des implications profondément politiques: elle pose en fait la question d’une autre politique, celle de la conflictualité permanente. (Kristeva 1997: 19) Als permanente Infragestellung des Sinns (der Vergangenheit) birgt die Psychoanalyse die Möglichkeit einer stets zu erneuernden Einbindung des Konflikts. Darin liegt, so Kristeva, ihr eigentlich ‚revolutionärer’ Gehalt. Vor diesem Hintergrund wird einsichtig, warum wir uns auf den folgenden Seiten mit der Psychoanalyse als einer Revolution des Bewusstseins beschäftigen werden: Mit Hilfe der Psychoanalyse entwickelt Kristeva die Vorstellung einer hermeneutischen Kultur, die es erlaubt, nicht nur die Ereignisse von 68, sondern auch deren Reflexion im Bewusstsein der Subjekte anders zu denken. Hierin liegt, wie wir zeigen wollen, das metatheoretische Interesse ihrer Schriften zur Revolte: Diese werfen die Frage auf, was es heißen kann, in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dem ‚Geist der Revolte’ treu zu bleiben. Die Bedeutung dieser Texte besteht weniger darin, dass sie eine konkrete Interpretation der Ereignisse von 1968 vorlegen, als dass sie eine Theorie der Interpretation entwickeln, die sich am Leitbegriff der ‚Revolte’ orientiert. Natürlich handelt es sich dabei um eine ganz andere Revolte als die, die wir gemeinhin mit dem Kürzel von ,68’ bezeichnen: die Psychoanalyse ist kein kollektives Erlebnis und schon gar keine politische Aktion, sondern eine intime diskursive Praxis, in der es um die Konstitution und Verwerfung von Bedeutungen geht. Doch gerade als eine solche Aushandlung von Bedeutungen wird die Psychoanalyse bei Kristeva zum Modell einer neuen Kultur der Erinnerung, die - wie noch genauer auszuführen sein wird - im Umgang mit der Vergangenheit einen Mittelweg zwischen den beiden Extremen von Idealisierung und Verwerfung erprobt. Zu zeigen wird sein, dass es für Kristeva nicht allein darum geht, eingedenk der zeitlichen Differenz eine Alternative zur 68er-Revolte zu präsentieren, sondern diese Differenz theoretisch so zu reflektieren, dass sie in unsere Interpretation der Vergangenheit Eingang findet. Sprich, es geht darum, das Denken (der Revolte) selbst zu ‚revolutionieren’. Das, und nicht weniger, ist der Einsatz der Revolte bei Kristeva. <?page no="156"?> Konstanze Baron 132 2. Der Einsatz der Revolte: Die (Psycho-)Pathologien der Gegenwart Kristevas Überlegungen zum Begriff der Revolte stehen nicht für sich, sondern sie werden artikuliert in einem größeren Zusammenhang, in dem sie sich mit der Legitimation der Psychoanalyse in der heutigen Gesellschaft auseinandersetzt. „A quoi bon des psychanalystes en des temps de détresse qui s’ignorent? ”, fragt sie und zeigt damit, dass sie sich nicht damit zufrieden geben will, im sprichwörtlichen stillen Kämmerlein ihrer analytischen Tätigkeit nachzugehen. Die analytische Praxis ist vielmehr eingebunden in eine übergreifende Reflexion über den gesellschaftlichen Nutzen und den Stellenwert der Psychoanalyse selbst. Denn auch wenn Kristeva sich der aktiven Teilnahme an politischen Debatten weitgehend enthält, so bleibt sie dennoch eine sehr genaue Beobachterin unserer Gesellschaft: Durch das Prisma der Einzelanalysen gerät für die Analytikerin der Zustand der Gesellschaft als ganzer in den Blick - ihre Befindlichkeiten, ihre Malaisen und ihr mal mehr, mal weniger verstecktes Unbehagen an einer spezifischen Form der Zivilisation. 2 Die intensive Beschäftigung mit den Krankheiten der Seele, mit den Psychopathologien der Gegenwart, erlaubt es ihr daher, einen entlarvenden Blick auf die geistige Verfassung der Zeit zu werfen und - auf dem Umweg über die ‚nouvelles maladies de l’âme’ - die spezifischen Probleme dieser Gesellschaft zu erkennen. 3 Die Psychoanalyse erweist sich somit für Kristeva als ein privilegierter Zugang zu dem, was man etwas pathetisch den ‚Geist der Zeit’ nennen könnte. Dass es um diesen ‚Geist’ zum jetzigen Zeitpunkt nicht gerade bestens bestellt ist, daraus macht Kristeva in ihren Texten keinen Hehl: „L’expérience quotidienne semble démontrer une réduction spectaculaire de la vie intérieure.” (Kristeva 1993: 15) Das Krankheitsbild, das Kristeva als grundlegendes Merkmal unserer Epoche ausweist, besteht in dem Verschwinden jener menschlichen Dimension, die man gemeinhin als ‚die Seele’ bezeichnet. Die Seele gerät unter den Bedingungen des (post-)modernen Lebens zunehmend in Bedrängnis: Les conditions de vie moderne, avec le primat de la technique, de l’image, de la vitesse, etc. induisant stress et dépression, ont tendance à réduire l’espace psychique et à abolir la faculté de représentation psychique. La curiosité psychique qu’on croit naturelle se révèle de moins en moins naturelle, elle cède devant l’exigence d’une prétendue efficacité… (Kristeva 1998: 28) 2 Explizit nimmt Kristeva hier Bezug auf die kultur- und zivilisationskritischen Schriften Sigmund Freuds (vgl. Freud 1996). Ihre eigenen Texte zur Aktualität der Psychoanalyse sind als eine Fortführung dieses kulturkritischen Unternehmens zu verstehen. 3 Kristevas Überlegungen stehen damit in Übereinstimmung zu dem, was Axel Honneth als die zentrale Aufgabe der Sozialphilosophie definiert, nämlich die Diagnose der gesellschaftlichen Missstände und Fehlentwicklungen aus der Perspektive des nach Selbstverwirklichung strebenden Individuums (vgl. Honneth 1994: 9ff.). <?page no="157"?> Julia Kristevas Theorie der Revolte 133 Hatte man lange geglaubt, die ‚Seele’ sei ein quasi-natürliches Vermögen des Menschen, um dessen Fortbestand wir nicht zu bangen brauchen, so zeigt sich nun, wie prekär und fragil die Seele wirklich ist. Die seelische Begabung des Menschen, so Kristeva, ist im Verkümmern begriffen. Die ‚curiosité psychique’, also die Fähigkeit des Menschen, sich aufgeschlossen gegenüber seiner Umwelt und seiner Mitmenschen zu verhalten, droht, sofern man ihren Ausführungen glauben will, unter den aktuellen Lebensbedingungen zu einem curiosum, d.h. zu einem begrenzten und für immer abgeschlossenen Kapitel in der Geschichte der Menschheit zu werden. Die Diagnose, die Kristeva unserer Zeit stellt, ist also durchaus alarmierend. 4 Doch wie kommt sie zu diesem drastischen Befund? Was steht hinter der These vom Verkümmern der menschlichen Seelenkapazität? Zwei gesellschaftliche Faktoren spielen hier eine Rolle: So ist zum einen die Entwicklung der politischen Ordnung in den post-industriellen und postkommunistischen Demokratien des Westens zu nennen. Diese Ordnung zeichnet sich Kristeva zufolge durch ein Verschwinden der traditionellen Mächte aus. Zwar erlischt die Macht nicht vollkommen, aber sie wird unsichtbar und diffundiert in andere, der Macht bislang entzogene Lebensbereiche. An die Stelle der vormals offen ausgeübten Autorität treten subtile Strategien der Disziplinierung und der ,Normalisierung’, die allein schon deshalb besonders wirksam sind, weil sie im Verborgenen operieren: En fait, si nous ne sommes pas punis, nous sommes normalisés: à la place de l’interdit ou du pouvoir introuvables se multiplient des punitions disciplinaires et administratives qui répriment, que dis-je, qui normalisent tout le monde. (Kristeva 1996: 16) Die Normalisierung geht jedoch zwangsläufig mit neuen und nicht minder subtilen Formen der Transgression einher. 5 Die Ordnung, die unsere Gesellschaften regiert, provoziert mehr oder weniger direkt ihre eigene Verkehrung: „[C’est-à-dire que] le nouvel ordre mondial normalise et détourne, [qu’] il est à la fois normalisateur et pervertible.” (Kristeva 1996: 17) Noch wichtiger als diese politische Diagnose scheint für Kristeva jedoch eine andere Beobachtung zu sein: Mit den neuen Ordnungen der (Post-) Moderne verändert sich nicht nur die Qualität der Macht, sondern auch die der Kultur. Als Inbegriff des ‚Lebens des Geistes’ ist die Kultur von den Pathologien der Gegenwart besonders affiziert. Zwar hat auch die Kultur 4 Dass der Alarmismus selbst ein integrativer Bestandteil der Kulturkritik ist, zeigt Arnd Pollmann in seinen Ausführungen zu dem, was er ‚hyperbolische’ Kulturkritik nennt. Diese zeichnet sich durch den Gestus rhetorischer Übertreibung aus (vgl. Pollmann 2005: 50ff.). Dass Kristeva selbst diese Tradition bewusst reflektiert und aneignet, wird in einer Bemerkung deutlich, in der sie auf ihre Reputation als jemand anspielt, „qui se plaît à dramatiser et noircir l’actualité” (Kristeva 1997: 9). 5 Kristeva schließt hier eindeutig an das Vokabular und Analysedispositiv von Michel Foucaults Schriften zur Analytik der Macht an; vgl. dazu u.a. Foucault (1975). <?page no="158"?> Konstanze Baron 134 nicht aufgehört zu existieren, aber sie verändert sich unter dem Druck des Marktes und fällt einer schleichenden Ökonomisierung zum Opfer: Ihre ‚Produkte’ werden zu Verkaufseffekten degradiert, während die Subjekte zu passiven Konsumenten eines kulturellen ‚Angebots’ verkommen. So überziehen insbesondere die Medien die Menschen mit einer Flut von künstlichen Bildern, die sie weder verarbeiten noch verinnerlichen können. Im Anschluss an Guy Debord (1987) formuliert Kristeva ihre eigene Version der „Société du spectacle“: Im Angesicht der Bilderflut regrediert die menschliche Psyche zum ‚écran’, d.h. zu einem flimmernden Abbild der Mediatisierungen des Marktes. Gesättigt und überreizt von äußeren Stimulationen verliert die Psyche die Möglichkeit, eigene Bilder und Gedanken zu produzieren. Die ‚neuen Krankheiten der Seele’ finden daher, wie Kristeva in der Publikation gleichen Namens betont, ihren gemeinsamen Nenner allesamt in der Unfähigkeit kreativen psychischen Gestaltens: Par-delà les différences de ces nouvelles symptomatologies, un dénominateur commun les réunit: la difficulté à représenter […]. […] Les nouvelles maladies de l’âme sont des difficultés ou des incapacités de représentation qui vont jusqu’à mettre à mort l’espace psychique. (Kristeva 1993: 18) In ihrer derzeitigen Verfassung als ‚culture-divertissement’, ‚culture- „show“’, ‚culture-„performance“’ (vgl. Kristeva 1997: 9) ist unsere Kultur weit davon entfernt, eine Gegen-Macht zu den Auswirkungen der Disziplinierung bereitzustellen; im Gegenteil, was sie zu bieten hat, ist allenfalls die hypnotische Wirkung einer Droge, die uns die Banalität unseres disziplinierten und normalisierten Alltags inmitten von noch mehr Banalitäten vergessen lässt: Vor diesem - wie es scheint - reichlich düsteren Hintergrund präzisiert sich nun auch Kristevas Vorstellung von der Psychoanalyse nicht nur als diagnostischem, sondern auch als therapeutischem Verfahren. Was Kristeva fordert, ist eine neue ‚culture de la révolte’, die sich gegen die kulturelle Verrohung des modernen Menschen zur Wehr setzt und seinen ‚Geist’ mit neuem Leben zu erfüllen vermag. Die Chance für eine solche ‚Kultur’ der Revolte, die auch eine Kultur des Geistes sein muss, sieht sie in der Psychoanalyse gegeben: Deren Aufgabe wird es sein, im Angesicht der bedrohlichen Entwicklungen der zeitgenössischen Gesellschaft einen Raum (und eine Zeit) zu erstreiten für das, was Kristeva ‚Seele’ nennt: ein sinn-erfülltes menschliches Innen- und Zusammenleben, das mit der Fähigkeit zum Genuss (jouissance) auch die Fähigkeit zum Produzieren von kulturellem Sinn restituiert. Mit anderen Worten: Es gilt, die verheerende Eindimensionalität (Marcuse 1987) des modernen Menschen zu bekämpfen, die die menschliche Psyche zu einem Effekt der Macht degradiert und im Getöse des Spektakels unsere geistigen Fähigkeiten verstummen lässt. <?page no="159"?> Julia Kristevas Theorie der Revolte 135 3. Die Revolutionen des Bewusstseins: ‚hors-temps’ und ‚pardon’ Die Hoffnungen, die Kristeva mit der Psychoanalyse verknüpft, sind also gleichermaßen bescheiden und von enormem Anspruch: bescheiden, weil sie von der Einsicht leben, dass heute keine ‚großen’ Revolten mehr möglich sind. Im Kontext einer Gesellschaft des Spektakels verschiebt sich der Fokus der Revolte in den Bereich des Intimen. Alles was heute noch möglich ist, sind diese kleinen Revolten der Intimität. Doch was auf den ersten Blick wie ein resignativer Rückzug ins Private aussieht, ist in Wahrheit ein überaus ambitioniertes theoretisches und kulturelles Projekt. Denn wenn man sich die Aporien der Gegenwart vor Augen führt, wird deutlich, um was es hier geht, nämlich um das (Über-)Leben des Geistes bzw. des Menschen als geistigem Wesen. So heißt es bei Kristeva: Sans doute est-ce peu de chose, mais êtes-vous sûr que nous n’avons pas atteint un point de non-retour, à partir duquel il nous faudrait retourner aux petites choses: révoltes infinitésimales, pour préserver la vie de l’esprit et celle de l’espèce? (Kristeva 1997: 10) Was auf dem Spiel steht ist also nichts Geringeres als der Fortbestand der menschlichen Art - womit hier sicher nicht die biologische Reproduktion der Spezies Mensch gemeint ist, sondern die Bewahrung unserer subjektiven Fähigkeiten bzw. unserer spezifisch menschlichen Fähigkeit, Subjekt von Repräsentationen zu sein. Die Bescheidung auf die ‚kleinen Dinge’, die Kristeva in ihren Texten wiederholt anmahnt, erweist sich als das Gebot der Stunde, wenn man bedenkt, dass heute selbst so scheinbar selbstverständliche, in Wirklichkeit jedoch kulturell bedingte Fähigkeiten wie psychische Neugier und Kreativität nachhaltig gestört sind. Die Frage, die sich nun stellt, ist jedoch, inwiefern die Psychoanalyse dem ungeheuren Anspruch, das (Über-)Leben der Seele zu sichern und den Fortbestand unserer geistigen Fähigkeiten zu garantieren, gerecht werden kann. Was ist es, das die Psychoanalyse für dieses gewaltige Unternehmen qualifiziert? Und wie kommt es, dass ausgerechnet die Psychoanalyse bei Kristeva zu einer Hoffnungsträgerin für eine im emphatischen Sinne ‚menschliche’ Zukunft werden kann? Um diese Frage zu beantworten, muss man Kristevas Überlegungen bis an den Ursprung der Psychoanalyse folgen - genauer gesagt, bis zum Moment ihrer Gründung durch Sigmund Freud. Mit Freud verbinden sich für Kristeva zwei fundamentale theoretische Neuerungen, die das westliche Denken regelrecht auf den Kopf gestellt haben: nämlich einerseits die Entdeckung einer bestimmten Form der Zeitlichkeit, die sich der Negativität der Triebe öffnet und die Freud unter dem Namen des ‚Zeitlosen’ (le hors-temps) fasst, sowie andererseits die Konzeption einer kulturellen ‚Aufhebung’ dieser Negativität in einer Situation, die durch die soziale Ökonomie des Transfers geprägt ist (le pardon). Beide Dynamiken, die durch die Psychoanalyse befördert bzw. begün- <?page no="160"?> Konstanze Baron 136 stigt werden, zeichnen in ihrer komplizierten Komplementarität für die Lebendigkeit der Psyche, also für den Fortbestand der seelischen Kapazität, verantwortlich. Sie erfordern daher, dass wir uns noch etwas eingehender mit ihnen beschäftigen. 3.1 Le ‚hors-temps’ oder die Macht des Negativen Dass Freud das Unbewusste wo nicht er-, so doch zumindest ge-funden hat, mag als Gemeinplatz dahingestellt sein. Die Entdeckung des Unbewussten als solchem ist für Kristeva jedoch nicht das entscheidende Moment der freudschen Innovation. Zwar betont auch sie mit unablässigem Nachdruck die Bedeutung einer für die Theorie und Praxis der Psychoanalyse konstitutiven Dichotomie (die sie in begrifflicher Abgrenzung von Freud als ‚hétérogénéité pulsion/ sens, énergétique/ herméneutique’ bezeichnet), doch die eigentliche Revolution des freudschen Denkens liegt in ihren Augen woanders, nämlich in einer neuen Konzeption der Zeit bzw. der Zeitlichkeit (vgl. Kristeva 1997: 45). Nun gibt sich die Zeitlichkeit der Psychoanalyse zwar auf den ersten Blick eher konventionell: Wie bei anderen westlichen Denkern (Bergson, Heidegger), so ist auch bei Freud die Vorstellung der Zeit eng an das menschliche Bewusstsein gebunden. Der lineare Verlauf der Zeit und das menschliche Bewusstsein sind engstens miteinander verbunden. Doch genau diese Linearität der Zeit und des Bewusstseins wird durch die Psychoanalyse in Frage gestellt: Statt in die Zukunft richtet sich der Blick des Analysanden in die Vergangenheit, wenn er oder sie sich auf die Erlebnisse der Vergangenheit zurückbeugt und sie im Geiste wieder lebendig werden lässt. Die Psychoanalyse kehrt die lineare Zeit um, wenn sie dem Subjekt ermöglicht, in seine Vergangenheit einzutauchen und seine Traumata erneut zu erleben. In diesem Sinne ist das zeitliche Bewusstsein der Psychoanalyse von einem ‚retour’ (im doppelten Sinne von Umkehr in der Zeit und Wiederkehr der verdrängten Bewusstseinsinhalte) geprägt. Nun ist es so, dass diese ‚Umkehr’ des Denkens oder die Idee des Denkens als ‚Umkehr’ der westlichen Geistesgeschichte keineswegs fremd ist. Kristeva führt Platon, aber auch die Theologie des Augustinus an, um zu zeigen, dass der ‚retour sur soi’ immer schon ein konstitutiver Teil der westlichen Philosophie und Mystik war: In der meditatio fragt das Subjekt nach seinem Ursprung und nach dem Sinn seines Daseins (vgl. Kristeva 1997: 11ff.). Die Umkehr des Denkens war seit jeher Teil einer quasimystischer Selbstbefragung und Selbstinfragestellung des Subjekts. In genau diese Tradition stellt Kristeva nun die Psychoanalyse, wenn auch mit einem gewichtigen Unterschied. Denn wo die christliche Theologie und Philosophie auf einen ‚Grund’ des Seins zu stoßen glauben, da fällt das Subjekt der Analyse ins Bodenlose: Le ,retour rétrospectif’ - c’est-à-dire le questionnement du sujet connaissant sur soi-même et sur sa vérité - conduit celui-ci rien de moins qu’une familiarité avec la psychose. Car la force néantisante […] bute[nt] sur une réalité psychique qui <?page no="161"?> Julia Kristevas Theorie der Revolte 137 met à mal la conscience et l’expose au battement de l’être. Effacement des frontières sujet-objet, assaut de la pulsion - la langue se faisant ,tonalité’, ‚mémoire de l’Etre’, musique du corps et de la matière. (Kristeva 1997: 16) Die Konfrontation mit der Vergangenheit führt das Subjekt zu einer Konfrontation mit einer ‚Ordnung’ des Seins (biologische Impulse, Energien, Triebe), die den Strukturen des Bewusstseins gänzlich heterogen ist. Statt seinen ‚Sinn’ in der Umkehr zu finden, sieht das Subjekt der Analyse seinen Sinn vielmehr radikal von den Impulsen und Energien seiner biologischsinnlichen Natur dezentriert und in Frage gestellt. In der Revolte des Bewusstseins macht das Subjekt also die Erfahrung - sofern man hier strictu sensu noch von einer Erfahrung sprechen kann - einer radikalen Differenz. Statt zu sich selbst zu finden, gerät es an die Schwelle seines Bewusstseins, oder, wie Kristeva es formuliert, an den Rand des Wahnsinns. Es macht die Bekanntschaft einer bedrohlichen Negativität, die seine Sinn-Strukturen in Frage stellt oder gar zerstört. Genau diese Negativität, die keine Negativität mehr innerhalb des Denkens, sondern eine Negation des Denkens bedeutet, nennt Kristeva das Zeitlose (le hors-temps). In der Entdeckung dieses Zeitlosen liegt ihrer Auffassung nach die wahre Sprengkraft der Psychoanalyse begründet: Nous n’avons peut-être pas réellement mesuré cette avancée freudienne vers le hors-temps, qui n’a rien à voir avec la croyance dans une vie au-delà, un temps au-delà, une éternité au-delà, mais inscrit l’œuvre (le travail) de la mort comme une temporalité hétérogène au temps linéaire (zeit-los), ouvrant ainsi chaque manifestation humaine (acte, parole, symptôme), au-delà de la conscience, vers la continuité inconscient-prépsychique-somatique-physique. (Kristeva 1997: 50) Das Zeitlose, das sich aus der Atemporalität der Triebe und der Sinne speist, fügt sich nicht der Linearität des Bewusstseins und stellt dessen sinnbehaftete Strukturen von Grund auf in Frage, indem es die destruktive Energie der Triebe und Sinne zum Vorschein kommen lässt. Hierin liegt Kristeva zufolge sein umfassendes psychologisches Irritationspotential: „Je verrais dans cette permanence de la biothanatologie hors temps, qui brise le temps biologique et conscienciel, le véritable scandale produit par la psychanalyse.” (Kristeva 1997: 52) 3.2. Le ‚par-don’ oder die Aufhebung der Differenz in der Vergebung Als Revolution (in) der Zeit hat der analytische Diskurs die Qualität einer Grenzerfahrung: Er treibt das Subjekt, das sich auf seine Vergangenheit besinnt und sich der Rückkehr seiner verdrängten Erlebnisse ausliefert, an den Rand des Wahnsinns (an den Rand der Psychose). Eine Revolte ist die Psychoanalyse daher für Kristeva in dem doppelten Sinne einer Umkehr der normalen Zeitstrukturen sowie in dem transgressiven Potential, das in der Konfrontation des Subjekts mit der Atemporalität der Triebe steckt. Die Psychoanalyse (unter-)bricht die Gesetze des logischen Denkens und <?page no="162"?> Konstanze Baron 138 Sprechens, wenn sie das Subjekt der semiotisch-sinnlichen Erfahrung seiner biologischen Triebe zugängig macht. 6 Wäre das jedoch ihre einzige Wirkung, so müsste man sie wohl als ein nahezu halsbrecherisches Unternehmen bezeichnen und ihr auch in theoretischer Hinsicht Ungenügen attestieren. Dass dem jedoch nicht so ist, macht Kristeva in ihren Schriften immer wieder deutlich. Denn die Psychoanalyse ist nicht zuletzt eine Heils- Erfahrung; sie zielt darauf ab, das Übel, an dem die Menschheit leidet, zu kurieren. Folglich kann sie es auch nicht bei der Erfahrung der ultimativen Negativität bewenden lassen, sondern muss um eine Aufhebung bzw. eine Einbindung der Negativität in die psychischen Strukturen besorgt sein: „Nous devons dès lors nous poser la question: dans quelles conditions la pulsion rejetante devient-elle négativité symbolisante? “ (Kristeva 1997: 17) Die Einbindung der Negativität in die symbolischen Strukturen der Psyche ist das zentrale Problem, das Kristeva im Kontext ihrer Schriften zur Revolte aufgreift. Die Antwort auf diese Frage liefert der Begriff der Vergebung, den Kristeva aus der christlichen Theologie bezieht. Aus dem theologischen Vorbild mit seiner Begrifflichkeit von Schuld und Vergebung gewinnt die Psychoanalyse die Vorstellung eines existentiellen Neuanfangs: Le pardon suspend le jugement et le temps: il mise sur un départ neuf […]. La culpabilité est extraite du jugement et du temps pour s’inverser en renaissance. Par la grâce et le pardon, une nouvelle configuration, subjective et intersubjective, est donc possible. (Kristeva 1997: 26) Die Gnade der Vergebung, so wie sie die christliche Theologie vorstellt, erlaubt dem Gefallenen, aus der Ordnung der Sünde auszutreten und einen neuen Anfang zu wagen. Nun ist jedoch gerade der Begriff der Sünde für die strikt atheistisch konzipierte Theorie der Psychoanalyse ein Fremdwort. Im Anschluss an Freud zeigt Kristeva daher, wie die Begriffe von Sünde und Schuld in diesem Kontext zu verstehen sind: die ‚Schuld’ ist in Freuds Theorie mit der Struktur des menschlichen Bewusstseins koexistent. Schuldig sind wir bei Freud aus dem einfachen Grunde, dass wir Menschen sind, deren Bewusstsein und Sprache von den Gesetzen der Logik (vom logos) beherrscht werden. Die Schuld ist somit nicht mehr an einen bestimmten Akt, an eine individuelle Verfehlung gebunden, sondern sie ist unabdingbar mit der Struktur des Bewusstseins verflochten. Aus der Idee der Sünde der christlichen Theologie wird so die Diagnose eines strukturellen Mankos, eines irreduziblen psychischen mal-être. Auf dieses Manko, auf dieses strukturelle Defizit reagiert nun die Psychoanalyse mit der analytischen Situation und insbesondere mit der Ökonomie des Transfers. Denn so sehr die ‚Schuld’ auch eine strukturelle Bedingung des menschlichen Bewusstseins und der Psyche sein mag, so erweist sie sich dennoch der Aufhebung fähig: „Car, pour la psychanalyse, 6 Es handelt sich um eine Exposition in doppeltem Sinne: Auslieferung des Subjekts an das Zeitlose und Aussetzen des Sinnes in der daraus entstehenden Zäsur des Bewusstseins, vgl. dazu Kupke (2006). <?page no="163"?> Julia Kristevas Theorie der Revolte 139 la ‚faute’ est à la fois dépendante de la conscience et susceptible de perlaboration.” (Kristeva 1997: 28) Die Bedingung für die ‚Verarbeitung’ der Schuld ist die Anwesenheit eines Anderen (des Analytikers), in dessen Gegenwart sich der Patient mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt. Im Angesicht des Anderen kann sich der Analysand der pulsierenden Energie seiner Triebe gegenüber öffnen, ohne an dieser Grenzerfahrung zu zerbrechen. Denn die Anwesenheit des Anderen ist zugleich die Garantie einer neuen sozialen (Ein-)Bindung des Leids: Der analytische Diskurs erlaubt, das Leid zu artikulieren, indem er es zu Wort kommen lässt. Die Vergebung ist eine Artikulation des Leids (des Mangels, der Negativität) und zugleich dessen Überwindung im Medium der Sprache: Le pardon est la phase lumineuse de la sombre atemporalité inconsciente; la phase au cours de laquelle celle-ci change de loi et adopte l’attachement à l’amour comme principe de renouvellement de l’autre et de soi. (Kristeva 1997: 32) Die Psychoanalyse ist daher Kristeva zufolge nichts anderes als eine „progressive résorption de la culpabilité dans le discours et dans sa possible rémission” (Kristeva 1997: 28) - als solche partizipiert sie an den Strukturen der judäo-christlichen Mystik, die sie zugleich in ihrem Sinne verändert. Denn die Gnade, die sich in der Psychoanalyse manifestiert, ist die strikt weltliche Gabe eines Sinns (im Sinne von ‚don de sens’): Was der Analytiker seinem Patienten schenkt, ist die Wohltat einer Interpretation, einer Sinnstiftung, die sein Leiden der Struktur des Urteils und der Schuld entzieht und ihm somit die Aussicht auf einen Neuanfang vermittelt. Nicht die Versöhnung des Menschen mit einer übernatürlichen Macht, sondern die Einbindung des Leids in die Sprache, die dem Leiden einen Sinn verleiht, ist die Bedeutung des par-don in der Psychoanalyse. Dabei gilt es einem Missverständnis vorzubeugen: Denn die Gabe des Sinns ist nicht etwa die Interpretation, die der Analytiker kraft seiner Autorität über das Leid des Patienten ausspricht; das Pardon wird dem Analysanden nicht von außen zuteil, sondern er selbst ist es, der sich vergeben muss. Es sind seine Worte, die - im Angesicht des Anderen - den Sinn des Leids artikulieren: „Le pardon ne m’est pas donné par un autre: je me pardonne avec l’aide de l’autre (l’analyste), en m’appuyant sur son interprétation et sur son silence (sur son amour), pour donner sens à l’insensé qui me met à mal.” (Kristeva 1997: 31) Die Interpretation, von der hier die Rede ist, meint somit kein autoritatives Urteil, keine Bannung der Krankheit durch ihre Benennung, sondern die Artikulation des Unbewussten im symbolischen Medium der Sprache: „Le pardon n’est rien d’autre que la venue de l’inconscient à la conscience dans le transfert.” (Kristeva 1997: 30) Mit dem pardon lässt sich die zweite Komponente von Kristevas Theorie der Revolte benennen, die den Begriff des hors-temps ergänzt und vervollständigt: der Negativität des Zeitlosen stellt die Psychoanalyse die sinnstiftende Aktivität der Vergebung entgegen, die das existentielle Manko, das mal-être der Psyche und des Bewusstseins, in der Ökonomie des Transfers zu <?page no="164"?> Konstanze Baron 140 bewältigen versucht. Doch auch wenn es so scheint, als sei das Leiden in der Vergebung gebannt, so behält es doch seine subversive Kraft. Denn die Negativität des Zeitlosen wird in der Vergebung nicht völlig aufgehoben, sondern allenfalls eingebunden in die Strukturen der Sprache; die besondere ‚Gabe’ des analytischen Diskurses besteht, wenn man so will, darin, dass sie die Negativität der Sinne und der Triebe zum Ausdruck kommen lässt, ohne sie dabei ihrer destruktiven Qualität zu berauben: Le pardon, ce geste d’inscription et d’affirmation du sens, porte en doublure l’érosion du sens, la mélancolie et l’abjection. Pourtant, en les comprenant, il les déplace; en les absorbant, il les transforme et les lie pour quelqu’un d’autre. (Kristeva 1997: 33) Die radikale Alterität des Zeitlosen und der Triebe wird durch die Einbindung in die symbolischen Strukturen der Sprache nicht nivelliert, sondern im Gegenteil allererst erfahrbar (im Sinne von ‚rendre sensible’) gemacht. 7 Die Sprache - weit davon entfernt, selber völlig frei von Gewalt zu sein - lässt die Gewalt der Triebe zum Ausdruck kommen, indem sie die logischen Strukturen der Grammatik und der Begriffe von innen heraus - durch die Einwirkung semiotischer Impulse und Tonalitäten - entstellt. Diese Entstellung reicht jedoch aus, um die Strukturen des Urteils wo nicht zu beseitigen, so doch zumindest zu verschieben. Weil sie die Gewalt der Triebe einbindet, ohne sie zu bannen, ermöglicht die Psychoanalyse dem Subjekt, sein sinnloses Leid zu überwinden und sich selber neu zu erfinden. Diesseits aller Jenseits-Konzeptionen wird das Pardon der Vergebung damit zum Inbegriff einer Renaissance des Subjekts und seiner psychischen Strukturen. * Die Psychoanalyse erweist sich, wie wir zu zeigen versucht haben, für Kristeva als stringent-revolutionäre Weiterentwicklung der westlichen Philosophie des Geistes. Stringent insofern, als die Psychoanalyse an zentrale Motive und Denkmuster dieser theologisch-philosophischen Tradition anknüpft und diese für ihre Belange fruchtbar zu machen versteht. Zugleich jedoch revolutionär, weil sie die wichtigsten Bestandteile dieser Tradition auf den Kopf stellt - das gilt insbesondere für die Vorstellung vom ‚Grund’ des menschlichen Daseins und dessen Telos, dem menschlichen Streben nach ‚Heil’. Denn während die Psychoanalyse in ihrer Eigenschaft als therapeutischer Diskurs einerseits um die ‚Heilung’ des Menschen besorgt sein muss, so liegt ihr andererseits die Akzeptanz eines irreduziblen 7 Hier zeigt sich zuletzt auch der Abstand zu einer christlichen Theorie der Vergebung: Denn die Vergebung, die sich in der Psychoanalyse vollzieht, entbehrt der Komponente der ‚Versöhnung’. Ihr wohnt vielmehr die Erfahrung einer irreduziblen Konflikthaftigkeit inne. Vgl. dazu auch Punkt 4 dieses Beitrags. <?page no="165"?> Julia Kristevas Theorie der Revolte 141 Mangels zugrunde. Wir leben in einer ‚heillosen’ Welt, der Mangel, der unser Dasein bedingt, kann niemals vollständig behoben werden; er kann allenfalls mit den Mitteln der Sprache artikuliert und re-artikuliert werden. Genau diese im engeren Sinne ‚poetische’ Aufgabe erfüllt für Kristeva der psychoanalytische Diskurs. Hier wird der Sinn des Bewusstseins zugleich durch die Konfrontation mit der Vergangenheit in Frage gestellt und durch die Poiesis der Interpretation neu konfiguriert. Statt mit einer einfachen Negation des Sinns haben wir es daher mit einer ständigen Transformation zu tun: der Sinn wird ausgesetzt, in Frage gestellt und in veränderter Form (re-)artikuliert. 8 Das herausragende Merkmal der Psychoanalyse ist somit die Prozessualität der Bewusstseinsinhalte: Anstelle einer stabilen Interpretation produziert die Psychoanalyse semiotische und symbolische Prozesse, im Zuge derer der Sinn der Vergangenheit immer neu verhandelt wird, ohne jemals zu einem Abschluss zu kommen. (Kristeva spricht daher auch von einer „infinie re-création du sujet“.) Abschließend wird nun zu fragen sein, inwiefern diese Prozessualität der Analyse bei Kristeva zum Modell wird für eine neue Kultur der Erinnerung. 4. Plädoyer für eine neue Kultur der Erinnerung Wie bereits eingangs erwähnt, beschränkt sich Kristevas theoretischer Anspruch nicht darauf, in Form der Psychoanalyse eine andere, qualitativ neue Erfahrung der Revolte zu beschreiben und zu theoretisieren. Es geht ihr nicht allein darum, eine Theorie der Psychoanalyse (als Revolte) vorzulegen, sondern anhand der Psychoanalyse die Leitfäden für eine Kultur der Erinnerung zu entwickeln, die einen ebenso kritischen wie kreativen Umgang mit der Vergangenheit ermöglicht. Aus diesem Grund fordert sie eine ‚culture de la révolte’, die den kulturellen Aporien der Gegenwart die vitalisierende Kraft der Erneuerung entgegenzuhalten vermag. Im Zentrum dieser Kultur der Revolte steht die Idee einer Umkehr des Denkens im Sinne einer Hinwendung zu den Ereignissen der Vergangenheit. Denn der Sinn der Gegenwart (und auch der Sinn der Zukunft), da ist Kristeva sich sicher, erschließt sich nur in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Vergangenheit: Ce qui fait sens aujourd’hui, ce n’est pas immédiatement l’avenir (comme le prétendaient le communisme et les religions providentielles), c’est la ré-volte: c’est-à-dire le questionnement et le déplacement du passé. L’avenir, s’il existe, en dépend. (Kristeva 1997: 11) 8 Die Psychoanalyse ist eine Revolte im polyvalenten Sinn von ‚retour-retournementdéplacement-changement’: Umkehr des Denkens in der Zeit, Umwälzung der sinnhaften Bewusstseinsstrukturen sowie letztlich Re-Artikulation und Re-Konfiguration dieser Bewusstseinsstrukturen durch die Interferenz mit den zeitlosen Energien der Soma und der Triebe. <?page no="166"?> Konstanze Baron 142 Die Antwort auf die Malaisen der Gegenwart, auf die Versteinerungen der Psyche im post-industriellen Zeitalter, muss in der Umkehr des Denkens, in einer Aufarbeitung der Vergangenheit gesucht werden. Die für die Moderne charakteristische Zukunfts-Referenz weicht also bei Kristeva einer Vergangenheits-Referenz: Nicht im besinnungslosen Fortschritt und auch nicht in der ebenso beschränkten wie beschränkenden Konzentration auf die Belange der Gegenwart ist so etwas wie ein sinnerfülltes menschliches Dasein möglich, sondern nur in einer umkehrenden Besinnung des Denkens auf die Vergangenheit, wie sie die Psychoanalyse im Anschluss an die westliche Philosophie und Theologie des Geistes zu denken ermöglicht. Doch nicht jede Art der Hinwendung zur Vergangenheit entspricht schon automatisch den Kriterien einer Kultur der Revolte im Sinne Kristevas. So äußert sie sich kritisch gegenüber all jenen kulturellen Praktiken, die die Vergangenheit schlichtweg für die Gegenwart bewahren wollen. Eine solche Kultur der Erinnerung, die nur die Wiederkehr des Ewig-Gleichen kennt, beraubt die Vergangenheit ihrer subversiven Kraft, wenn sie versucht, den Sinn bzw. die Bedeutung vergangener Ereignisse ein für allemal zu fixieren. Diesem mythifizierenden Umgang mit der Vergangenheit steht die Bedeutung der Revolte in der Psychoanalyse entgegen: Die Praxis der Psychoanalyse birgt, wie wir wissen, kein Versprechen der Identität und der Stabilität, sondern sie öffnet das Subjekt für eine Erfahrung der Negativität: La ré-volte expose l'être à une insoutenable conflictualité dont notre siècle s'est précisément arrogé le redoutable privilège de manifester la nécessaire jouissance et les impasses morbides. (Kristeva 1997: 13) Die Situation des modernen Menschen, die condition moderne, ist Kristeva zufolge von einer irreduziblen Konflikthaftigkeit geprägt, die zu leugnen ebenso sinnlos wie verderblich wäre. Im Gegensatz zum religiösen Menschen hat der moderne Mensch keinen Grund (mehr), sich in einem stabilen Gerüst von Überzeugungen heimisch zu fühlen; sein Leben ist vielmehr durch die grundlegende Erfahrung des Konflikts und des Widerspruchs geprägt (vgl. Kristeva 1997: 15). Diese Erfahrung des Konflikts und der Negativität gilt es folglich als einen integrativen Bestandteil der Revolte zu erkennen und zu akzeptieren. Im Angesicht der irreduziblen Konflikthaftigkeit des menschlichen Daseins birgt die Besinnung auf die Vergangenheit, die im Zentrum der von Kristeva geforderten Kultur der Revolte steht, keine stabile Deutung, kein hermeneutisches Heils-Versprechen, sondern führt ganz im Gegenteil zu einer Konfrontation mit jener radikalen Alterität des Zeitlosen, die unsere Bedeutungsstrukturen von Grund auf in Frage stellt. Der ‚Sinn’, von dem hier immer wieder die Rede ist und um den es in der Revolte wesentlich geht, wird vom Nicht-Sinn der sinnlichen Erfahrungen durchkreuzt. Doch wer nun glaubt, dass Kristeva die Verwerfung des Sinns als solche zu einem neuen Heilsversprechen erheben würde, der irrt; kritische Worte findet sie <?page no="167"?> Julia Kristevas Theorie der Revolte 143 auch für jene Enthusiasten der Revolte, die im Umsturz der bestehenden Verhältnisse so etwas wie einen Selbstzweck sehen. 9 Der blinden Verwerfung der existierenden Verhältnisse steht Kristeva ebenso distanziert gegenüber wie einer mythischen Fixierung der Vergangenheit. Für diese doppelte Skepsis gibt es einen guten Grund: Denn so sehr sich beide Einstellungen auch inhaltlich bzw. in Bezug auf ihre politische Tendenz (progressiv, konservativ) voneinander unterscheiden mögen, so sehr stimmen sie doch auch in einem ganz entscheidenden Punkt überein. Beide Einstellungen unterbinden nämlich jeweils auf ihre Weise die kritische Infragestellung des Denkens. Beide bedienen sie, indem sie reflexhaft die Umsetzung eines unumstößlichen ‚parti pris’ betreiben, einen Kult der Werte - die ‚konservative’ Einstellung einen Kult der Vergangenheit, weil sie die Vergangenheit der kritischen Infragestellung entziehen und deren Bedeutung ein für allemal fixieren will, und die ‚progressive’ Einstellung einen Kult der Revolte, weil sie den Umsturz gewissermaßen um seiner selbst willen betreibt und dabei den normativen Ordnungswert der bestehenden Verhältnisse verkennt. Vor dieser Kontrastfolie zeichnet sich nunmehr ab, wie die von Kristeva geforderte Kultur der Revolte zu begreifen ist. Diese versteht sich als dritter bzw. Mittelweg zwischen der Idealisierung der Vergangenheit einerseits und ihrer stereotypen Verwerfung andererseits. Der mythifizierenden Idealisierung der Vergangenheit hält die Kultur der Revolte die Erfahrung des Negativen entgegen - eine Erfahrung, die immer auch als Exposition des Sinns und als Öffnung des Subjekts gegenüber der irritierenden Alterität des Zeitlosen zu verstehen ist: La permanence de la contradiction, le provisoire de la réconciliation, la mise en évidence de tout ce qui met à l’épreuve la possibilité même du sens unitaire (tels la pulsion, le féminin innommable, la destructivité, la psychose etc.), voilà ce qu’explore cette culture-révolte. (Kristeva 1997: 19) Was die Kultur der Revolte auszeichnet, ist also die Tatsache, dass sie das Element des Negativen und der Kritik in sich aufzunehmen vermag. Die Kultur der Revolte ist in erster Linie gegen den kultischen Umgang mit der Vergangenheit gerichtet, der das kritische Denken lähmt und die Erfahrung der Negativität unterbindet. Zugleich ist jedoch auch klar, dass die Kultur der Revolte es nicht einseitig bei der Verwerfung des Bestehenden belassen kann. Ihr Vorbild, die Psychoanalyse, legt vielmehr nahe, die Produktivität der Verwerfung (des Sinns, der Vergagenheit) in den Vordergrund zu stellen. Gegenüber der bloßen Negation des Vergangenen betont die Kultur der Revolte daher die schöpferische, die sinnstiftende Leistung der Interpretation. Wie der analytische Diskurs mit seiner Praxis der Vergebung zielt auch sie letztlich auf eine Artikulation der Differenz und auf deren Einbindung in die Strukturen des Bewusstseins und der Sprache ab. Nicht 9 Eine solche Einstellung nennt Kristeva ‚nihilistisch’. Vgl. Kristeva (1996) <?page no="168"?> Konstanze Baron 144 die Verwerfung in Bausch und Bogen, sondern die jeweils spezifische Negativität, die eine Verschiebung der bestehenden Verhältnisse ermöglicht, steht daher im Zentrum der von Kristeva geforderten Kultur der Revolte. Fassen wir unsere Überlegungen zusammen: Der Begriff der Revolte bezeichnet bei Kristeva nicht nur ein spezifisches Ereignis, ein konkretes Element der Vergangenheit, sondern auch - und darin besteht die Originalität ihrer Überlegungen - eine bestimmte Art und Weise des Umgangs mit der Vergagenheit. Die Revolte ist für sie niemals nur ein historischer Gegenstand, sondern eine bestimmte, durch die Einsichten der Psychoanalyse geprägte Form, sich mit der Vergangenheit bzw. mit deren Deutungen auseinanderzusetzen und diese zu hinterfragen. Genau das bringt ihre Rede von der ‚Kultur der Revolte’ zum Ausdruck, die man deshalb auch als eine Art ‚Reflexionstheorie’ der Revolte begreifen kann. Im Mittelpunkt dieser Theorie steht die unablässige, kritische und zugleich produktive Auseinandersetzung mit den überlieferten Deutungen der Vergangenheit. Der (psycho-)analytische Diskurs, auf den Kristeva in ihren Schriften immer wieder verweist, liefert ihr das Modell für einen Umgang mit der Vergangenheit, der sich der Verengung auf die Extreme von Verwerfung und Idealisierung, Position und Negation verweigert, und stattdessen die Dynamik der Interpretation betont. 10 Die Revolte macht der Vergangenheit den Prozess, im doppelten Sinne eines kritischen Urteils und einer kreativen Neuordnung der Verhältnisse. Diese Prozesshaftigkeit, die sich bei keiner Deutung beruhigt, aber gleichzeitig auch von der permanenten Infragestellung der Vergangenheit nicht ablassen will, ist das entscheidende Merkmal der Kultur der Revolte: Negation des Vergangenen, Exposition des Sinns, (Re-)Artikulation der Differenz. * Lässt sich vor diesem Hintergrund - und auf der Grundlage der von Kristeva aufgestellten Thesen - nun etwas Sinnvolles zu den Ereignissen 1968 sagen? Ich glaube ja. Denn auch wenn Kristeva keine spezifische Interpretation zu 1968 vorlegt, so präsentiert sie doch eine schlüssige Aussage darüber, wie eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aussehen muss, die sich dem ,Geist der Revolte’ verschrieben hat. Kristevas Überlegungen zu einer neuen Kultur der Revolte kreisen um die Frage, wie es möglich sein kann, im Denken und in der Theorie dem ‚esprit de révolte’ 10 Die Verweigerung gegenüber einer solchen Einengung des Denkens kann als eine Konstante von Kristevas Theoriebildung gelten. Schon in einem Text aus dem Jahre 1977 setzt Kristeva die „position analytique“ dem philosophischen Diskurs entgegen, der seinerseits nur die Alternative von Position und Negation, Affirmation und Kritik kennt. Gegenüber diesem philosophischen Diskurs erscheint die (Psycho-)Analyse als ein dynamischer ‚Prozess’ des Denkens und der Positionen. Vgl. Kristeva (1977: 8) <?page no="169"?> Julia Kristevas Theorie der Revolte 145 treu zu bleiben. Die Antwort, die sie auf diese Frage gibt, ist gleichermaßen normativ und anti-normativ. Denn dem Geist der Revolte treu zu bleiben, das bedeutet für Kristeva vor allem jene Versteinerungen des Bewusstseins zu vermeiden, die die kultischen Extreme des unkreativen Umgangs mit der Vergangenheit illustrieren. Wer den Geist der Revolte bewahren will, der muss dafür sorgen, dass die Vergangenheit lebendig bleibt, und das bedeutet nun einmal, sie im Lichte der Gegenwart - im Lichte der politischen Aktualität - stets aufs Neue zu interpretieren (nachvollziehend zu verändern). Die Crux von Kristevas Überlegungen zur Revolte besteht in der Erkenntnis, dass eine lebendige Vergangenheit - und indirekt auch eine lebendige Gegenwart - nur demjenigem beschieden ist, der sich auf das Abenteuer einer ständigen Verschiebung des Sinnes (der Vergangenheit) einlässt. In diesem Sinne ist Kristevas Theorie der Revolte für eine Diskussion über die fortdauernde Aktualität von 68 von Belang: Denn ist es nicht so, dass unsere Debatten um 68 von eben jenen Aporien des Bewusstseins heimgesucht werden, die bei Kristeva zum Gegenstand einer kritischen Infragestellung werden? Literaturverzeichnis Guy Debord, La société du spectacle, Paris 1987. Michel Foucault, Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris 1975. Sigmund Freud, Abriss der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a.M. 1996. Ross Mitchell Gubermann (Hrsg.), Julia Kristeva. Interviews, New York 1996. Axel Honneth, Pathologien des Sozialen. Die Aufgaben der Sozialphilosophie, Frankfurt a.M. 1994. Julia Kristeva, Un nouvel type d’intellectuel: Le dissident, in: Tel Quel 74, 1977, 3-8. Julia Kristeva, Les nouvelles maladies de l’âme, Paris 1993. Julia Kristeva, Sens et non-sens de la révolte. Pouvoirs et limites de la psychanalyse, I, Paris 1996. Julia Kristeva, La révolte intime. Pouvoirs et limites de la psychanalyse, II, Paris 1997. Julia Kristeva, L’avenir d’une révolte, Paris 1998. Christian Kupke, Julia Kristeva. Das Pathos des Denkens oder die zweifache Genese des Subjekts, in: Stephan Moebius (Hrsg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006, 223-234. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Darmstadt 1987. Arnd Pollmann, Integrität - Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie, Bielefeld 2005. <?page no="171"?> Marie-Laure Basuyaux « Nous étions sur la touche ». Jean Cayrol et Mai 1968 D’emblée, la question mérite d’être posée : pourquoi convoquer l’œuvre de Jean Cayrol à l’occasion d’une réflexion sur Mai 1968 et ses suites ? Régulièrement nommé dès lors qu’il s’agit d’évoquer l’expérience des camps, Cayrol ne l’est que rarement au sujet de Mai 1968 : il n’est pas un auteur symbole de cette période, n’a accompli aucune action d’éclat durant les journées de Mai et ne peut donc revenir sur son expérience d’engagement comme l’a fait Olivier Rolin, il n’a pas non plus produit, à la manière d’Edgar Morin ou de Henri Weber, de texte théorique sur l’événement, et le romanesque qu’il prône est un romanesque chaste, à mille lieux des discours sur le désir ou la sexualité tenus par Monique Wittig ou Wilhelm Reich. Malgré tout, l’œuvre de Cayrol présente une caractéristique décisive : sa capacité à entrer en résonance avec le siècle et à se faire la chambre d’échos des événements majeurs qui l’ont marqué. C’est dans cette aptitude à porter la trace - Cayrol dirait les stigmates - d’événements à la fois personnels et collectifs que ses textes puisent leur raison d’être. Or, dans cette œuvre qui embrasse le siècle presque dans son entier, des années 1930 aux années 1990, on observe deux scansions majeures. La première est constituée, on le sait, par l’expérience concentrationnaire, qui voit l’avènement du romanesque lazaréen et met fin à une inspiration poétique que l’on pouvait qualifier jusque-là de mythologique ou d’épique développée dans les années 1930. La deuxième rupture est, plus étonnamment, celle de Mai 1968. L’œuvre de Cayrol change alors radicalement d’orientation et adopte pendant dix ans une esthétique résolument nouvelle. Par la suite, les années 1980 opéreront un retour à une inspiration davantage autobiographique. D’autres événements du siècle, comme la guerre d’Algérie, sont bien évidemment évoqués dans les textes ou les films de Cayrol, mais les deux ruptures majeures qui ont véritablement été à l’origine d’un changement non seulement de thématique mais aussi de poétique, c’est-à-dire d’un changement dans les principes mêmes de son écriture, restent incontestablement les années de déportation et Mai 1968. Il peut paraître étonnant, voire choquant, de citer côte à côte ces deux périodes qui restent sans commune mesure, pourtant Cayrol affirme lui-même l’importance de la rupture qui représentent pour lui les événements de Mai en des termes sans nuance : « Le tranchant de 1968 avait coupé en deux mon existence qui se voulait familière et sans heurt » (1982 : 16). <?page no="172"?> Marie-Laure Basuyaux 148 Si le romanesque lazaréen a été largement étudié, la production de Cayrol durant les années 1970, sans doute parce qu’elle apparaît sans cohérence interne, est restée relativement négligée. Je voudrais donc essayer de porter un regard sur cette partie de son œuvre en gardant présente à l’esprit l’idée que, si ses textes éclairent notre compréhension des événements de Mai et de leurs suites, c’est moins par l’impact qu’ils ont eu sur Mai 68 que par l’impact que Mai 68 a eu sur eux. La situation de Cayrol au moment des événements semble particulièrement inconfortable dans la mesure où il est écartelé entre d’une part un positionnement personnel et une œuvre qui vont dans le sens des idéaux de Mai, et d’autre part la conscience d’être tenu à distance, voire d’être récusé par l’événement et ses acteurs. A cet égard, ses textes poétiques et ses textes de fiction peuvent être lus comme une réaction à cette expérience d’inconfort, comme une tentative pour accompagner le mouvement et pour être d’une manière ou d’une autre en contact avec lui dans la mesure où ils s’efforcent d’inventer une forme qui traduise le retentissement de l’événement sur les consciences. 1. Cayrol en Mai : un équilibre instable 1.1. Affinités et convergences Si Cayrol est loin d’être considéré comme un auteur « phare » de Mai 68, son œuvre n’en présente pas moins un certain nombre d’éléments de convergence avec le mouvement. Dans les années 1960, deux caractéristiques de ses textes permettent de les situer en amont de l’événement. La plus évidente d’entre elles, et même si son œuvre ne revendique aucun engagement politique défini, est une tendance à se placer systématiquement du côté de la révolte et de la protestation. Ses textes, y compris ses œuvres de fiction, disent une forme d’inquiétude et veulent être, à la manière de Nuit et Brouillard dont il a rédigé le commentaire, des œuvres d’avertissement 1 . Les romans des années 1960 accordent par exemple une place - discrète mais réelle - à la critique de l’oppression sous toutes ses formes. Tantôt la trame de la narration met en scène l’oppression d’un mari tyrannique sur sa femme, d’un père autoritaire sur son fils, d’un écrivain gonflé de son importance sur son entourage, d’un policier sur l’homme qu’il suspecte ou qu’il interroge ; tantôt le récit est émaillé d’allusions aux conflits et aux luttes d’indépendance contemporaines de la diégèse : s’il évoquait Madagascar et l’Indochine dans les années 1950 2 , les allusions portent dans les années 1960 sur la guerre d’Algérie ou le Vietnam. Dès 1963, ses œuvres sont aussi le lieu 1 C’est ce que rappellent notamment le texte de Nuit et Brouillard : « Qui de nous veille de cet étrange observatoire pour nous avertir de la venue des nouveaux bourreaux ? » (Cayrol 1997 : 42), et celui du Droit de regard: « Le cinéma n’est pas seulement divertissement mais avertissement » (Cayrol/ Durand 1963 : 17). 2 L’Indochine et l’Algérie (Cayrol 1959 : 127, 160) ; Madagascar et l’Indochine (Cayrol 1968b : 93, à un moment où le temps de la diégèse est celui des années 1950). <?page no="173"?> « Nous étions sur la touche ». Jean Cayrol et Mai 1968 149 d’une dénonciation de la société de consommation. On le voit dans le scénario du film Muriel par une série de gros plans sur des objets qui ponctuent la narration, et par l’étrange appartement d’Hélène Aughain où tout est à vendre, depuis les meubles jusqu’aux assiettes. En 1963 également, le récit Le Froid du soleil met en scène un représentant de commerce qui vante sa capacité à tout vendre, et dont le récit montre à la fois la fuite incessante et l’agonie sur un lit d’hôpital. Parallèlement à cette critique inscrite dans l’œuvre de fiction, on retrouve une mise en question de la société de consommation dans De l’espace humain, un essai édité par Cayrol au premier trimestre 1968 dans la collection « Intuitions » qu’il vient de fonder aux Éditions du Seuil. Dans ce texte, il observe et décrit nos usages de la ville et en particulier de la ville nouvelle et des grands ensembles : il y observe le fonctionnement du grand magasin, du supermarché, du Monoprix, de la publicité, espaces qui contribuent tous à nous offrir, selon son expression, un « monde à consommer tout de suite » (Cayrol 1968a : 180). Il analyse également de manière critique les conséquences de la transformation de l’espace urbain sur les rapports humains, reprochant aux grands ensembles massivement construits au cours de la décennie leur uniformité, leur anonymat, et une manière de rationaliser l’espace qui évoque pour lui l’univers des camps : « Toutes les entrées se ressemblent et portent des lettres de l’alphabet, des numéros. Ce sont plutôt même des matricules inscrits sur le seuil » (Cayrol 1968a : 26). Dans le même temps, Cayrol reproche aussi à ce type d’urbanisme de constituer une entrave à tout mouvement insurrectionnel : Et comment supposer un homme révolté dans ce cadre, un homme qui voudrait vivre d’une autre manière, à contre-courant ? Si un locataire veut passer inaperçu, il doit ressembler aux autres […]. Qui pourrait s’insurger au milieu de cette intarissable débandade, devenir le séditieux, l’artiste, le chimérique, bref, le sourcier d’une effervescence et d’une émotion collective ? (Cayrol 1968a : 27) Parallèlement à cette critique de l’oppression sous toutes ses formes et à cette inquiétude quant à la possibilité de s’insurger, son œuvre s’inscrit dans l’archéologie de Mai par sa volonté de démocratiser l’écriture. Dès 1959, il énonce cette idée face à Pierre Dumayet : « Il faut désacraliser la création […]. Il faut redonner à tout le monde le pouvoir d’imaginer et de créer, et tant pis si on crée mal ». (Dumayet 1969) Elle sera réaffirmée avec une force renouvelée après Mai 68, à nouveau face à Pierre Dumayet : Et je m’aperçois qu’à l’intérieur de faits divers, la personne qui parle dit des choses qui sont tellement étonnantes que je ne pourrais pas les inventer. Je les ai mises dans ce livre-là. Ce n’est pas de moi, n’importe qui a pu dire cette phrase. Quand une mère de famille dit : « Je suis tellement malheureuse qu’il faudra que je fasse fête au tonnerre », je pense que cette création-là est inimaginable ; comment voulez-vous que je trouve ça ? Donc, le pouvoir de création appartient à tout le monde et non plus à cette caste dans laquelle nous nous trouvions et qui essayait de sublimer quelque chose qui n’est pas du tout sublimé puisque la création est la chose la plus simple, elle est quotidienne. (Dumayet 1969) <?page no="174"?> Marie-Laure Basuyaux 150 Si Jean Cayrol fut invité par un groupe d’étudiants de Nanterre à discuter de sa pratique d’écriture, c’est précisément en raison de cette tendance à inviter largement le lecteur à prendre la parole ou la plume, et à se présenter lui-même moins comme un auteur que comme un simple scripteur, comme le réceptacle d’une parole déployée dans le monde : Je suis allé à Nanterre juste au moment où la police devait arriver. Les étudiants m’avaient demandé de venir discuter avec eux autour d’Histoire d’une prairie parce que cela les avait tout de même frappés cette manière d’écrire de façon anonyme. C’est signé « Cayrol », mais au fond, cela laisse la possibilité à chacun de l’écrire. (Vrigny 1970b) Cette invitation sur le campus de Nanterre confirme la position d’interlocuteur privilégié que Cayrol s’efforce d’avoir auprès de la jeunesse 3 : c’est pour elle qu’il crée la revue-collection Écrire aux Éditions du Seuil, collection qu’il dirige de 1956 à 1965, qu’il suit de près jusqu’en 1969 et qui est destinée à faire entendre des voix nouvelles en publiant les premiers textes de jeunes écrivains. En lançant cette collection, Cayrol aspire à faire entendre la voix d’une génération, précisément celle qui a entre vingt et trente ans dans les années 1960. Ce faisant, il contribuera à lancer une multitude de jeunes auteurs, et parmi eux, les membres de la future revue Tel Quel : Philippe Sollers, Marcelin Pleynet, Jean-Pierre Faye, Fernand du Boisrouvray, Jacques Coudol, Michel Maxence et Denis Roche. Parmi d’autres noms, on peut citer encore Michel Braudeau, Claude Durand, Pierre Guyotat, Pierre Mertens, Christopher Frank ou Régis Debray. Lorsque Jean Cayrol expose la nature de son projet dans la préface du premier numéro de la revue Écrire, il insiste sur la nécessité de publier des textes qu’il désigne comme une « Prélittérature, littérature en formation, littérature verte » (Cayrol 1956 : 4), textes qui ne sont pas encore nécessairement arrivés à maturité, mais qui contiennent leur lot de promesses. Toutes ces caractéristiques en font naturellement un auteur extrêmement sensible au mouvement de Mai. « J’ai beaucoup vécu 1968. J’allais à la Sorbonne tous les jours, je connaissais parfaitement la question » : c’est en ces termes que vingt ans plus tard, face à Bernard Pivot (Pivot 1988), Cayrol réaffirme à quel point il a eu le sentiment, sinon de participer à l’événement, tout au moins d’y être absolument présent. 1.2. Expérience de l’écart Pourtant, en dépit de tout ce qui, dans son œuvre et dans ses aspirations, va dans le sens de Mai, Cayrol prend brutalement conscience au moment des événements de l’écart qui le sépare de cette révolte. L’année 1968 coïncide en effet pour lui avec un moment de consécration institutionnelle de son œuvre : « Le grand choc de 1968 arriva au moment où le Prince de Monaco 3 C’est sur cet aspect qu’insiste notamment Philippe Sollers dans l’article qu’il consacre à Cayrol en 1968 : « Une présence parmi les jeunes : un rôle décisif » (Sollers 1968 : IV). <?page no="175"?> « Nous étions sur la touche ». Jean Cayrol et Mai 1968 151 m’attribuait son Prix » (Cayrol 1982 : 13). L’écart est donc immense entre le sentiment intérieur, qui est spontanément du côté de la jeunesse, de la révolte, de l’insurrection, et le statut officiel : en 1968, Cayrol a 57 ans, il est un écrivain reconnu, occupe un poste important dans l’édition et sera bientôt juré du Prix Goncourt. Alors même qu’il est invité par des étudiants de Nanterre à discuter de son œuvre, il se sent d’ailleurs physiquement heurté par la violence avec laquelle s’exprime la contestation et se déclare « agressé non seulement par les gens qui étaient dans un état physique difficile, mais aussi par les murs qui hurlaient des graffitis, des slogans, et qui étaient lacérés d’affiches » (Vrigny 1970b). Il se trouve donc rapidement placé dans une situation délicate, confronté à des jeunes qui s’intéressent à son œuvre mais qui critiquent aussi sans détour l’insuffisance de son audace et son refus de mener ses tentatives jusqu’à leur terme. Par une cruelle ironie du sort, alors qu’il est invité pour ce que son œuvre présente d’expérimental, Cayrol se voit reprocher de ne pas avoir adopté une écriture véritablement révolutionnaire et finit par se retrouver dans la position de l’écrivain conservateur qui s’efforce d’expliquer les limites que l’écriture ne peut pas dépasser, par exemple en matière d’écriture collective 4 . Il est ainsi rapidement amené à constater qu’aux yeux de cette jeunesse dont il se sent proche, il fait partie de l’ordre établi, de ce monde vieux qu’il s’agit de renverser, de ces « pères » qu’on entend tuer. Cette prise de conscience est vécue comme une expérience très violente dont on comprend les enjeux lorsqu’on est attentif aux termes dans lesquels Cayrol la relate. Dans son autobiographie, il définit la situation qui fut la sienne en traduisant son malaise de manière très révélatrice : Le lendemain, ça commençait, dans les rues du sixième arrondissement […]. Et moi, je me trouvais, avec mon âge mûr, pris entre deux feux. Une révolte m’échappait, un affrontement se détournait de mon exaltation. J’avais beau me glisser dans l’auguste demeure de la Sorbonne, me mêler à cette foudroyante vivacité, je restais muet, je n’arrivais plus à trouver ma place. Ce fut une révélation : je demeurai inerte au milieu de cette agitation qui me fuyait. […] Je gardais un silence éprouvant qui m’effrayait en plein vacarme. Je comprenais que le langage verdissait à nouveau. Je happais à l’improviste des idées clefs : ‹ Il est interdit d’interdire ›. Je voulais faire quelque chose ; aussi, j’acceptai d’envahir l’hôtel de Massa (refuge de la Société des gens de lettres). Durant quelques 4 « La discussion a pu avoir lieu, une discussion difficile parfois, parce qu’ils estimaient que je n’avais pas le droit d’avoir des biographies sur moi ou des critiques sur moi. Ce qui les intéressait, c’était d’écrire en groupe […]. Mais je leur ai expliqué qu’il n’est pas possible d’écrire à quinze personnes, de décrire même un personnage tant soit peu vivant, ce n’est pas possible. On peut écrire un dialogue ensemble, on peut faire un film ou un essai ensemble. Mais il n’est pas possible de raconter la plus petite histoire ensemble, ou alors on la vit ensemble, ce qui est tout à fait différent, et on en fait des slogans, après. En même temps, ils me demandaient pourquoi je n’avais pas pris une écriture plutôt révolutionnaire. Je leur ai demandé ce que c’était qu’une écriture révolutionnaire ». (Vrigny 1970b) <?page no="176"?> Marie-Laure Basuyaux 152 heures, je me crus un insurgé. […] Les Éditions du Seuil aidaient ces ardents novices à tirer des proclamations, à distribuer des papiers incendiaires. Cela me rappelait un peu la guerre d’Algérie, ces clandestins qui rasaient les murs, ces anciennes confessions sur la guerre d’Indochine et sur certain commando capable de tirer une seconde fois sur des cadavres pour mieux s’exercer. Un proche passé revenait, d’étranges incarcérations, tout un lot de souvenirs qui avaient marqué mon retour de déportation. […] De quel côté étais-je ? Où se nichaient les adultes ? Comment rentrer dans une révolution dont on m’avait claqué la porte au nez ? Je faisais partie d’une ancienne sédition (guerre de 40 à 45, coup de force de Suez, massacre des Malgaches, etc.). Cette nouvelle insurrection, d’une forme inédite, brutale, sans concession, me rejetait. Je devenais le marginal d’une fureur, une sorte de collabo d’une Société et d’une Culture dont je n’approuvais pas les manques. […] Je représentais le gêneur. On pouvait croire que j’allais mettre obstacle à un grand élan, alors que je n’attendais qu’un mot pour me fondre dans la masse, ramasser les outils inemployés. Je suivais les événements de loin ; je piégeais l’actualité dans mon transistor. Cependant, la fumée des gaz lacrymogènes me suffoquait comme les autres qui se jetaient, les mains nues, dans la mêlée. Étais-je le jouet d’une peur ancestrale qui me paralysait depuis les Camps ? Ma conduite n’était pas nette, au-dessus de tout soupçon. (Cayrol 1982 : 14sq.) S’il est évidemment désagréable pour tout auteur de se voir placé du côté de ceux qu’on entend contester ou remplacer, force est de reconnaître que le passé de Cayrol donne à ce sentiment de malaise une ampleur spécifique. Dans les allusions qu’il fait à son expérience de déporté, Cayrol laisse en effet transparaître toute l’angoisse que suscite en lui l’idée d’être effacé. A plusieurs reprises, il a expliqué que l’ambition ultime de son travail d’écriture était de lui permettre de retrouver sa place, lui à qui on l’avait ôtée pendant la guerre en essayant de le faire disparaître dans la Nuit et le Brouillard. Les interviews dans lesquelles Cayrol se livre le plus sont précisément celles où il évoque cette raison fondamentale qu’il donne à son écriture : C’était une tentative désespérée pour moi, l’écriture, et non pas une vocation. C’était reprendre ma place à l’endroit où je me trouvais. Cela m’a demandé des années. Et c’était cela pour moi, une planche de salut pour arriver à me replacer où j’étais. J’avais perdu ma place. […] Je veux absolument être devant eux, je ne peux pas être gommé, je ne peux pas être effacé. (Dumayet 1969) C’est cette aspiration à retrouver sa place et cette hantise de la disparition qui expliquent pour une large part le désir qu’a eu Cayrol d’accompagner l’effervescence de Mai et d’en être, par son œuvre, un contemporain capital. De fait, on observe que l’année 1968 constitue pour sa production un moment charnière, tant dans la poésie que dans le roman. <?page no="177"?> « Nous étions sur la touche ». Jean Cayrol et Mai 1968 153 2. Trouver une forme : le renouvellement de la poétique Comme il l’a fait en 1947 après l’expérience concentrationnaire, Cayrol cherche après 1968, non pas à raconter l’événement, mais à inventer les formes littéraires capables de traduire son impact sur les consciences. En 1968, il vient de publier un roman important, Je l’entends encore, qui répond par son titre à son premier récit, On vous parle, et clôt d’une certaine façon l’inspiration lazaréenne qui fut la sienne pendant vingt ans. En matière de poésie en revanche son dernier recueil date de 1955, année où paraît Pour tous les temps. De ce point de vue, on peut dire que Mai a véritablement relancé son inspiration poétique puisqu’en 1969 paraît un recueil dont le titre, Poésie Journal, suggère la naissance d’un genre poétique nouveau. Ce recueil sera suivi, en 1977 et en 1980, de deux autres volumes, Poésie Journal II et III. La rupture est nette entre Poésie pour tous les temps, qui affiche sa portée intemporelle et Poésie Journal, texte qui se veut étroitement lié à l’actualité. Mais la fiction n’est pas en reste puisque l’année 1969 voit aussi la parution d’un récit, Histoire d’une prairie, qui semble lui-même inaugurer un genre, celui des Histoires. La décennie 1970 verra ainsi la publication successive de Histoire d’un désert (1972), Histoire de la mer (1973), Histoire de la forêt (1975), Histoire d’une maison (1976) et Histoire du ciel (1979). La veine est fertile, on le voit, et donne naissance à des textes exubérants, à la fantaisie presque baroque, qui mettent en scène des personnages improbables, que Cayrol compare à des personnages de bandes-dessinées, pris dans des aventures absolument dépourvues de cohérence, au sein d’une succession d’épisodes sans réelle continuité narrative. Dans chacun des volumes, on a le sentiment que Cayrol explore les limites de ce qu’un récit peut supporter, tant l’imaginaire s’y déploie librement et la narration s’y trouve dépourvue de cohérence. En cela, les Histoires entrent fortement en contraste avec les récits lazaréens des deux décennies précédentes, qui mettaient en scène des personnages aux vies étriquées, incapables de retrouver l’usage de la parole et peinant à entrer en contact avec les autres. L’année 1969 inaugure donc une période d’une dizaine d’années durant laquelle Cayrol invente les principes d’une nouvelle poétique accordée à l’événement. Les bases en sont posées dès Poésie Journal et Histoire d’une prairie, qui fonctionnent comme les révélateurs de ce qui se met en place dans la décennie. Les deux œuvres, éditées quelques mois après Mai, et qui trouvent en lui leur impulsion, font évidemment allusion à l’événement et le désignent comme leur source, comme le fond de pensée sur lequel elles s’écrivent. Dans Histoire d’une prairie, le récit se déroule dans un contexte d’affrontement permanent et un certain nombre d’allusions (à des cocktails Molotov, aux gaz lacrymogènes, aux CRS ou à des slogans) font bien sentir quelle est la source de cet imaginaire du conflit. On y trouve aussi l’écho de certaines revendications ou de certaines critiques : satire de la société de consom- <?page no="178"?> Marie-Laure Basuyaux 154 mation, de l’artificialité du monde, souci de retour à la nature, etc. Dans Poésie Journal, dont la rédaction s’étend de juin à décembre 1968, et qui fait partie des premières œuvres littéraires composées sur Mai, certains mots renvoient de manière fugitive mais récurrente à l’agitation estudiantine, même lorsqu’ils sont utilisés de manière détournée ; on trouve notamment au tout début du recueil la mention de « la douce et tendre émeute des Martinets » (Cayrol 1969b : 8). A côté de quelques apparitions des mots « barricades » (15), « étudiants » (14) ou « Nanterre » (48, 179, 205), on trouve un travail systématique et souvent humoristique sur le mot « pavé » (« Le haut du pavé », « le pavé dans la mare », « la pause pavé », 12, 25, 60, 104, 149, 177, 209), ainsi que sur le mot « Mai » (« jolis mots de mai », « mai finit doucement son alcool », « l’arbre de Mai », 21, 23, 121, 124, 149, 207). Le recueil se livre aussi à des jeux de mots à partir de slogans déployés en 1968 : « Sous les fagots, la frousse » (84), « A chaque passé, son passif » (80), « Ici on peut apporter son enragé » (167), « Révoltez-vous autour de la lune » (167), ou encore ce dernier exemple, qui ne manque pas de saveur : « Littéraires de tous les pays, punissez-vous » (166). A cet égard, l’ensemble du recueil semble obéir à un phénomène de mimétisme avec les phrases lapidaires et impératives qui ont fleuri sur les murs de la capitale 5 . Lorsqu’il évoque dans son recueil ce « printemps parlant crûment », lorsqu’il parle de « la verdure des mots » (Cayrol 1969b : 21), Cayrol traduit le sentiment que quelque chose est à l’œuvre dans la parole en raison de l’énergie particulière qui s’y déploie et montre qu’à ses yeux l’événement est aussi, et peut-être surtout de nature verbale. Il faut ouvrir la parole à tout le monde […]/ Je suis pour la libre circulation de nos argots / La parole se prend, se vide ou s’atténue […]/ La parole s’échange, s’étend ou diminue […]/ La parole se donne, s’éprend ou restitue (Cayrol 1969b : 216). Ces vers montrent que Cayrol, comme Michel de Certeau, voit dans cette prise de parole 6 la principale révolution et finalement la seule Bastille véritablement prise en Mai 1968. Or, à ses yeux, le seul moyen de donner véritablement la parole à tous, c’est de partir du lieu commun, de l’énoncé figé, de la parole banale qui nourrit les conversations quotidiennes. C’est de cette parole qu’il s’agit de s’emparer précisément parce qu’elle est partagée par tous. Il fait donc de ces énoncés banals, de ces lieux communs, de ces syntagmes figés, l’un de ses principaux matériaux d’écriture : « J’ai besoin de parler avec des mots/ pour l’usage domestique et le marché » (Cayrol 1969b : 117). Ces énoncés figés, il s’agit de leur rendre vie en les modifiant légèrement, en jouant sur leur sens et sur leurs sons, dans un travail qui se situe à michemin du jeu de mots et de la paronomase. Histoire d’une prairie joue ainsi 5 Phrases recueillies notamment par Julien Besançon (1968). 6 « En mai dernier, on a pris la parole comme on a pris la Bastille en 1789 […]. De la prise de la Bastille à la prise de la Sorbonne, entre ces deux symboles, une différence essentielle caractérise l’événement du 13 mai 1968 : aujourd’hui, c’est la parole prisonnière qui a été libérée. » (Certeau 1994 : 40) <?page no="179"?> « Nous étions sur la touche ». Jean Cayrol et Mai 1968 155 dès l’ouverture avec des expressions figées dont le sens est questionné et qui en perdent immédiatement leur caractère d’évidence : « Qu’est-ce que ça veut dire : je n’ai pas l’air d’être dans mon assiette ? » demande notamment le héros du roman (Cayrol 1969a : 12) ; de son côté Poésie Journal joue tantôt sur des expressions figées en les déformant (« J’aurais quignon sur rue », Cayrol 1977 : 162), tantôt sur des citations détournées (« C’est une heure tranquille où les bisons vont croire », Cayrol 1980 : 67), et utilise finalement toutes les ressources de la paronomase (« Je consume sans consommer », Cayrol 1980 : 28). De même, comme en réponse aux impératifs des manifestants qui revendiquent la création pour tous, Cayrol joue de manière humoristique avec l’idée que chacun doit s’emparer l’écriture en proposant, au milieu du recueil, une sorte de mode d’emploi de l’écriture poétique : « Sur cette page, faites votre poème vous-même avec des mots comme […] », suivent alors une série de suggestions : « insurrection », « brume », « graffitis », « soleil », « foudre », etc. (Cayrol 1969b : 101sq.). Il propose également d’utiliser des « Images tirées de la langue parlée et familière » ou de « piquer dans le dictionnaire, dans France-Soir ou sur les murs un mot qui laisse la plume veloutée ou une locution ou un titre » (Cayrol 1969b : 103). On ne saurait faire plus clairement écho à l’idée que ‹ La poésie est dans la rue ›. Poésie Journal - Histoire d’une prairie : dans ce qui oppose ces deux titres, le premier placé sous le signe de l’actualité et le second sous celui de l’Histoire, on voit apparaître une autre caractéristique de l’écriture pratiquée par Cayrol à partir de Mai et qui réside dans l’instauration d’une tension permanente entre actualité et mémoire. Les deux textes sont écrits dans le désir de traduire quelque chose de l’esprit du temps et d’être résolument en contact avec le présent : les allusions à l’actualité qui émaillent ces deux œuvres y tiennent précisément ce rôle et l’on peut s’amuser par exemple de voir passer dans un recueil poétique les noms de Richard Nixon, Maurice Couve de Murville ou Charles de Gaulle. Dans le même temps, l’intérêt de ces textes vient peut-être justement de la remontée apparemment involontaire qu’y opère la mémoire. Au seuil de Poésie Journal, Cayrol dit sa lassitude de l’obsession concentrationnaire qui est la sienne et qu’il entend congédier : Depuis le temps que je nie la mort/ Sur les hauts-plateaux de la poésie et de la mer, […] / Depuis le temps que je propose mes personnages pour des fins non édifiantes […] / Depuis le temps que je n’ai plus le temps./ Joli Gusen aux tempes blanches, bien propre/ Dans ses atours nazis/ Qui vacille comme une pile d’assiettes / Sur une ancienne table de dissection,/ Gusen de mes vingt ans ! […]/ C’est moi qui suis enfin muet sur ce tas de pavés,/ Tendant la main pour qu’on me guide/ Jusqu’à l’émeute (Cayrol 1969b : 11sq.) Ce passage met en place une opposition très nette entre un passé dont le poète est las et un événement auquel il aspire à participer ; pourtant, tout au long de ce recueil placé sous le signe de l’actualité, le souvenir de Mauthausen continuera sourdement de poindre, comme si l’intégration d’éléments tirés de l’actualité permettait de contrebalancer ce souvenir obses- <?page no="180"?> Marie-Laure Basuyaux 156 sionnel sans l’effacer pour autant. Le principe même du recueil, qui consiste à se présenter comme une éphéméride, égrenant les dates les unes après les autres, implique la rencontre de l’actualité et de la mémoire : la date du 11 novembre entraîne logiquement son lot de commémoration ; le mois de mai rappelle quant à lui les retrouvailles de Cayrol avec Paris, en 1945. Le recueil apparaît ainsi écartelé entre le désir de sortir d’un travail de remémoration et l’envie de prendre à bras le corps le présent. De son côté Histoire d’une prairie semble tenir compte de ces rencontres inéluctables entre passé et actualité et choisit de les traiter sur un mode burlesque. Car si l’œuvre se limite à un périmètre très restreint, celui précisément d’une prairie, toute l’histoire du monde vient pourtant se déverser dans cet enclos, faisant se succéder les épisodes les plus anachroniques, dans un joyeux mélange entre hommes de Cro-Magnon et spationautes, prairie vierge et autoroute. Chacune à leur manière, ces deux œuvres cherchent donc à donner forme au désordre. Un désordre temporel pour Histoire d’une prairie puisque ce récit fait abstraction de tout souci chronologique et se plaît à la collision des époques ; un désordre lié aux événements du monde pour Poésie Journal qui restitue le pêle-mêle que représente la lecture de la presse dans son énumération de nouvelles drôles et dramatiques, futiles et vitales, dans sa manière de passer du sacre au massacre. On peut voir là, dans cette liberté prise avec l’ordre, dans ce choix de placer son écriture sous le signe du mélange et du refus de la hiérarchie, l’un des traits spécifiques de l’écriture cayrolienne des années 1970. Si véritablement son œuvre traduit quelque chose du mouvement de Mai et des années qui ont suivi, c’est par ce choix qu’elle fait d’une esthétique de la collision et par sa prédilection pour l’hétéroclite. Poésie Journal ménage ainsi une tension permanente entre ordre (chronologique) et désordre (des événements) ; entre journal intime et journal du monde 7 ; entre événements majeurs et faits divers. De la même façon, Histoire d’une prairie se place sous le signe de l’hétérogène, mélangeant à plaisir les tons (tantôt burlesque, tantôt lyrique), les genres (on passe du roman d’aventure au roman d’amour, du roman de guerre à la pastorale), les discours (qui mêlent slogans, prophétie, discours politique, parodie, propos métapoétiques ou citations du XVI e siècle) dans une polyphonie volontairement disharmonieuse. Cette esthétique de la collision, ce refus de lier les énoncés et les épisodes les uns aux autres, constitue sans doute pour Cayrol une manière de faire écho à l’esprit du temps, ou tout au moins à ce qu’il en perçoit, lui qui déclare : « Je brasse sans unir » (Cayrol 1969b : 206). Finalement, par ce choix d’une esthétique du désordre et de la rencontre dans ce qu’elle recèle d’euphorique ou de violent, l’œuvre de Cayrol donne à voir l’un des visages possibles de Mai 68 dans le champ littéraire. En 7 Les trois recueils font se succéder des évocations très personnelles (notamment celle de Jeanne, l’épouse de Jean Cayrol ; cf. Cayrol 1977 : 29) et des allusions à des conflits internationaux (Angola, Liban, etc. ; cf. Cayrol 1977 : 52). <?page no="181"?> « Nous étions sur la touche ». Jean Cayrol et Mai 1968 157 choisissant de travailler à partir de coupures de presse, de faits divers ou de syntagmes figés, c’est-à-dire précisément à partir d’énoncés non littéraires, Cayrol répond à sa manière à l’un des vœux de Mai qui veut que la poésie soit partout. Il fait de ces énoncés, banals, modestes et accessibles à tous, son matériau de prédilection et les travaille pour en montrer le potentiel de poésie. Cette entreprise de réintégration du lieu commun dans le champ du littéraire, Jean Cayrol la présente pourtant avec un certain sens de la provocation, choisissant de la placer sous le signe de la ‹ récupération ›, mot ô combien honni à l’époque. Pratiquant l’art du détournement jusqu’au bout, il fait du verbe ‹ récupérer › le but ultime d’une écriture qui se veut pourtant accordée à l’esprit de Mai : Poésie Journal est ainsi présenté comme une entreprise de récupération de l’événement, c’est-à-dire comme une manière de se le réapproprier et de le prendre en charge dans l’écriture 8 , Histoire d’une prairie comme une récupération de l’Histoire, et l’ensemble de ses œuvres publiées dans les années 1970 comme une tentative pour récupérer le langage 9 . Ce mot de ‹ récupération ›, qui sonne comme un mot interdit, plutôt que d’être abandonné, se voit ainsi revendiqué par Cayrol. Allant au bout de sa logique, le poète de Mai refuse, puisqu’il est question de prendre la parole et qu’il est interdit d’interdire, qu’aucun mot lui soit confisqué. 8 « Alors j’ai tenté de surprendre l’événement dès sa naissance et dans ses détours, de le retenir et, enfin, de le récupérer dans un langage usuel et privilégié » (« Prière d’insérer », Cayrol 1969b : s.p.). 9 « Au fond 1968, c’est la même chose, c’est la récupération du langage » ; « Alors si je prends l’écriture, si je prends des mots anodins, si je prends des mots très simples, c’est pour essayer de récupérer. Parce que je fais de la récupération » (Vrigny 1970a). <?page no="182"?> Marie-Laure Basuyaux 158 Bibliographie Daniel Bensaïd/ Henri Weber, Mai 68 : une répétition générale, Paris 1968. Julien Besançon, « Les murs ont la parole », Journal mural Mai 68, Sorbonne, Odéon, Nanterre, etc., Paris 1968. Jean Cayrol, « Le coin de table », in : Ecrire I/ 1956, 3-11. Jean Cayrol, Les corps étrangers, Paris 1959. Jean Cayrol, Le froid du soleil, Paris 1963. Jean Cayrol/ Claude Durand, Le droit de regard, Paris 1963. Jean Cayrol, De l’espace humain, Paris 1968. (1968a) Jean Cayrol, Je l’entends encore, Paris 1968. (1968b) Jean Cayrol, Histoire d’une prairie, Paris 1969. (1969a) Jean Cayrol, Poésie Journal, Paris 1969. (1969b) Jean Cayrol, Poésie Journal II, Paris 1977. Jean Cayrol, Poésie Journal III, Paris 1980. Jean Cayrol, Il était une fois Jean Cayrol, Paris 1982. Jean Cayrol, Nuit et Brouillard, Paris, 1997. Michel de Certeau, « Prendre la parole » (1968), in : id., La Prise de parole et autres écrits politiques, Paris 1994, 40-57. Pierre Dumayet, Vocations, Paris, ORTF, 39 min., 6 juillet 1969. Edgar Morin/ Claude Lefort/ Jean-Marc Coudray, Mai 68 : la brèche, Paris 1968. Bernard Pivot, Strophes. Jean Cayrol, Paris, A2, 16 min, 11 septembre 1988. Wilhelm Reich, La Révolution sexuelle, Paris 1968. Olivier Rolin, Tigre en papier, Paris 2002. Philippe Sollers, « Une présence parmi les jeunes : un rôle décisif », in : Le Monde des Livres, 31 janvier 1968, IV. Roger Vrigny, Entretiens avec : Jean Cayrol, Paris, ORTF, France Culture, 13 juin 1970. (1970a) Roger Vrigny, Entretiens avec : Jean Cayrol, Paris, ORTF, France Culture, 20 juin 1970. (1970b) Monique Wittig, Les Guérillères, Paris 1969. <?page no="183"?> Timo Obergöker Une journée à Nanterre. Le 22 mars 1968 dans Derrière la vitre de Robert Merle 1. Le roman universitaire - un genre en éclosion Le succès qu’a connu ces dernières années le genre du roman universitaire - si tant est que cette notion convienne - est un parfait produit de la démocratisation de l’enseignement des années soixante 1 , L’année mythique 68 fut précédée d’une ‹ démocratisation › ou ‹ massification › de l’enseignement supérieur 2 . Ainsi, un public plus large aura accès à l’institution ‹ Université › et en connaîtra les joies et les frustrations. De cette façon, le lectorat du roman universitaire ayant vécu la Faculté et connaissant ses modes internes de fonctionnement a sensiblement augmenté, permettant de la sorte au genre du ‹ roman thématisant l’Université et cela exclusivement › de connaître un succès commercial. Le véritable maître du genre est le Britannique David Lodge, lui-même un universitaire, qui dans la trilogie organisée autour de l’Université de Rummidge, dresse un portrait aussi attendrissant que cynique de l’enseignement supérieur anglo-saxon. Changing places (1975) relate un échange entre deux professeurs, Philipp Swallow de Rummidge, pastiche de l’Université de Birmingham, un endroit plutôt sombre dans les années 1970, et son collègue étatsunien Moritz Zapp, professeur titulaire dans la très prestigieuse Université d’Euphoria, qui n’est autre que Berkeley. Small world (1985) raille le tourisme académique, les éternels colloques et la course effrénée vers une chaire exclusivement consacrée à la Recherche, financée par l’UNESCO. Se tisse, en parallèle, une histoire d’amour entre un jeune assistant irlandais et la très belle et très huppée et très structuraliste Américaine Angelica. Nice work (1988), finalement, oppose le monde de la Faculté et celle de l’entreprise en mettant en scène une jeune et brillante docteure ès Lettres, Robyn, qui dans le cadre d’un partenariat avec une entreprise devra assister le moins jeune et moins brillant manager Vic 1 La notion de roman universitaire nous semble le mieux illustrer la réalité de ce genre aux contours peu définis. Dans le domaine germanophone, l’on parlerait plutôt de ‹ Campusroman ›, dans le domaine anglophone de ‹ university-novel ›, ‹ campus-novel › ou ‹ college novel ›. La critique littéraire anglophone emploie également le terme de ‹ critifiction ›, une forme de littérature dans le cadre de laquelle critique littéraire et fiction s’envoient sans cesse des passerelles. 2 Concernant la démocratisation de l’enseignement supérieur en France, cf. Rioux/ Sirinelli (2005). <?page no="184"?> Timo Obergöker 160 Wilcock. On l’aura compris, cette structure organisée autour de l’opposition permettra à l’auteur de confronter deux modes de vie, deux façons diamétralement opposées de percevoir tant la vie professionnelle que la vie affective. Ce qui caractérise les textes de Lodge, c’est bien la coprésence de plusieurs « couches de signification » (cf. Lodge 1992: 138ssq.), en effet, le lecteur averti lira Small world comme une réactualisation du roman chevaleresque du moyen-âge (cf. Mews 1989: 719sq.; Reckwitz 1987: 211). Ainsi, une lecture innocente et une lecture plus profonde se superposent. Dernier exemple du monde anglo-saxon, I am Charlotte Simmons (2005) de Tom Woolfe, s’organise autour de la perspective d’une étudiante, Charlotte Simmons, qui, originaire d’une famille très croyante du sud des Etats-Unis profite d’une bourse d’études pour s’inscrire dans une des prestigieuses universités de la Nouvelle Angleterre. C’est là qu’elle va faire son éducation sentimentale et sexuelle. Revers de la médaille: en raison de la médiocrité ambiante, loin d’être à la hauteur de ce que l’on serait en droit d’attendre d’une université d’excellence, elle perd son goût du travail bien fait. Sa première année représentera donc un échec cuisant. Le roman allemand Der Campus de Dietrich Schwanitz, paru en 1995 et qui n’a rien perdu de son actualité fonctionne également selon un schéma relativement simple. Un professeur de sociologie couche avec une étudiante quelque peu instable, celle-ci s’évanouit lors d’une répétition de théâtre et dévoile son mystère. La déléguée à la condition féminine, instance redoutée dans l’université allemande, envisage l’incident comme un parfait prétexte pour souligner son importance au sein de l’Université et mobilise ses alliés, transformant un acte sexuel entre consentants en viol. Le professeur en question quitte la Faculté, victime d’une intrigue dans le cadre de laquelle chacun cherche à dissimuler sa médiocrité. Dans le domaine français, plusieurs romans ont paru ces deux dernières années, mettant en scène les absurdités et les dysfonctionnements d’un système universitaire particulièrement sous-financé. Ces parutions représentent des indices clairs que la question de l’enseignement supérieur en France réapparaît sur le devant de la scène et elles représentent en quelque sorte les illustrations fictionnelles de nombreux essais fustigeant le malaise dans l’enseignement supérieur français. L’ensemble des textes, qu’ils soient fictionnels ou non, illustre clairement la présence d’un débat sur l’avenir et le rôle de l’Université au sein de la Cité. Félicitations du jury (2007) de Clarisse Buono qui d’après la quatrième de couverture a « enseigné à Paris V, Amiens et Lille III et dont le CV fait quinze pages sous forme réduite et vingt-six dans sa forme plus détaillée », raconte les années d’humiliation subies par un jeune thésard en sociologie dans une université imaginaire, entre les allocations au chômage, des petits boulots ardus à supporter, l’exploitation par le professeur, les colloques internationaux rappelant plus La Croisière s’amuse qu’un travail sérieux. Or, le jeune protagoniste constatera le jour de la soutenance que les projets <?page no="185"?> Une journée à Nanterre 161 postdoctoraux sur lesquels il avait construit son avenir étaient des promesses vaines: Un guignol qui pensait qu’il allait sortir de sa petite condition par la grande porte. Mais c’était n’importe quoi. La Recherche se rebellait. Elle ne voulait pas d’un pauvre beauf de Lyon dont ‹ l’habitus culturel › se résumait aux cinq chaînes hertziennes. Son CV, sa mention, ses relations, tout ceci n’avait pas fait illusion, il retournait à la case de départ. Il était disqualifié. L’idée de s’ouvrir les veines avec le bris d’une des coupes de champagne lui plaisait beaucoup. Cela faisait longtemps qu’il n’avait pas eu envie de quelque chose à ce point-là. (Buono 2005: 39sq.) Après une soutenance avilissante, le jeune docteur se suicide dans les toilettes de sa Faculté. Et dans le délire précédant son décès, il va assister à un véritable florilège d’humiliations, sa copine couche avec le jeune et brillant normalien Antoine, deux jeunes thésards qualifient son discours de « merdique », ses parents avouent ne rien comprendre à ce que fait leur fils, les membres du jury affirment que ce brave jeune homme n’est pas fait pour la recherche. Le roman Petits crimes contre les Humanités (2006) de Pierre Christin se présente comme un roman policier en milieu universitaire. La mort subite d’un professeur d’histoire de l’art, possédant une riche collection de tableaux rares et précieux, va éveiller des envies d’une bande de criminels. Se tissent de nombreuses actions parallèles: courriels anonymes, disparitions de personnes et de copies d’agrégation, règlements de comptes, Américaines férues de gender studies, le texte ne rate aucun préjugé, aussi gros fût-il. A la fin de la narration, le lecteur découvrira que c’est une bande de trafiquants d’art qui a manipulé les maillons les plus faibles du monde universitaire afin de s’emparer des tableaux. A maints égards, l’intrigue se présente comme un prétexte afin de dresser un portrait impitoyable de l’enseignement supérieur français. C’est Simon qui se situe au centre de la narration, un jeune demi- ATER (Attaché temporaire d’enseignement et de recherche, la fonction la plus précaire dans une université française) dans une Faculté de la France profonde, en l’occurrence à Nevers, faculté inventée, qui incarne un héros pas encore corrompu par l’absurdité du système qui l’entoure. Autre roman paru en 2008 est Qui trop embrasse de Judith Bernard. Ce texte, aux allures autobiographiques, relate les déboires d’une jeune et talentueuse doctorante en Études Théâtrales qui déniche un poste d’ATER à Lyon. Cette fois-ci l’Université est donc réelle, aussi réels que le sont le népotisme et le manque de transparence des procédures d’embauche et de soutenance. Qui trop embrasse, rate le train, à la fin du texte, après quatre ans de thèse et sans aucune félicitation du jury, la porte d’entrée dans le monde de la recherche, la protagoniste se retrouve enseignante dans un lycée du légendaire département 93, ce fameux neuf-trois, espace de projection d’une France qui a du mal à s’orienter dans ce nouveau monde mondialisé. <?page no="186"?> Timo Obergöker 162 Il convient de noter que dans tous les textes mentionnés, la notion d’espace joue un rôle prépondérant. Dans une logique lotmanienne, il est bon de constater que c’est la forte inscription spatiale du roman universitaire avec, y attenant, le franchissement d’un seuil réel ou imaginaire, qui en constitue le noyau. Partant, tous les éléments du texte coopèrent pour sémantiser l’espace que représente l’Université, espace incarné en règle générale par le campus. De par cette logique spatiale, engendrant une logique d’événement, tous les romans abordés mettent en scène un campus imaginaire représenté comme un monde à part qu’un néophyte, jeune enseignant ou étudiant, découvre jusque dans ses moindres absurdités (cf. Lotman 1973). Il y a bien souvent une enquête qui est liée. De nombreux éléments créent finalement une image en miroir avec le monde extrauniversitaire, régi par des paramètres ‹ normaux ›. La frontière séparant l’espace de la Faculté est bien réelle, or, pour ‹ faire événement ›, elle doit être traversée. Cette dynamique se trouve déjà chez Fran ç ois Rabelais, lorsque Pantagruel rencontre l’étudiant limousin qui contrefaisait le langage français aux portes de Paris: Un jour, je ne scay quand, Pantagruel pourmenoit après soupper avec ses compaignons, par la porte dont l’on va à Paris. Là rencontra un ecollier tout jolliet qui venoit par icelluy chemin et après qu’il se furent saluez, luy demanda: ‹ Mon ami dont viens-tu à ceste heure? › L’escholier lui répondit: ‹ De l’alme, iclyte et célébre acedemie que l’on vocite Lutèce. › - « Qu’est-ce à dire? dist Pantagruel à un de ses gens? - C’est respondit-il de Paris. - Tu viens doncques de Paris, dist il - Et à quoi passet vous le temps, vous aultres messieurs estudiens, audict Paris? » Respondit l’escolier: « Nous tranfretons la Sequane au dilucule et crepuscule, nous deambulons par les compites et quadrivies de l’urbe, nous despumons la verbocination Latiale et comme verisimiles amorabonds, captons la benevolence de l’omnijuge, omniforme et omnigene sexe feminin ». (Rabelais 1975: 92) La porte de Paris marque le seuil entre l’univers estudiantin et l’univers extérieur. De ce fait, l’espace universitaire est doublement marqué, tant par l’espace que par ses us linguistiques. Et c’est dans cet univers que pénétrera Pantagruel, désireux de faire ses humanités. Il va rapidement passer son stade de néophyte, afin de se transformer en un véritable étudiant. Le ‹ genre › du roman universitaire se délimite donc d’autres formes romanesques par une inscription spatiale particulièrement forte, celle-ci étant incarnée par le campus envisagé comme un monde régi par ses propres paramètres. Par ailleurs, le texte opère avec des antagonismes faciles et avant tout un répertoire de préjugés et de stéréotypes tous azimuts: sociologiques, linguistiques et vestimentaires. La construction romanesque passe au second rang, puisque ce genre cherche en général à faire passer un <?page no="187"?> Une journée à Nanterre 163 message clair qui est d’ailleurs semblable dans de nombreux textes. Non seulement que l’Université est un espace singulier, mais encore un malaise profond s’est emparé de cet espace. Par ailleurs, un appel au secours se fait entendre: il convient d’agir au plus vite! Dans d’autres textes, cet appel au secours est largement absent et remplacé par un simple désir d’explication ou de présentation. Dans l’un comme dans l’autre cas, cependant, le fond l’emporte largement sur la forme, le travail formel demeure un fait secondaire, la structure des textes est des plus classiques. 2. Debout, les damnés de Nanterre Le roman Derrière la vitre de Robert Merle est l’un des premiers romans qui relatent dans l’immédiateté les événements du printemps 1968, avec cette particularité toutefois que le texte s’arrête à l’occupation de la tour le 22 mars à Nanterre, fait historique qui va déclencher un mouvement contestataire massif se répandant jusqu’à la Sorbonne et ayant les conséquences que l’on connaît. Robert Merle était alors professeur à Nanterre. En partant des termes ‹ espace › et ‹ roman à thèses ›, nous tenterons de nous interroger sur le rôle qui peut incomber à ce roman dans l’immédiat après-68 pour la constitution d’une culture mémorielle collective. Le roman Derrière la vitre commence en présentant l’espace dans lequel l’intrigue va se dérouler. Nanterre, jadis un village bucolique aux portes de Paris, plus tard, un petit village, entouré de terres en jachère, ensuite, un terrain découvert par l’industrie parisienne vorace de terrains, Nanterre, après la guerre, va accueillir les bidonvilles pour les travailleurs immigrés qu’Azouz Begag a dépeintes de manière impressionnante dans Le gône du Chaaba (1986). Et c’est là, devant les portes de Paris, dans la boue loin de tout, que le gouvernement français décide de construire une nouvelle Université qui puisse décharger une Sorbonne trop pleine. Nanterre va donc connaître une carrière étonnante, le petit village sera ville universitaire et préfecture en peu de temps. Nanterre va constituer le nucléus d’un phénomène qui marquera tant la France que l’Allemagne, à savoir la ‹ periphérisation › de l’enseignement supérieur. Là où dans Pantagruel le seuil à franchir était celui de l’espace urbain étant en même temps celui dans lequel le savoir était normalement intégré, dorénavant le savoir se situera en marge de nos villes, dans des zones périphériques, un fait qui coupera durablement le monde de l’université de la ville. Derrière la vitre est précédé d’une préface dans laquelle l’auteur explique la genèse du texte. Le dessein de rédiger un roman sur le monde estudiantin était antérieur à 1968 et l’auteur avait recueilli de nombreuses informations auprès de ses étudiants quand eurent lieu les événements qui ont précipité <?page no="188"?> Timo Obergöker 164 son dessein 3 . Par ailleurs, le texte comporte un long discours justificatif dans lequel l’auteur explicite son approche plutôt classique - pour ne pas dire conventionnelle - susceptible de choquer les adeptes du Nouveau Roman et de l’aventure d’une écriture: Pour réaliser mon dessein, j’ai employé, j’espère en le renouvelant, un procédé ‹ démodé › […] qui avait cours dans les années trente de ce siècle et qui s’appelait, je crois, le simultanéisme. Il s’agit de personnages, présentés sans liens entre eux et vivant isolément et parallèlement, dans un même lieu, dans un même temps, des existences séparées. C’est parce que le thème de la solitude et de l’incommunicabilité m’est apparu dès le début, à travers les confidences qui m’étaient faites, comme le thème majeur de la vie d’étudiante à Nanterre, que j’ai utilisé ce type de narration. (Merle 1970: 11sq.) D’une manière éloquente, le terme « démodé » illustre à quel point une approche classique de la thématique incriminée faisait figure de corps étranger dans le champ littéraire français des années soixante-dix. Merle toutefois se révèle assez lucide quant aux problèmes intrinsèques à son approche. S’il affirme que son projet littéraire se situe à cheval entre fiction et documentation, il n’en a pas moins conscience que la construction romanesque avec « de[s] personnages crédibles, de[s] situations réelles, [un] récit cohérent » et surtout « un auteur et son poids de subjectivité » (Merle 1970: 13) n’est point dénuée d’ambiguités. Robert Merle avoue donc qu’il réside une certaine contradiction dans le « désir de documentation » d’un côté et le « désir de s’affirmer comme auteur » de l’autre. Or, selon l’auteur, cette déchirure est à l’image-même de ce qu’il a pu éprouver en tant que témoin, où il était constamment pris entre « l’approbation et l’antipathie […], la désapprobation et la connivence » (Merle 1970: 14). Il y a là une tension que l’auteur ne cherche pas à dépasser, en découle toutefois la position d’ironie de l’auteur à certains égards. Retenons d’ores et déjà que l’auteur est bien plus présent dans le texte que son discours initial ne le laisserait supposer. Robert Merle se situe parmi ces auteurs inclassables qui se meuvent dans une zone d’ombre entre littérature populaire et haute littérature. Nombreux 3 « La conception de ce roman ne date pas de la crise de Mai. Elle lui est antérieure. En novembre 67, plusieurs mois, par conséquent avant les barricades, je confiai à mes étudiants le projet de ce livre et leur demandai de m’aider à mieux les connaître ; il s’agissait pour eux de venir me parler d’eux-mêmes, sans fard, ni tabou. Accord d’abord réticent, mais de plus en plus enthousiaste au fur et à mesure que parmi eux le bruit se répandait de l’ ‹ intérêt › de ces entretiens. Je remarquai alors, non sans un retour ironique, qu’un professeur n’a pas besoin d’ouvrir la bouche pour être ‹ intéressant › : il lui suffit d’écouter. […] J’aurais peut être pu me dispenser de ces interviews, baignant depuis quarante ans l’Université et connaissant les détours du sérail. Mais bien qu’ayant eu toujours beaucoup de contact avec mes étudiants, j’ai pensé que l’occasion était bonne pour me recycler en les multipliant. J’y gagnai ? Comment dire ? de subir à leur contact, malgré mon âge, un certain désir d’assimilation, au niveau du moins des idées et de la langue. Il est vrai j’allais loin : j’avais parfois la rafraîchissante idée de devenir l’un d’eux. Mais je concède qu’il ne s’agissait là que d’une illusion. Ou peut-être d’un dédoublement utile à mon projet. » (Merle 1970 : 9sq.) <?page no="189"?> Une journée à Nanterre 165 sont ses romans qui ont connu un succès commercial dans la France des Trente Glorieuses. Son roman le plus controversé et en même temps le plus réussi est La mort est mon métier (1957) dans lequel il relate la Shoah en prenant pour narrateur le commandant du camp de mise à mort Auschwitz, Rudolf Höß 4 . Ainsi, Robert Merle anticipe la stratégie narrative de Jonathan Littell dans Les Bienveillantes (2006) et force est de dire que cette position, même si modeste, paraît infiniment plus sincère que celle grandiloquente de Littell. Week-end à Zuydcoote, autre roman abordant la question de la guerre et Prix Goncourt de 1949, narre l’histoire d’un soldat français désireux de se rendre en Angleterre sur un simple bateau après la défaite française à Dunkerque. Le roman L’île (1962) qui lui valut le Prix contre le racisme du MRAP (Mouvement contre le Racisme et pour l'Amitié entre les Peuples) relate de manière assez classique dans la lignée de textes comme Le seigneur des mouches de William Golding ou L’île des esclaves de Pierre Carlet de Marivaux, la reconstruction d’une nouvelle société après que des mutinés ont pris le pouvoir d’un navire. Le texte se déroule au XVIIIe siècle et soulève avec force la question des fondements même de nos sociétés humaines. Derrière la vitre est d’une construction assez simple. Le roman relate la journée du 22 mars 1968 à Nanterre de six personnages principaux dont chacun peut être considéré comme représentatif d’un type ou d’un groupe. Les différents récits des personnages sont juxtaposés, il n’y a pas au prime abord un lien entre les figures qui interviennent dans la narration. De temps à autre, ils se croisent sans que l’auteur fît des efforts pour vraiment complexifier le fil de l’histoire. Si apparemment le texte n’en est pas un qui privilégie le style, il n’en a pas moins une approche que l’on pourrait qualifier de documentaire au sens stricte, malgre les déclarations de l’auteur Lucien Ménestrel se situe au centre de la narration, figure sympathique, progéniture d’une très bonne famille, sa mère signe ses lettres Julie de Belmont-Ménéstrel, même si elle est totalement désargentée. Lucien représente une sorte de Rastignac du monde moderne à cette exception près qu’il cherche à y arriver moyennant travail et que sa mère répond par la négative lorsqu’il lui envoie une demande de soutien financier. Son antagoniste, selon la logique de la diégèse, denommé David Schultz, la « belle gueule de la Faculté », désinvolte, à l’aise, très engagé à gauche est quant à lui fort bien soutenu par son père chirurgien que David déteste parce qu’il n’a rien de détestable. Le père ne s’inscrit pas dans une logique simple d’antagonisme des classes parce qu’il est de toute évidence bourgeois sans se comporter comme tel. David Schultz couche avec la belle, svelte et longiligne Brigitte, dans ses propres mots une gauchiste du XVIe arrondissement qu’il va voir en dépit de l’interdiction formelle du recteur dans sa chambre à la Cité U. Il est clair que la construction des personnages fonc selon des antagonismes et des stéréotypes assez faciles: noble mais pauvre, 4 Il s’agit d’un des rares textes de Merle qui a fait l’objet d’une étude scientifique (Amossy 2001). <?page no="190"?> Timo Obergöker 166 beau, révolutionnaire de bonne famille, gauchiste au féminin ayant grandi avenue Foch. Dans cette logique, être noble revient naturellement à être aisé. Autour de ces personnages dominant la première partie de la narration oscillent nombre de figures qui paraissent secondaires mais qui s’inscrivent parfaitement dans le désir de dresser une fresque de la société estudiantine du printemps 1968. Ainsi les trois étudiants de l’U.E.C (Union des Étudiants Communistes) sont les cibles privilégiées des autres étudiants d’extrême gauche, organisés dans les groupuscules, dits ‹ groupusses ›, dont les divergences politiques en vérité minimes les séparaient comme autant de murs paraissant infranchissables. Ces étudiants communistes sont d’ailleurs un peu idéalisés, sages et travailleurs, simplement vêtus, passant leurs vacances à Cuba et bien évidemment s’élevant en faux contre l’Occupation de la Tour prévue pour le soir même et contre lequel ils vont rédiger un tract. Or, notons que Derrière la vitre comporte aussi des éléments assez astucieux, ainsi, les scènes de cours magistral en amphithéâtre permettent à l’auteur des introspections profondes dans les états d’âme estudiantins. A la faveur d’une technique romanesque qui s’avoisine du langage filmique, le narrateur effectue des arrêts sur image en passant par un certain nombre d’étudiants et, de la sorte, élargit le panorama quelque peu restreint qu’il a dressé auparavant. Une explication de texte sur Hamlet devient donc un bruit de fond qui cède la parole aux différentes préoccupations des étudiants, présents au cours. Pour conventionnelle que puisse paraître la construction romanesque, elle n’en fournit pas moins une vue d’ensemble sur le monde universitaire du printemps 1968. Outre une simple étude sociologique documentaire, le texte réussit à intégrer, par le truchement d’une énorme part de discours direct, les us linguistiques de cette génération dans leurs diverses facettes. Jargon étudiant, argot, langage ouvrier et immigré, autant d’éléments qui font entrée dans le texte. Or, l’aspect certainement le plus intéressant du texte gît bien dans la reproduction des éternels différends idéologiques étranges dans leur violence, leur vocabulaire et dans l’ardeur et l’âpreté de leurs négociations: Pour lutter contre la paupérisation et le mécontentement du prolétariat la bourgeoisie sera acculée au fascisme et à la destruction du mouvement ouvrier. L’avènement du fascisme, en France comme ailleurs, est inscrit dans la stagnation économique et le chômage de masse. […] Camarade, je ne suis pas d’accord avec ton analyse et je ne suis pas non plus d’accord avec tes conclusions. Ta description de la société bourgeoise n’a aucun rapport avec les faits. Le capitalisme mondial n’est pas stagnant, bien au contraire, il est en pleine expansion. La réforme Fouchet n’a pas pour but la destruction de l’Université, mais au contraire, son adaptation technocratique à l’expansion de l’économie. Ta vision des choses, comme celle de tout ton groupe, d’ailleurs, est irréelle, antihistorique et cataclysmique. (Merle 1970: 352sq.) Pour ce qui est de la représentation du personnel enseignant, l’on constatera rapidement que les procédés se ressemblent et sont organisés <?page no="191"?> Une journée à Nanterre 167 autour de binômes. Vers le début de roman deux assistants se retrouvent devant le bureau du professeur: Marie-Paul Lagardette, bourgeoise comme son foulard Hermès l’indique, et le fort sympathique Delmont attendent le redouté M. Rancé, pour demander une promotion. Le portrait du professeur sera fait par Delmont qui n’obtiendra pas gain de cause et dont la frustration influence le portrait qu’il dresse: Et maintenant, la cinquantaine passée, chef de département à Paris-Nanterre, n’oublions pas, s’il vous plaît, Paris-Nanterre, ce n’est pas tout à fait la Sorbonne, mais ce n’est déjà plus la province, il aspire à l’Institut et à la rosette, et en attendant, cède doucement à la tentation de se prendre pour une espèce de monarque absolu, créant à son profit chez quelques assistants ambitieux et un cercle sélectionné d’étudiantes un lèche-cultisme admiratif-affectueux absolument délirant, avec, pour les happy-few, réceptions et anniversaires dans sa villa de Saint-Cloud, petites fêtes dont il est le centre et l’autel, trônant sur une chauffeuse Louis XV modestement basse au milieu de l’encens général. (Merle 1970: 71) Au fil de la narration, cette présentation simpliste gagne en complexité. A la faveur d’une structure analogue à celle qui a présenté le monde des étudiants, le travelling en amphithéâtre, ce même Delmont va tenir lieu de personnage focal et, par le biais d’une focalisation interne, faire un tour de la salle des professeurs. Tandis que le professeur vieille école Rancé crache son venin sur les révoltes étudiantes, deux de ses collègues sont absorbés dans une conversation au fil de laquelle ils tentent de déceler les structures profondes du mouvement. Dans la logique narrative, il est parfaitement éloquent d’observer que Rancé est dépourvu du droit à la parole directe, alors que deux de ses collègues conversent directement sur les événements et s’interrogent sur les mutations dans la société qui y ont conduit. L’un des deux professeurs discutant, Frémincourt, de situer les événements de mai 68 dans l’avènement de la société de consommation de masse: A mon avis, enchaîna Frémincourt, voilà ce qui s’est passé. On a tout d’un coup découvert que les jeunes représentaient un énorme marché pour le disque, les transistors, les électrophones, les accessoires de sport, le tourisme, alors, tout d’un coup, à la radio, à la télévision, dans la presse, on leur a fait une place énorme, il y a eu en France et en Europe une idolâtrie des jeunes à la manière américaine et pour les mêmes raisons commerciales. C’est de cette idolâtrie que tout est venu. […] Et les étudiants, parce qu’ils bénéficient de moyens techniques de réflexion, ont été les premiers à comprendre qu’il y avait là une duperie. (Merle 1970: 271sq.) L’on comprendra aisément que l’auteur s’exprime lui-même à travers ces deux personnages, un soupçon qui se confirme par l’affirmation suivante qui fonctionne de manière analogue à ce que Merle a lui-même exprimé dans la préface: Il me semble que par cette démarche le mouvement étudiant rejoint tout un courant de pensée de notre époque: Prenez le structuralisme: c’est une hypothèse de travail tendant à évacuer le sens hors du langage: Prenez le nouveau roman, c’est une tentative pour chasser du récit les personnages et les situations. Et <?page no="192"?> Timo Obergöker 168 prenez le mouvement étudiant: c’est une aspiration à bannir du projet révolutionnaire l’organisation, le programme et la stratégie. Dans les trois cas, vous avez une tendance à valoriser les formes en vidant le contenu. […] Structuralisme, nouveau roman, mouvement étudiant, trois tentatives antihumanistes et qui marquent peut-être une certaine fatigue de l’homme à s’assumer comme tel. (Merle 1970: 272) Si la construction du personnel étudiant dans ces romans suit un schéma privilégiant l’ampleur panoramique au détriment de la profondeur psychologique, le procédé semble être identique pour la représentation des enseignants. Plutôt qu’à des personnages dotés d’une réelle profondeur, nous sommes confrontés à des types. A côte du vieux réactionnaire, les deux humanistes compréhensifs mais néanmoins critiques, le lecteur se voit en présence également de la jeune assistante, Colette Graff, vaguement exaltée, qui représente la mouvance gauchiste au sein du syndicat des enseignants. A la fin du texte, la structure linéaire est abandonnée au profit d’une structure parallèle, le narrateur est donc arrivé à la fin de la journée qu’il a racontée par strates successives, or, maintenant puisque les événements du 22 mars ne sont pas terminés, on en aura une version juxtaposée. Nous sommes en présence de quatre événements parallèles, les étudiants qui occupent la tour, un professeur invité de Cologne souffre d’un malaise cardiaque, un concert de musique classique a lieu mais sera perturbé par les étudiants et Ménestrel, le sympathique descendant de la noblesse de campagne désargentée embrasse pour la première fois une fille. C’est notamment la simultanéité du concert classique et de l’occupation de la tour qui présagent l’avènement d’un monde nouveau. Le texte se limite donc à nous relater la journée du 22 mars 1968, sans aucun indice concernant les événements d’envergure qui viendront. On a toutefois compris à la fin de la narration que tout un monde semble - provisoirement - s’écrouler et que l’après-22-mars sera un monde aux allures nouvelles. 3. Lire Derrière la vitre aujourd’hui Nous sommes en présence d’un texte qui puise sa force dans l’immédiateté de ce qui est raconté. Il semble ainsi légitime de soulever la question de savoir pour quelles raisons une lecture aujourd’hui en vaut la peine. En effet, les événements de mai 68 sont aujourd’hui sujets à certaines mystifications de mauvais aloi. Les premiers mystificateurs, n’en déplaise à certains, sont ceux qui ont participé dans leur jeunesse à la révolte estudiantine et qui se complaisent aujourd’hui dans leur rôle d’ancien de 68 sans être capable de voir que la révolte n’a pas eu que des effets positifs. La première vertu de ce texte réside donc indubitablement dans son côté démystificateur. Avec une certaine bienveillance Merle nous fournit un panorama du monde universitaire de 1968 sans pourtant glorifier l’un ou l’autre côté. Il ne <?page no="193"?> Une journée à Nanterre 169 dénonce pas les revendications des révoltés, il les présente de manière assez sympathique - sans toutefois omettre qu’une certaine couche sociale était particulièrement active dans le mouvement étudiant. Il n’en dissimule pas moins que le mouvement de 68 était loin d’être généralisé et qu’il y avait bon nombre d’étudiants qui n’y ont pas participé, pour diverses raisons. Le texte est parsemé d’autant de jalons qui soulignent que les événements de 1968 mettront fin à un monde, celui de l’éducation élitiste pour une partie infime de la population, celui d’un canon classique inébranlable, celui d’une université hyper-sélective avec des taux d’échecs aux alentours de 70%. Cette émergence d’un monde autre est bien soulignée par la fin du texte marquée par la coprésence de deux événements, d’un côté les professeurs et certains assistants assistent à un concert de musique classique tandis que les jeunes révolutionnaires vont occuper la salle de réunion des professeurs. Le dynamisme aussi bien que la primauté du discours seront à la jeunesse - provisoirement. Cette vision du mouvement présente, me semble-t-il, un intérêt tout particulier pour une personne ayant grandi à l’étranger. Brigitte Heymann soulève dans son texte consacré à la réception de Merle en République Démocratique Allemande la question assez pertinente de savoir comment un lecteur contemporain enfermé derrière le rideau de fer était susceptible de lire le texte, d’autant que la traduction a dû se faufiler, laissant dans le texte des phénomènes risquant de choquer le lecteur dans la sphère communiste, comme le petit poème porno, la 2CV, khâgne, hypokhâgne, le VIIe arrondissement, la librairie Hachette, un agrégé, un mandarin, autant d’éléments qui doivent laisser perplexe le lecteur démuni de toute possibilité de voyage (cf. Heymann 1999). Toujours est-il que malgré ces traductions tantôt fausses, tantôt faites sans vraiment connaître l’objet, la fascination qu’exerce le texte sur un lecteur étranger reste immense. Même pour un lecteur occidental qui dispose de la possibilité de se rendre en France, le texte se caractérise par un certain exotisme ce qui en constitue un intérêt outre celui de l’intrigue. Étant donné que la particularité du roman réside de plus dans son immédiateté, il donne une ethnographie du monde étudiant aux alentours des événements de 1968. Tel un roman historique, il permet ainsi un véritable voyage et dans le temps et dans l’espace. Par le moyen de la (docu-)fiction, Merle ne se contente pas de décrire les essors de la révolte estudiantine, mais encore il tente d’en déceler les structures profondes. Il part en quête des raisons du malaise social qui se manifeste violemment dans les émeutes des étudiants. Et il perçoit la première raison de ce malaise dans la relation conflictuelle avec le père. Vers cette même époque, le psychanalyste allemand Alexander Mitscherlich viendra parler d’une société où le père, un idéal d’identification positif est en voie de disparition, car il est définitivement tombé en discrédit dans les grands traumatismes de ce XXe siècle (cf. Mitscherlich 1968). Il ne semble ainsi être guère étonnnant que Ménestrel soit orphelin du côté paternel. Tous les autres personnages n’ont cesse de tuer symboliquement leurs pères, <?page no="194"?> Timo Obergöker 170 y compris les assistants. Pour facile et stéréotypée qu’elle puisse paraître, cette idée se transforme en une véritable ligne directrice du texte. David Schultz de s’exprimer comme suit à propos de son père: Il [David Schultz] sortit son paquet de gauloises, plus qu’une, je me le réserve pour le café, en poche quatre francs cinquante et dans le portefeuille, plié en deux, le chèque de Papa reçu il y a vingt et un jours, le premier du mois pile, et moi, comme un con, je mégote et je bouffe des sandwichs plutôt que d’aller le toucher. [...] Et qui pis est, plus brave mec que Papa pas possible, astucieux, discret, gentil, absolument pas emmerdant, un père en or et un chèque en début de mois, c’est dégueulasse, ça me fout une mauvaise conscience terrible d’être privilégié à ce point. (Merle 1970: 193) Il est intéressant d’observer que même ce chèque instaure un antagonisme supplémentaire entre Ménestrel et Schultz. Josette Lachaud, étudiante nouvellement révolutionnaire qui s’en prend à son prof Frémincourt, figure paternelle s’il en est. Et même Delmont après avoir bousculé Rancé ressent son impolitesse comme une énorme libération, comme le fait d’avoir « émasculé Ouranos ». (Merle 1970: 281) Derrière la vitre est tombé dans un oubli quasiment irrévocable duquel même les festivités mémoratives tous les dix ans après 68 n’ont point réussi à le faire ressortir. Avant de conclure, interrogeons-nous sur d’éventuelles raisons pour cet oubli. Curieusement, mai 68 a donné lieu à peu de textes pérennes dans l’histoire littéraire. Chien blanc (1970) de Romain Gary est autant tombé dans les oubliettes de l’histoire littéraire que L’irrévolution (1971) de Pascal Lainé. Il est curieux de constater que les événements de mai eussent un profond impact sur la société française sans néanmoins laisser de traces durables dans le paysage littéraire. Si les œuvres historiographiques pullulent, l’amateur du texte littéraire reste sur sa faim. Sans doute, l’ère des grandes fresques de la société comme Les Thibault (1920-1940) de Roger Martin du Gard est-elle révolue et par ailleurs l’idéologie dominante des années soixante et soixante-dix était davantage marquée par l’abandon des panoramas réalistes. Qui plus est, le printemps de 1968 entrera vite dans la mythologie de chacun qui y a participé avec la certitude inébranlable de se trouver du bon côté. Et la véritable littérature de mai, celle de circonstance, fera vite apparition sur le marché du livre sous forme d’anthologies. Il est indéniable toutefois que les révoltes ont foncièrement changé et les formes et les contenus littéraires. La quête de soi, un nouvel individualisme, écritures féminine et queer, jeu des formes, décloisonnement générique, toutes les écritures identitaires en -ité (comme la judeité, la québécité) vont être autant de manifestations jubilatoires d’une nouvelle manière d’envisager et l’individu et la société. Parallèlement, les formes de littérature à thèses, ce concept de tout grand auteur français devint aléatoire en 1968, détrôné une fois pour toutes. On pourrait ainsi argumenter avec Dominique Viart que la conjonction entre le grand texte de Foucault Qu’est-ce qu’un auteur? et l’avènement au pouvoir de Pompidou en 1969, mettant fin à l’ère <?page no="195"?> Une journée à Nanterre 171 de Charles de Gaulle, sont deux formes d’expression d’un même phénomène (cf. Viart 2008: 32). Ce n’est sans doute pas d’un parricide qu’il s’agit mais d’une autre perception de l’autorité - auctoriale ou politique. Et voilà que ce sont curieusement des auteurs quelque peu dépassés comme Romain Gary ou Robert Merle qui se penchèrent sur les événements du mai. Dans leur manière conventionnelle de relater un événement lourd de conséquences, ils font figure d’auteurs ‹ réactionnaires › et dépassés, porteurs d’une conception de la littérature que l’on allait définitivement enterrer. Sans doute Derrière la vitre est pris dans ce dilemme qui paraît difficilement dissoluble. 4. Conclusion On a vu que l’intérêt principal du roman ne s’inscrit pas dans le travail stylistique ni dans la construction romanesque; les enjeux résident dans l’écriture d’une aventure, un dessein, se situant aux antipodes de l’air de l’époque qui avait tendance à fustiger toute sorte de représentation classique du monde réel. Il convient toutefois de noter que Robert Merle parvient, en dépit d’une structure romanesque fort simple, à créer un véritable panorama de la vie universitaire de la deuxième moitié des années soixante, au-delà d’ailleurs des seuls étudiants réellement ou prétendument révolutionnaires. Par ce truchement et en raison de la valeur mi-documentaire du texte, Merle a su pérenniser un moment lourd de conséquences pour l’histoire intellectuelle de l’Occident et au-delà. De ce fait, le texte mériterait davantage de lecteurs. On reconnaît un ensemble de structures narratives qui marqueront également les romans mentionnés intialement. Derrière la vitre, tout comme les ‹ romans universitaires › de nos jours opère avec un personnel simple, représentant davantage des types que des personnages dotés d’une profondeur psychologique. Le désir de dépeindre un ‹ monde à part › est également patent. Or, si la critique de Merle vise une structure universitaire autoritaire et archaique, les romans contemporains s’en prennent à l’indifférence que porte la société à ses universités. Celles-ci sont en effet présentées comme des endroits régis par une logique propre, dictée avant tout par le manque de moyens financiers. Souvent délabrement des locaux et déclin intellectuel vont de pair dans cette représentation. Hier comme aujourd’hui, le campus est représenté comme un univers hermétique, délimité par un seuil. L’élément fascinant du mouvement de mai consistait en sa capacité de franchir les frontières et d’entrer au cœur de la ville pour y instaurer un débat sur les fondements de la société. Dans ce sens, la mission des étudiants était résolument citoyenne puisqu’elle dépassait le clivage entre la Faculté et la Cité. Il y a là, dans le dépassement entre l’Université et l’espace public, un des défis majeurs à relever pour <?page no="196"?> Timo Obergöker 172 l’Université de demain. Sans doute un héritage de 68 réside-là: au-delà des clivages politiques établir une faculté citoyenne digne de ce nom. Bibliographie Ruth Amossy, Images de soi, images de l’autre dans l’interaction (auto)biographique, in: Revue des Sciences Humaines 263/ 2001, 162-182. Judith Bernard, Qui trop embrasse, Paris 2008. Clarisse Buono, Félicitations du jury, Paris 2007. Pierre Christin, Petits crimes contre les Humanités, Paris 2006. Brigitte Heymann, Robert Merle. Vom Erfolg eines französischen Autors in der DDR. Eine rezeptionsgeschichtliche Studie, in: Dorothee Röseberg (éd.), Frankreich und das andere Deutschland. Analysen und Zeitzeugnisse, Tübingen 1999, 245-268. David Lodge, Changing Places. A Tale of two campusses, London 1975. David Lodge, Small World, London 1985. David Lodge, Nice Work, London 1988. David Lodge, The Art of Fiction, London 1992. Iouri Lotman, La structure du texte artistique, Paris 1973. Robert Merle, Derrière la vitre, Paris 1970. Siegfried Mews, The professor’s novel: David Lodge’s « Small World », in: Modern Language Notes 104(3)/ 1989, 713-726. Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg in die vaterlose Gesellschaft, Köln 1968. François Rabelais, Pantagruel, Paris 1975 [1532]. Erhard Reckwitz, Literaturprofessoren als Romanciers - Romane von David Lodge und Malcolm Bradbury, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 37/ 1987, 198- 212. Jean - Pierre Rioux / Jean-François Sirinelli, Histoire culturelle de la France, 4, Le temps des masses: le vingtième siècle, Paris 2005. Dietrich Schwanitz, Der Campus, Frankfurt a.M. 1995. Dominique Viart, Les héritages de mai 68, in: Catherine Flohic (éd.), Écrire, mai 2008, Paris 2008, 10-38. Tom Woolfe, I am Charlotte Simmons, London 2005. <?page no="197"?> Beatrice Schuchardt Reisen auf dem Hippie-Trail: Luc Vidals La route - mon journal de hippy 1. Auf den Spuren des Hippietums: Einleitung und Fragestellung Mit dem 40-jährigen Jubiläum des Mai 1968 boomt auch die mediale Berichterstattung über jene Zeit - ein Phänomen, das wesentlich zur von Robert Frank beschworenen ‚Mythisierung‘ des Mai 1968 und zu dessen ikonographischer Konstruktion als weltveränderndem und friedvollem ‚Wonnemonat‘ Mai beiträgt. 1 Pünktlich zum Jubiläumsjahr ist nicht nur eine Reihe von Publikationen erschienen, es wurde auch eine Fülle von Reportagen und Diskussionsrunden produziert, die vor allem bei den Kultursendern ARTE und 3sat zu sehen waren. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand dabei nicht nur die politische Dimension der Mai-Bewegung, die Ingrid Gilcher-Holtey als eine „soziale“ (2008: 16) charakterisiert, 2 sondern auch die in ihrer Qualität als Happening begründete Attraktivität als freizeitbezogenes Phänomen. Als solches war die Mai-Bewegung eng mit der Hoffnung auf Grenzerfahrungen jenseits des Bekannten verbunden, bot sie doch nicht nur ein politisches Gegenprogramm zu herrschenden Autoritäten und Hierarchien (vgl. Gilcher-Holtey 2008: 40), sondern auch alternative Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, die durch den Titel der gleichnamigen ARTE-Reportage „High sein, frei sein, überall dabei sein“ (2007) plakativ aber treffend beschrieben werden. Ein zentraler Topos sowohl in der Mythisierung der 68er als auch in den Strukturen der Bewegung war Mobilität: Eine Mobilisierung der Gesellschaft, die in Frankreich ausgehend von studentischen Kreisen, 3 Schülern und Auszubildenden auch die Arbeiterschaft erreichte und in einen landesweiten Generalstreik mündete. Das Bedürfnis nach Veränderung schlug sich 1 So spricht Frank von der bildlichen Konstruktion vor allem des französischen Mai 1968 als „‚Fest‘, als ‚fröhlicher Mai‘“(2008: 405), wobei negative Aspekte, wie beispielsweise die mit den Protesten einhergehende Gewalt, ausgeblendet werden. 2 Dieser Gedanke ist keinesfalls neu und findet sich in Bezug auf die Hippie-Kultur als „social movement“ bereits bei Yablonsky (1968: 290). 3 Diesbezüglich weist Gilcher-Holtey ausdrücklich darauf hin, dass die 68er-Bewegung in Frankreich „keine Studentenbewegung“ war, denn wenn auch ihre „Träger und Mobilisierten […] überwiegend Studenten und Schüler gewesen sein [mögen]“, so zeichnete sie sich dennoch durch eine „Vielfältigkeit der Trägergruppen“ aus (2008: 19). <?page no="198"?> Beatrice Schuchardt 174 jedoch nicht nur politisch nieder, sondern auch im kollektiven Imaginären der 68er. Deren Sehnsucht nach gesellschaftlicher und individueller Mobilisierung artikulierte sich unter anderem in der Idee der Reise, die zum zentralen Topos in den Diskursen der Bewegung wurde: Hier war die Rede von einem Weg nach vorn (in eine bessere Gesellschaft), von einem Weg zurück (zur Natur) sowie - im Rahmen der Hippie-Bewegung - von einem Weg ins spirituelle Innere als dem Weg zu sich selbst. Vorbedingung zur Verbesserung und Dynamisierung einer moralisch erstarrten Gesellschaft war zumindest für einen Teil der 68er die Kenntnis anderer Kulturen und alternativer Lebensweisen. Um diese zu erfahren, drängte es hunderttausende von Jugendliche zwischen 1962 und 1976 hinaus in die Welt (vgl. MacLean 2007: 205f.). Sie begaben sich auf die Suche nach anderen Gesellschaftsmodellen und Religionen als den westlichen, die als ebenso (spieß-)bürgerlich wie ausbeuterisch empfunden werden. In Bezug auf die letztgenannten Formen des Reisens - der Suche nach sich selbst und dem Aufbruch in andere Länder - spielte Drogenerfahrung, insbesondere ausgelöst durch das Rauschmittel LSD zur sinnlich-innerlichen Vervollkommnung der äußeren, physischen Reise, eine Schlüsselrolle. Auf diesen Aspekt wird am Ende noch einmal zurückzukommen sein. Das sich in den frühen 1960er und 1970er Jahren vor allem durch das Reisen auf dem berühmten ‚Hippie-Trail‘ manifestierende Bedürfnis einer Horizonterweiterung korrespondierte nicht nur mit der individualistischen Werteskala der Mai-Bewegung, 4 sondern auch mit ihrer inneren Mobilität. Diese spiegelte sich besonders in den Strukturen des aus den USA importierten Hippietums wider, 5 das seit Mitte der 1960er Jahre von San Francisco und der Universität Berkeley seinen Weg nach Frankreich und Europa fand. 6 Das Phänomen der Hippies kann als jugendliche Subkultur innerhalb der Gegenbewegung der 68er verstanden werden, bei der politische, gesellschaftliche und alternative Modelle des sozialen Zusammenlebens (wie beispielsweise die Kommune) und der Freizeitgestaltung (etwa in Form eines ‚anderen‘ antibürgerlichen Reisens) ineinandergriffen, für die aber auch - wie in Abbildung 1 deutlich wird - modische Aspekte eine Rolle spielten. 7 So bemerkt Laurent Chollet in Bezug auf die Etymologie des Begriffs ‚Hippie‘: 4 Hierzu bemerkt Gilcher-Holtey (2008: 19): „Die 68er-Bewegung […] war antiautoritär und individualistisch, sie war libertär und sozialistisch, sie war demokratisch und antiinstitutionalistisch, antibürokratisch.“ 5 So verweist Scott MacFarlane in Bezug auf die USA auf die hohe Permeabilität der Hippie-Bewegung als amerikanische „counterculture“: „[…] people moved back and forth between the mainstream and the counterculture as though the boundary was a membrane.“ (2007: 16) 6 Laurent Chollet (2008b: 84) beispielsweise setzt die Ankunft der Ideen des Hippietums in Europa mit dem Jahr 1967 recht spät an, weshalb hier einer etwas früheren Datierung der Verbreitung des Hippietums in Europa die Präferenz gegeben werden soll. 7 Zum ‚typischen‘ Kleidungsstil der Hippies siehe auch Paul Willis (1981: 126ff.). <?page no="199"?> Reisen auf dem Hippie-Trail 175 „Hip se traduit par informé ou branché“, explique l’écrivain Hunter S. Thompson. Hip signifie également hanche, et certains y voient la véritable étymologie […]. Il y eut en effet, au temps glorieux du bop, une mode - autre défi à l’ordre établi - des blue jeans ultraserrés, qui moulaient les fesses et, disait-on, étranglaient les hanches. Le hippie est héritier du beatnik - et du hipster. „Être hip, c’est être ‚desaffiliated’ [sic]. Le hipster est aussi un pacifiste, le plus souvent objecteur de conscience, voire anarchiste. Être hip, c’est être anticommercial, anti-intellectuel, anticulturel“, écrit E. Burdick du Reporter en 1958. (Chollet 2008b: 83) 8 Die Hippies teilten ihre Ideale also wesentlich mit den 68ern. Sie auf den Begriff einer ‚Spaßfraktion‘ innerhalb der 68er-Bewegung zu reduzieren, wäre sicherlich ebenso unzutreffend wie eine Homogenität dieser Gruppe zu behaupten. 9 Gerade die Heterogenität der Hippie-Jugendkultur führte 8 Zum Begriff des Hippies siehe auch McCleary (2004: 246f.): „The true hippie believes in works for truth, generosity, peace, love, and tolerance. The messengers of sanity in a world filled with greed, intolerance, and war.“ 9 So betont MacFarlane (2007: 17f.) ein durch ein Sozialgefälle begründetes, inneres Misstrauen der radikaleren Mitglieder der Bewegung gegenüber den ‚Modehippies‘ und zitiert diesbezüglich Emmet Grogan, einen der Köpfe der Guerilla-Theatergruppe „The Diggers“ aus San Francisco, der den Missbrauch des Hippietums als ‚Abenteuerspielplatz‘ einer frustrierten Mittelklassejugend kritisiert: „[…] here are these creepy longhaired punks who grew up with meat at every meal and backyards to play and the kind of education which is prayed to God for […]; you [the hippies] ‘re still the children Abbildung 1 <?page no="200"?> Beatrice Schuchardt 176 bereits früh zu einer aus der Bewegung selbst entstehenden Kritik, die sich primär gegen die kommerzielle Vereinnahmung der Symbole des Hippietums durch die Massenmedien richtete, die an der Prägung des Etiketts ‚Hippie‘ und dem damit verbundenden Klischee eines bestimmten äußeren Erscheinungsbilds wesentlich beteiligt waren (vgl. MacFarlane 2007: 16). Auch dies illustriert die Abbildung 1 anschaulich, wird doch hier in einer an die Styling-Tipps der Jugendzeitschrift Bravo erinnernden Manier eine Anleitung zum ‚authentischen‘ Hippie-Look gegeben, die in ihrer bildlichen Inszenierung an Anziehpuppen erinnert und somit die Möglichkeit eines temporären Schlüpfens in die Rolle des Hippies im Rahmen eines kindlichen Verkleidungsspiels nahelegt. Nicht umsonst kam es daher Ende der 1960er Jahre in Haight Ashbury, San Francisco, dem Epizentrum der Bewegung, zu einer Beisetzung des Hippie-Konzepts, ein symbolischer Akt, mit dem zugleich die Vereinnahmung der Bewegung durch die Presse- und Modeindustrie zu Grabe getragen werden soll (vgl. Yablonsky 1968: 290). Der vorliegende Beitrag widmet sich anhand von Luc Vidals 1974 in französischer Sprache erschienenem Text La route - mon journal de hippy einem Genre, das hier mit dem Neologismus ‚Hippie-Reisebericht‘ bezeichnet werden soll und das im Kontext des Mobilitätsbedürfnisses und Entdeckungsdrangs der 68er-Bewegung steht. Eine besondere Rolle für diese Untersuchung spielen die in Vidals Reisebericht zu Tage tretenden, intertextuellen und literarhistorischen Referenzen, die im Kontext einer eskapistischen Bewegung fort von der ratio der westlichen Industriegesellschaft stehen. Diese Bewegung geht mit einer bereits in französischen Orient-Reiseberichten des 19. Jahrhunderts in Erscheinung tretenden Sehnsucht nach dem Fremden einher, das zur Verkörperung all dessen wird, was sich in der eigenen Kultur als Mangel darstellt. Somit unterliegt die Wahrnehmung der fremden Kulturen vor und während der Reise einer durch die Wunschvorstellungen des westlichen Imaginären gesteuerten Konstruktion, ein Phänomen, für das Edward Said den Begriff ‚Orientalismus’ geprägt hat: The Orient was almost a European invention, and had been since antiquity a place of romance, exotic being, haunting memories and landscapes, remarkable experiences; […] the main thing for the European visitor was a European representation of the Orient. […] Orientalism […] connotes the high-handed executive attitude of nineteenth-century as early twentieth-century European colonialism […]. Orientalism can be discussed and analyzed […] as a western style of dominating, restructuring, and having authority over the Orient […]. / Therefore I study Orientalism as a dynamic exchange between individual authors and the large political concerns shaped by the three great empires - British, French, American - in whose intellectual and imaginative territory the writing was produced. (Said 1978: 1f., 15) of the ruling classes, whether you like it or not., […] you’re just having an adventure - an adventure in poverty […].“ <?page no="201"?> Reisen auf dem Hippie-Trail 177 Der Begriff soll hier auf die literarische Darstellung der in La route geschilderten Kulturen ausgeweitet werden, umfasst dieser Bericht doch Vorderasien, also jenes Gebiet, das herkömmlich als Orient verstanden wird, ebenso wie die zentral- und südasiatischen Landschaften Nepals und Indiens. Dabei wird vorausgesetzt, dass sich das von Said beschriebene Phänomen des Orientalismus auf die literarische Schilderung Zentral- und Südasiens übertragen lässt. Vor diesem Hintergrund soll Vidals La route auf die dort zu Tage tretenden, literaturhistorischen Parallelen hin untersucht werden, greift sein Text doch bewusst oder unbewusst auf einen Reisediskurs zurück, der auch in Orient-Reiseberichten des 19. Jahrhunderts sein Echo fand und seinerseits bereits auf aufklärerische und mittelalterliche Konzepte des Reisens zurückgeht. Da es sich bei der in Vidals Text skizzierten Fremde um Orte handelt, die schon in ihrer Wahrnehmung einer Konstruktion unterworfen werden, liegt zudem die Vermutung nahe, dass es innerhalb des Reisediskurses zu Widersprüchen und Ambivalenzen kommt. Auch diese sollen in der nachfolgenden Lektüre Berücksichtigung finden. 2. Beweggründe und Arten des Reisens: Konvergenzen und Unterschiede zwischen den Orient-Reisewellen gegen Mitte des 19. Jahrhunderts und um 1968 Interessant ist, dass sowohl die geographischen Ziele der Orient-Reisen des 19. Jahrhunderts - die Mittelmeerinseln, der Maghreb, die Türkei, der nahe Osten - als auch die Motive der Reise jener Epoche, nämlich die eskapistische Bewegung fort von einer zunehmend durch Industrialisierung, Rationalisierung und eine rigide Sexualmoral geprägten Gesellschaft, Parallelen zu den Orten bzw. Gründen aufweisen, die auch die Hippies zum Aufbruch veranlassen. 10 Deren Zurückweisung der Konsumgesellschaft und Suche nach verlorenen Wahrheiten in den Weiten Asiens deckt sich mit der Sehnsucht der Orientalistes des vorausgehenden Jahrhunderts nach einem mythischen, abenteuerlichen und ursprünglichen Orient. 11 Entsprechend erklärt Vidal in La route seinen Beweggrund für den Aufbruch in den Westen mit einer aus dem Gefühl der gesellschaftlichen Enge resultierenden malaise: 10 Zu den eskapistischen Tendenzen der Orientreise im Kontext der rigiden Sexualmoral der Epoche der Industrialisierung, die sie vor allem an der Konstruktion des Orients als ‚weiblicher Anderer‘ in den Reiseberichten des 19. Jahrhunderts festmacht, siehe Lowe (1986: 45): „The projection of the oriental Other as female is a figuration of 19 th -century social and political crises in sexual language and rhetoric - the crisis of authority in the instability of monarchy, the crisis of class hierarchy in a bourgeois age, the crises of family, gender, and social structure in an age of rapid industrialization, urbanization, emigration and immigration, and social change.“ 11 So hat Flaubert diese Bezeichnung weit vor Said für sich vereinnahmt und den „Orientaliste“ in seinem Dictionnaire des idées reçues als einen „homme qui a beaucoup voyagé“ definiert (1966: 164). <?page no="202"?> Beatrice Schuchardt 178 Je n’étais pas malheureux, mais pas heureux non plus. Il me semblait que la vie confortable qui était déjà la mienne - la vie en tous points semblable à celle des adultes que je côtoyais - me rétrécissait. Que si je ne sortais pas tout de suit de ce qui insidieusement devenait une prison, jamais plus je n’aurais recouvré ma liberté. […] Simplement je savais que je devais partir. / […] Bref, j’avais présumé de mes forces et une existence monotone, cernée par les horizons de mon enfance m’accablait. […] La route de nouveau. Était-ce une fuite, un constat d’échec? (Vidal 1974: 9, 13) Hier wird die Möglichkeit einer Flucht als Motiv der Reise nicht nur durch die Metapher des Gefängnisses angedeutet, sondern explizit als Möglichkeit in Betracht gezogen. Neben den im Folgenden noch zu veranschaulichenden Parallelen zwischen den Orient-Reisebewegungen gegen Mitte des 19. Jahrhunderts und denen der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts sind jedoch nicht nur Konvergenzen, sondern auch entscheidende Unterschiede in der Art und Weise des Reisens festzumachen: Handelte es sich bei der Orient-Reise des 19. Jahrhunderts um eine Bürgerreise, die im Kontext der Bildungsreise zwar größtenteils von jüngeren Menschen und jungen Ehepaaren durchgeführt wird, aber ebenso Reisende mittleren Alters anzog, verstand sich der reisende Hippie als antibürgerlicher Reisender einer subversiven Jugendkultur. Dabei ist jedoch mit Paul Willis (1981: 26) anzumerken, dass sich gerade das Hippietum - im Gegensatz etwa zu der proletarischen Jugendkultur der Rocker - vorwiegend aus der Mittelschicht rekrutierte. 12 Hippies sind also ihrerseits als ‚desertierte Bourgeois‘ zu betrachten, die sich vom konservativen Lebenswandel der Eltern distanzierten. Dies skizziert Vidal anschaulich, wenn er sich zu Beginn seiner Orient-Reise im Kontext der Hippie-Kultur verortet. Hierbei ist die von Vidal vorgenommene Ironisierung der gesellschaftlichen Etikettierung der Jugendlichen durch die Begriffe ‚Hippie‘ und ‚Freak‘ auffällig, 13 die in Verbund mit dem Begriff des ‚Beatnik‘ zugunsten des vom Sprecher selbst bevorzugten, historisch verankerten Begriffs des ‚Vagabunden‘ zurücktreten: 12 Zugleich weist Willis (1981: 26) darauf hin, dass die Hippies „die dauerhafteste, extremste, kreativste Variante der jeweiligen Klassenkultur im Rahmen der Erscheinungsform Jugendkultur darstellen.“ 13 MacFarlane hingegen differenziert - zumindest in Bezug auf die USA - die Hippie-Ära, von ihm auch als counterculture bezeichnet, von der Beat-Ära, indem er beide als sukzessive Phänomene auffasst: „[…] the Beat movement had waned by the early 1960’s and was not contemporaneous with the counterculture. […] Though Beat philosophy […] highly influenced the counterculture, the counterculture supplanted the Beat movement.“ (2007: 10) Obwohl MacFarlane betont, dass „the Beat movement and the hippie phenomenon shared the same archetype, […] a dionysian, or Bacchanalian mode of response“ (ebd.), so weist er doch gleichermaßen darauf hin, dass „the hippie outlook was more utopian and collectivist than the Beat movement […] [insofar as the] counterculture was far more pervasive, politicized, and diffuse […]. The Beats were at the cutting edge of fighting government attempts at censorship, but the hippies were much more a direct focus of mainstream derision and significant public opposition and persecution.“ (2007: 13) <?page no="203"?> Reisen auf dem Hippie-Trail 179 Je me suis retrouvé dans la peau de ce qu’on appelait alors un beatnik, puis je suis devenu un hippy, puis un freak, car régulièrement il nous fallait changer de nom dès que la société avait récupéré à son profit certaines valeurs ou certaines modes que nous représentions. J’étais donc un beatnik, le classique vagabond libre et désœuvré. Je parcourais l’Europe, de la méditerranée au Cap du Nord, de l’Irlande à la Turquie. De coucher de soleil en coucher de soleil je vivais hors du temps, dans l’illusion de me posséder et de posséder le monde. La route était ma liberté. (Vidal 1974: 10) Die ihrerseits in der Beat-Bewegung wurzelnde Selbstbezeichnung als „vagabond“ 14 - welche die Präferenz der Bezeichnung ‚Beatnik‘ erklärt -, verbunden mit dem in der Literatur der Romantik anzusiedelnden Topos des Sonnenuntergangs als Spiegel der melancholischen und zugleich über die Profanität des Alltags erhobenen Dichterseele, beinhaltet das Erhabensein über gesellschaftliche Regeln ebenso wie eine Konzeption des Seins als abenteuerliche Irrfahrt. 15 In diesem Zusammenhang ist es die Mobilität, welche die Straße verheißt, die zur Bedingung der Verwirklichung persönlicher Freiheit wird, wobei der illusionäre Aspekt der Möglichkeit einer vollständigen Verfügbarkeit von Selbst und Welt hier bereits angedeutet ist. Das Selbstverständnis des Hippies, wie es sich hier zeigt, war also mit Willis das eines „modernen Renegaten“ (1981: 25). Andere Studien hingegen, so etwa die von Díaz-Plaja (1970: 135ff.), haben Parallelen zwischen dem reisenden Hippie und der Figur des Pícaro gezogen. Der Hippie trat mit seinem auf kein bestimmtes Ziel gerichteten Vagabundentum aus der linearen und teleologischen Zeit des Kapitalismus heraus. Indem er die Reise als Selbstzweck und Happening feierte, verweigerte er sich einem ökonomischen Verständnis von Zeit. 16 Wie an späterer Stelle noch gezeigt werden wird, begaben sich in ähnlicher Weise auch die Orient-Reisenden des 19. Jahrhunderts auf die Suche nach Orten, an denen das Diktat der rationalisierten Zeitordnung der Industrialisierung aufgehoben scheint. Wesentliche Unterschiede zwischen der der Reisekultur der Hippies und derjenigen der bürgerlichen Reisenden des 19. Jahrhunderts bestehen beispielsweise in der Wahl des Reisegefährts: Wählte der sich oftmals auch als Literat betätigende Voyageur en Orient bevorzugt das „Gehäuse“ des Zugs als Mittel der Fortbewegung und bedurfte die nicht ohne zahlreiche Gepäckstücke begonnene Bürgerreise einer entsprechenden Planung und 14 Vgl. Chollet (2008a: 501): „La beat generation réhabilite l’esprit et la revendication de l’autonomie des tramps (vagabond, chemineau, voire clochard volontaire) et des hobos (vagabonds plus ou moins resquilleurs) de la Grande Dépression Américaine.“ 15 So subsumiert Le Petit Robert unter dem Begriff des „vagabond“ ebenso jemanden „qui […] n’est pas tenu par une règle“ als auch eine „personne qui se déplace sans cesse, qui erre de [sic] par le monde“, und gibt als Synonym den „aventurier“ an (1993: 2353). 16 Michael G. Symolka (1999: 147) charakterisiert das Happening im Kontext seines Hippie-Lexikons als „kreative Gemeinschaftsaktionen, die meist in einem ‚kreativen Chaos‘“ ausarten und teils „sexuelle“, teils „politische Dimensionen“ haben. <?page no="204"?> Beatrice Schuchardt 180 Vorausschau, so war die Hippiereise ein Trip im Hier und Jetzt, der mit nur wenigen Habseligkeiten begann. 17 Im Verständnis der Hippies stellte sich das Reisen als ein Fächer spontaner Gelegenheiten dar, bei der Mitglieder der Bewegung von den sich kurzfristig aus den unberechenbaren Umständen des Trampens ergebenden Gefährten profitieren wollten. Diese Konzeption der ‚Spontanreise‘ korrespondiert nicht nur mit der strukturellen Formung der Bewegung, welche ebenfalls spontan und ohne zentrale Leitfiguren erfolgte (vgl. Yablonsky 1968: 288f.). 18 Sie verhält sich außerdem analog zu der Präferenz der Hippies für eine individualistisch-subjektive Gegenwart bei gleichzeitiger Ablehnung von Vergangenheit und Zukunft, die ihrerseits im Konsum von Rauschmitteln ihren Höhepunkt fand: Die Hippies betonten nachdrücklich die Bedeutung der subjektiven Erfahrung und des ‚Jetzt‘. Die Vergangenheit enthielt immer Enttäuschungen und die Zukunft drohte mit ‚objektiven Gegebenheiten’ und ‚Plänen’, die möglicherweise ihren Glauben an etwas Jenseitiges in Mißkredit gebracht hätten - die tyrannische Zukunft könnte fragen: „Wenn es das gibt, warum nicht darauf hinplanen? “ Man durfte sich nie einem Plan verschreiben […]. (Willis 1981: 119) Dabei galt die Präferenz der Jugendlichen - in Analogie zu den individualistischen Tendenzen der Bewegung - in ihrer „Identifikation mit unterprivilegierten Gruppen“ (Willis 1981: 123) 19 entweder der Fußreise als Fortbewegungsmittel der „sozialen Unterschichten und Deklassierten“ (Althaus 2001: 29) oder dem Trampen, wobei bestimmte, buchstäblich ‚hippe‘ Gefährte wie der schon legendäre ‚2 CV‘ oder der VW-Bus - letzterer ist mittlerweile eines der zentralen Bildsymbole der Bewegung -, anderen den Rang abliefen. 20 Auch Luc wird im Verlauf der Reise auf Reisegefährten mit eben jenen fahrbaren Untersätzen treffen und zumindest einen Teil der Strecke ‚standesgemäß‘ sowohl in einem 2 CV als auch in einem VW-Bus 17 Wobei darauf hinzuweisen ist, dass die bereits auf Homers Odyssee zurückgehende Konzeption der Reise als ‚Abenteuer’ und ‚Irrfahrt’ auch die Orientreiseberichte des 19. Jahrhunderts prägt. So geht der Topos des Abenteuers etwa bei Gérard de Nervals Schilderung seiner Ägyptenreise mit Versteckspiel, Maskerade und Verfolgungsjagd in den labyrinthischen Gassen Kairos einher (vgl. Nerval 2005: 872f.). Zum Begriff der ‚Gehäusefahrt’ siehe Ueckmann (2001: 58), die hervorhebt, dass die Reise im ‚Gehäuse’, also in ‚Kutsche und Eisenbahn’ im 19. Jahrhundert insbesondere Frauen das Reisen ermöglichte, „denn im geschlossenen Wagen bricht die reisende Frau nicht zwangsläufig mit patriarchalen Weiblichkeitskonzepten“. Die ‚Gehäusefahrt’ bietet aber auch für männliche Reisende einen Aspekt von Sicherheit, der das Reisen durch den Ausbau der Verkehrswege im Zuge des Kolonialismus bequemer und einfacher macht. 18 Mac Farlane (2007: 17) spricht in Bezug auf die Hippie-Bewegung von einem „lack of cohesive leadership“. 19 Den Grund für diese Identifikation sieht Willis (1981: 123) darin, „mit vollen Händen aus einer lebendigen Erfahrung zu schöpfen, sich mitten im Dunstkreis realer menschlicher Körper zu befinden, bevor der entmenschlichende Moloch einer materiell orientierten Gesellschaft das eigentlich Menschliche herausquetschte.“ 20 So findet sich der 2 CV als bevorzugtes Gefährt auch in einem anderen Hippie- Reisebericht, der ebenfalls in Straßburg als symbolischer ‚Stadt der Straßen‘, seinen Ausgang nimmt (vgl. Brugiroux 1975: 14). <?page no="205"?> Reisen auf dem Hippie-Trail 181 zurücklegen (vgl. Vidal 1974: 30ff.). Deshalb empfindet er bei seinem Aufbruch aus der Heimatstadt Straßburg auch seine durch Zeitdruck begründete Fahrt mit dem Zug als seinem antibürgerlichen Projekt unangemessen: Je dois rejoindre Gil et Richard à Téhéran […]. Je n’ai donc qu’une semaine pour franchir tous ces kilomètres. […] C’est pour cela que, renonçant à l’auto-stop, mon traditionnel moyen de transport, je pars en train, comme un bourgeois. (Vidal 1974: 15) Was Vidal also statt der Sicherheit und temporären Vorausschaubarkeit des Zugfahrplans sucht, ist vielmehr das aus den Erfahrungen der Unmittelbarkeit und Nichtvorhersehbarkeit sich ergebende Abenteuer. Dies scheint in der westlichen Welt nicht möglich, weshalb der Großteil der reisenden Hippies auf die Möglichkeit einer Rückkehr zu den ,unschuldigen‘ Ursprüngen von Menschheit und Welt in Asien hofft, 21 ein Aspekt, den auch Orient- Reisende des 19. Jahrhunderts in diesen Gefilden suchten: Möchte Luc in Asien mit den Hirten leben und der kapitalistischen, konsumorientierten Gegenwart den Rücken kehren (Vidal 1974: 11), so meinte auch Isabelle Eberhardt, die Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund ihrer Algerienbegeisterung sowie ihrer Ehe mit einem Einheimischen zum Islam konvertierte und im Anschluss allein und in Männerkleidung das Land bereiste, Ursprung und Unschuld in der algerischen Wüste gefunden zu haben. Eberhardt spricht in „Vers les horizons bleus“ angesichts des Anblicks der algerischen Wüste von einem „pays d'irréel et de mystère, souvenirs encore intacts des origines océaniques de la planète, ou plaies de lente désagrégation, lèpres, gangrènes prématurées éclatant déjà à la face de la terre.“ (Eberhardt 1988: 98) 21 Vgl. Willis (1981: 122): „Materialismus, Rationalität und die mechanische Daseinsordnung zerstörten für den Hippie systematisch die Fähigkeit des Menschen, Erfahrungen zu machen; die Faszination der unmittelbaren Umwelt zu genießen. […] Bei den Hippies hieß es allgemein, dass es ‚mit Europa jetzt aus sei‘. Man musste ‚nach Asien gehen, wenn man was Echtes will‘. Sie gaben dem rational-technischen System die Schuld für die völlige Verarmung des Empfindungsvermögens.“ <?page no="206"?> Beatrice Schuchardt 182 3. Auf den Spuren des globalen Merkantilismus: Reise der Widersprüche Mit der Wahl des Titels La route - mon journal de hippy stellt sich Vidals Text nicht nur in die Tradition des für Authentizität bürgenden Genres des Tagebuchs; zugleich situiert er sich mit seinem Titel in intertextuellem Bezug zu einem literarischen Werk der Beat-Literatur, das in seiner Form als „a picaresque, [an] underground novel about a protagonist living and traveling on the fringes of society“ (MacFarlane 2007: 13) zugleich den Beginn des Zeitalters der Hippie-Reise einläutet: Die Rede ist hier von Jack Kerouacs Roman On the Road (1957), dem Porträt des Lebensstils eines Bohémiens. 22 An dieses Werk schließt Vidal sowohl thematisch als auch stilistisch an, zeichnet sich doch auch sein Bericht durch die Schilderung eines unkonventionellen Lebensstils in einer chronologischen und dem Realismus verpflichteten - und somit eher konventionellen - literarischen Erzählweise aus. Ebenso wie Kerouacs Roman deutet auch Vidals Reisebericht auf die Straße als den geographischen Übergangsort seiner Handlung hin, der in der Tradition des aufklärerischen Konzepts der Bildungsreise zugleich einen symbolischen Übergangsort der Initiation markiert. Im Falle Vidals handelt es sich dabei um die Initiation in den Drogenkonsum, in körperliche Strapazen und Todesgefahr sowie in den Kontakt mit fremden Kulturen. Jener Übergangsort ist der so genannte Hippie-Trail, auch Overland-Trail genannt, der von Istanbul über Katmandu bis nach Goa als dem Ende der Reise vieler Hippies führt. Der Hippie-Trail wurde laut Mac Lean (2007: 247) erstmals zu Beginn der 1960er Jahre von vor allem jugendlichen westlichen Wahrheitssuchenden bereist und geriet um 1968, dem Höhepunkt der Hippie-Bewegung, zum Pfad einer Massenbewegung mit allein 250.000 französischen Indien-Reisenden im Jahr 1973. 23 Dabei stellte der Weg, dem die Hippies folgten, keinesfalls ein Wandeln auf jungfräulichen Pfaden dar. Vielmehr orientiert sich der Hippie-Trail in seinem Verlauf an historisch bekannten und entsprechend diskursiv bereits kodierten Routen, so dass sich der Überlandweg nach Asien als ein Palimpsest verschiedener Reise- und Eroberungsbewegungen darstellt, von denen die Hippie-Reisewelle eine der rezenteren ist. Dementsprechend charakterisiert Rory MacLean den Trail zu Beginn seiner den Spuren der Hippies folgenden Reise als einen 22 Vgl. MacFarlane (2007: 19): „Jack Kerouac’s On the Road […] follows a traditional narrative arc, and, though the lingo and lifestyle are Bohemian, the world is rendered through a depiction of conventional realism.“ 23 MacLean spricht von „Intrepids“ synonym für „the kids who adopted the trail in the 1960s.“ (2007: 205f.) Demgegenüber weist Chollet (2008a: 503f.) auf den entscheidenden Einfluss der vorausgehenden Beat-Bewegung auf Reiselust und -ziele der Hippies hin: „Le goût pour l’errance manifesté par les beatniks se transforme chez les hippies en passion pour les voyages en long cours: ce sont les premiers qui ont ouvert la route de Goa et de Katmandou mais ce sont les seconds qui l’empruntent massivement. […] En 1964, un hippie, attiré par la vente de haschisch, franchit la frontière népalaise.“ <?page no="207"?> Reisen auf dem Hippie-Trail 183 „critical cultural highway“ (2007: 6). Dieser sei historisch bedeutsam, da er Teile der Seidenstraße und alter Karawanenstraßen durch die Wüste berühre und nicht nur die Spuren berühmter historischer Persönlichkeiten wie Alexanders des Großen, Mohammeds und Marco Polos trage, sondern auch entlang ihres Verlaufs von der Koexistenz verschiedener Religionen zeuge. Auch Vidals Erzählerfigur ist sich dieser historischen Dimension bewusst, wenn sie anlässlich der Überquerung des Khyber-Passes auf jene „hordes tartares“ verweist, die dieses Gebiet im Mittelalter in umgekehrter Richtung zum antiken Eroberungsfeldzug Alexanders des Großen bereisten (Vidal 1974: 51). 24 Die historische Vorkodierung des Hippie-Trails als Kriegs- und Handelsroute durchkreuzt zum einen den Mythos der Hippie-Reise als unschuldiges Wandeln der euphemistisch auch ‚Blumenkinder‘ genannten Anhänger der Bewegung auf gänzlich neuen Wegen. Zum anderen kommt es zu einer topografischen Überlagerung der Spuren der historischen Zweckreisenden mit dem nur scheinbar zweckfreien und antimaterialistischen Reiseethos der Hippie-Bewegung. Eine Überlagerung, die zugleich eine Kollision ist und auf einen zwingenden Widerspruch der Hippie-Reise hinweist: ihre Zurückweisung des kapitalistischen Systems bei gleichzeitigem Export desselben bis in die abgelegensten Dörfer Zentralasiens - eine 24 Zum Khyber-Pass vgl. auch MacLean (2007: 177): „Through it marched armies of Greek, Buddhists and Mughals, carrying their banners high. The British followed them […].“ Abbildung 2 <?page no="208"?> Beatrice Schuchardt 184 Paradoxie, in der sich zugleich die unvermeidliche Abhängigkeit des Reisens von materiellen Gegebenheiten zeigt. So kann auch Vidal trotz aller anfänglichen antikapitalistischen Ressentiments der materiellen Versuchung des Handels nicht widerstehen. Obwohl er zu Beginn nach einem Gespräch mit einem bulgarischen Mitreisenden eine seitens der kommunistischen Staaten begangene „trahison du Marxisme-Léninisme“ (1974: 17) beklagt und in dem Bewusstsein einer mit dem Hippie-Ethos nicht zu vereinbarenden Handlungsweise - „que je [Luc] reproche au néo-colonialistes“ (1974: 48) - dem Versuch widersteht, afghanische Hirtenmäntel vor Ort günstig zu erwerben und in Europa gewinnbringend weiter zu verkaufen, so wird diese scheinbar so konsequente Haltung stets entweder diskursiv oder auf der Handlungsebene durchbrochen: Im Iran beispielsweise erstehen Gil und seine Reisegefährten auf dem Basar „quelques colliers, […] [qui], même si on n’arrive pas à les revendre en Indes, […] doivent avoir quelque valeur en France …“ (1974: 36). Auch bei der Einreise in die Türkei zeigt Aussteiger Luc ein nicht minder merkantiles Bewusstsein, wenn er die Möglichkeit des Wechselns von Dollars zum offiziellen Kurs als „un signe infaillible de bonne santé économique“ (1974: 27) hervorhebt - eine Aussage, in der sich eine gewisse Erleichterung offenbart. So ist die Ambivalenz des Reiseberichts Vidals zwischen Betroffenheit angesichts der Armut in den bereisten Ländern und einer Abwehrhaltung gegen die Möglichkeit, selbst übervorteilt zu werden, ein roter Faden, der sich durch die Erzählung zieht. Die Beobachtung von Bettlern in Lahore beispielsweise veranlasst Vidal zu einer schuldbewussten Frage und kurzzeitiger Einsicht: „Et moi, tout fier de ma liberté, qu’est-ce que je fous ici, à profiter des sous que mon pays sait si précautionneusement extorquer à ce tiers-monde qui surgit devant moi, brusquement, avec sa misère? “ (1974: 56) Demgegenüber weckt die wirtschaftliche Regheit der Bergbewohner Nepals, die nach einem folkloristischen Tanz Geld für die Darbietung verlangen, den Unmut Vidals: Nous sommes un peu interloqués par cette façon d’essayer de nous soutirer de l’argent. C’est vrai que nous représentons des peuples riches, immensément riches par rapport à eux, et ils s’imaginent que nous trois avons de l’argent à jeter par les fenêtres. (1974: 86) Dass die hier durch Luc vertretene, kostenorientierte Haltung für die Hippie-Bewegung repräsentativ ist, zeigt der Boom von Reiseführern wie Asia on the Cheap (1973) oder dem allseits bekannten Guide du routard, der für die Asienroute ebenfalls erstmals zu Beginn der 1970er Jahre erscheint - eine Reiselliteratur, die den späteren großen kommerziellen Erfolg der von Tony Wheeler für den anglophonen und von Philippe Gloaguen für den frankophonen Raum gegründeten Reisebuchverlage Lonely Planet und Routard fundieren. Die zu Tage tretende Spannung zwischen einer für die 68er- Bewegung charakteristischen Dritte-Welt-Euphorie (vgl. Hage 2008: 87) und ihrer Suche nach Transzendenz jenseits des Materiellen einerseits, einer <?page no="209"?> Reisen auf dem Hippie-Trail 185 damit in Widerspruch stehenden Begeisterung angesichts der günstigen Preise (die Luc in Bezug auf das Essen immer wieder hervorhebt), und einer wachsenden Betroffenheit angesichts der ungewohnten Beobachtung extremer Armut andererseits, ist ein anschauliches Beispiel für die diskursiven Widersprüche innerhalb des Hippietums selbst. 25 4. Die Suche nach dem Ursprung oder: Mit Gottvater auf dem Dach der Welt Gegenüber den in La route eher spärlich gesäten historischen Referenzen, die in Form von Verweisen beispielsweise auf die historische Bedeutung des Khyber-Passes oder die koloniale Vergangenheit Goas eher die Ausnahme bilden, dominieren Erlebnisse, die von einer als besonders authentisch empfundenen Gegenwärtigkeit bzw. Enthobenheit aus der linearen Zeitlichkeit westlicher Industriegesellschaften zeugen. Das deutet sich bereits in den einleitenden Kapiteln an, so etwa in der schon zitierten Passage „De coucher de soleil en coucher de soleil je vivais hors du temps“. (Vidal 1974: 10) Diese Flucht aus der limitierten, da kostspieligen Zeit des Bürgertums, die die Hippies mit Orient-Reisenden des 19. Jahrhunderts teilen, ist an die Suche nach Ursprünglichkeit und Authentizität in einer als fremd und exotisch empfunden Kulisse ebenso geknüpft wie an die Hoffnung auf Spiritualität und das Finden des ‚wahren‘ Selbst. 4.1. Die Suche nach dem Exotisch-Ursprünglichen Beklagt der Protagonist nach seinem Aufbruch aus Teheran zunächst scheinbar desillusioniert den zunehmenden Verlust der ‚malerischen‘ Aspekte der Städte Orients durch eine zunehmende ‚Okzidentalisierung‘, 26 so werden er und seine Gefährten die durchquerten Landschaften im weiteren Verlauf ihrer Reise alsbald als ursprüngliches und unschuldiges Paradies wahrnehmen. Heimat und Fremde werden somit in der Dichotomie von ‚Diesseits‘ und ‚Jenseits‘ entworfen, wobei die diesseitige Realität dem städtischen, das Jenseits hingegen dem ‚unverbauten‘, natürlichen Raum zugeordnet ist. Hiermit wird der Übergang zum asiatischen Kontinent als Überschreiten der Schwelle in eine andere Zeit inszeniert. Handelt es sich bei Luc um den Eindruck einer jenseitigen Zeiterfahrung, so dominiert in der Wahrnehmung der Reisenden des 19. Jahrhunderts vor 25 Solche Widersprüche hat bereits Yablonsky (1968: 307ff.) hinsichtlich der amerikanischen Hippie-Bewegung thematisiert - beispielsweise bezüglich des Hippie- Credos der Gewaltlosigkeit und den alltäglichen Tätlichkeiten in amerikanischen Hippie-Kommunen. Vgl. auch Frank (2008: 404) in Bezug auf die retrospektive mnemonische Konstruktion eines gewaltlosen Mai 1968. 26 So bemerkt etwa Luc: „C’est vrai qu’une ville orientale qui se civilise à l’Occidental y perd tout son pittoresque.“ (1974: 30) <?page no="210"?> Beatrice Schuchardt 186 allem der Topos der Konfrontation mit einer vergangenen Zeit. Hierbei erscheint der Orient als wieder auferstandene Antike bzw. als Reinkarnation des Mittelalters. 27 Interessant ist hinsichtlich der Konstruktion einer Dichotomie der unterschiedlichen Zeiterfahrungen in Orient und Okzident vor allem eine Vidals Reisebericht vorangestellte Bemerkung aus der italienischen Erstausgabe von 1972, die noch vor der französischen Edition unter dem Titel La Strada - il mio diario di hippy erschienen ist. Die Publikation zweier verschiedener Versionen, einer französischen und einer italienischen, ist der Niederschrift der Reiseimpressionen zunächst in italienscher Sprache geschuldet, die in dem Aufenthalt des Autors in der christlichen Kommune des toskanischen Dorfes Loppiano begründet ist. Die ebenfalls von Vidal verfasste französische Version wurde 1974 publiziert. Das folgende Zitat - das hier zum besseren Verständnis in der deutschen Übersetzung der italienischen Ausgabe wiedergegeben werden soll - findet sich interessanter Weise nicht im französischen Text, dessen Einleitung sich von der italienischen Ausgabe wesentlich unterscheidet: Ich hatte eine andere Welt entdeckt, phantastisch und beeindruckend. Herrliche Sonnenuntergänge, Nächte unter freiem Himmel. Eine Natur, die ich im Licht der Morgendämmerung immer neu fand. Die Zeit stand still. […] Als ich schließlich nach Straßburg zurückkehrte, begegnete mir wieder die harte Realität der illusorischen und oberflächlichen Welt. (Vidal 1973: 6f.) In diesem Zitat fällt auf, dass es nun - aus der Rückschau der bereits gemachten Reiseerfahrung - die „harte Realität“ des westlichen Städtealltags ist, die sich gegenüber dem zuvor als „phantasisch“ empfundenen Orient als die wahre Illusion entpuppt. Dies ist das Ergebnis einer zunehmenden Verzauberung angesichts der bereisten Landschaften, die in Nepal ihren Höhepunkt erreicht. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die in der Erzählung wiederholt auftretende Faszination für Sonnenuntergänge (Vidal 1974: 96; 100; 135ff.), die in Herat ihren Anfang nimmt: Le temps est très beau aujourd’hui. Le soleil a disparu derrières les collines. Le paradis des couleurs qu’il engendre enflamme le ciel tandis que nous arrivons à Herat, dont les deux grandes tours découpent sur le ciel rouge comme deux gigantesques gardes de la ville. (Vidal 1974: 38) Die sich vor dem rötlichen Hintergrund des Himmels dunkel abzeichnenden Türme der muslimischen Architektur werden hier hervorgehoben. Dadurch zeigt sich eine Faszination des Erzählers angesichts des fremden Stadtbildes, wie sie in ähnlicher Weise auch bei Pierre Loti zu finden ist, wenn er die nächtliche Silhouette Konstantinopels schildert. […] un bras de mer étend son vide tranquille entre ces quartiers assourdissants que je viens de traverser et une autre grande ville, d’aspect fantastique, qui 27 Hier findet sich wiederholt der Eindruck, mit der Reise in den Orient in die ‚mythischen Zeiten‘ der Antike oder des Mittelalters zurück versetzt zu werden. Vgl. Gasparin (2005: 559 u. 569), Lamartine (2005: 454 u. 460) und Nerval (2005: 858ff.). <?page no="211"?> Reisen auf dem Hippie-Trail 187 apparaît au-delà sur le fond étoilé de la nuit, en silhouette toute noire dentelée de minarets et de dômes. (Loti 2005: 580) Dies zeigt, dass La route die Farbenpracht des Orients als einen der zentralen Topoi des literarischen Orientalismus des 19. Jahrhunderts aufgreift, der bei Flaubert ebenso zu finden ist wie bei Alphonse de Lamartine, Pierre Loti, Gérard de Nerval und Valérie de Gasparin. 28 Die endgültige ‚Ver-‘ bzw. ‚Bezauberung‘ Lucs durch die asiatische Landschaft erreicht ihren Höhepunkt mit dem zu Fuß vorgenommenen Aufstieg in eine in der Nähe des buddhistischen Wallfahrtsortes Gosaigung gelegene Gebirgskette des Himalaya. Schon im Tal erfährt Luc die Verheißung einer ebenso paradiesisch wie erhabenen und dennoch wirklichen Landschaft, die sich über das nebulös-verschwommene und profane Diesseits des über die unbefestigten Straßen Nepals holpernden VW-Busses erhebt. Diese Landschaft wird entsprechend mit Superlativen belegt: Et, au-delà des crêtes boisées qui limitent le nord de la vallée, bien plus haut et bien plus loin, par-dessus les brumes, surgissent majestueusement les pics étincelants du Toit du monde qui surveillent calmement du haut de leurs huit mille mètres ce panorama grandiose, éblouissant de beauté. Dans le vieux bus brimbalant, je reste béatement le nez collé à la fenêtre devant le plus formidable amalgame des pics, vallées, forêts, montagnes, champs et neiges que j’aie jamais vu. […] Ce n’est qu’à la nuit tombante que nous pénétrons enfin dans la vallée de Katmandu, capitale de ce paradis terrestre. (Vidal 1974: 70f.) Die hier vorgenommene Andeutung einer auf Erden möglichen Jenseitserfahrung, die nicht zuletzt in der Unbelassenheit und Unberührtheit der bereisten Landschaft gründet, greift auch auf die Gefährten des Erzählers über. So ist es gerade eine verblüffende und vorgebliche ‚Natürlichkeit‘ Nepals, welche den Eindruck des Entrückten und Imaginären begründet: „Gil se penche à mon oreille pour me souffler émerveillé: ‚J’ai l’impression d’avoir rejoint un pays imaginaire, un paradis terrestre, où hommes et bêtes vivent en paix.’“ (1974: 94) In dieser Passage ist die Konzeption Nepals als Paradies mit der rousseauschen Vorstellung des Naturzustandes als Frieden zwischen Mensch und Natur verknüpft. Jene Idee eines in den idealisierten Ursprüngen der Menschheitsgeschichte zu suchenden und mittlerweile verloren gegangenen Einklangs zwischen Mensch und Tier als einer der zentralen Ideen der Philosophie Jean-Jacques Rousseaus wird in La route mit dem ebenfalls bei Rousseau zu findenden und auf Francesco Petrarca zurückgehenden Motiv der Bergbesteigung verknüpft. Die Bergbesteigung ist bei Rousseau als mit der Gottesfindung verbundene, reinigende Naturerfah- 28 Faszinierte Beschreibungen einer als spektakulär empfundenen Farbenpracht der Sonnenaufbzw. Sonnenuntergänge in der Türkei und Ägypten finden sich u.a. bei Loti (2005: 583), Nerval (2005: 876), Lamartine (2005: 460f.), Gasparin (2005: 551 u. 559) und Flaubert (2005: 912 u. 915). <?page no="212"?> Beatrice Schuchardt 188 rung konzipiert und findet in der Fußreise ihre Vollendung. Dieser Aspekt soll im folgenden Abschnitt genauer betrachtet werden. 4.2. Die Suche nach Transzendenz: Gottesschau im Himalaya Im Gegensatz zum Mythos der Hippie-Bewegung, in dem die Droge LSD als bewusstseinserweiternde Substanz bei der Suche nach Spiritualität eine tragende Rolle spielte, ist es im Zusammenhang der zentralen Episode der spirituellen Selbstfindung in La route zunächst weniger die anfänglich konsequent verweigerte und in Goa schließlich doch gesuchte Rauscherfahrung, welche für Luc die gesuchte Transzendenzerfahrung verspricht. Es ist vielmehr die besagte im Himalaya gemachte Grenzerfahrung zwischen einem materiellen, profanen und unbeständigen diesseitigen Raum einerseits, und einem erhabenen, ursprünglichen und natürlichen jenseitigen Raum andererseits, die - gedoppelt durch die Grenzerfahrung akuter Lebensgefahr -, den Weg zur Öffnung gegenüber dem Metaphysischen bereitet. Voraussetzung für diese Erfahrung ist das Verlassen des Gefährts und die Fortsetzung der Reise zu Fuß. Die frweiwillige Fußreise als im 18. Jahrhundert zu neuer Popularität gekommene Art der Fortbewegung bot dem Individuum die Möglichkeit, der alten feudalen Gesellschaftsordnung den Rücken zu kehren (vgl. Moser/ Schneider 2007: 9), und war in diesem Sinne eine - wenn auch temporäre - Befreiung von dieser Ordnung. Im Zuge der verkehrstechnologischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts ermöglichte es die Fußreise, mit dem Fortschrittsdiktat der Industrialisierung zu brechen. 29 Auch hier ist ein befreiender Gestus zu erkennen. Spätestens seit Rousseau bedeutete die freiwillige Fußreise zudem eine „Rückkehr zu den Ursprüngen, an den mütterlichen Busen der Natur“ (Moser/ Schneider 2007: 9), die für Rousseau nur in den ‚wilden‘, zerklüfteten Regionen des Gebirges möglich schien: Faire route à pied par un beau tems dans un beau pays sans être pressé […]. Au reste on sait déjà ce que j’entens par un beau pays. Jamais pays de plaine, quelque beau qu’il fut, ne parut tel à mes yeux. Il me faut des torrens, des rochers, des sapins, des bois noirs, des montagnes, des chemins rabouteux à monter et à descendre, des précipices à mes côtés qui me fassent bien peur. (Rousseau 1959ff.: 172) 29 Moser/ Schneider (2007: 8f.) erläutern dazu: „Der Spaziergang steht, so paradox dies scheinen mag, in einem engen Zusammenhang mit dem verkehrstechnologischen Fortschritt. Der Spaziergänger entscheidet sich bewußt für eine langsame Form der Fortbewegung, die ihn in direkten Kontakt mit der Natur bringt. Er will sich nicht in einem abgeschlossenen Gehäuse durch die Landschaft transportieren lassen. Der Zweck des Spaziergangs besteht gerade darin, das Individuum - wenn auch für eine begrenzte Zeit - aus der Enge der städtischen Behausung zu befreien und in das Offene der Natur hinauszuführen. […] sein Gang versteht sich als Absage an den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt.“ <?page no="213"?> Reisen auf dem Hippie-Trail 189 Jene ambulierende „Rückkehr zu den Ursprüngen“ (Moser/ Schneider 2007: 9) bedeutete für Rousseau eine Erleichterung des Denkprozesses und der Innenschau. 30 Die rousseausche Selbstbetrachtung im Sinne einer Selbstsuche ist also - verknüpft mit dem Topos der Bergwanderung - zugleich eine Denkbewegung hin zu Gott, die sich in ähnlicher Motivik bereits im berühmten Brief Petrarcas über die in Begleitung seines Bruders vorgenommene Mont-Ventoux-Besteigung findet. Hierbei „löst die physische Erfahrung der Bergbesteigung eine auf die christliche Vorstellung des Seelenaufstiegs gerichtete Reflexionsbewegung aus“ (Henke 2005: 88), die ihrerseits an einen Intertext von Augustinus rückgekoppelt wird. Vidals La route schlägt mit der dort geschilderten Episode einer Gottesfindung in den Bergen Nepals intertextuelle Brücken von der Orient- Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts über Rousseau und Petrarca bis hin zu Augustinus. Denn ähnlich wie bei Petrarca wird der Eintritt in den Raum des Metaphysischen durch eine Landschaftswahrnehmung eingeleitet (vgl. Henke 2005: 88), die wiederum mit dem orientalistischen Topos des Sonnenuntergangs verknüpft wird. Und ähnlich wie bei Vidal ist es auch bei Petrarca und Rousseau die Bergkulisse, welche die mit der Wahrnehmung verbundene Erfahrung in ihrer Wirkung intensiviert und ihr damit eine symbolische Bedeutung zuweist. So verblassen auch in La route mit der hinter den Gipfeln versinkenden Sonne die heimatlichen Gefilde - und somit die reale im Sinne einer sowohl topografisch als auch spirituell ‚niederen‘ Welt. Diese wird durch die hereinbrechende Nacht optisch ausgeblendet und zugleich auf einer anderen Ebene symbolisch getilgt: Le soleil tombe derrière les monts de l’Occident qui nous indiquent la direction de l’Europe où il ne se couchera que dans cinq heures. […] J’ai l’impression d’avoir rejoint les limites du monde réel, en tout cas de m’être détaché complètement du monde des hommes et de leurs luttes mesquines, tout là-bas, en bas. Ce paradis suspendu entre ciel et terre me rapproche des dimensions incommensurables du Divin qu’il me semble presque toucher du doigt. Le soleil a disparu. (Vidal 1974: 96f.) Die in der zitierten Passage beschriebene Loslösung von der diesseitigen, metaphorisch für den Okzident stehenden Welt ist ebenso bei Vidal wie bei Petrarca die notwendige Voraussetzung für die Erfahrbarkeit des Göttlichen. Dem in der zitierten Passage skizzierten Raum zwischen Himmel und Erde entsprechend befindet sich Luc hier noch in einer metaphysischen Zwischenwelt, in der die Vergangenheit des europäischen Diesseits zugunsten der Gegenwärtigkeit des asiatischen Jenseits zurücktritt. Die Hinwen- 30 Moser/ Schneider (2007: 9) verweisen diesbezüglich ebenfalls auf die in der europäischen Literatur und Kultur wiederkehrende „Analogie zwischen Gehen und Schreiben oder Gehen und Lesen“, so etwa in der peripatetischen Philosophie. Zur Verknüpfung von Gehen und Denken bei Rousseau vgl. auch Henke (2005: 95): „Die promenade ist der Modus der Wahrnehmung, der die Gedankenbewegung der Selbstexploration in Gang zu setzen vermag.“ <?page no="214"?> Beatrice Schuchardt 190 dung zu Gott erfolgt nun jedoch - und hier besteht ein wesentlicher Unterschied zur petrarkistischen Gottesschau - nicht unmittelbar auf die Landschaftswahrnehmung, sondern bedarf eines weiteren Auslösers: Nachdem sich Luc und seine Gefährten im Himalaya verirrt haben und das Abenteuer aufgrund von Nahrungsmittelknappheit und Wassermangel gefährlich zu werden droht, erscheint dem Erzähler das Gebet als die einzige verbleibende Zuflucht. Der introspektive Gestus des Gebets löst schließlich einen Prozess der Besinnung aus, in dessen Folge das eigene, durch geringe Leidensfähigkeit und Egoismus geprägte Vagabundentum plötzlich als sinnloser Zeitvertreib erscheint: Et ainsi, désespéré, le cœur plein de larmes, tout en marchant péniblement, je me tourne peu à peu vers dieu. Il doit bien rigoler. Je mène une vie disparate, je vagabonde égoïstement sans jamais accepter de souffrir un peu pour vivre, et maintenant que je suis dans la merde jusqu’au cou, je lui demande de m’aider. […] Donc, le-bon-dieu-père-qui-est-dans-les-cieux […] je te le demande: sors-nous de ce bousier. (1974: 109) Die zuvor angesichts des Sonnenuntergangs noch recht vage Erfahrung eines allgemeinen „Göttlichen“ mündet also angesichts des drohenden Todes in eine Hinwendung zur konkret-figürlichen Gestalt eines Gottvaters. Der Luc am Folgetag so plötzlich erfassende und für ihn nach eigener Aussage untypische Frieden, „cette paix qui m’a pénétré, […] quelque chose en dehors de moi“ (1974: 114) , gilt ihm fortan als Gottesbeweis, um so mehr, als er den auf dem weiteren Weg liegenden Hindu-Tempel „Changen-Mary“ als göttlichen Fingerzeig auf die Jungfrau Maria - und somit als Offenbarung - interpretiert (1974: 114). In diesem Zusammenhang wird das fremde Symbolsystem des Hinduismus durch die Symbolik der eigenen christlich-westlichen Kultur vereinnahmt und eine andere mögliche Interpretation des fremdkulturellen Namens ausgeschlossen, um die eigene Heilserfahrung zu authentifizieren und somit in die bereits als authentisch erfahrene Landschaft einzugliedern. Hierdurch wird die Korrespondenz zwischen metaphysischer und physischer Erfahrung diskursiv untermauert und damit stabilisiert. Ganz im Gegensatz zu einer unter anderem durch die Beatles und ihre Indienreise ausgelöste Magnetwirkung der östlichen Religionen für die Hippie-Bewegung (vgl. MacLean 2007: 208ff.), ist es in Vidals La route also die eigene, christliche Religion, die am Ende des Buches in Form der christlichen Kommune von Loppiano zur Erlösung aus einem sinnlos erscheinenden Alltag führen wird. Zu dieser Gemeinschaft bemerkt Vidal: „[…] ces gens-là sont pauvres, viennent de tous pays du monde, travaillent et vivent l’évangile.“ (1974: 209) Dennoch übt die auf Vidal so heiter wirkende Ausstrahlung buddhistischer Mönche zu Beginn seines Aufenthalts in Nepal eine gewisse Anziehungskraft aus, erscheint ihm der Buddhismus doch dadurch positiver und somit spirituell attraktiver als die christliche Religion. Hier wird ein Mentalitätsunterschied zwischen einer ‚positiveren‘ Lebenseinstellung der <?page no="215"?> Reisen auf dem Hippie-Trail 191 östlichen im Vergleich zur westlichen Kultur behauptet, den auch Valérie de Gasparin als Reisende des 19. Jahrhunderts angesichts der von ihr in Konstantinopel beobachteten Muslime konstatiert: […] le Turc […], il marche vite, il parle vite, il est affairé comme nous; seulement, ni tumultes ni querelles. Le musulman ne se fâche pas, il ne vocifère point […]; pas une de ces notes aiguës et choquantes par où nos foules se réjouissent ne vient déchirer les oreilles. Où trouver un autre peuple civilisé qui se sèvre des bourrades et s’abstienne des imprécations? (Gasparin 2005: 552) Analog dazu gestalten sich die Beobachtungen Lucs hinsichtlich der nepalesischen Mönche: […] un petit groupe des hippies se passent la pipe autour d’un moine qui semble leur enseigner quelque pratique mystique et mystérieuse. Une très grande paix règne en cet endroit. Je me sens bien, calme, heureux. Deux couples de pélerins surgissent au sommet des escaliers. Aussitôt, ils s’inclinent devant la première niche où un bouddha les accueille. […] Tout ceci se passe dans uns ambiance joyeuse qui contraste énormément avec les têtes d’enterrement des pénitents, làbas en Occident. (Vidal 1974: 76) Die Tatsache, dass Lucs Suche nach dem Fremden später dennoch in die kulturelle und religiöse Selbstfindung und Selbstbestätigung münden wird, und dass diese Wiederentdeckung des Eigenen in Form des christlichen Glaubens ausgerechnet durch den Aufenthalt im Himalaya stattfindet, weist auf die von Ottmar Ette konstatierte Rekurrenz der Figur des Kreises im Genre des Reiseberichts hin (Ette 2001: 70). So wird der Reisende laut Ette trotz der angestrebten Alteritätserfahrung oftmals „auf sich selbst und seine inneren Bewegungen“, und damit auch auf die eigene Kultur zurückgeworfen, wenn er sich, „mit den menschenleeren Räumen der Naturerfahrung konfrontiert“ sieht (2001: 70). Eben dies ist auch bei Vidal der Fall. Während diese Erfahrung jedoch in dem von Ette gewählten Beispiel des Berichts der im 19. Jahrhundert Lateinamerika bereisenden Flora Tristan gerade nicht in die „Rückkehr zum Alten“ mündet, sondern „zu einer neuen Erkenntnis“ führt (Ette 2001: 70), so stellt sich der Fall in La route komplexer dar: Mit der (Wieder-)Entdeckung des christlichen Glaubens in der nepalesischen Gebirgslandschaft bewegt sich der Protagonist aus kultureller Perspektive auf das Feld des Eigenen, also auf ‚das Alte‘ zurück. Zugleich folgt aus der Gotteserfahrung im Himalaya eine doppelte Deplatzierung, die ebenso in einer Neuperspektivierung des eigenen Vagabundentums als sinnloser Existenzform wie auch in dem am Ende des Reiseberichts erfolgenden Ausstieg begründet ist. Dieser Ausstieg ist jedoch zugleich ein ‚Wiedereintritt‘ und folgt damit abermals einer zirkulären Struktur: Nach dem vergeblichen Versuch der Wieder-Heimischwerdung im bürgerlichen Milieu seiner Straßburger Familie wendet sich Luc einer christlichen Gemeinschaft in der italienischen Kleinstadt Loppiano zu, die in ihrem nicht-hierarchischen Aufbau den Strukturen der Hippie-Kommune gleicht. Damit steigt Luc zwar aus der bürgerlichen Gesellschaft und dem <?page no="216"?> Beatrice Schuchardt 192 Hippietum aus, kehrt aber doch in gewisser Weise kurz darauf wieder in beide zurück. So findet sich in der christlich-katholischen Gemeinschaft von Loppiano die moralisch-religiöse Grundlage der französischen Gesellschaft in gleichem Maße wieder wie die dem Hippietum verpflichtete, egalitäre Struktur der Kommune. Der Kreis erweist sich somit als zentrale narrative und symbolische Struktur des Textes La route, als eine Struktur, die das im Titel des Buches zugrunde gelegte Muster der Straße als linienhafte Verbindung zwischen zwei oder mehreren Punkten immer wieder unterläuft. 5. Fazit: Aporien der Hippiereise Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Suche nach der vermeintlichen Ursprünglichkeit und Farbenpracht der Landschaften des Orients und Asiens auch im 20. Jahrhundert nichts von ihrer Anziehungskraft für europäische Reisende verloren hat. Dies zeigt Vidals Bericht anschaulich. Analog zu den reisenden Literaten des 19. Jahrhunderts konstruiert auch Vidal im Kontext der 68er-Bewegung seinen Bericht als Gegenstück zur eigenen, unerträglich gewordenen westlichen Gesellschaft. Konzipierte jedoch die Orient-Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts den vor allem in Vorderasien gesehen Orient als archaisch-barbarisch, erotisch und zugleich mystischverschleiert, 31 also als einen Orient, dessen Wahrnehmung sich laut Stemmler (2004: 49ff.) vor allem um die Dialektik von Enthüllen und Verbergen drehte, so setzt Vidals Bericht einen anderen Schwerpunkt: In seinem Hippie-Reisebericht verschiebt sich die Verortung der Essenz des Orientalischen zum einen von Vorderasien nach Zentral- und Südasien. Zum anderen wird dieser Orient gegen Mitte des 20. Jahrhunderts als ein wirtschaftlich armes, primär auf seine Spiritualität zurückgezogenes Paradies konzipiert. Dominiert also in der orientbezogenen Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts die erotisch-physische Komponente, so zeichnet sich 31 Das Interesse am Schleier bzw. an Frauen und ihrer gesellschaftlichen Stellung in den jeweilig bereisten Kulturen sowie an ihrer physischen Attraktivität findet sich zwar in Ansätzen auch bei Vidal und ist hier mit dem orientalistischen Negativ-Stereotyp einer behaupteten Misogynie asiatischer Kulturen bzw. mit dem Positiv-Stereotyp einer besonderen Schönheit asiatischer Frauen verbunden, das auch in Orientreiseberichten des 19. Jahrhunderts zu finden ist (zum Schleier siehe Vidal [1974: 21f.; 33; 40; 47], zur Stellung der Frau siehe Vidal [1974: 57f.; 64)], zum Topos der Attraktivität siehe Vidal [1974: 72f., 88; 135]). Der wesentliche Unterschied zur literarischen Einbettung des Motivs des Schleiers in die Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts besteht jedoch darin, dass die erotische Komponente von Enthüllen und Verbergen dort auf topologischer Ebene zentral ist (vgl. Stemmler 2004: 95ff.), während sich die Erwähnung des Schleiers sowie der Topos der Frau bei Vidal als eher nebensächlich erweisen. Zu erotischen Kontakten oder einer an längeren Beschreibungen der beobachteten Frauengestalten ersichtlich werdenden, tieferen Faszination kommt es hierbei nicht. Diese gilt vielmehr der Amerikanerin Katty, in die sich der Erzähler gegen Ende der Reise verliebt und die für ihn aus der Masse der ziellos umherirrenden und berauschten Hippies hervorsticht. <?page no="217"?> Reisen auf dem Hippie-Trail 193 der asiatische Kontinent in diesem Hippie-Reisebericht eher durch seine spirituelle Attraktivität aus. Dennoch verdeutlichen die hier dargelegten Analogien zu Orient-Reiseberichten des 19. Jahrhunderts, dass Reisewahrnehmungen nicht in einem voraussetzungslosen, also textfreien Raum stattfinden, sondern sich - bewusst oder unbewusst - auf vorausgehende Vorstellungen hinsichtlich der bereisten Räume beziehen, die unter anderem über das Medium Literatur in das kollektive Imaginäre eingegangen sind. Der bei Vidal um Zentral- und Südasien erweiterte Orient steht in den Diskursen der Hippie-Bewegung dem circulus vitiosus der kapitalistischen Konsumgesellschaft entgegen und verspricht zugleich die Möglichkeit des Ausstiegs aus dieser. Dass aber diese Möglichkeit eine Illusion ist und die Gefahr besteht, die westliche Konsumgesellschaft - und mit ihr den Tourismus als Wirtschaftssektor - gerade mittels der vermeintlichen ‚Aussteiger‘ in den Orient zu exportieren, hat sich anhand von Vidals Reisebericht bereits gezeigt. Hier wurde deutlich, wie das individuelle Verhalten den vorgeblichen Reiseethos der Bewegung immer wieder konterkariert. Explizit erläutert wird die Kopplung der Entstehung eines touristischen Marktes an die Hippie-Reisewelle und den Hippie-Trail von MacLean (2007: 219ff.), 32 illustriert er doch, wie mit den reisenden Hippies die westlichen Lebensmodelle mit all ihren Kehrseiten über den asiatischen Kontinent hereingebrochen sind: die Marktwirtschaft ebenso wie die freie Sexualität. Dass diese mit den lokalen Gebräuchen und Moralvorstellungen nicht zwangsläufig harmonieren, wird in La route durch die Episode einer durch die einheimische Presse initiierten Hippie-Jagd auf Goa angedeutet (Vidal 1974 160ff.). Der mit der Reise angestrebte Ausbruch aus der Ordnung des Eigenen erweist sich als Aporie. Diese tritt in der Zentralität der Figur des Kreises für den hier untersuchten Hippie-Reisebericht deutlich zu Tage, symbolisiert dieser doch die stete und unbeabsichtigte Rückkehr zum Anfangspunkt. Diese ist auch darin begründet, dass das Fremde bereits im Prozess der Wahrnehmung den Deutungsmustern des Eigenen unterworfen wird und somit das am Beginn der Reise stehende Wunschbild die Fremderfahrung wesentlich prägt. Der Ausbruch aus dem Teufelskreis, in dem der ursprünglich fliehende Reisende in seiner diskursiven Wiedergabe der gemachten Fremderfahrung doch immer wieder auf die eigene Logik zurückfallen muss, scheint für die Hippiekultur einzig in der alle Logik außer Kraft setzenden Rauscherfahrung des LSD-Trips möglich. Dieser verspricht die Möglichkeit eines ‚Meta-Trips‘ innerhalb des Trips - und damit einen 32 So zitiert MacLean etwa einen indischen Mitreisenden, der von den negativen Folgen der Hippie-Lebensweise und des durch die Beatles ausgelösten, regelrechten ‚Indien- Hypes‘ westeuropäischer Reisender spricht, sowie von den durch die reisenden Hippies ausgelösten kulturellen Konflikten, die sich durch eine mangelnde Sensibilität gegenüber den lokalen Gebräuchen und Sitten erklären. Infolge dieser Konflikte wenden sich beispielsweise die indischen Medien letztlich gegen die Hippie-Bewegung. <?page no="218"?> Beatrice Schuchardt 194 weiteren vermeintlichen und letztlich nicht minder aporetischen Ausweg: das Ausbrechen aus der zirkulären Struktur der Reise durch Außer-Kraft- Setzung des eigenen, reisenden Körpers. Umso erhellender erscheint vor diesem Hintergrund der Titel der deutschen Ausgabe von La route: In Nepal blüht der Mohn. Literaturverzeichnis Hans-Joachim Althaus, Bürgerliche Wanderlust. Anmerkungen zur Entstehung eines Kultur- und Bewegungsmusters, in: Wolfgang Albrecht/ Hans-Joachim Kertscher (Hrsg.), Wanderzwang - Wanderlust, Tübingen 2001, 25-43. Ruth Bronsteen, The Hippy‘s Handbook, New York 1967. André Brugiroux, La terre n’est qu’un seul pays, Paris 1975. Laurent Chollet, La route du Népal: la grande migration hippie, in: Philippe Artière/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 500-505. (2008a) Laurent Chollet, Le LSD, les hippies et la Californie, in: Philippe Artière/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 80-85. (2008b) Guillermo Díaz-Plaja, Los paraísos perdidos, Barcelona 1970. Isabelle Eberhardt, Vers les horizons bleus, in: Marie Odile Delacour/ Jean-René Huleu (Hrsg.), Œuvres Complètes, 1. Écrits sur le sable, Paris 1988 [1944], 95-102. Ottmar Ette, Literatur in Bewegung, Weilerswist 2001. Gustave Flaubert, Égypte. Voyage de Rosette, in: Jean-Claude Berchet (Hrsg.), Le voyage en Orient: anthologie des voyageurs français dans le levant au XIXe siècle, Paris 2005 [1948], 910-928. Gustave Flaubert, Dictionnaire des idées reçues, Paris 1966. Robert Frank, 1968 - ein Mythos, in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968. Vom Ereignis zum Mythos, Frankfurt a.M. 2008, 403-411. Valérie de Gasparin, Constantinople sous Abdul-Aziz, in: Jean-Claude Berchet (Hrsg.), Le voyage en Orient: anthologie des voyageurs français dans le levant au XIXe siècle, Paris 2005 [1848], 550-573. Clifford Geertz, Dichte Beschreibungen. Frankfurt a.M. 1987. Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), Mai 68 in Frankreich, in: dies., 1968. Vom Ereignis zum Mythos, Frankfurt a.M. 2008, 15-45. Julien Hage, Sur les chemins du tiers monde en lutte: Partisans, révolution, Tricontinental (1961-1973), in: Philippe Artière/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective 1962-1981, Paris 2008, 86-93. Florian Henke, Topografien des Bewusstseins. Großstadtwahrnehmung, Erinnerung und Imagination in der französischen Literatur seit Baudelaire, Freiburg 2005, elektronisch publiziert unter: URL: http: / / www.freidok.de/ volltexte/ 2204/ pdf/ Henke_Topografien_011412.pdf (26.08.2008). Alphonse de Lamartine, Constantinople, in: Jean-Claude Berchet (Hrsg.), Le voyage en Orient: anthologie des voyageurs français dans le levant au XIXe siècle, Paris 2005[1835], 454-473. Pierre Loti, „Constantinople“, in: Jean-Claude Berchet (Hrsg.), Le voyage en Orient: anthologie des voyageurs français dans le levant au XIXe siècle, Paris 2005 [1892], 576-586. <?page no="219"?> Reisen auf dem Hippie-Trail 195 Lisa Lowe, „The Orient as Woman in Flaubert’s Salammbô and Voyage en Orient“, in: Comparative Literature Studies 23(1)/ 1986, 44-58. Scott MacFarlane, The Hippie Narrative. A Literary Perspective on the Counterculture, Jefferson/ North Carolina 2007. Rory MacLean, Magic Bus. On the Hippie from Istanbul to India, London 2007. John Bassett McCleary, The Hippie Dictionary, Berkeley/ California 2004. Christian Moser/ Helmut J. Schneider, Einleitung. Zur Kulturgeschichte des Spaziergangs, in: dies./ Axel Gellhaus (Hrsg.), Kopflandschaften - Landschaftsgänge: Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs, Köln, Weimar 2007, 7-27. Gérard de Nerval, Les mariages Cophtes, in: Jean-Claude Berchet (Hrsg.), Le voyage en Orient: anthologie des voyageurs français dans le levant au XIXe siècle, Paris 2005, 858-875. Josette Rey Debove/ Alain Rey (Hrsg.), Le Nouveau Petit Robert, Montréal 1993. Jean-Jacques Rousseau, Les Confessions, in: Bernard Gagnebin/ Marcel Raymond (Hrsg.), Œuvres complètes, 1, Paris 1959. Edward Said, Orientalism, London 1979. Susanne Stemmler, Topografien des Blicks. Eine Phänomenologie literarischer Orientalismen des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 2004. Michael G. Symolka, Hippie-Lexikon, Berlin 1999. Flora Tristan, Pérégrinations d’une paria 1833-1834, Paris 1983. Natascha Ueckmann, Frauen und Orientalismus. Reisetexte französischer Autorinnen des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2001. Luc Vidal, La Strada - il mio diario di hippy, Rom 1972. Luc Vidal, In Nepal blüht der Mohn. Übersetzt von Klaus Purkot, München 1973. Luc Vidal, La route - mon journal de hippy, Paris 1974. Paul Willis, „Profane Culture“: Rocker, Hippies - Subversive Stile in der Jugendkultur, Frankfurt a.M. 1981. Lewis Yablonsky, The Hippie Trip, New York 1968. Abbildungsnachweise: Abbildung 1: Ruth Bronsteen, The Hippy‘s Handbook, New York 1967, 45f. Abbildung 2: Luc Vidal, In Nepal blüht der Mohn, München 1973, 204. <?page no="221"?> Klaus-Dieter Ertler Axiologische Vektoren der 68er-Generation im frankokanadischen Erzählsystem. Zur Globalisierung eines Diskursdesigns 1. Vorbemerkungen Die zahlreichen Veranstaltungen zur Erinnerung wie Aufarbeitung des Themas ‚Mai 68’, die seit den Pariser Barrikaden alle zehn Jahre abgehalten werden, lassen erkennen, dass dieses Ereignis mehr als eine ‚Studentenrevolte’ war und nicht nur einen gravierenden Einschnitt in die politische sowie kulturelle Entwicklung Frankreichs mit sich brachte, sondern auch auf globaler Ebene wahrgenommen wurde und in den aktuellen Welterklärungssystemen seine Aufnahme fand. Der Rückblick nach vierzig Jahren verspricht einen im Verhältnis zu den vorangehenden Retrospektiven noch breiteren und tieferen Einblick in die diskursiven Schichten der Zeit, wodurch die Partikularität des französischen Ereignisses wie auch dessen Einbindung in die Gesamtheit der internationalen Protestbewegungen anderer Nationen und Kulturen immer klarer sichtbar wird. Rezente Publikationen wie etwa die Studie des CNRS mit dem Titel Mai 68 vu de l’étranger (vgl. Vaïsse 2008) oder die letzte Nummer 149 der Zeitschrift Le Débat von März/ April 2008, die dem Jahrestag gewidmet sind, unterstreichen das zunehmende Interesse für eine solche komparatistische Sichtweise. Folgt man dieser Perspektive, wird klar, dass die Mai-68er-Bewegung auf globaler Ebene ein Ereignis unter vielen war und zum Diskursbestand von stark ausgeprägten Protestkulturen wie auch zur Inszenierung von situationistisch gelenkten Agitationen gegen traditionelle Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie gegen überkommene Strukturen politischer und kultureller Institutionen gehörte. Antikonformistische, ja anarchistische Ausbrüche zeigten sich vielerorts, es kam zu einer Häufung von revolutionären Ereignissen und Umbrüchen, die nicht nur einen diskursiv-argumentativen Charakter aufwiesen, sondern auch in verschiedenen Praktiken ihren Ausdruck fanden. Der Protest gegen soziale Missstände sollte auf die Straße getragen werden. So bezogen die Akteure der 68er-Bewegung ihre Vorbilder und Mythen zum Teil aus fremden Kulturbereichen, wie auch umgehrt die Pariser Revolte anschließend weit über die französischen Grenzen hinaus zum Vorbild und Mythos - oder auch zum Schreckensbild - wurde. Die daraus resultierenden diskursiven <?page no="222"?> Klaus-Dieter Ertler 198 Verflechtungen sollten bei einer Bewertung der Ereignisse vier Jahrzehnte später nicht außer Acht gelassen werden. Das prominenteste Modell für einen revolutionären Umsturz, das zweifelsohne zur Idolbildung der Protestkulturen beitrug, bildete die kubanische Revolution vom 1. Januar 1959, bei der der junge Rechtsanwalt und Guerrillero Fidel Castro die kubanische Diktatur General Batistas gestürzt hatte und neue Formen der internationalen Politik wie auch der Generation von Diskursen propagierte. Der aus Argentinien stammende Revolutionär Che Guevara, der in der ersten Regierung Wirtschaftsminister geworden war und beim Export des kubanischen Modells 1967 in Bolivien sein Leben ließ, wurde für die folgenden Jahrzehnte schnell zum Idol der neuen Linken, die anfangs noch - wie auch die Pariser Mai-Revolte - stark leninistische bzw. maoistische Züge getragen hatte. Auch der zivile Widerstand gegen die US-amerikanische Vietnampolitik, die am 31. März 1968 mit der Einstellung der Bombardierungen und dem Rückzug von Präsident Johnson ein Ende versprach, die Ermordung des Pastors Martin Luther King am 4. April desselben Jahres und die damit einsetzenden Protestveranstaltungen in den amerikanischen Großstädten hatten Modellcharakter. Das Attentat auf den sozialistischen Studentenführer Rudi Dutschke am 11. April in Deutschland sowie die Verhaftung von Daniel Cohn-Bendit in Frankreich zeugen von der internationalen Verflechtung der Ereignisse. Schließlich leistete die narrative und mediale Aufbereitung der Ermordung Robert Kennedys wenige Tage nach der Pariser Mai-Revolte ihren Beitrag zur großen Metaerzählung der sechziger Jahre. Dass das neue Medium Fernsehen mit seinen unmittelbaren Übertragungsmöglichkeiten von Bildern in hohem Maße praktiken- und diskursmodellierend war, braucht nicht weiter unterstrichen zu werden. Durch diese Vermittlung des revolutionären Potentials konnte es auf lokaler Ebene zu beschleunigten Entwicklungsschüben verwandter Diskurssysteme kommen. 1 So gesehen, schrieb sich die französische Protestbewegung in einen globalen Diskurs ein, brachte allerdings die behandelten Problematiken auf poetisch überhöhte Weise auf den Punkt. Was sie von den Revolten der anderen Kulturen unterscheiden sollte, war der Umstand, dass sie mit großstädtisch intellektueller Perspektivierung, großem romantischem Anstrich und ohne Entführungen und aufsehenerregendes Blutvergießen die gewohnte Nachkriegsordnung aus den Angeln hob und in Paris einen Regierungswechsel herbeiführte, der für Frankreich den Aufbruch in eine neue politische Kultur bedeutete. Sie leitete einen kulturellen Paradigmen- 1 Ein Hinweis auf die angesprochene diskursive Verflechtung zeigt nicht zuletzt das Forschungsfeld des in den sechziger Jahren in Bolivien festgehaltenen Régis Debray, der sich nach seiner Phase des Widerstandes und der Freilassung für die Funktion der Medien interessierte und dazu publizierte (Debray 1991, 2000). <?page no="223"?> Axiologische Vektoren der 68er-Generation im frankokanadischen Erzählsystem 199 wechsel ein, der sich aus einer Reihe von Widersprüchen 2 nährte und sich als - wie man in letzter Zeit immer deutlicher vernahm - als Antihumanismus 3 entpuppen sollte, was in späteren Jahrzehnten weitreichende Folgen für die Geisteswissenschaften - und nicht zuletzt auch für das Fach Romanistik 4 - aufwies. Die Ideen der Bewegung führten im Laufe der folgenden Jahrzehnte zur unumgänglichen Grundlage für die weitere kulturelle Entwicklung bis hin zur Genderdebatte und zum Postkolonialismus der heutigen Tage. Der ideologisch aufgeladene Begriff ‚Mai 68’ mit seinen ideologiekritischen Beobachtungsmechanismen besitzt demnach eine Vielzahl von Konnotationen, je nachdem, von welcher Position aus man die Ereignisse beobachtet und bewertet. 5 Ein kleinster gemeinsamer Nenner der Konsensbildung liegt darin, dass Mai 68 mit der Autonomiebestrebung des Subjekts und dem damit zusammenhängenden Wertekanon für einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel steht, einen historischen Moment des no return, der sich 2 „En ce sens, Mai 68 paraît marquer le début d’une césure forte et acceptée entre la réalité et ses représentations: tout en consommant de plus en plus, on méprise la société de consommation, tout en dénonçant le piège de l’État-spectacle, on s’attaque à lui, tout en militant contre le racisme, on ne rompt pas avec l’Afrique du Sud. La mort des idéologies, a-t-on dit. Faux. La disparition plutôt du lien entre idéologie et réalité […].“ (Baynac 2008, 144) 3 „La critique de l’humanisme est tout aussi radicale […].“ (Le Goff 2006, 41) 4 Unser Fach weist eine zum Teil unsichtbare Verwerfungslinie auf, die in engem Zusammenhang mit der 68er-Bewegung steht. Es gab zu jener Zeit kaum Kollegen, die der Revolte gleichgültig gegenübergestanden wären. Im Gegenteil. Ein Großteil der etablierten Professorenschaft sprach sich - nicht zuletzt auf Grund ihrer bitteren Erfahrungen während der Kriegs- und Nachkriegszeit - dezidiert gegen die Erneuerungsbewegung aus und baute das Fach nach diesen Vorgaben aus. Ein weiterer Grund für die Ablehnung dürfte der radikale, offene Widerstand der Studentenschaft in Berlin, Heidelberg, Freiburg etc. gegen die Ordinarienuniversität gewesen sein. Dem gegenüber sahen sich die Anhänger der 68er in der Minderzahl. Dass sich diese Verwerfungslinie auf die Karrieren auswirkte, hatte weitreichende Folgen für das Fach und kann hier nicht weiter kommentiert werden. Vgl. die autobiographischen Berichte der Romanistik-Professoren in Ertler (2007). 5 Die Vielfalt der Perspektiven unterstreicht auch die italienischstämmige Historikerin Diana Pinto, die damals in Harvard studierte und die Differenzen in der Bewertung hervorstrich: „À chacun son ‚68’. [...] Ma perspective sur les événements de 1968 demeure multiple et aliénée. Étudiante à l’université de Harvard, cette vieille dame souvent prétentieuse et aux réflexes si lents qu’elle ne fit son ‚68’ qu’en avril 1969, j’étais aussi mêlée depuis l’adolescence aux luttes pour les civil rights par ma mère, professeur à l’université d’Atlanta, berceau du mouvement de Martin Luther King. En Italie en revanche, je devais me confronter à l’indifférence, voire à la condescendance à l’égard de ce qui se passait aux Etats-Unis de la part de mes contemporains italiens engagés et embus de leurs propres luttes, luttes dont l’essence révolutionnaire (vécue le plus souvent dans un contexte admirablement bourgeois) me paraissaient fort douteuses. L’Amérique impérialiste et contre-révolutionnaire de leurs schémas ‚collait’ mal avec le pays tourmenté et en pleine ébullition que je connaissais. De cette période je retiens le souvenir d’un décalage ‚transatlantique’ personnellement douloureux et culturellement infranchissable.“ (Pinto 2008, 146-148) <?page no="224"?> Klaus-Dieter Ertler 200 auf die folgenden Jahrzehnte der Mythifizierung der Chiffren ‚Projekt’ und ‚Unternehmen’ auf allen Ebenen der Gesellschaft ausgewirkt hat. Diese Privilegierung des Subjekts und seiner Autonomie konnte sowohl für die neoliberale Marktwirtschaft wie auch gegen sie durch Alternativgruppierungen oder gegenkulturelle Profile vereinnahmt werden, was die Bewertung der revolutionären Bewegung je nach axiologischer Ausrichtung der Beobachter bis heute spaltet. 6 Wo die einen die Ereignisse des 68er-Jahres als fatalen Irrtum bezeichnen oder gar der Vergessenheit anheim stellen, wie etwa Präsident Nicolas Sarkozy im Präsidentschaftswahlkampf von 2007 gegen Ségolène Royal, wollen wiederum andere im zeitgenössischen sozialen Diskurs die Folgen der Protestbewegungen erkennen. 2. Diskursive Vektoren der 68er-Generation in Québec Im Folgenden wollen wir die diskursiven Vektoren der 68er-Generation in einem Kontext beobachten, der mit Frankreich zwar in engem Zusammenhang stand, aber dennoch von unterschiedlichen Prämissen geprägt war. Im frankophonen Kanada hatte sich eine Bewegung herausgebildet, die die Provinz am Sankt-Lorenz-Strom zu einer im internationalen Kontext konkurrenzfähigen Gesellschaft führte. Die Dekade der sechziger Jahre war stark von einem auf Amerika ausgerichteten Diskursfeld wie auch von einer partikularen lokalen Gemengelage beeinflusst und wurde daher - insbesondere von der anglokanadischen Seite - unter dem Begriff Révolution tranquille verbucht. Diese Bewegung stand für einen tiefgreifenden Erneuerungsprozess, der sich im politischen wie kulturellen Leben der Provinz niederschlug und Werte in den Vordergrund rückte, die später eng mit der darauf folgenden 68er-Bewegung verbunden werden konnten. 7 Es ist daher die Frage zu stellen, in welchem Verhältnis die diskursiven Vektoren der 68er-Generation zum kulturellen - insbesondere literarischen - System der frankokanadischen Provinz stehen, wie das dialogische Verhältnis zwischen den spezifischen Diskursen der politischen und kulturellen Bewegung und dem künstlerischen System der Provinz Québec aussieht und in welcher Form die Diskurszusammenhänge in den Erzähltexten vor und nach 1968 präsent waren, ob sie zur Genese der Bewegung beitrugen und wie sie diese Vektoren verarbeiteten. Nach einer kurzen Einführung in die historischen Grundlagen der frankokanadischen sechziger Jahre sollen die diskursiven Vektoren anhand von einigen 6 Jean-Pierre Le Goff (2006, 10) sieht etwa im „discours managérial“ der achtziger Jahre eine direkte Fortsetzung der an Autonomie orientierten Ideale der 68er-Bewegung. 7 Dieser Zusammenhang wurde bislang von mehreren Seiten hergestellt, was Serge Audier in seiner grundlegenden Studie zur Revision des gegenrevolutionären Diskurses im Kapitel „Mai 1968 ou l’américanisation de la France? “ analysierte (vgl. 2008, 89- 108). <?page no="225"?> Axiologische Vektoren der 68er-Generation im frankokanadischen Erzählsystem 201 repräsentativen Texten des literarischen Systems der Provinz illustriert werden. Für die frankophone Provinz und ihre Hauptstadt Québec bedeutet die Dekade mehr als einen einfachen politischen und kulturellen Eingriff. Die Révolution tranquille veränderte das gesellschaftliche Leben am unteren Sankt-Lorenz-Strom von Grund auf und verwandelte das traditionelle Canada français in eine liberal ausgerichtete Provinz, die ihren Anspruch auf eine eigenständige Nation bis heute nicht mehr aus den Augen verlieren sollte. Als Hauptgrund für die rasche Veränderung ist zum einen der plötzliche Tod des Premierministers Maurice Duplessis im September 1959 zu sehen. Duplessis, der das Schicksal der Provinz über zehn Jahre lenkte und als Inbegriff eines patriarchalischen Politikers bekannt war, stammte aus der zwischen Montréal und Québec gelegenen Provinzstadt Trois- Rivières. 8 Er war Vertreter des traditionellen Paktes, der zwischen der katholischen Kirche und der Provinzregierung geschlossen wurde. Die Triade foi, langue et famille wurde damit fest einzementiert und stand gegen die Liberalisierung eines überkommenen Canada français. Trotz seiner provinziellen Ausrichtung hatte Duplessis, den man ehrfürchtig le Chef zu nennen pflegte, die Holz- und Energieindustrie den anglophonen Investoren überlassen und konnte auf diese Weise eine mehr oder minder autarke Wirtschaftspolitik führen. Die Kirche leitete den Großteil der Schulen und der Krankenhäuser in der Provinz, und als Karrieremöglichkeiten standen der Elite vor allem die Studien der Rechtswissenschaften wie der Medizin offen. Frauen gehörten seiner Argumentation nach in den häuslichen Bereich und waren grundsätzlich für die Kindererziehung zuständig. Montréal lag vorrangig in den Händen von anglophonen Betrieben, deren Mitarbeiter während der Arbeitszeit Englisch sprechen mussten. Der öffentliche Bereich der Hauptstadt Québec wurde von Duplessis wie ein privater Erbhof geführt, eine katholisch ausgerichtete Zensur kontrollierte und regelte das Druckwesen der Provinz. Aus all diesen Gründen ging Duplessis’ Epoche unter dem abwertenden Begriff Grande Noirceur in die Geschichte des Landes ein. Unter der neuen, sich als dynamisch stilisierenden Regierung von Jean Lesage (1960-1966), die man im allgemeinen als Équipe de tonnerre zu benennen pflegt, wurde die Aufarbeitung der durch die Grande Noirceur versäumten Reformen in Angriff genommen und eine Modernisierung des 8 In den letzten Jahren wird das Konzept der Grande Noiceur einer Revision unterworfen. Ausstellungen in Trois-Rivières deuten immer wieder auf die geschickte Wirtschaftspolitik des charismatischen Chef hin wie auch auf die wichtige Sprachenpolitik, mit der das Französische der Provinz über das konfessionelle Erziehungssystem erhalten werden konnte. Auch im Hinblick auf die Modernisierung der Infrastruktur, z.B. dem Bau von Wasserkraftwerken oder Papierverarbeitungsindustrien sowie einigen prospektiven Projekten in Montréal neigt man in letzter Zeit dazu, auch die andere Seite der Medaille hervorzukehren, um damit einer ideologischen Schwarz-Weiß- Malerei zu entgehen. <?page no="226"?> Klaus-Dieter Ertler 202 öffentlichen Lebens der Provinz eingeleitet. 9 Man wusste die Hochkonjunktur der Weltwirtschaft für die eigenen Gegebenheiten zu nutzen, schloss sich an die gängigen sozialpolitischen Reformen der westlichen Hemisphäre an und beurteilte in diesem Sinne auch die Vorteile gezielter staatlicher Interventionen. Die Konstanten der abrupt einsetzenden Révolution tranquille setzten sich maßgeblich aus zwei Faktoren zusammen: Zum einen wurde der staatlich kontrollierte Liberalismus im Sinne einer Wohlfahrtsgesellschaft praktiziert, was sich für das aufstrebende kollektive Selbstbewusstsein als besonders förderlich erwies, zum anderen entwickelte sich ein Nationalismus moderner Prägung, der in der condition québécoise das Modell für einen neuen Aufbruch erkennen wollte. Es folgte eine Welle der Verstaatlichung, welche mit der Nationalisierung der Elektrizitätswerke im Jahre 1962 ihren symbolischen Höhepunkt erreichte. Das Anwachsen der öffentlichen Verwaltung bot den Québécois neue Berufschancen, die ihnen in früheren Formen des konfliktreichen Zusammenlebens zwischen anglophonen und frankophonen Kanadiern vorenthalten geblieben waren. Die administrative Umstrukturierung konnte die Baby-Boom-Generation in den neu implantierten Institutionen auffangen und ihr dadurch auch ein vielversprechendes Zukunftsprofil vermitteln. Auf die starke Präsenz der Québecer Jugend war es nicht zuletzt zurückzuführen, dass der Diskurs der 68er-Generation in der Provinz eine beachtliche Rezeption erfuhr und die Werte, wie sie die gegenkulturellen Bewegungen in den westlichen Ländern vertraten, massiv einflossen. Die davon ausgehende Dynamik versetzte die Révolution tranquille in Schwung und brachte sie mit den neuen Argumentationsformen des kollektiven Widerstandes wie auch mit dem gegenkulturellen Muster der flower-power- Generation in Verbindung. Auf der Basis der politischen Protestaktionen gegen den Vietnamkrieg und die Sympathiebekundungen für die kulturelle Revolution in China oder die 68er-Bewegung in Frankreich entstand ein Québec, das seine nationalistischen Ambitionen von Grund auf umstrukturierte und mit einem ungewohnten Fokus wie auch einem gestärkten Selbstbewusstsein gegen die tradierten Denkmuster antrat. 10 Selbstverständlich wirkten sich die Modifikationen im institutionellen Bereich auch auf die Förderung von explizit frankophoner Kultur merklich aus. Die von der öffentlichen Hand subventionierten Projekte brachten zahlreiche Verbesserungen der Infrastruktur mit sich und belebten die Kultur- 9 Die folgenden Seiten sind zum Teil eine überarbeitete Version meiner Darstellung in Ertler (2000, 165-207). 10 Damit wurde das neue Québec zum modernen und insbesonders postmodernen Diskursspender der folgenden Jahrzehnte. Als Beispiel möge das Projekt von Jean- François Lyotard angeführt werden, dessen Text zur Postmoderne als Auftragswerk der Regierung von Québec entstanden war (Lyotard 1979). Mit der technologischen Wende der achtziger Jahre sollte Québec eine internationale Vorreiterrolle im frankophonen Kontext übernehmen. <?page no="227"?> Axiologische Vektoren der 68er-Generation im frankokanadischen Erzählsystem 203 industrie im städtischen Raum. Die Urbanisierungsrate lag zu jener Zeit bereits auf 80%, so dass von dem ruralen Frankokanada, das bis zum Zweiten Weltkrieg den sozialen Diskurs charakterisierte und während der Duplessis-Ära noch als essentielles Phänomen angesehen wurde, nur mehr geringe Spuren vorhanden waren. Als Zeichen dieser Entwicklung hin zu einem mordernisierten Québec war vor allem die Ausrichtung der Weltausstellung von 1967 in Montréal zu werten. In diesem Jahr war bei einem Staatsbesuch von Charles de Gaulle auch der diplomatisch umstrittene Aufruf zur revolutionären Aktion gefallen: Mit „Vive le Québec libre“ feuerte der französische Staatschef die steigende Zahl der Anhänger einer von Kanada emanzipierten Nation an. 11 Daran lässt sich nicht nur die starke Verbreitung der revolutionären Ideale im internationalen Kontext, sondern auch deren Ambivalenz erkennen. So sehr der französische Präsident den Innovationsschub der Zeit begrüßte, sosehr sollte ihm dieser im eigenen politischen Umfeld ein Jahr später zum Verhängnis werden. Im Zuge der 68er-Bewegung entstanden in der kanadischen Provinz allerdings politische Gruppierungen wie die Front de libération du Québec (FLQ), die den evolutionären Charakter des Strukturwandels zu bedrohen schienen. Wer hätte vermutet, dass die terroristischen Gruppierungen - im Fahrwasser der lateinamerikanischen Guerrilla - radikaler auftraten als in Frankreich? Im Oktober 1970 spitzte sich die Entwicklung zu einer militärischen Auseinandersetzung zu, als die revolutionäre Gruppe FLQ den britischen Diplomaten James R. Cross und den Bundesminister für Arbeitsangelegenheiten Pierre Laporte entführte und letzteren ermordete. Einige Aktivisten suchten daraufhin den Weg nach Kuba. Wenngleich das Aufflammen terroristischer Bewegungen auf Betreiben des kanadischen Premierministers Pierre Elliott Trudeau durch drastische Maßnahmen der Bundesregierung wieder eingedämmt werden konnte, waren dennoch emotionale Gräben entstanden, die den weiteren Dialog zwischen Ottawa und Québec nicht erleichterten. Während der Regierungszeit Robert Bourassas, die sich trotz dieser destabilisierenden Ereignisse bis zum Ende ihrer Legislaturperiode halten konnte, wuchs eine neue Partei heran, die ein ausgeprägtes nationalistisches Bewusstsein aufwies: Es war dies die Québecer Partei (Parti québécois) unter dem charismatischen Leader René Lévesque, welche den Weg zur Nation zu 11 „L’opposition entre le gouvernement d’Ottawa et celui de Québec deviendra de plus en plus évidente, surtout à l’occasion de la visite au Québec du général de Gaulle. L’Exposition universelle de Montréal, qui se tient du 28 avril au 27 octobre 1967, accueillera plus de 50 millions de visiteurs. Plusieurs chefs d’État en profiteront pour visiter le Québec et le reste du Canada. Selon l’usage, les visites officielles devaient commencer par Ottawa. […] Peu désireux de commencer sa visite à Ottawa, le général décide de venir à bord d’une navire de la marine française. Le 15 juillet 1967 il quitte le port de Brest à bord du bâtiment à bord du bâtiment amiral Colbert.“ (Lacoursière 2008, 218) <?page no="228"?> Klaus-Dieter Ertler 204 den wichtigsten Anliegen erklärte. Dazu gehörte insbesondere die Frage um die Rolle und Funktion der französischen Sprache in einem neuen Québec. Wie erwähnt, fiel der Tod des Patriarchen Duplessis genau in die Zeit des massiven Aufbruchs der Gegenkulturen in den Amerikas, insbesondere in die Zeit der kubanischen Revolution. Die ihm folgenden Premiers konnten sich dem Druck der neuen Anliegen, Forderungen und vehement vorgetragenen Kritik wie auch der damit zusammenhängenden sozialen Praktiken nicht mehr entziehen und setzten sich für eine Politik des Umbruchs ein. Progressive Verlage und Zeitschriften wurden gegründet und fungierten als Vehikel für die Erneuerung. Eine Reihe von jungen Chansonniers und Künstlern sorgten für eine friedliche Metamorphose des Diskurses, wobei sie sich der nationalen Dimension ihrer Kunst gewahr wurden, andererseits Anschluss an die internationale Diskursivik suchten. Frauen brachten sich stärker in die Diskussion ein, wie etwa die als Feministin bekannte Nicole Brossard, die 1965 die engagierte Zeitschrift La Barre du jour gründete. Das Thema der politischen wie auch persönlichen oder sexuellen Unabhängigkeit lag in der Luft und wurde zu einem der Leitthemen der Epoche. Für das literarische System der Dekade wirkte der politische und kulturelle Paradigmenwechsel wie ein Aufwind, es wurden Texte verfasst, die jene der vorhergehenden Epoche im Hinblick auf Quantität und Qualität bei weitem übertrafen. Die Einrichtung von Bibliotheken - wie etwa der Bibliothèque nationale du Québec -, die Förderung von Verlagshäusern sowie die Schaffung von renommierten Literaturpreisen waren allesamt Zeichen für die Herausbildung eines von der Öffentlichkeit geförderten literarischen Systems, das im Zeichen der Québecer Symboliken stand und im Zusammenhang der aufstrebenden Francophonie-Bewegung große Anerkennung fand. Durch die plötzliche Öffnung der Provinz und den damit einhergehenden Anschluss an die internationale Kunstszene sowie durch die Modernisierung der Institutionen und die Euphorie im Hinblick auf ein neues, starkes Québec setzte ein Produktionsprozess ein, der sich nicht nur in der Musik (chanson engagée), im Theater (joual) oder in der Malerei (abstrait) deutlich manifestierte, sondern sich auch auf die Gattung des Romans förderlich auswirkte. Die ‚stille’ Revolution barg ausreichende Energien für eine profunde Reflexion im Bereich der künstlerischen Formen und Inhalte, so dass sich auf allen Ebenen - mit mehr oder minder großem Nachdruck - ein reicher Bestand an innovativen Kunstwerken herausbilden konnte. Etwa fünf Jahre Inkubationszeit benötigte das literarische System, insbesondere die Gattung des Romans, bis es sich auf die neuen Gegebenheiten umgestellt hatte. Dann erfolgte der große Umbruch im frankokanadischen Erzählsystem, und gleich mehrere bedeutende Romane lieferten etwa zur selben Zeit (1965/ 66) - wenngleich voneinander unabhängig - die Grundlage für die moderne Literatur Québecs: Marie-Claire Blais’ Une saison dans la vie d’Emmanuel, Hubert Aquins Prochain épisode und Réjean Ducharmes L’Avalée des avalés. <?page no="229"?> Axiologische Vektoren der 68er-Generation im frankokanadischen Erzählsystem 205 Marie-Claire Blais gehört zu jenen Autoren, die mit dem literarischen Durchbruch von 1965 in Zusammenhang standen und für ihre Nachfolger in jeglicher Hinsicht modellhaft wurden. Von Anfang an war der Schriftstellerin neuen Stils ein großer Erfolg beschieden. Unmittelbar nach der Veröffentlichung von Une saison dans la vie d’Emmanuel (Blais 1965) in Montréal wurde man nicht nur in Québec, sondern auch in Paris und in New York auf dieses avantgardistische Werk aufmerksam. Das Werk setzt trotz seines sarkastischen Untertons den traditionellen Themenkodex des frankokanadischen Romans fort, indem es auf die vielschichtigen Probleme der Großfamilie zurückgreift und deren Schwierigkeiten und Sorgen erzählerisch zum Ausdruck bringt. Dass die Großmutter dabei integrationsstiftend wird und die große Schar von Kindern mit ihren Erzählungen und spezifischen Aufmerksamkeiten zusammenhält, gehört zum weit ins 20. Jahrhundert reichenden Themenfundus dieser Literatur. Es schließt darüber hinaus auch an die Tradition an, der Kirche einen wichtigen Platz im heimischen Kommunikationsgefüge zuzuschreiben, wenngleich diese Integration hier der Zeit entsprechend in kritisch-aufklärerischer Form geschieht. Nichtsdestoweniger bleibt dem Text ein mythisch-verklärter Hang zum Jenseits erhalten, der hin und wieder mit Mitteln des märchenhaften Erzählens zum Ausdruck gebracht wird. In thematischer Hinsicht möge noch eine Besonderheit genannt sein, die sich im neueren Roman der frankokanadischen Provinz als charakteristisch erwiesen hat und auch im vorliegenden Werk manifest wird. Es ist die fiktionalisierte Darstellung des literarischen Schöpfungsprozesses, die sich vor allem mit den schriftstellerischen Praktiken des teilweise verklärten Jean-Le Maigre als fruchtbar erweist. Formal steht das Werk im Zeichen der Polyfokalisierung des modernen Romans, indem darin mehreren Stimmen reichlich Ausdruck verliehen wird, welche der komplexen Realität der äußerst schwierigen Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren - zumeist innerhalb der Familie - am besten gerecht wird. Die Erzählerinstanz dominiert neben der Stimme und den Gedanken der Großmutter oder Jean-Le Maigres, und die unkonkreten Orts- und Zeitangaben bringen darüber hinaus eine zirkulär fungierende Dynamik ins Spiel, die den Figuren ein hohes Maß an Geworfenheit im existentialistischen Sinn zuschreibt. Der Text setzt mit einer komplexen Kommunikationssituation ein, in der die Füße der Großmutter aus der Sicht des Neugeborenen und der Erzählerinstanz in den Mittelpunkt rücken und als emblematische Symbole die condition féminine der abgerackerten Bauersfrau unterstreichen: Les pieds de Grand-Mère Antoinette dominaient la chambre. Ils étaient là, tranquilles et sournois comme deux bêtes couchées, frémissant à peine dans leurs bottines noires, toujours prêts à se lever: c’étaient des pieds meurtris par de longues années de travail aux champs, (lui qui ouvrait les yeux pour la première fois dans la poussière du matin ne les voyait pas encore, il ne connaissait pas encore la blessure secrète à la jambe, sous le bas de laine, la cheville gonflée sous <?page no="230"?> Klaus-Dieter Ertler 206 la prison de lacets et de cuir...) des pieds nobles et pieux, (n’allaient-ils pas à l’église chaque matin en l’hiver? ) des pieds vivants qui gravaient pour toujours dans la mémoire de ceux qui les voyaient une seule fois - l’image sombre de l’autorité et de la patience. Né sans bruit par un matin d’hiver, Emmanuel écoutait la voix de sa grand-mère. Immense, souveraine, elle semblait diriger le monde de son fauteuil. (Ne crie pas, de quoi te plains-tu donc? Ta mère est retournée à la ferme. Tais-toi jusqu’à ce qu’elle revienne. Ah! déjà tu es égoïste et méchant, déjà tu me mets en colère! ) Il appela sa mère. (C’est un bien mauvais temps pour naître, nous n’avons jamais été aussi pauvres, une saison dure pour tout le monde, la guerre, la faim, et puis tu es le seizième ...). (Blais 1965, 7) Das einführende Bild liefert die wichtigsten thematischen Bestandteile des Romans und löst das narrative Problem der Vielstimmigkeit mit Hilfe von Klammern auf. Wenn die Füße der Großmutter nun metonymisch in den Vordergrund treten, so hängt dies mit der Perspektive des Säuglings zusammen, der zum ersten Mal seine Augen öffnet, seine Umwelt allerdings - wie die Großmutter denkt - noch nicht wirklich wahrnehmen kann. An diesen Füßen wird das kommunikative Netz nachvollzogen, in das Emmanuel rücksichtslos katapultiert wurde und welches ihm erst im Laufe der Erzählung allmählich zugänglich wird. Die Füße zeugen von den schwierigen Lebensbedingungen der emsigen Bäuerin und sind von der ländlichen Arbeit gezeichnet, wo der tägliche Kirchenbesuch auch im Winter eine unaufschiebbare Verpflichtung bedeutet und wo die patriarchalische Autorität nach unterwürfiger Geduld verlangt. Neben Marie-Claire Blais steht der umstrittene Hubert Aquin geradezu metonymisch für die politischen Ereignisse seiner Zeit, d.h. für den kollektiven Willen einer Gruppe von überzeugten Québécois, mit allen Mitteln um die Unabhängigkeit der frankokanadischen Provinz zu kämpfen. Allein die biographische Darstellung der Ereignisse um Hubert Aquin lässt die novelleske Seite im Leben des Autors erkennen. Der in Montréal 1929 geborene Hubert Aquin machte sich durch seine engagierten journalistischen Beiträge frühzeitig einen Namen und leitet schon während seiner Studienzeit die Zeitschrift Quartier latin an der Université de Montréal. Nach einem Aufenthalt in Paris liefert er seine ersten künstlerischen Produktionen für das kanadische Filmbüro „Office national du film“ und den Sender Radio-Canada. Zu Beginn der sechziger Jahre schloss er sich dem Rassemblement pour l’indépendance nationale (R.I.N.) an, der Vorläuferpartei der Parti québécois. Als einschneidendes Erlebnis wirkte auf Aquin seine Verhaftung wegen unerlaubten Waffenbesitzes und sein mehrmonatiger Aufenthalt im Gefängnis sowie in einer psychiatrischen Klinik im Jahre 1964. Wenig später erhielt er den Ruf als Literaturprofessor an die neu gegründete Université du Québec à Montréal (UQAM). Hubert Aquin identifizierte sich mit dem Projekt der Unabhängigkeit so sehr, dass er es zum Hauptthema seines künstlerischen Schaffens machte. Im Jahre 1977 setzte er seinem Leben freiwillig ein Ende. <?page no="231"?> Axiologische Vektoren der 68er-Generation im frankokanadischen Erzählsystem 207 In seinen Romanen kommen die Ingredienzien seiner bewegten Existenz erzählerisch zum Ausdruck. Aquins Werke stehen im Zeichen des avantgardistischen Schreibens der fünfziger und sechziger Jahre. In Ich-fokalisierten Texten nimmt die Erzählerinstanz mehrere Formen an, so dass eine direkte Verbindung zwischen dem Ich und dem Erzählten nicht systematisch nachvollziehbar bleibt. In eine solche Strömung schreibt sich auch Aquins Roman Prochain épisode (1977) ein, wobei darin auch zahlreiche Vorzeichen aufscheinen, die dem Text eine auf den konkreten historischen Moment der nationalen Unabhängigkeitsbestrebung zugeschnittene Note verleihen und deutlich realitätsbezogene Aspekte enthalten. In den achtzehn Kapiteln des Romans Prochain épisode unterwandert ein Ich-Erzähler die traditionellen narrativen Programme und bringt sich metaleptisch auf verschiedenen Ebenen des Erzählten ein, so dass eine auf den ersten Blick sichtbare Zuordnung der logischen Verbindungen beim Rezipienten konterkariert wird. Dadurch entsteht eine Verwirrung im Erzählgeflecht, die vor dem Hintergrund der schwierigen politischen Situation der Provinz geradezu als ästhetische Reaktion gewertet werden kann und bedeutet, dass auch der Roman als ästhetischer Widerstand gegen den gesellschaftspolitischen Status quo auszulegen ist. Als Nukleus der Erzählung steht ein selbstmordgefährdeter Gefangener, der in einer Montréaler Nervenklinik auf seinen Prozess wartet und seine Langeweile damit zu überbrücken sucht, dass er sich über das Schreiben in eine andere Welt rettet. Wenngleich er vorerst in der geschlossenen Gefängniszelle bloß seinen Illusionsbedarf zu befriedigen scheint und sich zaghaft in der Gattung des Kriminal- oder Spionageromans versucht, taucht er allmählich selbst in die von ihm erzählte Ich-Narration ein und gerät immer weiter in das Netz des Erzählten, so dass dieses am Ende sogar den Grund für seine Gefangenschaft liefert. Die anfangs wenig fiktional wirkende Fiktion schlägt am Ende als harte Realität zurück und bringt den Erzähler hinter Gitter. Die vom Gefangenen erzählte Geschichte ist symbolisch im politisch aufgeladenen Kontext der sechziger Jahre angesiedelt: Der junge Ich- Erzähler hat sich Hals über Kopf in die attraktive K. verliebt und entdeckt während dieser kurzen Beziehung nicht nur die Freuden der Liebe, sondern auch seine Berufung zum revolutionären Programm der FLQ. Das Land müsse befreit werden, lautet die Devise, die an den Diskurs der kubanischen Revolution Fidel Castros erinnert. Es dauert nicht lange, bis er den Auftrag erhält, nach Genf zu reisen und dort den Hauptfeind der revolutionären Bewegung zu liquidieren. Der Ich-Erzähler findet sich in einem Genfer Nobelhotel ein und glaubt fest daran, sein Opfer in der Person des Professors H. von Heutz gefunden zu haben. Die Verfolgung des angeblichen Professors durch den Québecer Agenten und Ich-Erzähler verläuft nach den Strategien des Kriminalromans und führt nicht gleich zum erhofften Ziel. Der verliebte FLQ-Mann wird bei seinen Beobachtungen plötzlich niedergeschlagen und wacht in einem riesigen Schloß wieder auf, <?page no="232"?> Klaus-Dieter Ertler 208 wo ihn H. von Heutz in Schach hält und einem Verhör unterzieht. Mit einer fiktiven Geschichte gelingt es dem amerikanischen Agenten letztendlich, sich der Waffe des Schloßherrn zu bemächtigen und ihn im Kofferraum des eigenen Wagens zur Liquidierung in eine Waldlichtung zu bringen. Hier drängt der engagierte Diskurs der Zeit mit aller Vehemenz in den Vordergrund, geht es dabei doch um eine der Grundfragen der Epoche: War es moralisch verantwortlich, im Sinne einer politisch-revolutionären Aktion gezielt Menschenleben auszulöschen? Nach Montréal zurückgekehrt, wird er kurze Zeit später vom Geheimdienst verhaftet. Als er sich nun in der Gefängniszelle des Nervenkrankenhauses mit dem Schreiben aus der Alltagslethargie zu retten versucht und ein literarisches Werk schafft, in dem er selbst zum Protagonisten wird, kommt ihm die Unvollständigkeit seiner Handlung zu Bewusstsein. Erst wenn er als Agent seinen Auftrag tatsächlich erfüllen kann, scheint ein Romanende in Sicht. Wie der Erzähler erkennt, fehlt dieses Kapitel jedoch am Ende des Romans und ist in Hinkunft - gewissermaßen als ‚nächste Episode’ - nicht mit Worten, sondern mit einer revolutionären Tat mit Waffen zu beschreiben. Zwischen den beiden Erzählebenen sind Interpenetrationen, Abgleitungen und metaleptische Brüche eingebaut, die direkte Kausalzuschreibungen meist unterbinden und dem Text ein hohes Maß an Dynamik zukommen lassen. Die einzelnen Ichs gehören dann jeweils einer anderen Erzählebene zugeordnet, so dass die Orientierung an der Differenzlinie zwischen den spezifischen Orten in der Schweiz und in Québec verläuft. Über die Zeitachse lassen sich jedoch kaum genaue Zuschreibungen vornehmen, da nur mythifizierte Daten wie etwa der Nationalfeiertag von Québec, der 24. Juni, und jener von Kuba, der 26. Juli, sowie die ‚eigentliche’ Befreiung Frankreichs vom 4. August 1792 als Anhaltspunkte gelten. Das Schreiben als Möglichkeit des Widerstandes auf ästhetischer Ebene dürfte wohl den kleinsten gemeinsamen Nenner des Romans im semantischen Bereich ausmachen. Nicht von ungefähr tritt der reflektierte und sich reflektierende Schreibprozess als stabil rekurrentes Thema im Text auf, über die écriture kann sich der Gefangene von den menschenunwürdigen Lebensbedingungen in der Nervenklinik befreien und auf diesem Weg auch zu einer oder mehreren fest umrissenen Identitäten finden. Über das ‚engagierte’ Schreiben konstituiert sich nicht zuletzt auch die frankophone Literatur Kanadas, um sich als eigenständige gegen das restliche kanadische Umfeld zu behaupten. Deshalb greift der Narrator häufig auf die Symbolik der ‚noyade écrite’ zurück, wenn es um die Darstellung dieses befreienden Prozesses geht, und versinkt mit der Verschriftlichung seiner Gedanken in eine eigene Welt. Diesem ästhetischen Zusammenhang entspringt der dafür charakteristische Romanbeginn: Cuba coule en flammes au milieu du lac Léman pendant que je descends au fond des choses. Encaissé dans mes phrases, je glisse, fantôme, dans les eaux névrosées du fleuve et je découvre, dans ma dérive, le dessous des surfaces et l’image renversée des Alpes. Entre l’anniversaire de la révolution cubaine et la date de <?page no="233"?> Axiologische Vektoren der 68er-Generation im frankokanadischen Erzählsystem 209 mon procès, j’ai le temps de divaguer en paix, de déplier avec minutie mon livre inédit et d’étaler sur ce papier les mots-clés qui ne me libéreront pas. J’écris sur une table à jeu, près d’une fenêtre qui me découvre un parc cintré par une grille coupante qui marque la frontière entre l’imprévisible et l’enfermé. Je ne sortirai pas d’ici avant échéance. Cela est écrit en plusieurs copies conformes et décrété selon des lois valides et par un magistrat royal irréfutable. Nulle distraction ne peut donc se substituer à l’horlogerie de mon obsession, ni me faire dévier de mon parcours écrit. (Aquin 1977, 7) Wie Kuba sich symbolisch über die Revolution aus der kapitalistischen Weltordnung zurückzieht, versenkt sich auch der Ich-Erzähler in die essentiellen Bereiche der Existenz, gibt sich den Wörtern hin und findet in ihrer Begleitung seine Identität(en). Schreiben bedeutet für ihn geradezu die Versenkung in eine flüssige Materie, wenngleich ihn die Wörter nicht wirklich aus seiner Zelle zu befreien vermögen. Der äußere Zeitrahmen ist durch eine unumstößliche gesetzliche Verfügung schriftlich festgelegt, so dass der Ich-Erzähler im Ausmaß seiner Haft den äquivalenten Verlauf der geplanten Erzählung auf zweiter Ebene vorwegzunehmen vermag. So gesehen bekommt die écriture ein großes Befreiungspotential zugesprochen, ohne dass der Kampf gegen die oppressive Realität der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse in seinen Augen aussichtslos wäre. Für den inhaftierten und darüber hinaus in seiner Wortwelt gefangenen Erzähler bieten sich neben der écriture keine Optionen, die ihm eine revolutionäre Lebensführung gewähren könnten. Über das Schreiben vermag er sich nun aus der Haft zu befreien, das Erzählte sollte - seinen Vorstellungen entsprechend - allerdings in irgendeiner Weise mit der Wirklichkeit konformgehen. Das heißt, anders gesagt, dass der Ich-Erzähler seine Gefängniswirklichkeit in Worte fassen möchte, um gleichzeitig innerhalb der entstehenden Geschichte als befreites Ich den revolutionären Ambitionen nachgehen zu können. Diese Intention erklärt schließlich auch die immer stärkere Verselbständigung der erzählten Geschichte, deren eigentliches Schlußkapitel erst geschrieben werden kann, wenn der feindliche H. von Heutz nicht mehr lebt und damit die Mission des Agenten erfüllt ist. Was des Gefangenen Erzählung anfangs noch zu fiktionalisieren sucht, entpuppt sich am Ende als entfiktionalisiertes Vorhaben. Das letzte Kapitel des Romans, seine nächste Episode, sollte eben nicht auf diskursiver Ebene, sondern an der Praxis orientiert umgesetzt werden. Zu den wichtigsten Vertretern der engagierten Szene Montréals zählt im Weiteren Jacques Godbout. Als Journalist, Filmregisseur, Essayist und Romanschriftsteller hat er ein vielfältiges Panorama über die letzten dreißig Jahre Québecer Geschichte und Kultur erstellt und ist mit engagierten Romanen wie Salut Galarneau! (Godbout 1967) und D’Amour P.Q. (Godbout 1972) bekannt geworden. In seinen literarischen Schriften verbinden sich aktuelle politische Ereignisse mit einer bewussten Reflexion der Schreiberfahrung als Schriftsteller. Der erstgenannte Roman schildert die Geschichte des Hot-Dog-Verkäufers Galarneau, dessen Liebeskummer für <?page no="234"?> Klaus-Dieter Ertler 210 den Fortgang der Handlung konstitutiv wird. In D’Amour, P.Q. bringt Godbout schließlich die Zerrissenheit der frankophonen Identität in Nordamerika zum Ausdruck und arbeitet den radikalen Diskurs der FLQ geschickt in den Text ein. Feministisches Schreiben und der Widerstand gegen die patriarchalisch ausgerichtete Gesellschaft gehen mit der politischen Revolte einher. Claire Martins literarische Versuche, die sie gegen die Männergesellschaft wendet, erreichten mit drei Romanen, Doux-amer (Martin 1960), Quand j’aurai payé ton visage (Martin 1962) und Les Morts (Martin 1970) schon frühzeitig ihren Höhepunkt. Als emblematische Autoren der Révolution tranquille gelten vor allem Victor-Lévy Beaulieu und Gérard Bessette, deren Werke das angespannte Klima der Zeit literarisch reflektieren. Beaulieus Race de monde (1969) erzählt die Geschichte einer Québecer Familie aus dem unteren Flußgebiet, die im Großraum von Montréal unter schwierigsten Lebensbedingungen Fuß zu fassen sucht und beinahe scheitert. Bessette zeichnet sich durch einen nüchternen Stil aus und erreichte mit seinen Romanen Le Libraire (1960), in dem die Zensur an den Pranger gestellt wird, und L’Incubation (1965) einen hohen Bekanntheitsgrad. Ein bedeutender Vertreter der revolutionären Zeit ist auch Jacques Ferron, der mit seinem Hauptwerk Le Ciel de Québec (Ferron 1969) den radikalen Einschnitt des Paradigmenwechsels von 1960 kritisch überdenkt und anhand historischer Texte die Existenzmöglichkeiten eines mythischen Québec ausleuchtet. In ideologischer Hinsicht wendet sich Ferron gegen die in den sechziger Jahren dominierende Aufwertung des Urbanen. Er stellt dem bösen Ort (Stadt) in manichäistischer Ausprägung den Ort des Guten (Land) gegenüber und richtet sich auf diese Weise gegen die Euphorie der Modernisierung. Märchenhaft gestaltet kommt der Konflikt zwischen der heilen Welt und dem Ort des Bösen im Roman L’Amélanchier (Ferron 1970) zum Ausdruck, wo die nunmehr erwachsene Tinamer de Portanqueu - in ihre verzauberte Kindheit zurückblendend - poetisch die allmähliche Veränderung ihrer Weltsicht erzählt. Innerhalb der breit angelegten Dekade der bewegten Québecer Emanzipationsbewegung erlebte das literarische System im Jahre 1968 einen weiteren Höhepunkt. Mit dem provokanten Poem von Michèle Lalonde, Speak white, das im Rahmen der Veranstaltung „Poèmes et chants de la résistance“ am 27. Mai vorgetragen wurde, hatte man ein literarisches Manifest gewonnen, das die spezifische Problematik der frankokanadischen Provinz literarisch auf den Punkt brachte und das Erzählsystem maßgeblich beeinflusste. Dazu kam das politisch engagierte Manifest „Nègres blancs d’Amérique“, das der für einen Bombenanschlag der FLQ verantwortliche Pierre Vallières im Gefängnis verfasste und dessen Diskursivik die <?page no="235"?> Axiologische Vektoren der 68er-Generation im frankokanadischen Erzählsystem 211 internationale Verflechtung der Bewegung offenlegt. 12 Nicht zuletzt wirkte sich auch das dialektale Joual der Belles-sœurs (1968) von Michel Tremblay als Sprache des Widerstandes maßgeblich auf das Erzählsystem aus, zumal es die Verbindung von Ästhetik und Politik auf den Punkt zu bringen pflegte. Tremblays zahlreiche Romane haben diese Verbindung bis heute nicht aufgegeben. Mit dem Joual, das in zahlreiche Erzähltexte eingegangen war, fand man eine, wie es oft hieß, geeignete Form des Widerstandes, der über die Sprache des Eigenen vermittelt werden konnte. 13 Als letzter Autor, der wie Michel Tremblay die letzten vierzig Jahre mit seinen Romanen begleitete, soll Jacques Poulin genannt sein. Seine écriture geht ebenfalls aus der 68er-Bewegung hervor, wenngleich der Autor keine spezifisch engagierte Form des Schreibens praktizierte, sondern über eine minimalistische Poetologie zu einer alternativen Lebensordnung im Sinne der soft generation strebte. Poulins Protagonisten pflegen den Aufstand gegen konventionelle Lebensformen und inszenieren einen passiven Widerstand gegen die gesellschaftliche Ordnung, wobei es an Verbindungen zur roadnovel und zur flower-power-Ästhetik nicht mangelt. Seine Helden befinden sich oft auf der Suche nach einer beschaulichen, philosophisch inspirierten Existenz, die zwischen den Kulturen von einer reichen Lektüre, von kritischer Übersetzungstätigkeit, von Reisen und alternativen Lebensformen mit besonderer Berücksichtung der Ästhetik der Langsamkeit und der Hedonisierung wie auch Erotisierung des Alltags im Sinne einer liberalen Lebensführung geprägt ist. Die Verbindung zur nordamerikanischen Gegenkultur im Sinne von Jack Kerouac oder Ernest Hemingway charakterisiert seine Texte und stellt sie in jene Reihe der 68er-Generation, die nach einem Ausstieg aus der neoliberalen, profitorientierten Logik und einem beschaulichen Leben strebte, gemäß den Idealen der US-amerikanischen Diskursivik der sechziger Jahre. Dabei kommen auch Vorstellungen von romantisierten heterosexuellen Liebesbeziehungen zur Entfaltung, wobei es an inzestuösen Verbindungen - die übrigens immer häufiger auch in der 12 „Le FLQ se proposait et se propose toujours, entre autres objectifs, d’accélérer cette prise de conscience, de rendre à la conscience la nécessité de combattre à mort l’arbitraire du système capitaliste, l’arbitraire vécu quotidiennement dans les usines, les bureaux, les mines, les forêts, les fermes, les écoles et les universités du Québec. Plus vite les Québécois s’uniront pour balayer la pourriture qui empoisonne leur existence, plus vite ils pourront bâtir, solidairement avec les exploités, avec les nègres de tous les autres pays, une société nouvelle pour un homme nouveau, une société humaine pour tous les hommes […].“ (Vallières 1968, 306) 13 Einige dieser Texte wurden bereits in der ‚vorrevolutionären’ Frankreich-Zeit in Frankreich intensiv rezipiert und flossen damit in den Pariser discours social ein. Geradezu emblematisch für diesen Zusammenhang kann der in Paris verlegte Roman Réjean Ducharmes Roman L’avalée des avalés (1966) gesehen werden, zumal er sowohl die Partikularität des gegenkulturellen Diskurses wie auch die Elemente der symbolischen Gewalt nach Frankreich brachte. <?page no="236"?> Klaus-Dieter Ertler 212 neueren Québecer Literatur zu finden ist - nicht fehlt. 14 Der Vektor des Autochthonen spielt in diesen Texten insofern eine Rolle, als die verehrten Frauenfiguren in Poulins Texten oft in einem Nahverhältnis zur indianischen Welt stehen. 15 Jacques Poulin konnte seine Poetik insofern zu einem Erfolgsmodell ausbauen, als er seine minimalistisch angelegten Texte geschickt miteinander in Verbindung brachte. Damit gelang ihm, eine Traditionslinie der 68er- Bewegung bis in die heutige Zeit herüberzuretten, ohne dass die poetisch aufbereiteten Denkmodelle an Attraktivität verloren hätten. Diese erzählerische Konstruktion soll abschließend anhand des 2002 erschienenen Literaturromans Les yeux bleus de Mistassini exemplarisch nachvollzogen werden. Erzählt wird hier die Geschichte des aus dem Roman Volkswagen Blues (Poulin 1984) bekannten Protagonisten Jack Waterman, der sich einst mit seiner verehrten Begleiterin Pitséminé alias Grande Sauterelle in einem VW- Bus nach Kalifornien begeben hatte, um dort seinen Bruder Theo zu finden, und nun als gealterter Schriftsteller, Übersetzer und Buchhändler im Vieux- Québec lebt. Er leidet an der degenerativen Krankheit ‚maladie d’Eisenhower’, die ihm allmählich das Gedächtnis raubt. Dieses ist von Erinnerungen aus den letzten Jahrzehnten, insbesondere aus der Zeit der Révolution tranquille, bestimmt und geht insofern mit der Genese des modernen Québec einher. Seine Erinnerungen an Lektüren und Chansons, an Liebesbeziehungen und Phantasmen aus jener Zeit verleihen seinem Leben Sinn. Mit dem Prozess des Vergessens kommt es auch zu einem Verlust der Persönlichkeit, auf den Jack Waterman seinerseits verzichten möchte. Er hatte einst auf seiner Reise nach Kalifornien erlebt, wie sein Bruder Theo an einem solchen dementen Zustand litt und ihn nicht mehr erkannte. Deshalb wünscht sich Jack, aus dem Leben zu scheiden, wenn sich 14 Es braucht hier nicht weiter unterstrichen zu werden, dass die Homosexualität in der neueren Literatur Québecs eine überaus wichtige Rolle einnimmt. Dies gilt allerdings weniger für Poulins Texte. 15 Von den US-amerikanischen Protestbewegungen wurde auch ein Diskursparadigma importiert, das den autochthonen Stimmen einen größeren Platz einräumte. Eine solche Sensibilisierung für die marginalen Gruppierungen fand sich auch in Michel Foucaults Theoriedesign, wonach die am Rande der Gesellschaft angesiedelten Stimmen keine Fürsprecher aus der traditionell intellektuellen Szene benötigten, sondern selbst zu Wort kommen sollten: „Les intellectuels ne sauraient prétendre parler au nom d’une classe sociale ou d’une minorité opprimée.“ (Le Goff 2002, 343) Es ist dies zweifellos einer der wichtigsten Ansätze, der in der Folge der 68er-Bewegung den altermundistischen Diskurs des Postkolonialismus prägte und der im Québec der letzten Jahre zentral gesetzt wurde. In diesem Zusammenhang tauchen etwa in der oben zitierten Histoire populaire du Québec von Jacques Lacoursière (Sillery 2008) zwei Kapitel mit einschlägigen Titeln auf - „L’Autre Révolution tranquille: Les Autochtones et le Québec“ (167-182) und „La Révolution tranquille et l’immigration“ (183-196) -, die diese rezenten Entwicklungen zu unterstreichen vermögen. <?page no="237"?> Axiologische Vektoren der 68er-Generation im frankokanadischen Erzählsystem 213 der Zustand verschlechtern sollte, wofür er allerdings die Hilfe von anderen benötigt. Der Roman setzt damit ein, dass der junge Ich-Erzähler Jimmy durch die Altstadt von Québec wandelt und auf Jacks Buchhandlung stößt. Er öffnet die Tür und hört sonderbare Stimmen. Wenig später taucht der Besitzer aus einem Hinterzimmer auf und erklärt ihm, dass diese Stimmen als Worte der Poeten aus den Büchern kämen. Durch sein Interesse für die Literatur gewinnt der junge Mann das Vertrauen des alten Jack und kann ihn in der Buchhandlung unterstützen. Eine philosophische Orientierung hatte Jimmy immer wieder in den Werken von Epiktet gefunden, dessen Zitate über die Enthaltsamkeit und den Widerstand gegen die materielle Seite des Lebens die Handlung prägen. Als eines Tages die jüngere Schwester von Jimmy mit dem der indigenen Welt entliehenen Namen Mistassini auftaucht, fühlt sich Jack geschmeichelt. Er mag die beiden Leute, die sich um ihn kümmern, und führt sie in seine Ideale als Schriftsteller und Übersetzer ein. Dabei kommt er immer wieder auf das Phänomen der Hippies zurück, die auf ihn stets eine große Faszination ausübten: C’étaient encore des gamins, raconta-t-il. Des gamins avec la tête pleine de rêves. Après avoir mis un jean de rechange dans un sac kaki acheté au Surplus de Guerre, ils avaient quitté le bungalow cossu de leurs parents et, comme Jack Kerouac, ils s’étaient lancés sur la route menant à San Francisco. Ils débarquaient dans le quartier de Haight-Ashbury où les loyers n’étaient pas trop chers. Ils rêvaient d’un monde fraternel où tous pourraient vivre en paix et où chacun serait libre d’élargir le champ de sa vie spirituelle grâce aux drogues et à la musique psychédélique; et les plus naïfs d’entre eux croyaient que, pour y arriver, il suffisait d’avoir les cheveux longs, de porter des vêtements fleuris et de connaître un ou deux poèmes d’Allen Ginsberg. Pour [eux] [...] les choses appartenaient aux gens qui en avaient besoin et non à ceux qui avaient de l’argent. Ils estimaient que l’argent, la course au profit, la propriété privée étaient des facteurs d’injustice sociale. (Poulin 2002, 32-34) Später unternimmt Jimmy eine Reise nach Paris, wo er an seinen Übersetzungen in einem alten VW-Bus - Chiffre par excellence der USamerikanischen Gegenkultur der sechziger Jahre - arbeitet. Dabei werden Orte der Erinnerung - wie etwa die ehemalige Wohnung von Ernest Hemingway oder die Bibliothek von Sylvia Beach - besucht und wirken modellhaft auf den heranwachsenden Künstler. Auch er versteht sich als Teil der amerikanischen Welt und sucht auf den Spuren seiner Vorbilder Inspirationen für sein Schreiben. Voller Ideen kehrt er nach Québec zurück. Der Text ist wie alle anderen Romane des Autors in einer beschaulichen ruhigen Atmosphäre, in einer alternativen Szene angesiedelt. Jack zeigt sich als Buchhändler großherzig in dem Sinne, als er seine Kunden über strategisch positionierte Bücher zum Diebstahl einlädt und sich damit gegen die ökonomische Logik richtet. Wichtig für ihn scheint die Überschreitung von Tabus wie auch die Vermittlung der Québecer Kultur, ihre Eingebun- <?page no="238"?> Klaus-Dieter Ertler 214 denheit in spezifische Lese-, Schreib- und Übersetzungsprozesse, wobei enge Verbindungslinien zu US-amerikanischen Texten wie auch zu Paris als literarischem Ort aufgenommen werden. Der Roman weist eine Reihe von metapoetologischen Überlegungen auf, die allesamt in einer Tradition des gegenkulturellen Diskurses stehen. Dabei kommt den Vorgängern von Jacks Literaturbegriff eine gewichtige Rolle zu. In einem Interview, das ein Literturkritiker mit Jack führt, wird auch Poulins Schreiben reflektiert. Jack reagiert auf die Bezeichnung Schöpfer’ ablehnend: - Les romanciers ne sont pas des créateurs! Ils s’inspirent de la réalité, ils la transforment, ils ajoutent des choses vécues, des choses imaginées, et même des choses empruntées ou volées: c’est plutôt du bricolage! - Tout dépend comment on le fait … D’après les critiques, vous le faites d’une manière minimaliste. Est-ce que ce mot vous convient toujours? - Oui. Je reste fidèle aux principes de Raymond Carver. Même si j’essaie de varier la forme des phrases et de les rendre plus coulantes, pour ne pas ennuyer le lecteur, il me semble toujours préférable de dire les choses avec le moins de mots possible et d’éviter les belles images, les tournures savantes. (Poulin 2002, 49f.) Für Jimmy ist es ein Problem, dass ihn Jack einmal gebeten hatte, er möge ihn - sollte seine Krankheit weiter fortschreiten - beim freiwilligen Verlassen dieser Welt unterstützen, was er eine ‚petite poussée’ zu nennen pflegte. Eines Tages kommt tatsächlich der Moment, in dem ihn Jack konkret um Hilfe bittet. Dass auch der Euthanasieproblematik große Aufmerksamkeit geschenkt wird, könnte gewissermaßen als logische Fortsetzung der alternden 68er-Generation gewertet werden. Wie scheidet man nach einem erfüllten Leben voller Ideale und Eindrücke aus der Welt? Sollte man eine mühsame Existenz in einem Altenheim auf sich nehmen? Oder wäre es nicht klüger, in einem bestimmten Augenblick des fortgeschrittenen Stadiums der Demenz nach eigenem Gutdünken aus der Welt zu scheiden. Das Thema der individuellen Freiheit durchdringt das gesamte Werk. 16 Die Verbindung zur 68er-Generation kann emblematisch im machtkritischen und konventionsfernen Ansatz dieses Textes gesehen werden. Die Vertreter der Generation von Jack Waterman haben am Aufbau des neuen Québec entscheidend mitgewirkt und gelten als Zeitzeugen der betreffenden Epoche. Lese- und Hörspuren aus den vergangenen vierzig Jahren bilden die Basis für ihre Identität, aber auch für die Identität ihrer frankophonen 16 Das Freiheitsstreben liegt auch den gesellschaftlichen Verbindungen zu Grunde. Das zeigt sich etwa am Verhältnis von Jimmy zu seiner Schwester Mistassini: „À vrai dire, je m’inquiétais pour ma sœur. Mes craintes n’étaient pas justifiées, puisqu’elle se débrouillait très bien sans moi. De plus, elle était en faveur d’une liberté totale; ne voulant pas être obligée de prévenir quand elle s’absentait, elle aimait mieux que je ne la prévienne pas de mon côté. Donc il n’était pas question de lui donner un coup de fil pour l’avertir que j’allais être en retard … Mais c’était plus fort que moi, je m’inquiétais quand même.“ (Poulin 2002, 38) <?page no="239"?> Axiologische Vektoren der 68er-Generation im frankokanadischen Erzählsystem 215 Umwelt, die durch sie bereichert wurde. Nachdem wichtige Errungenschaften wie die Integration der Frauen in die Gesellschaft, die Aufwertung des kanadischen Französisch oder die Sensibilisierung der Zeitgenossen für die autochthonen Kulturen bzw. für ökologische Themen Platz gegriffen haben, wird ein neues Thema in Angriff genommen, das die Zeitgenossen für die nächsten Jahre beschäftigen wird: Im gewohnt harmonischen Umfeld Jack Watermans taucht ein Problemfeld auf, mit dem die Gesellschaft umgehen lernen muss. Einmal mehr verbindet sich die sanfte ‚Aussteigermentalität’ mit einer höchst brisanten Thematik, die mit Jacks in eigener Regie vorbereiteten Ableben, mit der Euthanasie, auf das Ende der 68er verweist. Jimmys zunehmendes Bewusstsein für seine Verantwortung in diesem Prozess deutet symbolisch auf eine neue Zukunft hin. 3. Fazit Im Québecer Kontext ist die 68er-Bewegung in ihrem militanten Kern spätestens seit dem Verlust der letzten Referenda dahingeschwunden, lebt andererseits als gesellschaftliches Projekt des zeitgenössischen Québec in lebendiger Form weiter, insbesondere dort, wo sich die Provinz als Schaltstelle der neuen Technologien zwischen der amerikanischen Welt und der Frankophonie entwickelt hat. Québec als zugleich multikulturelle und französische Gesellschaft schafft offensichtlich - wenngleich unter großem diskursivem Aufwand -, den Spagat zwischen den schwer miteinander zu vereinbarenden Positionen zu meistern. Es ist schließlich und endlich genau diese Ambivalenz, die den heutigen Roman an die Diskursivik der 68er- Generation annähert. 17 Verbindungen zwischen dem Québecer Diskursparadigma und jenem der Pariser Mai-68er-Bewegung sind deshalb deutlich nachvollziehbar. Wie bei kommunizierenden Gefäßen kam es auch hier zu einer Parallelführung der Ereignisse sowie zu einem regen Austausch auf der Ebene der Diskurs- und Symbolsysteme beider Paradigmata. Wenn man sich auf beiden Seiten gegen die überkommene Gesellschaftsordnung wandte, so geschah dies in verwandten semantischen Isotopien: Wenn im Vorfeld der Mai-Bewegung die Anspielung Charles de Gaulles auf ein Québec libre in der frankokanadischen Provinz vor Ort wie ein Katalysator des Befreiungsdiskurses wirkte und sich die Poetik des zeitgenössischen französischen Romans auf das Schreiben der Provinz niederschlug, kam es umgekehrt durch die Rezeption der über die Montréaler Weltausstellung vermittelten Symbolik sowie durch die Romane des neuen Québecer Erzählsystems - etwa im Sinne der Werke von Réjan Ducharme - zu einem ausgeprägten Export von Konzepten. Dass sich die Pariser 68er-Bewegung in den darauf folgenden 17 Ein Blick auf den Diskursfundus des neueren Romans zeugt von dieser Anschlussfähigkeit an die Paradigmata der 68er-Bewegung. Vgl. Ertler/ Dupuis (2007). <?page no="240"?> Klaus-Dieter Ertler 216 Jahren wiederum als Modell auf die kulturelle und politische Dynamik der Provinz auswirken sollte, lässt die semantische Isotopie des Québecer Diskurssystems der ausgehenden sechziger und frühen siebziger Jahre deutlich erkennen. Wie schon öfters in der Geschichte der beiden Gesellschaften hat sich der gegenseitige Austausch auf symbolischer Ebene eher als fruchtbare lose Koppelung denn als zwingende Strukturverbindung erwiesen. Literaturverzeichnis Serge Audier, La pensée 68. Essai sur les origines d’une restauration intellectuelle, Paris 2008. Hubert Aquin, Prochain épisode, Montréal 1977 [Ottawa 1965]. Jacques Baynac, Le mystère 68, in: Jacques Baynac, Daniel Cohn-Bendit, Luc Ferry et al. (Hrsg.), Mai 68, Le Débat, Paris 2008, 99-144. Victor-Lévy Beaulieu, Race de monde, Montréal 1969. Gérard Bessette, Le Libraire, Montréal 1960. Gérard Bessette, L’Incubation, Montréal 1965. Marie-Claire Blais, Une saison dans la vie d’Emmanuel, Montréal 1965. Marcel Gauchet, Bilan d’une génération, Le Débat 149, März-April 2008, 101-112. Régis Debray, Cours de médiologie générale, Paris 1991. Régis Debray, Introduction à la médiologie, Paris 2000. Réjean Ducharme, L’Avalée des avalés, Paris 1966. Gilles Dupuis/ Klaus-Dieter Ertler (Hrsg.): À la carte. Le roman québécois de 2000 à 2005, Frankfurt a.M. 2007. Klaus-Dieter Ertler (Hrsg.), Romanistik als Passion. Sternstunden der neuerenFachgeschichte, Münster, Wien 2007. Klaus-Dieter Ertler, Kleine Geschichte des frankokanadischen Romans, Tübingen 2000, 165-207. Jacques Ferron, Le Ciel de Québec, Montréal 1969. Jacques Ferron, L’Amélanchier, Montréal 1970. Jacques Godbout, Salut Galarneau! , Paris 1967. Jacques Godbout, D’amour, P.Q., Paris 1972. Jacques Lacoursière, Histoire populaire du Québec, Bd. V: 1960 à 1970, Sillery 2008. Michèle Lalonde, Speak white, Montréal 1974 [1968]. Jean-Pierre Le Goff, Mai 68, l’héritage impossible, Paris 2006 [1998]. François Lyotard, La condition postmoderne, Paris 1979. Claire Martin, Doux-amer, Montréal 1960. Claire Martin, Quand j’aurai payé ton visage, Montréal 1962. Claire Martin, Les Morts, Montréal 1970. Diana Pinto, Un regard américain, in: Jacques Baynac, Daniel Cohn-Bendit, Luc Ferry et al. (Hrsg.), Mai 68, Le Débat, Paris 2008, 146-157. Jacques Poulin, Mon cheval pour un royaume, Montréal 1967. Jacques Poulin, Jimmy, Montréal 1969. Jacques Poulin, Les Grandes Marées, Montréal 1978. Jacques Poulin, Volkswagen Blues, Montréal 1984. Jacques Poulin, Les yeux bleus de Mistassini, Montréal 2002. Michel Tremblay, Belles-sœurs, Montréal 1972 [1968]. <?page no="241"?> Axiologische Vektoren der 68er-Generation im frankokanadischen Erzählsystem 217 Maurice Vaïsse (Hrsg.), Mai 68 vu de l’étranger, Paris 2008. Pierre Vallières, Les nègres blancs d’Amérique, Montréal 1968. <?page no="243"?> Jan Henschen Die Frage der Gewalt steht im Raum. Über 68, Gewalt und Filme von Jean-Luc Godard, Bernardo Bertolucci und Margarethe von Trotta 1. Le média est dans la rue? Der Kulturkampf vor 40 Jahren wurde weltweit, so erscheint es den Rückblickenden, zunächst und vor allem auf der Straße ausgetragen - von Berkley bis Berlin, von Paris bis Prag, von Mexiko bis Turin. Das Erinnern an 1968 realisiert sich als eine Erinnerung in Bildern, in Bildkomplexen öffentlicher Orte, die als Fotos, Filmaufnahmen, aber auch als auf die markanten Plätze rekurrierende Erzählungen und Texte vorliegen. Diese öffentlichen Orte sind dabei nicht wegzudenken in ihrer Doppelfunktion als Medien von Protest und Utopie sowie als Dispositive eines eigentlich kurzen, sich zur Epoche ausdehnenden Zeitraums. Straßen und Plätze traten und treten demnach zwar immer als (Re-)Präsentationen anderer Medien ins erinnernde Bewußtsein - aber durch ihre vermeintliche Subversivität und Direktheit prägt gerade ‚die Straße’ die kontinuierlich beschworene Authentizität der 68er-Proteste. So schrieb Jean Baudrillard, der 1968 an der zeitweise besetzten Universität Nanterre mit Le Système des objets promoviert wurde, mit dem Abstand von vier Jahren über die Straße als Medium: Le vrai medium révolutionnaire en Mai, ce sont les murs et leur parole, les sérigraphies ou les affiches à la main, la rue où la parole se prend et s’échange - tout ce qui est inscription immédiate, donné et rendu, parlé et répondu, mouvant, dans un même temps et un même lieu, réciproque et antagoniste. La rue dans ce sens est la forme alternative et subversive de tous les mass media, car elle n’est pas, comme ceux-ci support objectivé de messages sans réponse, réseau de transit à distance, elle est l’espace frayé de l’échange symbolique de la parole, éphémère et mortelle, parole qui ne se reflète pas sur l’écran platonicien des media. Institutionalisée par la reproduction, spectacularisée par les media, elle crève. (Baudrillard 1979: 218; Hervorhebg. i. Orig.) Hier liefert Baudrillard eine Laudatio auf die Straße als eine Form, als alternatives und subversives Relais unmittelbaren Austauschs von Worten und Zeichen. Die Pariser Straßen im Mai 68 erinnert er als einen konkreten freien Ort für eine nahezu idealtypische Kommunikation eines freiheitlichen <?page no="244"?> Jan Henschen 220 Systems einer ansonsten massenmediatisierten Gesellschaft. 1 Aus seinen Worten klingt die Wehmut, Zeuge und Teilhaber eines kurzen Zeitausschnitts gewesen zu sein, in dem ‚die Botschaft’ in erster Linie wieder die Botschaft war. Eine Botschaft, die als solche ‚beantwortet’ werden konnte und nicht der McLuhan-Formel nach das Medium war. Sinn und Inhalt wurden gestaltet durch die direkte Aushandlung unter den Pariser Bürgern auf den Straßen. Und die Botschaft von Seiten der Protestierenden war in dem konkreten Moment unmissverständlich: ‚Revolution’. Mit diesem zentralen Paradigma von ‚68’ wird in der schwebenden Debatte über den Gehalt hinter dieser Zahl mehr als ein Aufstand gegen zunächst universitäre und dann gesellschaftliche Missstände oder auch gegen den Krieg in Vietnam verknüpft. Denn mit der Straße war das Phänomen ‚Gewalt’ eng verbunden und im Nachhinein kaum davon zu trennen. Daraus resultierend wurde die ‚Gewaltfrage’ öffentlich gestellt, sprich: Welche Mittel sind als Protest wogegen legitim und erforderlich? Das beinhaltet, Grenzen zwischen aktiver und passiver Gewalt, zwischen repressiver und Gegen-Gewalt, zwischen symbolischer und nicht-symbolischer, ‚nackter’ Gewalt zu erkennen und ziehen zu können. Als Menetekel steht die Emergenz von Militanz bis in die heutigen Diskussionen hinein zwischen den Positionierungen ‚68 als gesellschaftlicher Demokratisierungsschub’ und ‚68 als totalitäres Antidemokratikum’. Einer solchen Vorgabe gemäß beantwortet dieser Aufsatz weder die Frage nach einer Kulturgeschichte der revolutionären Straße noch nach ihren Semantiken im Kinofilm. Im Mittelpunkt des Interesses stehen vielmehr und vor allem deren Gegen-Räume und Alternativorte. In autoreflexiver Manier sind ihre Präsentationen in den vorgestellten Werken eng verbunden mit ‚dem Kino’ und ‚dem Film’. Der Fokus meiner Betrachtungen ist demnach auf zwei Aspekte gerichtet: (1) Mediale Räume und die Medialität der Orte. (2) Ihr wie auch immer gearteter Zusammenhang mit Gewalt. Wie der Studentenprotest und seine Entwicklung zu militanten Formen bis zum Terror durch das zeitgenössischen Kino - oder sogar avant la lettre, denn immerhin lief Jean-Luc Godards La chinoise in Frankreich Ende August 1967 an - archiviert wurde, ist der erste Schritt auf der Suche nach Gegen- Räumen. Die gelegten Spuren aufnehmend, wird ein zeitlicher Sprung gemacht und damit auch ein Sprung in den Modus ‚Erinnern’, nämlich zu dem Film The Dreamers von Bernardo Bertolucci aus dem Jahr 2003. 1 „La massmédiatisation, c’est cela. Ce n’est pas un ensemble de techniques de diffusion de messages, c’est l’imposition de modèles. La formule de Mac Luhan est ici à revoir: Medium is Message opère un transfert de sens sur le medium lui-même en tant que structure technologique. […] Ce qui est médiatisé, ce n’est pas ce qui passe par la presse, la TV, la radio: c’est ce qui est ressaisi par la forme/ signe, articulé en modèles régi par le code.“ (Baudrillard 1979: 216; Hervorhebg i. Orig.) <?page no="245"?> Die Frage der Gewalt steht im Raum 221 Abschließend soll verdeutlicht werden, wie mit der zentralen, viel diskutierten Kategorie ‚Gewalt’ filmisch im deutschen Kino umgegangen wurde. Zugleich werden dabei Emergenzen des bundesrepublikanischen Linksterrorismus jenseits von studentischem Straßenprotest offenbar. Dazu beziehe ich mich auf einen mittlerweile selbst historisch zu nennnenden Film, nämlich Die bleierne Zeit von Margarethe von Trotta aus dem Jahr 1981. Hier schließt sich mit der Roten Armee Fraktion ein historischer Kreis, wenn man Gerd Koenen folgt, der den Zeitraum von 1967-77 als „Das Rote Jahrzehnt“ betitelt und damit einer Ereignisreihe von den großen Studentenprotesten bis zur Todesnacht von Stammheim und der Schleyer-Entführung folgt (vgl. Koenen 2001). 2. Jean-Luc Godards La chinoise Erzählt wird von der sich selbst als revoltionär marxistisch-leninistischmaoistisch gerierenden Gruppe Aden Arabie (benannt nach einem Roman von Paul Nizan aus den frühen dreißiger Jahren), deren Alltag in Szene gesetzt wird und die in Interviewsequenzen zu ihrem Leben befragt werden. Fünf junge Menschen wohnen in einem bourgeoisen Dach-Appartement, das Bekannten der Bankiers-Eltern der 19-jährigen Philosophiestudentin Véronique zu gehören scheint und vorübergehend von seinen Besitzern nicht bewohnt wird. Die zwei Frauen Véronique und Yvonne sowie die drei Männer Guillaume, Henri und Serge schulen sich dort in marxistischer und maoistischer Theorie. Ihre Ergebnisse übertragen sie auf diverse Lebens- und Alltagsbereiche, sie halten Referate und führen Diskussionen, um ihre Analysen in verschiedene experimentelle Praktiken, z.B. Agitationstexte und Kunstwerke, aber auch in die Teilnahme an Veranstaltungen oder in öffentliches Verteilen von Mao-Bibeln münden zu lassen. Schließlich gründen sie besagte Gruppe oder besser ‚Zelle’ mit dem deutlich formulierten Ziel ‚Terror’. Sie verstehen sich als „eine der Revolution verpflichtete Kampfeinheit, die - indem sie sich auf die strikte Einhaltung der Grundsätze von Verschwörung und Arbeitsteilung begründet - sich nur desorganisatorischer und terroristischer Aktivität widmen wird“, wie Véronique aus einer Art Gründungsmanifest laut vorliest. In ihrem Referat gibt sie dabei die prägnante Marschroute vor: „Wir müssen erstens die Universitäten schließen, zweitens Terror schüren.“ Véronique ist es auch, die schließlich ausgelost wird, um ein Attentat zu verüben - was sie dann dilettantisch ausführt, indem sie zwei Menschen erschießt. Letztlich wird die Gruppe von den zurückkehrenden Töchtern der Besitzer aus der Wohnung gescheucht, löst sich damit auf und jedes Mitglied geht eigene Wege. Doch muß dieses Ende keine Beendigung sein, denn der Film schließt mit der Einblendung „Fin d’un début“ - Ende eines Anfangs. Vor dem historischen Hintergrund der Studentenproteste geht der <?page no="246"?> Jan Henschen 222 Film aber über den Vergleich mit einem Seismographen, der das kommende bereits anzeigt, hinaus: In der Forschung wird dieser Film (ebenso wie der wenige Monate danach fertiggestellte Film Week-end) häufig einseitig als Antizipation oder filmische ‚Verarbeitung’ der Utopien und politischen Projekte aufgefaßt, die wenig später zu den Revolten der 68er-Bewegung führen sollten. Indem Godard gewohnte Wahrnehmungsmuster und Filmtraditionen durchbricht und ideologische Sinnzuweisungen dekonstruiert, überführt er die Utopien der 68er in Heterotopien. [...] Der Film stellt sich dar als Interpretation der Interpretationen, die sich die 68er selbst gegeben haben. Dadurch leistet Godard einen Beitrag zu einem ‚audiovisuellen Archiv’ des Sichtbaren und Sagbaren einer Epoche [...]. (Lommel 1997: 68/ 70) 2 Eine Straßenszene nun fügt der Film dem „audiovisuellen Archiv“ nicht hinzu. Es gibt nur eine einzige mit den Schauspielern bespielte, sehr kurze Außenszene an einer Straße, jene besagte Verteilung von roten Mao-Bibeln an Autofahrer. Er demonstriert dagegen die hermetische Selbstreferentialität der sich zur Terrorzelle Aden Arabie entwickelnden Gruppe in einem geographisch doch recht beengten Raum. Außerhalb dieser kleinen Einheit bleiben allein rare, menschenleere Einstellungen von Baustellen rund um die Universität von Nanterre, des damals verhältnismäßig jungen Ablegers der Sorbonne. Diese, kurze Zeit später realiter sich zur Urszene der Pariser Mai- Unruhen entwickelnde, trostlose Vorstadtszenerie 3 wird von Godard in unkommentierten, quasi-dokumentarischen Zwischenschnitten en passant in den Erzählfluß eingefügt. In seinem Film sind diese Bilder Abbildungen von non-lieux (Marc Augé) und zugleich Orte, von denen sich Véronique verspricht, dass dort etwas geschehen wird. Im Nachhinein kann man damit Jean-Luc Godard in Hinsicht auf die Gewichtung dieses spezifischen Ortes seismographische Qualitäten zuschreiben, da, wie gesagt, dem Uni-Ableger durch die enragés um Daniel Cohn-Bendit kurz nach Erscheinen des Films unzweifelhaft eine Geschichte, eine Identität verliehen wurde. Das Appartement nun, in dem der überwiegende Teil der Handlung spielt (und in diesem Fall ist das Verb ‚spielen’ ernst zu nehmen), ist selbst eine große Mediensammlung, ja ein Medium selbst - und damit 2 Das ist selbstverstädnlich die retrospektive Ein- und Wertschätzung der Person Godard und seiner Werke. In der zeitnäheren Kritik des Milieus, in dem sein Film angesiedelt ist, wurde ihm weniger Wohlwollen entgegengebracht, ausgehend von den Graffitti des Pariser Mai: „’L’art est mort, Godard n’y pourra rien’. Nicht einmal Godard, dessen Filme schon dazu dienen mussten, die Mai-Ereignisse auf den ästhetischen Begriff zu bringen, um sie heimzuholen in die westliche Kultur, ins Weekend der leistungsorientierten Gesellschaft, das jene gerade verschmähen: ‚L’Art est mort, libérons notre vie quotidienne.’“ (Michel 1968: 170) 3 „Und es begann auch nicht im Pariser Quartier Latin, sondern an der Universität Nanterre. Dort, in dem trostlosen, seit Jahren halbfertigen Vorort-Ableger der ehrwürdigen Pariser Sorbonne, hatten rund hundert Aktivisten verschiedener linker Grüppchen nach einer Aktion gegen den Vietnamkrieg eine ‚Bewegung des 22. März’ aus der Taufe gehoben.“ (Frei 2008) <?page no="247"?> Die Frage der Gewalt steht im Raum 223 weitestmöglich entfernt von ‚unmittelbaren Einschreibungen’ und ‚Austauschen’, wie Baudrillard sie der Straße zuweist. Die Wohnung ist von der Studentengruppe mit beschreibbaren Tafelwänden, Postern und Wandzeitungen ausgeschmückt worden, es finden sich darin Plattenspieler, Telefon und Radiogerät ebenso wie Bücher. Ihren jugendlichen Bewohnern dienen die Räume als Diskussions-, Vortrags- und Probestätten, als Testbühne - und letztlich sind sie auch Filmkulisse für die Interviewsituationen. Es wird in ihnen weiter- oder wiederverwendet, um- und mitgeschrieben, überschrieben und übermalt etc., sprich: dort werden aus Bildern und Texten neue Bilder und Texte produziert. Dieser Vorgang wird von der Kamera im Film als intradiegetischer und natürlich von der das alles unverhohlen aufzeichnenden Kamera als extradiegetischem Aufzeichnungsapparat festgehalten. Das Appartement kann nun - und da mag es der von Baudrillard beschrieben Straßensituation entgegenkommen - als diskursives Versuchsfeld gesehen werden, aus dem Medienangebot Botschaften zu kreieren und Antworten zu gestalten. Godards La chinoise (es erscheint beinahe müßig, dies auch in diesem Rahmen erneut zu erwähnen) ist ein filmisches Ausloten, Kunst und Zeichen mit einem Begriff von Leben zusammenzubringen, ein filmischer Essay über die Möglichkeiten, Film und Politik zu gestalten. Damit leitet er in Kinofilme und Fernsehproduktionen des Regisseurs in den folgenden Jahren über, die zum Teil nicht unter seinem Namen veröffentlicht werden, sondern unter dem Kollektiv Groupe Dziga Vertov. Diese Werke drehen sich mal offensichtlicher, mal diskreter um ‚68’ und decken den von ihm selbst als seine ‚Mao-Jahre’ benannten Zeitraum ab. Wie die Begriffe ‚Ausloten’ und ‚Essay’ bereits andeuten, ist aus dem Prozess des Filmens heraus keine zwingende, abschließende Position zu gewinnen. Ist an einer Wand zu Beginn des Films das selbstgeschriebene Motto „Les idées vagues avec les images claires“ zu lesen, so zeigt der Film, das die Bilder nicht claires sind, nicht annähernd, sondern viel eher noch plus vagues que les idées. Godards Film wird unweigerlich zu einer Verhandlung des Verhältnisses vom ‚Realen’ zum ‚Medialen’ und damit auch der Konzepte von ‚realem Ur- Bild’ und ‚artifiziellem Ab-Bild’. ‚La réalité’ taucht demnach allein als Wort neben einem für die Wandzeitung aufgehängten Zeitungsausschnitt auf, auf dem allerdings unter der Titelzeile „Contre le culte du livre“ Mao abgebildet ist - davor wird dann in der Mao-Bibel gelesen und werden auf den Wochenplan die Schulungskurse geschrieben. Semiotisch zuweisbar im genannten Sinn auf eine ‚wirkliche’, also nicht-zeichenhafte Referenz oder wenigstens auf ‚unmittelbare Einschreibungen’, um die Diktion Baudrillards aufzunehmen, ist das nicht. ‚Real’ sind nur die Zeichen und höchstens ihre Materialität als Fotopapier, Buchseite oder Schallplatte, mit der die Zellenmitglieder gemeinsam leben. Und selbst diese Gemeinschaft mit den Zeichen unter ihnen wird durch Godards Montagetechnik heterogen. <?page no="248"?> Jan Henschen 224 In diesem Film aus dem Jahr 1967 wäre demnach bereits angelegt, was Jacques Rancière über Godards mehr als dreißg Jahre später erschienen Histoire(s) du cinéma in Bezug auf deren letzten Teil Les signes parmi nous schreibt: Ce titre [...] implique en lui-même une double ‚communauté’. C’est d’abord la communauté entre ‚les signes’ et ‚nous’: ceux-ci sont dotés d’une présence et d’une familiarité qui en font plus que des outils à notre disposition ou un texte soumis à notre déchiffrement: des habitants de notre monde, des personnages qui nous font un monde. C’est ensuite la communauté comprise dans le concept de signe, tel qu’il fonctionne ici. Éléments visuels et textuels sont en effet saisis ensemble, enlacés les uns aux autres, dans ce concept. Il y a des ‚signes parmi nous’. Cela veut dire que les formes visibles parlent et que les mots ont le poids des réalités visibles, que les signes et les formes relancent mutuellement leurs pouvoirs de présentation sensible et de signification. Pourtant Godard donne à cette ‚mesure commune’ des signes une forme concrète qui semble en contre-dire l’idée. Il illustre par des éléments visuels hétérogènes dont la liaison sur l’écran est énigmatique et par des paroles dont nous ne saisissons pas le rapport avec ce que nous voyons. (Rancière 2003: 45) In Bezug auf die Entwicklung der Gewaltfrage sind die Zeichen unter den jungen Zellenmitgliedern in der von Rancière genannten Weise produktiv, da auch bei Programmatik, Figuration und Anwendung von Gewaltformen das Konzept des Zeichens miteinbegriffen sei. Das erste und auch einzige Mal, dass ‚Gewalt’ nun in irgendeiner Form in das Appartement einzieht, ist in Form von Blut auf der Brust von Henri, dem Chemiestudenten und Theoretiker, der als ‚Revisionist’ verschrien später hinausgeworfen wird, nachdem er die KP Frankreichs verteidigt hatte (die von den anderen rundherum abgelehnt wird) - und der dann auch noch als einziger gegen den Terror stimmt. Henri wurde nach eigener Aussage bei einer Diskussion über die Kulturrevolution von Jungkommunisten zusammengeschlagen und kommt mit blutigem Hemd heim. Durch den jungen Schauspieler Guillaume Meister wird das umstrittene Wort dann genannt. In seinen Reflexionen behauptet dieser Namensvetter Wilhelm Meisters, dass ein zeitgemäßes sozialistisches Theater ‚Ehrlichkeit’ und ‚Gewalt’ brauche (und wie der junge Wilhelm Meister sucht er ewig und findet nicht, wird offensichtlich kein Theatermann und scheitert auch als Mitglied einer sozialreformistischen Loge - die bei Goethe ja Amerikahörig ist! ). Die ausgesprochene Gewalt erschöpft sich aber allein in ihrer Nennung in der Interviewsequenz. Da dieses Sprechen nichts zur Folge hat, liegt der Verdacht nahe, dass es dem Schauspieler vorrangig um das Wort und seine Aussprache ging, um seine zunächst ästhetisch-sinnliche Valenz. Guillaumes Freundin Véronique hingegen behauptet - da ja nach dem geflügelten Mao-Wort die Revolution niemals ein Gala-Diner sein könne -, dass sie bei einer wirklich intensiven Beschäftigung mit dem Marxismus- Leninismus die Sorbonne, die Comédie Fran ç aise und den Louvre „in die <?page no="249"?> Die Frage der Gewalt steht im Raum 225 Luft sprengen“ müsste. Konsequenz und Ernst tauchen hier zunächst im gesprochenen Wort, in der Theorie auf. „Die Revolution unterscheidet sich von literarischen Werken oder Zeichnungen, da sie als Endpunkt des Klassenkampfes ein Akt der Gewalt sein muß“, so die junge Frau. Doch ist das keine Gegengewalt als Resultat unmittelbarer, nicht-codierter, ‚nackter’ Gewalterfahrung. Es handelt sich mit der Zielfassung von Orten der Wissenschaft, des Theaters und der bildenden Kunst um eine gewaltaffine ‚Kulturrevolution’ im engeren Wortsinn. Der kleinste gemeinsame Nenner der ‚Gegen-Bewegungen’, der Krieg in Vietnam, wird ebenfalls konsequent in die Paradigmen eingepasst. Die Gewalt des Krieges wird über eine Formation seiner ‚Bilder’ durch theatralszenisches Adaptieren in die Wohnung eingeführt. Als Re-Inszenierung wird dabei dieser Vorgang selbst aufgegriffen, in dem sich beispielsweise aus einem Spielzeugradio ein Maschinengewehr herausklappen lässt. Das alberne Reenactment von Nachrichtenbildern mit Spielzeugwaffen aus Plastik ist die unmittelbare Gewaltwirklichkeit und ‚-realität’ für die Zelle Aden Arabie. 3. Bernardo Bertoluccis The Dreamers Anders sehen wir es in Bertoluccis Verfilmung des Romans The Holy Innocents (Gilbert Adair 1988) fünfunddreißig Jahre später. Die Träumer erinnert in seiner Konstellation zunächt an zentrale Elemente aus dem Godard-Film: Junge Leute haben die Möglichkeit, allein in einer bourgeoisen Wohnung zu hausen. Dort entwickelt sich eine ganz anders gelagerte hermetische Referentialität, ein spielerisches Nachgestalten von bewegten Bildern, vorrangig aus Filmen der Cinémathèque. So hängt als direkter ‚Verweis’ auf einen zeitgenössischen Film ein Plakat von La chinoise folgerichtig groß an der Wand über dem Bett von Theo. Aber in Bezug auf die hier untersuchten Gewalt-Formationen setzt der Film andere Akzente. Zunächst unterscheiden sich die Bewegungsrichtung von Gewaltmanifestationen und die mit ihnen verbundene Raumsemantik gänzlich von La chinoise. Bereits in den ersten Einstellungen wird eine Dichotomie deutlich zwischen Straßen (Außen) und dem Kinoraum (Innen) - begleitet von der Voice-over-Stimme Matthews: „Vielleicht war die Leinwand auch eine wirkliche Wand, die uns vor der Welt abschirmte.“ Schon im direkten Anschluss an diese Worte stoßen beide Raumgrößen in Szenen aufeinander, welche die so genannte ‚Affäre Langlois’ aufnehmen: ein Kreuzungspunkt, der in einer wüsten Straßenschlacht endet. Vor der Cinémathèque liest der gealterte Jean-Pierre Léaud als ‚er selbst’ eine Protestnote - historisch so nicht korrekt im Sinne einer Re-Inszenierung des historischen Ereignisses. Das Vorgetragene des Schauspielers, der als junger Mann den Schauspieler Guillaume in La chinoise verkörperte, ist allerdings ein tatsächlicher Protest-Text, im Jahr 1968 von Jean-Luc Godard <?page no="250"?> Jan Henschen 226 verfasst. Dieser selbst ist neben dem jungen Léaud und anderen prominenten Filmschaffenden in Form von Schwarz-Weiß-Aufnahmen des Protestes des Frühjahrs 1968 zwischengeschnitten. Eine Trennung von Fiktion und Erinnerung gegenüber dem ‚dokumentarischen’ Material der Zeit bleibt deutlich und kann nicht anders als eine Reminiszenz an die damals protestierenden Kulturschaffenden gesehen werden. Ähnlich wie durch die Protagonisten von La chinoise ist auch in Bertoluccis Werk spielerisches Nachstellen geboten, jedoch auch, wie gesagt, überwiegend von Filmklassikern aus der Cinémathèque. Doch hier bleibt eine Trennung von Bild und Spiel stets aufrechterhalten: Im ‚Realen’ als unmittelbar erlebter Welt stellt sich eine Beziehung zum ‚Medialen’ in Form des bewegten Bildes allein auf der Ebene des phantasievollen Zitats her. Während bei Godard die Transgression von Wirklichkeit und Bild, von Realität und Zeichen, eine solche Unterscheidung unmöglich, ja vielleicht sogar überflüssig macht, bleibt die Dualität bei Bertolucci erhalten. Wenn sich also die Zwillinge und ihr amerikanischer Freund immer weiter in die Wohnung zurückziehen, erscheint die Flucht vor dem ‚Draußen’ zunächst vollzogen. In kleinen Momenten wird die Trennung wieder aufgenommen und aufrecht erhalten: Während der Sexszene zwischen Isabelle und Matthew schaut Theo aus dem Fenster, wo er eine Verfolgungsjagd von rote Fahnen tragenden Studenten mit der Polizei erblickt. Das Verständnis von und Verhalten gegenüber ‚Gewalt’ trennt die ménage à trois spätestens in der Schlusssequenz. Theo beginnt die marxistische Theorie zu lesen, wobei er in seinem Zimmer unter dem La chinoise-Plakat sitzt und laut die berühmte Gala-Diner-Passage aus der Mao- Bibel vorliest - und damit zugleich Véroniques Worte aus diesem Film wiederholt. Konsequenterweise nähert Theo sich seiner Lektüre zunächst in seinen eigenen Parametern, nämlich in denen des Kinos. „Hältst du nicht Mao für einen großen Regisseur? “, fragt er Matthew und schwärmt ihm von der Idee einer Kulturrevolution vor: „Bücher, nicht Gewehre. Kultur, nicht Gewalt.“ Davon abgesehen, dass dies eine fatale Fehldeutung und idealisierte Naivlektüre der Worte des ‚Großen Vorsitzenden’ ist, macht ihm Matthew unmißverstädnlich im Gespräch deutlich, wie wenig Theo doch wohl tatsächlich daran glaube, wie wenig er mit der Wirklichkeit da draußen in ihrem cinephilen Schmarotzeridyll zu tun haben möchte: „Wenn du wirklich glauben würdest, was du sagst, wärst du da draußen. Da draußen, auf der Straße.“ Deutlicher können die Dichotomie, der dieser Film folgt, und ihr klarer Trennungsstrich nicht auf den Punkt gebracht werden. Das ‚Draußen’ ist die Straße, Ort der Realität, der Wirklichkeit, der Unmittelbarkeit - aber nicht ausschließlich Freiraum, sondern auch Ort und Hort der Phantasielosigkeit, des nicht-spielerischen Ernstes, der geschrienen Parolen, der Masse sowie der Gewalt. Das wäre auch die entscheidende Wende von der Langlois- <?page no="251"?> Die Frage der Gewalt steht im Raum 227 Affäre zum Pariser Mai 1968. Und vom Kino auf die Straße wechseln Theo und in seiner Gefolgschaft seine Zwillingschwester Isabelle am Ende tatsächlich. „Dans la rue, dans la rue! “ ist der Schlachtruf des Augenblicks. Der Traum ist aus, der Molotow-Cocktail fliegt aus Theos Händen, die Einheiten der CRS stürmen in der Subjektive der letzten Einstellung des Films auf die Kamera ein. 4. Margarethe von Trottas Die bleierne Zeit Die abschließende Kontrastierung mit einem Film wie Die bleierne Zeit von Margarethe von Trotta mag irritieren, denn er scheint sich auf den ersten Blick von den beiden anderen vom Sujet her zu unterscheiden. Straßenprotestszenen zeigt die Regisseurin zudem nicht. Der Film erzählt überhaupt von anders gelagerten Begründungszusammenhängen. Und so wird er hier aufgrund eines spezifischen, cinéphilen Moments in der Erzählung und einer deutlichen Differenz in der Affizierung durch das Gesehene zum Vergleich herangezogen. Die beiden Schwestern Juliane und Marianne sehen in einer längeren Sequenz Filmaufnahmen, die nach der Niederlage Nazi-Deutschlands in befreiten Konzentrationslagern entstanden sind. Diese Bilder berühren die jungen Schülerinnen zutiefst. Beide werden durch das Gesehene sogar körperlich affiziert, d.h. sie müssen die Klassenvorführung verlassen und auf die Toilette rennen, wo die jüngere Juliane sich übergibt. Dieser in einer Rückblende vorgeführte Schock wird in der Narration ein wesentliches Motiv für das politische Engagement der erwachsenen Schwestern, das die eine im engagierten Journalismus und die andere im linksradikalen Terrorismus sieht. Erzählt wird in diesem Film nämlich eine Doppelbiographie, die stark an den Werdegang der Schwestern Gudrun und Christiane Ensslin erinnert. Und der Film, den sie in ihren Jugendjahren schauen, ist Nuit et Brouillard von Alain Resnais aus dem Jahr 1955. Tatsächlich wurde dieser Film in den späten 1950er und 1960er Jahren nicht im Rahmen von Schulvorführungen, ja nicht einmal im regulären Kinobetrieb in der Bundesrepublik gezeigt. Dokumentarischen Charakters ist aber ebenso das weitere Material, das die beiden Schwestern Juliane und Marianne dann als junge Erwachsene in der Zeit um 1968 sehen: Dies sind Kriegsbilder aus Vietnam. Bilder der Gewalt okkupieren sie also erneut, bewegte Bilder, deren semiotische Beziehungen zu den ‚Bildinhalten’ und deren ‚Bedeutungen’ einer brutalen Realität nicht weiter hinterfragt werden müssen. Aus ihnen scheint vielmehr nur ein Imperativ zu sprechen: ‚Handeln! ’ Und so erinnert sich die RAF-Terroristin Irmgard Möller, einzige Überlebende der berüchtigten Stammheimer-Todesnacht: „Wir hatten die Bilder von den napalmverbrannten Dörfern und Menschen, von den Erschießungen, Folterungen, Vergewaltigungen durch die GIs im Kopf.“ <?page no="252"?> Jan Henschen 228 (Tolmein 2005: 57) Hier setzten andere Bilder um 1968 ganz andere Potenziale frei als in The Dreamers. Die bewegten Bilder werden als Zeichen mit politischem Inhalt gesehen. Die herausgelesenen Botschaften scheinen ein Verhältnis von ‚medial’ und ‚real’ nicht mehr hinterfragen zu müssen, die von Godard stark gemachte Dimension einer Politik der Formen wird nicht eröffnet. So stellt sich allein das Problem der Form der Politik: ‚Praxis’ wird zur vermeintlich jenseits dieser Dimension angesetzten Kategorie beziehungsweise zu einer diese überwindenden Phantasmagorie. Die Qualität eines Films wie La chinoise besteht gerade darin, dass ohne zeitlichen Abstand und ohne die Kenntnis der weiteren historischen Entwicklungen diese Phantasmagorie als solche vorgeführt wird. So resümiert Godards junge Studentin: Wenn ich die Theorie und Methodik einer Revolution kennen lernen will, dann muß ich ja auch an einer teilnehmen. [...] Wenn ich die theoretischen Erkenntnisse verifizieren will, muß ich doch zur Praxis übergehen. Schließlich können alle theoretischen Erkenntnisse nur aus der konkreten Erfahrung kommen. Das ist eine Sehnsucht, die sich nicht erfüllen kann. Godard zeigt, dass Begriffe wie ‚Revolution’, ‚Erkenntnis’ oder auch ‚konkrete Erfahrung’ nicht ohne Zeichen, Symbole und (Film-)Bilder auskommen und diese auch den Übergang zur ‚Praxis’ der Zelle Aden Arabie gestalten. Aus einer anderen Zelle, einer Gefängniszelle, entstammt ein ähnliches Verlangen in Bezug auf die Schnittstelle zur ‚Praxis’, aber auch ein dem diametral entgegengesetztes Interesse für den Erkenntniswert eines Films. Aus einigen geschriebenen Zeilen Gudrun Ensslins ist ihre Reflexion über Filmkunst und revolutionäre Praxis überliefert - mit Bezugnahme auf das Schaffen Godards: Also, welche Rolle bleibt nach alle dem der Kunst? Aufzuklären, klar. Und da muß man eben den Betrug von der Wirklichkeit unterscheiden; und das wiederum führt, konsequenterweise und einigermaßen unbestechlich gedacht und gegangen, zur Praxis. Wieder ein Problem, besonders dann, wenn man die Probleme mehr liebt als die (immer unbequemere) Lösung. Godard schlägt sich zur Zeit dort rum, und überhaupt der ‚junge’ Film. Und Aufklärung im Sinne des Klassenbewusstseins ist natürlich eine wichtige Aufgabe; aber die Vernissagen sind natürlich der Markt der Herrschaft und nicht der Ort der Aufklärung der Knechte, sowieso. Und klar ist auch, dass die Praxis, einen guten, aufklärenden, bewußtseinschaffenden Film zu machen, die bewusste Praxis des gesellschaftlichen Seins, seiner Bedingungen, seiner Veränderbarkeit voraussetzt - also sehr unterschieden vom berühmten intellektuellen Problembewusstsein, der Spielwiese, dem Reservat der Intellektuellen. (Ensslin/ Ensslin 2005: 75; Hervorhebg. i. Orig.) Mit der fiktiven Filmfigur Véronique liegt die Mitbegründerin der Roten Armee Fraktion auf einer Linie. Godard selbst hätte ihr wohl eher mit seinem berühmten Diktum von 1968 geantwortet, das ein anderes Verständnis der <?page no="253"?> Die Frage der Gewalt steht im Raum 229 bewussten Praxis betont: Er wolle nicht politische Filme drehen, sondern politisch filmen. Literaturverzeichnis Filme Jean-Luc Godard, La chinoise (Frankreich 1967). Bernardo Bertolucci, The Dreamers (Frankreich/ Großbritannien/ Italien 2003). Margarethe von Trotta, Die bleierne Zeit (Deutschland 1981). Literatur Marc Augé, Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris 1992. Jean Baudrillard, Requiem pour les medias, in: ders., Pour une critique de l’économie politique du signe, Paris 1979, 200-228. Gudrun Ensslin, Zieht den Trennungsstrich jede Minute - Briefe an ihre Schwester Christiane und ihren Bruder Gottfried aus dem Gefängnis 1972-1973, Hrsg. v. Christiane Ensslin/ Gottfried Ensslin, Hamburg 2005. Norbert Frei, Paris im Mai, in: Die Zeit, 8/ 14.2.2008. URL: http: / / www.zeit.de/ 2008/ 08/ A-Pariser-Mai-68 (31.10.2008). Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967- 1977, Köln 2001. Michael Lommel, 68er-Reflexionen. Zur Heterotopie und Theatralität des politischen Engagements in Godards La Chinoise, in: Volker Roloff/ Scarlett Winter (Hrsg.), Godard intermedial, Tübingen 1997, 67-98. Karl Markus Michel, Ein Kranz für die Literatur. Fünf Variationen über eine These, in: Hans Magnus Enzensberger (Hrsg.), Kursbuch 15, Frankfurt a.M. 1968, 169- 186. Jacques Rancière, Le destin des images, Paris 2003. Jacques Rancière, Politik der Bilder, Berlin 2005. Oliver Tolmein, RAF - Das war eine Befreiung für uns. Ein Gespräch mit Irmgard Möller über bewaffneten Kampf, Knast und die Linke, Hamburg 2005 [1997]. <?page no="255"?> Jan-Henrik Witthaus Stammheim und die Affäre Croissant. Wegmarken des Intellektuellen in Frankreich In der zerstörerischen Geste äußert sich ein Dasein, das weniger radikal in der Welt ist als jenes, das sich in Arbeitsgesten artikuliert. Vilém Flusser, Gesten 1. Die Besetzung des Denkens „Der Guerillero besetzt das Land, der Terrorist besetzt das Denken.“ (Prantl 2008: 9) Nachfolgend interessiert vor allem der zweite Teil des Satzes. Der Terrorist okkupiert zum einen die Sphäre bürgerlicher Freiheiten. Verheerender als ‚direkte Aktion’ und Attentat - so die zitierte Antithese in freier Paraphrase - ist der darin mit expedierte Anschlag, der in unserem Rechtsbewusstsein detoniert. Die Reaktion des Staates auf den internationalen Terrorismus hätte demnach in den letzten Jahren zu einer Aushöhlung der zivilen Grundrechte geführt. Zum anderen bezeichnet die Besetzung des Denkens durch die Verbreitung von Angst und Schrecken ganz genau das, was der Terrorist nicht einzunehmen vermag: den Raum, die territoriale res extensa, so lehrte bereits Franz Wördemann, 1 dem der oben zitierte Satz unverkennbar abgeschaut ist: „Der Neue Guerilla besetzt tendenziell den Raum, um später das Denken gefangen zu nehmen - der Terrorist besetzt das Denken, da er den Raum nicht nehmen kann.“ (Wördemann 1977: 57) Aufgegriffen werden soll an dieser Stelle einstweilen nicht die Analyse einer Ausdünnung bürgerlicher Grundrechte. 2 Abgehoben werden soll zunächst auf die Formulierung. Gibt es Hinweise für die Konjektur, dass durch das Aufkommen des Terrorismus, vor allem auch des deutschen Terrorismus im Nachfeld der 68er-Revolten, eine ‚Besetzung des Denkens’ stattgefunden hat, die noch die Köpfe der professionellen Denker okkupierte, die der Schriftsteller oder Philosophen? Für Deutschland lässt sich dies ansatzweise dokumentieren, 3 für Frankreich, dessen Autoren und Intellektuelle eminent zur Prägung des literarischen Engagements beitrugen, 1 Ich danke Jan Henschen für den Hinweis. 2 Vgl. zu einer solchen Analyse nochmals Prantl (2008). 3 Zur ‚Gewaltfrage’ vgl. Bohrer (2001), Winkler (2007: 23ff.) und Hecken (2006: 73ff.). <?page no="256"?> Jan-Henrik Witthaus 232 besteht sicherlich noch Klärungsbedarf im Hinblick auf die Affizierung des Denkens durch den Terror. 4 Nachgegangen werden soll dieser Frage anhand zweier Beispiele. Zunächst interessiert das Engagement Jean-Paul Sartres für eine Verbesserung der Haftbedingungen der Baader-Meinhof-Organisation.Sodann werden die Reaktionen Michel Foucaults auf die Auslieferung des RAF-Anwalts Klaus Croissant an die deutsche Justiz thematisiert. Croissant wurde in Deutschland wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung polizeilich gesucht, sein Asylantrag wurde von Frankreich letztlich abgelehnt. Mit diesem Vergleich wird die These vorgeschlagen, dass es eine interne Bezogenheit beider Interventionen gibt, die eine kommunikative Dimension innezuhaben scheint. Was die ‚Besetzung des Denkens’ betrifft, so wäre ferner im Hinblick auf Foucault zu überlegen, ob das Jahr 68 und der Terrorismus als eine der Folgelasten nicht der politischen und sozialen Reflexion gleichwohl die Aufgabe vermacht haben, die Möglichkeiten des Widerstandes neu abzuwägen und die Rolle des Intellektuellen in der Gesellschaft neu zu bestimmen. 2. Die faustische Abkehr vom Wort Um das weite Feld von Gesellschaftskritik, Widerstand und Revolte zu umschreiben, das sich bereits im Vorfeld von 68 aufspannt, bedarf es ausführlicherer Analysen, als sie hier geleistet werden können. Den Ausgangspunkt mag einstweilen eine rhetorische Strategie bilden, die man mit Blick auf den Terrorismus eine ‚faustische Abkehr vom Wort’ nennen könnte, mit gebotener ironischer Distanz, versteht sich. 5 Eine derartige ‚Emphase der Tat’ verkörpert nicht zuletzt die Person Ulrike Meinhof selbst, die vor ihrem Abtauchen in den Untergrund als Kolumnistin der Berliner Zeitschrift konkret tätig war. Historiker der RAF haben wiederholt die Befreiung Andreas Baaders als entscheidende Peripetie bzw. „Sprung in die Illegalität“ (Aust 1997: 26) stilisiert, was auf die Flucht aus dem Fenster des Zentralinstituts für Soziale Fragen anspielt, aus dem Baader den Justizbeamten entrissen worden war. 6 In der RAF-Prosa, die von Ulrike Meinhof produziert wurde, mangelt es nicht an Seitenhieben gegen ein ‚bloß’ literarisches Engagement. Entsprechend heißt es in einem Spiegel-Interview aus dem Jahr 1970, dass die Intellektuellen „Leute sind, die den nächsten Schritt, der jetzt zu machen ist - nämlich das, wovon sie reden, auch zu tun -, nicht machen 4 Vgl. den jüngst von Gius Gargiulo (2008) herausgegebenen Tagungsband. 5 Daher wird hier auf vorbelastete anarchistische Konzepte wie ‚ Propaganda der Tat’ o.Ä. bewusst verzichtet, wobei nicht in Abrede zu stellen ist, dass sich der terroristische ‚Aktionismus’ oftmals in dieser Tradition verortet. 6 Vgl. Aust (1997: 23) und Winkler (2007: 164), mit Bezug auf Bohrer (2001). Noch in der jüngsten Verfilmung Der Baader Meinhof Komplex (2008) von Uli Edel wird der Sprung aus dem Fenster entsprechend inszeniert. <?page no="257"?> Stammheim und die Affäre Croissant 233 werden […].“ (zit.n. Winkler 2007: 171) Der Waffenkult der RAF ist hier absolut anschlussfähig. 7 Noch Heinrich Böll trifft der Zorn Ulrike Meinhofs, als er sich 1974 von der RAF distanziert, zu einem Zeitpunkt also, als die führenden Mitglieder der Organisation schon in Stammheim einsitzen. 8 Meinhofs anti-intellektueller Affekt, der nicht zuletzt an der eigenen Vergangenheit laboriert, bleibt leitmotivisch, ja er wächst sich aus zu einer regelrechten Arroganz gegenüber denen, die immer nur reden, aber nicht handeln. Hier schließt sich thematisch das Phänomen der Sympathisanten ein (vgl. Winkler 2007: 196f.), wie gleichsam auch die letztlich scheiternde Strategie der ‚Stadtguerilla’, die der oben zitierten Antithese Franz Wördemanns zufolge nur ein Phantasma sein kann. 9 Man wird insgesamt letztlich der Baader-Meinhof-Organisation ein eher problematisches Verhältnis zu den Intellektuellen bescheinigen können. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob der wohlfeile Vorwurf der Untätigkeit, ja der Mittäterschaft im System, die philosophisch-intellektuelle Gesellschaftskritik nicht moralisch unter Druck setzte, da sich diese ehedem stark von der politischen Rechten in die Defensive gedrängt sah, wie der Fall Heinrich Böll anschaulich demonstriert. Natürlich wäre es wohl absurd zu glauben, dass erst der Terrorismus eine derartig gewaltsame Komplexitätsreduzierung hervorbringt, welche die Welt manichäistisch zweiteilt. Statthaft dürfte die Überlegung dennoch sein, dass er jene moralische Erpressung, die in der Aufforderung zum Handeln liegt, im bundesrepublikanischen Kontext der 68er-Revolten erneut auf die Spitze trieb. Dennoch hat die ‚faustische Abkehr vom Wort’ einen diskursiven Vorlauf, in dessen Rahmen die Gewaltfrage vor allem in Frankreich diskutiert wird und der die Debatten in Deutschland, vor allem nach den Studentenrevolten und nach dem Tod Benno Ohnesorgs, maßgeblich vorstrukturiert. Es scheint hier die Rede von einem französischen ‚Einfluss’ eher ein Konzept traditioneller Komparatistik zu sein, angemessener wäre von den kulturhistorischen Differenzen zu sprechen, welche die Kontexte der Auseinandersetzung mit Terrorismus und Gewalt jeweils koordinieren. Eine genauere Analyse würde wahrscheinlich an den Tag bringen, dass die ‚faustische Abkehr vom Wort’ nur eine sehr eigene deutsche Akkulturation dessen darstellt, was als Gewaltfrage in den fünfziger und sechziger Jahren die Debatten, angeregt durch Frantz Fanon, Jean-Paul Sartre oder Maurice Merleau-Ponty, bestimmt. 7 Vgl. Winkler (2007: 186) und zur „Entstehungsgeschichte des RAF-Logos, seine[r] Emblematik und Rezeption“ Sachsse (2008: 131). 8 Und dies, nachdem sich Heinrich Böll zuvor schon den Groll des deutschen konservativen Flügels zugezogen hatte (vgl. Ibrügger 2008: 156ff.). 9 Das Konzept der ‚ Stadtguerilla’ wird nach der Inhaftierung der führenden Mitglieder der Organisation in die Strategie umgewandelt, den angeblich latenten Faschismus der Bundesrepublik anhand des Strafvollzugs augenfällig werden zu lassen (vgl. hierzu die differenzierte These von Jander 2008). <?page no="258"?> Jan-Henrik Witthaus 234 Man mag ein wenig grob pointieren, dass es drei Paradigmen gibt, anhand derer die Gewalt in Frankreich problematisch wird: erstens die Résistance, zweitens der Stalinismus und drittens der Algerienkrieg (1954- 1962). Während man im Hinblick auf den Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzung Jean-Paul Sartres Stück Les mouches (UA 1943) und die sich anschließenden Selbstdeutungen des Autors anführen mag (vgl. kritisch hierzu Holthusen 1982: 142ff.), erwiesen sich die anderen beiden Auslöser, die Gewaltfragen zu Kristallisationspunkten der Debatte machten, als nicht weniger wirkungsmächtig: So ist zunächst an Maurice Merleau- Ponty und seine Auseinandersetzung mit den Dissidenten-Prozessen des stalinistischen Regimes, erschienen 1947 unter dem Titel Humanisme et terreur, zu erinnern. Die geschichtliche Analyse der sowjetischen Revolution erfolgt programmatisch unter der Abwendung der Tendenz, „die Ereignisse aus dem bürgerlichen Geschichtsverständnis zu moralisieren“ (Knapp 1995: 235). Merleau-Ponty beschäftigt sich also - wohlgemerkt in Kontinuität zur Begriffsgeschichte (vgl. Walther 2004) - 10 mit dem ‚Terror’ der Revolution und seiner Verstaatlichung in den Regimen des ‚real existierenden Kommunismus’: Les libertés démocratiques prises comme seul critère dans le jugement qu’on porte sur une société, les démocraties absoutes de toutes les violences qu’elles exercent ici et là parce qu’elles reconnaissent le principe des libertés et les pratiquent au moins à l’intérieur, en un mot la liberté devenue paradoxalement principe de séparation et de pharisaïsme, c’est déjà une attitude de guerre. (Merleau-Ponty 1980: 76f.) In gleichwohl modifizierter Form wird sich auch Sartre in Critique de la raison dialectique (1960) dem Problem der revolutionären Bewegung stellen und dort seine Betrachtungen zum Terror einschließen, wobei das historische Paradigma nicht nur 1917/ 18, sondern ebenso 1789 bildet. „Aus der Gefährdung der Gruppe ergibt sich das Postulat der Brüderlichkeit, das zu seiner Durchsetzung der Terreur bedurfte, aber von der bürgerlichen Gesellschaft schließlich nicht eingelöst werden konnte“, kommentiert Knapp (1995: 238). So ist es in Critique de la raison dialectique die Analyse der Gruppe, folglich die Analyse eines geschichtlichen Bewegungsagenten, in die Beobachtungen der Prozesse kollektiver Trägheiten, Stabilisierungen und interner Abschreckungsmechanismen eingelassen sind: Für Sartre muß sich die Freiheit der Gemeinsamkeit, weil sie nie innere sondern nur vermittelte ist, gewaltsam nach Innen wenden; die Institutionen der Gruppe müssen (mangels deren ontologischer Stabilität) autoritär sein und die Freiheit ihrer Mitglieder passivieren. (Dornberg 1989: 207: Hervorhebg. i. Orig.) Von womöglich größerer Nachwirkung sind allerdings Sartres Vorwort zu Frantz Fanons Damnés de la terre, das 1961 erstmals erscheint, sowie das er- 10 Vgl. zur Analyse des Totalitarismus bei Hannah Arendt und dem sich hier anschließenden Begriff des Terrors Giovanna Borradori in: Habermas/ Derrida (2004: 26f.). <?page no="259"?> Stammheim und die Affäre Croissant 235 öffnende Gewaltkapitel von Fanon selbst. Durch den Algerienkrieg wird die Debatte um Revolte und Gewalt mit den Aspekten des Freiheitskampfes und des Kolonialismus angereichert und verschärft sich. Ein emphatisches ‚Entweder-Oder’ ist die Folge: Entweder man lässt sich terrorisieren oder man wird selbst terroristisch. Diesen Manichäismus entwickelt der Widerstand allerdings nicht aus sich selbst heraus, vielmehr handelt es sich aus Sicht Fanons um die Umkehrung einer Zweiteilung, die der Kolonialismus dem unterworfenen Land und seinen Einwohnern bereits auferlegt habe: On voit donc que le manichéisme premier qui régissait la société coloniale est conservé intact dans la période de décolonisation. C’est que le colon ne cesse jamais d’être l’ennemi, l’antagoniste, très précisément l’homme à abattre. (Fanon 1979: 17) Die Rolle des Intellektuellen erhält im Zuge des Befreiungskampfes ein vollkommen neues Profil, denn er sagt sich vom Individualismus los und geht im Ganzen der revolutionären Gruppe auf: L’intellectuel colonisé assiste, dans une sorte d’autodafé, à la destruction de toutes ses idoles: l’égoïsme, la récrimination orgueilleuse, l‘imbécillité infantile de celui qui veut toujours avoir le dernier mot. Cet intellectuel colonisé, atomisé par la culture colonialiste, découvrira également la consistance des assemblées de villages, la densité des commissions du peuple, l’extraordinaire fécondité des réunions de quartier et de cellule. (Fanon 1979: 15) Die soziale Verantwortung des Dichters in Sonderheit präsentiert sich allerdings am eindringlichsten in den literarischen Verfahren des Essays selbst, so in dem langen Zitat des Stückes Et les chiens se taisaient (1958) des geistigen Ziehvaters Aimé Césaire, welches das Gewaltkapitel abschließt, worauf jüngst Reinhard Krüger (2008) hingewiesen hat. 11 Das Projekt der „Dichtung im Dienst, genauer gar als Mittel des Befreiungskampfes“ (Jüttner 1982: 147) findet sich beim Schüler fortgesetzt. Jean-Paul Sartre komplettiert in seinem Vorwort zu Fanons Ausführungen die Analyse des Intellektuellen durch das Stochern in der Wunde der Verlegenheit, in welche die europäische Linke durch den algerischen Freiheitskampf gerät. Vor allem Fanons Damnés de la terre sowie Sartres paratextuelle Eskorte sind in Deutschland von großer Nachwirkung und offerieren unter dem Eindruck der Studentenrevolte und des Vietnam-Kriegs das mentale Zeug für die Bewaffnung der Widerstandsgruppen. Allerdings ist auf die unterschiedlichen soziokulturellen Kontexte zu verweisen, innerhalb derer einerseits die Diskussion in Frankreich geführt wird - Résistance, Stalinismus, Algerien - und andererseits diese Vorgaben in den sechziger Jahren der Bundesrepublik aufgenommen werden. In dem Maße jedoch, wie dieser diskursiv-kulturelle Transfer Konsequenzen zeitigt, wirken sodann die Anschläge der Baader-Meinhof-Organisation und alles, was mit ihr assoziiert 11 Vgl. zum Intellektuellen als Erwecker kulturellen Bewusstseins und Widerstands bei Aimé Césaire Jüttner (1982: 150ff.) <?page no="260"?> Jan-Henrik Witthaus 236 wird, auf einen weiteren europäischen Zusammenhang zurück. So gelangt Deutschland in den frühen siebziger Jahren in den Fokus der internationalen Aufmerksamkeit, weniger durch die Bombenanschläge der RAF von 1972, als vor allem durch die Inhaftierung der Täter, die breit geführte Diskussion um die Haftbedingungen und die Geiselnahme bei den Olympischen Spielen in München durch das palästinensische Kommando Schwarzer September. Im Spiegel-Interview vom Februar 1973 wird Sartre die Verantwortung der Polizei anlasten. 3. Sartre Die Aufnahme des bewaffneten Kampfs innerhalb Europas bringt die Linke in noch größere Verlegenheit, als es nach Auffassung Sartres der Algerienkrieg zuvor schon getan hatte. Nach der Verhaftung der führenden Mitglieder der Baader-Meinhof-Organisation schiebt sich zunehmend die Frage nach den Haftbedingungen in den Mittelpunkt. In diesem Zusammenhang ist Sartres Besuch in Stammheim zu sehen. Das Spiegel-Interview von 1973 hatten die Insassen oder ihre Anwälte offenbar aufmerksam gelesen: „Eine starke revolutionäre Strömung ist offenbar in Westdeutschland nicht vorhanden. Aber es gibt Kräfte, die mir interessant erscheinen, beispielsweise die Baader-Meinhof-Gruppe.“ (Sartre 1973: 91) Derlei Durchlässigkeit der Information scheint nur die Kehrseite konsequenter Isolationshaft zu sein. Die Anwälte der RAF bezeichnen die Isolation als mentale Folter (vgl. Jander 2008). Zudem fürchten die Inhaftierten nach eigenen Angaben ihre Ermordung. Sie treten in den Hungerstreik und im September 1974 stirbt Holger Meins an den Folgen des selbst verordneten Nahrungsentzugs. Im Oktober danach hatte Ulrike Meinhof in Überwindung ihrer Intellektuellenverachtung eine Einladung an Sartre formuliert. Vor allem Klaus Croissant dürfte für das Arrangement der interkulturellen Kontakte federführend gewesen sein (vgl. Cohen-Solal 1985: 643f.). In Meinhofs Einladung heißt es: „Wir kämpfen mit diesem Hungerstreik gegen unsere Vernichtung in den Gefängnissen durch Sonderbehandlung, durch Isolation“ (zit.n. Aust 1997: 317). Und: Um das Interview [mit Andreas Baader] zu machen, ist es nicht notwendig, daß Du uns in allem zustimmst, was wir von Dir wollen ist, daß Du uns den Schutz Deines Namens gibst und Deine Fähigkeit als Marxist, Philosoph, Journalist, Moralist für das Interview einsetzt […]. (zit.n. Aust 1997: 317) Meinhof nimmt Sartre beim Wort. Er hatte nämlich im Spiegel verkündet: Natürlich habe ich etwas - was mir nicht gehört und dessen ich mich nicht bediene -, was man als ‚Starrolle‘ bezeichnen könnte. Wenn ich aber mit Leuten arbeite, die politisch angegriffen werden, und ich ihnen dank meiner ‚Starrolle‘ helfen kann, tue ich es. (Sartre 1973: 95) <?page no="261"?> Stammheim und die Affäre Croissant 237 Meinhof wird dies sehr genau gelesen haben, wahrscheinlich auch jene andere Passage des Interviews, in der es heißt: Ich glaube, daß man zur Befreiung der Menschen durch die Gewalt gelangen kann - natürlich nicht durch die individuelle Gewalt, denn diese kann ja nur ein individuelles Ziel haben. (Sartre 1973: 93) Kommentatoren haben Sartres Visite bei Andreas Baader wiederholt als Fehltritt gedeutet: Cohen-Solal deutet an, die Sache habe keine Wirkung gezeigt bzw. sei nach hinten losgegangen, weil sich der Philosoph schlechterdings zwischen sämtliche Fronten begeben habe: „Un pétard mouillé, donc, que ce voyage? “ (Cohen-Solal 1985: 644) Willi Winkler insinuiert Altersstarrsinn und Senilität (vgl. Winkler 2007: 240). Hans Egon Holthusen hingegen versucht, den Nachweis einer kontinuierlichen Affinität des Literaten und Philosophen zur Radikalität zu führen (vgl. Holthusen 1982: 138ff.). Tatsächlich erscheint Sartres Engagement für die Baader-Meinhof- Gruppe gerade in der Rückschau als fragwürdig, vor allem aber auch im bundesrepublikanischen Rezeptionsraum, der - von Aust über Holthusen bis hin zu Winkler - die interkulturelle Dimension der Begegnung konsequent ausblendet. Sicherlich macht sich der Besuch jedoch auch gerade deswegen zweifelhaft aus, weil das Ereignis an sich im Gedächtnis geblieben ist - eben die Anwesenheit des Philosophen in Stammheim, die im Auge der Nachwelt entweder seine philosophische Differenzierungsleistung dementiert oder gar, bei Holthusen, als sinnfälliges telos den langen Schatten auf sein Œuvre zurückwirft. Sartres Besuch in Stammheim ist nahezu emblematisch geworden. Unter der Vielzahl seiner Gesten war diese neben der Ablehnung des Nobelpreises gewiss die öffentlichkeitswirksamste. Fast siebzig war er, als er mit Hans- Joachim Klein von den Revolutionären Zellen und Klaus Croissant am 4. Dezember 1974 in Stammheim vorfuhr. Daniel Cohn-Bendit übersetzte. Wie man der Einladung Ulrike Meinhofs entnehmen konnte, war ein Interview mit Andreas Baader vorgesehen, das allerdings nicht zustande kam. Zudem fand die Unterredung in einem Besuchszimmer statt, das über die konkreten Haftbedingungen, die Sartre gleichwohl anschließend kritisch kommentierte, wenig Aufschluss gab. Im medienpolitischen Manövrieren der RAF vorgesehen, ging es für Sartre in der anschließenden Pressekonferenz um Gegensteuern, was allerdings im Großen und Ganzen der schon im Spiegel- Interview vertretenen Position entsprach. Nur wurde der Ton deutlicher: Die RAF gefährde die Linke, die man ihrerseits von der RAF zu unterscheiden habe. Außerdem bemühte sich Sartre, den Anlass seines Besuchs, der durch den Anwalt Klaus Croissant zustande gekommen sei, in den Kontext der Haftbedingungen und des daraus resultierenden Hungerstreiks zu rücken (vgl. Aust 1997: 318). <?page no="262"?> Jan-Henrik Witthaus 238 Soweit der begleitende Kommentar. 12 Was allerdings in Erinnerung bleibt, ist Sartres Medienpräsenz in Stammheim, die reichhaltig dokumentiert ist. 13 Zudem wird man sich die inszenatorische Qualität der Visite vor Augen halten dürfen: Ein alter, beinahe erblindeter Sartre, der dennoch Anreise und Beschwerlichkeiten auf sich nimmt, um der politischen Sache der Linken abermals Namen, Autorität und zumindest moralisches Protektorat zu leihen. Die Tat überragt das Wort und trägt hiermit dem moralischen Druck Rechnung. Die deutsche Presse, insbesondere die konservativen Zeitungen und Revuen bewerteten den Besuch erwartungsgemäß als Einmischung wie Schmierenstück gleichermaßen. Noch Willi Winkler, der sich nicht gerade durch militanten Konservatismus verdächtig gemacht hätte, gibt dem entsprechenden Kapitel seiner jüngst erschienen Chronologie der RAF den Titel „Entr’acte“ (Winkler 2007: 237). Was bleibt, ist die Tat selbst, die durch reichhaltiges Fotomaterial überliefert ist, die Reisestrapazen eines Mannes, der trotz seines Alters und seiner Gebrechen gekommen ist. Das kollektive Gedächtnis verdichtet sich in einem Ort und einer Geste, und auf nichts weiter kam es ja Ulrike Meinhof in ihrer Einladung an. Erwartet war keine Apologie, sondern eben das Protektorat durch Sartres Reputation. Unter mediengeschichtlichen Gesichtspunkten könnte man neu untersuchen, was anderweitig bekannt ist: dass nämlich in der Figur des Intellektuellen, für die Sartre die epochale Vorlage war, die Philosophie auf die Straße tritt. Aber die Straße ist natürlich nur ein pars pro toto für eine Öffentlichkeit, die massiv mit Fotos, journalistischen Texten und Interviews kommuniziert. Unter solchen Bedingungen, möchte man meinen, wird die politische Geste mindestens ebenso wichtig wie die philosophische Rede. 14 Ziemlich eindeutig kodiert erscheint im politischen Repertoire die Geste des Besuchs. Derlei Paarungen sind bekannt: Angela Merkel/ Dalai Lama; John F. Kennedy/ Berlin; Berlin/ Barack Obama; Helmut Kohl/ Ernst Jünger. Die politische Geste des Besuchs funktioniert wie eine Illokution, notfalls auch ohne Lokution, immer vorausgesetzt es gibt den Dritten, vor dem sie ins Werk gesetzt wird: ein Publikum, eine Kamera, eine Nachwelt. Die Botschaft ist deutlich, man bekundet Solidarität. Das Paar Sartre/ Baader partizipiert an diesem öffentlichen Ritual und überspielt in seiner medialen Irradiation das diskursive Beiwerk wie die notwendige Differenzierung durch die Wortbeiträge, die Sartre ja beisteuert. Aber diese Übermacht der 12 Sartre wiederholt seine Ausführungen zur Haft in einem Artikel vom 7. Dezember in Libération. Dieser Artikel trägt den Titel „La mort lente d’Andreas Baader“. 13 Nicht nur Holthusens Publikation ziert ein Foto von Sartre in Stammheim. Gleiches gilt auch für die bereits zitierte Monographie von Dornberg (1989). 14 Spätestens seit Ludwig Wittgenstein gibt es eine Philosophie der Geste, die Geste in der Philosophie hingegen scheint mir weitgehend unerforscht und eine Kulturgeschichte der öffentlichen Geste käme gerade recht. Das Interview als literarisch-mediale Gattung beispielsweise ist eine fertile Form der Produktion von Gesten, ja es wird mitunter selbst zu einer solchen. Vgl. zu den Ausgangsproblemen der Gebärde Wittgenstein (1984: 263, 464, 502), vor allem Flusser (1994: 7-18). <?page no="263"?> Stammheim und die Affäre Croissant 239 Geste vermag in einem Zeitabschnitt wie den sechziger und siebziger Jahren, in denen sie an der Tagesordnung war, kaum zu überraschen. Sieht man von dem im politischen Alltag fest vorgesehenen Ritual ab, so fällt auf, dass die Protest- und Widerstandskulturen diese kommunikative Reserve ausbeuten, parodieren, an ihr partizipieren. Die Geste ‚entdifferenziert’ also nicht nur, sie schließt auch Kompromisse der Aktion und gehört in eine Affektökonomie, die in der diskursiven Entgegnung von Wort und Tat vermittelt. Sie entwickelt ein Ausdrucksrepertoire, das in Philosophie, Literatur, Avantgarde und entsprechenden Medienverbünden dem ‚Entweder-Oder’ des Terrors andere Optionen hinzufügt. Möglicherweise lässt sich daher ein wenig spekulativ der Geste analog das zuschreiben, was Sigmung Freud über den Affekt des Moses schreibt: Michelangelo „lässt [die Tafeln] nicht durch den Zorn Moses’ zerbrechen, sondern diesen Zorn durch die Drohung, daß sie zerbrechen könnten, beschwichtigen oder wenigstens auf dem Wege zur Handlung hemmen“ (Freud 1993: 80). 15 4. Foucault „Sartre in Stammheim“ (vgl. Aust 1997: 317f.) wurde nicht allein deswegen zum Emblem, weil Stefan Aust das Medienereignis unter dieser Überschrift in seiner RAF-Retrospektive kanonisierte. Viel spricht für die These, dass Sartre der Organisation allein schon durch die hergestellte Öffentlichkeit nun auch in Frankreich zu einschlägiger Bekanntheit verholfen hatte (vgl. Winkler 2007: 241). Sein Engagement zugunsten einer Verbesserung der Haftbedingungen, die man im Weiteren vor allem durch die Macht der Geste als Solidaritätsbekundung verstanden hatte, wäre daher noch hinsichtlich seiner Nachwirkung in Frankreich zu betrachten. Hier wird man aufmerksam auf den Protest gegen die Auslieferung des RAF-Anwalts Klaus Croissant, der Michel Foucault mit anderen Demonstranten vor die Pariser Santé führte. Wie erwähnt, hatte Croissant bereits Sartres Besuch in Stammheim in die Wege geleitet. Nun saß er selbst ein. Die Reaktion der Polizei auf die Kundgebung war harsch, Foucault bekam sie wohl am eigenen Leibe zu spüren. Während Sartre offenbar eine Sonderstellung innehatte und Charles de Gaulle von ihm gesagt haben soll „On n’arrête pas Voltaire“, so unterlag selbstredend nicht jeder andere in gleicher Weise dem philosophischen Artenschutz. Dem muss man hinzufügen, dass Foucault zu dieser Zeit schon eine Ikone des intellektuellen Lebens war, was ihn offenbar vor Schlägen nicht schützte und ihn, wie Didier Eribon weiß, eine gebrochene Rippe kostete (vgl. Eribon 1989: 275). Tags darauf durfte sich Foucault noch in einem Interview in Le Matin die Wunden lecken: „Or les 15 Das Freud-Zitat versteht sich als Alternativvorschlag zur aus meiner Sicht notwendigen Ausdifferenzierung der immer noch aktuellen Thesen zur Teleologie zwischen Avantgarden, Subkulturen sowie anderen Protestformen einerseits und dem Terrorismus andererseits. <?page no="264"?> Jan-Henrik Witthaus 240 flics nous ont immédiatement assené des coups avec une rare brutalité comme s’ils avaient affaire à une foule hurlante.“ (Foucault 1994d: 366) Weggefährte Peter O. Chotjewitz und seine als Roman getarnten Aufzeichnungen, die unter dem Titel Mein Freund Klaus 2007 im Berliner Verbrecherverlag erschienen sind, unternehmen den Versuch einer Rehabilitierung Klaus Croissants. Denn es mag durchaus den Anschein haben, dieser sei „neben Andreas Baader eine der meistgehassten Figuren innerhalb der deutschen Linken“ (Walter 2007) gewesen, nicht zuletzt aufgrund seiner späteren Nachrichtentätigkeit für den Staatssicherheitsdienst der DDR. Seine Präsenz in den deutschen Zeitschriften der Jahre 1974 bis 1979 dürfte ausgemachte Sache sein: „Wie ein Popstar beherrschte mein Freund Klaus in dieser kleinen Zeitspanne die Medien.“ (Chotjewitz 2007: 24) Angehöriger einer älteren Generation, galt er eher als Bonvivant und Frauenheld, ja Chotjewitz-Rezensent Klaus Walter (2007) lässt ihm gar das hübsche Kompliment „frankophiler Käselutscher“ angedeihen, das er seinerseits von Hans-Dieter Hüsch, Franz Joseph Degenhardt und anderen übernimmt. 16 Öffentliche Bekanntheit verdankte Croissant allerdings seiner Tätigkeit als RAF-Anwalt. Vor allem soll seine Kanzlei ein kommunikativer Knotenpunkt in der Koordination der terroristischen Aktionen gewesen sein, die nach Möglichkeit mit Stammheim rückgekoppelt werden mussten. Stefan Aust kommentiert zu den Anschuldigungen: „Tatsächlich spielte Klaus Croissant seit geraumer Zeit in seinem Büro überhaupt keine Rolle mehr. Das Kommando hatten dort andere […].“ (Aust 1997: 477) Ob zu Unrecht oder nicht: Die Behörden lasteten dem Anwalt die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung an. Croissant hatte sich daraufhin am 11. Juli 1977 nach Frankreich abgesetzt und dort politisches Asyl beantragt. Am 30. September wurde er verhaftet. Nach den Todesfällen in Stammheim und der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer erhöhte die deutsche Regierung offenbar den diplomatischen Druck auf die Franzosen. Croissant wurde ausgeliefert. Die Vermutung liegt nicht fern, dass die französische Affäre Croissant in nicht unerheblichem Maße im Zeichen der Stammheim-Präzedenz stand. Angesichts der Anwesenheit des RAF-Anwalts im eigenen Land wurde die Terrorismusfrage, die Sartre durch seinen Besuch in Stuttgart seinerseits situiert hatte, abermals aufgerollt. Jean Genet (2. September 1977), offensiv, Gilles Deleuze/ Félix Guattari (2. November 1977), moderater, ließen Rechtfertigungen der Baader-Meinhof-Organisation in ihren jeweiligen Artikeln 16 Nämlich aus einem Lied der Formation Quartett 67, dem Hüsch und Degenhardt angehörten. Dieses Lied trägt den Titel: Für wen wir singen. Albrecht Buschmann, dem ich auf diesem Weg für seinen Hinweis danke, weist in der Diskussion des vorliegenden Beitrages darauf hin, dass das Persönlichkeitsprofil des Bonvivant auf ein vollkommen entgegengesetztes Körperkonzept der Terroristen trifft. Diese praktizierten insbesondere nach ihrer Inhaftierung in Stammheim eine Selbsttechnik der Askese (vgl. Bogdal 2008) und begriffen ihren ‚Körper als Waffe’ (vgl. Winkler 2007: 230ff.). <?page no="265"?> Stammheim und die Affäre Croissant 241 für Le Monde erkennbar werden. 17 Dem gegenüber wirkt Foucaults Demonstration vor der Santé und die Artikel und Interviews, die er in dieser Zeit veröffentlichen ließ, wie eine Geste, die man zunächst als Distanzierung von jeglichem Sympathisantentum auffassen kann. Sie geht aber weit darüber hinaus, weil sie das Bemühen zu erkennen gibt, sich den diskursiven Vorgaben der öffentlichen Debatte zu entziehen. Der kommunikative Gehalt liegt dabei womöglich in der Unterlassung. Der Historiograph des Strukturalismus François Dosse stilisiert die Affäre Croissant zum Wendepunkt im Denken und Handeln Foucaults. Mit seinem Engagement zugunsten des RAF-Anwalts sei er - so Dosse - auf die Linie Sartres eingeschwenkt, 18 sein praktischer Humanismus habe ihn mit dem intellektuellen Engagement ausgesöhnt und zudem zu den Grundwerten der Demokratie zurückfinden lassen. L’affaire Croissant est un moment décisif, car Foucault se situe au strict plan du respect des droits de la défense de l’avocat Croissant, sans cautionner d’aucune manière les pratiques terroristes de la bande à Baader. Cette position révèle une mise à distance critique par rapport à ses engagements d’hier, une manifestation de solidarité avec des valeurs démocratiques au nom desquellles il se bat […]. (Dosse 1992: 425) In der Tat scheint sich eine Annäherung an Sartre zumindest in der Häufigkeit ihres Aufeinandertreffens jener Tage anzuzeigen: „L’humanisme pratique de Foucault le conduit en fait à se réconcilier fondamentalement avec la manière dont Sartre considérait l’engagement intellectuel.“ (Dosse 1992: 426) Tatsächlich aber hatten sich Sartre und Foucault insbesondere durch die Studenten-Revolte in Vincennes und die marxistisch-maoistische Szene, an der beide Anfang der siebziger Jahre jeweils auf ihre Weise partizipierten, nie gänzlich aus den Augen verloren. Gegenläufig zu dieser These mag man die Affäre Croissant eher als die Verfestigung einer Tendenz sehen, welche der politischen Intervention Foucaults im Hinblick auf Sartre weiteres Profil verlieh. Zwar ist Dosse darin Recht zu geben, dass Foucaults politische Orientierung Mitte der siebziger Jahre eine Abkehr von der extremen Linken erkennbar werden lässt, nicht zuletzt durch das Erscheinen von Aleksander Solschenizyns Der Archipel Gulag (1974) (vgl. Eribon 1989: 282). Auch darf man die Affäre Croissant als Ereignis bezeichnen, im Zuge dessen sich die Wege von Foucault und Deleuze definitiv trennten (vgl. Dosse 1992: 425; Eribon 1989: 276). Dennoch sind ebenso Kontinuitäten auszumachen: So hatte Foucault in einem Gespräch mit Deleuze bereits Anfang der siebziger Jahre Überle- 17 Vgl. zum Artikel „Violence et brutalité“ von Genet den Auszug in Foucault (2004a: 287f.), in dem programmatisch die Brutalität des Staates von der Gewalt des Terrorismus unterschieden wird. Zum Artikel von Deleuze und Guattari vgl. Deleuze (2003: 134ff.) . 18 Für die Auseinandersetzung Sartre/ Foucault ist die Dokumentation bei Schiwy grundlegend (vgl. 1969: 203ff.). <?page no="266"?> Jan-Henrik Witthaus 242 gungen zum intellektuellen Engagement vorgelegt und diese nicht zuletzt durch sein Eintreten für die Verbesserung der Haftbedingungen in Frankreich unterstrichen. Durch die Trennung vom langen Weggefährten Deleuze war dieses Konzept nicht überholt. Auch Sartre hatte sein Bild des Intellektuellen inzwischen modifiziert. 19 Im Spiegel-Interview von 1973 verkündet er als Ergebnis seines Entfremdungsprozesses mit den aufständischen Studierenden von 1968: „Der Intellektuelle muß zu den Massen stoßen und sich ihnen zur Verfügung stellen.“ (Sartre 1973: 96) Diese Vorstellung konterkariert bereits die gesellschaftliche Sonderstellung des Engagements und liegt nicht allzu fern von den angeführten Einlassungen Fanons, nur hatte Sartre diese Rolle in seinem Sinne neu interpretiert. Durch seine konkreten Interventionen hatte er in actu vor Augen gestellt, dass die repräsentative Kraft seiner Figur der Revolte mitunter Protektorat vor der Brutalität der Polizei bescheren konnte. Demgegenüber bestand das zentrale Anliegen Deleuzes und Foucaults darin, das Repräsentationsverhältnis zwischen Theorie und Praxis, zwischen Subjekt und Handlung von vornherein auszuhebeln. Zwar wurde auch hier eine Sonderstellung des Intellektuellen durch das Vorhaben unterlaufen, schlicht den Unterprivilegierten, den Häftlingen zum Beispiel, die Bedingung der Möglichkeit des Sprechens einzuräumen, was man die Gegenstrategie einer ‚Transzendentalien stiftenden Praxis’ nennen könnte. Vor allem aber geht es um die Dekonstruktion eines repräsentativen Verhältnisses von Theorie und Praxis: „C’est en cela que la théorie n’exprimera pas, ne traduira pas, n’appliquera pas une pratique, elle est une pratique. Mais locale et régionale, comme vous le dites: non totalisatrice.“ (Foucault 1994a : 308) Die intellektuelle Intervention besteht aus gegenläufigen Diskursen, Praktiken, Medien, ja man könnte behaupten, im Spiel der Macht geht es um die Einrichtung von kleinen Gegen-Dispositiven. 20 Vor dieser Folie scheint Foucaults Engagement für Croissant keine emphatische Rückkehr zum Humanismus zu beinhalten - eine Vokabel, von der wir wissen, dass schon Sartre sie sehr eigenwillig interpretierte. Naheliegend als eine Konversions-Geste ist eine Abkehrbewegung nicht so sehr vom Sympathisantentum, sehr wohl aber vom okkupierten Denken, von einem diskursiven Zwang jener Tage, der darin bestand, über den Terrorismus reden zu müssen oder dies in einer bestimmten Form zu tun. Foucault 19 Vgl. zu einer Typologie des gesellschaftlichen Engagements zwischen ‚politischem Aktivismus‘ und ‚Gesellschaftskritik‘ die Äußerungen Giovanna Borradoris in: Habermas/ Derrida (2004: 23-28). Der Intellektuelle in Frankreich scheint zum zweiten Typ zu gehören, der immer schon auf dem Boden der Geschichte agiert und nicht wie der politische Aktivist Bertrand Russel auf philosophisch-universalistischer Grundlage sein Engagement entfaltet. 20 Ein Beispiel könnte die Gründung der unabhängigen Presseagentur Libération sein, aus der sich eine der zentralen französischen Tageszeitungen entwickeln wird (vgl. Eribon 1989: 266ff. und zu einer weiteren Stellungnahme Foucaults im Hinblick auf die Rolle des Intellektuellen Eribon 1989: 268). <?page no="267"?> Stammheim und die Affäre Croissant 243 hatte sich zuvor selten zu diesem Thema geäußert; wenn, dann aber mit erheblicher Skepsis: „[…] la terreur se révèle comme le mécanisme le plus fondamental de la classe dominante pour l’exercice de son pouvoir, sa domination, son hypnose et sa tyrannie.“ (Foucault 1994b: 83) Foucault spricht hier wohlgemerkt nicht vom Staatsterror, sondern von dem durch den Staat in den Dienst genommenen Terrorismus. Diese Einschätzung erscheint heute im Rückblick weniger paranoid, da man nunmehr beginnt, die Rolle der V-Leute und des Verfassungsschutzes in der Entstehungsphase der Baader-Meinhof-Organisation zu rekonstruieren (vgl. Winkler 2007: 68ff.). Noch deutlicher als diese Äußerung, die einem Interview mit einer japanischen Zeitschrift entstammt, scheint allerdings Foucaults Schweigen zu Stammheim zu sein. 21 Erinnern wir uns, dass Sartre Baader besuchte, um gegen die Haftbedingungen zu protestieren. Foucault, der sich wie kein Zweiter mit der Geschichte und Aktualität des Strafvollzugs befasst hat und nicht zuletzt als Mitgründer des Groupe d'information sur les prisons figurierte (vgl. Eribon 1989: 237ff.), musste vom Thema der Haftbedingungen in Stammheim, sodann vom Bau eines komplett neuen Gefängnistraktes sehr eingenommen gewesen sein. Es ist vollkommen undenkbar, dass die Proteste der RAF gegen die Haftbedingungen, die zudem durch Sartres Präsenz vor Ort einen so sinnfälligen Ausdruck gefunden hatten, seiner Aufmerksamkeit entgangen waren. Sein Schweigen in dieser Sache ist, wie man so sagt, beredt. 22 Die Demonstration gegen die Auslieferung Croissants versteht sich in diesem Sinne - wie auch Dosse schreibt - als Distanzierung vom Terrorismus wie vom Sympathisantentum gleichermaßen. Mehr noch scheint es sich um eine Entbindung von den Regeln der öffentlichen Debatte zu handeln, die eine Positionierung hinsichtlich der RAF zu erwarten, zu fordern schien. Foucault umgeht diesen Erwartungshorizont komplett. Er tritt für das Asylrecht eines Anwalts ein. Anders als Deleuze oder Genet spricht er bei der ersten Gelegenheit im Nouvel Observateur nur peripher vom RAF- Terrorismus. 23 Was ihn vielmehr zu interessieren scheint, sind eine historische Einholung des politischen Verbrechens und die Reaktionen der Staaten sowie die daraus resultierenden Asylrechtkonventionen. Seine These besteht grob gesagt darin, dass im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, in dem eine sehr klare Vorstellung vom politisch motivierten Verbrechen herrschte, die Weltkriege zu einer vollkommen unübersichtlichen Einschätzung dessen geführt hätten, was denn als ‚politisches Verbrechen‘ zu definieren sei. Eine Folge sei einerseits die Ausweitung des Asylrechts und andererseits die Restriktion der Auslieferungsregelungen gewesen, eben weil die Existenz 21 Vgl. zur Geste des Schweigens Flusser (1994: 42). 22 Zumindest sind mir keine Äußerungen bekannt. 23 Der Titel des Artikels lautet „Va-t-on extrader Klaus Croissant ? “ (vgl. Foucault 1994c: 361ff.). <?page no="268"?> Jan-Henrik Witthaus 244 totalitärer Regime dem Status quo sehr viel strengere Beschreibungen der politischen Subversion hinzugefügt hatte. Die Affäre Croissant wird zum Prüfstein einer umgekehrten Tendenz, derlei Rechte in der Terrorbekämpfung wieder abzubauen. Foucault spricht bei dieser Errungenschaft von einem ‚Recht der Regierten‘, der „gouvernés“, und er fügt hinzu: „Ce droit est plus précis, plus historiquement déterminé que les droits de l’homme: il est plus large que celui des administrés et des citoyens; on n’en a guère formulé la théorie.“ (Foucault 1994c: 362) Das kleine historische Repetitorium verlagert den argumentativen Schwerpunkt und führt zu einer These, die uns angesichts der gegenwärtigen Lage und der eingangs zitierten Hinweise Prantls vollkommen schlüssig und naheliegend erscheint: Der Terrorismus führt zu einem Abbau der Rechte der Regierten. Nicht nur das Asylrecht zählt zu diesen Rechten der Regierten, sondern überhaupt der Anspruch darauf, sich vor Gericht von einem Anwalt vertreten zu lassen, was man eben gegenwärtig, so Foucault, der Gruppe um Baader verweigere. Es dürfte deutlich geworden sein: Foucault spricht nicht über die Gewalt, er spricht über Rechte und juristische Kategorien. Aber was - so möchte man fragen - meint Foucault hier mit den ‚ Regierten‘, deren Rechte verteidigt werden sollen? Foucault wird deutlicher in einem Interview der Zeitschrift Tribune socialiste (Parti socialiste unifié), in dem nicht das ‚politische Verbrechen‘, sondern nunmehr der Terrorismus abermals mit den spitzen Fingern des Historikers regelrecht seziert wird (vgl. Foucault 1994e: 383ff.). Dies geschieht vorrangig durch die Destruktion einer Denkfigur, die dem gewaltsamen Widerstand der Nachkriegszeit zur Legitimierung gedient hatte und der die intellektuelle Erpressung des Für oder Wider an den Schuhsohlen klebte: Gemeint ist die Annahme, dass der deutsche Polizeistaat bruchlos an den Faschismus angeknüpft habe, oder aber, dass die moderne Demokratie ihre faschistoiden Strukturen lediglich verschleiere, die die RAF durch ihre Herausforderung wieder sichtbar werden ließ. 24 Zu derlei Positionen, die den Faschismus im Herzen der westlichen Demokratien witterten, unterhielt Foucault selbst geraume Zeit Affinitäten. Dem hält er nunmehr eine andere Analyse entgegen, welche die Demokratie als Sicherheitsstaat beschreibt, deren oberste Priorität, die Sicherheit, gleichsam die rechtlichen Errungenschaften gefährde, die er gleichwohl mit sich bringe: Aujourd’hui, le problème frontalier ne se pose guère. Ce que l’État propose comme pacte à la population, c’est : «Vous serez garantis.» Garantis contre tout ce 24 Zentral in der Analyse des deutschen Ordo-Liberalismus und seiner Absetzbewegung von der faschistischen Vergangenheit ist Foucaults ein wenig spekulative, aber dadurch nicht weniger brillante Auslegung eines Satzes aus Ludwig Ehrhards Rede vor der 14. Vollversammlung des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes am 21. April 1948 in Frankfurt am Main (vgl. hierzu die Vorlesungen zur Biopolitik, Foucault: 2004b: 82ff.). <?page no="269"?> Stammheim und die Affäre Croissant 245 qui peut être incertitude, accident, dommage, risque. Vous êtes malade ? Vous aurez la Sécurité sociale ! Vous n’avez pas de travail? Vous aurez une allocation de chômage ! Il y a un raz de marée? On créera un fonds de solidarité ! Il y a des délinquants ? On va vous assurer leur redressement, une bonne surveillance policière ! (Foucault 1994e: 385) Sozialsysteme und Arbeitslosenversicherung, Hilfsfonds in Notfällen verwalten und antizipieren die permanent von den Individuen befürchteten Sicherheitsrisiken. In diesen Satz faltet sich das gesamte Konzept der Biopolitik ein, das in La volonté de savoir (1976) schon seinen Entwurf fand, dann aber in den Vorlesungen zur Gouvernementalität weiter ausgearbeitet und modifiziert wird. In Tribune socialiste heißt es entsprechend, die Bedingung der Möglichkeit der Existenz des Terrorismus sei nicht der faschistische Staat, sondern der Sicherheitsstaat: Ce qui choque absolument dans le terrorisme, ce qui suscite la colère réelle et non pas feinte du gouvernant, c’est que précisément le terrorisme l’attaque sur le plan où justement il a affirmé la possibilité de garantir aux gens que rien ne leur arrivera. (Foucault 1994e: 385f.) Mit anderen Worten: Der Terrorismus ist kein historisches Komplementär- Phänomen des Faschismus, sondern des Sicherheitsstaats, eben weil er diesen genau auf der Ebene attackiert, die den Knotenpunkt seiner Organisation markiert: die Sicherheitsgarantie für all seine Einwohner. Nunmehr mag auch der Typus des Engagements deutlicher werden, das Foucault als das Eintreten für die ‚Rechte der Regierten‘ fasst. 25 Die historische Ausgangslage des politischen Widerstandes entspricht nicht länger totalitären Bedingungen. Am eigenen Leibe hat Foucault die Unterschiede zwischen Diktatur und Demokratie erfahren dürfen, nämlich als er 1975 den agonisierenden Franquismus kennenlernen durfte, um für zum Tode verurteilte Regimekritiker einzutreten (vgl. Eribon 1989: 279ff.). Die Verteidigung der ‚Rechte der Regierten‘ setzt an den Strategien moderner Politik an, die im Namen des Sicherheitspaktes die persönlichen Freiheiten und Rechte der somit Reglementierten und Regierten kassiert. Kritikfähigkeit bestehe eben in dem Bemühen, sich weniger regieren zu lassen oder sich nicht um einen zu hohen Preis regieren zu lassen. Diese Maxime, sich weniger regieren zu lassen, gilt freilich ebenso für die diskursiven Regeln der öffentlichen Debatte selbst. Michel Foucault hat später in seinem Aufsatz über Immanuel Kants „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? “ zu verstehen gegeben, man müsse sich dieser Frage jenseits der moralischen Erpressung, entweder ‚für oder gegen’ die Aufklärung zu sein, stellen (vgl. Foucault 1994f: 571f.). Reziprok hierzu behandelt er die Frage der RAF jenseits des Desiderats, Stellung zu beziehen, Solidarität zu bekunden oder 25 Es handelt sich hierbei nicht um sein letztes Wort zum intellektuellen Engagement. Vielmehr wird er im Zuge seiner Berichterstattung über die revolutionären Ereignisse im Iran ein neues journalistisches Konzept entwerfen. Zu Foucaults Iran-Aufenthalt vgl. Eribon (1989: 298ff.) und Lemke (1997: 316ff.). <?page no="270"?> Jan-Henrik Witthaus 246 dies eben zu unterlassen. Jenseits von Jean-Paul Sartre in Stammheim deplaziert dieser Gestus die Koordinaten der öffentlichen Diskussion und die Regeln ihrer Realisierung. Literaturverzeichnis Stefan Aust, Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 2 1997 [1985]. Klaus-Michael Bogdal, Verändern oder Sterben: Imperative der Revolte, in: Nicole Colin/ Beatrice de Graaf/ Jacco Pekelder/ Joachim Umlauf (Hrsg.), Der ‚Deutsche Herbst’ und die RAF in Politik, Medien und Kunst. Nationale und internationale Perspektiven, Bielefeld 2008, 124-130. Karl Heinz Bohrer, Fantasie, die keine war [2001], in: Zeit-Online. URL: http: / / www. zeit.de/ 2001/ 07/ 200107_68iger.xml (13.10.2008). Peter O. Chotjewitz, Mein Freund Klaus, Berlin 2007. Annie Cohen-Solal, Sartre, Paris 1985. Gilles Deleuze, Deux régimes de fous et autres textes (1975-1995), hrsg. von David Lapoujade, Paris 2003. Martin Dornberg, Gewalt und Subjekt. Eine kritische Untersuchung zum Subjektbegriff in der Philosophie Jean-Paul Sartres, Würzburg 1989. François Dosse, Histoire du structuralisme. 2 Bde. Bd. 2: Le chant du cygne, Paris 1992. Didier Eribon, Michel Foucault (1926-1984), Paris 1989. Frantz Fanon, Les damnés de la terre, Paris 1979. Michel Foucault: Les intellectuels et le pouvoir, in: ders.: Dits et écrits. 1954-1988, 4 Bde. Bd. 2: 1970-1975, hrsg. v. Daniel Defert/ François Ewald, Paris 1994, 306-315. (1994a) Michel Foucault: Le savoir comme crime, in: ders.: Dits et écrits. 4 Bde. 1954-1988. Bd. 3: 1976-1979, hrsg. v. Daniel Defert/ François Ewald, Paris 1994, 79-85. (1994b) Michel Foucault: Va-t-on extrader Klaus Croissant? , in: ders.: . Dits et écrits. 4 Bde. 1954-1988. Bd. 3: 1976-1979, hrsg. v. Daniel Defert/ François Ewald, Paris 1994, 361-365. (1994c) Michel Foucault: Désormais, la sécurité est au-dessus des lois, in: ders.: Dits et écrits. 4 Bde. 1954-1988. Bd. 3: 1976-1979, hrsg. v. Daniel Defert/ François Ewald, Paris 1994, 366-368. (1994d) Michel Foucault: La sécurité et l’Etat, in: ders.: Dits et écrits. 4 Bde. 1954-1988. Bd. 3: 1976-1979, hrsg. v. Daniel Defert/ François Ewald, Paris 1994, 383-388. (1994e) Michel Foucault: Qu’est-ce que les Lumières? , in: ders.: Dits et écrits. 4 Bde. 1954- 1988. Bd. 4: 1980-1988, hrsg. v. Daniel Defert/ François Ewald, Paris 1994, 562- 578. (1994f) Michel Foucault, Sécurité, territoire, population. Cours au Collège de France. 1977- 1978, hrsg. von François Ewald/ Alessandro Fontana/ Michel Senellart, Paris 2004. (2004a) Michel Foucault, Naissance de la Biopolitique. Cours au Collège de France. 1978-1979, hrsg. v. François Ewald/ Alessandro Fontana/ Michel Senellart, Paris 2004. (2004b) Vilém Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt a.M. 1994. Sigmund Freud, Der Moses des Michelangelo. Schriften über Kunst und Künstler, Frankfurt a.M. 1993. <?page no="271"?> Stammheim und die Affäre Croissant 247 Gius Gargiulo/ Otmar Seul (Hrsg.), Terrorisme - L’Italie et l’Allemagne à l’épreuve des années de plomb, 1970-1980. Réalités et représentations du terrorisme, Paris 2008. Jürgen Habermas/ Jacques Derrida, Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori, Darmstadt 2004. Thomas Hecken, Avantgarde und Terrorismus. Rhetorik der Intensität und Programme der Revolte von den Futuristen bis zur RAF, Bielefeld 2006. Hans Egon Holthusen, Sartre in Stammheim. Zwei Themen aus den Jahren der großen Turbulenz, Stuttgart 1982. Angelika Ibrügger, Die unfreiwillige Selbstbespiegelung einer lernenden Demokratie. Heinrich Böll als Intellektueller zu Beginn der Terrorismusdiskussion, in: Nicole Colin/ Beatrice de Graaf/ Jacco Pekelder/ Joachim Umlauf (Hrsg.), Der ‚Deutsche Herbst’ und die RAF in Politik, Medien und Kunst. Nationale und internationale Perspektiven, Bielefeld 2008, 156-169. Martin Jander, Isolation oder Isolationsfolter. Die Auseinandersetzung um die Haftbedingungen der RAF-Häftlinge, in: Nicole Colin/ Beatrice de Graaf/ Jacco Pekelder/ Joachim Umlauf (Hrsg.), Der ‚Deutsche Herbst’ und die RAF in Politik, Medien und Kunst. Nationale und internationale Perspektiven, Bielefeld 2008, 141-155. Siegfried Jüttner, Führer, Volk und Nation. Zum Bild des Führers im Werk von Aimé Césaire, in: Romanische Zeitschrift für Literaturgeschichte 6, 1982, 138-168. Lothar Knapp, Die anthropologie synthétique und der Existentialismus, in: Rudolf Behrens/ Roland Galle (Hrsg.), Historische Anthropologie und Literatur. Romanistische Beiträge zu einem neuen Paradigma der Literaturwissenschaft, Würzburg 1995, 227-239. Reinhard Krüger, Le regard aliéné sur la réalité maghrébine: Isabelle Eberhardt, Albert Camus et Frantz Fanon aux origines de la littérature maghrébine, Typoskript, Berlin 2008. Thomas Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Berlin, Hamburg 1997. Maurice Merleau-Ponty, Humanisme et terreur. Essai sur le problème communiste, Paris 1980. Heribert Prantl, Der Terrorist als Gesetzgeber. Wie man mit Angst Politik macht, München 2008. Rolf Sachsse, Pentagramm hinter deutscher Maschinenpistole unter Russisch Brot. Zur Semiosphäre der Erinnerung an die Rote Armee Fraktion, in: Nicole Colin/ Beatrice de Graaf/ Jacco Pekelder/ Joachim Umlauf (Hrsg.), Der ‚Deutsche Herbst’ und die RAF in Politik, Medien und Kunst. Nationale und internationale Perspektiven, Bielefeld 2008, 131-140. Jean-Paul Sartre, Volksfront nicht besser als Gaullisten, in: Der Spiegel, 7/ 12.2.1973, 84-98. Jean-Paul Sartre, La mort lente d’Andreas Baader, in: Libération.fr. URL: http: / / etoilerouge.chez-alice.fr/ docrevinter/ allemagne1.html (13.10.2008) [Libération, 301/ 7.12.1974]. Günther Schiwy, Der französische Strukturalismus. Mode, Methode, Ideologie. Mit einem Textanhang, Reinbek bei Hamburg 1969. Klaus Walter, Wütende Jakobiner [2007], in: taz.de. URL: http: / / www.taz.de/ 1/ leben/ buch/ artikel/ 1/ wuetende-jakobiner/ ? src=SZ&cHash=e356e03242 (13.10.2008). <?page no="272"?> Jan-Henrik Witthaus 248 Willi Winkler, Die Geschichte der RAF, Berlin 2007. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1984. Franz Wördemann, Terrorismus. Motive, Täter, Strategien, München, Zürich 1977. <?page no="273"?> Silke Segler-Meßner Obsessionen des Erotischen - Inszenierung von Sexualität in der littérature scandale (Michel Houellebecq, Christine Angot) 1. 1968 oder die Politisierung des weiblichen Körpers Das Auftauchen des weiblichen Subjekts auf der politischen Bühne Frankreichs steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Ereignissen im Mai und Juni 1968. 1 Mit der ebenso symbolischen wie provokativen Niederlegung eines Kranzes am Grab des unbekannten Soldaten in Paris am Arc de Triomphe in memoriam der Frauen, die stets im Schatten der kämpfenden Nationalhelden lebten, demonstrieren einige französische Frauenrechtlerinnen am 26. August 1970 nicht nur ihre Solidarität mit den streikenden amerikanischen Feministinnen, sondern verweisen gleichzeitig auf den blinden Fleck im Bewusstsein der linken Revolutionäre: die Befreiung der Frau aus ihrem Zustand historischer Unsichtbar- und Unmündigkeit. Auch wenn Simone de Beauvoir bereits 1949 in Le deuxième sexe den Ausschluss des weiblichen Subjekts aus der europäischen Kulturgeschichte thematisiert und den sozialen Konstruktcharakter der Geschlechterrollen herausgestellt hatte, 2 profitierte der Feminismus doch maßgeblich erst von der revolutionären Dynamik, die der Mai 1968 als Ausnahmesituation entfesselte. Die radikale Politisierung des Privaten und die Notwendigkeit des ‚prendre parole’ konstituierten den Rahmen für eine ebenso subjektive wie politische Revolution der Geschlechterbeziehungen (vgl. Achin/ Naudier 2008: 385). Eng verbunden mit der Erkenntnis einer notwendigen Befreiung der Frauen aus den hierarchischen Strukturen einer patriarchalen Gesellschaft ist die 1 Vgl. Rochefort (2008: 538), die in diesem Zusammenhang von der „insurrection féministe“ spricht und in der Kranzniederlegung am Arc de Triomphe ein feministisches Gründungsereignis sieht: „Le 26 août 1970, quelques femmes déposent une gerbe de fleurs sur la tombe du soldat inconnu à l’Arc de Triomphe, affichant sur leurs banderoles: ‚Il y a plus inconnu que le soldat, sa femme! ‘, ,Un homme sur deux est une femme‘. La symbolique est forte et le questionnement d’une évidence inouïe. Se saisir ainsi d’un tel lieu de mémoire nationale relève d’une dérision hautement provocatrice, une arme qui deviendra caractéristique de cette nouvelle génération féministe. Les médias ne s´y trompent pas, qui déclarent la naissance du Mouvement de libération des femmes (MLF). C’est en effet l’amorce d’une vaste mobilisation féminine, l’apparition d’un sujet ‚femmes‘ sur la scène politique française.“ 2 Zum Einfluss Beauvoirs auf den französischen Feminismus vgl. Chaperon (2000). <?page no="274"?> Silke Segler-Meßner 250 Fokussierung auf die Sprache als Ort der Verhandlungen gesellschaftlicher Machtverhältnisse und gleichzeitig auf den weiblichen Körper als Ort der Einschreibung einer repressiven Sexualmoral, welche durch das Primat der bürgerlichen Ehe die Frau auf den Status eines willfährigen Objektes des männlich konnotierten Machtwillens reduzierte. In den siebziger Jahren entlarven französische und deutsche Feministinnen in Abgrenzung zur dominant männlichen Perspektive in den linken gesellschaftskritischen Diskursen und Aktionen den vermeintlichen Besitz des Logos als primär männlichen Herrschaftsakt, der die Frau zum Schweigen verurteile. 3 Der Enthüllung diskursiver Unterdrückungsmechanismen männlicher Rede korrespondiert die Suche nach eigenen Ausdrucksformen, nach einem jouir sans entrave, das traditionelle Tabus bezüglich der Wahrnehmung weiblicher Sexualität und der Beschreibung des Frauenkörpers sprengt. In dem Kultbuch der französischen Feministinnen Les guérillières von Monique Wittig wird die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts auf die männliche Aneignung der Welt durch Sprache zurückgeführt: Elles disent, malheureuse, ils t’ont chassée du monde des signes, et cependant ils t’ont donné des noms, ils t’ont appelée esclave, toi malheureuse esclave. Comme des maîtres ils ont exercé leur droit de maître. Ils écrivent de ce droit de donner des noms qu’il va si loin que l’on peut considérer l’origine du langage comme un acte d’autorité émanant de ceux qui dominent. (Wittig 1969: 162) Mitte der siebziger Jahre findet Wittigs Utopie einer Frauengemeinschaft, die sich auf vorsprachliche Symbole wie den Vulvaring gründet, breites Echo in weiblicher Selbsterfahrungsliteratur, die den Zusammenhang von Sexualität, écriture und gender zu reflektieren sucht. Das Pendant zu Les guérillères bildet Verena Stefans autobiographischer Text Häutungen, der beredtes Zeugnis von der geforderten Entwicklung eines frau-Sprechens ablegt: Mit dem wörtchen ‚man’ fängt es an. ‚man’ hat, ‚man’ tut, ‚man’ fühlt ..: ‚man’ wird für die beschreibung allgemeiner zustände, gefühle, situationen verwendet - für die menschheit schlechthin. entlarvend sind sätze, die mit „als frau hat ‚man’ ja ...“ beginnen. ‚man’ hat als frau keine identität. frau kann sie nur als frau suchen. Als ich über empfindungen, erlebnisse, erotik unter frauen schreiben wollte, wurde ich vollends sprachlos. Deshalb entfernte ich mich zuerst so weit wie möglich von der alltagssprache und versuchte, über lyrik neue wege zu finden. naturvergleiche sind naheliegend. frau - natur scheint ein abgedroschenes thema zu sein - von männern abgedroschen und missbraucht. (Stefan 1975: 4) Das eigentliche Skandalon sowohl für das männliche als auch für das weibliche Lesepublikum in Stefans Erzählung einer weiblichen Selbstfindung ist jedoch weniger die Denunzierung des männlichen Herrschaftsgestus als die detaillierte Schilderung weiblicher Körperempfindungen, die von Beschreibungen der prämenstruellen Beschwerden bis zu Sprachspielereien mit Brüsten, Schamlippen und Gebärmutter reicht (vgl. Osinski 1998: 70). 3 Zu der Genese des französischen Feminismus vgl. Osinski (1998: 55-66). <?page no="275"?> Obsessionen des Erotischen 251 Die Frage, ob die Fokussierung auf die weiblichen Genitalien oder auf den Akt der Penetration bereits ein subversives Unterwandern patriarchal verkrusteter Sprachmuster impliziert, war bereits in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts umstritten, erlebte jedoch mit der Publikation einer Reihe vermeintlich skandalöser Texte an der Schwelle zum 21. Jahrhundert eine Renaissance. Liefert die Veröffentlichung von Houellebecqs Les particules élémentaires in Analogie zu Martin Walsers Tod eines Kritikers ein exemplarisches Beispiel für die mediale Inszenierung eines Literaturskandals, der insbesondere durch die reaktionären Aussagen des Autors in Interviews genährt wird, so besetzen Autorinnen wie Virginie Despentes mit Baise-moi (1994), Catherine Millet mit La vie sexuelle de Catherine M. (2000) und Christine Angot mit L’inceste (1999) das extra für sie neu geschaffene literarische Feld der „Nouvelles Scandaleuses“, 4 die mit bisherigen Darstellungsformen weiblicher Lust in gewaltvoll-spielerischer Form brechen. 5 Im Zentrum der Texte dieser neuen Autorinnengeneration steht die Inszenierung einer ‚befreiten’ weiblichen Sexualität, die zum Vexierspiegel gesellschaftlicher Verhältnisse wird. Erscheint die Frau auf der einen Seite als Objekt und gleichzeitig als Opfer männlicher Lust und Macht, so tritt sie auf der anderen Seite als entfesseltes Subjekt sexueller Begierden in Erscheinung, die feministische Tabus unterlaufen, welche durch die Radikalisierung der Frauenbewegung im Anschluss an Mai 1968 entstanden sind. In Fortführung der emanzipatorischen Geständniskultur, in der Frauen im Zuge der Suche nach einer dezidiert weiblichen Identität einander die Geheimnisse ihres Körpers offenbaren, wandelt sich das Intime zum öffentlichen Raum, wird der Text zum Medium eines Voyeurismus, der mal in einem emotionslos-dokumentarischen Darstellungsmodus wie im Falle Catherine Millets, mal in einem proliferierenden Umkreisen aller Gedanken, Emotionen und Eindrücke des Sujet Angot 6 den Leser bzw. die Leserin zum Komplizen eines skandalösen Exhibitionismus des erotischen Körpers werden lässt (vgl. Struve 2005: 19-38). In der Gegenüberstellung von Michel Houellebecqs narrativer Auseinandersetzung mit den kapitalistischen Wandlungen postmoderner Sexualität und Christine Angots Exzess narrativer Geständnisse ihres persönlichen Intimlebens, in denen weniger ein aufgeklärter Verstand als ein versehrter Leib die Wahl des Sujets und den Modus der écriture bestimmen, möchte ich in meinem Beitrag den Zusammenhang zwischen dem Diskurs über Sexualität nach 1968 und seiner literarischen Vermittlung fokussieren. Ausgehend von der These, dass die Grenzen zwischen Intimität und Öffentlichkeit in den Texten neu verhandelt werden, stellt sich die Frage nach den medialen 4 France Inter lancierte unter dem Label „Nouvelles Scandaleuses“ 2001 eine Sendereihe, in der französische Schriftstellerinnen der Gegenwartsliteratur porträtiert wurden, die den erotischen Körper ins Zentrum ihrer Texte rücken, wie z.B. Virginie Despentes, Nelly Arcan und Christine Angot. 5 Zur Problematik des Tabubruchs vgl. Détrez/ Simon (2004). 6 So lautet der Titel eines Textes Angots, der 1998 erschienen ist. <?page no="276"?> Silke Segler-Meßner 252 Inszenierungsmustern. 7 Welche spezifisch literarischen Elemente lassen sich als ‚skandalös’ qualifizieren? Wenn der Text zum Medium einer körperlichen Symptomatik wird und seinen Zeugnischarakter als Strategie der Authentifizierung offen darlegt, wie es bei Angot der Fall ist, handelt es sich dann um eine ‚neue’ Darstellungsform, welche die Aporien der Houellebecqschen Fixierung auf den Körper als Tauschware überwindet? 2. Die Exzesse sexueller Befreiung Der Erzähler in Houellebecqs Les particules élémentaires liefert mit der Figur Janines als Mutter der Protagonisten Bruno und Michel das Negativbeispiel für die Verabsolutierung des Wunsches nach sexueller Befreiung und nach Begründung selbstbestimmter Individualität. In Rebellion gegen ihre bürgerliche Herkunft begehrt Janine gegen ihre mütterlichen Pflichten auf und begibt sich stattdessen auf einen alternativen Weg der Selbsterfahrung, die sie zu einem gefühllosen Monster gegenüber ihren Söhnen mutieren lässt. Die Setzung einer instinktiven Mutterliebe wird in der Gestaltung ihrer Figur dekonstruiert, die in dem Ideal der Gleichberechtigung und der sexuellen Befreiung die Legitimation für egoistisches Konsumverhalten findet. Der Ausbruch aus den tradierten Rollenmustern wird hier nicht als Resultat der Herausbildung eines kritischen gesellschaftlichen Bewusstseins inszeniert, sondern dient als Vorwand für eine egoistische Triebbefriedigung, die stets auf der Suche nach neuen Stimuli und Reizen ist. 8 In Wiederaufnahme des klassischen Topos von Eva als sündhafter Verführerin und Zerstörerin des Paradieses repräsentiert Janine das ewig begehrende Weib, das die Gabe des Mitgefühls verloren und den sicheren Hort der bürgerlichen Familie vernichtet hat. Ihre Entwicklung ist zum einen auf den nach 1968 geforderten Prozess der Gleichstellung der Geschlechter zurückzuführen, der in ihrem Fall zum rücksichtslosen Insistieren auf dem Ausleben der individuellen Freiheit führt, und kann zum anderen als Symptom einer globalen Kapitalisierung abendländischer Sexualität gedeutet werden. In Umkehrung der Repressionshypothese Michel Foucaults, aus dessen Sicht die Sexualität im Rahmen des Aufstiegs des Kapitalismus im 19. Jahrhundert zum Appendix der Geschichte verkommt, funktioniert Sexualität in Les particules élémentaires ausschließlich nach marktwirtschaftlichen Gesetzen. Der Körper wird zu einer Tauschware, deren Wert sich lediglich an Angebot und Nachfrage orientiert (vgl. Varrod 1998). 7 Die bislang einzige wissenschaftliche Untersuchung im deutschsprachigen Raum zum Thema der Inszenierung des erotischen Körpers aus weiblicher Sicht hat bislang Karen Struve publiziert, die sich mit den Texten von Christine Angot, Annie Ernaux und Catherine Millet im Zusammenhang mit dem Spannungsfeld zwischen Intimität und Öffentlichkeit beschäftigt, vgl. Struve (2005). 8 Zur problematischen, konfliktgeladenen Familienkonstellation in Houellebecqs Roman vgl. Lutotsch (2007: 145-152). <?page no="277"?> Obsessionen des Erotischen 253 Die Sexualität der Jahrtausendwende, in der es keine geheimen erotischen Phantasien mehr gibt, wird solcherart zum Zerrspiegel jener Forderungen nach Freiheit und Gleichheit, die nach dem Mai/ Juni 68 den gesellschaftlichen Diskurs prägten. In dem Maße, in dem in einem System nominell Gleichgestellter die Frage nach Selbstverwirklichung in den Vordergrund rückt, geht das gemeinschaftliche, christlich geprägte Ideal der Nächstenliebe ebenso verloren, wie die anthropologische Grundbestimmung des Menschen als soziales Wesen in Frage gestellt ist. Sexuelle Begegnungen basieren von nun an nur auf der spontanen erotischen Anziehungskraft zwischen Einzelnen und damit auf einer gnadenlosen Selektion der Schönen, Starken und sexuell Potenten. Damit hält der Kapitalismus auch in den Bereich der Sexualität Einzug, die Liebe als Basis der Intimbeziehungen wird in eine hierarchisierte domaine de la lutte verwandelt: Mais l’être humain est prompt à établir des hiérarchies, c’est avec vivacité qu’il aspire à se sentir supérieur à ses semblables. Le Danemark et la Suède, qui servaient de modèle aux démocraties européennes dans la voie de l’égalisation économique, donnèrent également l’exemple de la liberté sexuelle. De manière inattendue, au sein de cette classe moyenne à laquelle s’agrégeaient progressivement les ouvriers et les cadres - ou plus précisément, parmi les enfants de cette classe moyenne - un nouveau champ s’ouvrit à la compétition narcissique. (Houellebecq 1998: 82, Kursivierung im Original) 9 Der Kampf um eine privilegierte Ausgangsposition im Wettbewerb um einen attraktiven Sexualpartner wird durch das sich stetig ausdifferenzierende Angebot der Schönheitsindustrie begünstigt, die den Prozess des Alterns und damit den Verlust an sexueller Attraktivität durch die Suggestion ewiger Jugend aufzuhalten sucht. Die Figur Brunos illustriert in diesem Zusammenhang beispielhaft die Diskrepanz zwischen einem unstillbaren sexuellen Begehren und einer defizitären äußeren Erscheinung, die seine Möglichkeiten sexueller Begegnungen minimiert, was zu Minderwertigkeitsgefühlen, Selbsthass und Aggressivität gegenüber Schwächeren führt. 10 In der Inszenierung von Sexualität im Zeitalter eines globalisierten Kapitalismus und fortschreitenden Individualismus dominiert in Les particules élémentaires eine offen männlich markierte Perspektive, die sich in dem Augenblick als problematisch erweist, in dem sie sich der condition féminine zuwendet. Glorifizierung und Dämonisierung prägen dabei die Darstellung weiblicher Sexualität, d.h. entweder träumen die beiden Brüder von einer Zukunft ohne Männer, die im Gegensatz zur Annahme einer friedfertigen weiblichen Natur nur Leid und Schmerz provozieren 9 Vgl. in diesem Zusammenhang die Reflexionen von Jean-François Patricola (2005) in bezug auf die Ausdehnung der Provokation. 10 Für eine Diskussion der Haltung Brunos im Kontext einer posthumanen Erlebnisgesellschaft vgl. Tabbert (2007: 43-47). <?page no="278"?> Silke Segler-Meßner 254 (Stichworte: Krieg und Revolutionen), oder die Frauen werden als Opfer jenes emanzipatorischen Fortschritts präsentiert, der ihnen Selbstbestimmung und Autonomie versprach. Selbst jene weiblichen Figuren in Les particules élémentaires, die sich wie im Falle Christianes durch ein positivabgeklärtes Verhältnis zu ihrer eigenen Sexualität und zum Feminismus auszeichnen oder die wie Annabelle nach jugendlichen Ausschweifungen den Verlockungen stetig wechselnder Sexualpartner abschwören, sterben an den Folgen der sexuellen Befreiung des weiblichen Geschlechts. Während Christiane durch exzessiven Geschlechtsverkehr in einem Swinger-Club bewegungsunfähig liegen bleibt und sich schließlich umbringt, stirbt Annabelle an Gebärmutterkrebs, was mit ihrer Kinderlosigkeit aufgrund mehrfacher Abtreibungen in Zusammenhang gebracht wird: Il [le médecin] n’était pas réellement surpris: le cancer de l’utérus s’attaque souvent aux femmes dans les années qui précèdent la ménopause, et le fait de ne pas avoir eu d’enfants constituait un facteur d’aggravation du risque. (Houellebecq 1998: 343) Skandalös am Tod Christianes und Annabelles ist die offensichtlich reaktionär-kulturpessimistische Bewertung der weiblichen Variante sexueller Befreiung, die im unmittelbaren Vergleich mit den männlichen Modellen sexueller Promiskuität eindeutig negativere Folgen zeitigt. Angefangen mit der pathetisch aufgeladenen Schilderung der sozialen Depravation des kleinen Michel, der von seinem Vater aus den Händen einer vollkommen narzisstischen Mutter gerettet werden muss, über das nostalgische Verklären der im postmodernen Zeitalter zerstörten bürgerlichen Familie, in der das weibliche Geschlecht noch als Garantin des Mitgefühls und der emotionalen Fürsorge fungierte, wie im Falle von Brunos Großmutter, bis hin zum qualvollen Sterben aller Frauenfiguren - die These vom Feminismus bzw. von der Emanzipation als Ursprung allen gesellschaftlichen und sexuellen Übels erscheint an zentralen Stellen des Romans als Ausgangspunkt der fiktiven Abrechnung mit der 68er-Generation, die die sexuelle Befreiung zur Prämisse der Auflösung gesellschaftlicher Hierarchien erklärte. Dabei bleibt meines Erachtens offen, ob diese Behauptung ebenso als Provokation zu werten ist wie die Präsentation einer genmanipulierten posthumanen Rasse im Epilog. Die demonstrativ männliche Perspektive mag Teil eines autoreferentiell-ironischen Spiels mit den Konventionen einer aufgeklärt-fortschrittlichen westlichen Gesellschaft sein, gleichzeitig drängt sich jedoch der Verdacht auf, dass Jean-Jacques Rousseaus Moralisierung des weiblichen Geschlechts in Houellebecqs Texten ein Revival erlebt, was durch unverhohlen sexistische Aussagen und Inszenierungen des Autors in Interviews genährt wird und dem Zeitgeist wirtschaftlicher Rezession entspricht. <?page no="279"?> Obsessionen des Erotischen 255 3. Skandalöser Exhibitionismus und Voyeurismus Die immer wieder vorgebrachte These von der Zerstörung aller Tabus in der postmodernen Mediengesellschaft erfährt durch die öffentlichen Debatten um vermeintliche Skandaltexte eine Akzentuierung. In dem Maße, in dem Skandale etablierte Deutungsrahmen für (‚behauptete’) moralische Verfehlungen liefern, können sie als Kommunikationsprozesse qualifiziert werden, in denen von Handlungen, Ereignissen oder Zuständen erzählt wird, die auf soziale Normen verweisen, im öffentlichen Leben jedoch verschwiegen oder unbekannt waren. 11 Das Erzählte erhält dabei durch Strategien der Authentifizierung Wahrheitscharakter und wird als Grenzüberschreitung von der Öffentlichkeit wahrgenommen, was zu unterschiedlichen Reaktionen führt. Provokation und Empörung, die strukturellen Komponenten jedes revolutionären Engagements, bestimmen auch die mediale Inszenierung von Literaturskandalen, deren Rezeption jedoch eine gender-spezifische Differenzierung erkennen lässt. Während Houellebecq mit seinen Thesenromanen zu einem priviligierten Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung avanciert, was die umfangreiche Sekundärliteratur anschaulich dokumentiert, sind die „Nouvelles Scandaleuses“ zwar in aller Munde, erfahren jedoch weniger wissenschaftliche Aufmerksamkeit, was sicherlich nicht auf eine mindere literarische Qualität zurückzuführen ist. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erscheint es angesichts des allgemeinen Bewusstseins für den sozialen Konstruktcharakter von Geschlechterrollen obsolet, auf der Unterscheidung von Männer- und Frauenliteratur zu insistieren. Nach fast vierzig Jahren feministischer Revolte im Anschluss an die 68er-Revolution, die zur juristischen Gleichstellung der Geschlechter und zur Frauenquote geführt haben, scheinen die Autorinnen alle Bastionen gestürmt und alle Themen erobert zu haben. Gleichzeitig kann von einer gleichberechtigten Position der Schriftstellerinnen im Literaturbetrieb nicht die Rede sein. 12 Parallel zu Houellebecqs Publikation von Les particules élémentaires hat auch die Veröffentlichung von Christine Angots Text L’inceste einen Skandal provoziert, der nicht allein mit dem Tabubruch des öffentlichen Bekenntnisses, Opfer väterlichen Inzests gewesen zu sein, zu begründen ist, sondern gleichzeitig auf jenen skandalösen Exhibitionismus referiert, mit dem die Autorin ihren Körper und die Regungen ihres Ich präsentiert. Das eigentliche Skandalon der Texte von Angot resultiert nicht in der Mischung aus provokativen Thesen und Kynismus, den Peter Sloterdijk als Funktion der Künste in der bürgerlichen Gesellschaft betrachtete und den Houellebecq 11 Zur soziologischen Definition des Skandals vgl. Hillmann (1994: 788). 12 Zur Situation der französischen Schrifstellerin an der Schwelle zur Jahrtausendwende geben Nathalie Morello und Catherine Rodgers in ihrem Sammelband Nouvelles écrivaines: nouvelles voix? einen systematischen Überblick, sowohl auf der Ebene der Forschungsliteratur als auch auf der Ebene der literarischen Preispolitik, vgl. Morello/ Rodgers (2002: 7-45). <?page no="280"?> Silke Segler-Meßner 256 gekonnt in Szene setzt, 13 sondern in der narrativen Enthüllung ihres erotischen Körpers als Zentrum einer écriture, die sich weder als témoignage noch als autofiction qualifizieren lässt. In Quitter la ville, einem Text, in dem Christine Angot den Aufstieg und Fall von L’inceste in den französischen Medien minutiös dokumentiert, verwahrt sie sich massiv gegen jede Form medialer Instrumentalisierung, d.h. sie lehnt die Definition von L’inceste als eines autobiographischen Enthüllungsbzw. Schlüsselromans ebenso ab wie dessen Reduktion auf einen coup médiatique. Im Gegenzug beharrt sie angesichts des wiederholt vorgebrachten Vorwurfs einer authentischen Remodellierung ihrer Lebenswirklichkeit auf der uneingeschränkten Freiheit des Autors und dem Potential der Imagination, das durch die subversive Kraft der écriture ausgelöst wird. In Anlehnung an das Axiom Maurice Blanchots, demzufolge Negation und In-Frage-Stellung zentrale Momente des Literarischen konstituieren, beschreibt Angot das Schreiben als einen Prozess, der durch Entäußerung, Verausgabung und Neuschöpfung, durch die Spannung zwischen Objektivierung der eigenen Erfahrung und Subjektivierung charakterisiert ist: Je ne veux plus jamais entendre dire que ce n’est pas important la vie des écrivains, c’est plus important en tout cas que les livres. C’est la vie des écrivains qui compte. Savoir ce que c’est. On entend le mensonge et on entend la vérité, on entend le dedans et on entend le dehors, on est en soi et on est hors de soi, hors de soi, oui parfois hors de moi, en moi et hors de moi, pas folle, en moi et hors de moi, les deux, je prends la langue à l’intérieur et je la projette, dehors, la parole est un acte pour nous. C’est un acte quand on parle. Quand on parle c’est un acte. Et donc ça fait des choses, ça produit, des effets, ça agit. C’est un acte, ce n’est pas un jeu. Ce n’est pas un jeu, un ensemble de règles de toutes sortes. Ce n’est pas une merde de témoignage comme on dit. C’est un acte. C’est vraiment un acte. (Angot 2000: 12f.) Angot rekurriert auf das Paradox moderner Texte, die angesichts der Erfahrung der Unsagbarkeit die Begrenzung und den Mangel literarischen Sprechens thematisieren. Schreiben ist in ihrer Perspektive weder gleichzusetzen mit einem Spiel (Fiktion) noch mit einem vermeintlich dokumentarischen Zeugnis (Realität). Es ist eine Form des Handelns und damit ein ernstzunehmendes Engagement, das eine politische Funktion erhält. Die von den soixante-huitards propagierte Politisierung des Privaten realisiert sich paradigmatisch in Angots narrativer Zurschaustellung ihres traumatisierten Körpers, der als Ort der Verhandlung gesellschaftlicher Normen und Regulationsmechanismen präsentiert wird. Das subjektive Erleben des versehrten Ich bietet sich der Öffentlichkeit als Projektionsfläche individueller wie kollektiver Traumata und Begierden an - „[...] la mise en abyme de vous-même, qui déclenche sur vous un narcissisme collectif“ (Angot 2000: 29), heißt es in 13 Vgl. zu diesem Aspekt die weiterführenden Ausführungen Jochen Meckes, der den Thesenroman Houellebecqs innerhalb des literarischen Feldes am Ausgang des 20. Jahrhunderts zu verorten sucht, vgl. Mecke (2003: 198). <?page no="281"?> Obsessionen des Erotischen 257 einer reproduzierten Passage aus dem Brief eines Lesers in Quitter la ville. Die unentwirrbare Vermischung von individueller Lebensgeschichte, körperlichen Zeichen und kollektivem Erwartungshorizont, in den ein Text ab dem Zeitpunkt seiner Publikation gestellt ist, reflektiert sich in einem permanenten Wechsel der Erzählperspektive und in der Vermischung von Genres und Textsorten. In Quitter la ville reproduziert die Erzählerin die Reaktion von Verlegern und Publikum, indem sie Zeitungsausschnitte, Interviews, Telefonate und Briefe paraphrasierend wiedergibt und mit ihren eigenen Eindrücken und Empfindungen mischt. Die Aufhebung der narrativen Distanz zwischen Erzählen und Erleben, die mit den Folgen historischer Katastrophen wie den beiden Weltkriegen assoziiert wird, realisiert sich in L’inceste wie in Quitter la ville durch zwei Strategien: zum einen verweigert sich Angot einer Anonymisierung ihrer Erlebnisse. Durch die Namensidentität von Autorin, Erzählerin und Figur spielt sie mit dem autobiographischen Pakt und unterwandert ihn zugleich, insofern, als sie den Wahrhaftigkeitscharakter, die sincerité als Legitimationsstrategie der erzählten Geschichte in Frage stellt (vgl. Struve 2005: 62- 67). Zum anderen avanciert der Körper zum eigentlichen Erzählgegenstand, der untrennbar mit den beschriebenen Gefühlen, Gedanken und Reflexionen verbunden ist. In dem Maße, in dem die Erzählerin ihre sexuellen Erlebnisse, psychischen Probleme und physischen Verwundungen zur Schau stellt, wird der Leser bzw. die Leserin zum Komplizen bzw. zur Komplizin einer im Text als tabuisiert markierten Überschreitung der Grenzen zwischen Intimität und Öffentlichkeit. Zu den Hauptvorwürfen der katholisch-bürgerlichen Leserschaft zählt die Widmung des Textes L’inceste an Léonore, die Tochter Angots, die dadurch als primäre Adressatin der traumatischen Kindheitserfahrung fungiert. Die klassische Rollenverteilung zwischen Mutter und Tochter scheint damit ebenso aufgehoben wie das Verbot, zum Schutz der Persönlichkeitsrechte die Namen der erwähnten Personen nicht explizit zu nennen. Die Erzählerin selbst thematisiert diese Verdikte im Text, gegen die sie wider besseres Wissens verstößt. „Je ne devrais pas te le dédier, celui-là, ma belle Léonore, et gentille, comme tu m’as demandé d’ajouter.“ (Angot 1999, Kursivierung im Original), heißt es gleich zu Beginn und in einem Klammereinschub verweist sie auf das juristische Verbot, die echten Namen ihrer Figuren zu nennen - „Je n’ai pas le droit de mettre les vrais noms, l’avocate me l’a interdit, ni les vraies initiales“ (Angot 1999: 37) -, um dann en détail alle Namen und Initialen aufzulisten, die im Text vorkommen. Derartige Einlassungen haben autoreferentielle Funktion, insofern sie auf die Provokation als zentrale Erzählstrategie Angots verweisen, die durch die hergestellte Referentialität zur außertextuellen Biographie der Figuren an Intensität gewinnt. <?page no="282"?> Silke Segler-Meßner 258 4. Homosexualität und Inzest Zu den Kennzeichen des Skandals gehört die Aufdeckung eines Verhaltens oder Ereignisses, das konstitutiver Bestandteil gesellschaftlicher Wirklichkeit ist und zugleich im kollektiven Bewusstsein eine ausgeblendete Leerstelle markiert. Der Inzest zählt zu den markantesten und wirkungsvollsten Tabubrüchen. Er wird über die Grenzen von Generationen und Kulturen hinaus als pervertierte Form von Sexualität verurteilt. Bereits Angots Wahl des Titels ist demnach eine Provokation, die das Erzählte und das zu Lesende unter das Vorzeichen einer skandalösen Enthüllung stellt (vgl. Struve 2005: 74). Verwundert stellt der Leser bzw. die Leserin jedoch fest, dass der Text mit der Schilderung der dreimonatigen homosexuellen Beziehung zwischen der Ich-Erzählerin Christine Angot und der Ärztin Marie-Christine beginnt und die inzestuöse Beziehung mit dem Vater zunächst ausspart. Die Assoziation von Inzest und Perversion bildet jedoch den impliziten Fixpunkt für die Beschreibung und Reflexion der homosexuellen Erfahrung, die mit einer Krankheit gleichgesetzt wird, ausgelöst durch den väterlichen Missbrauch. Die innerfamiliäre Relation sieht die Erzählerin in der gleichgeschlechtlichen Intimbeziehung zu Marie-Christine und in dem mütterlichen Verhältnis zu Léonore gespiegelt, so dass es ihr unmöglich wird, zwischen den einzelnen Ebenen zu unterscheiden. In Bezug auf ihre Affäre mit einer Frau heißt es: „Baiser avec une femme, tu as raison, c’est de l’inceste.“ (Angot 1999: 33), und die Liebe zu ihrer Tochter - „La seule femme que j’aime, c’est Léonore pas elle.“ (Angot 1999: 17) - verliert ihren sakral-mütterlichen Charakter zugunsten einer eindeutigen Erotisierung, womit sie die aufgerufene Vorstellung der unbefleckten Empfängnis zugleich profanisiert: Léonore j’appelle Marie-Christine et Marie-Christine j’appelle Léonore je ne savais pas quand on l’a mise sur ma poitrine que c’était ça avoir une petite fille la Sainte Vierge séparée de l’Enfant je pleurais ne riez pas de Marie mon mari, veillait sur nous, Joseph, j’étais la mère du Christ et le Christ, les doigts de Marie- Christine avaient six ans de moins, j’accouchais Léonore Marie-Christine Marie- Christine Léonore Léonore Marie-Christine Marie-Christine Léonore Léonore Léonore Léonore Marie-Christine Léonore Léonore Léonore. (Angot 1999: 69) 14 Als Ursprung der Störung ihrer sexuellen Identität, die sich ebenso physisch in ihrer androgynen Erscheinung wie psychisch in zahlreichen Krisen, der Einnahme von Psychopharmaka, ständiger Therapie und regelmäßigen Klinikaufenthalten manifestiert, steht die zweijährige sexuelle Beziehung zu ihrem Vater, den sie erst mit vierzehn Jahren kennenlernt. Durch die Koinzidenz der Entdeckung der weiblichen Sexualität mit dem Streben nach väterlicher Anerkennung und Liebe, die sie bis zu ihrem 14. Lebensjahr entbehrt hat, kann sich die Erzählerin auch in der Retrospektive nicht des 14 Zu den christlichen Reminiszenzen im Zusammenhang mit der dargestellten Identitätsproblematik in Angots L’inceste vgl. Faerber (2002: 60). <?page no="283"?> Obsessionen des Erotischen 259 Eindrucks eines indirekten Einverständnisses ihrerseits bzw. einer Mitschuld erwehren, die fortan ihr sexuelles Erleben prägen wird. Der Erfahrung der Ohnmacht, zum sexuellen Liebesobjekt ihres Vaters degradiert zu werden, korrespondiert die Entdeckung von Lust an der Unterwerfung, die sie auch in der Beziehung zu Marie-Christine auslebt: „J´étais un chien, je cherchais un maître. Et je suis toujours un chien et je cherche toujours un maître. Quand il m´aboie à la gueule, comme Marie-Christine au téléphone hier.“ (Angot 1999: 188) Hin- und hergerissen zwischen Opfer- und Täterrolle gelingt es der Erzählerin weder, ihre Homosexualität zu akzeptieren, noch sich von ihrer Geliebten zu trennen. Die Erfahrung des Kontrollverlusts, der sie in dem inzestuösen Verhältnis mit ihrem Vater ausgeliefert war, manifestiert sich in einer tiefgreifenden Verunsicherung, so dass ihr Tagesablauf durch das Warten auf die Anrufe von Marie-Christine bestimmt wird. Die symbolische Übermacht des Vaters zeigt sich dabei in einer Glorifizierung des Phallus, der für Penetration und damit für Eroberung eines fremden Terrains steht. Die Zunge Marie-Christines wird mit dem Penis gleichgesetzt, so dass Homosexualität als pervertierter Zerrspiegel der realen gesellschaftlichen Verhältnisse erscheint, die nicht auf Gleichberechtigung, sondern auf Hierarchien basieren: „Un homme c’est mieux qu’une femme. (Comme amant.) Un médecin c’est mieux qu’un ouvrier, un Blanc c’est mieux qu’un Noir.“ (Angot 1999: 34) Das erzählende und erlebende Ich erweist sich als instabile Instanz, die unfähig ist zu handeln, nur auf Impulse von außen reagieren kann, so dass sich die Vorstellung einer selbstbestimmten weiblichen Identität als Trugschluss bzw. als unhaltbares Theorem erweist, an dessen Stelle die écriture als einzig mögliche Form der Selbstspiegelung tritt. In einem Beitrag zur posttraumatischen Spurensuche in literarischen Texten definiert Aleida Assmann Trauma als „körperliche Einschreibung [...], die der Überführung in Sprache und Reflexion unzugänglich ist und deshalb nicht den Status von Erinnerungen gewinnen kann.“ (Assmann (1999: 95) Die Unübersetzbarkeit traumatischen Erlebens in eine erzählbare Geschichte kann auf der einen Seite dazu führen, dass, wie Sigmund Freud in „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ hervorhebt, die betreffende Person das passiv erfahrene Trauma immer wieder ausagiert, sich jedoch dessen nicht bewusst ist (vgl. Freud 1999b: 129f.). Auf der anderen Seite ist insbesondere die Literatur als figurativer Raum dazu prädestiniert, die Reaktualisierung der Erinnerung in Szene zu setzen. Im Schreiben vollzieht sich die Konfrontation von autobiographischer Erfahrung und historischem Ereignis, kehrt die Erinnerung an das Unwiederbringliche zurück und schreibt sich in die Zwischenräume der Zeilen ein. Insofern der erfahrene Inzest Angots Vorstellungen von väterlicher Liebe und pubertärer Sexualität sprengt, kann er nicht Teil ihrer Identität werden, sondern geistert als nicht assimilierte Erfahrung durch die Lebensgeschichte. Er bleibt in Analogie zur traumatischen Erinnerung latent im Bewusstsein vorhanden und wirkt, wie Sigmund Freud und Josef Breuer in ihren Studien über Hysterie ausführen, <?page no="284"?> Silke Segler-Meßner 260 „nach Art eines Fremdkörpers [...], welcher noch lange Zeit nach seinem Eindringen als gegenwärtig wirkendes Agens wirken muss.“ (Freud 1999a: 85) Auf der Ebene der écriture manifestieren sich jedoch nicht allein die physischen Symptome des in der Pubertät erlittenen inzestuösen Traumas in Form einer ‚verrückt’ gewordenen Zeichensetzung, 15 sondern gleichzeitig entsteht auch der Wunsch nach Wiederherstellung der verlorenen identitären Einheit, die sich im Namenswechsel vom ursprünglich jüdischen Nachnamen der Mutter „Schwartz“ zum väterlichen Familiennamen normannischen Ursprungs „Angot“ spiegelt. 16 Zwei Prozesse verschränken sich in Angots Texten und konstituieren eine Spannung zwischen erzählendem und erlebendem Ich, die sich in obsessiven Formen der Selbstspiegelung und sezierung artikuliert: Auf der einen Seite wird die Erfahrung des Inzests als unaufhebbare Spaltung des weiblichen Subjekts verabsolutiert und mit einem Todeserlebnis gleichgesetzt, 17 auf der anderen Seite versucht die verletzte, traumatisierte Erzählinstanz sich von der (sexuellen) Inbesitznahme des (männlichen) Anderen zu befreien, indem sie den Inzest als Ausgangspunkt der Modellierung einer androgynen, unbestimmbaren sexuellen und narrativen Identität wählt: Mélanger, c’est ma tendance, dans la première partie vous avez vu. Aucun ordre, tout est mélangé, incestueux d’accord c’est ma structure mentale, j’atteins la limite, je ne plaisante pas, je le sens. […] J’associe ce qu’on n’asscocie pas, je recoupe ce qui ne se recoupe pas. Chien-enfant, inceste-homosexualité ou sida, cousine-couple, blonde-conne, fric-haine, vedette-chienne, Léonore-or, charniermine d’or, holocauste-ghetto, ouvrier-noir, etc., etc. (Angot 1999: 91f.) Der literarische Raum fungiert vor diesem Hintergrund als Resonanzraum einer posttraumatischen Symptomatik, die mit unterschiedlichen Krankheitsbildern wie dem Wahnsinn, der Hysterie oder dem Sadomasochismus assoziiert wird und gleichzeitig als Ort der Begegnung zwischen dem 15 In L’inceste stellt die Erzählerin einen impliziten Zusammenhang zwischen „folie”, „crise” und „ponctuation” her, auf deren Ausnahmecharakter sie insistiert, vgl. Angot (1999: 93): „J’ai d’habitude une ponctuation un peu particulière. Je ponctue mes phrases d’une façon inhabituelle.” 16 Vgl. in diesem Zusammenhang Angot (1999: 157): „(Je m’appelle Angot depuis mes quatorze ans, où il m´a reconnue, loi sur la filiation de 72, avant je m’appelais Christine Schwartz, mais ça vous le savez, je l’ai écrit dans presque tous mes livres; ou alors c’est que vous n’avez pas fait attention.)”, und in Quitter la ville assoziiert die Erzählerin den Namenswechsel mit einem Verlust der ursprünglich jüdisch-mütterlichen Herkunft, vgl. Angot (2000: 184): „S.C.H.W.A.R.T.Z. c’était juif, avec le prénom de ma mère Rachel ça allait mais avec moi Christine, qu’est-ce que ça signifiait. Christine Schwartz, vous trouvez vous que ça va bien ensemble? Non, ça ne va pas bien ensemble. Il a fallu que je porte le nom juif de ma mère, et puis finalement on changeait de ville, on allait me donner Angot, un nom normand.” 17 Die Koinzidenz von Ortswechsel und Namenswechsel wird in der Retrospektive als Auflösung der ursprünglichen Identität der Christine Schwartz geschildert, vgl. Angot (2000: 186): „Ni vue ni connue Schwartz Christine, ich sterbe.“ <?page no="285"?> Obsessionen des Erotischen 261 schreibenden Ich und dem ihr fremd gewordenen Anderen. Dieser Andere ist stets doppelt kodiert, d.h. es handelt sich sowohl um die juristisch ausgelöschte und später missbrauchte Christine Schwartz als auch um das begehrte Liebesobjekt, zu dessen Geisel das Ich wird. Die Inszenierung eines androgynen Körpers, der Männer und Frauen gleichermaßen begehrt, wird solcherart zum Fluchtpunkt eines subversiven Spiels mit normierten, klar identifizierbaren Geschlechterrollen, deren Konstruktcharakter deutlich hervortritt. 5. Ausblick: écriture als Befreiung oder als Wiederholungszwang? Et puis aussi (respectons la mise en page): Lettre de désamour à une pétaradasse déjantée Ma chaire Angot Tu pètes les mots Comme une mob dont on aurait arraché le silencieux au pot. Siliencieuse, tu l’es à la surface de ton être. (Angot 2000: 145) Diese Zeilen finden sich in Angots Quitter la ville und sind parallel zu einigen vorangehenden Passagen im Text als Wiedergabe eines Leserbriefs ausgewiesen. Durch den Verzicht auf Anführungszeichen vermischen sich die Ebene des Zitats und des Kommentars, so dass kaum zu unterscheiden zwischen der homodiegetischen Erzählinstanz und den reproduzierten Äußerungen einiger ‚betroffener’ Leserinnen ist, die sich mit Angot identifizieren oder sie ablehnen. Die Sehnsucht nach einer symbiotischen Verschmelzung zwischen dem Ich und der Anderen, die sich in L’inceste in der homosexuellen Relation zwischen Angot und Marie-Christine ebenso manifestiert wie in der Mutter-Tochter-Beziehung, bricht sich in einer écriture Bahn, die sich an der Schwelle zwischen Autobiographie und Fiktion situiert und einer weiblichen Stimme Ausdruck verleiht, die mit den Tabus und Verdikten des feministischen Diskurses spielt. Die Vorstellung einer Befreiung des weiblichen Körpers aus den patriarchalen Gesellschaftsverhältnissen überträgt sich hier auf das Modell einer weiblich konnotierten Schrift, in der die Erzählerin die Funktion einer Seherin übernimmt, die das Verdrängte enthüllt. Die Leserin avanciert zur privilegierten Adressatin intimer Geständnisse, die von den erlittenen Verletzungen durch die väterliche Herrschaftsinstanz zeugen. In Quitter la ville heißt es: „Aucune critique, je dis le vrai, je dis l’origine, je dis que je l’ [= inceste] ai vu. Je l’ai vu, très peu l’ont vu, très peu écrivent quand ils l’ont vu, ils ne peuvent pas, c’est inécrivable, c’est invisible je l’ai vu. Je l’ai vu! ! ! Trois points d’exclamation mérités là encore. Une chose complètement invisible, je suis une Jeanne d’Arc, une voyante.“ (Angot 2000: 45) An anderer Stelle vergleicht sie sich selbst mit Christus und sieht in ihren Lesern die möglichen Erlösungsinstanzen ihrer eigenen unerlösten Existenz, deren <?page no="286"?> Silke Segler-Meßner 262 ‚nullité’ sie exzessiv beschwört: „Mon psychanalyste m’a dit que ce n’était pas grave si je me prenais pour le Christ. Mes lecteurs sont mes sauveurs. Les lecteurs, l’éclecteur, l’élue.“ (Angot 1999: 74) Die bereits konstatierte Ambiguität in der Inszenierung einer gespaltenen, fragmentarisch-traumatisierten Identität wiederholt sich auf der Ebene der Erzählung in dem Zwang zur Wiederholung und der (ironisch anmutenden) Sakralisierung der écriture als einzig möglicher Form gelingender Kommunikation. In Anknüpfung an das von den Feministinnen geforderte frau-Sprechen oder an das französische Modell einer écriture féminine, die durch mimetische Wiederholung des patriarchalen Diskurses (Luce Irigaray) oder durch Strategien der Verausgabung (Hélène Cixous) die als männlich ausgewiesene symbolische Ordnung der Sprache zu unterminieren sucht, weist Angots Schreibweise in L’inceste oder auch in Quitter la ville viele Merkmale eines befreiten Körperdiskurses auf, der die Vision eines weiblichen Schreibens bedient. Die zahlreichen Wiederholungen, Gedankensprünge und Widersprüche, die fehlende Interpunktion, die frei flottierenden Assoziationsketten, die scheinbar willkürlich Homosexualität, Inzest, Aids und Holocaust miteinander verbinden, evozieren den Eindruck einer weiblich inszenierten Mündlichkeit, die den Leser bzw. die Leserin ebenso fasziniert wie verstört. Durch die expliziten Referenzen auf Freud und Jacques Lacan entsteht darüber hinaus der Eindruck, dass der nicht enden wollende Bewusstseinsstrom, der auf Chronologie verzichtet, die Methode der Psychoanalyse kopiert, um den Effekt der Authentizität zu steigern. Angots Versuch einer Pathologisierung der écriture zum Medium der Selbstspiegelung widersetzt sich jedoch jeder Form einer feministischen Instrumentalisierung, da der Verdacht eines Erlebnisberichts als Abwertung des literarischen Engagements gewertet wird, so jedenfalls ihre Sicht der Dinge: Ce livre va être pris comme un témoignage sur le sabotage de la vie des femmes. Les associations qui luttent contre l’inceste vont se l’arracher. Même mes livres sont sabotés. Prendre ce livre comme une merde de témoignage ce sera du sabotage, mais vous le ferez. Cela bousille la vie d’une femme, cela bousille la vie d’un écrivain, mais ce n’est pas grave comme on dit. (Angot 1999: 172f.) Weit entfernt vom politischen Sendungsbewusstsein der feministischen Frauenbefreiungsbewegungen in Folge der Ereignisse des Mai 1968 beansprucht Angot öffentliche Anerkennung als Schriftstellerin. Sie lehnt es ab, als Sprachrohr einer kollektiven weiblichen Erfahrung zu fungieren, und adaptiert stattdessen die Versatzstücke der vermeintlichen écriture féminine für ihr Experimentieren mit den Möglichkeiten und Grenzen einer autofiction, die den Tabubruch und die Provokation auf Dauer stellt. Auch wenn die proliferierenden Enthüllungen des Intimen der Erwartungshaltung einer Leserschaft - und damit eines verlegerischen Interesses - zu entsprechen scheinen, die in dem Rückzug ins Private den einzig möglichen Freiraum autonomer Selbstbehauptung erblickt, lotet Angot mit ihrer irritierenden Demaskierung der Wahrnehmung eines primär sexuell-erotischen Selbst <?page no="287"?> Obsessionen des Erotischen 263 kaum erforschte Regionen eines weiblichen Bewusstseins aus, das sich einer Festschreibung verweigert. In dieser Perspektive hat sie vom Mouvement de libération des femmes profitiert und erweist sich als rebellierende ‚Tochter’ einer Müttergeneration, die von ihrem kollektiven Befreiungsauftrag beseelt war. Literaturverzeichnis Catherine Achin/ Delphine Naudier, Les féminismes en pratiques, in: Dominique Damamme, Boris Gobille, Frédérique Matonti, Bernard Pudal (Hrsg.), Mai-juin 68, Paris 2008, 383-399. Christine Angot, L’inceste, Paris 1999. Christine Angot, Quitter la ville, Paris 2000. Aleida Assmann, Trauma des Krieges und Literatur, in: Elisabeth Bronfen/ Birgit Erdle/ Sigrid Weigel (Hrsg.), Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Bedeutungsmuster, Köln, Weimar, Wien 1999, 95-116. Sylvie Chaperon, Les années Beauvoir. 1945-1970, Paris 2000. Christine Détrez/ Anne Simon, ‚Plus tu baises dur, moins tu cogites’: Littérature féminine contemporaine et sexualité - la fin des tabous? , in: L’esprit créateur 44 (2004), 57-69. Johan Faerber, Le bruissement d’elles, ou le questionnement identitaire dans l’œuvre de Christine Angot, in: Nathalie Morello/ Catherine Rodgers (Hrsg.), Nouvelles écrivaines: nouvelles voix? , New York 2002, 47-62. Sigmund Freud, Studien über Hysterie, in: ders., Gesammelte Werke, 18 Bde., Bd. 1: Werke aus den Jahren 1892-1899, Frankfurt a.M. 1999, 75-312. (1999a) Sigmund Freud, Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, in: ders., Gesammelte Werke, 18 Bde., Bd. 10: Werke aus den Jahren 1913-1917, Frankfurt a.M. 1999, 126- 136. (1999b) Karl-Heinz Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 4 1994 (1972). Michel Houellebecq, Les particules élémentaires, Paris 1998. Heike Lutotsch, Ende der Familie - Ende der Geschichte. Zum Familienroman bei Thomas Mann, Gabriel García Márquez und Michel Houellebecq. Bielefeld 2007. Jochen Mecke, Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Literaturskandals, in: Giulia Eggeling/ Silke Segler-Meßner (Hrsg.), Europäische Verlage und romanische Gegenwartsliteraturen, Tübingen 2003, 194-217. Nathalie Morello/ Catherine Rodgers (Hrsg.), Nouvelles écrivaines: nouvelles voix? New York 2002. Jutta Osinski, Einführung in die feministische Literaturwissenschaft, Berlin 1998. Jean-François Patricola, Michel Houellebecq ou la provocation permanente, Paris 2005. Florence Rochefort, L’insurrection féministe, in: Philippe Artières/ Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective. 1962-1981, Paris 2008, 538- 546. Verena Stefan, Häutungen, München 1975. Karen Struve, „Les artistes de l’intime“. Erotische Körper im Spannungsfeld zwischen Intimität und Öffentlichkeit bei Christine Angot, Catherine Millet und Annie Ernaux, Münster 2005. <?page no="288"?> Silke Segler-Meßner 264 Thomas T. Tabbert, Posthumanes Menschsein. Künstliche Menschen und ihre literarischen Vorläufer in Michel Houellebecqs „Elementarteilchen“, Hamburg 2007. Pierre Varrod, De la lutte des classes au marché du sexe. A propos de Les particules élémentaires de Michel Houellebecq, in: Débat 102 (1998), 182. Monique Wittig, Les guérillères, Paris 1969. <?page no="289"?> Zu den Autorinnen und Autoren Konstanze Baron, geb. 1978, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster EXC 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“ an der Universität Konstanz. Studium der Fächer Modern History und Modern European Literature an der Universität Oxford (Queen’s College), DEA im Studiengang „Histoire et sémiologie du texte“, Paris VII (Denis Diderot). Promoviert mit einer Arbeit zu Diderot und die Erzählung der Aufklärung, Universität Konstanz. Forschungsschwerpunkte: französische Literatur und Literaturtheorie; Moralphilosophie und Literatur; Literatur und politische Theorie. Publikationen u.a.: The poetics of morality. The notion of value in the early Sartre, in: Sartre Studies International 7/ 2001, 43-68; Bündnis mit dem Jenseits: Emmanuel Lévinas als Philosoph des Alten Testaments, in: Patrick Eiden/ Nacim Ghanbari/ Tobias Weber/ Martin Zillinger (Hrsg.), Totenkulte. Kulturelle und Literarische Grenzgänge zwischen Leben und Tod, Frankfurt a.M. 2006, 333-348. Marie-Laure Basuyaux, geb. 1973, Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Littératures françaises du XX e siècle“ der Universität Paris IV (Sorbonne). Studium der Lettres françaises. 2005 Promotion in „Littérature et civilisation françaises“ (Paris IV, Sorbonne). Forschungsschwerpunkte: französische Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg; Literatur zur Deportation bzw. Lager-Literatur; Erinnerungsmodellierung in der Literatur (Claude Simon, Samuel Beckett, Jean Cayrol). Publikationen u.a.: „Jean Cayrol et la collection Ecrire: de l’écriture blanche à l’écriture verte“ (2006) (www.fabula.org/ atelier); „Les fictions lazaréennes: de la défiguration à la configuration“, in: Peter Kuon/ Silke Segler-Meßner (Hrsg.), Les mots sont aussi des demeures. Jean Cayrol - Camps et crise d’identité, Paris (im Erscheinen); ,Ecrire après’. Les récits ,lazaréens’ de Jean Cayrol (im Erscheinen). Silja Behre, geb. 1983, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“ an der Universität Bielefeld. Studium der Geschichte, Germanistik und Deutsch als Fremdsprache im Rahmen des deutsch-französischen Studiengangs der Universitäten Bielefeld und Paris VII (Denis Diderot). Seit Juli 2008 Arbeit an einer Dissertation zu kollektiven Repräsentationen der 68er-Bewegung in Deutschland und Frankreich. Publikation zum Thema: „Vom Erinnern und Vergessen. Rückblicke auf 1968 von 1977 bis 2008“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 7-8 (59)/ 2008, 382-396. <?page no="290"?> Zu den Autorinnen und Autoren 266 Gabriele Blaikner-Hohenwart, geb. 1952, Leiterin der Arbeits- und Forschungsgruppe „Übersetzungswissenschaft und Rezeptionsforschung“ am Fachbereich Romanistik, Universität Salzburg, 2008 Gastprofessur an der Universität Wien, Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft und Genderlinguistik. Studium der Romanistik und Anglistik in Wien und Salzburg. 1975 Promotion in Romanistik, 1977 Sponsion (Staatsexamen für das Lehramt) für Französisch und Englisch, ab 1975 Universitätsassistentin und Lehrbeauftragte an der Universität Salzburg, 2000 Habilitation, 2000 bis 2001 Gastprofessur in Wien, Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft, Mitglied und Mitarbeiterin der Forschungsgruppe L.A.P.R.I.L. („Laboratoire Pluridisciplinaire de Recherches sur l’Imaginaire appliquées à la Littérature“), Université Bordeaux III. Forschungsschwerpunkte: Übersetzungswissenschaft; Wortbildungslehre; Rezeptionsforschung; vergleichende Literaturwissenschaft; Theater; Grammatik und Grammatikographie; Genderlinguistik. Publikationen u.a.: Das Weibliche Ich und die Erlebnisgesellschaft, in: Ulrich Winkler (Hrsg.), Das schöne Leben. Eine interdisziplinäre Diskussion von Gerhard Schulzes ‚Erlebnisgesellschaft’. Thaur, Wien, München 1994, 39-44; Der deutsche Molière. Molière-Übersetzungen ins Deutsche, Frankfurt a.M. 2001. Albrecht Buschmann, geb. 1964, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Romanistik der Universität Potsdam. Studium der Romanistik und Islamkunde an der Universität Saarbrücken, Auslandsaufenthalte in Barcelona, Granada, Paris. 2008 Eröffnung des Habilitationsverfahrens mit einer Studie über Max Aub und die spanische Literatur zwischen Avantgarde und Exil. Forschungsschwerpunkte: romanische Gegenwartsliteraturen; Literatur und Bürgerkrieg; Übersetzungstheorie; literarische Übersetzungen aus dem Spanischen, darunter - zusammen mit Stefanie Gerhold - das Magische Labyrinth von Max Aub (Übersetzerpreis der Spanischen Botschaft 2003). Publikationen u.a.: Die andere Stadt. Großstadtbilder in der Perspektive des peripheren Blicks (Hrsg., zus. mit Dieter Ingenschay), Würzburg 2000; Die Macht und ihr Preis. Detektorisches Erzählen bei Leonardo Sciascia und Manuel Vázquez Montalbán, Würzburg 2005; Bürgerkrieg - Erfahrung und Repräsentation (Hrsg., zus. mit Isabella von Treskow und Anja Bandau), Berlin 2005. Klaus-Dieter Ertler, geb. 1954, Universitätsprofessor am Institut für Romanistik der Universität Graz, Leiter der Gesellschaft für Kanada-Studien in den deutschsprachigen Ländern, Leiter des Conseil international d’Études canadiennes in Ottawa. Forschungsschwerpunkte: frankokanadischer Roman; Jesuitenberichte in Nord- und Südamerika; Gattung der Moralischen Wochenschriften („Spectators“). Neuere Publikationen: À la carte. Le roman québécois (2000-2005), (Hrsg., zus. mit Gilles Dupuis), <?page no="291"?> Zu den Autorinnen und Autoren 267 Frankfurt a.M. 2007; Romanistik als Passion. Sternstunden der neueren Fachgeschichte (Hrsg.), Münster/ Wien 2007; Inventing Canada/ Inventer le Canada (Hrsg., zus. mit Martin Löschnigg), Frankfurt a.M. 2008. Sybille Große, geb. 1965, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der Universität Potsdam. Studium der Französistik und Lusitanistik an der Universität Leipzig. 1990 Promotion zur Variation des europäischen und brasilianischen Portugiesisch. Post-Doc-Stipendium des DAAD 1992 für Frankreich (Rouen und Paris). Habilitationsprojekt zur Entwicklung der Normierungstraditionen französischer Briefsteller (16.-20. Jahrhundert). Forschungsschwerpunkte: Entwicklung der Diskurstraditionen schriftlicher Texte; Sprachvariation (Morphosyntax); Sprachwandelphänomene (v.a. Grammatikalisierung); angewandte Rhetorik; textwissenschaftliche Studien politischer Kommunikation. Publikationen u.a.: Morphosyntaktische Untersuchungen zum brasilianischen Portugiesisch anhand von ausgewählten Sprachstrukturen in modernen journalistischen Zeitschriftentexten und literarischen Texten (im Vergleich zum europäischen Portugiesisch), Leipzig 1990; ‚Substandard’ e mudança no português do Brasil (Hrsg., zus. mit Klaus Zimmermann), Frankfurt a.M. 1998; O português brasileiro: pesquisas e projetos (Hrsg., zus. mit Klaus Zimmermann), Frankfurt a.M. 2000; Langue et politique en France à l’époque des Lumières (Hrsg., zus. mit Cordula Neis), Frankfurt a.M. 2008 (im Druck). Jan Henschen, geb. 1975, Stipendiat des Graduiertenkollegs „Mediale Historiographien“ der Universitäten Weimar/ Erfurt/ Jena. Studium der Neueren Deutschen Literatur- und Medienwissenschaft, Soziologie und Kunstgeschichte an den Universitäten Osnabrück und Kiel, verschiedene Tätigkeiten bei Film- und Fernsehproduktionen, Lehraufträge an den Universitäten Kiel und Erfurt, Promotionsprojekt zum Thema „Die RAF- Erzählung: Eine Spurensuche zwischen Mythos und Geschichte“. Joseph Jurt, geb. 1940, Professor für Französische Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i. Brsg. (em.). Studium der Romanistik und der Geschichte an der Universität Fribourg en Suisse und Paris IV (Sorbonne). 1966 Promotion, Forschungsstipendium in Paris, 1978 Habilitation an der Universität Regensburg, 1981 bis 2005 Professor für Französische Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i. Brsg., Mitgründer und Vorsitzender des Frankreich-Zentrums der Universität Freiburg i. Brsg. (1993-2000), Gastdozenturen an der Haute Ecole en Sciences Sociales (Paris), an der Sorbonne Nouvelle, an der Bundes-Universität Rio de Janeiro, Mitglied des Deutsch-Französischen Kulturrates (1997-2000), Mitglied und dann Vizepräsident des Schweizerischen Wissenschaftsrates (2000-2007). <?page no="292"?> Zu den Autorinnen und Autoren 268 Forschungsschwerpunkte: Literatur und Politik; Empirische Rezeptionsforschung; Das Konzept des Literarischen Feldes; Georges Bernanos; Flaubert; Geschichte der Intellektuellen in Deutschland; Deutsch-Französische Beziehungen. Publikationen u.a.: Absolute Pierre Bourdieu (Hrsg.), Freiburg 2003; Unterwegs zur Moderne (Hrsg.), Freiburg 2004; Die Literatur und die Erinnerung an die Shoah (Hrsg.), Freiburg 2005; Champ littéraire et nation (Hrsg.), Freiburg 2007; Bourdieu, Stuttgart 2008. Vincent Kaufmann, geb. 1955, seit 1996 Professor für Französische Sprache und Literatur an der Universität Sankt Gallen, Vertretungs- und Gastprofessuren in Berkeley, Zürich und Lausanne, 1984 Promotion an der Universität Genf. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der französischen Literatur und Kultur; Mediengeschichte; Multikulturalität; Psychoanalyse; autobiographische Literatur; Avantgarden (insbesondere Guy Debord); Geschichte der französischen Intellektuellen. Publikationen u.a.: Poétique de groupes littéraires. Avant-gardes 1920-1970, Paris 1997; Medien und nationale Kulturen (Hrsg.), Bern 2004; Guy Debord: La révolution au service de la poésie, Paris 2001; Préface et introductions, in: Jean-Louis Rançon (Hrsg.), Guy Debord, Œuvres complètes, Paris 2006; Ménages à trois. La littérature à l’épreuve du médico-religieux, Lille 2007. Kai Nonnenmacher, geb. 1970, Wissenschaftlicher Assistent für Französische und Italienische Literaturwissenschaft am Institut für Romanistik der Universität Regensburg. Studium der Romanistik, Germanistik, Musikwissenschaft und Psychologie in Heidelberg und Mannheim, 1999 M.A. Romanistik, Promotionsvorhaben im medienästhetischen DFG-Projekt „Theoriegeschichte der Photographie“, 2003 Promotion, Habilitationsprojekt über Religion und Modernismus in Frankreich und Italien. Unter den Forschungsschwerpunkten der letzten Jahre ist in diesem Kontext v.a. zu nennen: das Verhältnis von politischem Denken und literarischer Form in Frankreich und Italien (gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Oliver Hidalgo). Publikationen u.a.: Das schwarze Licht der Moderne. Zur Ästhetikgeschichte der Blindheit, Tübingen 2006. Timo Obergöker, geb. 1973, Studium der Französischen Philologie, der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft und der Interkulturellen Kommunikation an den Universitäten Bielefeld, Saarbrücken, Nancy II, Potsdam. Licence, Maîtrise, DEA de Lettres Modernes, Magister Artium, Promotion 2003. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Memoria; Rumänien und Moldova seit 1990; Repräsentationen von Krankheit in Bild und Text. Publikationen: Écritures du non-lieu. Topographies d’une impossible quête identitaire. Romain Gary, Georges Perec, Patrick Modiano, Frankfurt a.M. <?page no="293"?> Zu den Autorinnen und Autoren 269 2004; Totalitär krank. Krankheit und absoluter Staat in Maurice Blanchots Le Très-Haut, in: ders./ Brigitte Sändig/ Danielle Risterucci-Roudnicky (Hrsg.), Literarische Gegenbilder zur Demokratie, Würzburg 2006; Le Jeu de l’amour et du hasard dans la Cité. A propos de L’Esquive d’Abdellatif Kechiche, in: Lendemains 31(124)/ 2006, 50-60; Remarques sur la judéite de Romain Gary, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte/ Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes 30(3-4)/ 2006, 449-460. Esther Suzanne Pabst, geb. 1966, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der Universität Gießen. Studium der Galloromanistik, Russistik und Betriebswirtschaftslehre an den Universitäten Gießen und Besançon, seit 2008 assoziierte Postdoktorandin des Graduate Centre for the Study of Culture der Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: französische Literatur und Kultur des 18. und 20. Jahrhunderts; französische Frauenbewegungen, Feminismus, Gender Studies; Erinnerungskulturen. Publikationen u.a.: Die Erfindung der weiblichen Tugend. Kulturelle Sinngebung und Selbstreflexion im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2007; Kristallisationspunkte der französischen Kultur (und Literatur). Patriarchale Ordnung und Feminismus, in: Susanne Hartwig/ Hartmut Stenzel, Einführung in die französische Literatur- und Kulturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 2007, 333-351. Beatrice Schuchardt, geb. 1976, Wissenschaftliche Assistentin in der Romanistik an der Universität Siegen. Promotion 2005 in Düsseldorf, Studium der Romanistik und Anglistik in Düsseldorf, von 2002 bis 2005 Stipendiatin des DFG-Graduiertenkollegs „Europäische Geschichtsdarstellungen“. Forschungsschwerpunkte: intermediale Grenzüberschreitungen zwischen Lateinamerika und den USA in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts (Habilitationsprojekt); postkoloniale Geschichtsdarstellungen in der maghrebinischen und frankokanadischen Literatur; weibliches Schreiben im Kontext von Exil und Migration; Frida Kahlo; Facetten literarischer Bildlichkeit; Hippie-Reiseberichte. Publikationen u.a.: Schreiben auf der Grenze. Postkoloniale Geschichtsbilder bei Assia Djebar, Köln 2006; Vittoria Borsò, das andere denken, schreiben sehen (Hrsg., zus. mit Heike Brohm, Vera Gerling, Björn Goldammer), Bielefeld 2008; Surrealism goes Hollywood. Julie Taymors Frida, in: Michael Lommel/ Isabel Maurer- Queipo/ Volker Roloff (Hrsg.), Surrealismus und Film, Bielefeld 2008, 259-261. Silke Segler-Meßner, geb. 1965, Hochschuldozentin an der Universität Stuttgart, Institut für Literaturwissenschaften, Romanische Literaturen I. Studium der Romanistik und Germanistik an der Universität Bonn, 1997. Promotion an der Universität Bonn, 2003 Habilitation an der Universität <?page no="294"?> Zu den Autorinnen und Autoren 270 Stuttgart. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterbeziehungen in der Frühen Neuzeit; Darstellungsformen nach der Shoah; Erinnerungskultur; Interkulturelle Schreibweisen im 20. Jahrhundert; Publikationen u.a.: Zwischen Empfindsamkeit und Rationalität - Der Dialog der Geschlechter in der italienischen Aufklärung, Berlin 1998; Europäische Verlage und romanische Gegenwartsliteraturen (Hrsg., zus. mit Giulia Eggeling) Tübingen 2003; Archive der Erinnerung. Literarische Zeugnisse des Überlebens nach der Shoah in Frankreich, Köln 2005 (Hrsg., zus. mit Peter Kuon/ Monika Neuhofer); Vom Zeugnis zur Fiktion. Repräsentation von Lagerwirklichkeit und Shoah in der französischen Literatur nach 1945, Frankfurt a.M. 2006. Isabella von Treskow, geb. 1964, Vertretungsprofessur für Französische und Italienische Literatur- und Medienwissenschaft an der Universität Mannheim, ab 2009 Professorin für Französische und Italienische Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg. Studium der Romanistik und Germanistik in Berlin (Freie Universität), Freiburg i. Brsg., Montpellier, Heidelberg. 1988 Licence ès Lettres modernes, 1989 Maîtrise de Lettres modernes en Littérature comparée, 1995 Promotion an der Universität Heidelberg, 2006 Habilitation an der Universität Potsdam, Vertretungsprofessur an der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: deutschfranzösische Kulturbeziehungen; Krieg und innergesellschaftliche Gewalt in Literatur und Medien; französische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts; Wissensgeschichte seit der Renaissance. Publikationen u.a.: Französische Aufklärung und sozialistischer Realismus. Denis Diderot und Volker Braun, Würzburg 1996; Bürgerkrieg - Erfahrung und Repräsentation (Hrsg., zus. mit Albrecht Buschmann und Anja Bandau), Berlin 2005; Literaturen des Bürgerkriegs (Hrsg., zus. mit Albrecht Buschmann/ Anja Bandau), Berlin 2008; Die banlieue-Proteste 2005 in überregionalen deutschen Printmedien, in: Lendemains. Themenheft Frankreichbild im Wandel, hrsg. v. Adelheid Schumann, Tübingen 2008, 62-80. Christian von Tschilschke, geb. 1966, Professor für Romanische Literaturwissenschaft/ Genderforschung an der Universität Siegen. Studium der Romanistik, Slavistik und Philosophie an den Universitäten Heidelberg und Lyon. 1991 Licence de lettres modernes, 1994 Magister, 1999 Promotion an der Universität Heidelberg, 2006 Habilitation an der Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Medien; Theorie und Praxis der Literatur-Film-Beziehungen; Theorie, Geschichte und Didaktik des französischen und spanischen Films; französische und spanische Literatur der Gegenwart; spanische und lateinamerikanische Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts; französisch-russische Literaturbeziehungen. Publikationen u.a.: Epen des Trivialen. N.V. Gogols „Die toten Seelen“ und G. Flauberts „Bouvard und Pécuchet“, Heidelberg 1996; Roman und Film. Filmisches <?page no="295"?> Zu den Autorinnen und Autoren 271 Schreiben im französischen Roman der Postavantgarde, Tübingen 2000; Literatura - Cultura - Media - Lengua. Nuevos planteamientos de la investigación del siglo XVIII en España e Hispanoamérica (Hrsg., zus. mit Andreas Gelz), Frankfurt a.M. 2005; Identität der Aufklärung/ Aufklärung der Identität. Literatur und Identitätsdiskurs im Spanien des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2008; Docuficción. Enlaces entre ficción y no-ficción en la cultura española actual (Hrsg., zus. mit Dagmar Schmelzer), Frankfurt a.M. 2009 (im Druck). Jan-Henrik Witthaus, geb. 1970, Vertretung einer Oberassistenz an der Universität Stuttgart, Institut für Literaturwissenschaften, Romanische Literaturen I, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Romanistik der Universität Duisburg-Essen. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Romanistik und Kunstwissenschaft an den Universitäten Essen und Duisburg. 1999 Magister, 2003 Promotion, Habilitationsprojekt zu „Krise - Krieg - Kritik. Zur Genese literarischen Engagements im Spanien der Aufklärung, von Feijoo bis Jovellanos“. Publikationen u.a.: Fernrohr und Rhetorik. Strategien der Evidenz von Fontenelle bis La Bruyère, Heidelberg 2005; Veröffentlichungen zur spanischen Aufklärung, zu Unamuno und zu Borges; Mitarbeit an einem DFG- Forschungsprojekt zur spanischen Presse des 18. Jahrhunderts. <?page no="296"?>