eBooks

Schriftliches Argumentieren in der Fremdsprache

Eine explorativ-interpretative Untersuchung von Interimstexten chinesischer Deutschlerner

0121
2009
978-3-8233-7466-4
978-3-8233-6466-5
Gunter Narr Verlag 
Dirk Skiba

Die leitende Frage vorliegender Studie lautet: Wie argumentieren chinesische Germanistikstudenten auf Deutsch? Um Spezifika von Interimstexte herauszuarbeiten, werden diese mit muttersprachlichen Texten deutscher und chinesischer Studierender verschiedener Jahrgangsstufen verglichen. Ein quasi-induktiver Ansatz bemüht sich um eine unvoreingenommene Interpretation des Datenmaterials, ohne jedoch Ergebnisse und Konzepte der referenzwissenschaften zu ignorieren.

<?page no="0"?> Dirk Skiba Schriftliches Argumentieren in der Fremdsprache Eine explorativ-interpretative Untersuchung von Interimstexten chinesischer Deutschlerner Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="1"?> Schriftliches Argumentieren in der Fremdsprache <?page no="2"?> Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 514 T B L <?page no="3"?> Schriftliches Argumentieren in der Fremdsprache Eine explorativ-interpretative Untersuchung von Interimstexten chinesischer Deutschlerner Gunter Narr Verlag Tübingen Dirk Skiba <?page no="4"?> © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Arlett Günther Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-6466-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. <?page no="5"?> Meinen Eltern <?page no="7"?> VII Vorwort Am Zustandekommen einer Dissertation sind neben dem Verfasser viele Menschen beteiligt, durch Zuspruch und Einspruch, Geduld und Ungeduld, wissentlich und unwissentlich. Hans Barkowski vom Institut für Auslandsgermanistik/ Deutsch als Fremd- und Zweitsprache der Friedrich-Schiller-Universität Jena betreute die Arbeit äußerst gewissenhaft und mit größtem Wohlwollen. Seine konstruktive Kritik, seine fachlichen und persönlichen Ratschläge trugen wesentlich dazu bei, dass die Dissertation entstehen konnte. Die Zweitbetreuung übernahm Liang Yong vom Fachbereich Sinologie der Universität Trier, dem ich ebenfalls zu großem Dank verp ichtet bin. Mein ganz besonderer Dank gilt den Studierenden in Shanghai und Jena, die sich bereitwillig als Probanden zur Verfügung stellten und mir die eigenen Texte ausführlich erläuterten. Völlig unbürokratisch ermöglichte mir Zhu Jianhua, Dekan der Deutschen Abteilung der Tongji-Universität Shanghai, den Zugang zu den Probanden. Den ersten Kontakt zu den chinesischen Studierenden im Erstsemester stellte freundlicherweise Chen Hui her. Jürgen Bolten vom Fachgebiet Interkulturelle Wirtschaftskommunikation der Friedrich-Schiller-Universität Jena half später dabei, deutsche Studierende für die Teilnahme an der Untersuchung zu motivieren. Gespräche mit Jia Huidie trugen wesentlich zu meinem Interesse an textlinguistischen Fragestellungen bei. Chen Shaolin erklärte mir mit großer Geduld, wann ein chinesischer Aufsatz „wirklich gut“ geschrieben ist und stellte Kontakte zu chinesischen Aufsatzdidaktikern her. Han Wei und Wang Yinpin verdanke ich wertvolle Hinweise bei der Übertragung des deutschen Ausgangstextes. Bei den dokumentarischen Übersetzungen des chinesischen Korpusmaterials stand mir Kong Jingqian zur Seite, deren Sprachgefühl mich vor Übersetzungsfehlern bewahrte. In der Endphase der Arbeit machte mir vor allem Micaela Krieger-Hauwede Mut, Zweifel zu überwinden und einzelne Kapitel abzuschließen. Sie stellte zur richtigen Zeit die richtigen Fragen und las das Manuskript mit großer Sorgfalt Korrektur. Arlett Günther brachte die Druckfassung schließlich in eine optisch ansprechende Form. Für ihr großes Verständnis danken möchte ich meiner Tochter Elena-Marie, die ihren Vater viel zu selten sah. Meinen Eltern Ursula und Hubert Skiba sei die vorliegende Dissertation gewidmet, weil sie mir mein Studium und viele Auslandsaufenthalte ermöglichten und mich auch dann immer unterstützten, wenn meine Projekte wieder einmal länger dauerten als ursprünglich geplant und angekündigt. Herzlich danken möchte ich schließlich Zhang Sen, Vorstandsmitglied des chinesischen Kalligraphenverbandes, der meiner Arbeit nach chinesischer Tradition eine Kalligraphie widmete, die diesem Vorwort vorangestellt ist. Die beiden großen Schriftzeichen bilden zusammen den Begriff yilun (Erörtern). Jena, im Frühsommer 2008 Dirk Skiba <?page no="9"?> Inhaltsverzeichnis Teil A - Theoretische Differenzierungen der Fragestellung 1 Konzeption der Arbeit ......................................................................................................1 1.1 Fragestellung, Vorarbeiten, Materialbasis............................................................1 1.2 Das Paradigma explorativ-interpretativ...............................................................2 1.3 Integration von Vorwissen .....................................................................................3 1.4 Das Paradigma etisch-emisch ................................................................................4 1.5 Einbezug emischer Sichtweisen.............................................................................6 1.6 Aufbau der Arbeit....................................................................................................6 2 Kontrastive Rhetorik .........................................................................................................9 2.1 Die Anfänge der Kontrastiven Rhetorik: Die Position von Kaplan..................9 2.2 Textlinguistische Untersuchungen......................................................................12 2.3 Untersuchungen zu Schülertexten und schulischen Aufsatzmustern...........18 2.4 Diskursanalytische Untersuchungen .................................................................21 2.5 Merkmale chinesischer Texte. Hypothesen der Kontrastiven Rhetorik ........26 3 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells ........................................................28 3.1 Implizite Bezugsgrößen von „Kultur“ in Beiträgen der Kontrastiven Rhetorik ....................................................................................28 3.2 Kritik am Container-Paradigma ..........................................................................34 3.3 Kultur als Gewohnheiten von Kollektiven ........................................................37 3.4 Subkultur, Nationalkultur, Globalkultur ..........................................................40 3.5 Das Individuum in und zwischen den Kulturen .............................................42 3.6 Kultur als symbolische Ordnung? .......................................................................44 3.7 Konturen des in vorliegender Arbeit vertretenen Kulturbegriffs .................46 3.8 Einschätzung von Beiträgen der Kontrastiven Rhetorik ...............................48 4 Schreiben als komplexes Handeln ...............................................................................50 4.1 Komplexes Handeln ..............................................................................................50 4.2 Drei Handlungsebenen bei der gelenkten Textproduktion ............................53 4.3 Textproduktion als Problemlösungsprozess .....................................................54 4.4 Textproduktion als Modus der Interaktion ......................................................59 4.5 Entwurf eines Modells zur Textproduktion in interkulturellen Kontexten ....61 5 Argumentation ................................................................................................................64 5.1 Bausteine der Argumentation ..............................................................................64 5.2. Kommunikatives Handeln als Diskurs ..............................................................68 5.3 Pro und Kontra.......................................................................................................72 5.4 Argumentation in Kulturen: Kollektiv Strittiges und Geltendes ...................73 5.5 Terminologische Festlegungen ............................................................................76 6 Textsortenklassi kationen ............................................................................................77 6.1 Textsorten................................................................................................................77 <?page no="10"?> X Inhaltsverzeichnis 6.2 Klassi kationen deutscher Textsorten................................................................78 6.3 Klassi kationen chinesischer Textsorten............................................................82 6.4 Textsortenklassi kationen im Vergleich ...........................................................88 7 Die Aufsatzsorte Erörterung ............................................................ . ..............................89 7.1 Der Begriff Erörte rn . . ........................................................ ..... ...............................89 7.2 Varianten einer Erörterung ............................................... . ...................................89 7.3 Elemente einer Erörterung ............................................... . ....................................96 7.4 Gliederung einer Erörterung ............................................... . ................................99 7.5 Sprachliche Angemessenheit einer Erörterung ......... . ......................................104 7.6 Merkmale einer Erörterung. Fazit.......................................................................105 8 Die Aufsatzsorte Yilunwen ........................................... . ...............................................106 8.1 Der Begriff yilun ............................. . .....................................................................106 8.2 Varianten eines Yilunwen ................................. . ..................................................107 8.3 Elemente eines Yilunwen ................................... . .................................................111 8.4 Gliederung eines Yilunwen ............................... . .................................................115 8.5 Darstellungsarten in einem Yilunwen ............... . ................................................120 8.6 Merkmale eines Yilunwen . Fazit ..................... . .................................................121 9 Vergleich der Aufsatzsorten Erörterung und Yilunwen ................... .. ......................123 9.1 Varianten der Aufsatzsorten Erörterung und Y ilunwen .... .. ...........................123 9.2 Gliederung einer Erörterung und eines Yilunwen .................. . ........................124 9.3 Argumente und Formen der Darstellung ........................................................125 Teil B - Empirische Untersuchung 10 Untersuchungsdesign ...................................................................................................126 10.1 Vergleichsebenen der Untersuchung und Untersuchungsdesign................126 10.2 Zugänge in Felder der Untersuchung ..............................................................130 10.3 Das Monokollektiv „Lernergruppe“ als Gegenstand empirischer Studien 132 10.4 Die Probandengruppen ......................................................................................137 10.5 Der Ausgangstext ................................................................................................146 10.6 Die Schreibaufgabe ..............................................................................................152 10.7 Zeitplan, Durchführung der Untersuchung ...................................................153 11 Analyseverfahren, Analysefragen ..............................................................................155 11.1 Texte als Abfolge von Frage- und Antwort-Sequenzen ...............................155 11.2 Texte als Abfolge von Teiltexten ......................................................................156 11.3 Teiltexte und Phasen des Diskurses .................................................................157 11.4 Beispielanalyse .....................................................................................................158 11.5 Analysefragen.......................................................................................................162 12 Textlänge, Verteilung der Teiltexte.............................................................................165 12.1 Korpus FSU1.TXT.dt............................................................................................166 12.2 Korpus T1.TXT.chin. ...........................................................................................167 12.3 Korpus T4.TXT.int. ..............................................................................................168 12.4 Korpus T4.TXT.chin. ...........................................................................................169 12.5 Gruppenübergreifender Vergleich und Hypothesen .....................................170 <?page no="11"?> XI Inhaltsverzeichnis 13 Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext ............................................................173 13.1 Korpus FSU1.TXT.dt............................................................................................174 13.2 Korpus T1.TXT.chin. ...........................................................................................178 13.3 Korpus T4.TXT.int. .............................................................................................180 13.4 Korpus T4.TXT.chin. ..........................................................................................182 13.5 Gruppenübergreifender Vergleich und Hypothesen .....................................184 14 Situierung der Problemlage und eigene Problemkenntnisse..................................186 14.1 Korpus FSU1.TXT.dt............................................................................................187 14.2 Korpus T1.TXT.chin. ...........................................................................................189 14.3 Korpus T4.TXT.int. ............................................................................................192 14.4 Korpus T4.TXT.chin.............................................................................................194 14.5 Gruppenübergreifender Vergleich und Hypothesen .....................................196 15 Betrachtungen der Textgegenstände .........................................................................198 15.1 Korpus FSU1.TXT.dt. ..........................................................................................199 15.2 Korpus T1.TXT.chin. ...........................................................................................200 15.3 Korpus T4.TXT.int. .............................................................................................203 15.4 Korpus T4.TXT.chin. ...........................................................................................204 15.5 Gruppenübergreifender Vergleich und Hypothesen ....................................206 16 Beschreiben, Erklären und Beurteilen .......................................................................207 16.1 Korpus FSU1.TXT.dt............................................................................................208 16.2 Korpus T1.TXT.chin. ...........................................................................................212 16.3 Korpus T4.TXT.int. ..............................................................................................219 16.4 Korpus T4.TXT.chin.............................................................................................222 16.5 Gruppenübergreifender Vergleich und Hypothesen .....................................226 17 Darstellung der Maßnahme ........................................................................................228 17.1 Korpus FSU1.TXT.dt............................................................................................228 17.2 Korpus T1.TXT.chin.............................................................................................231 17.3 Korpus T4.TXT.int. ..............................................................................................232 17.4 Korpus T4.TXT.chin.............................................................................................234 17.5 Gruppenübergreifender Vergleich und Hypothesen .....................................235 18 Beurteilung der Maßnahme ........................................................................................237 18.1 Korpus FSU1.TXT.dt............................................................................................238 18.2 Korpus T1.TXT.chin. ...........................................................................................245 18.3 Korpus T4.TXT.int. ............................................................................................251 18.4 Korpus T4.TXT.chin. ..........................................................................................256 18.5 Gruppenübergreifender Vergleich und Hypothesen ....................................260 19 Re exion von Handlungsoptionen.............................................................................262 19.1 Korpus FSU1.TXT.dt. ..........................................................................................262 19.2 Korpus T1.TXT.chin.............................................................................................265 19.3 Korpus T4.TXT.int. ............................................................................................268 19.4 Korpus T4.TXT.chin.............................................................................................270 19.5 Gruppenübergreifender Vergleich und Hypothesen ....................................271 20 Kurzfassung und Hypothesen.....................................................................................273 <?page no="12"?> XII Inhaltsverzeichnis Anhang Transkriptionshinweise..........................................................................................................280 FSU1 ..........................................................................................................................................281 T1 ...............................................................................................................................................312 T4 ...............................................................................................................................................366 FSU1 - Teiltexte und Teiltextsegmente................................................................................415 T1 - Teiltexte und Teiltextsegmente.....................................................................................443 T4 - Teiltexte und Teiltextsegmente.....................................................................................471 Verzeichnisse Verzeichnis der Tabellen........................................................................................................503 Verzeichnis der Schaubilder..................................................................................................506 Personenregister......................................................................................................................507 Bibliographie............................................................................................................................512 <?page no="13"?> 1 Konzeption der Arbeit Es gibt nur Überlagerungen verschiedener, sich kreuzender, verschlungener Fäden, deren einer ansetzt, wo der andere abreißt, die in Spannung zueinander stehen und einen zusammengefügten, lokal disparaten und global integralen Körper bilden. Die Analyse solcher Länder und Gesellschaften gelingt nur, wenn man diese Fäden herauslöst, die Knoten, Schlingen, Verbindungen und Spannungen ortet, der Zusammengesetztheit dieses Körpers Rechnung trägt und seine tiefe Vielfalt auslotet (G EERTZ 1996: 29). Stellen wir uns einmal eine Kultur vor, in der man den Argumentationsvorgang als Tanz betrachtet, bei dem die Argumentierenden als Künstler auftreten und das Ziel haben, sich harmonisch und ästhetisch ansprechend zu präsentieren. In einer solchen Kultur würden die Menschen die Argumentationshandlung in einem anderen Licht sehen, sie anders erleben, anders ausführen und anders darüber sprechen. Aber wir würden ihre Art des Argumentierens vermutlich gar nicht als Argumentieren betrachten: Aus unserer Sicht würden diese Menschen lediglich etwas anderes machen (L AKOFF / J OHNSON 2000: 13). 1.1 Fragestellung, Vorarbeiten, Materialbasis Bei vorliegender Dissertation handelt es sich um eine explorativ-interpretativ verfahrende Studie, die am Beispiel interimssprachlicher Texte chinesischer Germanistikstudenten Formen argumentativen Schreibens in interkulturellen Lehr- und Lernkontexten untersucht. Im deutschen Sprachraum liegen Beiträge der kontrastiven Textsortenforschung zum Sprachenpaar Chinesisch-Deutsch (etwa L IANG 1991, Y IN 1999, W EN 2001), Arbeiten zu chinesischen Diskursstrategien in der interkulturellen Kommunikation (G ÜNTHNER 1993), ein Vergleich prämierter Schulaufsätze (F ENG 1994) sowie ein Vergleich chinesischer und deutscher schulischer Aufsatzsorten (L EHKER 1997, 2001) vor. . Aber nur eine unveröffentlichte Magisterarbeit (L ACHENMAYER 1990) kontrastiert meines Wissens bereits interims- und muttersprachliche Texte chinesischer Deutschlerner. Angesichts der unzulänglichen Forschungslage plädiert L EHKER (1997: 283) dafür, Interimstexte systematisch auszuwerten und „nach Möglichkeit in Zusammenarbeit mit chinesischen Textlinguisten“ ein geeignetes Analyseinstrumentarium zur Beschreibung interimssprachlicher Texte chinesischer Deutschlerner zu entwickeln. Diese Anregung greift vorliegende Untersuchung auf. Die Materialgrundlage des empirischen Teils bilden 69 Texte, verfasst von chinesischen und deutschen Studenten. Die Datenerhebung fand im September 2001 an der Tongji-Universität Shanghai und im November 2002 an der Friedrich-Schiller-Univer- <?page no="14"?> 2 Konzeption der Arbeit sität Jena statt. In Shanghai fertigten 20 chinesische Studienanfänger (1. Studienjahr) muttersprachliche Texte und 15 fortgeschrittene Germanistikstudenten (4. Studienjahr) interims- und muttersprachliche Vergleichstexte an. In Jena schrieben 19 Probanden (1. Studienjahr) muttersprachliche Texte. Transkriptionen aller Originaltexte sowie „dokumentarische Übersetzungen“ (vgl. K AUTZ 2002: 58ff.) der chinesischen Texte sind im Anhang zusammengestellt. Zur Interpretation der Daten wird auf relevant erscheinendes externes Material zurückgegriffen. Um typologische Merkmale der Aufsatzsorten Erörterung und Yilunwen herauszuarbeiten, sind textlinguistische Arbeiten und Lehrwerke aus der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China ausgewertet worden. Textlinguistische Beiträge aus China sind meines Wissens noch in keine westliche Sprache übersetzt worden. Daher wurden zentrale Passagen ausgewählter Beitrage zur Textsortenklassi kation nach Prinzipien der „instrumentellen Übersetzung“ (vgl. K AUTZ 2002: 60ff.) ins Deutsche übertragen. Ebenfalls übersetzt wurden typologische Darstellungen der Aufsatzsorte Yilunwen im Lehrwerk Yuwen sowie ausgewählten chinesischen Beiträgen der Aufsatzdidaktik, wobei die Arbeit von L EHKER (1997) wichtige Orientierungen gab. Kennzeichen vorliegender Untersuchung ist, dass sich im Prozess der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material einige grundsätzliche Fragen stellten. Diese Fragen betreffen insbesondere den Kulturbegriff, so wie er in vielen kontrastiven Arbeiten verwendet wird. Außerdem machte das Datenmaterial eine vertiefte Auseinandersetzung mit Modellierungen des Textproduktionsprozesses notwendig. Insofern versteht sich vorliegende Arbeit auch als Diskussionsbeitrag zur Kulturwissenschaft und zur Textproduktionsforschung. 1.2 Das Paradigma explorativ-interpretativ E DMONDSON / H OUSE (2000: 39) stellen zwei Richtungen der Sprachlehrforschung gegenüber. In „analytischen“ Studien gelangt man vom Allgemeinen zum Besonderen, d.h. man geht von bestimmten Hypothesen zu einem Gegenstandsbereich aus und versucht, diese empirisch zu veri zieren. Demgegenüber setzen „holistische“ Untersuchungen direkt bei empirischen Daten an, um induktiv im Verlauf des Forschungsprozesses Hypothesen zu gewinnen. G ROTJAHN (1993) charakterisiert die genannten Richtungen unter Verwendung der Begriffe „analytisch-nomologisch“ und „explorativ-interpretativ“ in ähnlicher Weise (siehe Tabelle 1.1). Analytisch-nomologisches Paradigma Explorativ-interpretatives Paradigma weitgehender Verzicht auf die Exploration eines Gegenstandsbereiches Prüfung vorher festgelegter nomologischer Hypothesen statistische Auswertung der gewonnenen Daten experimentelle Versuchsanordnung möglichst unvoreingenommene Exploration eines Gegenstandsbereichs Entwicklung von Kategorien, allgemeinen Typen und Hypothesen interpretative Auswertung der gewonnenen Daten offene Versuchsanordnung Tabelle 1.1: Grundlegende methodologische Paradigmen nach G ROTJAHN (1993). <?page no="15"?> 3 Konzeption der Arbeit Auch für G ROTJAHN unterscheidet sich bei beiden Paradigmen der gewählte Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand. Das „analytisch-nomologische“ Paradigma geht von gut bestätigten, allgemeinen Hypothesen - den so genannten „nomologischen Hypothesen“ - aus, die auf die Realität angewendet werden (G ROTJAHN 1993: 229f.). Demgegenüber gewinnt beim „explorativ-interpretativen“ Paradigma die möglichst unvoreingenommene Exploration eines Gegenstandsbereichs entscheidende Bedeutung: „Ziel ist nicht die Überprüfung von vorher festgelegten Hypothesen mit operationalisierten Konstrukten, sondern die Entwicklung von Kategorien, allgemeinen Typen und Hypothesen im Zuge der Datenerhebung und Datenanalyse“ (1993: 230f.). Charakteristisch für explorativ-interpretative Verfahren ist, dass am Anfang des Forschungsprozesses noch gar nicht feststeht, was überhaupt als fallübergreifend identi ziert werden kann. „Bei qualitativen Methoden lässt sich häu g die Grundgesamtheit, für die der untersuchte Fall bzw. die untersuchte Fallgruppe steht, erst im Anschluss an die Untersuchung beschreiben“ (M ERKENS 2003: 291). Auch für vorliegende Untersuchung gilt, dass sich Hypothesen erst im Verlauf der Untersuchung zeigten. Wie in anderen explorativen Untersuchungen folgte der Forschungsprozess nicht „in kausal-linearer Weise exakt einem vorher entwickelten Plan“ (M ÜLLER -H ARTMANN / S CHOCKER - V . D ITFURTH 2001: 3). 1.3 Integration von Vorwissen Bei explorativ-interpretativen Untersuchungen versucht ein Forscher, sich einem bestimmten Untersuchungsgegenstand mit größtmöglicher Offenheit zu nähern, damit seine Untersuchungsergebnisse nicht nur seine Vorannahmen bestätigen. Empirische Forschung soll sich nicht als self-full lling-prophecy erweisen (vgl. E DMONDSON / H OUSE 2000: 38). Demnach ist es bei explorativen Untersuchungen erforderlich, auf eine „vorgängige, feste Hypothesenbildung und Operationalisierung der Untersuchungskategorien soweit wie möglich zu verzichten“ (G ROTJAHN 1993: 235). Verbindendes Anliegen explorativinterpretativ verfahrender Untersuchungen ist also, einen Untersuchungsgegenstand zu entdecken und ihn nicht in bekannte Konstrukte der Wissenschaft einzupassen. Die berechtigte Forderung nach Offenheit führt jedoch mitunter zu einer Art „Idealisierung der Ahnungslosigkeit“, gegen die sich M EINEFELD wendet. [A]uch wenn man den unterschiedlichen Grad an Offenheit der verschiedenen Methoden konzediert, so übersieht diese Argumentation, dass auch die erste Konstitution von Daten bereits eine aktive Leistung des Forschers darstellt, die auf seinem Forschungsinteresse und Vorverständnis aufbaut. Die Forderung nach einem „möglichst voraussetzungslosen“ Sicheinlassen auf das Feld verdeckt gerade diese grundlegende Konstitution des Feldes in Abhängigkeit von dem dem Forscher zu diesem Zeitpunkt „verfügbaren Wissensvorrat“. Erkenntnisse über soziale Phänomene „emergieren“ nicht aus eigener Kraft, sie sind Konstruktionen des Forschers von Anfang an. (M EINEFELD 2000: 269) M EINEFELD plädiert nicht für eine Suspendierung des eigenen Vorwissens sondern für eine bewusste Re exion des Vorwissens während des gesamten Forschungsprozesses sowie eine methodologische Unterscheidung von vorgängigen, theoriegestützten Exante-Hypothesen und im Forschungsprozess selbst generierten Hypothesen (M EINEFELD 2000: 273). Festhalten lässt sich, dass es auch im Rahmen einer explorativen Untersuchung berechtigt und zielführend ist, zentrale Konzepte und Ergebnisse der Referenzwissenschaften zu bedenken, damit Untersuchungsgegenstände Konturen gewinnen. 1 1 Auch M AYRING (2003: 50) hält für Formen der Qualitativen Inhaltsanalyse fest: „Man kann einen Text nicht ‚einfach so’ interpretieren.“ <?page no="16"?> 4 Konzeption der Arbeit 1.4 Das Paradigma etisch-emisch Auch die Interkulturalitätsforschung versucht, Erscheinungen in einer fremden Kultur möglichst genau und unvoreingenommen zu beschreiben, gleichzeitig sollen analoge Phänomene aus verschiedenen Kulturen aufeinander bezogen werden. Die Kulturemtheorie von O KSAAR (1988) zeigt beispielhaft eine der Möglichkeiten, kulturspezi sche Phänomene zu vergleichen. Um bestimmte Verhaltensweisen (Behavioreme), durch welche sich Mitglieder einer kulturellen Gemeinschaft von Mitgliedern einer anderen unterscheiden, näher zu beschreiben, nimmt sie ein Set elementarer, kulturübergreifender kommunikativer Einheiten (Kultureme) an. 2 O KSAAR hinterfragt nicht, ob ihre Kriterien zur Beschreibung kulturspezi scher Phänomene tatsächlich beanspruchen können, universell zu sein. Sie setzt diese Kriterien einfach voraus. P IKE (1967) würde den Ansatz von O KSAAR daher als „etisch“ bezeichnen und ihn von einem „emischen“ Ansatz abgrenzen. The etic approach treats all cultures or languages - or a selected group of them - at one time. [...] The emic approach is, on the contrary, culturally speci c, applied to one language or culture at a time (P IKE 1967: 37). Die Begriffe „etisch“ und „emisch“ sind der Linguistik entlehnt. 3 Nur beim emischen Ansatz wird explorativ-interpretativ vorgegangen und versucht, Aspekte einer Kultur im Kontext dieser Kultur zu interpretieren. Wie P IKE bezieht auch B RISLIN (2000) die Begriffe „etisch“ und „emisch“ auf Kulturen und unterscheidet kulturspezi sche und kulturübergreifende Konzepte. Culture-common concepts are those that can be found among people all over the world. Many culture-common concepts have a basis in the demands people face in their desire for survival and the survival of their community. [...] Culture-speci c concepts are found in some societies but not others. These concepts represent a culture’s unique adaptations to the demands it faces. Often, culture-speci c concepts represent additions to or variants on the culture-common concepts familiar to all people (B RISLIN 2000: 83). B RISLIN nimmt hier zunächst elementare etische Konzepte an, die zum Fortbestand einer jeden kulturellen Gemeinschaft notwendig sind. Diese allgemeinen Konzepte würden emisch realisiert: „Often, emics are the culturally speci c ways cultures deal with etic concepts.” (B RISLIN 2000: 84). Insofern handelt es sich bei kulturspezi schen Konzepten um „different ways people deal with culture-common demands“ (B RISLIN 2000: 84). Zwischen etischen und emischen Konzepten besteht jedoch kein einfaches Repräsentationsverhältnis. Vielmehr sieht B RISLIN in einzelnen, konkreten Konzepten eine Kombination etischer und emischer Vorstellungen: „[C]omplex concepts are often combinations of a 2 Untersuchungsgegenstand der Arbeit von O KSAAR sind kulturell markierte Formen der Interaktion. Sie nimmt beispielsweise an, dass sich Menschen in allen Kulturen begrüßen. Jedoch werde das Kulturem Begrüßen in verschiedenen Kulturen sehr verschieden realisiert, und zwar durch die spezi sche „Integration von kommunikativen Komponenten“ (O KSAAR 1988: 5). Jeder kommunikative Akt ist demnach als Behaviorem beschreibbar, als Zusammenwirken bestimmter verbaler, nonverbaler, extra- und paraverbaler Faktoren (O KSAAR 1988: 28). 3 „Phonemics focuses on sounds which are employed within a single linguistic system; phonetics emphasizes more general or even universal aspects of language. By dropping the root (phon), the two suf xes (emics, etics) become terms which are applicable to this local versus universal distinction in any discipline. By analogy, emics apply in only one particular society; etics are culture-free or universal aspects of the world (or if not entirely universal, operate in more than one society).” (B ERRY 1986: 11, zit. nach Herwartz-Emden 1995: 184) <?page no="17"?> 5 Konzeption der Arbeit common etic plus culture-speci c emics. This combination is sometimes called the etic core with its emic coloring.” (B RISLIN 2000: 86). Gerade Ähnlichkeiten können zu der ethnozentristischen Annahme führen, in einer anderen Kultur würden die gleichen Konzepte wie in der eigenen vorliegen. Um dieser Gefahr des Ethnozentrismus zu begegnen, schlägt B RISLIN vor, komplexe Konzepte aus Sicht der Beteiligten zu betrachten: One reason for ethnocentrism is that people view their emics as common or etic to all cultures. One way to avoid this problem is to carry out indigenous research and to examine behaviour as it is explained from the viewpoint of people in other cultures (B RISLIN 2000: 71). Ausgehend von B RISLIN fragt H ERWARTZ -E MDEN (1995), wie es einem Forscher gelingen kann, Kategorien zu nden, „die brauchbar sind sowohl im Vergleich von Kulturen als auch für die spezi sche Analyse einer Kultur“ (H ERWARTZ -E MDEN 1995: 183). Obwohl einheimische und universale Theorien als gegensätzlich gelten, sind sie in der Tat komplementär. Um eine wirklich universale Theorie [...] zu erreichen, ist das „emic“-Wissen (einheimisches Wissen) notwendig. Erst wenn Gemeinsamkeiten unter verschiedenen „emic“-Aspekten gefunden werden, sind universal valide Phänomene zu erreichen. „Emic“-Wissen ist ein notwendiger Schritt in der Suche nach „etic“-Theorien. „Etic“ bedeutet: Gemeinsamkeiten unter mehreren unterschiedlichen „emic“-Realitäten zu konstatieren“ (H ERWARTZ -E MDEN 1995: 185). H ERWARTZ -E MDEN plädiert folglich für eine Zusammenschau möglichst vieler emischer Annahmen und Konzepte, um induktiv zu einer kulturübergreifendenden etischen Theorie zu gelangen. O KSAAR (1988) B RISLIN (2000) H ERWARTZ -E MDEN (1995) Kultureme: elementare, kulturübergreifende Einheiten (z.B. Grüßen, Schweigen, Zustimmen, Ablehnen) etisch: culture-common concepts gemeinsame Aspekte in einem komplexen Konzept etisch: universale Orientierungen und Wissenssysteme Behavioreme: kulturspezi sche Realisationsformen als Bündelungen/ Kombinationen einzelner Merkmale (verbal, nonverbal, extraverbal, paraverbal) emisch: culture-speci c concepts unterschiedliche Aspekte in einem komplexen Konzept emisch: einheimische Orientierungen und Wissenssysteme Tabelle 1.2: Etische und emische Aspekte von Kultur nach O KSAAR (1988), B RISLIN (2000) und H ER - WARTZ -E MDEN (1995). Wie es Tabelle 1.2 verdeutlicht, unterscheiden die genannten Autoren alle zwischen kulturübergreifenden und kulturspezi schen Einheiten. O KSAAR nimmt ein Set elementarer übergreifender Kultureme an, deren Realisationsformen als Behavioreme variieren. B RIS - LIN betrachtet komplexe Konzepte, denen er einen kulturübergreifenden Kern und eine kulturspezi sche Färbung zuschreibt. H ERWARTZ -E MDEN schließlich trennt zwischen einheimischen und universalen Konzepten und betont deren komplementäres Verhältnis, welches sie für die Interkulturalitätsforschung nutzbar machen möchte. Beispielhaft zeigen die genannten Beiträge Wege der interkulturellen Forschung. O K - SAAR setzt allgemeinen Kategorien voraus, ohne deren Eignung zur Beschreibung komplexer Phänomene zu hinterfragen. B RISLIN und H ERWARTZ -E MDEN orientieren sich hingegen am explorativ-interpretativen Paradigma der Sozialwissenschaften und fordern die Einbeziehung der Perspektive der Beteiligten in eine Untersuchung, um Kategorien zu erhalten, die geeignet sind, komplexe Konzepte angemessen zu beschreiben. <?page no="18"?> 6 Konzeption der Arbeit 1.5 Einbezug emischer Sichtweisen Wie dargestellt wurde, plädiert die Interkulturalitätsforschung für den Einbezug emischer Sichtweisen in die Analyse des Untersuchungsgegenstands. Daher fragt G ÜNTHNER (1993) in ihrer Untersuchung des chinesischen Diskursverhaltens, „was die Mitglieder einer Sprechgemeinschaft als Bestandteil des Beschreibungsgegenstandes akzeptieren“ (G ÜNTHNER 1993: 28). Ähnlich verfährt L EHKER , deren „emischer Ansatz“ (L EHKER 1997: 2; 2001: 132) darin besteht, chinesische Texte zunächst mithilfe „chinesischer Kategorien“ zu beschreiben und diese Beschreibungen dann im Rahmen „westlicher Kategorien“ zur Entwicklung interpretativer Analysemodelle zu reformulieren. Die vier Aufsatzsorten werden aufgrund der Ausführungen im Lehrwerkset sowie in einem chinesischen Lehrernachschlagewerk zunächst jeweils allgemein und in der chinesischen Terminologie beschrieben, um danach jeweils vor dem Hintergrund der westlichen Textlinguistik diskutiert zu werden. Diese Diskussion liefert die Grundlage eines, den vier Aufsatzsorten jeweils angepaßten Modells zur Analyse der exemplarischen Lehrbuchtexte (L EHKER 1997: 2). L EHKER (1997) löst mit diesem Verfahren die Forderung H ERWARTZ -E MDEN s (1995) ein. Sie vergleicht emische Beschreibungsmodelle, um integrative etische Beschreibungsmodelle zu entwickeln. Dieser Empfehlung folge ich, vermeide es aber, einer „chinesischen Linguistik“ eine „westliche“ gegenüberzustellen, denn Linguisten aus der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China beteiligen sich an einem internationalen Wissenschaftsdiskurs und verwenden häu g identische Begriffe. Beispielsweise wird ein allgemeiner Begriff wie „Textsortenwissen“ (wenti yishi) in deutschen und chinesischen Publikationen in gleicher Bedeutung verwendet. Auch die zentralen Begriffe der Argumentationstheorie wie „These“ (lundian) und „Argument“ (lunju) sind eindeutig westlichen Ursprungs, gleiches gilt für Begriffe wie „Logik“ (luoji) oder „Dialektik“ (bianzhengfa). Daher sind es keine „emischen“ Kategorien, deren sich Linguisten aus China bedienen. Unterschiedlich sind jedoch Bestimmungen, die etwa festlegen, was als „Argument“ gelten kann. Man könnte in Anlehnung an B RISLIN (2000: 86) bei dem Begriff „Argument“ von einem „etischen Begriff in emischer Färbung“ sprechen. Andere Begriffe sind wiederum eindeutig chinesischen Ursprungs, etwa das Kriterium biaoda fangshi („Darstellungsart“) zur Klassi kation von Texten oder der Begriff chengyu („Tetragramm“) zur Beschreibung bestimmter phraseologischer Verbindungen, die nur das Chinesische kennt. Unterschiedlich sind auch didaktische Empfehlungen und Bewertungskriterien, die festlegen, wodurch sich Texte auszeichnen. Das Diskursparadigma etisch-emisch eignet sich demnach nicht zur Einschätzung aller, wohl aber einiger Begriffe sowie zur Untersuchung von Konzepten, die sich hinter den Begriffen verbergen. 1.6 Aufbau der Arbeit Wie es B RISLIN (2000: 71) und L EHKER (1997: 2) fordern, ist es notwendig, bei der Erforschung eines bestimmten Untersuchungsgegenstands emische Sichtweisen in die Analyse zu integrieren. Laut M EINEFELD (2000: 273) ist es zudem unerlässlich, vorgängige Annahmen als Ex-ante-Hypothesen zu formulieren und sie von selbst generierten Hypothesen zu unterscheiden. Konkrete Forschung vollzieht sich jedoch keineswegs immer so linear, wie es M EI - NEFELD s Trennung von Ex-ante-Hypothesen und selbst generierten Thesen suggeriert. <?page no="19"?> 7 Konzeption der Arbeit Nicht immer werden vor einer Datenerhebung alle erkenntnisleitenden Ex-ante-Hypothesen aufgestellt, um erhobene Daten dann im Lichte dieser Vorannahmen zu analysieren. Vielmehr können es Daten erforderlich machen, sich auch während der Analyse mit Beiträgen der Forschung auseinanderzusetzen. Neben dem Vorwissen, das zu einer Bestimmung der Richtung der Analyse führt, gelangt man im Verlauf des Forschungsprozesses immer wieder zu „neuen Ex-ante-Hypothesen“. Insofern ist Forschung auch gekennzeichnet durch einen Zuwachs an theoretischem Wissen. Im Fall vorliegender Arbeit führte beispielsweise die Beschäftigung mit Beiträgen der chinesischen Aufsatzdidaktik dazu, dass bestimmte Aspekte der Daten in ganz neuem Licht erschienen. Allgemeine Analysemodelle der qualitativen Forschung (vgl. etwa M AYRING 2002: 116; 2003: 54) berücksichtigen diese permanenten Rückkopplungen mit externem Material nicht. Der Untersuchungsprozess ist demnach gekennzeichnet durch verschiedene Phasen. Einer intensiven Beschäftigung mit dem Datenmaterial kann eine Auseinandersetzung mit allgemeinen Fragen oder auch die erneute Lektüre vorliegender kontrastiver Beiträge folgen, die dann ihrerseits die Daten in einem neuen Licht erscheinen lassen. Die zeitversetzte Beschäftigung mit Daten und mit externem Material vollzieht sich nicht linear sondern eher parallel oder rekursiv. Jedoch führt auch ein durch Sprünge gekennzeichneter Untersuchungsprozess letztendlich zu einer sich um Stringenz bemühenden Präsentation der Ergebnisse. So ist Teil A vorliegender Arbeit vor allem, aber nicht ausschließlich das Ergebnis der Beschäftigung mit der Forschungsliteratur und dient dazu, zentrale Grundannahmen zu explizieren. Bei diesen Annahmen handelt es vornehmlich um vorgängige, erkenntnisleitende Ex-ante-Hypothesen, jedoch sind einige erst während der Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial formuliert worden. Auch Teil B verzichtet nicht durchgängig auf eine Auseinandersetzung mit Positionen der Forschung. So erschien es an einigen Stellen geboten, die in Teil A entwickelten Gedanken nicht nur aufzugreifen, sondern sie zu ergänzen und weiter zu entwickeln, um ein geeignetes Instrumentarium zur Analyse der Daten zu nden. Insofern benennt die Trennung der Arbeit in einen „theoretischen“ und einen „empirischen“ Teil nur unterschiedliche Schwerpunkte der Arbeit und spiegelt den konkreten Verlauf der Untersuchung nur unzureichend wider. Im ersten Teil vorliegender Arbeit (Teil A) werden zentrale Vorannahmen und Hypothesen expliziert, sie bilden das Gerüst der Dateninterpretation im zweiten Teil der Arbeit (Teil B). In Teil A ndet nach konzeptionellen Vorbemerkungen in Kapitel 1 in Kapitel 2 eine dezidierte Auseinandersetzung mit chinaspezi schen Beiträgen der Kontrastiven Rhetorik seit K APLAN (1966/ 2001) statt, um zentrale Hypothesen zum Untersuchungsgegenstand zu rekapitulieren. Ausgehend von den impliziten Kulturbegriffen, die in diesen Beiträgen vertreten werden, führt die Re exion in Kapitel 3 zur Entwicklung eines praxeologischen Kulturbegriffs. Zentrale Referenztexte sind die kulturwissenschaftlichen Arbeiten von H ANSEN (2000) und B ARKOWSKI / Eß ER (2005). Anschließend werden die zuvor diskutierten Beiträge der Kontrastiven Rhetorik in Anlehnung an H ANSEN (2000) und B OLTEN (2003) vergleichend eingeschätzt. In Kapitel 4 werden dann zentrale Bestimmungen R EHBEIN s (1977) zum komplexen Handeln dargestellt, um grundsätzlich drei Handlungsebenen bei der Textproduktion unterscheiden zu können: auf der ersten Handlungsebene (Textproduktion) explizieren H AYES / F LOWER (1980) und B ÖRNER (1989) Schreiben als Problemlösungsprozess. Auf der zweiten Ebene (Interaktion) betrachtet W ROBEL (1995) Textproduktion als kommunikative Handlung. Weil die genannten Modelle weder kulturelle Unterschiede zwischen Autor und Rezipient berücksichtigen noch <?page no="20"?> 8 Konzeption der Arbeit hinreichend einzelne Handlungsschritte bei der gelenkten Textproduktion im Fremdsprachenunterricht abbilden, wird ein modi ziertes Modell der Textproduktion in interkulturellen Kontexten entwickelt. Kapitel 5 stellt das Argumentationsmodell T OULMIN s (1996) vor und erweitert es in Anlehnung an K OPPERSCHMIDT (2000), um Varianten von argumentativen Aufsatzsorten klassi zieren und Handlungen auf der dritten Handlungsebene (Diskurs) explizieren zu können. Kapitel 6 kontrastiert gängige Textklassi- kationen in Deutschland und China, um in Kapitel 7 zunächst typologische Merkmale der Aufsatzsorte Erörterung nach Darstellung in deutschen Lehrwerken und Schreibhilfen zu systematisieren. Diesen Bestimmungen folgt in Kapitel 8 dann die Beschreibung typologischer Merkmale der Aufsatzsorte Yilunwen. Hierzu werden Darstellungen im landesweit eingesetzten Lehrwerk Yuwen und in Beiträgen der Aufsatzdidaktik ausgewertet. Den Abschluss von Teil A bildet ein Textsortenvergleich der Aufsatzsorten Erörterung und Yilunwen in Kapitel 9. In Teil B ndet die Interpretation des erhobenen Datenmaterials statt. Zunächst beschreibt Kapitel 10 das Untersuchungsdesign, die Zugänge ins Feld und die Erhebungsinstrumente (Ausgangstext und Arbeitsauftrag). Bei Betrachtung der drei Probandengruppen wird die Theorie der Multikollektivität bei H ANSEN (2000) um die Dimension der Zeitlichkeit ergänzt. Kapitel 11 entwickelt ausgehend von H ELLWIG (1984), M OILA - NEN (1996), O LDENBURG (1992), H UTZ (2001) und K OPPERSCHMIDT (1989) ein kulturübergreifendes Analyseverfahren, welches Teile eines argumentativen Textes als Phasen einer komplexen Handlung auf der Ebene des Diskurses interpretiert. Nach einer Beispielanalyse werden die zentralen Analysefragen der Arbeit genannt. Kapitel 12 untersucht die quantitative Verteilung der zentralen Teiltexte „Einschätzung der Problemlage“, „Einschätzung der Handlung“ und „Re exion von Handlungsoptionen“, um erste Auskünfte zu erhalten, welche inhaltlichen Schwerpunkte die Texte im Datenkorpus jeweils setzen. Kapitel 13 fokussiert - unabhängig von den drei Teiltexten - den Umgang mit dem Ausgangstext und fragt, ob diesem nur Informationen entnommen werden oder ob auch eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Informationen statt ndet. Kapitel 14 untersucht den Teiltext „Einschätzung der Problemlage“ und fragt, in welchen Kollektiven das Problem situiert wird, wobei die entsprechenden Textaussagen auf die kulturelle Herkunft der Probanden bezogen werden. Kapitel 15 greift einen Aspekt erörternder Texte auf, den die Aufsatzdidaktik in China betont. Untersucht wird, inwiefern einzelne Textgegenstände einer epistemologischen Betrachtung unterzogen werden. Kapitel 16 untersucht dann Darstellungen des Verhaltens von Jugendlichen und fragt, ob dieses beschrieben, erklärt oder beurteilt wird. Kapitel 17 wendet sich dem Teiltext „Einschätzung der Handlung“ zu und untersucht, ob neben der im Ausgangstext vorgestellten Maßnahme auch analoge Maßnahmen dargestellt werden. Kapitel 18 fragt zunächst nach dem Meinungsbild in den einzelnen Probandengruppen, um daraufhin zu untersuchen, ob die strittige Angelegenheit kontrovers oder linear diskutiert wird. Kapitel 19 analysiert den Teiltext „Re exion von Handlungsoptionen“, wobei die jeweiligen Handlungsempfehlungen als ankierende, alternative und modi zierende Maßnahmen klassi ziert werden. Kapitel 20 fasst wichtige Untersuchungsergebnisse der Arbeit zusammen und formuliert Hypothesen zum Schreiben in Interimssprachen, an die weitere Untersuchungen anknüpfen können. <?page no="21"?> 2 Kontrastive Rhetorik Die vorliegende Dissertation steht in der Tradition der Kontrastiven Rhetorik (KR), einer interdisziplinären Forschungsdisziplin, die sich besonders im angelsächsischen Raum etablieren konnte. 4 In diesem Kapitel möchte ich Arbeiten zu Texten aus dem ostasiatischen Kulturraum (K APLAN 1966/ 2001) und China (M OHAN / L O 1985, L IANG 1991, G ÜNTH - NER 1993, Y OUNG 1994, F ENG 1994, L EHKER 1997, Y IN 1999, W EN 2001) diskutieren. Die Kapiteleinteilung orientiert sich an wichtigen Traditionslinien der KR. (2.1) Zunächst wird mit dem frühen Artikel K APLAN s aus dem Jahr 1966 der Ausgangspunkt der meisten späteren Arbeiten der KR diskutiert. (2.2) Daraufhin stelle ich kontrastive Arbeiten vor, die in den 1980er und 1990er Jahren im Anschluss an K APLAN traditionelle Formen des Textaufbaus in China rekonstruieren. (2.3) Gesondert möchte ich die für vorliegende Arbeit besonders relevanten Untersuchungen von Texten chinesischer Schüler bzw. von schulischen Aufsatzsorten in der Volksrepublik China diskutieren. (2.4) Daraufhin befasse ich mich mit Beiträgen zur Diskursorganisation, um Aufschluss über Formen des kommunikativen Verhaltens zu gewinnen. (2.5) In Form eines Fazits trage ich abschließend zentrale Hypothesen der Forschung zu Texten chinesischer Muttersprachler zusammen. 2.1 Die Anfänge der Kontrastiven Rhetorik: Die Position von Kaplan In „Cultural Thought Pattern in Inter-Cultural Education“ macht K APLAN 1966 erstmals kulturell markierte, textstrukturelle Unterschiede zwischen Herkunfts- und Zielsprache für Formen der Textorganisation in Lernertexten verantwortlich. Er beruft sich auf Urteile von Dozenten, die in Texten selbst weit fortgeschrittener Fremdsprachenlerner gravierende De zite feststellten. Foreign students who have mastered syntactic structures have still demonstrated inability to compose adequate themes, term papers, theses, and dissertations. Instructors have written, on foreign-students papers, such comments as: „The material is all here, but it seems somehow out of focus“, or „Lacks organization“ or „Lacks cohesion.“ [...] The foreign-student paper is out of focus because the foreign student is employing a rhetoric and a sequence of thought which violate the expectations of the native reader. (K APLAN 1966/ 2001: 13) Besonders drastisch zeigen sich Abweichungen von zielsprachigen Formen des Textaufbaus laut K APLAN offenbar in Interimstexten ostasiatischer Lerner. Um zu demonstrieren, wie „anders“ Texte organisiert sein können, zitiert er den Text eines koreanischen Englischlerners: 4 Vergleichende Überblicke über Arbeiten der KR geben S ILVA (1993), C ONNOR (1996), G RABE / K APLAN (1996), K APLAN (1996) und L EKI (1997). Nach C ONNOR (1996: 9) hat die KR kein eigenes Begriffs- und Analyseinstrumentarium entwickelt, einzelne Beiträge stützen sich vor allem auf folgende Bezugswissenschaften: Angewandte Linguistik, Theorie der sprachlichen Relativität, Rhetorik, Textlinguistik, Theorie der Diskurstypen und Genres, Schreiberwerbsforschung und Translationswissenschaft. Bei vielen Arbeiten handelt es sich um unveröffentlichte Vorträge, Konferenzbeiträge oder Master-Arbeiten, die im Verbundsystem deutscher Bibliotheken nicht greifbar sind. C ONNOR (1996: 34, Anm.1) beklagt, dass 58 % der von S ILVA (1993) aufgelisteten Arbeiten weder in Textsammlungen noch in renommierten Magazinen veröffentlicht worden sind. <?page no="22"?> 10 Kontrastive Rhetorik De nition of college education (1) College is an institution of an higher learning that gives degrees. (2) All of us needed culture and education in life, if no education to us, we should to go living hell. (3) One of the greatest causes that while other animals have remained as they rst man along has made such rapid progress is has learned about civilization. (4) The improvement of the highest civilization is in order to education up-to-date. (5) So college education is very important thing which we don’t need mention about it. (K APLAN 1966/ 2001: 17, Segmentierung ergänzt; D. S.) Dieser Text verletzt die Erwartungen amerikanischer Dozenten nicht nur aufgrund der zahlreichen syntaktischen Normverstöße. K APLAN kommentiert: In (1) de niere der Lerner „college“ und nicht „college education“. In (2) folge eine allgemeine Aussage über die Wichtigkeit von Erziehung und Kultur. Dann würden in (3) zivilisierte Menschen Tieren gegenübergestellt, in (4) Zivilisation und Erziehung aufeinander bezogen. Erst in (5) werde auf die Überschrift eingegangen: „The paper arrives where it should have started“ (vgl. K APLAN 1966/ 2001: 17f.). 5 K APLAN erkennt in diesem Text ein Muster der Textorganisation, welches er missverständlich als „orientalisch“ bezeichnet. Zutreffender wäre die Bezeichnung „ostasiatisch“, denn K APLAN sieht dieses Muster in Texten chinesischer und koreanischer Lerner realisiert (vgl. K APLAN 1966/ 2001: 25, Anm. 13). Deren Aufsätze charakterisiert er folgendermaßen: Some Oriental writing [...] is marked by what may be called an approach by indirection. In this kind of writing, the development of the paragraph may be said to be „turning and turning in a widening gyre.“ The circles or gyres turn around the subject and show it from a variety of tangential views, but the subject is never looked at directly. Things are developed in terms of what they are not, rather than in terms of what they are. Again, such a development in a modern English paragraph would strike the English reader as awkward and unnecessarily indirect (K APLAN 1966/ 2001: 17). Die „indirekte“ Themenentfaltung zeigt sich diesen Ausführungen zufolge darin, dass ein Autor den zentralen Textgegenstand nicht einleitend benennt, vielmehr nähert er sich ihm, indem er ihn einkreist und aus unterschiedlichen, ihn streifenden Perspektiven („tangential views“) betrachtet. So erfährt der Leser zunächst nur, was den Textgegenstand nicht kennzeichnet, erst am Textende äußert sich ein Autor klar. Tabelle 2.1 fasst die zentralen Thesen K APLAN s zu Formen des „Oriental writing“ zusammen. Kennzeichen des „Oriental writing“ 1. Die Form des Textaufbaus ist „zirkulär“. 2. Die Erörterung zentraler Textgegenstände ist „indirekt“, da sie aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. 3. Durch ein charakteristisches „Einkreisen“ der Textgegenstände wird zunächst nur deutlich, was diese Textgegenstände nicht kennzeichnet. Zentrale Aussagen zu den Textgegenständen werden erst am Ende eines Textes gemacht. Tabelle 2.1: Kennzeichen des „Oriental writing“ nach K APLAN (1966/ 2001). 5 Eine ausführliche Kritik dieser Lesart des Beispieltextes und der Versuch einer Neuinterpretation unter Berücksichtigung der chinesischen Aufsatzdidaktik nden sich in Kapitel 20 vorliegender Arbeit. <?page no="23"?> 11 Kontrastive Rhetorik Neben dem skizzierten „Oriental writing“ nimmt K APLAN nach Analyse von 598 Lernertexten vier weitere Muster des Textaufbaus an, die er vorläu g 6 größeren Kulturräumen zuordnet. englisch semitisch orientalisch romanisch slawisch Schaubild 2.1: Formen des Textaufbaus nach K APLAN (1966/ 2001: 21). K APLAN s frühe Arbeiten fallen in eine Zeit, in der die Fremdsprachendidaktik Erkenntnisse der Kontrastiven Linguistik aufgriff, um Interferenzfehlern vorzubeugen. 7 K APLAN fordert, neben Unterschieden auf der Wort- und Satzebene auch Unterschiede auf der Textebene zu berücksichtigen, um Fremdsprachenlernern, denen es schwerfällt, Texte gemäß zielsprachlicher Konventionen zu organisieren, eine Hilfestellung zu bieten: In the teaching of paragraph structure to foreign students, whether in terms of reading or in terms of composition, the teacher must be himself aware of these differences, and he must make these difference overtly apparent to his students. In short, contrastive rhetoric must be taught in the same sense that contrastive grammar is presently taught. Now not much has been done in the area of contrastive rhetoric. It is rst necessary to arrive at accurate description of existing paragraph orders other than those common to English (K APLAN 1966/ 2001: 20). Die frühen Annahmen K APLAN s zum Zusammenhang von Kultur und Textproduktion und die didaktischen Implikationen der KR können bündig wie folgt dargestellt werden (vgl. K OWAL 1998: 122-129; S KIBA 2008): 1. Jede Kultur hat eine eigene Form der Textorganisation. In den Herkunftskulturen der Lerner bestehen andere rhetorische Traditionen und tradierte Formen des Textaufbaus. Diese Muster werden im Prozess der muttersprachlichen Schreibsozialisation erworben. 2. Das eigenkulturell erworbene Textmusterwissen determiniert die Textproduktion in der Fremdsprache. Ein negativer Transfer führt dazu, dass Texte entstehen, die von zielsprachigen Formen der Textorganisation abweichen. Unerlässlich ist es daher, im Fremdsprachenunterricht auf charakteristische Unterschiede zwischen kulturell markierten Formen des Textaufbaus hinzuweisen. 3. Der Kontrastiven Rhetorik fällt die Aufgabe zu, Formen der Textorganisation in verschiedenen Kulturen zu bestimmen, um ausgehend von erkannten Unterschieden geeignete Übungsformen für den fremdsprachlichen Schreibunterricht zu entwickeln. 6 Wie K OWAL (1998: 108-122) in einer sprachlichen Analyse von K APLAN s Text zeigt, markiert dieser durch zahlreiche hedge-Ausdrücke seine Schlussfolgerungen ausdrücklich als Hypothesen. 7 Eine ausführliche wissenschaftsgeschichtliche Darstellung der KR geben C ONNOR (1996: 28ff.) und K OWAL (1998: 101-104). <?page no="24"?> 12 Kontrastive Rhetorik 2.2 Textlinguistische Untersuchungen 1966 hatte K APLAN gefordert: “It is rst necessary to arrive at accurate description of existing paragraph orders other than those common to English.” (K APLAN 1966/ 2001: 20). Diesem Aufruf sind in der Folgezeit viele Autoren nachgekommen und haben die Formen des Textaufbaus kulturvergleichend beschrieben. 8 K APLAN selbst bemüht sich in zwei späteren Arbeiten um den Nachweis, dass sich ostasiatische Lerner an traditionellen Textmustern orientieren. In Texten chinesischer Englischlerner sieht er das Muster des Baguwen realisiert, des „achtfüßigen Prüfungsaufsatzes“ 9 aus dem dynastischen China (vgl. K APLAN 1968: 7-11). In diesem alten Aufsatzformat, so vermutet K APLAN , ist angelegt, dass Englischlerner die Textgegenstände nicht direkt benennen, sondern sie aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Daher entstehe der Eindruck einer Zirkularität: „There is a lot of seemingly unnecessary wandering about the topic. The papers are characterized by an inability to get to the point and stick with it.“ (K APLAN 1972: 60). K APLAN s Annahme, Fremdsprachenlerner folgten in der Gliederung ihrer Texte dem Muster des traditionellen Baguwen, schließen sich einige Autoren (etwa Y OUNG 1994: 93) an, andere widersprechen vehement. So machen M OHAN / L O (1985) geltend, dass der Baguwen seit Ende des Systems der Beamtenprüfung (keju zhidu) im Jahr 1901 nicht mehr gelehrt werde. Heute sei die Form des traditionellen Prüfungsaufsatzes in China fast gänzlich unbekannt und könne daher keinerlei Ein uss auf aktuelle Textproduktionen haben (vgl. M OHAN / L O 1985: 519). In China würde heute die Einhaltung ähnlicher Prinzipien wie in den USA gefordert. So hieße es in einer aktuellen chinesischen Aufsatzdidaktik: „Every essay should have a thesis; each paragraph should have a main idea; and more generally, an essay should have unity and coherence.“ (M OHAN / L O 1985: 520). Die Mehrzahl der kontrastiven Arbeiten zur Textorganisation im Chinesischen nennt nicht das achtgliedrige Muster des Baguwen, sondern ein anderes traditionelles Textmuster, das in der chinesischen Rhetorik unter dem Begriff qi-cheng-zhuan-he bekannt ist. 10 8 Kontrastive Untersuchungen zum Sprachenpaar Chinesisch-Deutsch auf Wort und Satzebene nden sich u.a. in den Sammelbänden von F LUCK / L I / Z HAO (1984), H UANG / S UN (1994). 9 Der Baguwen wurde seit der Ming-Dynastie bei staatlichen Beamtenprüfungen eingesetzt. Er besteht aus folgenden acht Teiltexten: poti („Einführung in das Thema“), chengti („Fortführung der Themas“), qijiang („Beginn der Durchführung“), rushou („Eröffnung“), qigu („beginnender Strang“), zhonggu („mittlerer Strang“), hougu („späterer Strang“) und shugu („schließender Strang“). Eine kompakte Darstellung dieses Textmusters gibt Y OUNG : „Instead of extended arguments that brought things to a tight close, a sucession of related images was balanced and counterbalanced to converge into a integrated whole. A theme was elucidated, followed by a “turn” or differently angled perspektive in the argument, and next came the “eight legs” of the last four paragraphs, themselves setting fourth a carefully balanced conclusion with contrasting examples patterned in alternating, contiguos lines, thus elegantly satisfying the formal demands of antithesis and parallelism. Throughout, the topic - perhaps a quotation by Confucius set as a thema by the examiners - was repeated, its premise constantly implied rather than explicated. At the essay’s end, the author’s ideas emerged in just a few lines, often merely to con rm conventional wisdom.“ (Y OUNG 1994: 90). Als Meister des Baguwen, auf den sich auch K APLAN (1968) beruft, gilt W ANG A O (1450-1524). Eine englische Übersetzung eines seiner berühmtesten Essays „If the people enjoy suf ciency how could the ruler suffer from insuf ciancy? “ ndet sich in T U C HING -I (1974: 391-406). In China gilt der Baguwen seit der „Bewegung des Vierten Mai“ als Musterbeispiel reglementierten Schreibens. Schreiben im „Stil des Bagu“ (bagu wenfeng) gilt als Zeichen der Pedanterie (vgl. L IU 2000: 419). 10 Teilweise auch bekannt unter qi-cheng-jun-he. <?page no="25"?> 13 Kontrastive Rhetorik Dieses Schema, das offensichtlich im ganzen ostasiatischen Kulturraum verbreitet ist, 11 beschreibt folgende vier Handlungsschritte: Textsegment Wörtliche Bedeutungen Handlungen 1 qi to start introduction and loose development 2 cheng to carry on, sustain, follow-up statement of the main idea 3 zhuan to turn concepts indirectly connected with the argument 4 he to conclude conclusion of the main theme Tabelle 2.2: Textgliederung nach dem qi-cheng-zhuan-he-Schema, Übersetzung nach Y OUNG (1994: 94), Interpretation der Textgliederung nach E GGINTON (1987). Die größte Abweichung von „linearen“ westlichen Formen der Textorganisation ist der dritte Schritt. Hier weicht der Text vom eigentlichen Thema ab. Wie H INDS bemerkt, wird der Text uss unterbrochen durch “the intrusion of the unexpected element of an otherwise normal progression of ideas“ (H INDS 1983: 188). Auch L IANG Y ONG (1991) betont in seiner kontrastiven Analyse chinesischer und deutscher Rezensionen die Kontingenz des traditionellen qi-cheng-zhuan-he-Schemas. In beiden Kulturen möchte ein Autor den Leser über eine bestimmte Objektpublikation informieren und diese bewerten (vgl. L IANG 1991: 291), jedoch unterteile ein chinesischer Autor seinen Text in andere Teiltexte als ein deutscher. 12 Schaubild 2.2 zeigt die verschiedenen Ablaufpläne. Textmuster deutsche Rezension Textmuster chinesische Rezension A. Einleitende Information E. Würdigung/ Auseinandersetzung D. Metainformation C. Kritische Auseinandersetzung e. Auseinandersetzung/ Würdigung d. Metainformation c. Kerninformation B. Kerninformation b. Einleitende Information a. Würdigung Schaubild 2.2: Textmuster wissenschaftlicher Rezensionen in Deutschland und China nach L IANG (1991: 297). 11 Vgl. H INDS (1983, 1984), J ENKINS / H INDS (1987), E GGINTON (1987), T AYLOR / C HEN (1991). 12 In Anlehnung an G ÜLICH / R AIBLE (1977), VAN D IJK (1980) und R OSENGREN (1987) rekonstruiert L IANG die Makrostrukturen der Texte. Hierbei geht er davon aus, dass „die Gliederung und die Abfolge der Teiltexte die funktional abgrenzbaren Handlungsschritte und die zugrundeliegende Sequenz der gedanklichen Ausführung des Textproduzenten widerspiegeln können.“ (L IANG 1991: 296). <?page no="26"?> 14 Kontrastive Rhetorik (A) In einer deutschen Rezension wird im Titel einleitend darüber informiert, welche Objektpublikation rezensiert wird (= bibliogra sche Angaben). (B) Im Textteil werden dann einleitend Informationen über die Publikation gegeben (= Exposition: Entstehung, Aufgabe, Zielsetzung, inhaltliche Strukturierung der Publikation etc.). (C) Im Hauptteil erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit der Publikation (globale und detaillierte Darstellung, detaillierte negative Bewertung). (D) Gleichzeitig werden im Mittelteil verschiedene Metainformationen zur Einschätzung der Publikation gegeben (Forschungsstand, Literaturhinweise, Querverbindungen zu Nachbardisziplinen, persönliche Auffassung des Rezensenten etc.). (E) Resümierend erfolgt eine Gesamtbewertung der Publikation im Kontext der Forschung (vgl. L IANG 1991: 298- 306). (a) In einer chinesischen Rezension wird in der Überschrift die Objektpublikation zumeist positiv bewertet (z.B. „Eine Monogra e zur Buddhismusforschung mit bahnbrechender Bedeutung“). (b) Im Textteil wird einleitend über die Objektpublikation informiert (= Exposition: bibliographische Angaben; Nennung des akademischen Titel des Rezensierten, Metainformation über das wissenschaftliche Umfeld). (c) Im Mittelteil werden vor allem Kerninformationen der Objektpublikation spezi ziert. (d) Durch Metainformationen (relevantes Hintergrundwissen) wird die Vermittlung der Kerninformationen unterstützt. (e) Resümierend wird im Schlussteil die Objektpublikation insgesamt oder Einzelaspekte gewürdigt (vgl. L IANG 1991: 298-306). Wie es die Pfeile im Schaubild 2.2 andeuten, nden sich im Mittelteil einer deutschen Rezension zahlreiche Querverweise, um die Objektpublikation kritisch einzuschätzen. Demgegenüber nden sich in einer chinesischen Rezension ständig Rückbezüge zur einleitend genannten Würdigung der Objektpublikation. Beispielsweise kann der Schlusssatz eine kritische Bemerkung im Mittelteil relativieren, um auf die positive Gesamtbewertung am Textanfang zu verweisen. Oder die einleitend genannte positive Gesamtbewertung wird wiederholt. In beiden Fällen besteht laut L IANG ein enger Zusammenhang zwischen Anfang und Ende des Textes. Diesen chinesischen Textablaufplan interpretiert er als „kulturspezi sches Vertextungsschema“ (L IANG 1991: 295), das er auf das traditionelle qi-cheng-zhuan-he-Schema zurückführt. Diese stilistische Strategie und Konvention erinnert uns an die traditionelle Struktur des Textes im Chinesischen, die eine Textanordnung von qi (Anfangen), cheng (Fortführen), zhuan (Umwechseln) und he (Zusammenlegen) enthält und als allgemeingültige und grundlegende Regel fungiert bzw. fungieren soll. Diese Textpraxis spiegelt die kreisartige Denkweise im Chinesischen wider und damit „die universelle Harmonie der Wesenheiten“ (H OLZ 1986: 67), auf die sich auch das wissenschaftliche Handeln als Grundlage zu rekurrieren hat (L IANG 1991: 307). <?page no="27"?> 15 Kontrastive Rhetorik Schaubild 2.3 zeigt zwei Modelle, mit denen L IANG das Zusammenwirken der vier zentralen Teiltexte im Chinesischen illustriert. Fortführen Anfangen Textan− ordnung Zusammen− legen Umwechseln Rezension Exposition Spezifikation Resümee Auseinan− dersetzung Schaubild 2.3: Teiltexte im Chinesischen. Grundmodell und Realisation in Fachtextsorte Rezension nach L IANG (1991: 307, vgl. 1998: 221f.) L IANG geht demnach wie K APLAN davon aus, dass in chinesischen Texten „zirkulär“ argumentiert wird. Über K APLAN hinausgehend identi ziert er einzelne Teiltexte als Stadien eines allgemeinen Handlungsschemas, das den Text zu einer „kreisartig“ realisierten Gesamthandlung zusammenbindet. Diese Einschätzung reicht über die Beschreibung der fachspezi schen Dimension der Textsorte Rezension hinaus. L IANG zeigt, dass Vertextungsmuster mit „allgemeinen diskursiven Handlungsmustern“ (1991: 308) korrelieren, die in einem Kulturraum konventionalisiert sind. Die soziokulturelle Determiniertheit der Textproduktion zeige sich auf der Inhaltsebene auch im Verzicht auf offene Kritik. Gemäß chinesischer Interaktionsregeln würden so kon iktträchtige Situationen vermieden, um dem Rezensierten „Gesicht zu geben“ (vgl. auch L IANG 1996: 263ff.): Im Chinesischen zeichnet sich die Stärke wissenschaftlichen Rezensierens vor allem dadurch aus, das Positive im Rahmen des Gültigen zu entdecken und hervorzuheben. Deshalb ist dort die Würdigung der Objektpublikation weitgehend dominant. Die Meinungsverschiedenheit spielt nur eine untergeordnete und stark eingeschränkte Rolle und kann nur dann repräsentiert werden, wenn die Harmonie dadurch nicht beeinträchtigt wird, wobei die Harmonie nicht nur die Textanordnung meint, sondern auch die Interaktionsbeziehungen. Deshalb ndet sich im Chinesischen nie eine kategorisch negative Bewertung. Außerdem steckt in negativen Wertäußerungen fast immer eine große Ambiguität, die den Lesern Interpretationsmöglichkeiten offen läßt (L IANG 1991: 309). Wie L IANG Y ONG (1991) kontrastieren auch Y IN L ANLAN (1999) und W EN R ENBAI (2001) chinesische und deutsche Textsorten. Diese textlinguistischen Arbeiten vergleichen Zeitungskommentare, also ebenfalls Texte, in denen argumentiert wird. Im Gegensatz zu L I - ANG beziehen die Autoren ihre Ergebnisse nicht auf traditionelle Textmuster. In der 1999 erschienenen Monogra e Interkulturelle Argumentationsanalyse untersucht Y IN L ANLAN - anders als es der Titel erwarten lässt - nicht Argumentationen in interkulturellen Kontexten, vielmehr legt sie eine Analyse von je zehn deutschen und chinesischen Zeitungskommentaren vor. 13 Tabelle 2.3 fasst zentrale Ergebnisse ihrer Untersuchung zusammen. 13 Y IN differenziert hierbei „direkte“ und „indirekte“ argumentative Sprachhandlungen, wobei nur „reine“ Argumente eine zentrale Textthese oder Unterthesen stützten und dem Textziel „direkt“ dienten. Andere Sprachhandlungen, wie die Darstellung einer Sachlage, machten die argumentati- <?page no="28"?> 16 Kontrastive Rhetorik Chinesische Argumentationsstrategien Deutsche Argumentationsstrategien a. Überschrift gleich Hauptthese des Textes b. stark normative und auf Glaubhaftigkeit angelegte Sachlagedarstellung c. eine Hauptthese und wenige Unterthesen d. mehrfache Stützungen einer These bevorzugt e. intensive Verwendung eines beliebten Argumentationstyps f. Argumentationstypen zur Darstellung des Zusammenhangs von Handlung und Folgen g. Beispielargumentation als erstrangige Stützmöglichkeit h. Erwähnung des Textproduzenten i. Verwendung von einschränkenden Äußerungen j. keine Berücksichtigung von Gegenargumenten k. Aufforderung an den Leser, die von der These beinhaltete Handlung zu befolgen l. Erklärungen zur Durchführung der Handlung A. Überschrift als Blickfang B. stark normative Sachlagedarstellung C. eine oder zwei Hauptthesen und mehrere Unterthesen D. eine bis zwei Stützungen einer These E. Verwendung von verschiedenen Argumentationstypen F. Argumentationstypen zur Darstellung des Zusammenhangs von Grund und Handlung G. Beispielargumentation als zweitrangige Stützmöglichkeit H. Einbau suggerierender Äußerungen in den ganzen Text I. Berücksichtigung von Gegenargumenten Tabelle 2.3: Vergleich chinesischer und deutscher Argumentationsstrategien in Zeitungskommentaren nach Y IN L ANLAN (1999: 144). Unterschiede zwischen deutschen und chinesischen Zeitungskommentaren führt Y IN vor allem auf andere Rollenkonzepte von Kommentator und Leser zurück. Zu den in Tabelle 2.3 genannten Unterschieden merkt sie an: Der chinesische Textproduzent versucht nicht nur, den Rezipienten von seiner Meinung zu überzeugen, sondern er fordert ihn auch auf, Handlungen zu vollziehen. Diese Mitteilungsabsicht wird direkt und „autoritär“ signalisiert. (a) Das „autoritäre“ Verhalten des Textproduzenten äußert sich dadurch, dass die zentrale These bereits in der Überschrift genannt wird, (d) im Text wird sie durch mehrere Argumente „intensiv“ gestützt, (j) Gegenargumente werden kaum genannt, (f) manchmal wird auch darauf hingewiesen, welche negativen Konsequenzen bei Nichtvollzug der Handlung eintreten könnten. (k) Der Rezipient wird häu g direkt angesprochen, die Handlung zu vollziehen, (l) oftmals ergänzt durch Erklärungen, wie dies geschehen kann. (h) Die „autoritäre Verhaltensweise“ zeigt sich auch in der Selbstnennung des Textproduzenten (vgl. Y IN 1999: 145). Dem „autoritären“ Verhalten eines chinesischen Textproduzenten, der den Rezipienten direkt zu einer Handlung animiert, steht nach Einschätzung Y IN s das zurückhaltendere ven Grundstrukturen eines Textes nur verständlich und seien daher „indirekt-argumentativ“ (Y IN 1999: 69, 79). Zur Klassi kation der „direkten argumentativen Sprachhandlungen“ dient Y IN die Taxonomie K IENPOINTNER s (1992), die „indirekten argumentativen Sprachhandlungen“ interpretiert sie mit M OTSCH / P ASCH (1984) als Handlungen zum Erfüllen von Verstehens-, Akzeptierens- und Ausführungsbedingungen. Wie T HURMAIR (2001: 336f.) moniert, demonstriert Y IN ihre Analysemethode nur anhand eines einzigen Textes. Bei diesem handelt es sich um einen Lehrbuchtext, also um ein Exemplar einer Textsorte, die später gar nicht untersucht wird. Der empirische Teil biete zudem keine nachvollziehbaren Analysen der Zeitungskommentare. Aufgrund dieser methodischen Mängel sei der Erkenntnisgewinn der Arbeit nur „sehr gering“. <?page no="29"?> 17 Kontrastive Rhetorik Verhalten eines deutschen Textproduzenten gegenüber, der sich darauf beschränkt, den Rezipienten zum Nachdenken anzuregen. Der deutsche Textproduzent möchte den Rezipienten von seiner Meinung überzeugen und nicht veranlassen, eine Handlung zu vollziehen. Daher ist das Verhalten des Produzenten nicht „autoritär“. (A) Er verzichtet auf eine Selbstnennung und wählt als Überschrift einen „Blickfang“, der offen lässt, welche Meinung er vertritt. (D) Die Hauptthese wird nur durch wenige Argumente und damit „nicht intensiv“ gestützt. (C) Der Rezipient wird vor allem „zum Nachdenken“ angeregt. Daher werden Hauptthesen durch Unterthesen gestützt. (F) Die argumentative Grundstruktur betrifft den Zusammenhang aus „Grund und Handlung“, (I) Gegenpositionen werden dargestellt. (H) Der Produzent geht „mehr auf indirekte Weise“ vor, daher werden viele „suggerierende Äußerungen“ verwendet (vgl. Y IN 1999: 145). Gründe dieser markanten Unterschiede expliziert Y IN nicht näher und bezeichnet sie als „kulturell“ (vgl. Y IN 1999: 147ff.). Außerdem betont sie, dass die Massenmedien in der Volksrepublik China und der Bundesrepublik Deutschland eine andere Funktion haben. Das chinesische Pressewesen unterscheide sich vom deutschen „in bezug auf Pluralismus“ (Y IN 1999: 100). Die Studie von W EN R ENBAI (2001) zur Textstruktur des Zeitungskommentars ist zwar als methodologischer Beitrag zur Beschreibung von Textsorten konzipiert, exemplarisch untersucht W EN jedoch vier chinesische und vier deutsche Zeitungskommentare, so dass seine Untersuchung auch einen Beitrag zur kontrastiven Textlinguistik darstellt. 14 Nach Analyse seines Beispielmaterials zieht er das Fazit, dass chinesische und deutsche Kommentartexte die gleichen Textstrukturkonstituenten enthalten: einen einbettenden Rahmen, einen Hauptteil und eine Handlungsempfehlung (vgl. W EN 2001: 248-251). Jedoch zeigt seine Analyse, dass Handlungsempfehlungen unterschiedlich realisiert werden: Chinesische Kommentare verstehen sich häu g als eine Aufforderung, was in deutschen Kommentaren sehr selten der Fall ist. In chinesischen Kommentaren, deren Textillokution eine Aufforderung ist, ist häu g eine Illokution des konkreten Hinweisens (kH) vorstellbar. Sie kommt in der Sequenzierung im Kommentar nach der Rechtfertigung der Vernünftigkeit der Empfehlung vor und ist somit für die Argumentation in bezug auf die These des Kommentars im eigentlichen Sinne nicht notwendig. Sie gibt den Lesern konkrete Hinweise dafür, wie die aufgeforderte Handlung erfolgreich auszuführen ist (W EN 2001: 249). Als Textsortenmerkmal chinesischer Kommentare erkennt W EN demnach, dass neben einer allgemeinen Handlungsempfehlung zusätzliche „konkrete Hinweise“ gegeben werden, um das Handlungsziel zu realisieren. Dass in chinesischen Kommentaren häu ger als in deutschen aufgefordert wird, führt W EN - wie bereits Y IN - auf eine andere Funktion der Medien und ein anderes Verhältnis von Kommentator und Leser zurück: Kommentare als eine Aufforderung kommen im Deutschen im Unterschied zum Chinesischen sehr selten vor, was an der unterschiedlichen sozialpolitischen Funktion der Zeitungen und anderen Medien in der VR China und in Deutschland liegt. Die Belehrungsfunktion im Sinne der Meinungsund/ oder Wertbildung durch Kommentare wird in Deutschland sehr zurückhaltend eingesetzt. Die sozialen Gleichheitsbeziehungen zwischen dem Kommentator und den Lesern scheinen in beiden Ländern durch eine unterschiedlich große psychische Distanz gekennzeichnet 14 W EN folgt, um die Textstruktur von Kommentartexten zu rekonstruieren, V IEHWEGER (1983: 156) und differenziert Inhaltsebene (Strukturen der Propositionen) und Handlungsebene (Strukturen der Illokutionen) eines Textes (W EN 2001: 176, 256). Sein Beispielmaterial analysiert er daraufhin in zwei Schritten: Zunächst veranschaulicht er propositionale Strukturen eines Textes nach methodischen Vorschlägen von V AN D IJK (1980) und K OPPERSCHMIDT (1989). Danach beschreibt er die Illokutionsstrukturebene mit dem Instrumentarium von M OTSCH / P ASCH (1987). <?page no="30"?> 18 Kontrastive Rhetorik zu sein, was besonders bei den konkreten Hinweisen (kH) im Fall der Aufforderung deutlich zu sehen ist: Die Individualität der Leser in bezug auf die Handlungsfreiheit wird durch Kommentare in Deutschland und in der VR China unterschiedlich respektiert (W EN 2001: 259). W EN gelangt zu einem ähnlichen Befund wie Y IN : Während chinesische Zeitungskommentare die Leser belehrend auffordern, eine Handlung zu vollziehen und konkrete Hinweise geben, wie dies zu geschehen habe, fehlen direkte Appelle in deutschen Kommentartexten. Eine Angelegenheit werde lediglich bewertet, ohne den Leser zu „mobilisieren“ (W EN 2001: 249). 2.3 Untersuchungen zu Schülertexten und schulischen Aufsatzmustern In Deutschland ist bis auf eine unveröffentlichte Magisterarbeit (L ACHENMEIER 1990) meines Wissens noch keine Untersuchung zu Interimstexten chinesischer Deutschlerner erschienen. Jedoch liegen zwei kontrastive Arbeiten zu Formen der Textproduktion in schulischen Kontexten vor. F ENG Y ALIN (1994) vergleicht Schülertexte, die im Rahmen zweier Schreibwettbewerbe ausgezeichnet wurden und in Buchform vorliegen (vgl. F ENG 1994: 41-46). Die Heterogenität des Materials erschwert einen systematischen Textvergleich, daher beschränkt sich F ENG darauf, „auffällige“ Beispiele zu zitieren und zu kommentieren. Die Interpretation des Materials führt zu einigen, in Tabelle 2.4 zusammengetragenen Aussagen zu inhaltlichen und vor allem stilistischen Merkmalen chinesischer und deutscher Schülertexte. Merkmale chinesischer Schülertexte Merkmale deutscher Schülertexte 1. Metakommunikative Äußerungen zeigen, dass chinesische Jugendliche in den Texten versuchen, ihre authentischen Emp ndungen und Gedanken mit Zitaten, Sprichwörtern oder anderen überlieferten Sprachmitteln einen „Namen“ zu geben (161). 2. Chinesische Jugendliche neigen dazu, in ihren Texten bekannte Beispiele aus der chinesischen Geschichte anzuführen. Neuerdings verwenden sie auch Beispiele aus dem Ausland, um Weltoffenheit zu zeigen. Die Verwendung der Beispiele dient als „Argumentationshilfe und Anknüpfungsversuch an bestimmte Wertvorstellungen“ (146). 3. In chinesischen Texten ndet man keine jugendsprachlichen Ausdrücke (168). 1. Deutsche Jugendliche denken in ihren Texten über den Stellenwert der Sprache in der Kommunikation nach (161). 2. Deutsche Jugendliche misstrauen in ihren Texten überlieferten sprachlichen Konventionen und Klischees. Sie nähern sich der Sprachverwendung „kritisch-analysierend“ (162f.). 3. Einige deutsche Jugendliche verwenden in ihren Texten jugendsprachliche Ausdrücke (167f.). Tabelle 2.4: Stilistische Unterschiede in chinesischen und deutschen Schülertexten nach F ENG Y ALIN (1994). Ein zentraler stilistischer Unterschied besteht F ENG zufolge in der Verwendung von Phraseologismen. In ihrem Datenmaterial ndet sie 350 Chengyu und weitere Zitate (F ENG 1994: 171), zu denen sie anmerkt: <?page no="31"?> 19 Kontrastive Rhetorik Auffallend ist nicht nur die Buntheit der Herkunft der Zitate. Auffallend ist auch die gleiche Haltung der chinesischen Jugendlichen zu den Zitaten unterschiedlichster Herkunft. Ausländische Persönlichkeiten werden zum Beispiel in der gleichen Weise zitiert wie bekannte Chinesen aus der Zeit vor zweitausend Jahren. (F ENG 1994: 172). Chengyu und Zitate werden laut F ENG einerseits verwendet, um die eigene Sprachkompetenz zu demonstrieren. Sie erfüllten andererseits eine diskursive Funktion, denn der eigenen Meinung werde durch ihren Einsatz häu g Nachdruck verliehen. Man verwende sie als Einstieg in ein Thema oder im Schlusswort. Bisweilen würden sie auch selbst zum Thema eines Aufsatzes gemacht (vgl. F ENG 1994: 175f.). M ARIANNE L EHKER legt 1997 eine Untersuchung über Texte im chinesischen Aufsatzunterricht vor, also schulische Aufsatzsorten in der Volksrepublik China, um Formen eigenkulturellen Textsortenwissens zu rekonstruieren. Wie M OHAN / L O (1985) geht L EHKER davon aus, dass sich Formen der Textgliederung weniger nach traditionellen Mustern richten als vielmehr nach Mustern, die in chinesischen Mittelschulen vermittelt werden. L EHKER unternimmt den Versuch, chinesische Aufsatzsorten mit „emischen“ Kategorien, wie sie die chinesische Aufsatzdidaktik entwickelt hat, zu beschreiben. 15 So klassi ziert sie die chinesischen Aufsatzsorten Yilunwen, Jixuwen, Shuomingwen und Sanwen wie chinesische Aufsatzdidaktiker nach der dominierenden „Darstellungsart“ (L EHKER 2001: 134). 16 Nach Analyse von vier Modelltexten stellt L EHKER zentrale Merkmale der chinesischen Aufsatzsorte Yilunwen denen der deutschen Aufsatzsorte Erörterung gegenüber. 15 L EHKER vertritt folgenden methodologischen Ansatz: Da es sich bei ihrem Datenmaterial um Exemplare fremdkultureller Textsorten handelt, stellt sie unter Verweis auf G ÜNTHNER (1993) die Eignung „etischer“ Modelle der Textanalyse in Frage (vgl. L EHKER 1997: 2, 2001: 132). 16 Die genannten Aufsatzsorten untersucht L EHKER in drei Schritten: Zunächst rekapituliert sie Darstellungen in chinesischen Lehrwerken, dann interpretiert sie diese Aussagen „aus Sicht der westlichen Textlinguistik“ (L EHKER 1997: 124), um schließlich Analysemodelle zur Interpretation der Modelltexte zu entwickeln. L EHKER schlägt kein verbindliches Modell zur Interpretation chinesischer Aufsätze vor, vielmehr entwickelt sie komplementäre Modelle, die sich zur Untersuchung von Exemplaren einer bestimmten Aufsatzsorte eignen sollen. Bei der Analyse argumentativer Texte stellt L EHKER (1997: 108-169) zunächst in Anlehnung an L ÖTSCHER (1987) und B RINKER (1997) Formen der argumentativen Themenentfaltung dar, dann rekonstruiert sie in Anlehnung an C ONNOR / L AUER (1988) Formen der Ansprache des Lesers. <?page no="32"?> 20 Kontrastive Rhetorik Aufsatzsorte Yilunwen Aufsatzsorte Erörterung 1. Erörtert werden zumeist normative Fragen (155). 2. Die Textfunktion ist „dominant appellativ“. Der Produzent strebt an, „die Meinung und die zukünftige Handlungsweise des Rezipienten“ zu beein ussen (156). 3. Die Textgliederung folgt der Struktur „ein Problem aufwerfen, es analysieren und lösen“ (156f.). 4. Die Form der Themenentfaltung ist „dominant argumentativ“ (156), typisch ist jedoch auch die Integration narrativer Textsequenzen (164f.). 5. Die argumentative Themenentfaltung folgt dem Prinzip „Schicht um Schicht vertiefend“ (165f.). 6. Der Rezipient wird rational und affektiv angesprochen (166f.). 1. Neben normativen Fragen werden auch faktische Fragen erörtert (155). 2. Die Textfunktion ist „eher meinungsbeein ussend als meinungs- und verhaltensbeein ussend“ (156). 3. Die Textgliederung folgt der Struktur „Einleitung, Hauptteil, Schluss“ (156f.). 4. Die Form der Themenentfaltung ist „dominant argumentativ“ (156). Narrative Textsequenzen werden vermieden (164). 5. Die argumentative Themenentfaltung folgt einem linearen Organisationsprinzip (165f.). 6. Der Rezipient wird rational angesprochen (166f.). Tabelle 2.5: Textmustervergleich Yilunwen - Erörterung nach L EHKER (1997: 152-169). Im Kontext der Auseinandersetzung, welchen Gliederungsprinzipien chinesische Texte folgen, sind die Punkte (3) bis (5) in Tabelle 2.5 von Belang. L EHKER setzt sich deutlich von K APLAN ab und hält nach Analyse von vier Yilunwen fest: Es kann hier [...] nicht abschließend entschieden werden, ob im Fall der hier analysierten yilunwen tatsächlich von einer spiralförmigen Themenentfaltungsstruktur im Sinne K APLAN s gesprochen werden kann. Zwar trifft es zu, daß hier Textgegenstände aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden, doch kann man nicht sagen, daß dabei der Textgegenstand niemals direkt bezeichnet wird bzw. Gedanken eher entwickelt werden „in terms of what they are not, rather in terms what they are“, wie es K APLAN (1966: 10) formuliert. Das heißt, das Charakteristische an dem Bild der Spirale - daß nämlich erst nach und nach zum Thema des Textes vorgestoßen wird - ist hier nicht gegeben (L EHKER 1997: 152). Nicht nur der These einer angeblichen Spiralförmigkeit des chinesischen Textaufbaus widerspricht L EHKER . In dem von ihr untersuchten, landesweit eingesetzten Lehrwerkset Yuwen nde sich kein expliziter Hinweis auf das angeblich so verbreitete Textmuster qicheng-zhuan-he. Stattdessen fordere das Lehrwerk eine Dreigliederung eines argumentativen Textes nach dem Schema „ein Problem aufwerfen, es analysieren und lösen“ (tichu wenti - fenxi wenti - jiejue wenti). Hierbei gilt es, ein Thema „Schicht um Schicht zu vertiefen“ (cengceng shenru) (L EHKER 1997: 118). Zwar enthielten auch die von ihr analysierten Texte typische zhuan-Elemente (L EHKER 1997: 153), jedoch dienten diese der Argumentation, wobei jede einzelne Begründung „einen Wechsel (zhuan) zu einem etwas anderen Gesichtspunkt“ darstelle (L EHKER 1997: 165). [B]estimmte inhaltliche Aussagen werden an verschiedenen Stellen im Text wiederaufgenommen und unter u n t e r s c h i e d li c h e n G e s i c h t s p u n k t e n betrachtet. Hierin unterscheiden sich chinesische yilunwen vermutlich am stärksten von der Themenentfaltung deutscher schulischer Erörterungen (L EHKER 1997: 152). L EHKER sieht ein weiteres Strukturelement argumentativer Texte in der Integration narrativer Teiltexte, denen sie eine argumentative Funktion zuerkennt: <?page no="33"?> 21 Kontrastive Rhetorik [I]m yilunwen wird - anders als in Gleichnis oder Fabel - nicht ein fortlaufendes Ereignis (sukzessiv) dargestellt, durch das zu einem Problem Stellung bezogen wird, sondern Sequenzen verschiedener, voneinander unabhängiger Ereignisse können an unterschiedlichen Stellen im Text so vorkommen, daß sie implizit eine argumentative Funktion innerhalb des Gesamttextes einnehmen (L EHKER 1997: 131). Die Betrachtung eines Textgegenstands aus wechselnden Perspektiven interpretiert L EH - KER als „nicht-lineare“, „implizit argumentative Themenentfaltung“ (1997: 169, 282). Die Übersicht in Tabelle 2.5 enthält unter den Punkten (1), (2) und (6) auch Hinweise zur Interaktion von Autor und Leser. Laut L EHKER werden in einem Yilunwen vorrangig Fragen der Moral erörtert, wobei ein Autor seinen Leser nicht nur von der Richtigkeit seiner Position überzeugen wolle, vielmehr wende er sich mit konkreten Appellen direkt an ihn. Ein Autor versuche den Leser hierbei nicht nur „rational“ zu überzeugen, vielmehr drücke er auch seine persönlichen Gefühle aus, um den Leser „affektiv“ anzusprechen und ihn zu einer gewünschten Reaktion zu bewegen (vgl. L EHKER 1997: 116). Wie F ENG unterstreicht auch L EHKER den argumentativen Stellenwert von Autoritätszitaten, außerdem unterstreicht sie, dass die von ihr untersuchten Lehrbuchtexte ideologischen Vorgaben folgen: Wesentlich ist [...], daß in der Volksrepublik Aussagen mit sozialistischem Inhalt als gerechtfertigte und legitime Begründungen angesehen werden, da als die wichtigste Schlußregel, bzw. Stützung einer Schlußregel der Marxismus/ Leninismus und die Ideen Mao Zedongs angesehen werden (L EHKER 1997: 169). L EHKER erklärt Charakteristika einer Argumentation also nicht mit Verweisen auf Tradition und Kultur, sie re ektiert die Abhängigkeit einer Argumentation von Begründungssystemen, die in einem sozialistischen Staat gelten. 2.4 Diskursanalytische Untersuchungen Die erste ausführliche Monogra e zum chinesischen Diskursverhalten legte 1986 L INDA Y OUNG mit Unravelling Chinese Inscrutability vor. Diese Studie wurde 1994 in leicht revidierter Fassung unter Crosstalk and Culture in Sino-American Communication erneut veröffentlicht. Im deutschen Sprachraum war es S USANNE G ÜNTHNER vorbehalten, in Diskursstrategien in der interkulturellen Kommunikation (1993) erstmals deutsch-chinesische Gespräche zu analysieren. 17 Zwar fokussieren beide Studien Formen der mündlichen Interaktion, dennoch sind Ausführungen zur Diskursorganisation, zu Diskursmarkern und rhetorischen Strategien auch aufschlussreich für die Analyse schriftlicher Texte. Einer der Ausgangspunkte bei Y OUNG und G ÜNTHNER sind sprachtypologische Untersuchungen. Nach L I / T HOMPSON (1975, 1981) lässt sich das Chinesische keinem der Typen VSO, SVO oder SOV zuordnen: „One of the most striking features of Mandarin sentence structure, and one that sets 17 Beide Studien verfolgen einen interpretativen Ansatz, der sich laut Y OUNG dadurch auszeichnet, „to wed sociolinguistic analysis with indepth cultural analysis (supplemented with philosophical insights) to illuminate the cultural trappings between Chinese and Americans“ (Y OUNG 1994: 19). Ähnlich verfährt G ÜNTHNER , wenn sie Aspekte des chinesischen Interaktionsethos „auf der Grundlage von Literatur zur chinesischen Rhetorik und zu westlich-chinesischen Interaktionssituationen sowie eigener ethnographischer Beobachtungen und Interviews“ ermitteln möchte (G ÜNTHNER 1993: 63). G ÜNTHNER validiert ihre Analyse zusätzlich, indem sie ihr Datenmaterial chinesischen Informantinnen vorspielt, deren Interpretationen sie in ihre Analyse „ein ießen“ lässt (G ÜNTHNER 1993: 54). <?page no="34"?> 22 Kontrastive Rhetorik Mandarin apart from many other languages, is that in addition to the grammatical relations of ‘subject’ and ‘object’, the description of Mandarin must also include the element ‘topic’“ (L I / T HOMPSON 1981: 15). 18 Nicht nur die Wortfolge ist im isolierenden Chinesisch strenger geregelt als in ektierenden Sprachen, Y OUNG und G ÜNTHNER gehen übereinstimmend davon aus, dass die verbindliche Abfolge bestimmter Teilsätze unmittelbare Auswirkungen auf die Informationsvermittlung hat. Kausale Zusammenhänge werden im Chinesischen nach folgendem Muster ausgedrückt: yinwei ... (weil; because) suoyi ... (daher; so/ therefore) Tabelle 2.6: Kausale Satzgefüge im Chinesischen nach G ÜNTHNER (1993: 133). Die Reihenfolge der mit yinwei und suoyi eingeleiteten Teilsätze ist festgelegt; laut G ÜNTH - NER werden „Ursachen“ stets vor „Wirkungen“ genannt, wodurch sich die chinesische Sprache typologisch von der deutschen und englischen unterscheidet (G ÜNTHNER 1993: 133, vgl. auch S UNG 1984: 567). Eine der zentralen Hypothesen Y OUNG s lautet nun, dass die Konjunktionen yinwei und suoyi als Transitionssignale auch Texte und Diskurse gliedern: We have noted that „because“ and „so“ appear as transitional signals in phases of arguments in Chinese discours and that they signal a topic-comment relationship between parts of ideas that they link together in Chinese utterances (Y OUNG 1994: 79). Auch G ÜNTHNER betrachtet die verbindliche Abfolge von yinwei und suoyi als konstitutiv für die Gliederung eines Diskurses: „Dieser Struktur der Gründe vor der Konklusion begegnet man auch [...] auf Diskursebene.“ (1993: 134). Y OUNG bestimmt die einzelnen Blöcke des Diskurses näher: For the most part, background information is packaged into topic-like structures that form a pattern completed only with the appearance of „so“. Moreover, those complete uttarances, some of which take on topic-comment properties, between the transitional markers „because“ and „so“ also serve to set the scene for the main message to follow. In fact, what I have discussed so far provides a basis for understanding why Chinese discourse conveys a circular or spiral effect to English-speaking natives. What I have described is a sort of Chinese puzzle box where a topic- (comment)-like construction connects to another topic-(comment)-like phenomenon, all of which is boxed within an overall topic-comment-like frame (Y OUNG 1994: 81). Die Makrostruktur eines Diskurses besteht demnach aus zwei Blöcken: Zunächst wird ein thematischer Schauplatz (scene) dargestellt, um ausführliche Hintergrundinformationen zu liefern, dann wird die zentrale thematische Aussage (main message) auf diesem Schauplatz präsentiert. Der Eindruck einer Kreisförmigkeit des chinesischen Diskurses entsteht Y OUNG zufolge dadurch, dass einzelne Aussagen auch im ersten Diskursblock argumentativ verbunden werden. Diese Grundstruktur der chinesischen Diskursorganisation beschreibt Y OUNG zusammenfassend wie folgt: The fundamental premise organizing information in the topic-comment relationship is re ected on the level of discourse; the relationship of main point to the rest of the discourse mir- 18 Dass es sich beim Chinesischen um eine „topic-prominent-language“ handelt, zeigt sich in so genannten „double-subject-structures“, das heißt, ein dem thematischen Element folgendes rhematisches Element erscheint syntaktisch häu g als eigenständiger Satz. <?page no="35"?> 23 Kontrastive Rhetorik rors the order of comment to topic. Information is packed into clausal units which are linked together by various syntactic devices to form a coherent, recognizable whole. Furthermore, the use of „because/ as“ and „so/ therefore“ to mark phases of argument in Chinese discourse can be viewed as the reproduction or extension of familiar modes of organizing information (Y OUNG 1994: 83). Y OUNG s sicherlich spekulativste These lautet, dass sich in der dargestellten Form der Diskursorganisation ein in China geltendes, anderes Konzept von Kausalität zeigt: In English, causality identi es a speci c, dominant factor - agency. By contrast, Chinese emphazise surrounding circumstances and contigent conditions and accomodation to them. In other words, the former is concerned with an isolatable cause for a given event, while the latter attemps to take into account a eld of conditions that sponsor a given event (Y OUNG 1994: 39f.). Um diese These zu stützen, beruft sich Y OUNG auf die Etymologie der Begriffe yinwei und suoyi. The yinwei may be said to establish a range or eld of conditions which form the context out of which the „so“ part of the discussion emerges. The yinwei … suoyi … construction suggests a peculiarly Chinese sense of causuality in which a full range of conditions must be elaborated and considered as causes for an particular event. The need to consider all relevat contributing factors frustrates the clarity possible when applying a more linear sense of causality (Y OUNG 1994: 40). Der mit yinwei eingeleitete Teil eines Redebeitrags nennt demnach nicht Ursachen sondern verschiedene Umstände, die zu einem Ereignis führen, welches in dem mit suoyi eingeleiteten Teil des Redebeitrags dargestellt wird. Y OUNG sieht dieses Verfahren auch in der klassischen Literatur verwirklicht: Since Chinese poets tended to leave connections implicit rather than asserted, their opening images were often suggestive and helped slip the reader into the real subject matter of a work. Chinese saw oblique referentiality as evocative but regarded direct entry into a matter as devoid of emotional evocativeness - that is “short on feeling and not alive” (Y U 1987). Accordingly, when the ancients wanted to sway people, they slid into their argument with a suggestive analogy rather than a direct statement (Y OUNG 1994: 101). Wie die Dichter der Vergangenheit vermeiden es Y OUNG zufolge Chinesen auch heute, sich sofort festzulegen, um dem Kommunikationspartner Raum für Vermutungen und Assoziationen zu geben. Nenne man den eigenen Standpunkt bereits zu Beginn eines Gesprächs, dann bringe man sein Gegenüber um die P icht und das Vergnügen, diesen Standpunkt erst allmählich zu erahnen (vgl. Y OUNG 1994: 131). Wie in einem klassischen Gedicht würden die Dinge zunächst aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet: „Instead of extended arguments that brought things to a tight close, a succsession of related images was balanced and counterbalanced to converge into an integrated whole.“ (Y OUNG 1994: 90). Mit dem offenen Anfang korrespondiert laut Y OUNG ein offenes Ende eines Diskursbeitrags. Aus persönlicher „Reserviertheit“ (hanxu) würden es viele Chinesen vermeiden, eindeutig Position zu beziehen. Dieser Verzicht werde häu g als Unentschiedenheit missverstanden: „We observed a Chinese disposition of non-endings that, in turn, con icts with Western expectations for rm endings in formal discourse.” (Y OUNG 1994: 130). Auch G ÜNTHNER ndet in ihrem Belegmaterial Beispiele für ein „langsames Aufrollen von Hintergrundinformationen“. Sie schränkt Y OUNG s These jedoch ein: Ein wesentliches Stilelement chinesischer Sprecher stellt [...] das langsame Aufrollen von Hintergrundinformationen dar, bevor die Hauptthese präsentiert wird. Jedoch verdeutlichen meine <?page no="36"?> 24 Kontrastive Rhetorik Daten, daß diese Art der Diskursorganisation nicht die einzig mögliche darstellt. [...] Auch chinesische Sprecher verfügen über Komponenten des direkten Stils. Von daher würde ich Y OUNGS These weniger strikt formulieren und die beiden Möglichkeiten der Diskursorganisation als zwei verschiedene Stile verstanden wissen, wobei chinesische Sprecher in bestimmten Situationen eher zum indirekten Stil „hua long dian jing“ [wörtlich: „einen Drachen malen und zuletzt die Augen hinzufügen; D. S.] neigen, während deutsche Sprecher den direkten Stil „kai men jian shan“ [wörtlich: „die Tür öffnen und den Berg sehen“; D. S.] präferieren (G ÜNTHNER 1993: 170). Y OUNG und G ÜNTNER äußern sich auch zu Argumenten, die im chinesischen Diskurs bevorzugt verwendet werden. Zunächst hält Y OUNG fest: Chinese regulary use analogy in conjunction with authority to expand and bolster their arguments. But then so do many other cultures, Western included. What makes the Chinese case unique is the extend to which Chinese rely on analogy and authority rather than convincing argument and logical prowess in their discourse. Far more than Westeners, chinese regulary regard tradition as the source of legitimate authority. Tradition both grounds and focuses the intent and direction of their formal discourse; for Chinese, tradition offers past exampels of reasonable explanation and action and one readily defers to its authority (Y OUNG 1994: 126). Die Traditionsverbundenheit der Chinesen führt demnach dazu, eigene Argumente durch Autoritätsargumente abzusichern und mit Beispielen aus der kulturellen Überlieferung zu illustrieren. Even in ordinary talk, contemporary Chinese will often display their personal versatility and ingenuity within the tradition, for instance, by evoking an analogy from the past that hits the mark in the present. Their conversation might be lanced with symbolic references - maxims, slogans, and exemplars drawn from the cultural tradition - and delightedly capped with the well aimed chengyu (a four to seven character adage) that hits a conversational bull’s eye (Y OUNG 1994: 128). Der persönliche Einfallsreichtum, die Gewandtheit eines Sprechers äußert sich demnach darin, dass er Gegenwärtiges an die Tradition bindet und die eigene Position durch Verweise auf verbürgte Normen stützt. Ganz ähnlich äußert sich G ÜNTHNER , die näher auf die argumentative Funktion von Sprichwörtern und Chengyu eingeht. Die chinesischen Gesprächsteilnehmer verwenden sprichwörtliche Redensarten [...] zur Stütze eigener Behauptungen und Verhaltensweisen: Mit der Referenz auf den als kulturell gesichert geltenden Wissensstand signalisieren sie, daß ihre Meinungsäußerung in den traditionellen Werten der Heimatkultur wurzelt (G ÜNTHNER 1993: 229). Wenn Sprichwörter und Chengyu im Diskurs verwendet werden, dann bleiben sie aufgrund ihrer Form als „fremder Text“ kenntlich. Hierin erkennt G ÜNTHNER einen fundamentalen Unterschied zu westlichen, „individuumsbetonten“ Konventionen: Die chinesische Vorliebe für vorgefertigte Spruchweisheiten steht dem westlichen Originalitäts- und Individualitätsfetisch kraß gegenüber. Während in unserer individuumsbetonten Gesellschaft der Drang besteht, die eigene Äußerung mit einem originellen, individuellen und persönlichen Zug zu versehen, und Stilwörterbücher geradezu vor dem Gebrauch von Routineformeln und Sprichwörtern als „Zeichen schlechten Geschmacks“ warnen, wird im chinesischen Sprachgebrauch, die Fähigkeit, in der richtigen Situation die adäquate Formel zu nden, honoriert (G ÜNTHNER 1993: 227). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Y OUNG und G ÜNTHNER Merkmale chinesischer Diskursstrategien vor allem auf ein traditionelles Interaktionsethos und eine spezi sch <?page no="37"?> 25 Kontrastive Rhetorik chinesische Weltsicht zurückführen, die sich darin äußert, Interdependenzen der sich verändernden Dinge zu betonen (vgl. Y OUNG 1994: 135). Ein Diskurs bewege sich schrittweise von der Peripherie zum Zentrum, was Parallelen zur chinesischen Philosophie und Heilkunst aufweise (vgl. G ÜNTHNER 1993: 138). Beide Autorinnen betonen gravierende Unterschiede zwischen der chinesischen und der westlichen Denkweise. So geht Y OUNG (1994: 39) von einem genuin chinesischen Kausalitätsverständnis aus, G ÜNTHNER (1993: 227) kontrastiert die „individualistische“ Gesellschaft des Westens mit der „traditionsbewussten“ Gesellschaft in Fernost. Die zentralen Hypothesen von Y OUNG und G ÜNTHNER zu Formen der chinesischen Diskursorganisation fasst Tabelle 2.7 zusammen. Kennzeichen chinesischer Diskursstrategien • Im Chinesischen werden andere Äußerungsstrukturen präferiert und andere Kontextualisierungshinweise zur Signalisierung von Haupt- und Nebeninformationen, von gegebenen und neuen Referenten gegeben. Es werden unterschiedliche Techniken der Textkohäsion und der Signalisierung von De nitheit und Inde nitheit angewendet (G ÜNTHNER 1993: 130). • Zentrale Textgegenstände werden wie im traditionellen Baguwen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet (Y OUNG 1994: 90, 130). • Diskursbeiträge richten sich häu g nach dem yinwei-suoyi-Gliederungsprinzip. Zunächst werden Hintergrundinformationen gegeben, um einen Rahmen zu schaffen, in den die eigene Aussage eingeordnet wird (Y OUNG 1994: 79-87, G ÜNTHNER 1993: 132-149). • Der Aufbau monologischer Texte folgt häu g dem traditionellen qi-cheng-zhuan-he- Schema (Y OUNG 1994: 93, 122). Im mündlichen Diskurs ist dieses Schema jedoch nicht nachweisbar (G ÜNTHNER 1993: 130). • Bedeutungen, Intentionen und Verbindungen werden häu g nur angedeutet. Es ist Aufgabe des Rezipienten, diese Andeutungen und Verweise zu erkennen (Y OUNG 1994: 131, G ÜNTHNER 1993: 229). • Viele Diskursbeiträge zeichnen sich durch einen „indirekten Stil“ aus, manche hingegen durch einen unerwartet „direkten Stil“ (G ÜNTHNER 1993: 170). • Diskursbeiträge sind häu g durch einen „offenen Anfang“ und ein „offenes Ende“ gekennzeichnet (Y OUNG 1994: 130, 135). • Klare Stellungnahmen werden vermieden, besonders wenn die eigene Meinung vom allgemeinen Konsens abweicht (Y OUNG 1994: 122). • In Diskursbeiträgen wird häu g auf die unhinterfragbare kulturelle Tradition verwiesen. Eigene Stellungnahmen werden durch Autoritäts- und Analogieargumente abgesichert (Y OUNG 1994: 126-128). • Ein häu ges Stilmittel im chinesischen Diskurs sind Phraseologismen als Elemente der „fremden Rede“. Mit Sprichwörtern und chengyu werden Behauptungen illustriert und abgesichert (G ÜNTHNER 1993: 208-229). Tabelle 2.7: Kennzeichen chinesischer Diskursstrategien nach Y OUNG (1994) und G ÜNTHNER (1993). <?page no="38"?> 26 Kontrastive Rhetorik 2.5 Merkmale chinesischer Texte. Hypothesen der Kontrastiven Rhetorik Die diskutierten Beiträge der Kontrastiven Rhetorik fokussieren unterschiedliche Aspekte des argumentativen Schreibens. Wie folgende Zusammenstellung zentraler Hypothesen zeigt, sind die Untersuchungsergebnisse nicht einheitlich. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass diese Beiträge ganz unterschiedliche Textsorten analysieren und verallgemeinernde Aussagen empirisch nicht belastbar sind. Häu g werden Hypothesen aus der Analyse einzelner, „exemplarischer“ Texte abgeleitet. (1) Seit K APLAN s (1966/ 2001) Darstellung des zirkulären „orientalischen Schreibens“ gilt dem Textaufbau die besondere Aufmerksamkeit der KR. K APLAN s Hypothese, heutige Texte folgten strukturell dem Muster des traditionellen Baguwen, schließen sich einige Autoren an (z.B. Y OUNG 1986, 1994), andere (z.B. M OHAN / L O 1985, L EHKER 1997) machen geltend, dass dieses Muster heute kaum noch bekannt ist und seit Ende der Kaiserzeit nicht mehr schulisch vermittelt wird. Spätere Arbeiten (z.B. Y OUNG 1986, 1994, L IANG 1991, 1998) postulieren die Wirksamkeit eines anderen traditionellen Gliederungsmusters. Viele Texte folgten einem zirkulär verlaufenden, viergliedrigen Ordnungsprinzip, bestehend aus den Teiltexten Anfangen (qi), Fortführen (cheng), Umwechseln (zhuan) und Zusammenlegen (he). Jedoch wird auch diese Hypothese bestritten. L EHKER (1997) macht geltend, dass an chinesischen Mittelschulen ein dreigliedriger Aufbau (ein Problem aufwerfen, es analysieren und lösen) gelehrt werde. Ein weiteres Organisationsprinzip von Texten und Diskursen nehmen schließlich Y OUNG (1986, 1994) und G ÜNTHNER (1993) an. Sie erkennen in der Abfolge zentraler Teiltexte, die durch die Transitionssignale yinwei und suoyi eingeleitet werden, eine für chinesische Texte typische Makrostruktur. (2) Widersprüchlich sind die Anmerkungen zur Interaktion von Textproduzent und -rezipient. Einige Beiträge (z.B. Y OUNG 1986, 1994) konstatieren eine charakteristische Vagheit chinesischer Texte. Aus Vorsicht vor Sanktionierung und Respekt vor dem Leser, dessen Aufgabe darin besteht, implizite Botschaften zu entschlüsseln, vermeide es ein chinesischer Autor, sich klar zu positionieren. Andere Beiträge treffen geradezu gegensätzliche Feststellungen. Viele chinesische Texte zeichneten sich gerade nicht durch Ambivalenz sondern durch Eindeutigkeit aus. So werde die zentrale These häu- g bereits in der Überschrift vorgetragen (L IANG 1991). In vielen Zeitungskommentartexten zeige sich laut Y IN (1999) und W EN (2001) ein „autoritäres“ Auftreten des Autors, der seine Position mit großem Nachdruck vertritt, Sachverhalte stark evaluativ darstellt und auf die Darstellung möglicher Gegenpositionen weitgehend verzichtet. Die genannten Widersprüche löst G ÜNTHNER (1993) auf, die in ihrem Datenmaterial zwei Haltungen repräsentiert sieht. Im Diskurs sei neben einem „indirekten Stil“ auch ein „direkter Stil“ nachweisbar. (3) Thesen werden nach Einschätzung vieler Autoren häu g mit Phraseologismen illustriert und gestützt (vgl. F ENG 1994, G ÜNTHNER 1993, Y OUNG 1994). Ein weiteres typisches Stilelement sei die Integration narrativer Teiltexte (vgl. L EHKER 1997). Im hochfrequenten Gebrauch von Phraseologismen und Anspielungen auf historische Figuren und Ereignisse zeige sich die starke Traditionsverbundenheit der Chinesen. L EHKER (1997) ergänzt, dass sich viele im schulischen Kontext entstandenen Texte heute auch auf andere Autoritäten und unhinterfragbare Wahrheiten berufen, etwa auf Lehrsätze des Marxismus-Leninismus oder die Mao-Zedong-Ideen. <?page no="39"?> 27 Kontrastive Rhetorik (4) Zur Textfunktion merken die Beiträge unisono an, dass argumentative Texte in China den Leser nicht nur überzeugen wollen, sondern ihn direkt auffordern, bestimmte Handlungen zu vollziehen. Daher spricht L EHKER (1997) von einer „dominant appellativen“ Textfunktion. Y IN (1999) teilt diese Einschätzung. Der Leser würde häu g direkt zu Handlungen aufgefordert, die sich aus der zentralen These eines Textes ableiten. Wie W EN (2001) in seiner Analyse zeigt, enthalten Kommentartexte daher oft „konkrete Handlungsanweisungen“. <?page no="40"?> 3 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells Die Beiträge der Kontrastiven Rhetorik (KR) legen die Schlussfolgerung nahe, dass kulturell verankerte Argumentationsstrategien und Muster des Textaufbaus den Prozess der Textproduktion in erheblicher Weise steuern. Was unter Kultur zu verstehen ist, darüber geben nur wenige Beiträge Auskunft. (3.1) Die Annäherungen an den Kulturbegriff, der in vorliegender Arbeit favorisiert wird, beginnt mit einer Bestandsaufnahme von verschiedenen Bezugsgrößen von Kultur in Beiträgen der KR. (3.2) Nach einer allgemeinen Kritik am Container-Paradigma der Sozial- und Kulturwissenschaften, (3.3) wird das Kulturkonzept von H ANSEN vorgestellt, das geeignet ist, auch vielfältige lokale und globale Vernetzungen von Kultur sowie Widersprüche in Kollektiven zu re ektieren. (3.4) Dieses Modell wirft die Frage auf, wie der Stellenwert der Nationalkultur zwischen enger und weiter gefassten kulturellen Formationen (3.5) und die kulturelle Identität eines Individuums im Spannungsfeld verschiedener Kulturen aufzufassen ist. (3.6) Anschließend wird die Tauglichkeit eines wissensorientierten Kulturbegriffs diskutiert. (3.7) Als Fazit werden „Konturen eines praxeologischen Kulturbegriffs“ benannt (3.8) und Beiträge der Kontrastiven Rhetorik auf das Modell H ANSEN s bezogen. 3.1 Implizite Bezugsgrößen von „Kultur“ in Beiträgen der Kontrastiven Rhetorik Die Beiträge der KR sind im Zuge des cultural turn der Sozialwissenschaften entstanden. 19 Auffällig ist, dass viele dieser Beiträge völlig unzureichend explizieren, was unter Kultur zu verstehen ist. So bietet sich das eigenartige Bild, dass in „kulturkontrastiven“ Beiträgen der Begriff „Kultur“ vielfach nicht de niert wird. Bereits 1992 macht H ESS auf dieses Manko aufmerksam: Zwar gibt es eine ausufernde Zahl wissenschaftlicher De nitionen. Diese aber sind in den Aufsätzen zum „interkulturellen“ oder „kulturkontrastiven“ Lehren und Lernen sehr selten 19 R ECKWITZ (2000) nennt vier zentrale, fächerübergreifende Abstraktionsebenen der Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff und unterscheidet vier Dimensionen des cultural turn: (1) Im Bereich der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie haben sich sprachspieltheoretische, hermeneutische, pragmatische und wissenssoziologische Ansätze durchgesetzt. Diese Ansätze verbindet die grundsätzliche Annahme, dass Wissenschaft keine unabhängig vorgefundenen Bedeutungen registrieren oder abbilden kann. Wie die Sozialwelt erscheint die Wissenschaft als sozial hergestellte „symbolische Ordnung“ (vgl. R ECKWITZ 2000: 22-25). (2) Im Bereich der sozialwissenschaftlichen Methodendiskussion wurden mit dem cultural turn neue Methoden erprobt. Die Kritik an der Dominanz quantitativ-standardisierter Sozialforschung öffnete den Weg für eine Vielzahl alternativer, „qualitativer“ Methoden (vgl. R ECKWITZ 2000: 25f.). (3) Auf der Ebene der empirischen Forschungsinteressen fand in vielen Disziplinen eine deutliche Fokussierung kulturwissenschaftlicher Fragestellungen statt (vgl. R ECKWITZ 2000: 26-32). (4) Auf der Ebene der Sozialtheorien zeigten sich besonders tiefgreifende Veränderungen. Anders als bei zweck- oder normorientierten Handlungsmodellen, die subjektive bzw. kollektive Sinndimensionen nachzeichnen, wurde versucht, mit „Kulturtheorien“ die Sozialwelt neu zu verstehen. Nicht über Zwecke oder Normen werde die Welt produziert und reproduziert, sondern über Wissensordnungen, über symbolische „Ordnungen der Dinge“ (vgl. R ECKWITZ 2000: 32-38). <?page no="41"?> 29 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells explizit genannt; [...] „Kultur“ [ist] in der gegenwärtigen Diskussion kein wissenschaftlicher, sondern ein alltagssprachlicher Begriff, bei dem sich - so scheint es - jeder denken mag, was er will (H ESS 1992: 36). Ähnlich fällt fünf Jahre später das Urteil A LTMAYER s aus: „Kultur“ sei zwar zu einem neuen Kernbegriff des Faches Deutsch als Fremdsprache avanciert, in Untersuchungen mit interkultureller Thematik nde jedoch nur in den seltensten Fällen eine dezidierte Auseinandersetzung mit diesem Begriff statt. Tatsächlich herrscht in den meisten einschlägigen Publikationen ein eher alltagssprachlicher, unre ektierter und unwissenschaftlicher Begriff von „Kultur“, „Kulturen“ oder „Kulturkreisen“ vor, der eine Gemeinverständlichkeit eher unterstellt als tatsächlich einlöst oder der - schlimmer noch - zweifelhafte inhaltliche Implikationen wie die Vorstellung einer einheitlichen und abgeschlossenen „Nationalkultur“ transportiert (A LTMAYER 1997: 1). Bei aller Berechtigung im Einzelfall ist diese Einschätzung pauschal nicht gerechtfertigt. Seit den frühen 80er Jahren setzten sich viele Vertreter des Faches DaF mit dem Kulturbegriff auseinander. Vor allem Literaturwissenschaftler und Landeskundler bemühten sich um eine Präzisierung des Kulturbegriffs im Kontext des fremdsprachlichen Lehrens und Lernens, etwa in der Debatte um den „offenen“ oder „erweiterten“ Kulturbegriff (dazu näher: S KIBA 2007). In heute überraschend aktuell erscheinenden Beiträgen (etwa B AUSINGER 1980, G ÖHRING 1980) wurden früh Konturen des Kulturbegriffs für das Fach DaF bestimmt, nur wurden diese Überlegungen - insofern ist A LTMAYER zuzustimmen - in empirischen Untersuchungen kaum aufgegriffen. Um es pointiert zu formulieren: Es scheint sich im Fach DaF eine gewisse Arbeitsteilung etabliert zu haben. Während in Beiträgen zur Interkulturellen Hermeneutik und zur Interkulturellen Landeskunde eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff stattfand, verzichteten kontrastive Arbeiten weitestgehend auf eine eingehende Diskussion des Kulturbegriffs. Am Beispiel der in Kapitel 2 dargestellten Beiträge der KR lässt sich jedoch zeigen, dass die Autoren ihre Ausführungen auf ganz unterschiedlich weit gefasste Handlungsräume beziehen. Bezugsgröße (1): Die ostasiatische Kulturregion In K APLAN s (1966/ 2001) schablonenhafter Gegenüberstellung verschiedener Muster der Textorganisation unterscheidet sich die Form des „oriental writing“ am auffälligsten von der linearen Form der Zielsprache. Der Begriff „oriental“ deutet darauf hin, dass K APLAN strukturelle Analogien in Texten von Lernern aus der ostasiatischen Kulturregion annimmt. Bestimmte Merkmale führt er auf rhetorische Traditionen in dieser Region zurück, die ihren Niederschlag namentlich im chinesischen Baguwen gefunden hätten. K APLAN unterstellt demnach, dass der zivilisatorische Ein uss Chinas die Kulturen angrenzender Länder wie Korea so nachhaltig beein usst hat, dass heutige Lerner aus Ostasien ihre Texte ganz ähnlich gliedern. 20 Bezugsgröße (2): Der chinesische Sprach- und Kulturraum Die meisten Arbeiten der KR beziehen sich nicht auf die ostasiatische Kulturregion, sondern auf den chinesischen Sprach- und Kulturraum. Im Lauf der Geschichte hätten sich in diesem Raum bestimmte Denkmuster, Argumentationsstile und Diskurskonventionen herausgebildet. Beispielhaft für die Bezugsgröße des chinesischen Sprach- und Kul- 20 Ähnliche Generalisierungen nden sich durchgängig in W EGGEL (1997). <?page no="42"?> 30 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells turraumes sind die Arbeiten von Y OUNG und G ÜNTHNER . Y OUNG wählt ihre Interviewpartner aus verschiedenen Ländern. Sie spricht mit Chinesen aus der Volksrepublik China, Hongkong und Taiwan, selbst Auslandschinesen aus den USA zählt sie zur Volksgruppe der Chinesen (vgl. Y OUNG 1986: 34, 1994: 20). Zu „the Chinese“ bemerkt Y OUNG : Clearly, the Chinese are a highly diverse group with a great deal of geographical, class and dialectical variability [...] This diversity, when coupled with the different political ideologies and rapid economic and social changes which many Chinese populations are currently undergoing, makes it dif cult to refer to Chinese communicative behaviour as I intend to do. Nonetheless, we can still observe with remarkable clarity that there are certain pan-Chinese similarities in interactional strategy and communicative style. The premise that there is a unifying set of characteristics, which supposedly differentiates them from non-Chinese, is informed by the facts of a uniform literary tradition, in which texts on rites and etiquette play an important role, and a common underlying linguistic system. [...] It is fair to say that these conditions raise the presumption that we are dealing with conventions that form a homogeneous entity (Y OUNG 1986: 39f.; Hervorhebungen D. S.). G ÜNTHNER (1993) übernimmt diese Ausführungen Y OUNG s fast wörtlich: Nun könnte der Einwand gemacht werden, daß in China unterschiedliche Menschengruppen mit verschiedenen Traditionen, Kulturen und Sprachen leben und somit nicht alle ChinesInnen „über einen Kamm geschert“ werden können. Sicherlich kann jedoch - was die Han-ChinesInnen angeht - von pan-chinesischen Charakteristiken gesprochen werden: Die gemeinsame chinesische Tradition, die Kulturgeschichte und das sich daraus ergebende Zusammengehörigkeitsgefühl rechtfertigt diese pan-chinesische Perspektive. Han-ChinesInnen verfügen über dieselbe literarische Tradition, dieselbe Schrift, und eine (emisch betrachtet) gemeinsame Identität. [...] Ferner teilen sämtliche Han-ChinesInnen trotz unterschiedlichster Dialekte bzw. Sprachen ein gemeinsames Repertoire an Kommunikationsbzw. Sprechregeln (G ÜNTHNER 1993: 63, Anm. 6; Hervorhebungen D.S.). Beide Autorinnen gehen von „pan-chinesischen“ Charakteristika aus, von einer „einheitlichen“ literarischen Tradition und Schrift, einem „gemeinsamen“ Repertoire an Kommunikations- und Sprachregeln. G ÜNTHNER legt zudem ethnische Parameter an, indem sie Han-Chinesen als alleinige Träger der chinesischen Kultur ansieht. Nicht nur lebensgeschichtliche, auch historische Veränderungen innerhalb des chinesischen Kulturraums werden in diesen Studien weitgehend ausgeblendet. Bezeichnenderweise erwähnt G ÜNTHNER nur an einer Stelle ihrer Monogra e, dass sich die chinesische Kultur heute auf dem Boden eines sozialistischen Landes ereignet: Das chinesische Interaktionsethos, die Rhetorik und die zwischenmenschlichen Verhaltensregeln sind auch heute noch stark in der konfuzianischen Tradition verwurzelt. So galten die kanonischen Schriften des Konfuzius in China bis ins 19. Jhd. hinein als „Leitsätze“ und enthielten nach der damaligen Auffassung alles, was der menschliche Geist an Normen zur Bildung der Persönlichkeit ersinnen könne. Ihr Ein uß auf das heutige China, auf die chinesische Gesellschaft, das Denken und die Kultur ist nicht zu unterschätzen. Trotz der Anti-Konfuzius- Debatte während der Mao-Zedong-Ära konnte sich konfuzianistisches Gedankengut bis ins heutige China herüberretten (G ÜNTHNER 1993: 64). G ÜNTHNER betont demnach die Kontinuitäten in der chinesischen Kulturgeschichte. Die kanonischen Schriften des Konfuzianismus mit ihren kodi zierten Bräuchen, Riten und Gesetzen seien auch heute noch handlungsleitend (vgl. G ÜNTHNER 1993: 65). Wie Y OUNG tendiert G ÜNTHNER dazu, das chinesische Interaktionsverhalten einseitig auf den Konfuzianismus zu beziehen, konkurrierende philosophische Schulen - etwa der Daoismus - nden keine Erwähnung. Mit Blick auf Formen des aktuellen Diskursverhaltens in ver- <?page no="43"?> 31 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells schiedenen chinesischen Kollektiven relativieren beide Autoren jedoch ihre pan-chinesische Perspektive: I further acknowledge that Chinese styles of discourse are constantly undergoing various changes, partly as a result of internal forces among Chinese populations, partly in response to repeated contacts with the West and other societies, and in the case of English-speaking Chinese, partly as a result of their different exposure to and experience in Western-oriented settings. To complicate matters even further, all these styles co-exist; an able Chinese can freely switch from one to the other depending on situation and context (Y OUNG 1994: 24). Y OUNG räumt also ein, dass sich in China ein tiefgreifender kultureller Wandel vollzieht, daher könnten Chinesen nicht auf einen Diskursstil festgelegt werden. Durch den Kontakt mit der westlichen Welt koexistierten verschiedene Diskursstile, etwa im Falle der in Amerika wohnhaften Migranten und der städtischen Jugend in chinesischen Metropolen. No doubt many aspects of this discussion require further documentation and elaboration. In particular, to analyze and compare discourse by mixing and matching modern styles with classical ones is a tricky business: for one thing, the classical styles may not t the modern ones very well; for another, the modern styles may have only retained the aesthetic and not the function of the classical ones. In this connection, the formal ideals and strategies described may be remote and possibly irrelevant to younger, urbane Chinese. Alternativly, they may not be able to voice some of them comfortably as everyday operating procedures. Furthermore, the same formal ideals and strategies must be placed against the volubility, directness, and even contrariness of many Chinese in relaxed circumstances (Y OUNG 1994: 135). Auch G ÜNTHNER räumt ein, dass sich der chinesische Diskursstil durchaus ändern kann, wenn sich Chinesen lange Zeit im Ausland aufhalten: Interessanterweise wird der indirekte Diskursstil in meinem Datenmaterial fast ausschließlich von chinesischen Deutschlernenden verwendet, die entweder noch nie im deutschsprachigen Kulturraum waren oder aber erst kurze Zeit in der Bundesrepublik studieren (1-9 Monate). Diejenigen Chinesinnen und Chinesen, die sich bereits längere Zeit in der Bundesrepublik aufhalten, verwenden diese Strategien weitaus seltener (G ÜNTHNER 1993: 170). Außerdem sei kulturelle Identität nur eine unter vielen Identitätsressourcen. Das beobachtbare chinesische Diskursverhalten sei daher keineswegs homogen. [Es] soll jedoch betont werden, daß kulturelle Zugehörigkeit lediglich eine mögliche Identitätskategorie darstellt (neben anderen wie Geschlecht, soziale Zugehörigkeit, institutionelle Rolle etc.), die den Interagierenden als Ressource zur Verfügung steht und aktualisiert werden kann (G ÜNTHNER 1993: 16). Beide Autorinnen erachten demnach den Versuch, Merkmale des chinesischen Interaktionsverhaltens zu rekonstruieren, als tricky business, sie re ektieren durchaus, dass beobachtbares Verhalten nicht auf eine homogen gedachte Kultur bezogen werden kann. Dennoch halten sie grundsätzlich an ihrer pan-chinesischen Perspektive fest. Bezugsgröße (3): Die Volksrepublik China Kontrastive textlinguistische Untersuchungen beziehen sich anders als diskursanalytische Arbeiten häu g auf den Nationalstaat, was sicherlich darauf zurückzuführen ist, dass diese Arbeiten Datenmaterial auswerten, das in einem bestimmten Staat publiziert worden und im Falle von Zeitungskommentaren aus der Volksrepublik China ideologischen Vorgaben verp ichtet ist, die in anderen Staaten mit mehrheitlich chinesischstämmiger <?page no="44"?> 32 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells Bevölkerung nicht gelten. Bereits in der frühen Kritik von M OHAN / L O (1985) wird die kulturräumliche Sicht K APLAN s aus nationalstaatlicher Sicht infrage gestellt. Die Autoren begegnen K APLAN s Annahme, der Baguwen habe großen Ein uss auf heutige Studierende, mit dem Hinweis, dass heutige Aufsatzdidaktiken aus der Volksrepublik die Einhaltung anderer Prinzipien forderten als im dynastischen China, als der Baguwen zur Beamtenprüfung eingesetzt wurde (vgl. M OHAN / L O 1985: 519). Viele textlinguistische Studien halten hingegen am kulturräumlichem Paradigma fest. Beispielsweise sieht Y IN L ANLAN in ihrer Interkulturellen Argumentationsanalyse (1999) ihr zentrales Anliegen darin, „Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Argumentationspraxis vor dem Hintergrund chinesischer und deutscher Kultur kenntlich [zu] machen“ (Y IN 1999: 13). In langen Exkursen stellt sie die „deutsch-abendländische“ Argumentationstradition der „chinesischen“ gegenüber, weil sie davon ausgeht, „daß die gegenwärtige Argumentationspraxis mit der jeweiligen Tradition in enger Verbindung steht, und daß sie erst unter Berücksichtigung ihrer Tradition richtig verstanden werden kann“ (Y IN 1999: 22). Möglichen Einwänden begegnet Y IN mit einer kryptischen Bemerkung zum Pressewesen in China und Deutschland: Das chinesische Pressewesen unterscheidet sich zwar vom deutschen Pressewesen in bezug auf Pluralismus. Das entspricht aber der gesellschaftlichen Realität. Diese Realität ist in den Zeitungsartikeln widergespiegelt und genau in dieser Realität läuft der kulturelle Austausch ab. Deshalb wird die Aussagekraft von Zeitungsartikeln für eine Gesellschaft nicht wegen der Unterschiede in der Ideologie gemindert (Y IN 1999: 100). Y IN bezieht sich auf die „gesellschaftliche Realität“. In der Volksrepublik China und der Bundesrepublik Deutschland habe die Presse eine unterschiedliche Funktion, dies zeige sich in einer unterschiedlichen Weltanschauung („Ideologie“), der chinesische Kommentartexte verp ichtet sind, und der unterschiedlich bemessenen Meinungsfreiheit („Pluralismus“). In Zeitungskommentaren werde diese „Realität“ zwar widergespiegelt, dennoch werde die Aussagekraft der Zeitungsartikel für den „kulturellen Austausch“ nicht geschmälert. Y IN leugnet demnach die Bedeutung aktueller Standardisierungen auf nationalstaatlicher Ebene für Formen der interkulturellen Kommunikation. W EN R ENBAI (2001) nimmt ausdrücklich keine pan-chinesische Perspektive ein. Dies zeigt sich bereits in der Darstellung seines Datenmaterials. Er untersucht „die chinesischen Kommentare aus chinesischen Zeitungen der Gegenwart der Volksrepublik China, ausschließlich Hongkong, Macau und Taiwan“ (W EN 2001: 10). Demnach beschränkt er sich auf aktuelles Material aus einem Nationalstaat mit einer bestimmten Gesellschaftsordnung. Auch in seinem Fazit führt W EN die erkannten Unterschiede nicht auf kulturelle Traditionen, sondern auf die Funktion der Massenmedien in Nationalstaaten zurück: Kommentare als eine Aufforderung kommen im Deutschen im Unterschied zum Chinesischen sehr selten vor, was an der unterschiedlichen sozialpolitischen Funktion der Zeitungen und anderer Medien in der VR China und in Deutschland liegt. [...] Die Individualität der Leser in bezug auf die Handlungsfreiheit wird durch Kommentare in Deutschland und in der VR China unterschiedlich respektiert (W EN 2001: 259, vgl. 250). Als letztes Beispiel für textlinguistische Untersuchungen sei L EHKER s (1997) kontrastive Untersuchung schulischer Aufsatzformen angeführt. Ähnlich wie W EN (2001) grenzt L EHKER den Geltungsbereich des Begriffs „chinesisch“ ein. Bei kontrastiven Analysen auf Textebene kann [...] nicht von der Strukturierung chinesischer oder englischer Texte gesprochen werden, sondern es ist zum Beispiel zwischen Texten aus der <?page no="45"?> 33 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells Volksrepublik China, Taiwan, Hongkong und Singapur bzw. solchen aus Großbritannien, den USA, Australien, Neuseeland usw. zu unterscheiden (L EHKER 1997: 13). L EHKER s Bezugsgröße ist also eindeutig der Nationalstaat und nicht der Kulturraum. Wenn in dieser Arbeit von chinesischen und deutschen Texten gesprochen wird, sind - sofern nicht anders gekennzeichnet - stets solche aus der Volksrepublik China und aus der „alten“ Bundesrepublik gemeint. Nicht berücksichtigt wird dabei, daß auch die VR China keinen homogenen Kulturraum darstellt - man denke nur an Tibeter und Mongolen, die in der Volksrepublik leben, oder daran, daß fast alle der 55 ethnischen Minderheiten (91,2 Millionen Menschen) eine eigene Sprache sprechen (H EBERER 1994). Da aber alle Schüler in der Volksrepublik im Prinzip der gleichen Bildungspolitik unterliegen, wird in dieser Arbeit verallgemeinernd z.B. von chinesischen Aufsatzsorten gesprochen (L EHKER 1997: 13, Anm. 28). Hier zeigen sich deutliche Unterschiede zu G ÜNTHNER . Auch L EHKER re ektiert die Tatsache, dass die Bevölkerung der Volksrepublik China keine ethnisch homogene Gruppe darstellt. Sie zieht aber völlig andere Schlüsse als G ÜNTHNER (1993: 63), die einzig Han- Chinesen als Repräsentanten der chinesischen Kultur ansieht. L EHKER betrachtet Schüler unabhängig ihrer ethnischen Zugehörigkeit als Chinesen, da sie alle das gleiche Lehrwerkset verwenden und bei der Textproduktion den darin vermittelten Mustern folgen. Anders als G ÜNTHNER betont L EHKER (vgl. 1997: 28, 55-58, 65-107) außerdem, dass Argumentationen häu g der sozialistischen Ideologie verp ichtet sind. Festhalten lässt sich, dass sich einige textlinguistische Untersuchungen wie Y IN (1999) auf den chinesischen Kulturraum beziehen und den Ein uss des politischen Systems ignorieren. Autoren wie W EN (2001) und L EHKER (1997) re ektieren in ihrer Analyse ausdrücklich die Tatsache, dass ihr Korpusmaterial in einem sozialistischen Staat publiziert worden ist. Ihre Bezugsgröße ist der Nationalstaat und nicht der Kulturraum. Bezugsgröße (4): Diskursgemeinschaften L IANG Y ONG (1991) untersucht die Fachtextsorte wissenschaftliche Rezension. Sein Korpusmaterial besteht zwar aus Beispieltexten, die in der Volksrepublik China veröffentlicht worden sind, jedoch bezieht er sich nicht auf den Nationalstaat. Seine Bezugsgröße ist eine „Textgemeinschaft“ (1991: 293), zu der er den Rezipienten, den Rezensierten und potenzielle Rezipienten zählt (1991: 294). [D]as Rezensieren unterliegt im wissenschaftlichen Bereich einer doppelten Sozialisation, die sowohl fachlich geleitet als auch kulturell bedingt ist und in den Rezensionstexten unterschiedlich repräsentiert werden kann. [...] In der intendierten und situativ adäquaten Verarbeitung und der sprachlichen Komposition einer wissenschaftlichen Rezension entscheidet zwar letztendlich der Rezensent, wie er die zur Verfügung gestellten Informationen aufnimmt, verarbeitet und bewertend weitergibt. Dennoch ist der subjektive Charakter der textuellen Handlungen vor allem als interindividuell zu betrachten, weil die verschiedenen Wissenshorizonte, die beim Produzieren eines Fachtextes aktiviert werden, einerseits fachspezi sche Merkmale besitzen, andererseits durch verschiedene Formen von traditionalisierten Denkmethoden und Vorstellungsrepertoires gekennzeichnet sind (L IANG 1991: 294f.). Ein Rezensent befolgt einerseits als „Insider“ fachliche Normen und Konventionen, sein Text nimmt teil am transnationalen wissenschaftlichen Diskurs. Andererseits befolgt der Rezensent bestimmte kulturspezi sche Schemata, so dass „die Vertextungskonventionen sich von Sprachkultur zu Sprachkultur mehr oder weniger voneinander unterscheiden können“ (L IANG 1991: 295). L IANG bezieht sich demnach zugleich auf zwei Räume, die sich überlagern: den Raum der wissenschaftlichen Diskursgemeinschaft und den chinesischen Kulturraum. <?page no="46"?> 34 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells Bezugsgrößen von Kultur in Arbeiten der Kontrastiven Rhetorik Folgendes Fazit lässt sich ziehen: In den diskutierten Beiträgen wird Kultur unterschiedlich weit gefasst. Während K APLAN (1966/ 2001) davon ausgeht, dass nicht nur im chinesischen, sondern im ganzen ostasiatischen Kulturraum ähnliche handlungsleitende Muster der Textorganisation nachweisbar sind, beschränken sich die meisten Untersuchungen auf den chinesischen Kulturraum. Als Beispiele können Y OUNG (1986, 1994) und G ÜNTH - NER (1993) gelten, die pan-chinesische Formen der Diskursorganisation annehmen. Diese Studien verweisen typischerweise auf das konfuzianische Erbe, um aktuelle Formen diskursiver Praxis zu erklären. Enger fassen textlinguistische Untersuchungen den Begriff „chinesisch“. Beispielsweise interpretieren L EHKER (1997) und W EN (2001) aktuelle Formen der Argumentation im Bezugsfeld des Nationalstaats und berücksichtigen Modi diskursiver Praxis in der Volksrepublik China. L IANG (1991) geht in seiner Fachtextanalyse von sich überlagernden Handlungsräumen aus. Textproduzenten bewegten sich gleichzeitig im Diskursraum der Fachgemeinschaft und im Diskursraum der chinesischen Kultur. 3.2 Kritik am Container-Paradigma Hinter der pan-chinesischen Perspektive, die Y OUNG und G ÜNTHNER einnehmen, verbirgt sich ein homogenisierendes Kulturverständnis. Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern mit mehrheitlich chinesischer Bevölkerung werden ignoriert, intrakulturelle Unterschiede ausgeblendet. Behauptet wird: „Han-ChinesInnen verfügen über dieselbe literarische Tradition, dieselbe Schrift, und eine (emisch betrachtet) gemeinsame Identität.“ (G ÜNTHNER 1993: 63). Diese Auffassung von Kultur als einer geschlossenen Einheit blickt in Deutschland auf eine lange Tradition zurück. 21 In jüngerer Vergangenheit kritisiert vor allem U LRICH 21 Bereits 1684 verwendete laut W ELSCH (1995: 39) der Naturrechtslehrer S AMUEL VON P UFENDORF „Kultur“ als „Generalbegriff, der nicht nur einzelne, sondern sämtliche menschliche Lebensäußerungen umfaßt“. Zur Etablierung eines homogenisierenden Kulturverständnisses trugen ganz wesentlich H ERDER s Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit bei, die 1784 bis 1791 erschienen. H ERDER zieht keine vertikalen Grenzen zwischen „kultivierten“ Kreisen und dem gemeinen, „kulturlosen“ Volk. Vielmehr verhilft er der Idee des gesamten Volkes als Kulturträger zum Durchbruch (vgl. H ANSEN 2000: 217). H ERDER billigt jeder Kultur als sich geschichtlich ausbildende Lebensform eines Volkes einen „eigenen Kreis“ zu. Damit denkt er „Kultur“ im Plural, als Inbegriff der je unterschiedlichen Lebensweise eines Volkes. Trotz aller normativen Konnotationen, die bei H ERDER mitschwingen, wenn er von einem Prozess steter Verfeinerung der „rohen Völker“ ausgeht (vgl. R ECKWITZ 2000: 73), besteht sein Verdienst darin, den Kulturbegriff historisiert und homogenisiert zu haben, was zu einem modernen, auf normative Vergleichsmaßstäbe verzichtenden Kulturverständnis führte. Wissenschaftlich durchsetzen konnte sich die wertfreie Verwendung des Kulturbegriffs erst durch die moderne Ethnologie, als deren Begründer T YLOR gilt. In seinem Hauptwerk Primitive Culture aus dem Jahr 1831 de niert er „Kultur“ wie folgt: “Culture or civilization, taken in its wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and other capabilities and habits acquired by man as a member of society.” (T YLOR , zit. nach R ECKWITZ 2000: 74). T YLOR sieht in jeder Kultur eine „komplexe Ganzheit“ (complex whole), eine Einheit, die alle regelmäßigen Handlungsweisen (custom, habits) umfasst, die ein Mensch als Mitglied der Gesellschaft (man as a member of society) erlernt. Darüber hinaus zählen zu einer Kultur auch die ideellen und normativen Voraussetzungen der Handlungen (knowledge, belief, morals) sowie künstlerische Artefakte (art) (vgl. R ECKWITZ 2000: 74f.). In Deutschland fand die Vorstellung, Kulturen seien historisch gewachsene, organische und homogene Entitäten, viele Befürworter, was auf die politische Verspätung und Isolierung der deutschen Nation zurückgeführt werden kann. Im 19. Jahrhundert sei der Kulturbegriff in Deutschland von einer tiefen Sehnsucht nach nationaler „Einheit und Ganzheit“ geprägt gewesen (B AUSINGER 1980: 60f.). <?page no="47"?> 35 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells B ECK die Axiomatik einer nationalstaatlich eingestellten Sozialwissenschaft (vgl. B ECK 1986, 1997, 1998a, 1998b). Die fest etablierte Sicht von Gesellschaften als autochthone Einheiten bezeichnet er als „Container-Theorie“ (B ECK 1997: 49). Staatlich abgegrenzte Räume würden zu „Einheiten territorialer Souveränität und Sicherheit verdingt“ (B ECK 1998b: 14) und Gesellschaften damit de nitorisch Nationalstaaten untergeordnet. So setze der Begriff der „französischen Gesellschaft“ die staatliche Beherrschung eines bestimmten Machtraumes voraus. Innerhalb des französischen Staatsgebietes werde dann eine kulturelle Homogenität und kollektive Identität der Gesellschaft postuliert. Es ist das Wechselverhältnis dieser drei Annahmen - die Einheit von Territorium, Souveränität und Staat; die Grenzziehung, durch Entgegensetzungen und die Hegemonie über die Gesellschaft -, das den Anschein der Selbstverständlichkeit, „Natürlichkeit“ und Unüberwindbarkeit dieser Container-Theorie der Gesellschaft erzeugt (B ECK 1998b: 14f.). Nach der Container-Theorie schottet der Staat eine Gesellschaft nach außen ab und ordnet sie im Inneren. Makrosoziale Zusammenhänge werden in nationalstaatlich konstruierten Behältern untergebracht, „aber auch der meso- und mikrosoziale Bereich hat ebenfalls seine Containergestalt“ (K EUPP 2000: 28). Die Gesellschaft wird demnach auch in ihren inneren Totalitäten (Klassen, Stände, ethnische Gruppen etc.) analysiert. Die Wissenschaft konstruiert außerdem bestimmte Eigenwelten der Gesellschaft, etwa die nationale Ökonomie, die Sprache oder die Literatur, um sie isoliert von äußeren Ein üssen zu beschreiben (vgl. B ECK 1997: 50). Durch den „Globalisierungsschock“ sind laut B ECK (1997: 33) diese Gewissheiten nachhaltig erschüttert worden. Nicht nur Soziologen erkennen zunehmend an, dass sich Gesellschaften überlagern, vernetzen und nicht länger als isolierte Gebilde zu segmentieren und analysieren sind. Auch einige Ethnologen haben die Kritik B ECK s aufgenommen und kritisieren das fest verankerte „Container-Paradigma der Kulturen“ (D RECHSEL / S CHMIDT / G ÖLZ 2000: 6). Lange war die Ethnologie von „holistische[n] Einheiten von Sitten und Gebräuchen sozialer Kollektive“ ausgegangen (D RECHSEL / S CHMIDT / G ÖLZ 2000: 7). Indem man Kulturen als territorial begrenzte Systeme dachte, habe man vielfältige Unterschiede ge issentlich übersehen und „essentialisiert“ (B ECK 1998b: 54). B REIDENBACH / Z UKRIGL (1998: 78) schließen sich dieser Kritik an: Seit dem 19. Jahrhundert hätten Ethnologen Kulturen als in sich geschlossene Systeme konzipiert, was im Licht neuerer wissenschaftlicher Untersuchungen fragwürdig erscheint: Wir haben inzwischen Kenntnis von höchst komplexen vorkolonialen Kontakten - vermeintlich isolierter Menschengruppen. In der Kolonialzeit wurde der Kulturwandel zum Teil gewaltsam forciert. Kolonialregimes beispielsweise schufen aus administrativen Gründen ganze „Stämme“, die in der Folgezeit als eine „Kultur“ betrachtet und untersucht wurden. Das Bild der reinen, homogenen und integrierten Kultur des jeweils Anderen entpuppt sich immer mehr als Projektion der mit der fragmentierten Realität der Moderne hadernden Westler (B REIDENBACH / Z UKRIGL 1998: 78). Dass mit der Globalisierung immer komplexer werdende „transnationale Räume“ (B ECK 1998b: 57) entstehen, nehmen auch Theoretiker an, die in der Tradition der cultural studies stehen. A PPADURAI (1998) klassi ziert diese Räume als scapes, als „enträumlichte Landschaften“ 22 . Für die interkulturelle Diskussion weiterführend ist, dass er sich auch 22 Dieser Neologismus ist vom englischen Begriff landscape abgeleitet. Drei der von A PPADURAI (1998) genannten scapes fügen sich in die Darstellung von G IDDENS (2001): Im Weltsystem des Kapitalismus werden in nancescapes über nationale Drehscheiben hinweg riesige Geldmengen per Mausklick in Sekundenschnelle weltweit transferiert. Der Industrialismus hat technoscapes und mediascapes entstehen lassen und damit zuvor ungeahnte Möglichkeiten der Verteilung und Ausstrahlung elektronischer Nachrichten und Bilder. <?page no="48"?> 36 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells den Menschen zuwendet, die in Bewegung geraten sind und sich in ethnoscapes aufhalten, in deterritorialisierten „ethnischen Räumen“. Mit ethnischen Räumen möchte ich [...] die Räume jener Personen bezeichnen, welche den sich gegenwärtig vollziehenden Wandel charakterisieren: die ethnischen Räume der Touristen, der Immigranten, der Flüchtlinge, der Exilanten, der Gastarbeiter und anderer Gruppen und Individuen (A PPADURAI 1998: 12). Die Migrationsforschung bestätigt, dass sich viele Menschen nicht nur an, sondern auch „zwischen“ teilweise weit entfernten Orten aufhalten. 23 Aber auch massenmedial verbreitete Informationen und Bilder produzieren laut A PPADURAI (1998: 21) transnationale ideoscapes, Bausteine imaginierter Leben, die weltweit mit Bedeutung versehen und ausgetauscht werden. In allen Gesellschaften gehörte die Imagination in bestimmter kulturell organisierter Form - als Träume, Lieder, Phantasien, Mythen und Geschichten - zum festen Bestandteil der jeweiligen Gesellschaft. Im heutigen sozialen Leben aber hat die Imagination eine eigentümliche, zusätzliche Wirkung erhalten. Mehr Menschen als je zuvor, in mehr Teilen der Welt als zuvor ziehen heute mehr Variationen „möglicher“ Leben in Betracht als je zuvor. Eine wesentliche Quelle dieser Veränderung ist in der Existenz und Rolle der Massenmedien zu sehen. Sie präsentieren ein reichhaltiges, ständig wechselndes Repertoire an möglichen Leben [...] (A PPADURAI 1998: 21). Unterhaltungssendungen und Filme entwerfen neben den nationalen Erzählungen neue Szenarien möglicher Lebenswelten. Zudem werden durch die modernen Massenmedien in mediascapes andere Alltagserfahrungen gemacht: Elektronische Kommunikation in Echtzeit ermöglicht nicht nur die schnellere Übermittlung von Nachrichten und Informationen. Sie verändert darüber hinaus unsere Lebensstrukturen, egal ob wir reich oder arm sind. Wenn das Bild Nelson Mandelas uns unter Umständen vertrauter ist als das Gesicht unseres unmittelbaren Nachbarn, dann hat sich etwas im Wesen unserer alltäglichen Erfahrung verändert. Nelson Mandela ist weltberühmt. Berühmtheit selbst ist wiederum in erster Linie Resultat einer neuen Kommunikationstechnologie (G IDDENS 2001: 23). Auch führende Vertreter des Faches Deutsch als Fremdsprache sind dem homogenisierenden Kulturverständnis bereits sehr früh entgegengetreten. 1980 hält B AUSINGER fest: [W]esentliche Muster und wesentliche Themen der Kultur [sind] längst übernational geworden. Wenn selbst Kulturanthropologen für ihre peripheren und oft allein schon geographisch isolierten Kulturen feststellen, die Ära der Weltgeschichte habe begonnen [...], so hat dieser Gesichtspunkt sicherlich noch sehr viel mehr Bedeutung für die komplexen Kulturen, die sich so freilich au ösen in kulturale Komplexität (B AUSINGER 1980: 61). B AUSINGER fordert ausdrücklich, Kultur als komplexes Phänomen zu betrachten, weil sich Kulturen nicht mehr als isolierte Gebilde beschreiben lassen, denn Muster und Themen seien längst „übernational“ geworden. Jedes homogenisierende Kulturverständnis ist B AUSINGER zufolge demnach unterkomplex. Offenbar hat sich dieses Diktum im Fach DaF nicht durchsetzen können. Etwa ein Jahrzehnt später prangert P ICHT (1989) an, noch 23 Die Arbeitsmigration in die USA bewirkte beispielsweise, dass es in Mexiko ganze Dörfer gibt, die überwiegend auf Geldüberweisungen aus New York angewiesen sind. P RIES (1998: 63) berichtet von mexikanischen „Gemeinden, die vollständig entvölkert sind, aber gut ausgebaute Häuser aufweisen und sich jeweils ein- oder zweimal im Jahr mit den (ehemaligen) Bewohnern füllen.“ F AIST (2000) stellt dar, dass sich vergleichbare transnationale soziale Räume auch zwischen Orten in der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei etabliert haben. <?page no="49"?> 37 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells immer greife man in der Landeskunde-Diskussion auf Konzepte der Kulturanthropologie zurück, die zur Beschreibung isolierter Gesellschaften entwickelt wurden: [Die] hohe Komplexität kultureller Zusammenhänge hat die Pioniere landeskundlicher Erneuerung nicht davon abgehalten, theoretische Entwürfe zu entwickeln, die zumindest als Postulat auf eine Erfassung des Ganzen fremder Kulturen zielen (P ICHT 1989: 55). Nicht nur P ICHT schreibt gegen die „Aporien der Totalität“ an. S CHWERDTFEGER (1992: 362) weist Vorstellungen, Kulturen seien „monolithische Blöcke“ mit Nachdruck zurück. Auch H U (1995: 22) äußert einen „fundamentalen erkenntnistheoretischen Zweifel an der Darstellbarkeit von ‘Kulturen’ im Sinne kohärenter Entitäten“. Folgendes Fazit lässt sich ziehen: Führende Soziologen, Ethnologen und Vertreter des Faches DaF weisen unisono ein homogenisierendes Kulturverständnis zurück. Im Fall empirischer Studien scheint dieser Ruf jedoch ungehört verhallt zu sein, wenn man einschlägige kulturkontrastive Untersuchungen betrachtet. Nach wie vor nden sich in Fachpublikationen Plattitüden zum „typisch chinesischen Verhalten“. Vorherrschend ist in diesen Arbeiten die Dichotomie des Eigenen und des Fremden, wobei das Fremde im Falle Chinas meistens mit der konfuzianischen Tradition identi ziert wird. In der aktuellen interkulturellen Diskussion des Faches DaF scheinen also zwei gegenläu ge Positionen vertreten zu werden: Wird Kultur begrif ich-de nitorisch eingegrenzt, dann herrscht Einmütigkeit, dass Kulturen komplexe, intrakulturell differenzierte und translokal vernetzte Gebilde sind. Wird jedoch über einzelne Herkunftskulturen der Lerner geschrieben, dann scheinen diese überhaupt nicht komplex zu sein, sie erscheinen in ihrer Ganzheit fremd und anders. 3.3 Kultur als Gewohnheiten von Kollektiven Die Verschränkungen lokaler und translokaler Räume, die Überlagerungen traditioneller und globaler Referenzsysteme lassen es notwendig erscheinen, Konzepte von „Kultur“ zu entwickeln, ohne in die „territoriale Falle“ (B ECK 1997: 52) zu tappen. Die Frage lautet, wie „Kulturen“ im Zeitalter der perforierten Container ohne Rand und ohne Grenze noch beschreibbar sind (H ANSEN 2000: 359). Die moderne Ethnologie versucht, Lokales und Translokales konzeptionell zu verschränken. 24 In den Blick geraten die vormals vernachlässigten Grenzgebiete und Zwischenräume, die im postkolonialen Diskurs als „dritte Orte“ (B HABA ) bezeichnet werden. Diese philosophischen Annäherungen an Phänomene wie Hybridität, Synkretismus und Kreolisierung zeigen zwar eindringlich, dass sich Menschen heute zunehmend in „glokalen“ Zusammenhängen (R OBERTSON 1998) bewegen, ein handhabbares Instrumentarium zur kulturwissenschaftlichen Interpretation authentischer Daten stellen sie jedoch nicht bereit. 24 Um die charakteristische kulturelle „Melange“ an einem bestimmten Ort genauer einschätzen zu können, bezieht sich P IETERSE (1998) auf komplementäre Konzepte von Kultur. Ein endogenes Kulturkonzept hält am Container-Paradigma fest und beschreibt Gesellschaften oder Nationen als homogene, organische Entitäten. Demgegenüber fokussiert das exogene Kulturkonzept Grenzgebiete und Zwischenräume und lenkt den Blick auf die heterogene Zusammensetzung einer Gemeinschaft. Im Anschluss an P IETERSE plädiert F AIST (2000) in einer kulturwissenschaftlichen Einschätzung türkischer Migranten für eine Verbindung verschiedener Konzepte: „Im Ergebnis mögen sich Kultur als hardware und software sinnvollerweise ergänzen: Denn um eine gewisse Stabilität zu erreichen, bedürfen dynamisch-synkretistische Aspekte von Kulturen durchaus territorialer Beschränkungen in Form von staatlicher Rechtssicherheit. Immigrantenkulturen existieren schließlich nicht nur im ‚Dazwischen’“ (F AIST 2000: 378f.). <?page no="50"?> 38 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells Weiterführend scheint mir die Kulturtheorie von H ANSEN (2000) zu sein. Auch er versucht, Kultur innerhalb einer „Welt in Stücken“ (G EERTZ ) zu konzeptionalisieren. Wie die zitierten Ethnologen geht er von einer komplexen „Umfassung und Ineinander-Verschachtelung“ (H ANSEN 2000: 204) verschiedener Kulturen aus. Jedoch möchte er vermeiden, dass der Kulturbegriff in einem abstrakten Diskurs zu einem „höchst komplexen und diffusen Gebilde“ verkommt (2000: 358). Daher emp ehlt er als „Therapie“, Kultur auf Kollektive zu beziehen (2000: 359). „Kultur“ bestimmt H ANSEN zunächst allgemein als „Gewohnheiten eines Kollektivs“ (2000: 193), wobei durch die jeweiligen Gewohnheiten Formen der Kommunikation, des Denkens, Emp ndens und Verhaltens geprägt würden. Um „tiefer in das Phänomen der Kollektivität“ einzudringen (2000: 359), geht H ANSEN folgendermaßen vor: „Der Kulturbegriff wird verkleinert, so daß er fest wird und außerdem einfach und vielseitig zu handhaben ist.“ (2000: 359). Die Handhabbarkeit dieses Kulturbegriffs erprobt H ANSEN an einem ktiven Passauer Tennisclub, einem überschaubaren Kollektiv mit nur wenigen Mitgliedern, von dem er in Anlehnung an G EERTZ eine „dichte Beschreibung“ gibt (H ANSEN 2000: 167). 25 Die Unterschiede der Mitglieder im Tennisclub führt H ANSEN auf die „Multikollektivität“ eines jeden Mitglieds zurück (2000: 199). Dieser Gedanke ist unmittelbar einleuchtend. Ein Mensch ist niemals Mitglied nur eines Kollektivs, seine Identität formt sich durch Mitgliedschaften in vielen Kollektiven unterschiedlicher Größe. So beschreibt H ANSEN die kulturelle Identität eines Menschen durch dessen verschiedene Zugehörigkeiten: „Unser Manager aus Köln war in folgenden Gruppierungen zu Hause: Er war Tennisspieler, Katholik, bon vivant und Anhänger moderner arbeitnehmerfeindlicher Managementtheorien.“ (2000: 199). Wie H ANSEN weiter ausführt, unterscheiden sich Kollektive in vielfacher Hinsicht, zum Beispiel nach der Anzahl ihrer Mitglieder, der Breite des Identitätsangebots, der Heftigkeit der Abgrenzung von anderen Kollektiven oder dem Grad der Institutionalisierung (H AN - SEN 2000: 202ff.). Wie in Tabelle 3.1 dargestellt, klassi ziert H ANSEN Kollektive in einem viergliedrigen System nach ihrer Ausdehnung und dem jeweiligen Maß, wie sie andere Kollektive umfassen. Kollektivform Kennzeichen Beispiele Monokollektiv kann kein anderes Kollektiv umfassen Kollektiv der Schreiner Multikollektiv umfasst zwei oder mehrere Kollektive, zwischen denen sich eine Spannung ergibt Kollektiv der Handwerker Superkollektiv bildet eine feste politische und juristische Einheit, verleibt sich Mehrzahl der in dieser Einheit versammelten Kollektive ein Kollektiv der deutschen Staatsbürger Globalkollektiv transnational, hält sich nicht an Grenzen der Superkollektive Kollektiv der Popmusikfans Tabelle 3.1: Typologie der Kollektivformen nach H ANSEN (2000: 204f). 25 Im Tennisclub interagieren vier Mitglieder: eine Schwäbin, die gerade mit ihrem Mann eine Zahnarztpraxis eröffnet hat, ein Schreinermeister aus Niederbayern, eine ledige Universitätsassistentin und ein Angestellter im Management der Lokalzeitung. Diese Mitglieder bilden keine homogene Gruppe, obwohl sie alle aus Deutschland stammen. Wie es nicht anders zu erwarten ist, kleiden sie sich unterschiedlich, wählen sie andere Parteien, bereisen sie andere Länder, bevorzugen sie andere Automarken etc. (vgl. H ANSEN 2000: 160-167). <?page no="51"?> 39 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells Allgemein gilt für jedes der in Tabelle 3.1 genannten Kollektive, dass einzelne Mitglieder gleichzeitig auch anderen Kollektiven angehören, wodurch nach H ANSEN in den Kollektiven Formen sozialer Kontrolle erforderlich werden: Die Kohäsion der Kollektive ergibt sich daraus, daß die Mitglieder ihre Identitätsübereinstimmungen aktualisieren und ihre Identitätsdifferenzen nicht virulent werden lassen. In dieser Virulenzkontrolle besteht der kleine Preis, den man für die Kohäsion zahlen muß (H ANSEN 2000: 195). Kollektive kontrollieren Identitätsdifferenzen der Mitglieder, um den Zusammenhalt zu sichern. Hierzu werden die Mitglieder nach D RECHSEL / S CHMIDT / G ÖLZ (2000) auf unterschiedliche Weise in die Kultur eines Kollektivs eingebunden. Keiner der Teilnehmer ist wie der andere, auch verhalten sie sich nicht gleich. Alle vier Mitglieder fühlen sich jedoch in die Kultur des Tennisclubs eingebunden, die durch die Vereinssatzung und den gewachsenen „common sense“ festgelegt wird [...]. So wie die vier Mitglieder des Tennisclubs untereinander verschieden sind, so sind sie ebenso in der umfassenden Kultur des Tennisclubs verschieden oder unterschiedlich eingebunden. Die Kultur des Tennisclubs muß deshalb derart konstituiert sein, daß sie die unterschiedlichen Kulturen der Mitglieder auf ganz unterschiedliche Weise und nicht, wie gewöhnlich gedacht wird, „identisch“ einbindet. Wenn man deshalb die Frage stellt, was die Kultur der vier Mitglieder im Rahmen der Tennisclubkultur ausmacht, dann sind es die Gemeinsamkeiten ihrer Differenzen! Das ist ungewohnt zu denken, doch empirisch gegeben. Man kann dies auch paradox formulieren: die kulturellen Gemeinsamkeiten der vier Mitglieder bestehen in ihren Differenzen. Das überträgt sich ebenso auf die Kultur des Tennisclubs: die Kultur des Tennisclubs besteht in der Gemeinsamkeit der kulturellen Differenzen der Mitglieder (D RECHSEL / S CHMIDT / G ÖLZ 2000: 16). Die schriftlich xierte Clubsatzung und ein informeller common sense binden die Mitglieder in die Kultur des Kollektivs ein, ohne Identitätsunterschiede gänzlich zu nivellieren. Die von D RECHSEL / S CHMIDT / G ÖLZ (2000) vorgeschlagene „differenzlogische“ Betrachtungsweise bedeutet, dass die Kultur eines konkreten Kollektivs nur durch eine dichte Beschreibung der kulturellen Differenzen der einzelnen Mitglieder zu erfassen ist. Zwar gelten in einem Kollektiv bestimmte Standardisierungen, sie verhindern jedoch nicht, dass die einzelnen Mitglieder unterschiedlich sind und dies auch bleiben. Nur in ihren Widersprüchen, in ihren Differenzen lassen sich Gemeinsamkeiten beschreiben. Auch B ENHABIB (1999: 52) unterstreicht, dass Kulturen nicht sind wie „Zwangsjacken, sondern exible, widersprüchliche und äußerst zwiespältige Ver echtungen von Interpretation und Symbolisierung, durch die dem kollektiven und individuellen Leben Bedeutung verliehen wird.“ So gibt ein Kollektiv zwar Regeln vor, es lässt jedoch auch Abweichungen zu: Damit stehen wir vor dem Kernproblem des Begriffs Kollektiv, egal ob er sich auf einen Tennisclub bezieht oder auf eine Nation. Einerseits muß er Gleichverhalten oder zumindest Verhaltensähnlichkeiten hervortreten lassen, wobei andererseits aber Raum bleiben muß sowohl für Untergruppierungen als auch für Individualität. Der Begriff muß folglich jenes Terrain abdecken, das sich zwischen den Extremen gänzlicher Uniformität und gänzlicher Verschiedenheit auftut (H ANSEN 2000: 208). Eine wesentliche Aufgabe des Kulturwissenschaftlers besteht demzufolge darin, das Terrain zwischen Uniformität und Verschiedenheit auszuloten. Hierfür bietet H ANSEN den Begriff „Standardisierung“ an, um ein gewisses Maß an Gleichförmigkeit ebenso wie ein „kollektives Element ungeplanter und ungezwungener Art“ (H ANSEN 2000: 38f.) zu erfassen. <?page no="52"?> 40 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells Auf Seiten der Kultur oder Gesellschaft haben wir eine Sanktionsskala, die vom Zwang bis zum Angebot reicht; auf Seiten des Individuums haben wir eine Skala der Internalisierungstiefe, die sich von der Ablehnung bis zur Verinnerlichung erstreckt (H ANSEN 2000: 171). Zum Wesen der Kultur eines Kollektivs gehört also auch, dass sich einzelne Mitglieder gegen Vorschriften stellen können. „Das Individuum [...] kann nicht gezwungen werden. Jede Diktatur hat ihre Dissidenten, und jede Demokratie ihre Gesetzes- und Tabubrecher“ (H ANSEN 2000: 170). Kulturen sichern also ihren Bestand, weil sie das Verhalten der Mitglieder normieren, gleichzeitig uniformieren sie das Verhalten der Mitglieder nicht völlig. Auch B ENHABIB erwähnt die Dialektik von kultureller Reproduktion und kulturellem Wandel: Das Recht auf kulturelle Zugehörigkeit beinhaltet auch das Recht, zu verschiedenen kulturellen Vorgaben, die von Erziehung, Nation, religiöser oder familiärer Gemeinschaft gemacht werden, nein zu sagen. Die Verwirklichung von Autonomie ist undenkbar ohne kulturelle Reproduktion, ebenso undenkbar jedoch ohne kulturellen Streit und kulturellen Protest, die das Alte ändern und neue kulturelle Horizonte schaffen (B ENHABIB 1999: 51). Der unbedingte Vorteil von H ANSEN s Kulturtheorie besteht meines Erachtens darin, dass er Kultur auf ein überschaubares Monokollektiv bezieht, wodurch sich sein Ansatz als Grundlage für empirische Untersuchungen geradezu anbietet. Ebenso wie im Tennisclub entwickelt sich eine „eigene Kultur“ des Lernerkollektivs, bedingt durch gemeinsame Erfahrungen, aber auch durch die Differenzen der einzelnen Mitglieder. Ebenso wie der Tennisclub ist das Lernerkollektiv institutionell größer gefassten Kollektiven untergeordnet, die bestimmte Standardisierungen vorgeben, etwa in Form curricularer Richtlinien. Ebenso wie im Tennisclub sind Lerner außerhalb der Institution, in der gelernt wird, in viele andere Kollektive eingebunden. Wie im Tennisclub können sich schließlich einzelne Mitglieder unterschiedlich gegenüber Standardisierungen verhalten. In jedem Lernerkollektiv gibt es Angepasste und Abweichler, Opportunisten und Aufmüp ge. 26 3.4 Subkultur, Nationalkultur, Globalkultur H ANSEN s Grundgedanke, dass eine kulturwissenschaftliche Beschreibung nicht nur von der Nationalkultur, sondern auch von anderen kulturellen Formationen ausgehen muss, wird von Vertretern des Faches Deutsch als Fremdsprache geteilt. Bereits zu Beginn der vertieften Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff fordert B AUSINGER , auch die vielfältigen „Kulturen in der Kultur“ (1980: 63) zu berücksichtigen. In jeder Nationalkultur gebe es Teilkulturen, einige subkulturelle Szenen de nierten sich sogar als „Kontrakulturen“, d.h. in ausdrücklicher Opposition zur Bezugskultur (1980: 64). G ÖHRING betont ebenfalls, dass Einzelgesellschaften intern differenziert und nach außen geöffnet sind. Ein Deutscher sei niemals nur Deutscher, sondern zugleich auch Mitglied einer weltanschaulichen Kultur, einer schichtenspezi schen Kultur, einer Berufskultur, einer Regionalkultur, der Kultur der Kleinstadt X, des Dorfes Y oder der Familie Schmidt etc. (1980: 76). Diese Betrachtungen B AUSINGER s und G ÖHRING s fügen sich in das Modell H ANSEN s. Lerner können in ihren Herkunftsländern Kollektiven angehört haben, die in analoger 26 Eine Einschätzung von Lernerkollektiven als Gegenstand empirischer Untersuchungen sowie Modi kationen des H ANSEN schen Ansatzes nden sich in Abschnitt 8.3 vorliegender Arbeit. <?page no="53"?> 41 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells Form auch in der Zielkultur existieren. Nach G ÖHRING können diese Überschneidungen didaktisch genutzt werden: Der Lerner verfügt bereits von seiner Ausgangsgesellschaft her über eine pluri-kulturelle Erfahrung, auf die man zurückgreifen kann, wenn man ihm den Zugang zur Kultur des deutschsprachigen Raums erleichtern will; zwischen dem Fremdkulturellen innerhalb der eigenen Ausgangskultur und dem Fremdkulturellen der Zielkultur besteht kein prinzipieller, sondern nur ein Unterschied des Grades (G ÖHRING 1980: 77). G ÖHRING hebt die Dichotomie des Eigenen und Fremden zugunsten einer „pluri-kulturellen“ Betrachtung der Lerner auf. Die sich aufdrängende Frage lautet, ob diese relativistische Sicht interkulturelle Forschung nicht obsolet macht, ob Nationalkulturen im Spannungsfeld verschiedener Teil-, Sub- und Globalkulturen nicht doch zentrale Bezugsgrößen bleiben. Antworten auf diese Frage fallen bemerkenswert eindeutig aus: H ANSEN (2000: 183) betont, dass Nationen nach wie vor zentrale „normalitätsstiftende Muster“ bereitstellen: Nationen machen immerhin noch eine nicht zu unterschätzende kollektive Geistigkeit aus, die als Stifterin von Normalität unsere Lebenswirklichkeit kanalisiert. Nationen sind sicherlich weder homogene Einheiten noch abgeschottete Monaden, aber sie bilden einen relativ stabilen Rahmen, in dem sich [...] Multikollektivität abspielt (H ANSEN 2000: 359). A LTMAYER (1997) meint ebenfalls, dass Nationen bis heute die zentralen kulturtragenden Instanzen sind: „Kulturen“ sind [...] in sich relativ geschlossene gesellschaftliche Formationen, denen bestimmte geistige Haltungen und Einstellungen eigen sind, durch die sie sich von anderen Formationen unterscheiden. Dieses nach innen identi zierende und nach außen abgrenzende Begriffsverständnis bezieht sich bis heute vorwiegend auf die Nation als kulturtragende gesellschaftliche Einheit, meint also meist Nationalkulturen. So ist eben von der deutschen, der französischen und der amerikanischen „Kultur“ die Rede, darüber hinaus weisen die drei genannten „Kulturen“ aber auch Gemeinsamkeiten auf, die sie von der japanischen „Kultur“ unterscheiden (A LTMAYER 1997: 5). Eine andere Auffassung vertreten B ARKOWSKI / Eß ER (2005: 91), die den Kulturbegriff nicht auf die Nation, sondern auf eine „bestimmte gesellschaftliche Gruppe“ beziehen. Wieder anders B OLTEN (2003: 38), der auf Wissensbestände rekurriert, die „in jeweils spezi scher Konstellation für bestimmte ethnische Gruppen bedeutsam sind“. 27 Ob die genannten Autoren Kultur nun primär auf nationale, soziale oder ethnische Gruppen beziehen, verbindender Gedanke ist, dass die Kulturwissenschaft auch im Zeitalter der Globalisierung von der Existenz größerer Einheiten, historisch gewachsener „Dachkollektive“ (H ANSEN ) ausgehen muss, die das Handeln, Denken und Wahrnehmen der Mitglieder nicht ausschließlich, doch in relevantem und empirisch nachweisbarem Maß steuern. Zweiter verbindender Gedanke ist, dass diese größeren Kollektive mit anderen vernetzt und intern vielfach differenziert sind und sich auf konkurrierende Traditionslinien be- 27 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die praktizistische Argumentation von H OFSTEDE , der zunächst einräumt: „Genau genommen gilt das Konzept einer gemeinsamen Kultur für Gesellschaften und nicht für Staaten. Dennoch bilden viele Staaten ein historisch entwickeltes Ganzes, selbst wenn sie aus sehr unterschiedlichen Gruppen bestehen, und auch wenn sie weniger integrierte Minderheiten umfassen.“ (2006: 22). Dann rechtfertigt er den nationalkulturellen Bezugsrahmen seiner Untersuchung: „Die Verwendung der Staatsangehörigkeit als Kriterium ist eine Sache der Zweckmäßigkeit, denn es ist bedeutend einfacher, Daten für Staaten zu erhalten als für organische, homogene Gesellschaften.“ (2006: 23). <?page no="54"?> 42 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells ziehen: „Kulturen sind ebenso wie ihr jeweiliges kollektives Gedächtnis nicht als Container vorstellbar.“ (B OLTEN 2003: 38). Nach B ENHABIB gleicht dieses kollektive Gedächtnis 28 daher einem „vielstimmigen Gespräch“: [W]ir [müssen] Kulturen als Verkettung „interpretierender Erzählungen“ begreifen, die vielwertig sind und mehrere Generationen umspannen. Die Vitalität einer Kultur rührt von den narrativ ausgetragenen Streitigkeiten zwischen den Generationen her, in denen es um das Wie, Wann und Wo der kulturellen Überlieferung geht. Kultur ist dieses vielwertige und vielstimmige Gespräch über Generationen hinweg, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch widerstreitende Erzählungen verbindet (B ENHABIB 1999: 68). Diese Betrachtungen von H ANSEN , A LTMAYER , B ARKOWSKI / Eß ER , B OLTEN und B ENHABIB zeigen, dass die Kulturwissenschaft nach wie vor nationalkulturelle Parameter anlegen kann, da Prägungen größerer Dachkollektive offenbar einen höheren Stellenwert haben als Prägungen diverser Subkulturen oder der Globalkultur. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist ein chinesischer Deutschlerner demnach maßgeblich als Chinese zu beschreiben. Um seine kulturelle Identität jedoch hinreichend einschätzen zu können, ist es erstens notwendig, von Brüchen und Widersprüchen innerhalb seiner Kultur auszugehen. Die Überlieferung Chinas ist tatsächlich ein „vielstimmiges Gespräch“. Anders, als es Beiträge der Kontrastiven Rhetorik suggerieren, ist selbst der Konfuzianismus keineswegs eine kohärente Lehre. Um im Bild von B ENHABIB zu bleiben: In ein polyphones konfuzianisches Gespräch mischen sich andere Stimmen, etwa buddhistische, daoistische oder animistische. Im gegenwärtigen China sind darüber hinaus auch die etwas leiseren sozialistischen und die etwas lauteren marktwirtschaftlichen Stimmen zu hören. In einem Kollektiv chinesischer Germanistikstudenten kann man nicht zuletzt auch deutsche Stimmen vernehmen. 3.5 Das Individuum in und zwischen den Kulturen In der Kulturdebatte des Faches Deutsch als Fremdsprache rückt S CHWERDTFEGER (1991, 1992) das Individuum in das Zentrum der Betrachtungen einer phänomenologischen Landeskunde, die sich nicht darauf beschränkt, explizites Wissen von der Zielkultur weiterzugeben, sondern einen Lerner „in seiner Leiblichkeit“ erfasst. In das Zentrum ihrer Überlegungen stellt S CHWERDTFEGER individuelle Sinnstiftungsprozesse: Der Mensch überzieht seine soziale und physikalische Umwelt mit Netzen von Sinnbedeutung und Sinnbezügen. Diese Sinngebungen und Bedeutungen sind nicht starr xiert, sondern variabel, exibel, wandelbar [...]. In dieser Umgebenheit von Sinn, der vage ist, der sich beständig verändert, gibt es ein Zentrum: den Menschen in seiner Leiblichkeit, wie M ERLEAU -P ONTY herausarbeitet (S CHWERDTFEGER 1992: 365f.). 28 Der Begriff „kulturelles Gedächtnis“ bezieht sich auf A SSMANN (1988). Von Generation zu Generation werde Mitgliedern einer Gemeinschaft ein kollektives Wissen, welches „im spezi schen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert“ (A SSMANN 1988: 9), zur wiederholten und zur wiederholenden Einübung bereitgestellt. A SSMANN de niert: „Unter dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren „P ege“ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und von Eigenart stützt.“ (A SSMANN 1988: 15). <?page no="55"?> 43 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells Der Mensch in seiner Leiblichkeit übernimmt laut S CHWERDTFEGER keineswegs nur tradierte Bedeutungszuweisungen, immer sei er selbst „Erschaffer von Symbolen“ (1992: 366). Zwar könne von der Existenz intersubjektiver kultureller Symbole ausgegangen werden, diese würden jedoch stets subjektiv eingefärbt: „Durch seine Lebenserfahrungen, die Be ndlichkeiten seiner Leiblichkeit und sein schöpferisches Tun werden einem kulturellen Symbol vom Menschen durchgehend sehr persönliche Bedeutungen gegeben.“ (S CHWERDTFEGER 1992: 367). Eine Vielzahl von Symbolen sei zwar „in allen Kulturen bekannt“ (S CHWERDTFEGER 1992: 366), in einzelnen Nationen hätten sich jedoch xierte Bedeutungen und regionale Varianten entwickelt. So sei ein universelles kulturelles Symbol wie „Hö ichkeit“ eingebunden in lokal ausdifferenzierte „Bedeutungskomplexe diskursiver Praxis“ (S CHWERDTFEGER 1992: 379), die zugleich durch emotionale Be ndlichkeiten des Individuums in spezi scher Weise gewichtet würden. In einer Dialektik von „Entäußerung“ und „Einverleibung“ konstituierten sich kulturelle Symbole als „inkorporierte diskursive Praxis“ (S CHWERDTFEGER 1992: 372). Darauf müsse der Unterricht reagieren, um „in neuer Weise einen emotionalen Bezug zur Zielsprache und Zielkultur zu sich ganz persönlich herzustellen (S CHWERDTFEGER 1992: 380). H U (1996) greift diese Überlegungen bei ihrer Interpretation subjektiver Konzepte zum Fremdsprachenlernen auf. Bei der Auswertung ihres Datenmaterials stellt sie fest: Durch biographische Umstände, Auslandsaufenthalte, persönliche Vorlieben, die familiäre Erziehung etc. entwickelt jede Person ihr Konzept vom „Fremdsprachenlernen“, das unverwechselbar und in der Zusammenstimmung aller zur Sprache kommenden Facetten der jeweiligen subjektiven Konzepte einzigartig ist (H U 1996: 7). Wie S CHWERTFEGER versteht H U Kultur als Sinnstiftungsmodell, als „eine universal-anthropologische Kategorie, die eine menschliche Fähigkeit bezeichnet, die Welt kognitiv und emotional zu deuten“ (H U 1995: 24). Als „internalisierte Kategorie“ diene Kultur als Folie zur Konstruktion von Identität: Ausgehend von „Kultur“ verstanden als einer universal-anthropologischen Kategorie richte ich meinen Blick auf Einzelpersonen mit ihren jeweiligen durch ihre individuellen Biographien geprägten Einstellungen. Diese Personen jedoch [...] de nieren sich selbst durch Abgrenzung von bzw. Einordnung in Verhaltensmuster und Sinnstrukturen, die jeweils von den Einzelnen als jeweils typisch angesehen werden (H U 1995: 25). Das grundsätzliche Problem, Kultur als Sinnstiftungsmodell zu konzeptionalisieren, besteht A LTMAYER zufolge in der völligen Subjektivierung des Kulturbegriffs. Kaum mehr möglich erscheint es, „intersubjektive, soziale, eben ‘kulturelle’ Phänomene überhaupt noch beschreiben und im Fremdsprachenunterricht zum Gegenstand von Lehr- und Lernprozessen machen zu können (A LTMAYER 1997: 11). 29 Wenn Kultur als Zusammenfügung „subjektiver“ Deutungen konzeptionalisiert wird, dann fragt sich außerdem, wie „objektive“ Prägungen durch die Kultur erfasst werden sollen, die sich den Deutungen der Akteure entziehen. 29 Nach dieser Kritik an H U ist es verwunderlich, dass A LTMAYER (2004: 111) in seiner Konzeption von Kultur als „Hypertext“ ebenfalls das „Individuum als Subjekt seiner eigenen Sinnbildungsprozesse“ in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt. Ähnlich wie S CHWERDTFEGER wendet er sich gegen einen am „szientistischen Wissenschaftsideal der Naturwissenschaften orientierte[n] objektivierende[n] Blick“, der die Probanden nicht als „Subjekte“ begreift, „die für die Deutung und Sinngebung ihres Handelns primär selbst zuständig sind.“ (A LTMAYER 2004: 109). <?page no="56"?> 44 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells Auch G ÖHRING (1980) fordert, Lerner in ihrer persönlichen „Ideokultur“ zu würdigen. Eine „Ideokultur“ entstehe dadurch, dass ein Mensch eine je individuelle Auswahl aus dem vielfältigen kulturellen Angebot seiner Umgebung trifft. Der Ausdruck „kulturelles Angebot seiner Umgebung“ gestattet uns in seiner Vagheit, z.B. unter Ideokultur zu verstehen: a) Die Auswahl eines monokulturellen Individuums aus dem Angebot seiner nationalen Kultur und b) die Auswahl eines bikulturellen Individuums aus dem Angebot zweier oder mehrerer nationaler Kulturen (G ÖHRING 1980: 76). Dieser Versuch möchte der Tatsache Rechnung tragen, dass in Lernergruppen auch Migranten oder bikulturell aufgewachsene Individuen anzutreffen sind. Die Prämisse G ÖHRING s, ein Individuum könne zwischen verschiedenen kulturellen Angeboten „wählen“, zeichnet den komplizierten Prozess der Eingliederung eines Menschen in eine soziale Gruppe bzw. in die Gesellschaft jedoch völlig unzureichend nach. Der Erwerb einer kulturellen Identität erfolgt durch Prägungen, ohne dass sich ein Individuum immer für oder gegen eine prägende Instanz entscheiden kann. Bikulturell aufgewachsene Menschen treffen keine freie Auswahl aus dem „Angebot“ zweier Kulturen, vielmehr sind sie Standardisierungen zweier Kulturen ausgesetzt. In jedem Individuum nimmt H ANSEN daher einen spannungsgeladenen „persönlichen Mix“ an Orientierungen und Wertvorstellungen an (2000: 199). 30 Nicht immer gelingt es, Standardisierungen, die in verschiedenen Kollektiven gelten, zu integrieren. So gesehen erscheint das Individuum als kon iktreicher „Ort, an dem sich Kultur abspielt“ (2000: 188). 31 Grundsätzlich geht H ANSEN also davon aus, dass sich Widersprüche und Inkompatibilitäten der Kultur in der Identität des Individuums fortsetzen (2000: 182). Als Fazit lässt sich festhalten, dass die Didaktik des Fremdverstehens zwar von subjektiven, affektgeladenen Modellierungen kulturellen Wissens ausgehen kann und sollte (vgl. A LTMAYER 1997: 11). Gegen S CHWERDTFEGER und H U ist jedoch einzuwenden, dass Individualität sich nicht im Vermögen erschöpft, Geschehnisse zu deuten. Kultur wirkt auch „von außen“ auf den Menschen und prägt ihn. Außerdem ist das Individuum mit H ANSEN als Ort zu betrachten, an dem sich kulturelle Standardisierungen in Spannung zueinander be nden. Nicht immer gelingt es dem Individuum, unterschiedliche Standardisierungen zu integrieren. Daher verbleiben im Individuum wie in den Kollektiven, denen es angehört, Widersprüche und Differenzen. 3.6 Kultur als symbolische Ordnung? Nach R ECKWITZ (2000: 84f.) haben sich im Zuge des cultural turn Auffassungen durchsetzen können, die „Kultur“ als Komplex von Sinnsystemen sehen, mit denen sich Menschen ihre Wirklichkeit als bedeutungsvoll erschaffen, und die als „symbolische Ordnungen“ ihr Handeln leiten. Mitglieder einer kulturellen Gemeinschaft verfügen demnach über 30 H ANSEN verdeutlicht diesen Gedanken am Beispiel des bereits erwähnten Managers aus Köln: „In seinem persönlichen Mix verbindet er Kollektive, die neutral zueinander stehen. Diese Neutralität kennt natürlich Gradunterschiede. Tennissport und Katholizismus zu verbinden, wird dem Kölner nicht schwerfallen, wohl aber könnte seine Religion mit dem hedonistischen life style wie auch der wenig barmherzigen Wirtschaftsphilosophie in Kon ikt geraten. Da sein Katholizismus aber auf moderne Weise lau ist, gibt es keine Probleme.“ (H ANSEN 2000: 199). 31 B RONFEN / M ARIUS (1997: 4) formulieren diesen Zusammenhang ähnlich: „Das Subjekt ist Knoten und Kreuzungspunkt der Sprachen, Ordnungen, Diskurse, Systeme wie auch der Wahrnehmungen, Begehren, Emotionen, Bewußtseinsprozesse, die es durchziehen.“ <?page no="57"?> 45 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells ein intersubjektiv verfügbares, geteiltes Wissen. In der DaF-Debatte wird diese Position etwa von G ÖHRING (1980) vertreten, Kritik äußern u. a. G ÜNTHNER (1993), A UER (1999) und B ARKOWSKI / Eß ER (2005). Viele kognitivistische Konzeptionalisierungen von Kultur beziehen sich auf die De nition von G OODENOUGH : „It is the form of things that people have in mind, their models for perceiving, relating, and otherwise interpreting them.” (1964: 36). Kultur besteht demnach aus Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsrastern, die Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft zur Strukturierung von Wirklichkeit „im Kopf“ haben. G ÖHRING ist dieser Kulturde nition verp ichtet: Insgesamt lässt sich Kultur als eine Sammlung von Rezepten zur Lösung von Problemen verstehen, von Entwürfen für den Umgang mit Mitmenschen, mit Sachen, mit Gedanken und Gefühlen, für die Organisation der Wahrnehmung (G ÖHRING 1980: 75). Jede Kultur hält demnach Muster bereit, mit denen Menschen ihre Wirklichkeit erfassen, etwa in Form von Mythen, Stereotypen, Situations- und Rollende nitionen oder Denkstrukturen (vgl. auch S CHMIDT 1994: 238). Auch W IERLACHER vertritt dieses Kulturverständnis, wenn er Kulturen als „komplexe, sich wandelnde Systeme kollektiver Selbstauslegung menschlicher Existenz“ betrachtet (W IERLACHER / E ICHHEIM 1992: 375). Kulturen seien „komplexe und sich wandelnde Systeme handlungsleitender Wissens- und Orientierungsmuster [...], die im ‚kulturellen Gedächtnis’ aufbewahrt werden“ (W IERLACHER 1999: 327). Durch den Wiedergebrauch von Texten, Bildern und Riten befestigen Mitglieder einer kulturellen Gemeinschaft das kollektive Wissen und schaffen einen relativ stabilen und kohärenten Rahmen, der jene Zeitlichkeit überwindet, die dem Individuum als biologische Grenze vorgegeben ist. Kultur, so lassen sich diese kognitivistischen Entwürfe zusammenfassen, wird als kollektives Wissen im Gedächtnis einer Kulturgemeinschaft aufbewahrt. Dieses Gedächtnis stellt Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster bereit, welche Wirklichkeit konstruieren. G ÜNTHNER (1993) und A UER (1999) erheben grundsätzliche Einwände gegen diese Konzeptionalisierung von „Kultur“. Sie berufen sich auf G EERTZ und dessen Warnung vor dem „kognitivistischen Irrtum“: Der kognitivistische Irrtum - daß [...] Kultur aus „mentalen Phänomenen (bestehe), die mit formalen Mitteln untersucht werden können [...], die denen in Mathematik und Logik ähnlich sind“ - macht eine sinnvolle Verwendung des Kulturbegriffs ebenso unmöglich wie die behavioristischen und idealistischen Irrtümer, die er erfolglos zu korrigieren suchte (G EERTZ 1987: 19). Den Irrtum illustriert G EERTZ mit einem Beispiel aus der Musik. Kein Konzertbesucher käme auf die Idee, ein Beethoven-Quartett mit der Partitur, mit den Fähigkeiten oder dem Wissen der Musiker gleichzusetzen. Ein Quartett ist „ein zeitlich verlaufendes tonales Gebilde, eine kohärente Abfolge geformter Laute, mit einem Wort Musik [...] und nicht irgend jemandes Wissen oder Glauben an irgend etwas (G EERTZ 1987: 18). Entscheidend ist für G EERTZ , dass Musik zur Aufführung gelangen muss, um Musik zu sein. Gleiches gelte für Kultur: Kultur wird in Handlungen vollzogen und ist öffentliches Ereignis (vgl. G EERTZ 1987: 18). Erst durch seinen öffentlichen Vollzug wird der Gegenstand Kultur zum Leben erweckt (H ANSEN 2000: 246). Auch G ÜNTHNER (1993: 16) geht davon aus, „daß Kultur, kulturelle Gewohnheiten und Differenzen keine vom Interaktionsprozeß losgelöste Entitäten repräsentieren, sondern wesentliche Bestandteile der Interaktion sind.“ (vgl. auch A UER 1999: 209). <?page no="58"?> 46 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells Der kognitivistische Irrtum hat zur Konsequenz, dass Kultur bei G OODENOUGH und später G ÖHRING als eine Art Rezeptwissen verstanden wird. Kultur ist jedoch mehr als eine „Anwendung“ bestimmter Standards in der Praxis, Kultur ist G EERTZ zufolge selbst Praxis. B ARKOWSKI / Eß ER (2005) erheben ihrerseits grundsätzliche Einwände gegen kognitivistische Konzeptionalisierungen von Kultur: Kultur ist die begrif iche Abstraktion für das Gesamt der Eingriffe der Menschen in ihre Mitwelt zu Zwecken der Befriedigung ihrer materiellen und ideellen Bedürfnisse. [...] Die dazu und dabei entwickelten Weisen des Denkens und Handelns sowie die gegenständlichen und nichtgegenständlichen Hervorbringungen dieses Denkens und Handelns repräsentieren jede für sich und gemeinsam Kultur, unabhängig davon, ob es sich dabei im einzelnen um Repräsentationen von Hochkultur, Subkultur, Alltagskultur oder von welchen gesellschaftlichen Teilkulturen auch immer handelt (B ARKOWSKI / Eß ER 2005: 89f.). Kultur werde repräsentiert in Hervorbringungen des Denkens, Fühlens und Handelns. Diese Hervorbringungen verändern wiederum die objektive Wirklichkeit und wirken auf die Mitglieder einer kulturellen Gemeinschaft zurück. Auszugehen ist demnach von einer dialektischen „Beziehung zwischen der objektiven Wirklichkeit, dem Sein und seiner geistigen Erfassung und Verarbeitung durch den Menschen, dem Bewusstsein“ (B ARKOWSKI 2004: 3). Dieses Kulturverständnis nimmt an, dass sich im Lauf der Geschichte unter den Vorzeichen der jeweiligen geophysikalischen und klimatischen Gegebenheiten (B ARKOWSKI / Eß ER 2005: 90) bestimmte Weisen des Eingriffs in die Mitwelt ausdifferenzieren. Die Eingriffe konkretisieren sich in begrif ichen Vorstellungen, in Formen sozialer Praxen sowie in materiellen Hervorbringungen. Kultur ist nach B ARKOWSKI / Eß ER daher nicht ausschließlich als „kollektives Wissen“ zu konzeptionalisieren, Kultur manifestiert sich ebenfalls in von Mitgliedern einer Kultur geschaffenen Hervorbringungen, die wiederum Mitglieder der Kultur prägen. 32 Das kognitivistische Paradigma verstellt demnach häu g den Blick, dass Kultur tief in Formen menschlicher Interaktion hineinreicht. Insofern ist es eine Verkürzung, Kultur nur als „Repertoire an Bedeutungsmustern und Zeichensystemen“ (vgl. W OLF 2001: 1182) oder als Ensemble geltender „Verhaltens-, Denk-, Emp ndungs- und Wahrnehmungsweisen sowie Wertorientierungen einer Figuration“ (vgl. A LTMAYER 1997: 18) zu betrachten. Kultur ereignet sich und manifestiert sich in Formen sozialer Praxen in materiellen Hervorbringungen, die ihrerseits einen prägenden Ein uss ausüben. 3.7 Konturen des in vorliegender Arbeit vertretenen Kulturbegriffs Die obige Auseinandersetzung mit Positionen der Forschung diente vor allem dazu, Antworten zusammenzutragen, wie Kultur im Rahmen einer empirischen Arbeit zu konzeptionalisieren ist. Lerner kurzerhand als Repräsentanten ihrer Nationalkultur zu beschreiben, wie dies in den meisten Beiträgen der Kontrastiven Rhetorik geschieht, erscheint angesichts der zitierten Positionen der Kulturwissenschaft als deutlich unterkomplex. Der Kulturbegriff, wie er in vorliegender Arbeit vertreten wird, weist folgende Konturen auf: 32 Auch H ANSEN (2000: 147) betont, dass „die für ein Kollektiv typischen materiellen Hervorbringungen eng und fest zur Kultur“ gehören. Den Begriff „Standardisierung“ reklamiert er nur für geistige Manifestationen von Kultur: „Die materielle Kultur ist zwar das Produkt von Standardisierungen, aber selbst keine solche. Eine Kathedrale ist ein materieller Ausdruck eines bestimmten christlichen Geistes, ist aber nicht dieser Geist.“ (H ANSEN 2000: 147f.). <?page no="59"?> 47 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells (1) Kultur bezeichnet das Ensemble der in einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft zu einer bestimmten historischen Zeit standardisierten Weisen des Denkens, Wahrnehmens und Handelns sowie deren gegenständliche und nichtgegenständliche Manifestationen. Grundsätzlich wird Kultur mit B ARKOWSKI / Eß ER (2005: 89) als „begrif iche Abstraktion für das Gesamt der Eingriffe der Menschen in ihre Mitwelt zu Zwecken der Befriedigung ihrer materiellen und ideellen Bedürfnisse“ betrachtet. Die in einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft ausdifferenzierten Weisen des Denkens, Wahrnehmens und Handelns sowie deren gegenständliche und nichtgegenständliche Hervorbringungen bilden in ihrer Gesamtheit Kultur. Kultur beschränkt sich nicht auf ein kollektives Wissen, sondern ist nach G EERTZ (1987: 18) öffentliches Ereignis. (2) Menschen gehören zugleich unterschiedlichen Kulturen an. Jeder Mensch ist zugleich Mitglied verschieden großer kultureller Formationen, die H ANSEN (2000: 204) als mono-, multi-, super- und transkulturelle Kollektive beschreibt. Zwischen den in den jeweiligen Kollektiven etablierten Formen der Eingriffe in die Mitwelt, den Standardisierungen des Denkens, Emp ndens und Handelns, können Widersprüche bestehen. Zwar ist jeder Mensch bestrebt, diese zu einem stabilen „persönlichen Mix“ (H ANSEN 2000: 199) zu verbinden, doch nicht immer gelingt diese Integrationsleistung. In ihm verbleiben demnach ebenso wie in den Kollektiven, denen er angehört, oftmals gravierende Differenzen. (3) Kulturen überlagern sich. Kulturen lassen sich nicht als abgrenzbare Container beschreiben. Kulturen sind intern vielfach differenziert; auszugehen ist von einer „Umfassung und Umschachtelung“ einzelner Kulturen (H ANSEN 2000: 204). Diese Überlappungen und Vernetzungen und die Dynamik des kulturellen Wandels schließen im Grunde genommen jedwede Eingrenzung aus (B OLTEN 2003: 13). (4) Deterritorialisierte Kulturen gewinnen zunehmend an Bedeutung. Kultur ereignet sich an Orten und ist daher lokal gebunden. Im Zuge der Globalisierung wird es jedoch immer schwieriger, Kulturen zu lokalisieren. Die deutlich erhöhte Interaktionsdichte zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen, die weltweite Angleichung des Warenangebots und die massenmediale Verbreitung partiell identischer Referenzsysteme hat dazu geführt, dass sich Menschen zunehmend in „enträumlichten Landschaften“ aufhalten. Fremdsprachenlerner sind vielleicht durch ihr Studium stärker noch als andere Teile der Bevölkerung „in eine globale Ordnung hineingezogen, die niemand vollständig überblickt, die aber spürbare Auswirkungen auf jeden von uns hat“ (G IDDENS 2001: 17). (5) Übergeordnete Dachkollektive behalten grundlegende Bedeutung. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass auch angesichts aller internen Ausdifferenzierungen von Kultur und aller transkulturellen Überschneidungen bestimmte Dachkollektive (häu g Nationalkulturen) ein hohes Maß an Beharrungsvermögen auszeichnet. Sie sind und bleiben zentrale Bezugsgrößen der interkulturellen Forschung. <?page no="60"?> 48 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells 3.8 Einschätzung von Beiträgen der Kontrastiven Rhetorik Zur vergleichenden Einschätzung der Forschungsliteratur bietet es sich an, die Überblicksdarstellung von B OLTEN (2003: 13ff.) auf wissenschaftliche Disziplinen und Felder der Kontrastiven Rhetorik zu beziehen. B OLTEN ordnet „Sichtweisen“ auf Kultur bestimmten Territorien zu: Die „politische“ Sichtweise bezieht sich auf Nationalstaaten, die „geogra sche“, die „sprachliche“ und die „geisteswissenschaftliche“ Sichtweise auf eine zumeist größer gefasste Region (Länderregion, Sprachgemeinschaft), Die „soziologische“ Sichtweise fokussiert schließlich transkulturelle Räume „subkultureller“ Lebenswelten. Diese Eingrenzungen auf bestimmte Handlungsräume bei B OLTEN (2003) lassen sich auf die Typologie der Kollektivformen bei H ANSEN (2000) beziehen. In Tabelle 3.2 werden Beiträge einzelner Forschungsdisziplinen exemplarisch Kollektivformen, Betrachtungsweisen von Kultur und Handlungsräumen zugeordnet. Kollektivform Handlungsräume Forschungsdisziplinen 1. Dachkollektiv (1): supranationale Betrachtungsweise Kulturregion Gemeinschaft aller Bewohner des ostasiatischen Kulturraums, die durch den zivilisatorischen Ein uss Chinas geprägt sind Kontrastive Rhetorik (z.B. K APLAN 1966/ 2001) 2. Dachkollektiv (2): supranationale Betrachtungsweise Kulturraum Gemeinschaft aller Bewohner des chinesischen Kulturraums Kontrastive Rhetorik (Kontrastive Diskursanalyse) (z.B. Y OUNG 1994) 3. Dachkollektiv (3): supranationale Betrachtungsweise Sprachraum Gemeinschaft aller Sprecher der chinesischen Hochsprache (putonghua) Sprachtypologie (z.B. L I / T HOMPSON 1981) 4. Dachkollektiv (4): nationalstaatliche Betrachtungsweise Staatsgebiet: Gemeinschaft aller Einwohner der Volksrepublik China Kontrastive Textlinguistik (z.B. L EHKER 1997) 5. Multikollektive intrakulturell differenzierende Betrachtungsweise Räume subkultureller Lebenswelten: Gemeinschaft aller Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe Kontrastive Fachsprachenlinguistik (z.B. L IANG 1991) Tabelle 3.2: Kollektivformen, Handlungsräume und Forschungsdisziplinen in Anlehnung an H AN - SEN (2000) und B OLTEN (2003). Im Unterschied zur Darstellung von H ANSEN (2000) werden in Tabelle 3.2 aufgrund der in Abschnitt 3.1 dargestellten Bezugsgrößen von Kultur vier Dachkollektive angenommen, die ein unterschiedlich großes Terrain abdecken. K APLAN (1966/ 2001) bezieht sich mit dem Begriff „Oriental writing“ auf das Dachkollektiv der ostasiatischen Kulturregion (China, Korea), das weiter gefasst ist als das Dachkollektiv des chinesischen Kulturraums, den die meisten Arbeiten der KR und viele diskursanalytische Arbeiten (etwa Y OUNG 1994) in Betracht ziehen. Sie treffen Aussagen über Mitglieder eines Kollektivs, das Menschen aus Staaten mit ganz unterschiedlicher Gesellschaftsordnung umfasst (Volksrepublik China, Taiwan, Hongkong, Singapur), nicht aber Angehörige nationaler Minderheiten. Fast deckungsgleich mit dem Dachkollektiv Kulturraum ist das Dachkollektiv Sprachraum, auf das sich sprachtypologische Arbeiten (etwa L I / T HOMSON 1981) beziehen. Textlinguistische Arbeiten (etwa L EH - KER 1997) beziehen sich hingegen auf das Dachkollektiv Volksrepublik China. Dieses bildet <?page no="61"?> 49 Konturen eines praxeologischen Kulturmodells eine politische und juristische Einheit und setzt einen Rahmen für alle Staatsbürger ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft. Andere textlinguistische Arbeiten betrachten einzelne soziale Gruppen innerhalb des chinesischen Kulturraums. So trifft L IANG (1991) Aussagen über das Multikollektiv der akademischen Diskursgemeinschaft in China. Deutschlerner stammen im Regelfall nicht aus traditionellen, sondern aus komplexen Gesellschaften, in denen von vielfältigen kulturellen Vernetzungen und Widersprüchen auszugehen ist. Zunächst ist den bisherigen Ausführungen zufolge G EERTZ zuzustimmen, der ausdrücklich fordert, in unserer heutigen „Welt in Stücken“ Differenzen anzuerkennen, um etwas Treffendes über die Kultur einer bestimmten Gemeinschaft auszusagen. Es scheint, kurz gesagt, als ob sich an unserem Denken einiges wird ändern müssen, wenn wir - ob als Philosophen, Historiker, Ethnologen oder was immer - etwas Zweckmäßiges über die zerstückte oder in Au ösung begriffene Welt der unsteten Identitäten aussagen wollen. Zunächst müssen wir Differenz ausdrücklich und offen anerkennen statt sie mit Gemeinplätzen über „konfuzianische Ethik“, „westliche Tradition“, „südländisches Temperament“ oder „moslemische Mentalität“, mit windigen Moralpredigten über universale Werte oder mit trüben Banalitäten über ein tieferliegendes Einssein zu verdunkeln. Zweitens darf die Differenz nicht als Negation von Ähnlichkeit, als ihr Gegensatz, als ihr konträrer oder kontradiktorischer Widerspruch verstanden werden. Sie sollte als etwas gesehen werden, das all dies enthält, situiert, konkretisiert und ihm Form gibt (G EERTZ 1996: 28). Diese Bemerkungen lesen sich wie eine Replik auf viele Beiträge der Kontrastiven Rhetorik, die im Falle Chinas aktuelle Daten tatsächlich mit „Gemeinplätzen über konfuzianische Ethik“ deuten. Viele dieser Arbeiten erwecken den Eindruck, als ob chinesische Fremdsprachenlerner einzig durch eine seit Jahrhunderten weitgehend homogene Nationalkultur geprägt seien. Außerdem suggerieren diese Arbeiten, dass die kulturelle Identität der Lerner einzig durch die Herkunftskultur bestimmt ist und nicht durch Migration oder jahrelange Beschäftigung mit der Zielkultur verändert werden kann. Kulturwissenschaftliche Forschung in einer „zerstückten Welt der unsteten Identitäten“ (G EERTZ ) muss sich bescheiden. Unmöglich erscheint es, Veränderungen und Brüche innerhalb der Herkunftskulturen und transnationale Vernetzungen auch nur ansatzweise zu erfassen. Auch die individuelle Multikollektivität nach H ANSEN kann nicht Gegenstand einer Analyse sein, zumal Lernern eingeräumt werden muss, Mitgliedschaften zu verschweigen und viele Mitgliedschaften für die Analyse eines bestimmten Gegenstandsbereichs nicht relevant sind. Um etwas Zutreffendes über die kulturelle Identität der Lerner aussagen zu können, gilt es jedoch, wichtige biogra sche Informationen zu berücksichtigen. Beispielsweise werden Erfahrungen in der Mittelschule und während des Germanistikstudiums ebenso erkennbare Auswirkungen auf Formen der Textorganisation haben wie Erfahrungen in einem sozialistischen Staat und im supranationalen chinesischen Kulturraum. Um zumindest einige der Standardisierungen in verschieden verfassten Kollektiven berücksichtigen zu können, schlage ich vor, die Überblickdarstellung in Tabelle 3.2 vom Individuum aus zu betrachten. Beispielsweise ist ein Germanist aus Shanghai u. a. Angehöriger der supranationalen Kollektive aller Bewohner der ostasiatischen Kulturregion und des chinesischen Kulturraums. Sofern er Chinesisch als Muttersprache spricht, gehört er der supranationalen chinesischen Sprachgemeinschaft an. Qua Staatsbürgerschaft unterliegt er Standardisierungen, die in der Volksrepublik China gelten. Und als Germanist ist er schließlich Mitglied einer transkulturellen akademischen Diskursgemeinschaft. 33 33 Kapitel 10.3 vorliegender Arbeit greift diese Gedanken auf und bezieht H ANSEN s Ausführungen auf eine Lernergruppe an einer chinesischen Universität. <?page no="62"?> 4 Schreiben als komplexes Handeln Nach der Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff soll in diesem Kapitel ein Textproduktionsmodell entwickelt werden, das geeignet ist, Formen textvermittelten Handelns in interkulturellen Kontexten abzubilden. (4.1) Einführend werden komplexe Handlungen nach R EHBEIN (1977) allgemein dargestellt. (4.2) Auf Grundlage von R EHBEIN s Handlungstheorie lassen sich drei Handlungsebenen unterscheiden, die beim argumentierenden Schreiben zusammenwirken: die Ebene des textproduktiven Handelns, die Ebene der Interaktion zwischen Sender und Empfänger und die Ebene des Diskurses. Zwei dieser Ebenen werden in diesem Kapitel näher expliziert: (4.3) Kognitivistische Modelle (H AYES / F LOWER 1980; B ÖRNER 1992) beschreiben textproduktives Handeln als sukzessiv voranschreitenden Problemlösungsprozess. (4.4) Kommunikativ-pragmatisch ausgerichtete Modelle (W ROBEL 1995) fokussieren demgegenüber interaktionale Aspekte des Schreibens. (4.5) Interkulturelle Aspekte erfassen die genannten Modelle nicht. Daher wird im Anschluss an R EHBEIN (1977), B ÖRNER (1989) und W ROBEL (1995) ein eigenes Schreibmodell entwickelt, um Formen der textvermittelten Interaktionen zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen explizieren zu können. 4.1 Komplexes Handeln Das zentrale Referenzwerk zum Verständnis kommunikativer Handlungen ist nach wie vor J OCHEN R EHBEIN s Komplexes Handeln. Elemente zur Handlungstheorie der Sprache (1977). 34 R EHBEIN s zentrale Aussage lautet, dass komplexe Handlungen in konventionalisierten Mustern realisiert werden und charakteristische Stadien durchlaufen. Handlungen werden laut R EHBEIN in historisch gewachsenen Räumen vollzogen. Daher werden Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt durch „ein spezi sches, ausgrenzbares Ensemble von voraussetzenden Bestimmungen, die durch die gesellschaftliche Gesamtstruktur und deren Reproduktion auskristallisiert sind und die spezi sch in die Handlungen, die in dem betreffenden Handlungsraum statt nden, eingehen“ (R EHBEIN 1977: 12). Dieses Ensemble voraussetzender Bestimmungen betrifft einzelne Stadien des Handlungsprozesses sowie die Art und Weise, wie Teilhandlungen miteinander verkettet werden. Seiner Handlungstheorie legt R EHBEIN das in Schaubild 4.1 dargestellte Schema zugrunde. 34 S ANDIG (1986) bezieht sich in ihrer Grundlegung der Stilistik durchgängig auf R EHBEIN , A NTOS (1989: 29) betont die Relevanz von R EHBEIN s Ausführungen für Modellierungen von Prozessen der Diskurs- und Textplanung, W ROBEL (1995: 24) nennt ebenfalls R EHBEIN als zentrale Referenz zur Beschreibung von Texthandlungen. Auch H AUEIS (2003: 231) unterstreicht, dass sich der R EHBEIN sche Terminus des „Handlungsmusters“ zur Rekonstruktion kulturell erarbeiteter und etablierter Muster der Textgestaltung eignet. <?page no="63"?> 51 Schreiben als komplexes Handeln Determinierende Kategorien des Handlungsraums Stadien des Handlungsprozesses objektive: Handlungsfeld Interaktionsraum Kontrollfeld System der Bedürfnisse subjektive (mentale Dimension): Wissen Wahrnehmungsmechanismus Bewertungsmechanismus Mechanismus des Glaubens Fähigkeiten Motivationsmechanismus Orientierung (Situationseinschätzung) Motivation Zielsetzung Plan (Bewertung + Entscheidung) Ausführung Resultat Schaubild 4.1: Kategorien des Handlungsraums und Stadien des Handlungsprozesses nach R EH - BEIN (1977: 16). Nach diesem Schema wählt ein Aktant zunächst aus der Menge potenziell zur Verfügung stehender Handlungen einzelne Handlungen aus. Hierdurch wird im Handlungsraum ein „Handlungsfeld“ eröffnet, in welchem zu gegebener Zeit zwischen verschiedenen Handlungsalternativen entschieden wird (R EHBEIN 1977: 17-22). Da in einem Handlungsraum Interaktionspartner in Kontakt treten, konstituiert sich ein Handlungsraum als „Interaktionsraum“. Zwischen den Partnern bestehen bestimmte soziale Relationen, wodurch sich jeweilige „Handlungssysteme“ (1977: 83) ausbilden, die immer spezi schen Restriktionen unterliegen. 35 Als weitere „objektive“ Kategorie des Handlungsraums nennt R EHBEIN das „Kontrollfeld“. Hiermit sind Kontrollmöglichkeiten über die Ausführung eigener und fremder Handlungen mit verschiedener „Reichweite“ gemeint, über die ein Aktant verfügt. 36 Auch „Bedürfnisse“ betrachtet R EHBEIN als „gesellschaftlich herausgebildete Größen“ und damit als „objektive“ Kategorie des Handlungsraumes. 37 35 Institutionen, in denen Handlungen vollzogen werden, schränken Handlungsmöglichkeiten ebenso ein wie Bedürfnisse, die bestimmte Entscheidungen nahe legen. Auch die Wahrnehmung strukturiert das Handlungsfeld, wodurch bestimmte Entscheidungen ausgeschlossen werden. Individuelle Fähigkeiten können den Handlungsspielraum ebenfalls einschränken. R EHBEIN (1977: 19f.) zeigt, wie bei der Bestimmung des Handlungsfeldes als „Entscheidungsraum“ objektive und subjektive Dimensionen ineinander greifen, die analytisch kaum zu trennen sind. 36 R EHBEIN (1977: 22f.) unterscheidet vier Typen von „Kontrollfeldern“: Bestimmte Sektoren des Handlungsfeldes können zum „Machtbereich“ werden, in dem ein Aktant anderen Aktanten seinen Willen aufzwingt. Sie werden zum „Ein ussbereich“, wenn der Aktant seine Rechte und Ansprüche durchsetzen kann. Wird ein Sektor streitig gemacht, dann handelt es sich um ein „Territorium“. Stehen dem Aktanten als Mitglied einer Gemeinschaft bei Verletzung des Handlungsfeldes bestimmte Rechte zu, dann handelt es sich bei den entsprechenden Sektoren um eine „Integritätszone“. 37 Bedürfnisse treten nach R EHBEIN (1977: 24) in einem System auf, „das eingelagert ist in ein entsprechendes Produktionssystem“. Daher möchte R EHBEIN (1977: 50) den Terminus „Bedürfnis“ nicht als „individualpsychologische Gegebenheit“ missverstanden wissen und ordnet Bedürfnisse den „ob- <?page no="64"?> 52 Schreiben als komplexes Handeln Neben den genannten „objektiven“ bestimmen auch „subjektive“ Kategorien den Handlungsraum. Hierunter fällt das Wissen, das R EHBEIN (1977: 27) als mehrdimensionalen „Wissensraum“ auffasst. Der Aktant aktualisiert Elemente des gespeicherten Wissens, wobei sein individuell erworbenes Wissen auf dem gesamten, kollektiv erarbeiteten Wissen aufbaut (R EHBEIN 1977: 35). Das Wissen ist auch ohne aktuelle Inanspruchnahme stets vorhanden, im Gegensatz zum „Wahrnehmen“, „Bewerten“ „Glauben“ und der „Motivation“. Diese Prozesse treten im Gegensatz zum Wissen in actu auf, weshalb sie R EHBEIN (1977: 27) als „Mechanismen“ betrachtet. Das Ziel der Handlung besteht allgemein darin, Bedürfnisse zu befriedigen. Durch „die Übertragung von Bedürfnissen in den (individuellen) Handlungsraum erhält die ‘Motivation’ den Charakter eines ‘Motors des Handelnden’“ (R EHBEIN 1977: 50). Im Schaubild 4.1 wird durch Pfeile angedeutet, dass Kategorien des Handlungsraums in einzelne Stadien des Handlungsprozesses einwirken. Zwar werden in einzelnen Stadien unterschiedliche Kategorien virulent, die genannten Kategorien des Handlungsraums wirken jedoch in ihrer Gesamtheit auf alle Stadien, von der anfänglichen Situationseinschätzung bis zur Handlungsausführung. R EHBEIN re ektiert in einem erweiterten Phasenmodell (Schaubild 4.2) auch zeitlich zurückliegende Handlungen sowie Anschlusshandlungen. Jede Handlung ist als „Geschichte“ in einen übergreifenden Rahmen aus „Vorgeschichte“ und „Nachgeschichte“ eingebettet (R EHBEIN 1977: 82, 138). weitere Vorgeschichte engere Vorgeschichte 0. Handlungskontext 1. Einschätzung der Situation 2. Motivation 3. Zielsetzung Geschichte 4. Planbildung 5. Ausführungsstadium 6. Resultat der Ausführung Nachgeschichte (engere und weitere) 7. Folgen Schaubild 4.2: Stadien des Handlungsprozesses nach R EHBEIN (1977: 182). Durch den Bezug auf zurückliegende Elemente wird die Analyse einer Handlung „auf die gesellschaftliche Bedingtheit auch des aktuellen Handelns“ methodisch ausgeweitet, indem an „kollektive Handlungen, deren Geschichte und Resultate“ angeknüpft wird (R EHBEIN 1977: 139). Im Unterschied zu dieser „weiteren Vorgeschichte“ des Handelns wird zur „engeren Vorgeschichte“ jener Teil gezählt, der „unmittelbar vom Beginn des Handlungskontextes für die Beteiligten irgendwie aktuell (relevant) wird“ (1977: 139). Die Handlung lässt sich mit R EHBEIN weiter wie folgt beschreiben: Während des Orientierungsvorgangs nimmt der Aktant verfügbare Informationen auf, identi ziert den Handlungskontext nach spezi schen Kategorien und bewertet ihn (vgl. 1977: 143). Aufgrund seiner Situationseinschätzung entsteht die Motivation zu einer Handlung, die zunächst nur eine „gewisse Gerichtetheit“ aufweist (vgl. 1977: 145). Während des Zielsetzungsprozesses entscheidet der Aktant zwischen alternativen Optijektiven Kategorien des Handlungsraums“ zu. Jedoch „erfährt der individuell Handelnde in den meisten Fällen die Bedürfnisse nicht in ihrer Allgemeinheit, sondern in einer für ihn, also für seinen Handlungsraum, spezi schen Form. Diese spezi sche Form sind die ‘Motive’“ (R EHBEIN 1977: 50). <?page no="65"?> 53 Schreiben als komplexes Handeln onen, wobei er eigene und adressatenspezi sche Interessen abwägt (1977: 145). Mit dem Plan leitet der Aktant die aktuelle Geschichte der Handlung ein. Zunächst entsteht ein „Handlungsfokus“, dann wird ein Schema als „Layout“ der bevorstehenden Handlung entworfen (vgl. 1977: 154-162) und schließlich ein kompletter Plan erstellt (vgl. 1977: 146f.). Die Umsetzung des Handlungsziels vollzieht sich dann in Zwischenketten von Teilakten, die ständig mit dem Handlungsplan verglichen und gegebenenfalls durch einen „Kontrollplan“ repariert werden (vgl. 1977: 176-178). Mit dem Resultat wird das Handlungsziel erreicht, wodurch wiederum Folgen gezeitigt und Anschlusshandlungen initiiert werden. 4.2 Drei Handlungsebenen bei der gelenkten Textproduktion Textproduktive Handlungen und Handlungen, die mit Texten durchgeführt werden, können auf Grundlage des allgemeinen Handlungsmodells von R EHBEIN beschrieben werden. Werden Lerner wie im Fall vorliegender empirischer Untersuchung (vgl. die nähere Darstellung der Versuchsanordnung in Kapitel 8) aufgefordert, in ihren Texten zu einer strittigen Angelegenheit Stellung zu beziehen, dann lassen sich analytisch drei Handlungsebenen 38 unterscheiden. (1) Die erste Handlungsebene betrifft die Textproduktion. Einzelne Teilhandlungen reichen von der Lektüre des Ausgangstextes bis zur Fertigstellung und Abgabe der fertiggestellten Texte. Im Zentrum stehen Planungs-, Formulierungs-, Inskriptions- und Überprüfungsstadien, die kognitionswissenschaftliche Darstellungen als rekursiv verbundene Teilhandlungen modellieren. Das übergeordnete Ziel dieser Handlungen ist die Produktion eines Textes, der einem Rezipienten zugeleitet wird. (2) Die zweite Handlungsebene betrifft die textvermittelte Kommunikation zwischen Sender und Empfänger. Diese Handlungen folgen Mustern, die von der kommunikativ orientierten Textlinguistik näher beschrieben werden. Das Ziel dieser Handlungen besteht darin, beim Rezipienten eine bestimmte Reaktion auszulösen. (3) Sofern in einem Text auf eine strittige Angelegenheit reagiert wird, beteiligen sich die Textproduzenten an einem Diskurs, der in einem bestimmten Kollektiv zu einer bestimmten Zeit geführt worden ist oder wird. Diskurse werden in der Sozialphilosophie und der Argumentationstheorie näher beschrieben. Das übergeordnete Ziel einer kollektiven Anstrengung im Diskurs, an dem sich die Textproduzenten mit ihren Texten beteiligen, besteht darin, ein aufgetretenes Problem zu lösen. Die ersten beiden Handlungsebenen sind an keine Textsorte gebunden und werden folgend näher dargestellt. Auf die dritte Handlungsebene, die Ebene des Diskurses, wird in Kapitel 5 näher eingegangen. 38 G ÜLICH / K OTSCHI (1987: 199) unterscheiden ebenfalls drei Ebenen: (1) Produzieren bzw. Formulieren sprachlicher Äußerungen selbst als Handlung, (2) Texte als Folgen von Sprechakten und (3) Sprachliche Äußerungen als Handlungen, durch die Interaktionspartner Beziehungen zueinander herstellen. Die Ebene (1) bei G ÜLICH / K OTSCHI entspricht der ersten Ebene in meiner Unterteilung, sie umfasst auch schreibmotorische Handlungen. Die Ebenen (2) und (3) bei G ÜLICH / K OTSCHI fasse ich als zweite Handlungsebene zusammen und ergänze als dritte Ebene die Handlungsebene des Diskurses. <?page no="66"?> 54 Schreiben als komplexes Handeln 4.3 Textproduktion als Problemlösungsprozess Auf der ersten Handlungsebene werden Handlungen vollzogen, die zur Erstellung eines Textes führen. Das Resultat ist der Text als Produkt der Textproduktion. Auf diese Handlungsebene beziehen sich Arbeiten der kognitionswissenschaftlich ausgerichteten Schreibforschung, die sich seit den frühen 80er Jahren den komplexen Vorgängen zuwendet, wie Texte entworfen, geschrieben und revidiert werden. Das bis heute ein ussreichste und in der Literatur vielfach kommentierte Scheibmodell 39 entwarfen die amerikanischen Forscher H AYES und F LOWER im Jahre 1980. Sie forderten erwachsene, schreibkompetente Muttersprachler auf, all das zu sagen, was ihnen während des Schreibvorgangs durch den Kopf ging. 40 Aufgrund der protokollierten Selbstaussagen entwickelten H AYES / F LOWER das in Schaubild 4.3 dargestellte Modell. Es zeigt, dass sich die Gesamthandlung der Textproduktion (writing process) in verschiedene Teilprozesse (subprocesses) gliedert. H AYES / F LOWER nennen Planen (planning), Formulieren (translating) und Überarbeiten (reviewing), wobei diese Teilprozesse wiederum in Subkomponenten zerfallen. Überwacht wird der gesamte Schreibprozess durch eine zentrale Kontroll- und Steuerungseinheit (monitor). Der Schreibprozess ist eingebettet in eine bestimmte Aufgabenumgebung (task environment), wodurch externe Faktoren wie der Schreibauftrag (writing assignment), das Thema des zu produzierenden Textes (topic), der Adressat des zu produzierenden Textes (audience) und die Motivation des Schreibers (motivating cues) bestimmt werden. Beim Schreiben greift der Schreiber auf sein im Langzeitgedächtnis gespeichertes Wissen zurück (writer’s long term memory), welches thematisches Wissen (knowledge of topic), Adressatenwissen (knowledge of audience) und Textmusterwissen (stored writing plans) bereithält. Der Schreibprozess ndet demnach in einem bestimmten Handlungskontext statt und wird durch eine Schreibaufgabe in Gang gesetzt. Auf der Planungsebene (planning) ruft ein Schreiber das gespeicherte thematische Wissen auf (generating), das er - gemäß ebenfalls gespeicherter Schreibpläne - unter funktionalen Gesichtspunkten (goal setting) im Hinblick auf einen Adressaten ordnet (organizing). Auf der Formulierungsebene (translating) entsteht ein fortlaufender Text (text produced so far), der vor, während und nach der Textproduktion evaluiert und gegebenenfalls überarbeitet wird (reviewing). 39 Das Modell von H AYES / F LOWER wird ausführlich dargestellt und kommentiert bei W INTER (1992: 19- 21), W ROBEL (1995: 11-14), Eß ER (1996: 98-101), E DELMANN (1995: 12ff.), F IX (2000: 23ff.) und W EINHOLD (2000: 37ff.). 40 Die Textproduktionsforschung sieht sich mit einem zentralen methodologischen Problem konfrontiert, da man an den Produkten des Schreibens kaum ablesen kann, welche kognitiven Vorgänge die Entstehung der Texte begleitet und ermöglicht haben. „Texte zeichnen sich dadurch aus, daß die Spuren ihrer Entstehung an ihnen getilgt sind.“ (W ROBEL 1995: 1). Weil sich die etablierten Verfahren der Textanalyse als ungeeignet erwiesen, den Prozess der Textproduktion zu erhellen, erprobte man verschiedene Verfahren, die kognitiven Operationen während des Schreibens zu rekonstruieren. H AYES / F LOWER forderten Probanden auf, während des Schreibens ihre Gedanken zu verbalisieren. Diese Think-aloud-Protokolle geben ebenso wie Video-Aufzeichnungen und nachträglich durchgeführte Recall-Interviews Anhaltspunkte zu Stadien, die während des Textproduktionsprozesses durchlaufen werden. <?page no="67"?> 55 Schreiben als komplexes Handeln THE WRITER’S LONG TERM MEMORY knowledge of topic knowledge of audience stored writing plans WRITING ASSIGMENT Topic Audience Motivating cues TEXT PRODUCED SO FAR TRANS- LATING REVIEWING READING EDITING PLANNING ORGANIZING GOALSETTING MONITOR GENERATING Schaubild 4.3: Textproduktionsmodell von H AYES / F LOWER (1980). Das eigentlich Neue dieses Modells besteht darin, dass die beim Schreiben beteiligten Komponenten begrif ich voneinander getrennt werden, ohne sie in eine sequentielle Abfolge zu stellen. Kennzeichnend für den gesamten Schreibprozess ist nach H AYES / F LOWER , dass die Ebenen des Planens, Formulierens und Überarbeitens interagieren. The writer must exercise a number of skills and meet a number of demands - more or less all at once. As a dynamic process, writing is the act of dealing with an excessive number of simultaneous demands or constraints. Viewed in this way, a writer in the act is a thinker on a full-time cognitive overload (F LOWER / H AYES 1980: 33). Die angesprochenen Anforderungen, denen sich ein Textproduzent stellt, erinnern W EINHOLD (2000) an die Belastungen, denen ein Manager ausgesetzt ist: [Der Textproduzent] ist der „Manager“ von kognitiv auf ihn hereinstürmenden Herausforderungen, die er strukturieren und im Herstellen des Textes bewältigen muss. Der Schreiber ist verstrickt in das Gewirr seiner Gedanken, in die Schwierigkeit, sie zu ordnen, schriftlich zu formulieren und dabei zu überprüfen, ob die beabsichtigte Wirkung auch erzielt wurde (W EINHOLD 2000: 40). Ein Textproduzent muss gleichzeitig ganz verschiedene Herausforderungen bewältigen, weil die beteiligten Teilprozesse rekursiv verbunden sind, weitgehend parallel verlaufen und ineinander greifen. Schreiben erscheint in diesem Sinne als komplexe Anstrengung, wie es W EINHOLD in ihrem zusammenfassenden Kommentar zu H AYES / F LOWER prägnant festhält: Ihr Schreibmodell nimmt Schreiben unter dem Aspekt seiner vielfältigsten Anstrengungen in den Blick. Sie zeigen auf, dass der Schreiber im Textproduktionsprozess stets mit „Widerständen“ zu kämpfen hat, denen er mit Strategien des kognitiven Problemlösens begegnet. Einerseits ist der Blick geschärft für die hohen Anforderungen des Textverfassens durch die Herausarbeitung der daran beteiligten Subprozesse, andererseits legen sie gerade den Fingerzeig auf die gewisse Un-Ordnung dieses Prozesses, seine Dynamik und möglicherweise auch Sprengkraft, die ein Scheitern einschließt und verständlich macht (W EINHOLD 2000: 43). <?page no="68"?> 56 Schreiben als komplexes Handeln Die kognitiv orientierte Forschung beschreibt daher Textproduktion als komplexen Problemlösungsprozess (vgl. W INTER 1992: 26ff.), der einerseits ein gewisses Maß an Unordnung aufweist, dessen Verlauf aber dennoch „durch die schrittweise Planung und Erreichung einzelner Zwischenziele bestimmt wird“ (M OLITOR 1987: 397). Um eine Schreibaufgabe zu bewältigen, vergleicht ein Textproduzent permanent zwei mentale Repräsentationen, die des intendierten und die des bereits realisierten Textes: Der Schreibprozeß wird hier aus der Perspektive des Aufbaus und der Angleichung von zwei Wissensstrukturen bzw. kognitiven Repräsentationen betrachtet: Die Repräsentation des intendierten Textes entspricht den Vorstellungen, die der Autor über Inhalte, Struktur und Formulierungen des Textes abgerufen oder aufgebaut hat. [...] Die schriftlichen Notizen bzw. der Text führen beim Lesen zum Aufbau einer kognitiven Repräsentation des produzierten Textes, die mit der Repräsentation des intendierten Textes verglichen und ggf. durch einen neuen Repräsentationszyklus angeglichen werden kann (M OLITOR 1984: 43f.). M OLITOR betont die Auseinandersetzung des Textproduzenten mit seinem bereits produzierten Text (text produced so far) und zeigt die Bedeutsamkeit von Leseprozessen während des Schreibens. Wenn bereits realisierte Textteile der Repräsentation des intendierten Textes nicht nahe kommen, kann sich der Textproduzent mehr oder weniger umfangreiche Revisionen vornehmen, woraufhin ein neuer „Repräsentationszyklus“ einsetzen kann, um beide Repräsentationen einander anzugleichen. Diese Gedanken M OLITOR s zum monitoring führt W INTER (1992) weiter aus. Für den gesamten Textproduktionsprozess, von anfänglichen Planungsschritten bis zur Endkorrektur, sei kennzeichnend, dass ein Textproduzent permanent Metakognition einsetze. Metakognition unterscheidet sich nicht in der Form von Kognition, sondern nur im Bezug. Von Metakognition ist immer dann zu sprechen, wenn der selbstre exive Bezug der wissenden, denkenden und handelnden Person gemeint ist (W INTER 1992: 87). Der Textproduzent re ektiert demnach seine eigenen Handlungen. Schon bei ersten Planungsschritten, beim Entwurf eines intendierten Textes, vergegenwärtigt er sich die jeweiligen situativen Bedingungen, unter denen die aktuelle Schreibaufgabe bewältigt werden soll und wählt geeignet erscheinende Strategien. Setzt der Textproduzent Metakognition beim Textproduzieren ein, dann benutzt er sein auf metakognitiven Erfahrungen beruhendes metakognitives Wissen, um sich selbst Klarheit über sein Verhältnis zur anstehenden Textproduktion zu verschaffen. Dies bedeutet wiederum, daß der Textproduzent sich darüber Gedanken macht, welche Bedingungen und Anforderungen für diese Textproduktion problemrelevant und inwieweit sein Wissen und seine Fähigkeiten (Strategien im Sinne von verfügbaren Handlungsmöglichkeiten) in Relation zu den Anforderungen ausgeprägt sind, um zu entscheiden, welche Folge von Textproduktionshandlungen durchgeführt werden. [...] Hierzu gehört eine gewisse kritische Einstellung gegenüber dem eigenen Vorgehen, die zur Folge hat, daß der Textproduzent sein Handeln plant und überwacht und auch immer wieder Selbstkontrollen einbaut, um festzustellen, ob eine Zielannäherung statt ndet (W INTER 1992: 114). Ein Textproduzent, der sein Handeln metakognitiv überwacht, re ektiert eigene Möglichkeiten und antizipiert Erwartungen des Rezipienten. Er bemüht sich, einen möglichst idealen Text zu realisieren und korrigiert gegebenenfalls bereits Geschriebenes. Schreiben erscheint so als komplexe Anstrengung, wobei objektive Bedingungen des Handlungsraums (Zeitvorgabe, Verfügbarkeit von Hilfsmitteln, etc.) dieser Anstrengung Grenzen setzen. Daher sind entstandene Texte immer nur bestmögliche Annäherungen an Idealtexte. Das Modell von H AYES / F LOWER geht nicht auf spezi sche Probleme beim Schreiben in der Fremdsprache ein. Daher modi ziert B ÖRNER (1989) aus fremdsprachendidaktischer <?page no="69"?> 57 Schreiben als komplexes Handeln Perspektive das Grundmodell. Seinen einleitenden Bemerkungen ist zu entnehmen, dass auch er dem Problemlösungs-Paradigma verp ichtet ist: In der gegenwärtigen kognitiv orientierten Schreibforschung wird Schreiben als eine teils sequentiell und iterativ, teils rekursiv operierende Reihung von Routinen und Problemlösungsprozessen aufgefaßt (vgl. M OLITOR 1987). Insbesondere das Problemlösungs-Paradigma kommt dabei - ungeachtet anderer wissenschaftlicher Herkunft - der Tendenz der zuständigen Fachwissenschaften entgegen, Fremdsprachenunterricht vom Lerner aus zu betrachten. Bei entsprechender Umgestaltung kann ein Modell, das auf diesem Paradigma beruht, auch zur Darstellung fremdsprachlichen Schreibens und Schreibenlernens dienen (B ÖRNER 1989: 353). Wie Schaubild 4.4 zeigt, erweitert B ÖRNER das Modell von H AYES / F LOWER um zwei Ebenen. Die erste Ebene, grau dargestellt, zeigt in enger Anlehnung an H AYES / F LOWER den vom Monitor überwachten Schreibprozess mit den Subkomponenten Planen, Formulieren und Überarbeiten. Eine entscheidende Modi kation besteht darin, dass B ÖRNER die sprachlichen Aktivitäten des Textproduzenten näher charakterisiert, da diese beim fremdsprachlichen Schreiben „überwiegend in der Interimssprache“ vollzogen werden (B ÖRNER 1989: 354). Das Verhältnis von Mutter- und Interimssprache variiere von Lernergruppe zu Lernergruppe und verändere sich im Verlauf des Fremdsprachenerwerbs. „Es ist eine empirische Frage, bei welchen Lernergruppen und in welchem Umfang [...] auch die Muttersprache beteiligt ist.“ (B ÖRNER 1989: 354). B ÖRNER re ektiert also anders als H AYES / F LOWER Vermischungen sprachlicher Systeme und geht bei der Darstellung der gespeicherten Wissensbestände von einem Zuwachs von thematischem Wissen über die Fremdkultur und fremdkulturellen Textschemata aus. Insofern ist sein Modell auch ein Progressionsmodell, das Spracherwerbsprozesse berücksichtigt. Planen (L 1 / L int ) Gliedern Schreibziele setzen Formulieren (L int ) Ausdruck Grammatische Synthese Graphie Überarbeiten Lesen Korrigieren Inhalt bereitstellen Entwickeln Langzeitgedächtnis (L 1 / L int ) Thematisches Wissen Vorstellung vom Leser Gespeicherte Textschemata Monitor (L 1 / L int ) Ausgangstext (L 2 ) Thema Ausdruck Textschema Aufgabenstellung Schreibziele Leser Zieltext (L int ) Korrekturtext des Lehrers (L 2 ) Lehrziele und Methoden des fremdsprachlichen Schreibens Planungsstrategien Ausdrucksmittel Prüfstrategien Schreibhilfen Lehrziele und Methoden des fremdsprachlichen Schreibens Schaubild 4.4: Textproduktionsmodell von B ÖRNER (1989). <?page no="70"?> 58 Schreiben als komplexes Handeln Die zweite Ebene interpretiert die Schreibumgebung aus fremdsprachendidaktischer Perspektive und bildet Lehrer-Lerner-Interaktionen ab. B ÖRNER berücksichtigt hierbei ähnlich wie später H AYES (2001: 100f.) die Aufgabenstellung und die dem eigentlichen Schreibprozess vorausgehenden Leseprozesse. Diese Prozesse interpretiert B ÖRNER jedoch kommunikativ als Teil der Lehrer-Lerner-Interaktion und differenziert wieder zwischen verschiedenen sprachlichen Repräsentationsformen. Typischerweise händigt ein Lehrer einen Ausgangstext in L 2 aus und stellt auch eine Schreibaufgabe in L 2 . Konfrontiert mit zielsprachigem Text verfasst ein Lerner gemäß der zielsprachigen Schreibaufgabe einen interimssprachlichen Text, den er dem Lehrer aushändigt, damit dieser ihn korrigiert, um ihn einem zielsprachigen Text anzupassen. B ÖRNER s Modell deutet auf einer dritten Ebene didaktische Maßnahmen an. Dem Lehrer wird empfohlen, im Fremdsprachenunterricht gezielt auf einzelne Komponenten des Textproduktionsprozesses einzuwirken. Durch geeignete Übungsformen sollten Planungs- und Prüfstrategien trainiert und Operationen auf der Formulierungsebene durch die systematische Vermittlung erforderlicher Ausdrucksmittel erleichtert werden. 41 Das Modell B ÖRNER s re ektiert durchgängig, dass sprachliche Handlungen beim Schreiben in der Fremdsprache in verschiedenen Sprachsystemen vollzogen werden. Es handelt sich um ein Progressionsmodell, da es bestimmte Überlagerungen und Verschiebungen der involvierten Sprachsysteme im Verlauf des Sprachlernprozesses re ektiert. Gleichzeitig gibt das Modell dem Fremdsprachendidaktiker praktische Hinweise, wie er im Unterricht einzelne Teilprozesse der Textproduktion gezielt trainieren kann. Zu den Modellen von H AYES / F LOWER und B ÖRNER ist abschließend festzuhalten, dass sie durchaus auf die Handlungstheorie R EHBEIN s beziehbar sind. Wie R EHBEIN betten H AYES / F LOWER Handlungen in einen Handlungskontext ein (vgl. task environment), nennen motivationale Bedingungen (vgl. motivating cues) und bestimmen beteiligte Subprozesse. Handlungen werden geplant und umgesetzt (vgl. planing und translating), wozu Bestände aus dem Wissensraum (vgl. the writers long term memory) abgerufen und als Inhalte bereitgestellt werden. Einzelne Handlungsstadien werden dabei permanent von einem „Kontrollplan“ (vgl. monitoring) überwacht. Festzuhalten ist außerdem, dass die Modelle von H AYES / F LOWER und B ÖRNER die sozial-kommunikativen Funktionen des Schreibens nur andeuten. 42 W INTER (1992) trägt daher einen grundsätzlichen Einwand gegen kognitivistische Konzeptionalisierungen des Textproduktionsprozesses vor. Der Textproduzent werde nur als Komponente des Bedingungsgefüges berücksichtigt. Der Textproduzent wird im Modell zum einen in der Bedingungsebene und zum anderen in den von ihm ausgeführten Handlungen berücksichtigt. Textproduzieren zu beschreiben heißt, zu beschreiben, welche einzelnen Handlungen beim Textproduzieren benötigt werden, also die Komponenten zu nennen, aus denen sich Textproduzieren als Gesamthandlung zusammensetzt (W INTER 1992: 18f.). 41 K AST (1999: 210) ordnet in seinem Modell des fremdsprachlichen Schreiblehrprozesses einzelnen Komponenten des Textproduktionsprozesses nach H AYES / F LOWER konkrete methodisch-didaktische Hinweise zu. 42 Zur Rezeptionsgeschichte des Modells von H AYES / F LOWER gehört, dass sich H AYES später selbst (2001) zu Modi kationen seines eigenen Modells veranlasst sah. In einem neuen Modell werden motivationale und affektive Aspekte der Textproduktion stärker betont. Außerdem betrachtet H AYES auch die sozial-kommunikative Funktion des Schreibens und geht von einer interaction of goals aus, weil Textproduzenten häu g mehrere Ziele verfolgen: „Writers have typically more than one goal when they write [...]. For example, they may want both to convey content and also to create a good impression of themsselves, or they may want to satisfy at rst audience but not offend a second.” (H AYES 2001: 99). <?page no="71"?> 59 Schreiben als komplexes Handeln Gleiches lässt sich auch zur Darstellung des Textrezipienten sagen. Wie der Textproduzent erscheint er nicht als Instanz eines Kommunikationsmodells, sondern als Komponente des Bedingungsgefüges (audience) und Bestandteil des gespeicherten Wissens (audience knowledge). 4.4 Textproduktion als Modus der Interaktion Eine kommunikativ orientierte Fremdsprachendidaktik wird sich an Modellen orientieren müssen, in der kognitives Problemlösen im Kontext des Schreibens als einer sozial-kommunikativen Handlung interpretiert wird. Nach Diskussion von Textproduktionshandlungen auf der in Abschnitt 4.2 genannten Handlungsebene (1) werden Textproduktionshandlungen jetzt auf Handlungsebene (2) betrachtet. Um Textproduktionen als zielgerichtete, kommunikative Handlungen interpretieren zu können, emp ehlt W ROBEL (1995) einen Rückgriff auf Modelle der Handlungstheorie. „In der Betrachtung des Schreibens als komplexer Handlung liegt sowohl eine systematische Alternative als auch eine Erweiterung des kognitiven Ansatzes.“ (W ROBEL 1995: 24). Zunächst bezieht W ROBEL (1995) die Modelle von H AYES / F LOWER (1980) und R EHBEIN (1977) aufeinander. Während H AYES / F LOWER von einer grundsätzlichen Rekursivität der beteiligten Teilprozesse ausgehen, betont W ROBEL deren sequentielle Abfolge. Zwar würden die beteiligten kognitiven Operationen nicht isoliert voneinander vollzogen, jedoch verlagerten zumindest geübte Schreiber sukzessive ihre Aufmerksamkeit. Sicherlich ist davon auszugehen, daß für bestimmte Makrohandlungen bestimmte Teilhandlungen konstitutiv, andere fakultativ sind; nicht auf allen Makrostufen werden mithin die verschiedenen mentalen oder sprachlichen Dimensionen des Handelns in quantitativ oder qualitativ gleicher Weise realisiert: „Planen“ ist insofern „eher“ eine mentale Handlung als etwa das Niederschreiben einer Formulierung, die lediglich in orthographischen Zweifelsfällen „mentale“ Planung erfordert. Auch dürfte die Art der Organisation einzelner Teilhandlungen auf den verschiedenen Prozeßstufen in starkem Maße von der Komplexität der Aufgabe oder individuellen Strategien bestimmt sein. Entscheidend ist jedoch, daß auch die Aktivität des Planens nicht nur die Voraussetzung anderer Planungen bildet, sondern selbst Elemente anderer Handlungsstufen enthält bzw. enthalten kann, die die sprachliche oder auch motorische Dimension des Planungsprozesses ausmachen. Nur so ist zu erklären, daß Planen selbst materiell werden kann: in Form von Notaten, Stichworten oder Konzepten, die als Produkte von Planungshandlungen selbst wieder in den Schreibprozeß eingehen (W ROBEL 1995: 32). Aufgrund dieser Überlegungen schlägt W ROBEL (1995: 32) vor, den Schreibprozess aus einer „doppelten Perspektive“ zu betrachten, als Folge von Makrohandlungen und als Hierarchie von Teilhandlungen. 43 W ROBEL rehabilitiert mit R EHBEIN demnach zumindest partiell die Auffassung, dass sich der Textproduktionsprozess als Folge von Makrohandlungen interpretieren lässt, wenngleich „[i]n allen Handlungsstadien [...] Handlungen anderer Stadien als untergeordnete Teilhandlungen möglich [...].“ sind (W ROBEL 1995: 32). Nach diesen grundlegenden Überlegungen entwirft W ROBEL ein Textproduktionsmodell, das kognitive und sozial-kommunikative Funktionen des textvermittelten Handelns vereint (siehe Schaubild 4.5). Der deutlichste Unterschied zu den beiden zuvor diskutierten Textproduktionsmodellen besteht darin, dass W ROBEL Schreiben als Beziehung zweier Aktanten darstellt. Bei der Textproduktion ndet die „Transformation einer inten- 43 W INTER (1992: 21) betont ebenfalls, dass manche textproduzierenden Handlungen erst dann vollzogen werden, wenn andere abgeschlossen sind. Andere Handlungen wiederum können bereits einsetzen, wenn andere noch in Gang sind. <?page no="72"?> 60 Schreiben als komplexes Handeln dierten Handlungsbeziehung“ zwischen Aktant 1 und Aktant 2 in eine „textvermittelte Kommunikationsbeziehung“ zwischen Autor und Rezipient (W ROBEL 1995: 29) statt. Aktant 1 kann grundsätzlich zwischen verschiedenen Optionen wählen, um bei Aktant 2 etwas zu bewirken. Das textvermittelte Handeln ist häu g nur eine Option, ein intendiertes Handlungsziel zu realisieren. „[I]n vielen Fällen ist [...] textvermitteltes Handeln nur eine Möglichkeit unter anderen. So hat man häu g etwa die Wahl, eine Beschwerde schriftlich oder telefonisch vorzubringen, seine Liebe per Liebesbrief oder durch Blumen zu zeigen.“ (W ROBEL 1995: 26) Entscheidet sich Aktant 1 für die Textproduktion, dann folgt er einem Diskursplan, der als Schreibhandlungsplan und Textplan realisiert wird. Damit aus dem „Textplan“, der Idee eines Textes, ein Text wird, nimmt W ROBEL (1995: 27) fünf Teilaktivitäten an. Ein Schreiber muss sich entscheiden, worüber er schreiben möchte (planen), die Vorstellungen müssen dann in eine Abfolge gebracht (ordnen), sukzessive versprachlicht (formulieren) und niedergeschrieben (inskribieren) werden. Während dieser Prozesse re ektiert der Schreiber (überprüfen), inwiefern der Text eigenen Vorstellungen und allgemeinen Anforderungen entspricht. Indem Aktant 1 seinen fertig gestellten Text Aktant 2 zuleitet, vollzieht sich eine Handlungsbeziehung als textvermittelte Kommunikation zwischen Autor und Rezipient. Die „in ihrem Kern kommunikative“ Handlung bedient sich sprachlicher Mittel der Handlungsrealisierung und ist „mittelbar kommunikativ“, da Textproduzent und Textrezipient zeitlich und räumlich getrennt sind (vgl. W ROBEL 1995: 25f.). Sprachliches, pragmatisches, deklaratives Wissen Bedürfnisse, Zwecke Aktant 1 Motive/ Orientierungen/ Ziele/ Strategien Aktant 2 bewirken X Adressat REZIPIENT AUTOR TEXT Diskursplan Schreibhandlungsplan Textplan Thematische Planung Thematische Struktur Formulieren Inskribieren Formulierungen Überprüfen Schriftliche Äußerungen Revisionen Zeit/ Raum Schaubild 4.5: Sozial-kommunikative Funktion und Einbettung des Schreibprozesses nach W ROBEL (1995: 28). <?page no="73"?> 61 Schreiben als komplexes Handeln Das Modell in Schaubild 4.5 gibt nicht an, welche konkreten Ziele der Textproduzent mit seinem Text verfolgt. W ROBEL hält nur fest, dass er beim Rezipienten „etwas bewirken” möchte. Das jeweilige Bewirken-Wollen determiniert die Wahl einer bestimmten Textsorte, wodurch der Text in bestimmte Abschnitte mit unterschiedlichen textuellen Funktionen gegliedert wird. 44 Schreiben, so lässt sich festhalten, erscheint bei W ROBEL als Folge sich bedingender Handlungen, für die kognitive und sozial-kommunikative Faktoren gleichermaßen eine Rolle spielen. Er zeigt, dass sich Schreiben wie andere Formen des Handelns in spezi- sch aufgebauten Mustern vollzieht. Diese Muster umfassen Stadien der Schreibhandlung (Schreibhandlungsplan) und kommunikative Handlungen, die mit Texten vollzogen werden (Textplan). 4.5 Entwurf eines Modells zur Textproduktion in interkulturellen Kontexten Für die Einschätzung von Textproduktionen, in denen sich Fremdsprachenlerner an einen Angehörigen der Zielkultur wenden, sind modellhafte Darstellungen erforderlich, die auch die kulturelle Herkunft beider Interaktionspartner berücksichtigen. Will man vor dem Hintergrund des in Kapitel 3 entwickelten Kulturbegriffs ein Textproduktionsmodell entwickeln, das interkulturelle Interaktionen re ektiert, bietet es sich an, die Modelle von W ROBEL (1995) und B ÖRNER (1992) zu verknüpfen. Wie B ÖR - NER zeigt, folgt die Interaktion zwischen Textproduzent und Textrezipient einer bestimmten Schrittfolge. Die textvermittelte Interaktion ist Teil einer Handlungskette, die vom Lehrer initiiert wird. Dieser händigt einen Ausgangstext aus und stellt eine Schreibaufgabe, woraufhin der Lerner dann einen Text produziert, den er dem Lehrer übergibt, woraufhin dieser den Text korrigiert und dem Lerner wieder zuleitet. Während B ÖRNER die Rolle des Lehrers als Initiator der gelenkten Textproduktion unterstreicht, betont W ROBEL die adressatenspezi sche Ausrichtung eines Textes. Der hier zur Diskussion gestellte Entwurf (Schaubild 4.6) expliziert Textproduktion im Kontext des Fremdsprachenunterrichts als interkulturelle Handlung. Das dargestellte Modell beschreibt Aspekte der Textproduktion auf den Handlungsebenen (1) und (2). Das Modell geht von einer Kommunikationssituation aus, die im Fremdsprachenunterricht gegeben ist, wenn Lerner ihre Interimstexte an einen Muttersprachler richten. 45 Diese Konstellation beschreibt ein interkulturelles Bedingungsgefüge, 44 Bereits R EHBEIN sieht in Textsorten gesellschaftlich ausgearbeitete Handlungsmuster, die „Sprecher des Deutschen beherrschen, wenn sie Texte produzieren und verstehen“ (R EHBEIN 1977: 160). S ANDIG (1986) ersetzt im Anschluss an R EHBEIN den statischen Begriff „Textsorte“ durch den dynamischen Begriff „Textmuster“: „Bei komplexen Handlungsmustern, die konventionell mit Texten durchgeführt werden, spreche ich von Textmustern: Wie bei der Beschreibung der Handlungsmuster sind in diesem Fall Handlungstypen und charakteristische Durchführungsmöglichkeiten regelhaft verknüpft." (S ANDIG 1986: 173). 45 B ARKOWSKI / Eß ER (2005: 95f.) zeigen sechs prototypische Konstellationen interkultureller Begegnung im Kontext des Fremdsprachenunterrichts. Das hier zur Diskussion gestellte Textproduktionsmodell entspricht dem Prototyp 3 bei B ARKOWSKI / Eß ER : In der Lernumgebung X (China) richten Lernende aus X (chinesische Fremdsprachenlerner) ihre Texte an einen Adressaten aus D (deutscher Dozent). Anzumerken bleibt, dass die sechs Prototypen bei B ARKOWSKI / Eß ER im Einzelfall weiter differenziert werden müssen, da typische Überschneidungen nicht berücksichtigt werden. Beispielsweise kann sich ein Dozent aus X lange Zeit in D aufgehalten und Deutsch als Fremdsprache studiert haben. Dann wird sein Unterricht nicht nur, aber auch und in signi kanter Weise methodisch-didaktischen Konventionen aus D folgen. <?page no="74"?> 62 Schreiben als komplexes Handeln welches im empirischen Teil vorliegender Arbeit analysiert wird: Chinesische Probanden richten ihre Texte an einen Angehörigen der deutschen Kultur. Gemäß den Ausführungen in diesem Kapitel re ektiert das Modell folgende Annahmen: (1) Nach R EHBEIN treten die Interaktionspartner in bestimmten Handlungsräumen in Beziehung. Unterschiedliche Handlungsräume eröffnen unterschiedliche Handlungsfelder: Texte können beispielsweise zu Übungszwecken angefertigt werden, Teil einer Prüfung sein oder im Rahmen einer empirischen Untersuchung entstehen. Institutionelle Rahmenbedingungen beein ussen die Textproduktion ebenso wie Erfahrungen, Bedürfnisse und Erwartungen der Aktanten. (2) Nach W ROBEL (1995: 29) wird Schreiben als komplexer Prozess interpretiert, der eine intendierte Handlungsbeziehung zwischen Aktant 1 und Aktant 2 in eine textvermittelte Kommunikationsbeziehung zwischen Autor und Rezipient transformiert. (3) Wie es B ÖRNER (1989) darstellt, wird fremdsprachliches Schreiben im Unterricht häu g durch Ausgangstext und Schreibaufgabe initiiert. Hierdurch entsteht eine schwer fassbare Kommunikationssituation: Der Lehrer ist sowohl Initiator als auch Rezipient des zu produzierenden Textes. In dieser Doppelrolle unterscheidet er sich in spezi scher Weise von dem Rezipienten in W ROBEL s Modell, da dieser den Text weder in Auftrag gegeben noch erwartet hat. Kennzeichnend für Textproduktionen im Unterricht ist, dass der Lehrer als zukünftiger Empfänger Handlungsziele der Textproduzenten zumindest teilweise festlegt. Mit Ausgangstext und Schreibaufgabe benennt er Schreibziele, die der „Herausbildung einer Intention“ dienen (E DEL - MANN 1995: 56). Anders als im Modell von W ROBEL sind daher im vorgeschlagenen Modell auch Motive, Orientierungen, Bedürfnisse und Wissensbestände von Aktant 2 berücksichtigt. Deutlich wird, dass die Entscheidungen von Aktant 1 darüber, was er mit seinem Text bewirken möchte, durch Entscheidungen von Aktant 2 beein usst werden, der durch Ausgangstext und Arbeitsauftrag vorgibt, was Aktant 1 ihm gegenüber bewirken soll. (4) Im Modell werden kulturelle Unterschiede zwischen den Aktanten berücksichtigt. Nach den Ausführungen im Kulturkapitel vorliegender Arbeit entspricht Kultur 1 nicht einer homogen gedachten „Herkunftskultur“ und Kultur 2 nicht einer „Zielkultur“, da mögliche Überschneidungen und Veränderungen dann nicht erfasst werden könnten. „Kultur“ ist in diesem Modell eine variable Größe, die andeutet, dass zwischen den Aktanten mehr oder weniger große kulturelle Unterschiede bestehen. (5) Nach Lektüre des Ausgangstextes und der Aufgabenstellung (= vorgelagerte Interpretationshandlungen) beginnen die Textproduktionshandlungen im engeren Sinne. Nach H AYES / F LOWER (1980), B ÖRNER (1989) und W ROBEL (1995) werden vier zentrale Subkomponenten bzw. Handlungsstadien der Textproduktion angenommen, die von einem Monitor überwacht werden. Mit B ÖRNER (1992) wird weiter davon ausgegangen, dass bei Textplanung und Monitoring L 1 und L int zusammenwirken, während die Teilhandlungen Formulieren, Inskribieren und Revidieren weitgehend in L int erfolgen. (6) Der Textproduzent aktiviert bei Vollzug dieser Teilhandlungen sein im Langzeitgedächtnis gespeichertes Wissen. Nach P ÖPPEL (2000: 21) wird zwischen explizitem, implizitem und bildlichem Wissen unterschieden. 46 Im Kontext vorliegender Arbeit 46 F IX (2006: 22) zählt deklaratives Wissen, prozedurales Wissen, Problemlösungswissen und metakognitives Wissen zu den Wissensbeständen. Er re ektiert demnach wie W INTER (1992) den selbstre- exiven Bezug des Textproduzenten. <?page no="75"?> 63 Schreiben als komplexes Handeln verdienen zwei Komponenten des Wissens besondere Aufmerksamkeit: das „Textmusterwissen“ (vgl. S CHOENKE 1994: 91), das bei Textproduktion und Textrezeption zur Anwendung kommt, und das Adressatenwissen. Der Adressatenbezug verlangt „die Koordinierung von zwei Perspektiven, der eigenen und der des Adressaten“ (E DEL - MANN 1995: 57). Der Textproduzent kann re ektieren, an wen er seinen Text richtet und einschätzen, über welche Erfahrungen, Erwartungen und Wissensbestände der Adressat verfügt. Mutmaßliche Wissenslücken des Adressaten, mutmaßlich andere Erwartungen an Stil oder Textmuster können zu erheblichen Modi kationen des Textplans führen. Der Produzent kann sich bemühen, das Textverständnis des Rezipienten zu erleichtern, er kann sich veranlasst sehen, auf die Erwartungen des Rezipienten einzugehen, indem er seinen Text nach einem fremdkulturellen Muster organisiert etc. B ÖRNER (1989) deutet in seinem Modell bereits an, dass ein Textproduzent beim Lesen eines L 2 -Ausgangstextes Wissen über die fremde Kultur, den fremden Leser und fremde Textschemata in L 1 / L int aktiviert. Sofern ein Ausgangstext über Geschehnisse in Deutschland (K 2) berichtet, entnimmt der Textproduzent dem Ausgangstext Informationen und gleicht sie mit seinem Wissen über Deutschland und analoge Geschehnisse in seinem Heimatland ab. Er erkennt Ähnlichkeiten oder Unterschiede, auf die er in seinem Text eingehen kann. Handlungsraum: Institution Schule in K1 oder K2 Explizites, implizites und bildliches Wissen über K1 und K2 Bedürfnisse Zwecke Explizites, implizites und bildliches Wissen über K1 und K2 Bedürfnisse Zwecke AKTANT 1 (Lerner aus K1) Rezipient AKTANT 2 (Lehrer aus K2) Autor Schreiber Adressat Monitoring (L 1 / L int ) Planen (L 1 / L int ) Formulieren (L int ) Inskribieren (L int ) Revidieren (L int ) Motive Orientierungen Ziele Strategien Kompetenzen Motive Orientierungen Ziele Strategien Kompetenzen Ausgangstext in L 2 , häufig über K2 Schreibaufgabe in L 2 bewirken X Text in L int erwarten X Zeit/ Raum Schaubild 4.6: Textproduktion in interkulturellen Kontexten <?page no="76"?> 5 Argumentation Im vorigen Kapitel wurden Handlungen auf zwei Ebenen diskutiert, der Ebene der Textherstellung und der Ebene der Interaktion von Textproduzent und Textrezipient. Entwickelt wurde ein Modell, das interimssprachliche Textproduktionen in interkulturellen Kontexten darstellt. Eine der in Abschnitt 4.2 unterschiedenen Handlungsebenen wurde bei Darstellung der Textproduktionsprozesse ausgespart, die Ebene des Diskurses, an dem sich die Probanden mit ihren Texten beteiligen. Handlungen auf dieser Ebene sind Gegenstand des vorliegenden Kapitels. Vorab ist festzuhalten, dass sich nicht alle im Fremdsprachenunterricht angefertigten Texte auf dieser Handlungsebene beschreiben lassen. Narrative und deskriptive Texte beteiligen sich an keinem Diskurs, wohl aber Texte, in denen sich Lerner zu einer strittigen Angelegenheit äußern. Diese strittige Angelegenheit wird beim gelenkten Schreiben häu g im Ausgangstext benannt. Dort werden Positionen dargestellt, die im Rahmen einer bestimmten Debatte von bestimmten Personen vertreten werden. Die Lerner beteiligen sich mit ihren Texten an dieser Debatte, sie beurteilen Positionen oder getroffene Entscheidungen. (5.1) Ausgangspunkt der Betrachtungen in diesem Kapitel ist das Argumentationsschema T OULMIN s (1996), dessen einzelne Kategorien schrittweise entwickelt und in Anlehnung an K OPPERSCHMIDT (2000) als Formel dargestellt werden. (5.2) Um einschätzen zu können, wann in Kollektiven Diskurse geführt werden, wird nach K OPPERSCHMIDT (1989) die Kategorie „Strittigkeit“ diskutiert. Nach K OPPERSCHMIDT (1989) und G ÖTTERT (1978) werden dann Sachfragen und Geltungsfragen differenziert. (5.3) Anschließend werden die Begriffe Pro und Kontra, die in der deutschen Aufsatzdidaktik eine zentrale Rolle spielen, eingeführt und terminologisch konvergente und kontroverse Argumentationen unterschieden. (5.4) Abschließend wird mit den Begriffen „Kollektiv Fragliches“ und „Kollektiv Geltendes“ von K LEIN (1980) an die Darstellung im Kapitel 3 vorliegender Arbeit angeknüpft. (5.5) Eine Zusammenfassung der terminologischen Festlegungen bildet den Abschluss dieses Kapitels. 5.1 Bausteine der Argumentation S TEPHAN T OULMIN zeigt in The Uses of Argument (1996), dass formal gültige analytische Schlussverfahren wie der klassische Syllogismus ungeeignet sind, substantielle Argumentationen abzubilden, bei denen die Konklusionen nicht in den Prämissen enthalten sind. Wissenschaftshistorisch gesehen, markiert sein Modell damit den Wendepunkt der Argumentationstheorie von der formalen zur informellen Logik (vgl. P IELENZ 1993: 15-21). Laut T OULMIN versucht ein Proponent bei jeder Argumentation, den Geltungsanspruch einer „Behauptung“ (conclusion/ claim) gegenüber einem Opponenten durch Nennung von „Daten“ (data) einzulösen. In T OULMIN s zentralem Beispiel wird die „Behauptung“ (=These), Harry sei britischer Staatsbürger, mit dem „Datum“ (=Argument) begründet, er sei auf den Bermudas geboren. 47 Neben den Kategorien „Behauptung“ 47 Wie B RINKER (1997: 73) setze ich „Behauptung“ und „These“ sowie „Datum“ und „Argument“ gleich, obwohl ein Datum eigentlich „nur eine der Rollen benennt, die argumentativ funktionalisierte Äußerungen spielen können“ (K OPPERSCHMIDT 1989: 124, Anm.2). Die weiteren Bezeichnungen der Kategorien folgen K OPPERSCHMIDT (2000). <?page no="77"?> 65 Argumentation und „Datum“ führt T OULMIN weitere Kategorien ein, so dass sich Argumentationen nach folgendem ausgearbeiteten Schema (siehe Schaubild 5.1) darstellen lassen. Das obere Teilschema zeigt das Modell anhand ausformulierter Sätze, das untere Teilschema zeigt es in abstrahierter Form. (1) Harry wurde auf den Bermudas geboren. (3) Wer auf den Bermudas geboren wurde, ist britischer Staatsbürger. (2) Harry ist britischer Staatsbürger. Deshalb, vermutlich (4) Wer auf den Bermudas geboren wurde, ist britischer Staatsbürger. (5) Wenn nicht: Beide Elternteile waren Ausländer. (1) Daten (data) (3) Schlussregel (warrant) (2) Konklusion (conclusion/ claim) Modifikator (modifier) (4) Stütze (backing) (5) Ausnahmebedingung (rebuttal) Schaubild 5.1: Das Argumentationsmodell von T OULMIN (1996: 95). In diesem Beispiel sind die Aussagen (1) und (2) von zentraler Bedeutung, sie bilden das Grundgerüst jeder Argumentation. Der Geltungsanspruch der Aussage „Harry ist britischer Staatsbürger“ wird durch die Aussage „Harry wurde auf den Bermudas geboren“ eingelöst. Die These, die der Proponent argumentativ begründet, hat bei näherer Betrachtung eine doppelte Funktion. Als Behauptung (claim) macht sie eine Argumentation überhaupt erst nötig, als Konklusion (conclusion) ist sie gleichzeitig Ergebnis der Argumentation. Um diese Rollen begrif ich abzubilden, unterscheidet K OPPERSCHMIDT (2000: 111) in folgendem argumentativen Grundschema zwischen und C (claim) und K (conclusion): C = K, weil D. Der Proponent kann von einem Opponenten auch gefragt werden, ob die Verbindung von K und D zulässig ist. „An dieser Stelle braucht man deshalb allgemeine, hypothetische Aussagen, die als Brücken dienen können und diese Art von Schritten erlauben, <?page no="78"?> 66 Argumentation zu denen uns unsere bestimmte Argumentation verp ichtet.“ (T OULMIN 1996: 89). Der Proponent wird zu Aussagen nach dem Muster aufgefordert: „Solche Daten wie D berechtigen uns zu solchen Konklusionen oder Behauptungen wie K“ (T OULMIN 1996: 89). Diese Aussagen mit Brückenfunktion nennt T OULMIN Schlussregeln (warrants) und gibt folgendes Beispiel: „(3) Wer auf den Bermudas geboren wurde, bekommt die britische Staatsangehörigkeit.” Während Daten und Konklusionen beim Argumentieren stets explizit genannt werden, werden Schlussregeln häu g präsupponiert. „Wer argumentiert, behauptet etwas [...], um etwas, das in Frage steht [...] zu stützen, und präsupponiert, daß die Konklusion aus dem Argument folgt, d.h. schließt vom Argument auf die Konklusion aufgrund der Schlußpräsupposition“ (Ö HLSCHLÄGER 1979: 99). Auf Rückfrage muss ein Proponent also in der Lage sein, die Verbindung von Daten und Behauptungen darzulegen: „Solange wir in irgendeinem bestimmten Bereich nicht bereit sind, Schlußregeln irgendeiner Art zu verwenden, wird es unmöglich, Argumentationen in diesem Bereich einer rationalen Beurteilung zu unterwerfen“ (T OULMIN 1996: 91). Ein Proponent übernimmt quasi eine Garantie, dass der Übergang von Konklusion und Daten legitim ist. K OPPERSCHMIDT (2000: 109) erweitert seine Formel um die Kategorie W (warrant): C = K, weil D wegen W. Der Proponent in T OULMIN s Beispiel kann auch gefragt werden, ob tatsächlich jeder auf den Bahamas Geborene britischer Staatsbürger ist, womöglich hält die dortige Rechtssprechung Ausnahmereglungen bereit. Dann wäre der Proponent genötigt, die allgemeine Gültigkeit seiner Schlussregel einzuschränken. T OULMIN (1996: 92) führt daher als weitere Kategorie „Ausnahmebedingungen“ (rebuttals) ein und nennt folgende einschränkende Aussage: „(5) Beide Eltern sind Ausländer.” Die Berücksichtigung der Ausnahmebedingungen kann den Proponenten veranlassen, den Schritt von den Daten zur Konklusion unter einen Vorbehalt zu stellen. Dann ist es unter Umständen nötig, „explizit auf den Grad der Stärke zu verweisen, den unsere Daten vermöge unserer Schlussregel der Behauptung verleihen. Kurz gesagt, es kann sein, daß wir einen Operator einfügen müssen.“ (T OULMIN 1996: 92). Der Grad der Stärke kann durch Modaloperatoren wie „vermutlich“ oder „wahrscheinlich“ ausgedrückt werden. Erweitert um die Kategorien Operator (O) und Ausnahmebedingung (RE) lautet die Formel bei K OPPERSCHMIDT (2000: 111) nun: C = (O) K, weil D wegen W, wenn nicht RE. Als letzte Kategorie führt T OULMIN die Kategorie „Stützung“ (backing) ein, da in einer Kontroverse die Frage aufgeworfen werden kann, warum eine bestimmte Schlussregel „allgemein als zulässig akzeptiert wird“ (T OULMIN 1996: 94). Ein Proponent kann die Berechtigung der Schlussregel, beispielsweise durch Verweise auf juristisch xierte Vorschriften zur Staatsbürgerschaft, zusätzlich absichern. Bei K OPPERSCHMIDT (2000: 111) lautet die Formel unter Berücksichtigung der Stützungen (B): C = (O) K, weil D wegen W aufgrund von B, wenn nicht RE. Die Art der Absicherung ist bereichsabhängig (T OULMIN 1996: 95), wobei je nach Argumentationsbereich unterschiedliche Begründungssysteme anerkannt werden. 48 Wie 48 Ö HLSCHLÄGER (1979: 87) kritisiert, dass bei T OULMIN letztlich nicht deutlich wird, worin der Unterschied <?page no="79"?> 67 Argumentation G ÖTTERT (1978) zeigt, argumentieren Teilnehmer einer Debatte häu g in verschiedenen kategorialen Bezugssystemen. 49 Gegner und Befürworter können sich auf das gleiche Faktum beziehen und andere Konklusionen ziehen. „Fakten entscheiden nicht über Thesen, vielmehr ,sprechen’ Fakten erst im Licht von Grundsätzen. Das zeigt sich an der Tatsache, wie die gegnerischen Positionen jeweils ein Faktum gemeinsam, aber mit verschiedener Funktion ins Feld führen.“ (G ÖTTERT 1978: 40). So werden Grundsätze gleichsam zu einem „Steuerungsapparat von Argumentationen“ (G ÖTTERT 1978: 48), denn Argumentationen bewegen sich immer in Begründungssystemen. 50 Wie hängen Grundsätze mit Fakten zusammen? „Eine Antwort auf diese Frage gibt der Aspekt der Begründungssprache. Damit soll zum Ausdruck kommen, daß wir in der Praxis des Argumentierens nicht etwa in einem ersten Schritt die Grundsätze suchen und in weiteren Schritten die passenden Stücke dazu auswählen, sondern daß Grundsätze das Ge echt der Begründung selbst in einem speziellen Sinne schon mitbringen.“ (G ÖTTERT 1978: 49). K OPPERSCHMIDT (2000: 115) erweitert daher seine Formel, indem er Begründungssprachen als Beschreibungssprachen berücksichtigt. C= (O)K, weil D wegen W aufgrund von B (außer wenn RE) in BS. Mit dieser Formel endet die Darstellung bei K OPPERSCHMIDT . Sie bietet eine gute Grundlage zur Rekonstruktion konkreter Argumentationen, denn sie setzt Elemente einer Argumentation, die häu g keinem linearen Aufbau folgt (vgl. L INKE / N USSBAUMER / P ORTMANN 1996: 244), in einen übersichtlichen Zusammenhang. Nicht alle Elemente werden in Alltagsargumentationen jedoch immer realisiert. Wie die Beispielanalysen von B RINKER (1997) und W EN (2001) zeigen, lassen sich Argumentationen in den meisten Fällen mit folgender Formel darstellen: C = (O)K, weil D (aufgrund von B) in BS. Schlussregeln (W) werden in Argumentationen in der Regel präsupponiert und erst in einer Analyse erkennbar. Stützungen (B) und Ausnahmebedingungen (RE) sind fakultative Elemente, die in den meisten Argumentationen fehlen. Alle Argumentationen bewegen sich jedoch in kategorialen Systemen und werden in bestimmten Beschreibungssprachen (BS) vorgetragen, die interpretativ erschlossen werden können. zwischen Schlussregeln und Stützungen genau besteht: „Daß der von T OULMIN postulierte Unterschied zwischen Schlussregel (warrant) und Stützung (backing) sowie ihr Verhältnis zueinander so unklar bleibt und damit gerade der Teil in T OULMIN s Schema, an dem es sich am deutlichsten von der logischen Auffassung der Struktur von Argumentationen unterscheidet, ist ein ganz entscheidender Mangel des Systems von T OULMIN .“ 49 In einem von G ÖTTERT (1978: 34-41) exemplarisch analysierten Fall wird diskutiert, ob in einem Wohngebiet ein Sonderkindergarten für geistig behinderte Kinder gebaut werden soll. Die Nachbarn befürchten, dass ihre Grundstücke an Wert verlieren könnten. Deshalb beauftragen sie einen Anwalt, der sich in seiner formalen Argumentation auf Gesetze und Verordnungen über den Bau öffentlicher Einrichtungen beruft (G ÖTTERT 1978: 36f.). Demgegenüber macht eine Bürgerinitiative geltend, dass Behinderte in Wohngebieten aufwachsen sollen, um nicht isoliert zu werden. Ihre Argumentation bezieht sich auf das Wohl der Kinder und legt keine juristischen, sondern sozialpolitische Maßstäbe an (vgl. G ÖTTERT 1978: 39). Auf diese Kontroverse gehe ich in Abschnitt 5.4 näher ein. 50 In einer von G ÖTTERT (1978: 43-48) näher analysierten Debatte über die Mengenlehre begründen die Teilnehmer eine übereinstimmende These in ganz verschiedenen Systemen. Ein Pädagoge führt sein Wissen über das Lernen an, ein Biochemiker verweist auf die Funktionsweise des Gehirns, ein Mediziner auf die Zusammenhänge von Lernen und Milieu. <?page no="80"?> 68 Argumentation Demnach sind nicht alle Elemente der Formel obligatorischer Bestandteil einer ausgeführten Argumentation, andere Elemente treten hinzu. Darstellungen in Aufsatzdidaktiken (vgl. Kapitel 6) zeigen, dass zur Rekonstruktion argumentativer Zusammenhänge von weiteren Bausteinen auszugehen ist. Argumente (D) werden häu g durch Erläuterungen konkretisiert und durch Beispiele veranschaulicht. Bei den Erläuterungen handelt es sich um Reformulierungen, um ein Argument verständlicher und nachvollziehbarer zu machen. Beispiele können in Argumentationen entweder die Funktion eines Arguments übernehmen oder ein anderes Argument veranschaulichen. Daher trennt K IENPOINTNER (1996: 157) zwischen Beispielargumentationen, die er als Muster der Argumentation auffasst, und illustrativen Beispielen, die er als Bestandteil einer Argumentation betrachtet. Der Proponent nennt mit einem illustrativen Beispiel kein neues Argument, er veranschaulicht ein bereits vorgetragenes. 5.2 Kommunikatives Handeln als Diskurs Wie in Abschnitt 4.2 dargestellt, lässt sich ein argumentierender Text auf drei Handlungsebenen rekonstruieren, der Ebene der Texterstellung, der Ebene der Interaktion zwischen Autor und Rezipient und der Ebene der kollektiven Anstrengung, ein Problem zu lösen. Auf der zuletzt genannten Handlungsebene interagieren nicht nur Autor und Rezipient eines Textes, auch der Autor des Ausgangstextes und Vertreter bestimmter Positionen, auf die sich der Ausgangstext beziehen kann, beteiligen sich am Diskurs. Handlungen auf der Diskursebene werden von H ABERMAS (1981) in der Theorie des kommunikativen Handelns und von K OPPERSCHMIDT (1989) in der Methodik der Argumentationsanalyse untersucht. Diese Untersuchungen klären, wann Argumentation notwendig wird, denn nicht jede Äußerung muss begründet werden. Ein Proponent argumentiert K OPPERSCHMIDT zufolge erst dann, wenn die Geltung seiner Äußerung von einem Opponenten tatsächlich bestritten wird oder zumindest bestritten werden könnte. Notwendig wird eine Argumentation, wenn es sich bei einer Äußerung um eine res controversia, um eine „strittige Angelegenheit“ handelt (K OPPERSCHMIDT 1989: 14). Erst dann wird eine Äußerung zu einer Behauptung (C), die verteidigt werden muss. Strittig ist somit eine Eigenschaft von Äußerungen, deren Geltungsanspruch (GA) bestritten werden kann. Unstrittig sind hingegen Gewissheiten, die sich auf die Evidenz privater Erlebnisse oder Erfahrungen berufen, ebenso wie Äußerungen, die auf Machtansprüchen beruhen (K OPPERSCHMIDT 1989: 25, 32f.). Wird argumentiert, dann wird nicht der Sachbezug, sondern der Geltungsbezug einer Äußerung thematisiert. 51 H ABERMAS erkennt einen Wechsel der Kommunikationsebenen, wenn Argumentation einsetzt: Und die Rationalität derer, die an dieser kommunikativen Praxis teilnehmen, bemißt sich danach, ob sie ihre Äußerungen unter geeigneten Umständen begründen könnten. Die der kommu- 51 K OPPERSCHMIDT verdeutlicht Geltungs- und Sachbezug einer Äußerung mit einem Beispiel: Auf den Hinweis von A, dass Klaus morgen nach Köln kommt, könnte B fragen, was Klaus denn in Köln vorhat. Er würde auf den Sachbezug der Äußerung eingehen. Er kann jedoch auch in Frage stellen, dass Klaus nach Köln kommt. Dann wechselt er die Kommunikationsebene. Ausgehend von der „Thematisierung des Sachbezugs informativer Rede“ gelangen die Teilnehmer zur „Thematisierung des Geltungsbezugs re exiver Rede“ (K OPPERSCHMIDT 1989: 26). Bis der implizite GA eingelöst ist, bleibt der Sachbezug suspendiert (K OPPERSCHMIDT 1989: 27). <?page no="81"?> 69 Argumentation nikativen Alltagspraxis innewohnende Rationalität verweist also auf die Argumentationspraxis als die Berufungsinstanz, die es ermöglicht, kommunikatives Handeln mit anderen Mitteln fortzusetzen, wenn ein Dissens durch Alltagsroutinen nicht mehr aufgefangen werden kann und gleichwohl nicht durch den unvermittelten oder den strategischen Einsatz von Gewalt entschieden werden soll (H ABERMAS 1981: 37f.). Argumentation setzt als „re exiv gewendete Fortsetzung verständnisorientierten Handelns“ (H ABERMAS 1981/ 1: 48) ein, wenn Alltagsroutinen nicht mehr bewältigt werden. Dann ndet das kommunikative Handeln eine „Fortsetzung mit anderen Mitteln“ als Diskurs (K OPPERSCHMIDT 1989: 29). 52 Diskurse können im privaten Rahmen geführt werden, journalistische Kommentartexte nehmen hingegen an öffentlichen Debatten teil, die geführt werden, wenn eine situative Problemlage (K OPPERSCHMIDT 1989: 54-77) zu einem hohen Problemdruck (K OPPERSCHMIDT 2000: 97, 43) geführt hat. 53 Noch ungeklärt ist, zwischen welchen Arten strittiger Angelegenheiten differenziert werden kann. T OULMIN s Aussage „Harry ist britischer Staatsbürger“ ist eine Behauptung, die beansprucht, wahr zu sein. Daneben gibt es laut H ABERMAS drei weitere Geltungsansprüche, auf denen eine gelingende Verständigung beruht: Der Sprecher muß einen verständlichen Ausdruck wählen, damit Sprecher und Hörer einander verstehen können; der Sprecher muss die Absicht haben, einen wahren propositionalen Gehalt mitzuteilen, damit der Hörer das Wissen des Sprechers teilen kann; der Sprecher muß seine Intentionen wahrhaftig äußern wollen, damit der Hörer an die Äußerung des Sprechers glauben [...] kann; der Sprecher muß schließlich eine im Hinblick auf bestehende Normen und Werte richtige Äußerung wählen, damit der Hörer die Äußerung akzeptieren kann, so daß beide [...] in der Äußerung eines anerkannten normativen Hintergrundes miteinander übereinstimmen können (H ABERMAS 1976: 176, zit. nach K OPPERSCHMIDT 1989: 41). Demnach korrespondieren vier Geltungsansprüche der verständnisorientierten Rede. Sie beruht auf Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit. Diese impliziten Geltungsansprüche unterscheiden sich jedoch: Verständlichkeit ist immer eine „basale Bedingung möglicher Kommunikation, deren Faktizität immer schon unmittelbar überprüfbar ist“ (K OPPERSCHMIDT 1989: 43). Demnach kann Verständlichkeit nur festgestellt oder eingefordert werden, diskursive Anschlüsse bieten sich nicht. Es verbleiben drei Geltungsansprüche, die ein Sprecher mit seiner Äußerung implizit erhebt: „Ein Sprecher beansprucht also Wahrheit für Aussagen oder Existenzpräsuppositionen, Richtigkeit für legitim geregelte Handlungen und deren normativen Kontext, und Wahrhaftigkeit für die Kundgabe subjektiver Erlebnisse.“ (H ABERMAS 1981: 149). 54 52 Die einzelnen Phasen des Diskurses werden mit Verweis auf K OPPERSCHMIDT (1989) später (Abschnitt 11.3) genauer dargestellt, wenn kulturübergreifende, zentrale Teiltexte eines argumentativen Textes identi ziert werden. 53 Als Beispiele aktueller öffentlicher Problemlagen nennt K OPPERSCHMIDT (1989: 58) Arbeitslosigkeit, Abrüstung, Kernenergie, Waldsterben, Gentechnik und Sterbehilfe. 54 H ABERMAS sichert die Dreigliederung dieses Systems universaler Geltungsbedingungen kommunikativen Handelns durch vielfältige Verweise ab. Er bindet die Dreigliederung an das B ÜHLER sche Organon-Modell mit den elementaren Zeichenfunktionen Darstellung (Wahrheit), Appell (Richtigkeit) und Ausdruck (Wahrhaftigkeit) (vgl. 1981: 372), an philosophische Grundfragen (Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit) und an kulturelle Handlungssysteme (Wissenschaftsbetrieb, religiöse Gemeinde, Kunstbetrieb) (vgl. 1981: 322). Eine kompakte Darstellung der vielfachen Anschlussversuche gibt K OPPERSCHMIDT (1989: 42f.). <?page no="82"?> 70 Argumentation Ein Sprecher muss für seine Äußerung notwendig den Anspruch auf Wahrhaftigkeit erheben, er muss ebenso bei seinem Gesprächspartner Wahrhaftigkeit voraussetzen können, damit verständnisorientierte Kommunikation gelingt. Insofern handelt es sich bei der Wahrhaftigkeit um eine universalpragmatische Bedingung möglicher Verständigung (K OPPERSCHMIDT 1989: 45), allerdings kann der Wahrhaftigkeitsanspruch wie die Verständlichkeit nicht argumentativ eingelöst werden. Man kann jedoch den Aussagen eines Gesprächspartners ein unterschiedlich hohes Maß an Glaubwürdigkeit zusprechen (K OPPERSCHMIDT 2000: 40). Es verbleiben somit zwei Geltungsansprüche, die diskursiv einlösbar sind: Neben den theoretischen Wissensannahmen, die einen Wahrheitsanspruch erheben, sind die praktischen Wertentscheidungen zu nennen, die einen Richtigkeitsanspruch erheben (K OPPERSCHMIDT 1989: 39). In der Argumentationsforschung wird daher zwischen theoretischen und praktischen Problemlagen unterschieden, zwischen faktischen und normativen Argumentationsmustern: „Bei faktischen Mustern kommen nur faktische Sätze vor, also Tatsachenbehauptungen. Bei normativen Mustern kommen nur normative Sätze, also Werturteile, oder eine Mischung aus faktischen oder normativen Sätzen vor.“ (K IEN - POINTNER 1996: 76). 55 Die beiden elementaren „diskursiven“ Geltungsansprüche (H A - BERMAS , zit. nach K OPPERSCHMIDT 1989: 48), „die allein innerdiskursiv durch Argumente einlösbar sind“ (K OPPERSCHMIDT 2000: 49), stellt K OPPERSCHMIDT folgendermaßen dar (siehe Tabelle 5.1): Geltungsansprüche Geltungsspezi zierung: Wahrheit Richtigkeit Geltungsproblematisierung: theoretische Problemlage praktische Problemlage Geltungseinlösung: theoretischer Diskurs praktischer Diskurs Tabelle 5.1: Korrelationsgefüge zwischen Geltungsansprüchen, Geltungsproblematisierung und Geltungseinlösung nach K OPPERSCHMIDT (1989: 50). Dass faktische und normative Konklusionen in ganz unterschiedlicher Form auftreten können, zeigt G ÖTTERT : Im Bereich des theoretischen Wissens haben die Thesen normalerweise die Form von Behauptungen: man behauptet etwas über Lichteigenschaften und begründet es im Zuge einer Erklärung. Im Bereich von praktischen Handlungen kann man zwar auch von Behauptungen sprechen, doch stellt sich sogleich eine Unterscheidung ein: Behauptungen im Handlungsbereich können sich auf vollzogene und nun zu vertretene Handlungen beziehen, aber auch auf erst auszuführende. Dieser Unterschied kommt heraus, wenn man statt von Behauptungen einerseits von Empfehlungen, andererseits von Bewertungen spricht: wir rechtfertigen demnach vergangene Handlungen in der Form einer Bewertung, zukünftige in Form einer Empfehlung (G ÖTTERT 1978: 21). Bei normativen Aussagen differenziert G ÖTTERT demnach zwischen Rechtfertigungen, die sich als Bewertungen auf vergangene Handlungen beziehen, und Empfehlungen, die sich auf Handlungen beziehen, die noch nicht vollzogen worden sind. Auch bei faktischen Aussagen unterscheidet G ÖTTERT zwischen zwei Formen: 55 Zur Unterscheidung faktischer und normativer Aussagen vgl. auch B AYER (1999: 51). <?page no="83"?> 71 Argumentation Auf Anhieb sieht es nun so aus, daß man von Rechtfertigungen nur da spricht, wo es um Handlungen geht, von Erklärungen da, wo Ereignisse zur Debatte stehen. Deshalb könnte es irritieren, wenn man mit Recht geltend macht, daß man Handlungen auch erklären kann. Dies ist ja z.B. die Aufgabe eines Psychoanalytikers, aber ggf. auch die des Rechtsanwalts in einem Prozeß. Man sieht aber, daß dies kein grundsätzlicher Einwand sein kann: Handlungen, die erklärt werden, werden wie Ereignisse erklärt, d.h. in der (theoretischen) Einstellung des Beobachters (G ÖTTERT 1978: 21f.). Handlungen können demzufolge in Form einer Rechtfertigung bewertet werden, sie können jedoch auch erklärt werden, wenn man Aussagen über Handlungsmotive trifft. Zukünftige Handlungen kann man wiederum empfehlen. G ÖTTERT stellt diese Zusammenhänge in der in Schaubild 5.2 wiedergegebenen Übersicht dar. Argumentation Erklärung Typ: Behauptung Empfehlung Bewertung Rechtfertigung Form der These: Gegenstand der These: Typ des „Grundes“: Maßstab: Ereignis Handlung Ursache Motiv Gesetz Handlung Grund i.e.S. Norm Schaubild 5.2: Typen von Argumentation nach G ÖTTERT (1978: 22) . Eine Handlung kann man demnach erklären oder rechtfertigen. Den Vollzug zukünftiger Handlungen kann man empfehlen, vollzogene Handlungen kann man rückblickend bewerten. K OPPERSCHMIDT (1989: 73) unterscheidet terminologisch ebenfalls Ursachen, Motive und Gründe im engeren Sinn, für die er den Begriff „Argument“ reklamiert. Anders als G ÖT - TERT geht K OPPERSCHMIDT von zentralen Warum-Fragen aus, die er sinnkritisch differenziert. Eine Warum-Frage, die ein Wissensde zit anzeigt, ist eine Sachfrage. Sachfragen appellieren an den Kommunikationspartner, „Ursachen anzugeben, die den gefragten Sachverhalt zu erklären geeignet sind“ (K OPPERSCHMIDT 1989: 68). Eine andere Sachfrage liegt vor, wenn Ereignisse nicht in ihrer ursächlichen Bedingtheit erklärt, sondern wenn Handlungen in der sozialen Welt motivational gedeutet werden sollen (vgl. K OP - PERSCHMIDT 1989: 68f.). Auch Motive sind, wie Schaubild 5.3 zeigt, im engeren Sinne keine Argumente. <?page no="84"?> 72 Argumentation Typ: betrifft: fragt nach: beantwortbar durch: Warum-Fragen Sachfrage Geltungsfrage Erklärung Deutung Rechtfertigung Rechtfertigung sinnhafte Ereignisse Wahrheitsanspruch Richtigkeitsanspruch Ursachen Motive Argumente Argumente sinnfreie Ereignisse Schaubild 5.3: Typologie von Sach- und Geltungsfragen nach K OPPERSCHMIDT (1989: 73). Ursachen erklären Ereignisse, Motive deuten Handlungen, Argumente rechtfertigen Wahrheitsbzw. Richtigkeitsansprüche von Thesen. Argumente beantworten als Geltungsgründe Geltungsfragen, die anders als Sachfragen Diskurspotenzial besitzen (vgl. K OPPER - SCHMIDT 1989: 77). Die vorgeschlagenen terminologischen Differenzierungen von G ÖTTERT und K OPPER - SCHMIDT entsprechen sich nicht völlig. Bei G ÖTTERT ist „Argumentation“ ein übergeordneter Begriff, der Sach- und Geltungsfragen einschließt, bei K OPPERSCHMIDT bezieht sich „Argumentation“ nur auf Geltungsfragen. Nach G ÖTTERT kann eine Handlung erklärt werden, nach K OPPERSCHMIDT kann nur ein sinnfreies Ereignis erklärt werden, eine Handlung wird als sinnhaftes Ereignis hingegen gedeutet. 5.3 Pro und Kontra In einer Debatte stehen sich mehrere argumentierende Subjekte gegenüber, die verschiedene Rollen besetzen. Alle reagieren auf die Problematisierung eines Geltungsanspruchs, doch die einen stützen und die anderen schwächen den Geltungsanspruch einer zentralen These. Die einen treten als Proponenten auf, ihnen stehen die Opponenten gegenüber. Je nachdem, ob man den Geltungsanspruch einer These stützt oder schwächt, unterscheidet die Argumentationsliteratur zwischen Pro- und Kontra-Argumentationen (K IENPOINTNER 1996: 77). 56 Nun ist es auch möglich, dass ein argumentierendes Subjekt mehrere Argumente vorträgt, von denen einige für, einige gegen den Geltungsanspruch der zentrale These sprechen. In diesen Fällen liegen keine konvergenten sondern kontroverse Argumentationen vor (vgl. K OPPERSCHMIDT 1989: 208). Dies ist in Texten sehr häu g der Fall, wenn Argumente gegenübergestellt werden, was auf versciedene Weise erfolgen kann. Nach N AESS (1975) besteht bei kontroversen Argumentationen die Möglichkeit, Pro- und Kont- 56 Außerdem können sich Argumentationen auf reale Ereignisse beziehen, dann spricht man von realen Argumentationen, im Gegensatz zu ktiven, die sich auf mögliche Welten beziehen (K IEN - POINTNER 1996: 77). <?page no="85"?> 73 Argumentation ra-Argumente aufzulisten, ohne selbst Stellung zu beziehen. In diesem Fall begnügt sich ein Autor damit, eine „Pro-et-contra-Übersicht“ (PeC) zu erstellen. Eine Pro-et-contra-Übersicht ist eine anschauliche Übersicht über: (1) die wichtigsten Argumente, die in einer bestimmten Diskussion oder einer bestimmten Problematik zu Gunsten einer Behauptung angeführt worden sind oder wahrscheinlich noch angeführt werden; (2) die wichtigsten Argumente, die in einer bestimmten Diskussion oder einer bestimmten Problematik gegen eine Behauptung angeführt worden sind oder wahrscheinlich noch angeführt werden (N AESS 1975: 134). Die Gegenüberstellung von Argumenten führt zu keiner Schlussfolgerung. Ein Autor betätigt sich als Chronist, der lediglich festhält, welche Pro-Argumente und welche Kontra-Argumente in einer Debatte vorliegen. Er kann in einer Debatte jedoch auch Stellung beziehen. Dann fertigt er eine „Pro-aut-contra-Übersicht“ (PaC) an. Eine Pro-aut-contra-Übersicht ist eine anschauliche Übersicht über die wichtigsten Argumente, die nach Meinung des Verfassers oder, allgemeiner, nach Meinung einer bestimmten Person oder Gruppe für eine bestimmte Behauptung sprechen. Außerdem enthält sie die Argumente, die nach Meinung der Genannten gegen diese Behauptung sprechen (N AESS 1975: 135). Diese Übersicht mündet in eine Schlussfolgerung. Der Verfasser tauscht Argumente quasi mit sich selbst aus, er hinterfragt die Berechtigung einer Behauptung, re ektiert Vorzüge und Nachteile einer getroffenen Entscheidung etc. Nach diesem Abwägen, nach der Gegenüberstellung von Pro- und Kontra-Argumenten legt er sich fest, d.h. er bezieht in der Debatte Stellung. 5.4 Argumentation in Kulturen: Kollektiv Strittiges und Geltendes Ein äußerst instruktives Beispiel für eine öffentliche Debatte wählt G ÖTTERT (1978: 34- 41). In der Auseinandersetzung, ob in einer Siedlung ein Sonderkindergarten eröffnet werden soll (vgl. oben, Anm. 49), treffen Vertreter verschiedener Interessensgruppen aufeinander. Wie G ÖTTERT zeigt, bewegen sich ihre Argumentationen in ganz verschiedenen kategorialen Systemen. Die Mitglieder der Bürgerinitiative argumentieren in einem „sozialpädagogischen“ Begründungssystem, der Anwalt der Gegenseite in einem „juristischen“. Der Jurist ist als Vertreter seiner Berufsgruppe überhaupt erst in der Lage, eloquent im kategorialen System der Rechtssprechung zu argumentieren. Hier kann ein Bogen geschlagen werden zur Kulturtheorie H ANSEN s (vgl. Abschnitt 3.3). In verschiedenen Kollektiven wird verschieden argumentiert, im Kollektiv der Juristen anders als im Kollektiv der Sozialarbeiter. W OLFGANG K LEIN (1980) zeigt seinerseits, dass in Monokollektiven, in denen bestimmte Grundsätze gelten, auch nur ganz bestimmte Argumente akzeptiert werden. „Es steht bei Lenin“ ist in manchen Gruppen in manchen Situationen eine hinreichende Rechtfertigung, oder „meine Großmutter hat es schon gesagt“ oder „ich habe es selber gesehen“ oder „ich fühle es eben“. In der wissenschaftlichen Diskussion ist es hingegen nicht erlaubt, von Sachverhalten wie den angeführten zur Gültigkeit von „es“ überzugehen (K LEIN 1980: 12). In sozialistischen Zirkeln können Autoritätsargumente als äußerst beweiskräftig gelten, für die Mehrheit der Bundesbürger wird jedoch weder zählen, was Lenin gesagt hat, noch dass es Lenin gesagt hat. Ähnliches lässt sich zu K LEIN s zweitem Beispiel festhalten: Während es im privaten Kreis als durchaus relevant erscheinen kann, dass schon die eigene Großmutter von einem bestimmten Sachverhalt überzeugt war, oder <?page no="86"?> 74 Argumentation dass man von der Wahrheit oder Richtigkeit einer Aussage intuitiv überzeugt ist, so sind diese Argumente in einem anderen Kollektiv, dem der wissenschaftlichen Diskursgemeinschaft, nicht beweiskräftig. Gefordert wird dort, dass sich die eigene Argumentation auf möglichst aktuellen Bahnen der Forschung bewegt. In Kollektiven gelten demnach unterschiedliche Argumente und Grundsätze, vorgetragen in unterschiedlichen Begründungssprachen. K LEIN spricht in diesem Zusammenhang vom „kollektiv Geltenden“: Zum kollektiv Geltenden gehören nicht nur irgendwelche Aussagen über einzelne Sachverhalte, sondern auch das, was als legitimer Übergang zu gelten hat. Nehmen wir etwa an, die Quaestio [...] ist: „Ist Religion für das Volk schädlich? “ Es kann nun sein, daß sich für eine bestimmte Gruppe ein legitimer Übergang durch die Aussage ausdrücken läßt „Was bei Lenin steht, gilt“. Wenn nun jemand sagt „Daß Religion für das Volk schädlich ist, steht bei Lenin“ und dies wird ihm abgenommen d.h. es ist ein Element des kollektiv Geltenden, daß dies bei Lenin steht -, dann ist es ins kollektiv Geltende übernommen, daß Religion schädlich ist für das Volk. Für andere Gruppen sind die legitimen Übergänge möglicherweise ganz anders; es kommt vielleicht darauf an, daß es in der Bibel steht, oder daß es dem Modus ponens entspricht, oder irgendwelchen Regeln der induktiven Logik (K LEIN 1980: 19f.). K LEIN nennt beispielhaft wieder den linken Gesprächskreis, in dem der Verweis auf Lenin als Stützung eines Arguments akzeptiert wird, ganz anders als in der dann genannten christlichen Gemeinde, in welcher die Äußerung „Das steht so bei Lenin“ wohl eher dazu führen wird, dass die Teilnehmer die These, die eigentlich gestützt werden soll, noch stärker bezweifeln. In den genannten Kollektiven, dem linken und dem christlichen, werden bestimmte Grundsätze geteilt, andere Grundsätze stehen sich dagegen unversöhnlich gegenüber. Wenn sich das kollektiv Geltende zu stark unterscheidet, dann werden „Grundsatzdiskussionen“ geführt. Oder der Diskurs wird abgebrochen. Generell gilt, dass Mitglieder eines Kollektivs bestrebt sind, eine strittige Angelegenheit intern durch Bezug auf geteilte Grundüberzeugungen in das kollektiv Geltende einzugliedern. „Mit Hilfe des kollektiv Geltenden wird versucht, etwas kollektiv Fragliches in etwas kollektiv Geltendes zu überführen“ (K LEIN 1980: 19). Das Kollektiv stellt sich immer neuen Problemen, die Mitglieder suchen dabei „nach Anschlüssen an Vertrautes, um so mit Unvertrautem besser umgehen zu können.“ (K OPPERSCHMIDT 2000: 132). Durch die beständige Transformation des Strittigen in Geltendes entwickelt sich das kollektiv Geltende. Es „ist dynamisch und verändert sich während der Argumentation ständig“ (K LEIN 1980: 20). Andererseits wirken im kollektiv Geltenden retardierende Kräfte, da die Mitglieder danach streben, ihre Grundüberzeugungen zu bewahren. Argumente verdanken sich motivational situativen Problemlagen, in denen nicht ganze Überzeugungssysteme zur Disposition gestellt werden, sondern in denen die Übereinstimmung kommunikativ erhobener GAe mit den jeweils geltenden Überzeugungen bezweifelt wird. Entsprechend stellt jede Argumentation den Versuch dar, eben diese Übereinstimmung eines problematisierten GAs durch seine gelingende Rekonstruktion innerhalb eines Systems geltender Überzeugungen nachzuweisen (K OPPERSCHMIDT 1989: 105). Die Beispiele bei K LEIN betreffen Kollektive, in denen grundsätzliche Überzeugungen geteilt werden. Die Beispiele bei G ÖTTERT sind anders gelagert. Sie zeigen, dass es in vielen öffentlichen Diskursen charakteristisch ist, dass Teilnehmer verschiedenen Kollektiven angehören. Bei der Auseinandersetzung um den Sonderkindergarten vertreten die Teilnehmer andere Überzeugungen und ordnen daher dieselbe strittige Angelegenheit in unterschiedliche Begründungssysteme ein. <?page no="87"?> 75 Argumentation Das Geltende ist [...] relativ zu Zeitpunkten und Menschen: eine Menge von Aussagen gilt für jemanden zu einem Zeitpunkt. [...] Für jede Gruppe von Menschen gilt, daß das, was für jeden einzelnen von ihnen gilt, teilweise mit dem für die anderen Geltenden übereinstimmt, teilweise nicht. Das was für eine bestimmte Gruppe zu einem Zeitpunkt gilt, nenne ich das (zu diesem Zeitpunkt) kollektiv Geltende (K LEIN 1980: 19). Da ein Mensch laut H ANSEN verschiedenen Kollektiven angehört, fügt sich das in diesen Kollektiven jeweils Geltende zu einer Menge individuell geltender Aussagen, welche - wie K LEIN bemerkt - nur „teilweise“ mit den Aussagen übereinstimmen, die für andere Mitglieder des Kollektivs gelten. Weder das kollektiv Geltende noch das individuell Geltende ist frei von Ungereimtheiten. Widersprüche treten in Doktrinen ebenso auf wie in den Überzeugungen eines einzelnen Menschen. [D]as kollektiv Geltende [kann] - und ebenso das für einen einzelnen Geltende - Widersprüchliches enthalten. [...] Man kann bei verschiedenen Gelegenheiten Auffassungen ausgebildet haben, die sich, wenn man es sich richtig überlegen würde, als widersprüchlich erwiesen. Man überlegt es sich aber nicht. Man denkt ja nicht immer darüber nach, ob alles, wovon man überzeugt ist, sich miteinander verträgt (K LEIN 1980: 21). Der Mensch kann versuchen, Widersprechendes zu integrieren, um ein für ihn Geltendes zu bestimmen. Wie K LEIN jedoch festhält, stellt sich nicht jeder Mensch mit gleicher Intensität dieser Aufgabe. Er kann sich in verschiedenen Kollektiven bewegen, ohne das jeweils Geltende infrage zu stellen. Menschen können in verschiedenen Handlungskontexten durchaus verschiedene Auffassungen vertreten. Wie in Abschnitt 3.3 gezeigt wird, bindet H ANSEN den Kulturbegriff an den Kollektivbegriff. Die Formel „Mit Hilfe des kollektiv Geltenden wird versucht, etwas kollektiv Fragliches in etwas kollektiv Geltendes zu überführen.“ (K LEIN 1980: 19), kann mit Bezug auf H ANSEN daher reformuliert werden: „Mit Hilfe des kulturell Geltenden wird versucht, etwas kulturell Fragliches in etwas kulturell Geltendes zu überführen.“ Dass Angelegenheiten erst im Rahmen bestimmter kultureller Kontexte strittig werden, dafür gibt K OPPERSCHMIDT Beispiele: Probleme gibt es nicht an sich; zu Problemen werden Sachverhalte erst im Kontext bestimmter kategorialer Re exionshorizonte gemacht. So wird z.B. erst im Kontext westlicher Wertvorstellungen von der Unverletzlichkeit der Person aus der rituell gebotenen Beschneidung von Mädchen eine strafrechtlich folgenreiche Körperverletzung (so in Frankreich), und erst im Kontext eines bestimmten Schulverständnisses (tendenziell politik- und bekenntnisfrei) wird das Tragen eines Kopftuchs zu einem (zumindest) schulpolitischen Problem (so in Baden-Württemberg) (K OPPERSCHMIDT 2000: 113f.). Die rituelle Beschneidung von Mädchen erweist sich in Frankreich als problematisch, da das dort kulturell Geltende diese Praxis nicht zulässt, anders als in den Herkunftskulturen der Migranten, in denen diese Praxis womöglich nicht strafrechtlich geahndet wird. Das Beispiel verdeutlicht, dass Kollektive in ihren jeweiligen Begründungssystemen Sachverhalte perspektivieren. K OPPERSCHMIDT nimmt daher Argumentationsbereiche an, in denen es nicht um die Stützung universaler, sondern kulturspezi scher Geltungsansprüche geht (K OPPERSCHMIDT 1989: 49). <?page no="88"?> 76 Argumentation 5.5 Terminologische Festlegungen (1) Die meisten Argumentationen lassen sich anhand der einfachen Formel C= (O)K, weil D in BS abbilden. Weitere Bausteine einer ausgebauten Argumentation (W, B, RE) sind fakultativ und werden im Regelfall präsupponiert. Außerdem können Argumente zusätzlich durch Erläuterungen konkretisiert und durch Beispiele illustriert werden. (2) Um Varianten der Textsorte Erörterung klassi zieren und Lernertexte analysieren zu können, ist die terminologische Differenzierung zwischen Deutungen und Erklärungen nicht erforderlich. Mit K OPPERSCHMIDT (1989) müssen jedoch Sachfragen und Geltungsfragen unterschieden werden. Erstere beziehen sich auf erklärungsbedürftige Angelegenheiten, letztere auf legitimationsbedürftige, strittige Angelegenheiten. Sachfragen fordern dazu auf, einen Sachverhalt zu erklären, um ein Wissensde zit zu beheben. Sie besitzen kein Diskurspotenzial. Geltungsfragen fordern dazu auf, durch Argumente den Geltungsanspruch (Wahrheits- oder Richtigkeitsanspruch) einer These einzulösen, sie besitzen Diskurspotenzial. Nach dem Geltungsanspruch einer These lassen sich theoretische und praktische Problemlagen unterscheiden, die zu faktischen bzw. normativen Argumentationsmustern führen. Argumente, die den Wahrheitsanspruch einer These (Behauptung, Vermutung) einlösen, werden als faktische Argumente, Argumente, die den Richtigkeitsanspruch einer These (Werturteil, Empfehlung, Appell) einlösen, werden als normative Argumente bezeichnet. (3) In einer Debatte interagieren argumentierende Subjekte. Sie können nur Argumente für oder gegen den Geltungsanspruch einer These anführen. Dann handelt es sich um eine konvergente Argumentation. Wenn sie hingegen Argumente für und/ oder gegen den Geltungsanspruch einer These anführen, dann handelt es sich um eine kontroverse Argumentation. (4) Die Formel K LEIN s (1988) „Mit Hilfe des kollektiv Geltenden wird versucht, etwas kollektiv Fragliches in etwas kollektiv Geltendes zu überführen“ kann mit Bezug auf H ANSEN (2000) reformuliert werden: In einem Diskurs wird versucht, mit Hilfe des kulturell Geltenden etwas kulturell Strittiges in kulturell Geltendes zu überführen. <?page no="89"?> 6 Textsortenklassi kationen Die in Kapitel 4 diskutierten Textproduktionsmodelle differenzieren weder Textfunktionen noch Textsorten. So hält W ROBEL lediglich allgemein fest, ein Textproduzent wolle „X bewirken“. Auch weisen die Modelle nur allgemein darauf hin, dass bei der Textproduktion auf ein Textmusterwissen zurückgegriffen wird, ohne die gespeicherten Textmuster genauer darzustellen. (6.1) Das vorliegende Kapitel beginnt mit einer Begriffsbestimmung von „Textsorte“. (6.2) Es folgt die Darstellung gängiger Kriterienraster zur Klassi kationen von Textsorten in textlinguistischen Arbeiten aus Deutschland. (6.3) Für den Fortgang der Untersuchung von besonderer Wichtigkeit ist die Darstellung von der Typisierung chinesischer Textklassen, da hierzu im deutschen Sprachraum zuverlässige Vorarbeiten fehlen. (6.4) Das Kapitel wird mit einem kurzen Vergleich der Textsortenklassi kationen abgeschlossen. 6.1 Textsorten „Textsorten“ werden in textlinguistischen Beiträgen auch als „Textmuster“ oder „Texttypen“ bezeichnet. 57 In der textlinguistischen Forschung hat sich bislang keine allgemein anerkannte Textsortenklassi kation etabliert (vgl. L INKE / N USSBAUMER / P ORTMANN 1996: 248), grundsätzlich kann jedoch davon ausgegangen werden, dass Textsorten Handlungsmuster sind, die „konventionell mit Texten durchgeführt werden“ (S ANDIG 1986: 173). Diese Muster weisen sowohl prototypische Elemente als auch Freiräume auf und legen die „Gebrauchsbedingungen für Texte einer Textsorte“ fest (F IX / P OETHE / Y OS 2001: 26). Diese Muster sind Teil desWissens, welches Mitglieder einer Gesellschaft „beherrschen, wenn sie Texte produzieren und verstehen“ (R EHBEIN 1977: 160). Textsorten zeichnen sich als komplexe Muster der sprachlichen Kommunikation durch ein „Bündel von Merkmalen“ (L INKE / N USSBAUMER / P ORTMANN 1996: 248) aus. Daher betonen viele De nitionsversuche ein Zusammenwirken verschiedener Eigenschaften. So schreibt B RINKER : Textsorten sind konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen und lassen sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativfunktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben. Sie haben sich in der Sprachgemeinschaft historisch entwickelt und gehören zum Alltagswissen der Sprachteilhaber; sie besitzen zwar eine normierende Wirkung, erleichtern aber zugleich den kommunikativen Umgang, indem sie den Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierungen für die Produktion und Rezeption von Texten geben (B RINKER 1997: 132). B RINKER s De nition bindet verschiedene Stränge der textlinguistischen Forschung zusammen und beschreibt Textsorten nach situativen, textinternen und funktionalen Gesichtspunkten. Auch E NGBERG de niert Texthandlungsmuster als „Einheit eines Regelsystems, in dem auf der einen Seite sprachstrukturelle und auf der anderen Seite Wissen um funktionale und situationelle Bedingungen zueinander in Beziehung gesetzt werden“ (E NGBERG 2001: 71). 57 H EINEMANN / V IEHWEGER (1991: 144) grenzen den Begriff „Textsorte“ als Alltagsklassi kation von der theoriebezogenen Kategorie „Texttyp“ ab. <?page no="90"?> 78 Textsortenklassi kationen Vom Begriff „Textmuster“ leitet sich der Begriff „Textmusterwissen“ ab. Im Gegensatz zu Textmustern, die aktuelle Texte auf der Grundlage der Dominantsetzung bestimmter Merkmale gruppieren, bezeichnet das Textmusterwissen eine „virtuelle Größe“ (E NG - BERG 2001: 71); es ist „grundlegend für die Erfassung von Strategie-, Strukturierungs- und Formulierungsprozessen bei der Textproduktion; aber auch die Phänomene der Rezeption von Texten sind ohne dieses Wissen nicht zureichend beschreibbar“ (H EINEMANN / V IEHWEGER 1991: 11). Die Begriffe „Textsorte“, „Textmuster“ und „Textmusterwissen“ bestimmen nicht nur die deutschsprachige Diskussion. Auch in der chinesischen Textlinguistik sind diese Begriffe fest etabliert. Zum Vergleich seien die entsprechenden De nitionen aus dem linguistischen Handbuch von L IU X INGCE zitiert: Textsorte (wenzhang ticai) (Abkürzung: wenti), auch bezeichnet als Textmuster (wenzhang yangshi): Der Begriff bezeichnet ein konkretes Muster, wie in einem Text objektive Dinge widergespiegelt (fanying) und Gedanken und Gefühle dargestellt (biaoda) werden. Textsorten folgen der gesellschaftlichen Entwicklung und verändern sich daher ständig. [...] Textsortenbewusstsein (wenti yishi): Der Begriff bezeichnet das Wissen eines Autors über Texte, welches sich in der Planungs- und Ausführungsphase der Textproduktion äußert. Erst wenn ein Autor über ein klares Textsortenwissen verfügt, kann er beim Schreiben nach den Anforderungen der Textsorte (wenti yaoqiu) eine geeignete Gliederungsform (jiegou xingshi) und Schreibmethode (xiezuo fangfa) sowie geeignete Stilmittel (yuti fengge) wählen. Dann zeichnet sich sein Text nach Fertigstellung durch einen klaren Textsortencharakter (wentigan) aus (L IU 2000: 374). Es fallen deutliche Parallelen auf. Wie B RINKER betont L IU , dass Textsorten historisch gewachsene Muster der textvermittelten Kommunikation sind, die als Wissen gespeichert sind. Wie B RINKER und H EINEMANN / V IEHWEGER hebt L IU hervor, dass Textsorten eine handlungsregulierende Funktion besitzen, und nennt einzelne Phasen der Textproduktion (planen und ausführen), in denen der Autor auf das gespeicherte Wissen zurückgreift. L IU s Begriffsbestimmungen sind also durchaus kompatibel mit denen der zitierten deutschen Linguisten. Unterschiede bestehen jedoch hinsichtlich der Merkmale, die als konstitutiv für eine Textsorte angesehen werden. Während B RINKER Textsorten als typische Verbindungen kontextueller, funktionaler und struktureller Merkmale beschreibt, sieht L IU regelhafte Zusammenhänge von „Gliederungsform“, „Schreibmethode“ und „Stilmittel“. Der Vergleich der De nitionen zeigt, dass Begriffe wie „Textsorte“ als abstrakte Beschreibungseinheiten der Linguistik ähnlich gefasst werden, Unterschiede zeigen sich in den Bestimmungen der Merkmalskombinationen. 58 6.2 Klassi kationen deutscher Textsorten Eine zentrale Frage der Textlinguistik in Deutschland und China lautet, wie sich Textsorten sinnvoll strukturieren, gruppieren und klassi zieren lassen (vgl. F IX / P OETHE / Y OS 2001: 24). Grundsätzlich bieten sich zwei Wege an, Textsorten zu klassi zieren. Entweder orientiert man sich wie D IMTER (1981) an etablierten Bezeichnungen einzelner Textsorten und entwickelt induktiv eine konsistente Theorie, oder man bezieht sich wie B RINKER (1997) auf eine sprachtheoretisch ausreichend begründete Theorie, um deduktiv Textklassen abzuleiten, denen dann Textsorten zugeordnet werden. 58 Hier greift das Begriffspaar etisch-emisch. Die Darstellungen kulturübergreifender (etischer) Handlungsmuster variieren in den Darstellungen kulturspezi scher (emischen) Merkmalskombinationen. <?page no="91"?> 79 Textsortenklassi kationen B RINKER geht von den Handlungen aus, die ein Textproduzent gegenüber einem Textrezipienten vollzieht, und leitet von den fünf Illukotionsklassen S EARLE s (1982) fünf Textfunktionen ab. Die jeweils dominierende Textfunktion betrachtet B RINKER als Basiskriterium zur Differenzierung von Textsorten und unterscheidet zwischen Informations-, Appell-, Obligations-, Kontakt- und Deklarationstexten (siehe Tabelle 6.1). Textklassen Kommunikative Handlungen Informationstexte Der Emittent gibt dem Rezipienten zu verstehen, dass er ihm Wissen vermitteln oder ihn über etwas informieren will. Appelltexte Der Emittent gibt dem Rezipienten zu verstehen, dass er ihn dazu bewegen will, eine bestimmte Einstellung einer Sache gegenüber einzunehmen (Meinungsbeein ussung) und/ oder eine bestimmte Handlung zu vollziehen (Verhaltensbeein ussung). Obligationstexte Der Emittent gibt dem Rezipienten zu verstehen, dass er sich ihm gegenüber verp ichtet, eine bestimmte Handlung zu vollziehen. Kontakttexte Der Emittent gibt dem Rezipienten zu verstehen, dass es ihm um die persönliche Beziehung zum Rezipienten geht (insbesondere um die Herstellung und Erhaltung des persönlichen Kontakts). Deklarationstexte Der Emittent gibt dem Rezipienten zu verstehen, dass der Text eine neue Realität schafft, dass die (erfolgreiche) Äußerung des Textes die Einführung eines bestimmten Faktums bedeutet. Tabelle 6.1: Textklassen und kommunikative Handlungen nach B RINKER (1997: 133). Diesen Textklassen ordnet B RINKER die in Tabelle 6.2 aufgeführten Textsorten zu. Textklassen (Gebrauchstexte) Textsorten Informationstexte Nachricht, Bericht, Sachbuch, Rezension ... Appelltexte Werbeanzeige, Kommentar, Gesetz, Antrag ... Obligationstexte Vertrag, Garantieschein, Gelöbnis ... Kontakttexte Danksagung, Kondolenzschreiben, Ansichtskarte ... Deklarationstexte Testament, Ernennungsurkunde ... Tabelle 6.2: Textsortenklassi kation von B RINKER (1997: 133). Ausdrücklich klassi ziert B RINKER nur „Gebrauchstexte“, wozu er alle „nichtliterarischen Texte“ zählt (vgl. B RINKER 1997: 127), er folgt also der gängigen Unterscheidung ktionaler und nicht- ktionaler Texte. Die Textfunktion betrachtet B RINKER als „Basiskriterium“ zur Differenzierung von Textklassen (B RINKER 1997: 133), außerdem erkennt er regelhafte Zusammenhänge zwischen Textfunktion und Textstruktur, d.h. der Gestaltung des Textes in grammatischer und thematischer Hinsicht (B RINKER 1997: 121), obgleich „zwischen den Textfunktionen und den Formen der thematischen Entfaltung [...] keine 1: 1-Beziehung gegeben ist“ (B RINKER 1997: 139). Prinzipiell geht B RINKER davon aus, dass jeder Text einen thematischen Kern, ein Textthema hat, welches nach bestimmten Prinzipien entfaltet wird. <?page no="92"?> 80 Textsortenklassi kationen Die Entfaltung des Themas zum Gesamtinhalt des Textes kann als Verknüpfung bzw. Kombination relationaler, logisch-semantisch de nierter Kategorien beschrieben werden, welche die internen Beziehungen der in den einzelnen Textteilen (Überschrift, Abschnitten, Sätzen usw.) ausgedrückten Teilinhalte zum thematischen Kern des Textes (dem Textthema) angeben (z.B. Spezi zierung, Begründung usw.) (B RINKER 1997: 60). B RINKER nennt die vier in Tabelle 6.3 wiedergegebenen Grundformen der thematischen Entfaltung. Grundformen der Themenentfaltung Kennzeichen deskriptiv „Bei der deskriptiven Themenentfaltung wird ein Thema in seinen Komponenten (Teilthemen) dargestellt und in Raum und Zeit eingeordnet. Die wichtigsten thematischen Kategorien sind also Spezi zierung (Aufgliederung) und Situierung (Einordnung).“ (B RINKER 1997: 63) narrativ Bei der narrativen Themenentfaltung wird das Thema durch ein „abgeschlossenes, singuläres Ereignis repräsentiert“, das gewisse Minimalbedingungen von Ungewöhnlichkeit erfüllt. „Als zentrale thematische Kategorien sind die ‚Kompilation’ (Darstellung des ungewöhnlichen Ereignisses) und die ‚Resolution’ (Au ösung der Komplikation in positiver oder negativer Hinsicht) sowie die ‚Evaluation’ (Bewertungen, emotionale Einschätzungen und Stellungnahmen des Erzählers zu den erzählten Ereignissen) anzusehen. Hinzu kommen noch die ‚Orientierung’ (Angaben zu Ort, Zeit, handelnden Personen usw.) und ggf. die ‚Koda’ (‚Moral’, Lehren für die Zukunft).“ (B RINKER 1997: 68) explikativ Bei der explikativen Themenentfaltung wird ein Sachverhalt (Explanandum) erklärt, indem man ihn aus bestimmten anderen Sachverhalten (Explanans) logisch ableitet. „Das Thema eines explikativ verfahrenden Textes wird demnach durch das Explanandum repräsentiert.“ (B RINKER 1997: 69) argumentativ Bei der argumentativen Themenentfaltung versucht der Emittent, den Rezipienten „durch Angabe von Gründen von seiner Sichtweise, seiner Wertung eines Sachverhalts zu überzeugen und ihn ggf. zu einem entsprechenden Handeln zu veranlassen“ (B RINKER 1997: 80). Das Textthema wird durch die strittige Hauptthese repräsentiert (vgl. B RINKER 1997: 123). Tabelle 6.3: Grundformen der Themenentfaltung nach B RINKER (1997). Die Grundformen verknüpfen als „komplexe thematische Muster“ (B RINKER 1997: 67) Teile des Textes und bestimmen wesentlich dessen Aufbau. 59 Kennzeichnend für viele konkrete Texte ist es jedoch, dass verschiedene Teilthemen unterschiedlich entfaltet werden (vgl. B RINKER 1997: 72-80). Die genannten Grundformen der thematischen Entfaltung sind daher weder auf einzelne Textsorten beschränkt, noch treten in konkreten Texten ausschließlich 59 Bei Darstellung der narrativen Themenentfaltung bezieht sich B RINKER (1997) auf die Erzähltextanalyse von L ABOV / W ALETZKY , bei Darstellung der explikativen Themenentfaltung auf das Schema von H EMPEL / O PPENHEIM und bei Darstellung der argumentativen Themenentfaltung auf das Argumentationsmodell von T OULMIN . <?page no="93"?> 81 Textsortenklassi kationen bestimmte Formen der Themenentfaltung auf. B RINKER äußert sich eher zurückhaltend, ob seine Taxonomie alle Formen der Themenentfaltung erfasst. Es hätten sich in der Sprachgemeinschaft „eine Reihe von Grundformen thematischer Entfaltung herausgebildet“, von denen die genannten „wohl [...] die wichtigsten sind“ (B RINKER 1997: 63). In einem anderen Standardwerk der Textlinguistik kommen B EAUGRANDE / D RESSLER (1981) zu ähnlichen Ergebnissen wie B RINKER . Auch sie klassi zieren Textsorten nach ihrer dominierenden kommunikativen Funktion. Funktion Kennzeichen konzeptionelle Relationen globales Muster deskriptiv Wissensräume, deren Steuerungsmittelpunkte Objekte und Situationen sind, werden aufgefüllt. Attribute, Zustände, Repräsentanten, Spezi kationen Rahmen narrativ Handlungen und Ereignisse werden in einer bestimmten sequentiellen Reihenfolge angeordnet. Ursache, Grund, Zweck, Ermöglichung, zeitliche Nähe Schema argumentativ Die Annahme oder Bewertung von bestimmten Ideen und Überzeugungen wird als wahr vs. falsch oder positiv vs. negativ dargestellt. Grund, Signi kanz, Wollen, Wert und Gegensatz Plan Tabelle 6.4: Textklassentypologie nach B EAUGRANDE / D RESSLER (1981: 190f.). Verwirrend ist, dass B EAUGRANDE / D RESSLER (1981: 191) Termini, mit denen B RINKER „Formen der Themenentfaltung“ bezeichnet, zur Benennung verschiedener „Funktionen“ verwenden. Die Grundgedanken entsprechen sich jedoch: Deskriptive Texte verfolgen das Ziel, den Rezipienten zu informieren und Wissensräume zu füllen; narrative Texte bezwecken, den Rezipienten zu unterhalten, wozu Ereignisse und Handlungen in eine bestimmte Reihenfolge gebracht werden; argumentative Texte versuchen den Rezipienten zu überzeugen, indem Einsichten und Meinungen als wahr oder unwahr, richtig oder falsch dargestellt werden. Über B RINKER hinausgehend ordnen B EAGRANDE / D RESSLER (1981: 95f.) den einzelnen Textklassen „globale Muster“ zu, die als chunks, d. h. als komplexe Einheiten gespeichert sind und Formen der Textkonstitution bestimmen. Deskriptiven Texten liegen Rahmen zugrunde, die das Alltagswissen als zentrale Konzepte ordnen. Diese Konzepte geben an, was zusammengehört, nicht aber, in welcher Reihenfolge das Zusammengehörige im Text entfaltet wird. Narrative Texte folgen bestimmten Schemata, die als globale Muster Ereignisse und Zustände als Abfolgen kausal oder chronologisch ordnen. Argumentative Texte folgen Plänen, die als globale Muster Handlungssequenzen so organisieren, dass sie zu einem beabsichtigten Ziel führen. Mit dieser Zuordnung von Textklasse und Muster zeigen B EAGRANDE / D RESSLER bestimmte Dominanzen; in konkreten Texten werden üblicherweise zugleich Konzepte entfaltet, einzelne Teile in eine sequentielle Reihenfolge gebracht und Handlungspläne realisiert. Daher betonen B EAUGRANDE / D RESSLER (1981: 191), dass sich in vielen Texten eine „Mischung von deskriptiven, narrativen und argumentativen Teiltexten nden“ lässt. 60 60 Die bei B EAUGRANDE / D RESSLER (1981) genannte Textklassen nden sich auch bei einem dritten ein- ussreichen Standardwerk. H EINEMANN / V IEHWEGER (1991: 237) gehen ebenfalls von einer Trias aus Deskription, Narration und Argumentation aus, die sie als „komplexe Strategiemuster“ bezeichnen. <?page no="94"?> 82 Textsortenklassi kationen 6.3 Klassi kationen chinesischer Textsorten Auch in aktuellen textlinguistischen Publikationen aus der Volksrepublik China wird nach angloamerikanischem Vorbild zwischen „nichtliterarischen“ (feiwenxue zuopin) und „literarischen“ Texten (wenxue zuopin) unterschieden. 61 Die nichtliterarischen Textklassen bezeichnet L IU (2000) als „allgemeine Texte“ und unterteilt diese entsprechend der in Tabelle 6.5 angegebenen Textsortenklassi kation weiter. Allgemeine Texte (yiban wenzhang) Textsorten (Beispiele) yingyong wenti („Gebrauchstexte“) Anweisung (mingling), Resolution (jueyi), Bekanntmachung (gonggao), Mitteilung (tongzhi), Untersuchungsbericht (diaocha baogao), amtliches Dokument (sifa wenshu) ... jixu wenti („erzählende Texte“) Nachricht (xiaoxi), Bericht (tongxun), Memoiren (huiyilu), Biographie (renwu zhuanji) ... yilun wenti („erörternde Texte“) Leitartikel (shelun), Rezension (wenyi pinglun), akademische Abhandlung (xueshu lunwen) ... shuoming wenti („erklärende Texte“) Gebrauchsanweisung (shuomingshu), Reiseinformation (daoyouci), Erläuterung (jieshuoci), populärwissenschaftliche Darstellung (kexue xiaopin) ... Tabelle 6.5: Textsortenklassi kation nach L IU (2000: 374). Die Textklasse yingyongwen („Gebrauchstexte“) ist anders als bei B RINKER (1997) kein Oberbegriff für alle nichtliterarischen Texte, vielmehr umfassen sie stark standardisierte Texte, denen bestimmte institutionelle Kontexte zugeordnet werden können. „Sie haben eine festgelegte Form (guding geshi) und nden im Alltag, beim Studium und bei der Arbeit breite Verwendung“ (L IU 2000: 400). Den „Gebrauchstexten“ stehen drei weniger stark normierte Textklassen gegenüber, die „erzählenden“ (jixu), „erörternden“ (yilun) und „erklärenden“ (shuoming) Textklassen. L IU nimmt ferner regelhafte Zusammenhänge zwischen dem zentralen Textgegenstand (xiezuo duixiang), der geeigneten Schreibmethode (xiezuo fangfa) und dem Schreibziel (xiezuo mudi) an. 61 In modernen „chinesischen“ Texttypologien wird auf die „westliche“ Gattungslehre zurückgegriffen. Hier wie dort unterscheidet man die Großgattungen Lyrik (shuqing), Epik (xushi) und Dramatik (xiju) und ordnet ihnen einzelne Genres zu (vgl. L IU 2000: 301). L IU weist explizit darauf hin, dass diese Typologie „westlichen Ursprungs“ sei und verweist u.a. auf A RISTOTELES . Die Trennung literarischer und nichtliterarischer Texte, wie sie heute in China üblich ist, kann also nicht als „chinesisch“ gelten, vielmehr haben sich chinesische Linguisten der „abendländischen“ Tradition angeschlossen. <?page no="95"?> 83 Textsortenklassi kationen Textklasse (wenti) Textgegenstand (xiezuo duixiang) Schreibmethode (xiezuo fagfa) Schreibziel (xiezuo mudi) jixuwen Menschen, Ereignisse und Szenerien; Leben, Arbeit und Kampf des Volkes Konkrete Formen (Menschen, Ereignisse und Szenerien) SCHIL- DERN und BESCHREIBEN, um Gedanken und Gefühle des Autors darzustellen (biaoda). Menschen durch Emotionen rühren (yi qing gan ren) yilunwen Ungelöste Probleme aus Gesellschaft, Politik und Ökonomie Mit formalen Mitteln der Logik (Begriff, Urteil, Schlussfolgerung) THESEN AUFSTELLEN, ARGU- MENTE VORTRAGEN und BEWEISE FÜHREN, um den Standpunkt des Autors darzustellen (biaoda). Menschen durch Begründungen überzeugen (yi li fu ren) shuomingwen Gegenstände der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion; Gegenstände der wissenschaftlichen Forschung Ausgehend von realen Zuständen der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion und der wissenschaftlichen Forschung ANALYSIE- REN und ZUSAMMENFASSEN, um Eigenart, Wesen und Gesetzmäßigkeit der Dinge darzulegen (chanming). Menschen Kenntnisse vermitteln (yi shi chuan ren) Tabelle 6.6: Textklassen nach L IU (2000: 376). Diese Darstellung lässt sich auf folgende Kernaussagen reduzieren: In jixuwen beschreibt der Autor aus persönlicher Sicht Menschen, Ereignisse und Zustände, um den Rezipienten emotional zu bewegen. In yilunwen benennt er Probleme, trägt Thesen sachlich vor und löst deren Geltungsansprüche ein, um den Rezipienten zu überzeugen. In shuomingwen erklärt er Gegenstände, um den Rezipienten zu informieren. Ein Vergleich mit den Klassi kationen deutscher Textsorten zeigt, dass L IU (2000) ebenso wie B RINKER (1997) regelhafte Beziehungen zwischen der dominierenden Textfunktion („Schreibziel“) und Formen der Themenentfaltung („Schreibmethode“) annimmt. Vergleicht man die Textfunktionen, so fallen wiederum Übereinstimmungen auf: Appelltexte (B RINKER ) bzw. argumentative Texte (B EAUGRANDE / D RESSLER ) dienen wie yilunwen (L IU ) der Verhaltens- oder Meinungsbeein ussung. Informationstexte (B RINKER ) oder deskriptive Texte (B EAUGRANDE / D RESSLER ) dienen wie shuomingwen (L IU ) der Informationsübermittlung. Deutliche Unterschiede bestehen jedoch in der Beschreibung der Kontakttexte (B RIN - KER ) bzw. der narrativen Texte (B EAUGRANDE / D RESSLER ) und den jixuwen (L IU ). Yilunwen dienen der Rührung des Rezipienten, indem der Autor seine persönliche Gefühle ausdrückt. L IU berücksichtigt also anders als B RINKER und B EAUGRANDE / D RESSLER das „leidenschaftliche Affektziel“ (P LETT 2001: 4) und den Sprecherbezug eines Textes. Innerhalb „westlicher“ sprachphilosophischer und linguistischer Theorien ist diese Perspektive L IU s „lange ziemlich unbeachtet geblieben und stiefmütterlich behandelt worden“ (H AR - RAS 1983: 214). Wie K ELLER betont, wird in Sprechakten jedoch immer auch eine bestimmte Haltung des Sprechers zum Ausdruck gebracht: Alles, was ich sage, sage ich irgendwie: nämlich bewundernd, neidisch, erwartungsvoll, ängstlich, unbeteiligt, zärtlich, skeptisch, arrogant, demütig, liebevoll, aggressiv, ablehnend, billigend etc. Zum vollen Verständnis einer kommunikativen Handlung eines Sprechers gehört es auch, daß der Gesprächspartner die Haltung, die der Sprecher mit dem Vollzug seiner kommunikativen Handlung zum Ausdruck gebracht hat [...] richtig einschätzt. (K ELLER 1977, zit. nach H ARRAS 1983: 214). <?page no="96"?> 84 Textsortenklassi kationen L IU berücksichtigt bei Darstellung der jixuwen den Sprecherbezug eines Textes, wie es K ELLER fordert. Folgt man L IU , dann berührt (gan) ein Text gerade dann den Rezipienten, wenn der Autor seinen Emotionen (qing) Ausdruck verleiht. Hierdurch unterscheiden sich jixuwen spezi sch von shuomingwen und yilunwen. Wie Tabelle 6.7 zeigt, lassen sich den einzelnen Textklassen drei unterschiedliche Bezüge sprachlicher Zeichen zuordnen. Textklasse (wenti) Schreibziel (xiezuo mudi) Wirkziele der antiken Rhetorik Bezüge des sprachlichen Zeichens jixuwen Menschen durch Emotionen rühren ( yi qing gan ren) movere Ausdruck yilunwen Menschen durch Begründungen überzeugen (yi li fu ren) probare Appell shuomingwen Menschen Kenntnisse vermitteln (yi shi chuan ren) docere Darstellung Tabelle 6.7: Typologie chinesischer Textklassen und Wirkziele der antiken Rhetorik. Ein zentraler textlinguistischer Begriff ist noch nicht diskutiert worden, den L IU in seiner eingangs zitierten De nition des Begriffs „Textsorte“ erwähnt: die jeweilige „Schreibmethode“ (xiezuo fangfa). Die Schreibmethoden unterscheiden sich durch die Art und Weise, wie etwas „ausgedrückt“ (biaoda) wird. Nach L EHKER (2001: 139) dient die jeweilige „Darstellungsart“ (biaoda fangshi) als Basiskriterium zur Differenzierung chinesischer Textsorten: „Das Unterscheidungskriterium zwischen den chinesischen Aufsatzsorten ist nicht die Textfunktion, sondern die dominante Darstellungsart.“ L IU (2000) gibt folgende allgemeine De nition: Darstellungsart (biaoda fangshi): Element bei Gestaltung der Aufsatzform, konkrete Methode des Autors, um den Inhalt (neirong) eines Aufsatzes sprachlich darzustellen (biaoxian), auch Darstellungsmethode (biaoxian shoufa) genannt. Darstellungsarten haben sich im Verlauf menschlicher Schreibpraxis herausgebildet und sich einander historisch abgelöst. Es gibt fünf grundlegende Darstellungsarten: xushu, miaoxie, shuoming, shuqing und yilun. Die ersten drei sind objektive Darstellungsformen (keguan biaoda fangshi). Ein Autor stellt objektive Dinge (shiwu) oder Prinzipien (shili) der Außenwelt sprachlich dar. Die letzten zwei sind subjektive Darstellungsarten (zhuguan biaoda fangshi). Ein Autor stellt seine subjektiven Kenntnisse oder Gefühle sprachlich dar. Alle Darstellungsformen dienen dem Inhalt (wei neirong fuwu) und unterliegen Restriktionen des Inhalts (shou neirong zhiyue). Unterschiedliche Inhalte erfordern [daher] unterschiedliche Darstellungsarten. Ebenfalls erfordern unterschiedliche Textsorten unterschiedliche dominierende Darstellungsarten (zhuyao biaoda fangshi). Die zweckmäßige Verwendung einer Darstellungsart ist wichtiges Mittel, um dem gedanklichen Gehalt (sixiang) eines Textes Tiefe zu verleihen und seine Anziehungs- (ganranli) und Überzeugungskraft (shuofuli) zu erhöhen (L IU 2000: 407). Die „Darstellungsart“ determiniert also die Form des Textaufbaus sowie die Darstellung des Textinhaltes, wobei L IU regelhafte Beziehungen von Inhalt und Form annimmt. In einzelnen Textsorten dominiert jeweils eine Darstellungsart, was Referenzbereiche verschieden gewichtet. Bei „objektiven Darstellungsarten“ dominiert die Darstellungsfunktion, bei „subjektiven Darstellungsarten“ die Ausdrucksbzw. Appellfunktion des sprachlichen Zeichens. Textfunktional gesehen verleiht der kombinierte Gebrauch der Darstellungsarten einem Text gedankliche Tiefe (Gegenstandsbezug), Anziehungskraft (Autorenbe- <?page no="97"?> 85 Textsortenklassi kationen zug) und Überzeugungskraft (Adressatenbezug). Die genannten fünf 62 Darstellungsarten charakterisiert L IU näher (siehe Tabelle 6.8). Darstellungsart Kennzeichen xushu („narrativ“) „Xushu ist eine grundlegende textuelle Darstellungsart. Sämtliche Ausführungen eines Autors zu Menschen und Ereignissen, Zeit und Raum, Ursache und Wirkung werden xushu genannt. Der Gebrauch dieser Darstellungsart ist umfassend und bezieht sich nicht nur auf allgemeine Texte (yiban wenzhang), sondern auch auf literarische Texte (wenxue zuopin). Ohne xushu lassen sich Ereignisse nur schwerlich entfalten. In Nachrichten, Untersuchungsberichten, Arbeitsprotokollen und anderen Textsorten ist der durch xushu entwickelte Inhalt konstitutiver Bestandteil des Textes. Xushu ist [daher] die wichtigste Darstellungsart. Mit ihr kann die Genese eines Ereignisses dargestellt oder eine Figur, welche die Bühne betritt, vorgestellt werden. In vielerlei Hinsicht ist xushu die Basis eines Textes.“ (L IU 2000: 407) miaoxie („deskriptiv“) „Mit miaoxie [...] werden Menschen, Ereignisse oder Szenerien detailliert (juti) und lebendig (shengdong) beschrieben (miaomo) und charakterisiert (kehua). Es ist eine grundlegende Methode, um in einem Text Formen und Bildinhalte zu entfalten, häu g zur Unterstützung von xushu. Die Besonderheit von miaoxie besteht darin, Objekte lebendig und gegenwärtig werden zu lassen und Formen zu beseelen, damit der Leser meint, sie zu sehen und zu hören. Mit miaoxie kann ebenfalls der Hintergrund eines Textes dargestellt, die Atmosphäre verdichtet oder das Gefühl des Autors bzw. einer Figur ausgedrückt werden, um den ästhetischen Reiz (yishu meili) des Textes zu erhöhen und seinen gedanklichen Gehalt (sixiang yiyi) zu vertiefen.“ (L IU 2000: 412) shuoming („explikativ“) „Shuoming ist eine grundlegende textuelle Darstellungsart. Mit einfachen und klaren Worten werden Entstehung und Entwicklung objektiver Gegenstände (Gestalt, Beschaffenheit, Aufbau, Begriff, Funktion, Ordnung usw.) vorgestellt (jieshao) und erklärt (zhushi). Die Gegenstände der Erklärung können reale Sachverhalte (P anzen, Wetterphänomene, Gerätschaften usw.) aber auch abstrakte Prinzipien (Standpunkte, Vorstellungen, Zahlen, Logik usw.) sein. Immer müssen die Charakteristika und die internen Relationen der Gegenstände objektiv expliziert werden, damit der Leser rationale Einsichten (lixingde liaojie) gewinnt.“ (L IU 2000: 415) 62 L EHKER (2001: 134) unterscheidet nur die drei Darstellungsarten yilun, jixu und shuoming. Hierzu ist anzumerken: Erstens handelt es sich bei jixu um keine Darstellungsart, die korrekte Bezeichnung lautet xushu. Zweitens werden in den mir zugänglichen chinesischen Publikationen (vgl. etwa W ANG 1998: 76) immer fünf Darstellungsarten unterschieden. Neben den drei bei L EHKER erwähnten Darstellungsarten sind noch shuqing und miaoxie zu nennen, siehe Tabelle 6.8. <?page no="98"?> 86 Textsortenklassi kationen shuqing („emotiv“) „Shuqing ist eine Methode, die es dem Autor ermöglicht, Gedanken und Gefühle auszudrücken und Menschen zu charakterisieren. Mit shuqing kann der Autor durch verschiedene Techniken seine Zu- oder Abneigung direkt oder indirekt ausdrücken, um das soziale Leben widerzuspiegeln. Besonders beim literarischen Schreiben wird shuqing häu g verwendet. Die Funktion dieser Darstellungsart besteht hauptsächlich darin, durch Emotionen Menschen zu rühren (yi qing gan ren) und die Anziehungskraft (ganranli) des Werkes zu erhöhen.“ (L IU 2000: 416) yilun („erörternd“) „Yilun bedeutet, dass der Autor Probleme, Menschen oder Dinge analysiert (fenxi) und kommentiert (pinglun), indem er seine Kenntnisse, seine Sichtweise und seine Haltung ausdrückt, damit der Leser Grundsätze erkennt (ming daoli) und Wahres von Falschem trennt (bian shifei). Yilun ist die dominierende Darstellungsart in argumentativen Texten (lunshuowen), aber auch jixuwen enthalten häu g erörternde Passagen. Zu den Merkmalen von yilun gehören: (1) Starke Subjektivität (zhuguanxing) durch deutliche Positionierung und Zielbezogenheit. (2) Hohe Allgemeingültigkeit (gaikuoxing). Daher sollte sprachlich prägnant und korrekt begründet, zusammengefasst und hervorgehoben werden, um das Wesen der Dinge aufzudecken und die Gesetzmäßigkeiten der Dinge zu zeigen.“ (L IU 2000: 417) Tabelle 6.8: Grundlegende textuelle Darstellungsarten nach L IU (2000: 407-417). Diese Übersicht beschreibt zunächst die gegenstandsbezogenen Darstellungsarten xushu, miaoxie und shuoming, dann die beiden autorenbezogenen Darstellungsarten shuqing und yilun. Die Aussagen L IU s können folgendermaßen zusammengefasst werden: (1) Als „wichtigste Darstellungsart“, als „Basis eines jeden Textes“ wird xushu bezeichnet. Ihre Aufgabe in nichtliterarischen und literarischen Texten besteht darin, Handlungen und Ereignisse in einer sequentiellen Reihenfolge anzuordnen (vgl. B EAU - GRANDE / D RESSLER 1981: 190). Dies kann in jixuwen geschehen, aber auch in anderen Textsorten kommt xushu zur Anwendung, ob in einem Untersuchungsbericht oder einem Roman. Dann fällt dieser Darstellungsart insbesondere die Aufgabe zu, zentrale Textgegenstände zu situieren. (2) Die Darstellungsart miaoxie dient ebenfalls dazu, Textgegenstände zu situieren. Jedoch unterscheidet sich die sprachliche Gestaltung, die den Textgegenständen „Lebendigkeit“ verleihen soll. Der Leser soll sich die Textgegenstände durch eine detailgenaue und lebendige Beschreibung vergegenwärtigen können. Ein ausdrückliches Ziel dieser Darstellungsart besteht darin, die ästhetische Qualität des Textes zu erhöhen. Dieser Darstellungsart ist keine Textklasse zugeordnet. (3) Der eher meinungsbetonten Darstellung miaoxie steht die eher sachbetonte Darstellungsart shuoming gegenüber. Sie ist die dominierende Darstellungsart in der Textklasse shuomingwen, kann aber grundsätzlich auch in anderen Texten auftreten, insbesondere in yingyongwen. Das Ziel dieser Darstellungsart besteht darin, dem Leser sachgerechte, „rationale Einsichten“ über die Textgegenstände zu vermitteln. <?page no="99"?> 87 Textsortenklassi kationen (4) Als erste „subjektive“, d.h. autorenbezogene Darstellungsart wird shuqing aufgeführt. Kennzeichen dieser Darstellungsart ist, dass der Autor seinen Emotionen Ausdruck verleiht, indem er etwa seine Sympathie oder Antipathie gegenüber einem Textgegenstand äußert. Dies kann in nichtliterarischen Texten (etwa jixuwen) geschehen, aber auch in literarischen Werken. Die Hauptfunktion der Darstellungsart shuqing besteht darin, den Leser durch eine affektive Ansprache zu bewegen. (5) Auch yilun gilt als autorenbezogene Darstellungsart. Der Autor drückt nicht wie bei shuqing seine Emotionen, sondern seine Meinung aus. Die „Subjektivität“ dieser Darstellungsart äußert sich darin, dass er sich eindeutig positioniert. Gleichzeitig impliziert yilun, dass die persönliche Stellungnahme sachlich begründet wird, um durch ein hohes Maß an Plausibilität den Leser zu überzeugen. Die Darstellungsart yilun dominiert in der Textklasse yilunwen, ist jedoch nicht auf diese begrenzt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass laut L IU (2000) xushu eine Darstellungsart ist, die vor allem dazu dient, Textgegenstände „narrativ“ zu situieren. Die „deskriptive“ Darstellungsart miaoxie und die „explikative“ Darstellungsart shuoming zählen ebenfalls zu den gegenstandsbezogenen Darstellungsarten, wobei unterschiedliche Wirkziele angestrebt werden: Während mit xushu Textgegenstände entfaltet werden, werden sie mit miaoxie lebendig beschrieben und mit shuoming sachlich erklärt. Bei den autorenbezogenen Darstellungsarten wird zwischen der „emotiven“ Darstellungsart shuqing und der „argumentativen“ Darstellungsart yilun unterschieden: shuqing dient der affektiven Ansprache, yilun der Überzeugung des Rezipienten. Darstellungsarten kennzeichnen nicht nur nichtliterarische Texte. Im zitierten Überblick von L IU (2000) werden die Darstellungsarten xushu und shuqing explizit auch auf literarische Texte bezogen. Auch B EAUGRANDE / D RESSLER sehen in nichtliterarischen und literarischen Texten die gleichen grundlegenden Muster realisiert: „Auch literarische Texte enthalten verschiedene Formen von Beschreibung, Erzählung und Argumentation“ (B EAUGRANDE / D RESSLER 1981: 191). Die Taxonomie der Darstellungsarten bei L IU (2000) nennt schließlich eine Ebene, die in den zitierten Beiträgen aus Deutschland ausgeblendet wird: die ästhetische Ebene. Der Darstellungsart miaoxie wird ausdrücklich die Aufgabe zugewiesen, den „ästhetischen Reiz“ (yishu meili) des Textes zu erhöhen. B RINKER verzichtet auf die Einbeziehung dieser Textfunktion. Nach Vorstellung seiner Taxonomie räumt er jedoch ein, „zu ergänzen wäre noch die sog. poetische (ästhetische) Funktion, die in literarischen Texten dominiert und primär Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen ist“ (B RINKER 1997: 105). <?page no="100"?> 88 Textsortenklassi kationen 6.4 Textsortenklassi kationen im Vergleich Der Vergleich der Textsortenklassi kationen zeigt: (1) Der Bedeutungsinhalt allgemeiner textlinguistischer Begriffe wie „Textsorte“ (vgl. wenzhang ticai) oder „Textsortenwissen“ (vgl. wenti yishi) ist in textlinguistischen Beiträgen aus China und Deutschland fast deckungsgleich. (2) Auch die Unterscheidung zwischen literarischen (vgl. wenxue zuopin) und nichtliterarischen Texten (feiwenxue zuopin) wird in textlinguistischen Beiträgen beider Länder vorgenommen. Unterschiedlich weit wird der Begriff „Gebrauchstext“ (vgl. yingyongwen) gefasst. In Deutschland bezeichnet dieser Begriff alle nichtliterarischen Texte, in China bezeichnet er eine Subklasse nichtliterarischer, „allgemeiner Texte“ (yiban wenzhang). (3) Etabliert hat sich in beiden Ländern die Unterteilung in narrative (vgl. jixuwen), deskriptive (vgl. shuomingwen) und argumentative Texte (vgl. yilunwen). Übereinstimmend wird angenommen, dass in Textklassen regelhafte Beziehungen zwischen Textfunktion (vgl. xiezuo mudi), Form der Themenentfaltung (xiezuo fangfa) und thematischen Merkmalen (vgl. xiezuo duixiang) bestehen. (4) Chinesische Textsortenklassi kationen basieren auf keinem einheitlichen Kriterium wie etwa der Textfunktion bei B RINKER . Stattdessen zeichnen sich die drei Großklassen dadurch aus, dass eine jeweils andere Dimension des sprachlichen Zeichens betont wird. Die Klasse der „erzählenden Texte“ (jixuwen) betont den Sprecherbezug, die Klasse der „erklärenden Texte“ (shuomingwen) den Weltbezug und die Klasse der „argumentativen Texte“ (yilunwen) den Adressatenbezug. (5) Das chinesische Klassi kationsmerkmal „Darstellungsart“ (biaoda fangshi) zeigt verschiedene Bezüge zur Wirklichkeit. Die „objektiven“ Darstellungsarten xushu („narrativ“), miaoxie („deskriptiv“) und shuoming („explikativ“) sind weltbezogen, die „subjektiven“ Darstellungsarten shuqing („emotiv“) und yilun („erörternd“) hingegen autorenbzw. adressatenbezogen. <?page no="101"?> 7 Die Aufsatzsorte Erörterung In Kapitel 6 ist dargestellt worden ist, wie Textsorten in Deutschland und China typologisiert werden. Das Ziel des vorliegenden Kapitels besteht darin, Grundmuster der Aufsatzsorte Erörterung zu rekonstruieren. Weil an deutschen Gymnasien kein einheitliches Lehrwerkset eingesetzt wird, untersuche ich exemplarisch gängige Lehrwerke sowie ausgewählte Schreibhilfen und Beiträge der Aufsatzdidaktik. (7.1) Nach einer Bestimmung des Begriffs „Erörterung“ (7.2) werden verschiedene Varianten der Aufsatzsorte Erörterung (Sach-, Problem- und Texterörterung) diskutiert. (7.3) Hierauf folgt die Darstellung zentraler Elemente einer Erörterung (These, Argument, Beispiel, Beleg). (7.4) Anschließend werden Muster der Grobgliederung einer Erörterung (Einleitung, Hauptteil, Schluss) und der Feingliederung des Hauptteils (linear, kontrovers) dargestellt. (7.5) Daraufhin werden Hinweise zur sprachlichen Gestaltung rekapituliert. (7.6) In Form eines Fazits werden abschließend zentrale Merkmale einer Erörterung benannt und in einem Schaubild das zentrale Muster dieser Aufsatzsorte dargestellt. 7.1 Der Begriff Erörte rn Im Kontext des bundesdeutschen Aufsatzunterrichts können zwei Verwendungsweisen des Begriffs „erörtern“ unterschieden werden: (1) Das Verb „erörtern“ wird als Oberbegriff für verschiedene sprachliche Handlungen und „Denkoperationen“ (H ÄRING / S CHURF 2001: 69) verwendet. Dem Wortstamm nach bemüht sich das Erörtern, „den ‚Ort’ eines Sachverhalts oder eines Problems zu bestimmen und möglichst vielseitig zu beleuchten. Dazu werden Informationen dargestellt sowie Standpunkte begründet und durch Beispiele belegt“ (M ETTENLEITER / K NÖBL 2000: 115). „Erörtern“ bedeutet folglich „verorten“. Einer erklärungsbzw. legitimationsbedürftigen Angelegenheit wird ein Ort zugewiesen, indem sie möglichst umfassend dargestellt und diskutiert wird. (2) Als Erörterung bezeichnet man eine schulische Aufsatzsorte, deren zentrale Aufgabe die argumentative Auseinandersetzung mit einer Frage darstellt (vgl. H AUEIS 2003: 227). „Der Erörterungsaufsatz ist die argumentative Auseinandersetzung mit einem Thema oder Problem, die möglichst vielseitig (mehrperspektivisch) geführt werden soll.“ (M ETTENLEITER / K NÖBL 2000: 428). Eine Erörterung ist keine außerschulische Textsorte, obgleich diese Aufsatzsorte als „Instrument der Entscheidungs ndung und Meinungsbildung“ (H ÄRING / S CHURF 2001: 69) typologische Merkmale mit verschiedenen wissenschaftlichen und journalistischen Textsorten (Diskussionsbeitrag, Leserbrief, Kommentar etc.) teilt. 7.2 Varianten einer Erörterung Der Begriff „erörtern“ lässt sich auf sinnkritisch verschieden klassi zierbare Warum- Fragen beziehen. Allgemein wird der Gegenstand einer Erörterung in deutschen Lehrwerken als „Problem“ bezeichnet. So hält das Lehrwerk Texte, Themen und Strukturen grundsätzlich fest: „Probleme - d. h. entweder komplizierte, noch nicht hinreichend er- <?page no="102"?> 90 Die Aufsatzsorte Erörterung schlossene Sachfragen oder offene, strittige Wertungsfragen - lassen sich mündlich oder schriftlich erörtern.“ (H ÄRING / S CHURF 2001: 69). Erörtert werden demnach Sach- oder Geltungsfragen. Ein Thema erörtern kann Verschiedenes bedeuten: einen Sachverhalt klären, gegensätzliche Positionen zu einem Thema darlegen und begründen, eine persönliche Stellungnahme zu einer aktuellen Frage begründen, eine W-Frage unter Beachtung verschiedener Aspekte beantworten usw. ... (B ERGER / K IENZLER 2000: 34). In einer Erörterung „klärt“ ein Autor einen Sachverhalt, indem er ihn „erklärt“. Oder er bezieht Stellung zu einer strittigen Frage, indem er den Geltungsanspruch einer These argumentativ einlöst. Die Ausführungen in aktuellen Lehrwerken, Aufsatzdidaktiken und Schreibhilfen zeigen, dass sich in Deutschland für den Aufsatzunterricht verschiedene prototypische Formen der Erörterung entwickelt haben. Nach Art der zentralen Warum-Frage lassen sich diese Formen den Klassen Sacherörterung oder Problemerörterung zuordnen. Sacherörterung Problemerörterung Sacherörterung antithetische Sacherörterung Problemerörterung Texterörterung B AUR -S AATWEBER / S TEPHAN (2000) Sacherörterung persönlich wertende Erörterung dialektische Erörterung (Problemaufsatz) M ETTENLEITER / K NÖBL (2000) lineare Erörterung kontroverse Erörterung textgebundene Erörterung F IX (2002) themenbezogene Erörterung textbezogene Erörterung F EIKS / K RAU ß (2004) freie Erörterung textgebundene Erörterung S CHILLING (2001) textungebundene Problemerörterung textgebundene Erörterung H ÄRING / S CHURF (2001) textunabhängige Erörterung Erörterung anhand eines Sachtextes T RABITSCH (2002) Pro-und-Kontra- Erörterung textgebundene Erörterung B ERGER / K IENZLER (2000) textgebundene Erörterung S CHURF / W AGENER (2004) Tabelle 7.1: Typologien der Aufsatzsorte Erörterung in deutschen Lehrwerken und Schreibhilfen. Die Übersicht in Tabelle 7.1 ordnet Formen der Erörterung nach typologischen Gesichtspunkten. 63 Das zentrale Unterscheidungskriterium ist die Art der zentralen Warum-Frage. Die Schüler sollen in ihren Aufsätzen entweder eine zentrale Entscheidungs- oder Ergänzungsfrage beantworten. 63 Die angegebenen Lehrwerke und Schreibhilfen verfolgen nicht alle das Ziel, Varianten der Aufsatzsorte Erörterung nach typologischen Merkmalen zu klassi zieren. Daher werden in einigen Darstellungen einzelne Varianten nicht berücksichtigt. <?page no="103"?> 91 Die Aufsatzsorte Erörterung Die Erarbeitung einer Ergänzungsfrage bezeichnen wir als Sacherörterung: Es geht darum, einen Sachverhalt zu klären, indem seine Voraussetzungen, Ursachen, Gründe, Folgen usw. dargelegt werden, also der Nachweis geführt wird, wie sich etwas in der Wirklichkeit verhält (B AUR -S AATWEBER / S TEPHAN 2000: 35). Bei der Erörterung einer Sachfrage werden die Gedanken nach dem Prinzip der linearen Steigerung angeordnet; bei einem Thema mit einer Entscheidungsfrage werden die Argumente einander gegenübergestellt (M ETTENLEITER / K NÖBL 2000: 371). Die Begriffe Ergänzungs- und Entscheidungsfrage enthalten bereits einen Hinweis darauf, was bei ihrer Beantwortung verlangt wird. Die Entscheidungsfrage fordert eine klare Stellungnahme zu einem aufgeworfenen Problem in Form einer Zustimmung oder Ablehnung. Die Ergänzungsfrage dagegen fordert weniger zu persönlicher Stellungnahme auf als zur Darlegung von Gründen und Ursachen, Folgen und Risiken eines Sachverhaltes, ohne dass der eigene Standpunkt der Beurteilung ausgewiesen werden muss, es sei denn, du wirst ausdrücklich dazu aufgefordert (B AUR -S AATWEBER / S TEPHAN 2000: 34f.). Bei einer Erörterung handelt es sich also grundsätzlich um eine Sach- oder um eine Problemerörterung. Freie Sacherörterungen werden differenziert nach Aufbau der Gliederung oder danach, ob ein Sachverhalt nur dargestellt oder überdies vom Autor bewertet wird. Problemerörterungen werden nach dem Kriterium Textbezogenheit unterteilt. So wird zwischen textungebundenen Problemerörterungen und Texterörterungen differenziert. Bei den Texterörterungen setzt sich der Autor nicht nur mit einer strittigen Frage, sondern auch mit der Darstellung dieser Frage in einem vorgegebenen Sachtext auseinander. Im Folgenden werden Sacherörterungen und Problemerörterungen einzeln vorgestellt. 64 Sacherörterung Gegenstand einer Sacherörterung ist eine Sachfrage. Meist handelt es sich bei dieser Aufsatzsorte um eine freie Erörterung. Laut S CHILLING (2001: 5) wird dieses Muster heute im Deutschunterricht eher selten geübt. In einer Sacherörterung werden Sachverhalte und Probleme, die in freier, textungebundener Diskussion thematisiert werden, in Form einer schriftlichen Diskussion gefasst. Dabei umfasst die Sacherörterung die schriftliche Darstellung der Klärung eines Sachverhalts. Es geht hierbei um die Darlegung von Gründen und Ursachen eines Sachverhalts, um dessen Folgen und Risiken. In der Regel wird in der Sacherörterung noch keine eigene Beurteilung verlangt (B AUR - S AATWEBER / S TEPHAN 2000: 33). Freie Sacherörterungen sich demnach „textungebunden“. Der Terminus „textungebunden“ ist hier nicht gleichbedeutend mit „ohne Textvorlage“, denn es ist durchaus möglich, eine „freie“ Erörterung im Anschluss an die Lektüre eines Sachtextes zu schreiben, wenn sich der Autor darauf beschränkt, einzelne Themen oder die Gesamtaussage des Textes zu erörtern (vgl. T RABITSCH 2002: 28f.). Dann ist die Erörterung „themenbezogen“ aber nicht „textbezogen“, im Unterschied zu einer themen- und textbezogenen Erörterung, in der sich der Autor auch mit der Darstellung eines Sachverhalts im Ausgangstext beschäftigt (vgl. B ERGER / K IENZLER 2000: 46). Obgleich der zentrale Textgegenstand einer Sacherörterung ein erklärungsbedürftiger Sachverhalt ist, wird in einigen Lehrwerken und Aufsatzdidaktiken auch in diesem Kontext von „Argumentation“ gesprochen: Eine Erörterung, in der das Für und Wider, das Positive und Negative eines Sachverhaltes gegenübergestellt und abgewogen werden, nennt man antithetisch (anti = gegen), weil hier einer These A mit ihren Begründungen eine These B mit ihren Begründungen gegenübergestellt wird (B AUR -S AATWEBER / S TEPHAN 2000: 61). 64 Häu g beziehen sich die Schüler nicht auf Sachtexte sondern auf literarische Texte. Auf eine Darstellung der literarischen Erörterung wird im Rahmen dieser Arbeit verzichtet. <?page no="104"?> 92 Die Aufsatzsorte Erörterung Die Bezeichnung „antithetische Sacherörterung“ ist höchst missverständlich, weil in einer Sacherörterung gar keine Thesen im eigentlichen Sinne diskutiert werden. Gemeint ist, dass ein Autor Sachverhalte in ihrer Komplexität darstellt, indem er verschiedene Aspekte eines Sachverhalts aufzeigt. 65 Festhalten lässt sich allgemein, dass die Funktion einer nicht textbezogenen Sacherörterung darin besteht, einen erklärungsbedürftigen Sachverhalt in seiner Komplexität darzustellen, mit dem Ziel, ein Wissensde zit zu beheben. Problemerörterung Im Gegensatz zu einer Sacherörterung ist der zentrale Gegenstand einer Problemerörterung eine Geltungsfrage. Tabelle 7.1 zeigt, dass zwischen zwei Varianten der Problemerörterung unterschieden wird, der nicht-textbezogenen und der textbezogenen. Laut S CHURF / W AGENER (2004: 62) werden in der gymnasialen Oberstufe vorwiegend textbezogene Problemerörterungen angefertigt, T RABITSCH (2002: 20) hält jedoch fest, dass ab dem 11. Schuljahr im Aufsatzunterricht auch nicht-textbezogene Erörterungen angefertigt werden. Nicht-textbezogene Problemerörterung Im Mittelpunkt jeder Problemerörterung steht eine strittige Angelegenheit. Vom Autor wird gefordert, Thesen zu formulieren und deren Geltungsanspruch argumentativ einzulösen. Basis der textunabhängigen Erörterung, auch Problemerörterung genannt, ist die Argumentation (=Beweisführung) als Verfahren, bei dem man sich und anderen eine Meinung darlegt, dann begründet und schließlich mit allen im Bezug dazu wichtigen Aspekten ausführt (T RA - BITSCH 2002: 20). T RABITSCH nennt hier als Grundform einer Problemerörterung die kontroverse Argumentation (vgl. K OPPERSCHMIDT 1989: 208). Eine Problemerörterung setzt also immer zwei argumentierende Subjekte voraus. Diese komplexe Form der Argumentation wird in allen untersuchten Lehrwerken und Aufsatzhilfen empfohlen. Die Schüler werden angewiesen, verschiedene Standpunkte zu vergleichen, Argumente gegenüberzustellen, um im Anschluss daran ein eigenes, abgewogenes Urteil zu fällen. Bei der Pro- und Kontra-Erörterung kommt es darauf an, gegensätzliche Stellungnahmen zu einer Frage zu berücksichtigen und Begründungen für beide Positionen darzustellen. Auf Grund dieser Darstellung trifft man dann seine eigene Entscheidung (B ERGER / K IENZLER 2000: 38). Geht es um die Darstellung gegensätzlicher Standpunkte mit einer persönlichen Entscheidung dafür (pro), dagegen (contra) oder als Kompromiss, so sprechen wir von einer sog. dialektischen Erörterung (einem sog. Problemaufsatz), z.B. „Faszination und Gefahren der Boulevard-Presse? Erörtere diese Problematik und nimm Stellung dazu! “ (M ETTENLEITER / K NÖBL 2000: 337). 65 Begrif ich ähnlich diffus ist die Formulierung „persönlich wertende Sacherörterung“ in Blickfeld Deutsch: „Verlangt eine Themenstellung die Erörterung einer Sachfrage mit persönlicher Wertung, so spricht man von einer persönlich wertenden Erörterung, z.B. ‚Erörtere, wie eine Zeitung berichten soll, damit sie deinen Erwartungen entspricht! ’“ (M ETTENLEITER / K NÖBL 2000: 337). Bei M ETTENLEI - TER / K NÖBL wird nicht dazu aufgefordert, einen Sachverhalt zu erörtern. Vielmehr wird verlangt, Forderungen als Thesen zu formulieren und diese dann zu begründen. Hierzu muss argumentiert und nicht erklärt werden. Offensichtlich sollen die Schüler in ihrer Erörterung zwei Warum-Fragen nacheinander beantworten: Sie sollen zunächst erörtern, wie eine ihnen bekannte Zeitung berichtet, um nach einer kritischen Stellungnahme in einem zweiten Schritt darzulegen, wie eine Zeitung ihrer Meinung nach berichten sollte. Dann würde im Text einem sacherörternden ein problemerörternder Teiltext folgen. <?page no="105"?> 93 Die Aufsatzsorte Erörterung Die Aufsatzdidaktiker plädieren dafür, Pro und Kontra einander gegenüberzustellen. Eine Problemerörterung soll „antithetisch“ (B AUR -S AATWEBER / S TEPHAN 2000: 63), „kontrovers“ (F IX 2002: 50), „dialektisch“ (M ETTENLEITER / K NÖBL 2000: 337) aufgebaut werden. Einige Autoren identi zieren sogar eine Problemerörterung mit einer zweisträngigen Erörterung (B AUR -S AATWEBER / S TEPHAN 2000: 63, F IX 2002: 50). Die vorrangige Aufgabe besteht darin, mögliche Gegenpositionen zu re ektieren, um daraufhin eine „Lösung“ anzubieten (B AUR -S AATWEBER / S TEPHAN 2000: 63), eine „Entscheidung“ zu treffen (B ERGER / K IENZ - LER 2000: 38), ein „Einverständnis“ zu geben oder einen „Kompromiss“ zu schließen (F IX 2002: 50). In einer nicht-textbezogenen Problemerörterung stellt ein Autor also zunächst verschiedene Standpunkte und Argumente gegenüber, um dann die zentrale Entscheidungsfrage zu beantworten. Textbezogene Problemerörterung Eine komplexere Form der Erörterung ist die textbezogene Problemerörterung. Der Autor greift nicht allein auf sein Vorwissen zurück, er setzt sich mit der Darstellung einer Angelegenheit in einem ihm vorliegenden Ausgangstext auseinander. Bei einer textbezogenen Erörterung hast du dich nicht mit einem Problem oder einem Sachverhalt auf Grund einer Themenstellung, sondern auf Grund eines vorgegebenen Textes auseinander zu setzen. Das anstehende Problem ist daher nicht in einer knappen Formulierung greifbar, es muss vielmehr erst durch die Analyse des Textes erfasst werden (F EIKS / K RAU ß 2004: 39). Im Ausgangstext wird die zu erörternde Angelegenheit nicht nur benannt, sie wird auch auf bestimmte Weise perspektiviert. Die erste Aufgabe in einer Texterörterung besteht daher darin, den Ausgangstext zu „analysieren“, um die strittige Angelegenheit zu „erfassen“. Zu diesem Erfassen gehört, die Haltung des Autors zu der strittigen Angelegenheit kritisch einzuschätzen. Dann werden wie in der nicht-textgebundenen Problemerörterung andere Positionen der Meinung des Autors gegenübergestellt, um schließlich selbst Stellung zu beziehen. Von den Schülern wird demnach ein Dreischritt erwartet. In Ihrer Erörterung stellen Sie zunächst das in diesem Text behandelte Thema, die Haltung des Autors zu diesem Problem und die Argumente, die er anführt, geordnet, sprachlich präzise und in eigenen Worten dar, vergleichen Sie die Position des Autors und seine Argumente dann mit denen anderer Autoren sowie mit Ihrer eigenen Haltung zum Thema und gelangen so zu einer differenzierten (d.h. vielschichtigen) eigenen Stellungnahme. (S CHURF / W AGENER 2004: 62). Textbezogene und nicht-textbezogene Problemerörterungen unterscheiden sich folglich dadurch, dass in einer textbezogenen Erörterung vor der Gegenüberstellung verschiedener Positionen eine Textanalyse statt ndet. 66 Da die Erörterung [eine textbezogene Problemerörterung; D. S.] - im Unterschied zur Problemerörterung - durch eine vorgegebene Position bestimmt ist, muss sich der Schreiber immer wieder deutlich auf das Thema des Textes und die Absicht des Autors beziehen. Es gibt einen weiteren Unterschied zur Problemerörterung: Dort sollst du das strittige Problem in all seinen 66 Die Auseinandersetzung mit gegnerischen Argumenten kann in einer textbezogenen Erörterung deutlich kürzer ausfallen als in einer Problemerörterung, weil die Auseinandersetzung mit einer vorgegebenen These im Vordergrund steht. <?page no="106"?> 94 Die Aufsatzsorte Erörterung Vor- und Nachteilen, also möglichst vollständig erfassen und ausführlich erörtern. Hier in der Texterörterung beziehst du dich auf die Position, die ein Autor zu einem Problem bezogen hat, und auf die Art und Weise, wie er sie darstellt. Deine Auseinandersetzung mit dem Problem ist also davon abhängig, wie dich Position und Argumentation des Verfassers in deiner Stellungnahme betreffen (B AUR -S AATWEBER / S TEPHAN 2000: 100). Der Ausgangstext gibt bei der textbezogenen Erörterung eine Position vor, auf die sich die Schüler beziehen sollen. Daher ist es anders als bei nicht-textgebundenen Erörterungen nicht erforderlich, verschiedene, nicht genannte Gegenthesen und Gegenargumente zu bedenken. Die Schüler sollen sich auf eine Position konzentrieren und diese kritisch einschätzen. Im Zentrum einer textbezogenen Problemerörterung steht demnach die kritische Auseinandersetzung mit einer vorgegebenen Position. Erst nach kritischer Re exion einer fremden Beantwortung der zentralen Geltungsfrage sollen die Schüler diese Geltungsfrage selbst beantworten. Lernziele Schüler lernen mit Sach- und Problemerörterungen verschiedene Fertigkeiten im Umgang mit Sach- und Geltungsfragen. Ganz allgemein geht es darum, sich „gründlich“ mit einer Frage zu beschäftigen, indem verschiedene Aspekte und verschiedene Positionen bedacht werden. Bei der schriftlichen Form des Erörterns, dem Erörterungsaufsatz, geht es immer um eine gründliche, überzeugende Auseinandersetzung mit einem Thema, bei der verschiedene Aspekte bedacht und im Aufsatz sinnvoll angeordnet werden müssen (z.B. verschiedene Begründungen für eine Stellungnahme oder verschiedene Gesichtspunkte, die bei der Beantwortung einer Frage zu berücksichtigen sind) (B ERGER / K IENZLER 2000: 34). Zur „gründlichen“ Beschäftigung gehört, dass sich ein Autor eingehend mit Standpunkten beschäftigt, die er selbst nicht vertritt. Notwendig ist es hierzu, sich in potenzielle Opponenten hineinzuversetzen: Man muss sich Gedanken darüber machen, welche verschiedenen Standpunkte es zu dem Problem geben könnte, um eventuell vorher zu wissen, wie dieser oder jener nun argumentieren könnte (F IX 2002: 67). F IX emp ehlt also, eine Übersicht der Argumente, die es geben könnte, anzufertigen. In der Begrif ichkeit von N AESS (1975: 134) sollen die Schüler eine „Pro-und-Kontra-Übersicht“ aller Argumente anfertigen, die ihnen bekannt sind. Sie versetzen sich hierbei in die Rolle des Proponenten und Opponenten (vgl. K OPPERSCHMIDT 1989: 208). K OCH (2000) sieht hierin einen fundamentalen Unterschied zur Rede. Im Gegensatz zur Rede sei es in einer Erörterung das Vorrecht des Autors, unentschieden bleiben zu dürfen. Die Rede ist immer auf jemand anderen gerichtet, und das Ziel jeder Rhetorik ist es, den anderen zu überzeugen. Sie setzt sogar den eigenen Meinungsbildungsprozess voraus, auch wenn dieser sich während des Redens stets neu konstituieren kann. Entscheidend ist also für die Erörterung, dass sie unentschieden bleiben darf. In ihr können das Für und Wider abgewogen werden, ohne dass von etwas Bestimmten überzeugt werden müsste. Die Stärke der Erörterung liegt gerade darin, dass sie erlaubt, feinste Differenzen und Schattierungen zu nennen, wo in der Argumentation aufgrund ihres Ziels funktionale Schwerpunkte und klare Unterscheidungen nötig sind (K OCH 2000: 60). Ein zentrales Lernziel besteht demnach darin, eine Meinung zu bilden, ohne sich sofort festlegen zu müssen. Blickfeld Deutsch emp ehlt daher, „mit sich selbst“ mögliche Pro- und Kontra-Argumente auszutauschen: <?page no="107"?> 95 Die Aufsatzsorte Erörterung Bei der Erörterung tauscht der Schreiber gewissermaßen mit sich selber Argumente für alle Seiten des Problems aus. Dabei müssen die überzeugenderen Argumente herausgearbeitet und dargestellt werden. (M ETTENLEITER / K NÖBL 2000: 100). Ein weiteres Lernziel besteht darin, eine einmal gebildete Meinung auch vertreten zu können. Hierzu ist es notwendig, eine „Pro-oder-Kontra-Übersicht“ (N AESS 1975: 135) anzufertigen, um nach der Gegenüberstellung verschiedener Positionen selbst Position zu beziehen. Nach S CHILLING komme es hierbei weniger darauf an, welche Meinung man vertritt, entscheidend sei, wie man sie vertritt. Beim Erstellen einer eigenen Erörterung wird von Ihnen keine bestimmte Meinung erwartet. [...] Es kommt bei der Erörterung nicht auf die „richtige Meinung“ an, sondern auf die Stimmigkeit, die sprachliche Gestaltung und inhaltliche Überzeugungskraft Ihrer Argumente. Ihre Darlegungen müssen eine eingehende, ernsthafte Auseinandersetzung mit der Textvorlage erkennen lassen (S CHILLING 2001: 17). Eine Erörterung wird nicht zuletzt danach beurteilt, wie Sie argumentieren, auch wenn der Inhalt Ihrer Aussagen nicht zu vernachlässigen ist. Anordnung und innere Struktur Ihres Argumentationsganges zeigen, wie weit Sie die Thematik durchdacht haben und wie geschickt Sie sie dem Leser präsentieren (S CHILLING 2001: 160). Eine persönliche Stellungnahme muss engagiert, aber rein argumentativ abgefasst sein; berücksichtigen Sie ausführlich Alternativen und stellen Sie vermeintlich Selbstverständliches in Frage. Nicht immer ist der erste Zugriff auf ein Thema haltbar. Lassen Sie sich nicht zu vorschnellen emotionalen Stellungnahmen hinreißen (S CHILLING 2001: 162). Gelernt werden soll, sich „eingehend und ernsthaft“ mit einem Problem zu befassen und „vermeintlich Selbstverständliches“ infrage zu stellen, um nicht „vorschnell und emotional“ zu urteilen. Das übergeordnete didaktische Ziel besteht also darin zu lernen, ein abgewogenes Urteil zu fällen. Schüler können gegenüber einer im Ausgangstext formulierten These eine „zustimmende, ablehnende oder die Position des Autors differenzierende Stellungnahme“ einnehmen (B AUR -S AATWEBER / S TEPHAN 2000: 99). Sehr ausführlich beschreiben H ÄRING / S CHURF (2001: 77f.) und S CHURF / W AGENER (2004: 72) die genannten drei Haltungen: A: Begründeter Widerspruch Sie sind völlig anderer Ansicht als der Autor. Um dies überzeugend darzulegen, müssen Sie in Ihrer Erörterung seine zentralen Thesen entkräften, indem Sie die Argumente, welche die These stützen, widerlegen. Hierzu bieten sich Ihnen folgende Vorgehensweisen: Gegenargumente/ Gegenbeispiele nden (z.B. durch Verweis auf eigene Erfahrungen, Fakten, andere Autoren) vorgetragene Argumente entkräften (z.B. durch Anzweifeln der Geltung der ihnen zu Grunde liegenden Normen, durch Überprüfung der Stichhaltigkeit angeführter Fakten), die Schlüssigkeit seiner Argumentation prüfen (z.B. den logischen Zusammenhang zwischen These und Argument überprüfen, den Schluss vom Einzelfall auf das Allgemeine als nicht angemessen darstellen), die Prämissen (Voraussetzungen) der Haltung des Autors aufdecken (z.B. seine weltanschauliche Haltung, sein persönliches Interesse) und so den Text kritisch einordnen. B: Begründete Zustimmung Sie stimmen mit der Position des Autors (fast) vollkommen überein. In diesem Fall ist es besonders wichtig, seiner Argumentation etwas hinzuzufügen, damit nicht der Eindruck entsteht, Sie machten sich die Erörterung zu einfach. Sie können hierzu ausführlich mit eigenen Erfahrungen oder mit Fakten aus Ihrem Hintergrundwissen die Thesen des Autors weiter abstützen, <?page no="108"?> 96 Die Aufsatzsorte Erörterung mögliche Gegenpositionen und Gegenargumente, die im Text nicht angeführt sind, formulieren und dann entkräften, die Schlüssigkeit der Argumentation des Textes nachweisen, indem Sie die wesentlichen Gedanken in eigenständigen Formulierungen rekonstruieren. C: Teilweise Übereinstimmung Sie stimmen mit einer oder mehreren der zentralen Positionen überein, anderen Gedanken möchten Sie jedoch widersprechen - die häu gste Haltung in der kritischen Erörterung. In diesem Fall bietet sich eine Mischung von Operationen aus A und B an. (S CHURF / W AGENER 2004: 72). Ein Autor gelangt nach kritischer Prüfung von Thesen und Argumenten zu einer begründeten Stellungnahme. Die „teilweise Übereinstimmung“ - laut S CHURF / W AGENER (2004: 72) die häu gste Haltung in einer Erörterung - bezeichnen B AUR -S AATWEBER / S TE - PHAN (2000: 89) als „Kompromiss“. Die Fähigkeit, nach Abwägen verschiedener Argumente eine Position zu vertreten, die auch Argumente der Gegenseite berücksichtigt, gilt als Ausweis diskursiven Denkens (vgl. K OCH 2000: 67). 67 Das übergeordnete Lernziel besteht darin, im Alltag begründet und re ektiert Stellung beziehen zu können. Im Alltag werden wir laufend mit strittigen Fragen konfrontiert. Im Meinungsstreit sind wir dabei oft zu Stellungnahmen herausgefordert, bei denen Wertungen oder Entscheidungen, auch Als-ob-Entscheidungen („Wenn du zu entscheiden hättest, was würdest du tun? “) erwartet werden. Bei der Problemerörterung handelt es sich um eine systematische Vorbereitung solcher Stellungnahmen (H ÄRING / S CHURF 2001: 81f.). 7.3 Elemente einer Erörterung These Häu g werden die Begriffe „These“ und „Argument“ in gängigen Lehrwerken alltagssprachlich gebraucht und auch auf Sacherörterungen bezogen. In ihrer allgemeinsten Form gilt eine „These“ als „Meinung“, der man zustimmt oder die man ablehnt: Als These bezeichnen wir die Meinung, der wir uns selbst anschließen, als Gegenthese die Behauptung, die wir selbst nicht vertreten (B ERGER / K IENZLER 2000: 38). Vereinzelt werden mögliche Formen einer These aufgezählt. So nennen S CHURF / W AGE - NER (2004: 66) Behauptungen, Werturteile, Empfehlungen und Forderungen. Ähnlich F IX (2002: 54), der Vermutungen, Feststellungen, Erklärungen, Beurteilungen und Empfehlungen unterscheidet. In diesen Au istungen werden sowohl faktische Sätze (Behauptungen und Vermutungen) als auch normative Sätze (Werturteile, Empfehlungen und Forderungen) genannt. Argumente Ausführlicher dargestellt und kommentiert werden unterschiedliche Typen von Argumenten. S CHILLING (2001: 14) nennt Evidenzargument, Autoritätsargument, Analogieargument und normatives Argument. Ganz ähnlich werden Argumente im Lehrwerk Texte, Themen und Strukturen unterteilt. 67 Einige Didaktiker vertreten die Ansicht, dass die geforderte Suche nach einem Kompromiss häu- g zu einem taktischen „Ja-Aber“ führt. A LT (2000: 82) zählt die Ja-Aber-Strategie zu den „faulen Tricks“: „Wenn ein Gesprächspartner einen Einwand vorbringt, reagieren die ‚Ja-Aber’-Strategen mit einer taktischen Zustimmung, der sich eine Entgegnung anschließt.“ <?page no="109"?> 97 Die Aufsatzsorte Erörterung Argument Kennzeichen (S CHURF / W AGENER 2004: Lösungen 17) Kommentar (H ÄRING / S CHURF 2001: 72f.) Faktenargument Verweis auf überprüfbare Tatsachen, Zahlen etc. Diese Art von Argument ist oft leicht nachvollziehbar. Handelt es sich bei dem Faktenargument jedoch um einen Hinweis auf einen Einzelfall, so ist dieses Argument nicht sehr beweiskräftig; denn es kann möglicherweise durch einen anderen Einzelfall widerlegt werden. Das Faktenargument ist also bei genauerer Prüfung oft nicht stichhaltig. Normatives Argument Berufung auf allgemein akzeptierte Wertmaßstäbe und Verhaltensgrundsätze In Gesellschaften, in denen eine immer größere Anzahl von Normen umstritten ist, wird eine normative Argumentation für viele Leser/ innen bzw. Zuhörer/ innen nicht unbedingt einleuchtend sein. Autoritätsargument Berufung auf eine akzeptierte Autorität Auch diese Art von Argumentation ist oft nicht zwingend, da oft andere Autoritäten mit Gegenpositionen angeführt werden können. Analogisierendes Argument Heranziehen eines vergleichbaren Sachverhalts, Parallelisierung Indirektes Argument Widerlegung oder abwertende Darstellung der Gegenmeinung Solche indirekte Argumentation erscheint zunächst triftig; sie ist jedoch logisch nicht zwingend. Tabelle 7.2: Klassi kation von Argumenten von S CHURF / W AGENER (2004) und H ÄRING / S CHURF (2001). Die Klassi kation in Tabelle 7.2 ist keine Typologie möglicher Argumentationsmuster, die aufgrund eines einheitlichen Kriteriums entwickelt wurde, wie etwa dem der verwendeten Schlussregel (vgl. K IENPOINTNER 1996: 79). Das vorrangige Ziel dieser Au istung scheint darin zu bestehen, Schüler zum Misstrauen, zur Skepsis zu erziehen. Als überzeugungskräftig gelten vor allem faktische Argumente und anerkannte Grundsätze, in den Kommentaren wird aber vor allem betont, dass viele Argumente nicht „zwingend“ oder „triftig“ sind. So seien Faktenargumente nur dann beweiskräftig, wenn sie nicht den Einzelfall betreffen. Normative Argumente seien generell anfechtbar, da es in einer pluralistischen Gesellschaft unterschiedliche Wertmaßstäbe gibt. Autoritäten gebühre Misstrauen, da diese durch konkurrierende Autoritäten immer infrage gestellt werden können. Auch indirekte Argumente widerlegten nur eine Gegenposition und begründeten nicht die eigene Position. Der Aufforderung, Argumenten skeptisch zu begegnen, schließen sich Warnungen an. H ÄRING / S CHURF nennen drei unseriöse „seit der Antike bekannte Argumentationsweisen“. <?page no="110"?> 98 Die Aufsatzsorte Erörterung Argumentum ad baculum Begründung, die sich auf Befürchtungen stützt, die bei den Lesern/ Leserinnen oder Zuhörern/ Zuhörerinnen vermutet werden. Argumentum ad misericordiam Begründung, die sich auf Mitleid oder ähnliche Gefühle stützt. Argumentum ad populum Begründung, welche darauf angelegt ist, die Gefühle einer Volksmenge zu erregen und sie zu hindern, sich ein leidenschaftsloses Urteil zu bilden. Tabelle 7.3: „Unseriöse“ Argumente nach H ÄRING / S CHURF (2001: 73). Die in Tabelle 7.3 aufgeführten Argumente gelten als „unseriös, weil sie die Gefühle und nicht die Vernunft der Leser/ innen oder Zuhörer/ innen ansprechen“ (H ÄRING / S CHURF 2001: 73). Erörterungen sollen die Vernunft ansprechen, sollen „logisch zwingend“ sein, um zu gewährleisten, dass sich Rezipienten ein leidenschaftsloses Urteil bilden können. Argumentationen, die den Rezipienten affektiv ansprechen, gelten als unredlich, da sie ihn nicht überzeugen sondern überreden und manipulieren wollen. Sehr breiten Raum nehmen Vorschläge ein, wie Argumentationen ausgebaut werden können. Die Struktur einer konkreten Argumentation wird als „Hierarchie aufeinander aufbauender Begründungen“ (P ETTER 1988: 105) gezeigt. Neben den im T OULMIN schen Schema genannten Kategorien werden „Beispiele“, „Belege“ und „Erläuterungen“ als Bausteine einer Argumentation vorgestellt (siehe Tabelle 7.4). Die These (< gr. thesis = das Setzen, die Behauptung) Die These ist der erste wesentliche Teil der Argumentation. Mit ihr wird etwas behauptet, das einem wissenschaftlichen Lehrsatz wie auch einem alltäglichen Problem gelten kann. Das Argument (< lat. argumentum = Beweisgrund) Damit ich jemanden von der Richtigkeit meiner Behauptung überzeugen kann, muss ich diese begründen: Dies geschieht z.B. in einem Nebensatz, der mit den Konjunktionen „weil“ oder „denn“ eingeleitet wird. Das Beispiel (oder der Beleg) Dadurch werden Beweisführungen anschaulich und konkret, also überzeugend. Tabelle 7.4: Elemente einer ausgebauten Argumentation nach M ETTENLEITER / K NÖBL (2000: 88). In dieser und vergleichbaren Darstellungen (vgl. B ERGER / K IENZLER 2000: 35; F IX 2002: 59f.; H ÄRING / S CHURF 2001: 72; B AUR -S AATWEBER / S TEPHAN 2000: 96) werden neben These und Argument weitere Elemente benannt. Fast alle Autoren nennen Beispiel und Beleg als Baussteine einer ausgebauten Argumentation. Beispiele dienen zur Illustration der Argumente und haben damit eine Hilfsfunktion im Rahmen argumentativer Muster (vgl. K IENPOINTNER 1996: 157). Belege illustrieren die Argumente nicht, sie sichern sie zusätzlich ab und stützen sie. Die zentrale Forderung der genannten Darstellungen in den Lehrwerken lautet: Argumentationen sollen „ausgebaut“ werden. In einer Argumentation sollen verschiedene Bausteine zu einer „Kette“ (H ÄRING / S CHURF 2001: 74) zusammengefügt werden, damit Argumente anschaulich und durch Stützungen abgesichert werden: Ist jemand von einer Meinung zu überzeugen, muss argumentiert werden. Die Behauptung ist zu begründen und mit einem Beispiel zu unterstützen nach dem Schema: Ich behaupte, dass (...), weil (...), denn (...). Je stichhaltiger Beispiel und Beleg, um so überzeugender wirkt das Argument (M ETTENLEITER / K NÖBL 2000: 100). <?page no="111"?> 99 Die Aufsatzsorte Erörterung 7.4 Gliederung einer Erörterung Eine Argumentation auf Textebene erfordert eine Grobgliederung. Sehr ausführlich werden in deutschen Lehrwerken und Schreibhilfen verschiedene Gliederungsmuster vorgestellt. Immer wird eine Dreiteilung in Einleitung, Hauptteil und Schluss empfohlen. F IX (2002: 46) gibt sogar ein Richtmaß für die Länge dieser drei Teiltexte an. Bezogen auf den Gesamtumfang des Textes emp ehlt er ein Verhältnis von 10-75-15. Die thematische Ausgestaltung der Teiltexte richtet sich nach der jeweiligen Variante der Aufsatzsorte, 68 dennoch lassen sich allgemeine Merkmale der einzelnen Teiltexte deutlich erkennen. Einleitung Die Einleitung einer Erörterung verfolgt mehrere Ziele: Sie soll „den Leser an das Thema heranführen, ihn orientieren über das Ziel (und evtl. das Verfahren) und vor allem auch sein Interesse an der Sache wecken“ (M ETTENLEITER / K NÖBL 2000: 114). Die Einleitung soll den Leser „neugierig machen“ auf den weiteren Text des Aufsatzes (vgl. T RABITSCH 2002: 24). Nach F IX gelingt dies am besten, wenn der Text mit einem „Knaller“ beginnt: Die Einleitung dient dazu, den Leser einzuführen, zu fesseln, ihn neugierig zu machen. Du kennst das aus eigener Erfahrung. Es macht Spaß einen Text zu lesen, der gleich mit einem „Knaller“ beginnt, der zum Thema hinführt und klar macht, dass sich das Weiterlesen lohnt. Eine Einleitung sollte nichts vorwegnehmen, darf aber etwas versprechen (F IX 2002: 46). Der „Knaller“ kann ganz unterschiedlich gestaltet werden. Die konsultierten Lehrwerke und Schreibhilfen geben viele Beispiele geeigneter Textanfänge (vgl. M ETTENLEITER / K NÖBL 2000: 340; B AUR -S AATWEBER / S TEPHAN 2000: 48; B ERGER / K IENZLER 2000: 36). Besonders umfangreich ist die Liste möglicher Textanfänge bei F IX (2002): [E]in eigenes Erlebnis, sofern es zum Thema passt, es bildlich bereichert, den Leser zum Lachen bringt oder allgemein interessant ist; ein aktuelles Ereignis, zum Beispiel aus den Medien; ein Rückblick (wie kam es zu diesem Thema, was ist bereits im Vorfeld geschehen, gibt es etwas, was zu diesem Thema besonders wichtig ist? ); eine Begriffsklärung (worum geht es eigentlich? ); eine Frage (das darf auch eine rhetorische sein); eine wichtige Tatsache, zum Beispiel Zahlenmaterial, Statistiken usw.; ein paralleles, vergleichbares Thema; ein persönlicher Gedanke; eine allgemeine Feststellung, die jedoch nicht langweilig sein soll; ein Zitat, eine Redewendung, ein Sprichwort, ein Slogan, der Titel eines Films, eines Buches, eines Liedes (F IX 2002: 46). Ein Autor kann eine der genannten Varianten wählen, um den Leser auf das Thema einzustimmen. Neben einem eher sachlichen Einstieg (Begriffsde nition, Zahlen, Statistik) bietet es sich an, die zentrale Fragestellung des Textes zu veranschaulichen (persönliches Erlebnis, Lieder, Filme) und einen Gegenwartsbezug herzustellen (aktuelles Ereignis). S CHILLING schlägt vor, eine aktuelle Frage in einen historischen Kontext zu stellen: „Schon in der Antike beschäftigten sich Philosophen mit der Frage nach Ursprung und Funktion von Sprache“ (S CHILLING 2001: 61). Einem „Einleitungsgedanken“ folgt die so genannte „Themenfrage“: „Die Themenfrage umreißt das Problem, zu dem du in deinem Text argumentierst.“ (F IX 2002: 46). Diese Frage markiert die „Überleitung zum Hauptteil“ (M ETTENLEITER / K NÖBL 2000: 114). 68 Während im Hauptteil einer nicht-textbezogenen Erörterung eine zentrale Fragestellung diskutiert wird, ndet im Hauptteil einer textbezogenen Erörterung sowohl eine kritische Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext als auch eine eigene begründete Stellungnahme statt (vgl. B ERGER / K IENZLER 2000: 46). <?page no="112"?> 100 Die Aufsatzsorte Erörterung F EIKS / K RAU ß (2004: 22ff.) veranschaulichen mit Beispielmaterial verschiedene Kombinationsmöglichkeiten von Ein- und Überleitung (siehe Tabelle 7.5). Einleitung Überleitung Mit einem aktuellen oder konkreten Anlass wird eingeleitet. Zur Überleitung wird das Thema als Feststellung formuliert. Mit einer Begebenheit aus dem persönlichen Erfahrungsbereich wird eingeleitet. Die Überleitung gibt eine pauschale Antwort auf die Themenstellung. Die Einleitung greift eine allgemeine Einsicht bzw. Feststellung auf. Mit einer allgemeinen Antwort zum Thema wird übergeleitet. Durch eine Anekdote wird eingeleitet. Als Überleitung wird die mit dem Thema gestellte Aufgabe genauer formuliert. Beispielhaft wird einleitend auf den wichtigen Begriff der Wegwerfgesellschaft eingegangen. Die im Thema gestellte Aufgabe wird als Überleitung genauer formuliert. Tabelle 7.5: Beispiele für Einleitungen und Überleitungen von F EIKS / K RAU ß (2004: 22ff.) Bei der Überleitung von Einleitung zu Hauptteil wird häu g die Stilebene gewechselt. Ein essayistischer Stil ist in der Einleitung opportun, mit der Überleitung beginnt die sachbetonte Erörterung des Problems im Hauptteil. Hauptteil Die Feingliederung des Hauptteils hängt von der zentralen Themenfrage und damit von der jeweiligen Variante der Aufsatzsorte Erörterung ab. In einem erörternden Text soll ein Sachverhalt entwickelt oder etwas Strittiges argumentativ geklärt werden. Das hängt von der gestellten Aufgabe und der Themenfrage ab, die entweder linear oder kontrovers zu beantworten ist (F IX 2002: 49). Alle Darstellungen von Gliederungsprinzipien lassen sich auf drei Grundformen reduzieren, die bei S CHURF / W AGENER (2004: 27) gra sch wie folgt dargestellt sind (siehe Schaubild 7.1). <?page no="113"?> 101 Die Aufsatzsorte Erörterung 1. Argumentative Entfaltung einer Position: linearer Aufbau 2. Erörterung mehrer Positionen: dialektischer Aufbau 2a. Darstellung der Positionen im Block 2b. Fortlaufende Antithetik Sie reihen die Argumente aneinander. Die stärksten Argumente kommen zuletzt. Sie führen die tragenden Argumente für und gegen Ihre Position jeweils nacheinander auf. Bei der Meinung, die Sie selbst nicht teilen, kommen die stärksten Argumente zuerst, die schwächsten zuletzt. Bei der Meinung, die Sie unterstützen, kommen die stärksten Argumente zuletzt. Sie führen die Argumente für und gegen Ihre Position abwechselnd auf. Das stärkste Argument für Ihre Position kommt zuletzt. Schaubild 7.1: Gliederungsprinzipien einer Erörterung bei S CHURF / W AGENER (2004: 27). Unter diese Mustern lassen sich die Gliederungsprinzipien der untersuchten Publikationen subsumieren, wenngleich - wie Tabelle 7.6 zeigt - uneinheitliche Termini zur Bezeichnung dieser Muster verwendet werden. Gliederungsprinzip (1) Gliederungsprinzip (2a) Gliederungsprinzip (2b) linear-steigend dialektisch (diachron) dialektisch (synchron) M ETTENLEITER / K NÖBEL (2000) linear dialektisch dialektisch (antithetisch) H ÄRING / S CHURF (2001) S CHURF / W AGENER (2004) linear kontrovers kontrovers F IX (2002) einlinig kontrovers kontrovers F EIKS / K RAU ß (2004) einlinig antithetisch dialektisch B AUR -S AATWEBER / S TEPHAN (2000) linear dialektisch T RABITSCH (2002) Tabelle 7.6: Gliederungsprinzipen des Hauptteils einer Erörterung in deutschen Lehrwerken und Schreibhilfen. <?page no="114"?> 102 Die Aufsatzsorte Erörterung Gliederungsprinzip (1): Lineare Erörterung Das Muster der linearen Erörterung wird in den untersuchten Lehrwerken und Schreibhilfen allein auf Sacherörterungen bezogen. 69 Handelt es sich bei der Themenfrage um eine Ergänzungsfrage, die du nicht mit Ja oder Nein beantworten kannst, dann wirst du eher linear erörtern, also eine Linie bei der Entwicklung deiner Gedanken verfolgen [...] Bei der linearen Erörterung bietet sich eine steigernde Anordnung an: Du willst deinen Leser zunehmend von der Richtigkeit deiner zentralen Aussage überzeugen. Daher ist es günstig, wenn das wichtigste Argument als Höhepunkt der Argumentation am Schluss deines sich steigernden Hauptteils steht. Das bedeutendste Argument ist das, für das du die besten Belege und Beispiele nden konntest (F IX 2002: 49). Kennzeichen einer linear aufgebauten Sacherörterung (vgl. F EIKS / K RAU ß 2004: 16; M ET - TENLEITER / K NÖBL 2000: 428f.) ist es, einzelne „Argumente“ 70 nach ihrem Gewicht im jeweiligen Begründungszusammenhang zu ordnen. Empfohlen wird, mit den schwächsten Argumenten zu beginnen und immer stärkere Argumente vorzutragen. Gliederungsprinzip (2): Dialektische Erörterung Für den Aufbau einer Problemerörterung wird allgemein eine dialektische Form des Aufbaus vorgeschlagen: Diese Form des Erörterns, bei der Pro- und Kontra-Argumente gegeneinander abgewogen werden, nennt man kontrovers (entgegensetzend), antithetisch (anti = gegen) oder dialektisch (gegensätzlich). Zu solchen Fragestellungen soll entweder ein Einvernehmen hergestellt, ein Kompromiss geschlossen oder eine Entscheidung herbeigeführt werden. Auf jeden Fall musst du deinen Standpunkt gegenüber anderen abgrenzen. [...] Hier handelt es sich um Entscheidungsfragen, die mit Ja oder Nein beantwortet werden können. Bei Entscheidungsfragen wird nach dem Abwägen verschiedener Standpunkte eine begründete Zustimmung oder Ablehnung zu einem aufgeworfenen Problem erwartet (F IX 2002: 50). In deutschen Lehrwerken wird die Pro- und Kontra-Argumentation als Prototyp der Problemerörterung betrachtet (vgl. F EIKS / K RAU ß 2004: 18; H ÄRING / S CHURF 2001: 82; M ETTEN - LEITER / K NÖBL 2000: 428f.). Das Lernziel besteht darin, eine strittige Angelegenheit aus verschiedenen Perspektiven „kontrovers“ betrachten zu können. Gliederungsprinzip (2a): Darstellung der Argumente im Block Das erste Schema, eine Problemerörterung zu gliedern, führt Pro- und Kontra-Argumente getrennt auf. Dieses Gliederungsmuster wird laut B ERGER / K IENZLER (2000: 41) „am häu- 69 Nur scheinbar gegen diese allgemeine Regel verstoßen H ÄRING / S CHURF (2001: 83). Sie schreiben: „Die zweite grundlegende Form der Problemerörterung ist die lineare: Hier wird ein Problem, das nicht in Pro und Kontra diskutiert werden kann, z.B. Fremdenfeindlichkeit, hinsichtlich der Hintergründe und Auswirkungen erörtert. Die Grundformel für den Argumentationsgang lautet: Problem - Ursachen - Auswirkungen - Lösungsansätze.“ H ÄRING / S CHURF beziehen die lineare Form also expressis verbis auf eine Problem- und nicht auf eine Sacherörterung. Das gewählte Beispiel zeigt jedoch, dass sie zur Erörterung einer Sachfrage auffordern. Nicht die Berechtigung der Fremdenfeindlichkeit steht zur Debatte, vielmehr wird die Fremdenfeindlichkeit als soziales Phänomen gedeutet. Lediglich die „Lösungsansätze“, also der letzte Punkt in der vorgeschlagenen „Grundformel für den Argumentationsgang“, besitzen Diskurspotenzial. 70 Da in einer Sacherörterung keine Geltungsfrage erörtert wird, wäre es angemessener von „Erklärungen“ oder „Motiven“ und nicht von „Argumenten“ zu sprechen (vgl. K OPPERSCHMIDT 1989: 73). <?page no="115"?> 103 Die Aufsatzsorte Erörterung gsten“ gewählt. F IX (2002: 66) emp ehlt sie, wenn „die direkte Zuordnung von Argument und Gegenargument schwer gelingt“. Wie S CHILLING (2001: 18) in seinem „Doppeltrichtermodell“ zeigt, sollte man bei diesem Schema mit der Position beginnen, die man selbst nicht vertritt. Der Hauptteil folgt dann der Schrittfolge „Contra eigene Meinung“, „Wendepunkt“, „Pro eigene Meinung“. Innerhalb der einzelnen Handlungsschritte sollen Thesen und Argumente nach ihrer Beweiskraft geordnet werden: „Bei der Meinung, die Sie selbst nicht teilen, kommen die stärksten Argumente zuerst, die schwächsten zuletzt. Bei der Meinung, die Sie unterstützen, kommen die stärksten Argumente zuletzt.“ (S CHURF / W AGENER 2004: 27). Gliederungsprinzip (2b): Darstellung der Argumente in stetem Wechsel Ungleich höhere Anforderungen an den Autor stellt das zweite Schema einer Problemerörterung. Argumente werden einander paarweise gegenübergestellt. Diese „synchrone“ Form der Problemerörterung sei im Gegensatz zur Darstellung der Argumente in Blöcken „lebendig, aber schwierig“ (H ÄRING / S CHURF 2001: 82; vgl. S CHILLING 2001: 61). Lebendig deshalb, weil dieses Prinzip einem realen mündlichen Streitgespräch entspricht: Beim Ansehen von Talkshows hat man oft den Eindruck, dass die „Streitparteien“ einander gar nicht zuhören, gar nicht aufeinander eingehen. Ein solches Verhalten lässt beim Zuschauer das Gefühl entstehen, dass man weder der einen Seite noch der anderen Seite zustimmen möchte, da diese offensichtlich nicht in der Lage sind, auch Gegenmeinungen gelten zu lassen. Dies musst du beim Aufbau deiner Argumentation vermeiden. Man muss sich Gedanken darüber machen, welche verschiedenen Standpunkte es zu dem Problem geben könnte. So lassen sich viele Argumente des „Gegners“ hervorragend entkräften. Nur müssen dabei auch die Argumente inhaltlich und von der Wichtigkeit her zueinander passen. Argument und Gegenargument sollten also, sofern dies möglich ist, wie auf einer Waage im Gleichgewicht gehalten werden (F IX 2002: 67). Schluss Der Schluss ist das „Finale“ eines argumentativen Textes. Der im Text entwickelte, zentrale Gedanke wird noch einmal „auf den Punkt“ gebracht (F IX 2002: 52). Damit erfüllt der Schlussteil einer Erörterung die Grundfunktion der „Bilanzierung“ (M ETTENLEITER / K NÖBL 2000: 341). Weil Bilanz gezogen werden soll, dürfe man „in keinem Fall neue Argumente bringen“ (T RABITSCH 2002: 24). Auch dürfe ein Autor bei der Bilanzierung seiner Gedanken keinesfalls „in phrasenhafte Ausführungen abgleiten“ (B AUR -S AATWEBER / S TEPHAN 2000: 53f.). Nachdem der Autor ein Fazit gezogen hat, kann er einen „offenen“ Schlussgedanken anfügen. So kann er beispielsweise einen Blick in die Zukunft werfen (vgl. F EIKS / K RAU ß 2004: 26) oder den Leser direkt ansprechen (vgl. F IX 2002: 52). Er kann auf „offene Fragen des Themas“ hinweisen und sogar „Kritik an der Art der Themenstellung“ üben (M ETTENLEITER / K NÖBL 2000: 115). Oft bilden Einleitung und Schluss einen Rahmen: Greifen Sie beispielsweise den Einleitungsgedanken kurz wieder auf, geben Sie einen Ausblick in die Zukunft, regen Sie den Leser zum Handeln an oder - vor allem dann, wenn es die Aufgabenstellung ausdrücklich verlangt - nehmen Sie persönlich Stellung (T RABITSCH 2002: 24). Der Autor kann den Leser also mit einer offenen Frage, einem Wunsch oder auch einem Appell entlassen. Hierzu könne er „besondere stilistische Mittel verwenden, z.B. ein Zitat, eine offene Frage, die zum Nachdenken anregt“ (F IX 2002: 52). <?page no="116"?> 104 Die Aufsatzsorte Erörterung 7.5 Sprachliche Angemessenheit einer Erörterung In Deutschland werden Aufsatzsorten nicht wie in China nach dem Kriterium „Darstellungsart“ klassi ziert, gleichwohl nden sich in Lehrwerken und Schreibhilfen vielfältige Hinweise auf stilistische Konventionen. Wie H AUEIS (2003: 230) festhält, kann es bei der Entfaltung argumentativer Handlungsmuster durchaus wichtig werden, narrative und deskriptive Partien zu integrieren. Die Einleitung einer Erörterung kann daher durchaus deskriptive Sachverhaltsdarstellungen oder narrative Schilderungen persönlicher Erfahrungen enthalten (vgl. M ETTEN - LEITER / K NÖBL 2000: 340, B AUR -S AATWEBER / S TEPHAN 2000: 48, B ERGER / K IENZLER 2000: 36). Diese Textpassagen dienen dazu, den Leser neugierig zu machen und ihn zur weiteren Lektüre zu animieren. Insofern ist ein essayistischer Stil zu Beginn des Textes durchaus statthaft. Im argumentativen Hauptteil ist hingegen ein sachlicher Ton erwünscht. Das Lehrwerk Texte, Themen und Strukturen lehnt einige „unseriöse“ Argumentationsweisen der klassischen Rhetorik ab, „weil sie die Gefühle und nicht die Vernunft der Leser/ innen und Zuhörer/ innen ansprechen“ (H ÄRING / S CHURF 2001: 73). Auch das Lehrwerk Blickfeld Deutsch legt den Schülern nahe, auf eine „erzählende Ausdrucksweise“ zu verzichten: Häu ge sprachliche Fehler können durch Aufmerksamkeit vermieden bzw. korrigiert werden: Das Verfehlen der angemessenen Sprachebene ist besonders schwerwiegend: z.B. durch erzählende statt beschreibend-argumentative Ausdrucksweise, Umgangssprache oder Jargon statt Hochsprache usw. (M ETTENLEITER / K NÖBL 2000: 117). Legitim sind narrative Textpartien im Hauptteil einer Erörterung nur, wenn hierdurch Argumente illustriert werden, etwa durch die Schilderung eines persönlichen Erlebnisses (vgl. F IX 2002: 59f.). Auf diese Weise können Beispiele „in der Form von exemplarischen und parabolischen Erzählungen und Beschreibungen in den argumentativen Diskurs eingeführt werden“ (H AUEIS 2003: 230). Die Beispiele dienen dazu, „abstrakte“ Thesen und Argumente lebendig zu machen. Die Sprache muss dem Ziel angemessen sein: „Erörtern“ bedeutet, den „Ort“ eines Sachverhalts oder Problems möglichst genau, überzeugend und anschaulich zu bestimmen. Deshalb eignet sich eine sachlich-beschreibende und argumentierende Sprache, die durch treffende Beispiele (Belege) konkret wird (M ETTENLEITER / K NÖBL 2000: 117). Gefordert wird demnach, den Hauptteil grundsätzlich in einem sachlichen Stil zu verfassen. „Lebendigkeit“ erhält der Text durch anschauliche Beispiele. Es handelt sich dabei um kurze Belege, nicht aber um längere narrative oder deskriptive Teiltexte. Gefordert wird für den Hauptteil „Sachlichkeit der Darstellung, Überzeugungskraft der Argumentation und die Anschaulichkeit der Belege“ (M ETTENLEITER / K NÖBL 2000: 341). Wie in der Einleitung kommen auch im Schlussteil einer Erörterung „mit dem Blick auf die Folgen von Entscheidungen antizipierende Narrationen und Deskriptionen in Betracht“ (H AUEIS 2003: 230). Der argumentative Hauptteil kann demnach durch deskriptive und narrative Textsequenzen in Einleitung und Schluss eingerahmt werden. Die Schwierigkeit bei der sprachlichen Gestaltung besteht also darin, einen „sachlichen“ aber keinen „trockenen“ Text zu schreiben. Ein Text soll „überzeugend“ und „informativ“ sein, gleichzeitig aber auch „interessant“ und „unterhaltsam“ (F IX 2002: 76). <?page no="117"?> 105 Die Aufsatzsorte Erörterung 7.6 Merkmale einer Erörterung. Fazit (1) Das zentrale Handlungsziel einer Erörterung besteht darin, ein Wissensde zit zu beheben oder einen Vorschlag zur Konsensbildung zu unterbreiten. Nach diesen Zielen werden Sach- und Problemerörterungen unterschieden. Bei Problemerörterungen trennt man zwischen einer nicht-textgebundenen und einer textgebundenen Variante. Bei letzterer besteht ein zentrales Handlungsziel darin, den Ausgangstext kritisch zu beurteilen. (2) Zentraler Textgegenstand ist eine erklärungs- oder legitimationsbedürftige Angelegenheit, die durch eine Entscheidungs- oder Ergänzungsfrage ermittelt werden kann. In der gymnasialen Oberstufe werden vorrangig Problemerörterungen und Texterörterungen geübt. (3) In Problemerörterungen wird der Geltungsanspruch von Behauptungen, Vermutungen, Werturteilen und Empfehlungen durch Argumente eingelöst. Bei diesen Argumenten kann es sich um faktische und normative Argumente handeln. Sie können durch Beispiele veranschaulicht und durch Belege abgesichert werden. (4) Die Textkonstitution wird durch das zentrale Handlungsziel gesteuert. Ein Problem wird aufgeworfen, analysiert und gelöst. Diesen Handlungsstadien entsprechen die Teiltexte Einleitung, Hauptteil und Schluss mit unterschiedlichen kommunikativen Funktionen. Einleitung und Schluss bilden häu g einen Rahmen. In der Einleitung soll das Interesse des Lesers geweckt werden, im Hauptteil soll der Leser informiert und überzeugt werden. Im Schlussteil wird die zentrale These bekräftigt. Möglich ist auch, einen Text mit einer Empfehlung oder einem Appell zu beenden. Weiterhin besteht die Möglichkeit, den Leser durch einen „offenen Schluss“ zum Weiterdenken anzuregen. (5) Die eigentliche Argumentation ndet im Hauptteil einer Erörterung statt. Vorgeschlagen werden drei Muster, die vom zentralen Textgegenstand abhängen. Bei Sacherörterungen eignet sich ein lineares, bei Problemerörterungen ein kontroverses Gliederungsprinzip. (6) Die Darstellung im Hauptteil einer Erörterung soll sich durch einen sachlichen Stil auszeichnen. Gleichwohl soll eine Erörterung nicht trocken und akademisch wirken. Deshalb wird angeraten, Argumente durch Beispiele zu illustrieren. Um das Leseinteresse zu wecken, ist es auch statthaft, eine Erörterung mit einer kurzen narrativen Textsequenz zu beginnen. Tabelle 7.7 zeigt das Grundmuster einer Erörterung, wie sie in diesem Kapitel rekonstruiert worden ist. Teiltexte Handlungen Themenentfaltung Textfunktionen 1. Einleitung Problem aufwerfen argumentativ deskriptiv narrativ überzeugen (durch Stichhaltigkeit der Begründungen) informieren (durch Komplexität der Beschreibungen und Erklärungen) unterhalten (durch Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Darstellung) 2. Hauptteil Problem analysieren linear kontrovers 3. Fazit Problem lösen Tabelle 7.7: Textmuster Erörterung in Lehrwerken und Aufsatzdidaktiken aus der Bundesrepublik Deutschland. <?page no="118"?> 8 Die Aufsatzsorte Yilunwen Bei Darstellung der Ausatzsorte Yilunwen beziehe ich mich auf das landesweit eingesetzte Lehrwerkset Yuwen (Ausgabe Shanghai, Version H). Es ist davon auszugehen, dass alle chinesischen Probanden mit diesem Lehrwerk bzw. vergleichbaren Ausgaben aus anderen Provinzen an den Mittelschulen gearbeitet haben. Ergänzend werden aktuelle Schreibhilfen und textlinguistische Monogra en aus China sowie die einzigen im westlichen Ausland verfügbaren Vorarbeiten von L EHKER (1997, 2001) konsultiert. Die Gliederung orientiert sich am Kapitel über die Aufsatzsorte Erörterung. (8.1) Zuerst wird der Begriff yilun bestimmt. (8.2) Danach werden die wichtigsten textuellen Funktionen und Varianten der Aufsatzsorte Yilunwen dargestellt, (8.3) gefolgt von Bestimmungen zentraler textlinguistischer (Textthema) und argumentationstheoretischer (These, Argument, Begründen) Begriffe. (8.4) Den Ausführungen zur Grobgliederung (Einleitung, Hauptteil, Schluss) eines Yilunwen folgt die Darstellung von Gliederungsprinzipien des Hauptteils (koordinierend, kontrastierend, sukzessiv). (8.5) Weiterhin werden Kennzeichen der dominierenden Darstellungsart yilun herausgearbeitet und Kombinationsmöglichkeiten mit anderen Darstellungsarten genannt. (8.6) In einem Fazit werden wesentliche Bestimmungen eines Yilunwen benannt und tabellarisch dargestellt. 8.1 Der Begriff yilun Der Begriff yilun kann je nach Kontext eine Handlung, eine Textklasse, eine Aufsatzsorte oder eine Darstellungsart bezeichnen. (1) Der Begriff yilun („erörtern“) setzt sich aus den Verben yi und lun zusammen, die heute beide in der Grundbedeutung „diskutieren“, „besprechen“ verwendet werden. Daher bezeichnet der Begriff yilun zunächst die Handlung des Erörterns. (2) Das Kompositum yilunwen („erörternde Texte“) bezeichnet eine Textklasse, die schulische und außerschulische Textsorten umfasst. In Exemplaren dieser Textklasse werden bestimmte Textgegenstände „erörtert“. Zur Bezeichnung der Textklasse wird in der Literatur auch der Begriff yilunxing wenzhang verwendet. (3) Bei einem Yilunwen („Erörterung“) kann es sich auch um eine Aufsatzsorte handeln. Diese auf die Institution Schule begrenzte Textsorte vereint typologische Merkmale der Textklasse yilunwen. (4) Der Begriff yilun („erörternd“) bezeichnet als Partizip außerdem die dominierende Darstellungsart (biaoda fangshi) sowohl der Textklasse als auch der Aufsatzsorte Yilunwen. Der Gebrauch dieser Darstellungsart ist nicht auf die Textklasse yilunwen beschränkt. Häu g gibt allein der Kontext Aufschluss darüber, welchen Bedeutungsinhalt der Begriff yilun umfasst. Besonders zwischen der Textklasse yilunwen und der Aufsatzsorte Yilunwen wird in chinesischsprachigen Publikationen terminologisch nicht immer streng differenziert. Zumeist bezeichnen textlinguistische Arbeiten die Textklasse, Lehrwerke und Aufsatzdidaktiken hingegen die Aufsatzsorte. 71 71 Um Missverständnisse zu vermeiden, wird in vorliegender Arbeit durchgängig die Großschreibung (Yilunwen) zur Kennzeichnung der Aufsatzsorte, die Kleinschreibung (yilunwen) zur Kennzeichnung der Textklasse verwendet. <?page no="119"?> 107 Die Aufsatzsorte Yilunwen 8.2 Varianten eines Yilunwen Einige Charakteristika der Textklasse yilunwen sind in Kapitel 6 bereits herausgearbeitet worden. Nach L IU (2000) werden in yilunwen vorrangig strittige Fragen aus Gesellschaft, Politik und Ökonomie diskutiert, Kennzeichen der „Schreibmethode“ ist, eine Position durch Argumente zu begründen. Das zentrale „Schreibziel“ besteht darin, den Leser zu überzeugen. Die „Darstellungsart“ yilun ist „subjektiv“, weil ein Autor persönlich Stellung bezieht. Z HU / Q IAN (1998) erkennen grundsätzliche Analogien zwischen mündlichen und schriftlichen Formen des Argumentierens: Obwohl wir täglich neue Erkenntnisse (renshi) über das Leben gewinnen, sind nicht alle unserer Erkenntnisse berechtigt (you jiazhide). Wenn wir daher unsere Erkenntnisse anderen mitteilen, werden diese sich nicht immer bedingungslos unserer Sichtweise (guandian) anschließen. Daher müssen wir die anderen überzeugen (shuofu), dass diese unsere Einsichten (jianjie) übernehmen. Indem wir uns bemühen, Gründe vorzutragen (tichu liyou), damit andere unsere Erkenntnisse akzeptieren, entsteht der vollständige Verlauf einer Erörterung (wanzhengde yilun guocheng). Wenn wir diesen [Verlauf] aufschreiben, dann entsteht ein vollständiger Aufsatz (wanzhengde wenzhang). Daraus wird ersichtlich, dass ein yilunwen ein Textmuster (wenzhang yangshi) darstellt, um eigene Sichtweisen (guandian) und Behauptungen (zhuzhang) darzulegen (chanming) (Z HU / Q IAN 1998: 13). Der Vorgang des Erörterns wird als komplexes Handlungsmuster der mündlichen und schriftlichen Kommunikation beschrieben. Das zentrale Handlungsziel besteht darin, die Kommunikationspartner zu bewegen, sich Erkenntnissen, Einsichten und Behauptungen anzuschließen. Dieses Ziel wird in verschiedenen Textsorten angestrebt, die gemeinsam die Textklasse yilunwen bilden. Yilunwen sind Texte, die mit Mitteln der Logik, wie Begriff, Urteil und Schlussverfahren, direkt das Wesen (benzhi) und die Gesetzmäßigkeit (guilü) der objektiven Dinge (keguan shiwu) darlegen (chanming) sowie Sichtweisen (guandian) und Haltungen (taidu) des Autors zeigen (biaoming). Yilunwen legen Ursachen dar (jiangxi daoli) und trennen Wahres von Falschem (bianming shi-fei), um dem Leser Einsichten (jianjie) und Behauptungen (zhuzhang) des Autors glaubhaft (xinfu) zu machen (L IU 2000: 375). Fast wortgleich beschreibt Z HANG (1995) Wesen und Funktion der Aufsatzsorte Yilunwen: Ein Yilunwen (andere Bezeichnung: Lunshuowen) ist eine Textsorte (wenzhang ticai), deren Hauptfunktion darin besteht, Grundsätze zu erörtern (lunzheng shili) und Wahres von Falschem zu trennen (bianbie shi-fei). Durch Mittel der Logik wie Begriff, Urteil und Schlussverfahren werden die objektiven Dinge (keguan shiwu) widergespiegelt (fanying) und Gedanken (sixiang guandian) des Autors dargestellt (biaoda) (Z HANG 1995: 136). Die zitierten Ausführungen zur allgemeinen Handlung, zur Textklasse und zur Aufsatzsorte weisen dem Autor eines Yilunwen unterschiedliche Aufgaben zu. Einerseits soll er Wesen und Gesetzmäßigkeiten der Dinge darstellen und seine gewonnenen „Einsichten“ dem Leser mitteilen. Andererseits soll er den Leser von seinen „Behauptungen“ überzeugen. Interpretiert man diese Bestimmungen mit K OPPERSCHMIDT (1989: 68-75), dann reagiert ein Yilunwen auf zwei sinnkritisch verschieden zu klassi zierende Warum-Fragen: Er beantwortet Sachfragen, wenn er das Wesen der Dinge erklärt; er beantwortet Geltungsfragen, wenn er Behauptungen rechtfertigt. In den zitierten De nitionen werden Typen möglicher Warum-Fragen nicht kategorial differenziert. Dies kennzeichnet auch viele der im Folgenden diskutierten textlin- <?page no="120"?> 108 Die Aufsatzsorte Yilunwen guistischen Beiträge, die bei Beschreibung des Yilunwen anders als K OPPERSCHMIDT (vgl. 1989: 73) nicht zwischen verschiedenen Arten von Gründen (Ursachen, Motive, Argumente) unterscheiden. Benennung der Gründe (shuo li) Die zentrale Aufgabe eines Yilunwen besteht allgemein darin, „Gründe zu benennen“ (shuo li). Der Begriff li (Grund) reicht weit in die chinesische Geistesgeschichte zurück. Nach B AUER (1974: 332) bezeichnete er ursprünglich marmorierende Unregelmäßigkeiten in der Jade und erhielt später die Bedeutung „Struktur“, „Strukturprinzip“ oder „Prinzip“. 72 Die traditionelle Lesart des Begriffs li lässt sich auch in aktuellen Bestimmungen der Handlungsziele erkennen. Gründe werden nicht benannt, um eine Privatmeinung zu rechtfertigen, immer gilt es, objektive Gesetzmäßigkeiten aufzudecken. Gründe (li) bezeichnen Wesentliches und Gesetzmäßiges (you benzhi guilüxing de dongxi), das aus den objektiven, konkreten Dingen (keguan juti shiwu) abstrahiert worden ist und Allgemeingültigkeit besitzt. Nur Gesetzmäßiges mit allgemeiner Bedeutung wird von der Bevölkerung akzeptiert. Daher besteht das primäre Ziel einer Erörterung (yilun) darin, Gründe zu benennen (shuo li) und das tief im Einzelnen (geti), in der Erscheinung (xianxiang) verborgene Wesen (benzhi) aufzudecken. Durch Analyse (fenxi) und Verknüpfung (zongjie) werden „Gründe“ (li) abstrahiert, um die soziale Praxis anzuleiten und verschiedene Probleme bei der Arbeit, beim Studium und im Leben zu lösen. Das Ziel einer Benennung der Gründe (shuo li) besteht darin, andere zu überzeugen (shuofu). Daher sind in jedem yilunwen Plausibilität (you li you ju) und Schlüssigkeit (tui li yanmi) erforderlich, um keine Angriffs äche für mögliche Entgegnungen zu bieten. Dies gilt für Texte, in denen man eine eigene These (lundian) vertritt ebenso wie für Texte, in denen man eine andere Sichtweise (guandian) widerlegt (bodao), um dieser dann seine eigene entgegenzustellen. Kurzum geht es darum, den Leser zu überzeugen (shuofu), indem man Gründe darlegt (shuoming daoli) (S HI / Y ANG / W ANG 1993: 255). S HI / Y ANG / W ANG (1993) weisen wie Z HANG (1995) einem Yilunwen die Aufgabe zu, Sach- und Geltungsfragen zu beantworten. Auffällig im zitierten Textauszug ist, dass sie die „Benennung der Gründe“ im ersten und zweiten Absatz verschieden diskutieren. Zunächst wird li als „Wesentliches“ und „Gesetzmäßiges“ interpretiert. Angesprochen wird damit die epistemologische Dimension eines Yilunwen. Er behebt ein Wissensde zit, indem er Erklärungen gibt. Im zweiten Absatz des Textes bedienen sich die Autoren der Begriffe „These“, „plausibel“, widerlegen“ und „überzeugen“ und verweisen damit auf die argumentative Dimension eines Yilunwen. Er räumt Zweifel an der Geltung einer Aussage aus, indem er Argumente nennt. Die systematische Einführung in die Aufsatzsorte Yilunwen im Lehrwerk Yuwen beginnt ebenfalls mit einer philosophischen Annäherung an den Begriff li. Schülern der Jahrgangsstufe 10.1 werden folgende Auskünfte erteilt: Erörternde Texte (yilunxing wenzhang) dienen vor allem dazu, Gründe zu benennen (shuo li): Eine Sichtweise wird vorgetragen (tichu guandian) und begründet (zhengming guandian) mit dem Ziel, andere zu überzeugen (shuofu). In erörternden Texten bezieht sich die Benennung der Gründe zwar immer auf konkretes Material (juti cailiao) oder Tatsachen (shishi), jedoch genügt es nicht, die Dinge nur als solche zu beschreiben (jiu shi lun shi) oder Tatsachen und Material der Reihe nach vorzustellen (jieshao). Erforderlich ist vielmehr, die Erscheinungen zu durchdringen (touguo 72 Nach B AUER (1974) bilden li („Strukturprinzip“) und qi („Ätherstoff“) ein Begriffspaar: „Alles Seiende sollte aus einem Zusammenwirken dieser beiden Grundkomponenten entstanden sein, wobei Ch’i den Stoff, Li seine Gestaltung hervorbrachte.“ (B AUER 1974: 332). <?page no="121"?> 109 Die Aufsatzsorte Yilunwen xianxiang) und das Wesen aufzudecken (tishi benzhi), das Besondere zu überwinden (tongguo gebie), um das Allgemeine zu erkennen (kandao yiban). So können eigene Einsichten (jianjie) verdeutlicht und richtige Sichtweisen (guandian) entwickelt werden. Um „die Erscheinungen zu durchdringen und das Wesen aufzudecken“ muss ein Autor ein zutreffendes Urteil über die substanzielle Bedeutung (xingzhi yiyi) und die Kausalität (yuanyin jieguo) eines Phänomens fällen, um dem Leser richtige Erkenntnisse (renshi) zu vermitteln. Keinesfalls sollte er aufgrund der Komplexität der Dinge die Richtung verlieren und wahr und falsch durcheinander bringen. [...] „Im Besonderen das Allgemeine erkennen“ verlangt, die inneren Beziehungen der Dinge (shiwu neizai guanxi) zu erfassen und die mögliche allgemeine Bedeutung (pubian yiyi) des jeweiligen Phänomens aufzudecken, um dem Leser einen Denkanstoß (qidi) zu geben, vom Einen zum Anderen zu gelangen (you ci ji bi) und aus dem Einzelnen das Andere zu folgern (ju yi fan san). [...] Kurzum: Nur wer gelernt hat, ein Problem zu beobachten (guancha wenti) und zu analysieren (fenxi wenti), indem er von der Ober äche ins Innere (you biao ji li) und vom Einen zum Anderen (you ci ji bi) gelangt, kann neue und profunde Kenntnisse vom Wesen und von der Bedeutung der Dinge erlangen. Beim Schreiben eines Yilunwen werden dann die „Gründe“ (li) wie Wasser das Schleusentor öffnen und ungebremst ießen (YW, KB 10.1, 130f.). Das Lehrwerk stellt die epistemologische Dimension eines Yilunwen eindeutig in den Vordergrund. Eines der zentralen Lernziele besteht diesen grundsätzlichen Ausführungen zufolge darin, die Schüler zu einer zutreffenden Analyse objektiver Phänomene anzuleiten. Erwartet wird von einem Yilunwen vor allem, das Blickfeld des Lesers zu öffnen (kaikuo duzhe shiye), um dessen Erkenntnisse zu erweitern (tigao sixiang renshi) (vgl. YW, LHB 10.1, 253). Betrachtungsweisen (guandian) Folgender Auszug aus dem Kursbuch in Jahrgangsstufe 12.2 schließt an die zitierte Darstellung des Begriffes li an. Die Schüler werden mit den Grundlagen der „Dialektischen Analyse“ (bianzheng fenxi) vertraut gemacht. Die Aufgabe eines erörternden Textes (yilunxing wenzhang) besteht in Analyse (fenxi) und Erläuterung (chanshu) von Grundsätzen (shili) und der Aufdeckung des Wesens (benzhi), der inneren Beziehungen (neizai lianxi) und der Entwicklungsgesetze (bianhua fazhan guilü) der betreffenden Dinge. Das reale Leben und die objektiven Dinge sind kompliziert und be nden sich in ständiger Bewegung. Wer mit einer statischen, isolierenden und verabsolutierenden Sichtweise ein Problem betrachtet, der wird einen solchen Aufsatz kaum schreiben können. Nur wer mit einer wissenschaftlichen, dialektischen Sicht Dinge betrachtet (guancha shiwu) und Probleme analysiert (fenxi wenti), der wird zu einem zutreffenden Fazit (jielun) gelangen. Eine „dialektische Analyse“ (bianzhengde fenxi) umfasst hauptsächlich folgende drei Aspekte: (1) Prozessuale Betrachtungsweise (fazhan de guandian) bei der Analyse eines Problems. Nichts auf der Welt ist unveränderlich. Wer mit statischem Blick die Dinge betrachtet, kann weder ihr Wesen noch ihre Gesetzmäßigkeiten durchschauen und kein zutreffendes Fazit ziehen. [...] (2) Relationale Betrachtungsweise (lianxi de guandian) bei der Analyse eines Problems. Kein Ding existiert in völliger Isolation. Bei der Analyse eines Problems müssen daher die Beziehungen zwischen den Dingen sowie die Beziehungen zwischen den konstituierenden Faktoren (goucheng yinsu) innerhalb der Dinge erfasst werden. Anderenfalls werden womöglich einige Faktoren einseitig betont und andere vernachlässigt. [...] (3) Betrachtungsweise der Einheit der Gegensätze (duili-tongyi de guandian) bei der Analyse einnehmen und die Widersprüche der Dinge sowie die Wahrscheinlichkeit wechselseitiger Veränderungen unter bestimmten Bedingungen erfassen. Bei der Betrachtung objektiver Dinge sollten nicht nur die Widersprüche selbst, sondern die Wahrscheinlichkeit der wechselseitigen Veränderungen dieser Widersprüche unter bestimmten Bedingungen erkannt werden. […] (YW, KB 12.2, 172f.). <?page no="122"?> 110 Die Aufsatzsorte Yilunwen Das Lehrbuch gibt konzise Anweisungen, wie das Wesen der Dinge aufgedeckt werden kann. Die dialektische Analyse dient dazu, die betreffenden Phänomene in ihrer Entwicklung, ihrer Widersprüchlichkeit und im Zusammenhang mit anderen Phänomenen zu erfassen. Das Gegenmodell zu einer dialektischen ist eine statische Betrachtungsweise, die „die Dinge nur als solche“ erfasst und einzelne Aussagen ohne inhaltlichen Bezug aneinander reiht. Diesen Fehler begehen nach Einschätzung des Lehrerhandbuchs viele Mittelschüler: „Sie meinen, es genüge, in Frage kommendes Material wiederzugeben. Dann fügen sie ein paar Sätze der Befürwortung oder Ablehnung hinzu und meinen, fertig sei ein Yilunwen! “ (YW, LHB 10.1, 252). Weder Kursbuch noch Lehrerhandbuch nennen den Begründer der „Dialektischen Analyse“. Es ist M AO Z EDONG und dessen Lehre vom Widerspruch, auf den Bezug genommen wird. In einer Rede vom 18. November 1957 heißt es bei M AO : Da ist kein Ort ohne Widersprüche und kein Mensch, der nicht Objekt einer Analyse sein kann. Zu denken, es gebe Menschen, die sich der Analyse entziehen, ist metaphysisch. Betrachten Sie das Atom, es ist ein Komplex verschiedener Einheiten von Gegensätzen. Atomkern und Elektronen bilden zusammen eine Einheit zweier gegensätzlicher Seiten. Der Atomkern wiederum ist die Einheit der Gegensätze Protonen und Neutronen. Ist nun von Protonen die Rede, muß von Protonen und Antiprotonen gesprochen werden; handelt es sich um Neutronen, so muß man Neutronen und Antineutronen unterscheiden. Kurzum überall Einheit der Gegensätze. Die Konzeption von der Einheit der Gegensätze, also die Dialektik, muß so breit wie nur möglich propagiert werden (M AO 1978: 586). Die Anweisungen im Lehrwerk Yuwen lesen sich wie eine Adaption von M AO s Lehre von der Einheit der Gegensätze. Die Mittelschüler sollen wie M AO die Dinge als „Komplex verschiedener Einheiten von Gegensätzen“ betrachten (vgl. YW, KB 12.2, 172). Das Lehrwerk demonstriert die dialektische Betrachtungsweise am Beispiel der sozioökonomischen Lage des Landes nach Einführung der Reform- und Öffnungspolitik. Durch die Reform und Öffnung hat sich die Ökonomie in nicht wenigen Gebieten in Stadt und Land entwickelt, das materielle Leben der Bevölkerung hat sich sichtbar verbessert. Jedoch traten im Gefolge auch einige negative Erscheinungen auf, beispielsweise Glücksspiel, Aberglaube, Extravaganz und Verschwendung, sittlicher Verfall usw. Kann man diese Erscheinungen der Reform und Öffnung anlasten? Natürlich nicht! Jedoch dienen sie uns als Warnung, beim Aufbau des Sozialismus die geistige und materielle Zivilisation gemeinsam zu entwickeln. Wenn auf diese Weise ein Problem verstanden (lijie wenti) und vorgetragen wird (tichu wenti), dann wird der Kern des Problems erfasst (zhuazhu wenti de shizhi), ohne dass man sich von ober ächlichen Erscheinungen irreführen lässt (YW, KB 10.1, 130). Wer sich von negativen Begleiterscheinungen der Reform „irreführen“ lässt, der fällt ein einseitiges Urteil. Wer hingegen negative und positive Erscheinungen in ihrer Verbundenheit erkennt, der erfasst den „Kern des Problems“. Begründeter Zuspruch und begründeter Widerspruch (lilun und bolun) Mit einem Yilunwen wird nicht nur erlernt, Dinge in ihrer Komplexität zu erfassen. Zum Wesen eines Yilunwen gehört, eine bestimmte Positionen zu vertreten (lilun) oder abzulehnen (bolun). In der didaktischen Literatur werden diese Muster vorgestellt. Lilun (eine Meinung vertreten) dient primär dazu, eine richtige These (zhengquede lundian) darzulegen, d.h. gegenüber einem bestimmten Ereignis oder Problem (auch einem Phänomen) werden eigene Ansichten (jianjie) oder Behauptungen (zhuzhang) vorgetragen. Wird in einem Yilunwen eine Meinung vertreten (lilun), dann stellt der Autor im Allgemeinen im Aufsatz eine zentrale These (zhongxin lundian) auf (W ANG 1998: 301). <?page no="123"?> 111 Die Aufsatzsorte Yilunwen Sofern ein Autor keine eigenen Thesen aufstellt und sich einer gegebenen Position nicht anschließen kann, bemüht er sich, gegnerische Thesen und Argumente zu widerlegen. Bolun (eine Meinung widerlegen) ist eine Erörterungsart (yilun fangshi), die [der Erörterungsart] lilun (eine Meinung vertreten) entgegengesetzt ist. Bolun heißt, dass ein Autor ein bestimmtes Ereignis, Phänomen oder Problem erörtert (fabiao yilun) und einseitige (pianmiande), fehlerhafte (cuowude) oder gar reaktionäre (fandongde) Ansichten oder Behauptungen kritisiert (pipan) und widerlegt (bochi) (W ANG 1998: 303). Fanbo (widerlegen) heißt, dass man eine entgegengesetzte Sichtweise (xiangfande guandian) kritisiert (pipan), indem man ihr Fehlerhaftigkeit (cuowuxing) und Widersinnigkeit (huangmiuxing) nachweist (zhengming). [...]. Ein jeder Yilunwen ist eine Einheit (zhengti). Die These wird durch Argumente gestützt (zhichi), wobei der Vorgang des Stützens dem Vorgang des Begründens (lunzheng) entspricht. Wenn wir daher eine Sichtweise kritisieren, dann müssen wir nur einen Punkt widerlegen (jipo), damit das Gesamtgefüge einstürzt (bodao) (Z HU / Q IAN 1998: 24). Die Darstellungen von lilun und bolun vereint eine untrügliche Sicherheit, dass es in Debatten immer eine „richtige“ Position gibt. Sofern ein Opponent diese nicht vertritt, wird die „Fehlerhaftigkeit“ und „Widersinnigkeit“ seiner Aussagen aufgedeckt. Es wird nicht die Möglichkeit angedeutet, dass ein Opponent auch Recht haben könnte, dass man seine Argumente prüfen sollte, bevor man zu einer eigenen Stellungnahme gelangt. Mit großer Selbstverständlichkeit wird angenommen, dass sich in einer Debatte „wahr“ und „unwahr“, „richtig“ und „falsch“ gegenüberstehen. Weil es nicht das vorherrschende Ziel ist, gegnerische Meinungen zu überprüfen, werden zwei Varianten des Yilunwen unterschieden, in denen sich der Autor von vornherein positioniert. Er schreibt entweder einen Yilunwen, in dem er seine Meinung vertritt (yilunwen de lilun wenzhang) oder einen Yilunwen, in dem er eine oppositionelle Position widerlegt (bolunwen) (vgl. W ANG 1998: 301ff.). Lernziele Zum Yilunwen kann bisher festgehalten werden: Es handelt sich um eine schulische Aufsatzsorte, in der Sach- und Geltungsfragen erörtert werden können. Das übergreifende Ziel besteht darin, „Gründe zu benennen“, wobei im schulischen Unterricht die Erörterung von Sachfragen eindeutig Vorrang genießt. Der Autor eines Yilunwen versucht, die Dinge in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit zu erfassen. Er produziert entweder einen Text, in dem er eine Position begründet oder einen Text, in dem er eine Position widerlegt. Die Ausführungen im Lehrwerk Yuwen zur „Einheit der Gegensätze“ zeigen eindringlich, dass das Lehrwerk weltanschaulichen Prinzipien verp ichtet ist. Diese ideologisch motivierten Vorgaben unterstreichen die Notwendigkeit, in kulturwissenschaftlichen Untersuchungen von institutionell verschieden gefassten, vernetzten und sich überlappenden Kollektiven auszugehen. Das Lehrwerk nur als Zeugnis der chinesischen Kultur zu betrachten, wäre meines Erachtens eine unzulässige Verkürzung. 8.3 Elemente eines Yilunwen Das Grundgerüst eines Yilunwen bilden „These“, „Argument“ und „Begründen“ (vgl. Z HANG 1995: 136). Bereits an der Unteren Mittelschule werden Schüler im Rahmen des Aufsatzunterrichts mit diesen Begriffen vertraut gemacht (vgl. L EHKER 1997: 109-114). Dort lernen sie die standardisierte Formel: „Eine These (lundian) wird durch Argumente (lunju) begründet (lunzheng).“ Diese Begriffe sowie der textlinguistische Begriff „Thema“ (lunti) werden im Folgenden dargestellt. <?page no="124"?> 112 Die Aufsatzsorte Yilunwen Textthema (lunti) Der textlinguistische Begriff „Thema“ ist weiter gefasst als der argumentstheoretische Begriff „These“. Wie gezeigt worden ist, unterscheiden S HI / Y ANG / W ANG (1993) Sach- und Geltungsfragen. Auch ihre Bestimmung des Begriffs „Thema“ zeigt, dass sie konsequent zwischen diesen beiden Ebenen trennen. Thema (lunti): Das Thema ist kurz gesagt die zu erörternde Frage (lunshu de wenti). Üblicherweise behandelt jeder yilunwen eine zentrale Frage (zhongxin wenti). Ein Autor gelangt nach Analyse (fenxi) oder Beweisführung (lunzheng) der zentralen Frage zu einem Verständnis (jianjie) oder zu einer Konklusion (jielun). Diese entsprechen der zentralen These (zhongxin lundian). Zwar ist die Beziehung zwischen Thema und These sehr eng, jedoch können Thema und These nicht gleichgesetzt werden. Ein Thema kann zweierlei Formen annehmen: Im ersten Fall ist das Thema die These, die im Text vertreten wird, Thema und These entsprechen sich dann völlig. [...] Im zweiten Fall umfasst das Thema den Gegenstand, den Bereich, die Perspektive und die Richtung der Erörterung. Dann ist die These im Thema enthalten und wird im Verlauf der Erörterung entfaltet. [...] (S HI / Y ANG / W ANG 1993: 262). S HI / Y ANG / W ANG unterscheiden hier zwei mögliche Formen des Themas: Einerseits kann das Thema durch eine These repräsentiert sein. In diesem Fall trägt ein Autor eine „Behauptung“ vor und löst im Text deren Wahrheits- oder Richtigkeitsanspruch argumentativ ein. Sie identi zieren somit die zentrale These eines Textes wie B RINKER (1997: 59) mit dem Textthema. S HI / Y ANG / W ANG (1993) beziehen den Begriff „These“ jedoch auch auf Sachfragen. Die „These“ sei dann in den zu erörternden Dingen „verborgen“ und könne qua Analyse freigelegt werden. Das Thema ist in diesem Fall keine begründungsbedürftige Behauptung, sondern eine erklärungsbedürftige Angelegenheit. These (lundian) Die These ist das zentrale Element einer Erörterung und kann durch eine Entscheidungsfrage (panduanju) ermittelt werden. Der Beispielsatz: „Ist die Verwaltungswissenschaft wichtig? “ (Z HU / Q IAN 1998: 18) fordert zu einer eindeutigen Stellungnahme auf. Wie der Begriff „Thema“ wird der Begriff „These“ doppelt bestimmt, nun als Element eines Argumentationsschemas. S HI / Y ANG / W ANG (1993) und L IU (2000) differenzieren zwischen zwei Formen einer These. These (lundian): Die These ist die grundlegende Sichtweise (guandian), ist Meinung (yijian) oder Behauptung (zhuzhang) des Autors bezüglich der zu erörternden Frage. Sie ist Kern jeder Erörterung (yilun) und beantwortet die Frage, was zu begründen ist. Die These verkörpert und bestimmt den Gedankengang eines Textes und legt dessen Qualität fest. Daher kann man die These auch als Seele eines Yilunwen bezeichnen. Zum Schreibprozess ist anzumerken, dass die These das Zentrum der gesamten Erörterung (lunshu) darstellt. Sie ist der Bezugspunkt bei Sammlung, Auswahl und Anordnung des Materials. Gleichzeitig ist die These Ausgang und Ziel der Beweisführung. Daher kann die These als Dreh- und Angelpunkt sowohl der gedanklichen Qualität (sixiang jiazhi) als auch der künstlerischen Gliederung (yishu jiegou) eines yilunwen betrachtet werden (S HI / Y ANG / W ANG 1993: 263f.). These (lundian, auch: lunduan): Die These ist eine Behauptung (zhuzhang) oder Ansicht (kanfa) des Autors bezüglich der zu erörternden Frage. Gleichzeitig ist sie der grundlegende Standpunkt (guandian) des Autors gegenüber einer Frage. Sie drückt aus, was der Autor befürwortet (kending) oder ablehnt (fouding), und verlangt eine klare Haltung (taidu) (L IU 2000: 417). Die vorgeschlagenen Kategorisierungen entsprechen sich. S HI / Y ANG / W ANG (1993) differenzieren zwischen „Behauptung“ und „Meinung“ und subsumieren beide Formen ei- <?page no="125"?> 113 Die Aufsatzsorte Yilunwen ner These unter den Begriff „Sichtweise“. Ähnlich verfährt L IU (2000), der „Behauptung“ und „Ansicht“ unterscheidet und beide Formen gleichfalls als „Sichtweise“ bezeichnet. In einem Yilunwen kann eine „These“ demnach eine legitimations- oder erklärungsbedürftige Angelegenheit sein. Ähnlich weit fasst das Lehrwerk Yuwen den Begriff. Eine These wird allgemein bezeichnet als „Leitgedanke“ (zhuti sixiang) des Textes (vgl. H E 2000: 29; L EHKER 1997: 109). Argument (lunju) Die allgemeine Funktion der Argumente besteht darin, als „Material“ (cailiao) eine These zu stützen. Die Klassi kation von Argumenten ist uneinheitlich. Einige Autoren (etwa W ANG 1998: 29) unterscheiden faktische Argumente (shishi), die den Wahrheitsanspruch, und normative Argumente (daoli), die den Richtigkeitsanspruch einer These begründen (vgl. K OPPERSCHMIDT 1989: 73; K IENPOINTNER 1996: 76). In anderen Beiträgen, wie auch im Lehrwerk Yuwen, wird jedoch zwischen Fakten und Grundsätzen differenziert. Argument (lunju): Argumente sind Material (cailiao) zur Begründung (lunzheng) einer These (lundian), die ein Autor zur Stützung (yiju) seines Standpunktes (guandian) vorträgt. Eine These basiert auf Argumenten, und Argumente dienen der These. Man unterscheidet „faktische Argumente“ (shishi lunju) und „theoretische Argumente“ (lilun lunju). Faktische Argumente umfassen reales Material (xianshi cailiao), historische Erfahrungen (lishi jingyan) usw. Theoretische Argumente umfassen die Theorie der Revolution (geming lilun), wissenschaftliche Lehrsätze (kexue dingli), Merksätze (geyan), ge ügelte Worte (mingju) usw. (L IU 2000: 417f.). Argument (lunju): Als Argumente bezeichnet man Fakten (shishi) und Grundsätze (shili), mit denen in einem Yilunwen eine These (lundian) bewiesen (zhengming) wird. Argumente sind die Bedingung, eine These aufzustellen und abzusichern. Sie bilden die Grundlage jeder Argumentation (yilun) und beantworten die Frage, womit etwas bewiesen wird. Argumente umfassen als „Fakten“ (shishi) konkrete Tatsachen (juti shishi), um Menschen (renwu) und Ereignisse (shijian) ausführlich darzustellen (shushuo). Außerdem schließen „Fakten“ auch „verallgemeinerte Fakten“ (gaikuo shishi) ein, dann werden Menschen und Ereignisse grob skizziert (jianshu). Wenn mit Fakten eine These begründet wird, spricht man von der „Beweisführung durch Beispiele“ (lizheng). Argumente umfassen als Grundsätze (shili) Devisen und Sinnsprüche berühmter Persönlichkeiten (mingren mingjia jingyan jiaju), in schriftlichen Abhandlungen festgehaltene theoretische Erklärungen (lilun chanshi), wissenschaftliche Lehrsätze (kexue dingli) und Lebensmaximen (shenghuo zhili) sowie Merksätze (geyan) und Sprichwörter (yanyu) etc. Wenn mit Grundsätzen eine These begründet wird, spricht man von einer „Beweisführung durch Belege“ (yinzheng) (S HI / Y ANG / W ANG 1993: 266). Beide Beiträge klassi zieren Typen möglicher Argumente in ähnlicher Weise. L IU (2000) trennt „faktische Argumente“ und „theoretische Argumente“, S HI / Y ANG / W ANG (1993) unterscheiden „Fakten“ und „Grundsätze“. Bei den Fakten handelt es sich um historisch verbürgte Begebenheiten, um singuläre Ereignisse aus dem Leben bekannter Persönlichkeiten. Bei den Grundsätzen handelt es sich hingegen um wissenschaftliche Lehrsätze, aber auch um Merksätze und Aussprüche berühmter Persönlichkeiten. Der Trennung von Fakten und Grundsätzen entsprechen zwei Formen der Beweisführung: Fakten werden als „Beispiele“, Grundsätze als „Belege“ angeführt. Auch das Lehrwerk Yuwen trifft die Unterscheidung von „Fakten“ und „Grundsätzen“. Anders als bei S HI / Y ANG / W ANG (1993), die Argumente selbst als Belege und Beispiele betrachten, trennt das Lehrwerk Argumente und Belege. In einem „allgemeinen Verfahren“ werden Argumente vorgetragen, ohne sie zu stützen. Bei einer „Beweisführung durch Belege“ (yinzheng) werden Argumente durch Zitate und Verweise gestützt. <?page no="126"?> 114 Die Aufsatzsorte Yilunwen „Fakten zitieren“ (yinyong shishi): Hierbei werden aus anderen Büchern und Schriften konkrete Beispiele (juti shili) zitiert (historische Fakten [lishi shishi], Geschichten aus dem Leben [shenghuo gushi], Anekdoten und Legenden [yiwen chuanshuo], Tetragramme und Anspielungen [chengyu diangu]), um den eigenen Standpunkt (guandian) zu stützen. Bei der allgemeinen Beweisführung durch Beispiele (yiban de lizheng) müssen die Fakten nur zutreffend (quezuo) sein. Zitiertes Material (yinyongde cailiao) muss dagegen an anderer Stelle bereits veröffentlicht worden sein. Je typischer (dianxing) und autoritativer (you quanweixing) das Material ist, desto überzeugender wirkt der Text. „Grundsätze zitieren“ (yinyong shili): Hierbei werden fremde Positionen (bieren guandian) zitiert. Entweder handelt es sich um in der Praxis bewährte, allgemeine Grundsätze (gongli) und Gesetze (faze) oder um weit verbreitete Sprichwörter (yanyu) und Merksätze (geyan). Sie dienen dem Autor als Bestandteil (zucheng bufen) oder als wichtige Stütze (zhongyoa yiju) seiner These (YW, KB 11.2, 173). Ungeachtet einzelner Zuordnungen der Argumente zu Fakten oder Grundsätzen fallen große Übereinstimmungen zu den Ausführungen von L IU (2000) und S HI / Y ANG / W ANG (1993) auf. Gezeigt wird, wie man die eigene Position wirkungsvoll absichern, wie man mit autoritativem „Material“ eine These stützen kann. Unmissverständlich heißt es: „Je typischer und autoritativer das Material ist, desto überzeugender wirkt der Text.“ Bemerkenswerterweise gelten nicht nur abgesicherte Erkenntnisse der modernen Wissenschaft als probates Mittel der Beweisführung. Ausdrücklich wird empfohlen, auch Merksätze, Sprichwörter und Tetragramme anzuführen, um seiner Argumentation den nötigen Nachdruck zu verleihen. 73 Begründen (lunzheng): Die Verbindung zwischen These und Argument wird durch das Schlussverfahren des „Begründens“ oder „Beweisens“ (lunzheng) hergestellt. Begründen (lunzheng) bedeutet Bildung und Gebrauch von Argumenten (lunju), um eine These (lundian) zu beweisen (zhengming). Das Ziel der Begründung ist, die logische Verbindung (luoji lianxi) von These und Argument aufzuzeigen (L IU 2000: 418). Begründen (lunzheng) ist das logische Schlussverfahren (luoji tuili), um mit Argumenten (lunju) eine These (lundian) zu beweisen (zhengming). In einem Yilunwen beantwortet die These, was zu beweisen ist, das Argument (womit etwas zu beweisen ist). Die Funktion der Begründung besteht darin, Argumente um eine These zu gruppieren (weirao), um aufzuzeigen, dass eine notwendige Verbindung (biran lianxi) zwischen These und Argument besteht, und um eine organische Einheit (youjide zhengti) dieser Elemente zu bilden (S HI / Y ANG / W ANG 1993: 269). Lernziele Mit der Aufsatzsorte Yilunwen lernen Mittelschüler, ein bestimmtes Thema zu erörtern. Dieses Thema wird durch die zentrale These des Textes repräsentiert, wobei es sich einerseits um eine Behauptung handeln kann, deren Berechtigung im Text unter Beweis gestellt 73 L EHKER (1997: 110) deutet mögliche Irritationen westlicher Leser an, wenn ihnen die oben genannten „Tatsachen“ als Argumente präsentiert werden: „Oft werden im Rahmen solcher Sachargumente - aus Sicht eines westlichen Rezipienten - Anekdoten aus dem Leben bekannter Persönlichkeiten erzählt. Daß beispielsweise der Zementboden unter dem Boden von Karl Marx in der Bibliothek abgeschliffen war, zeugt laut Lehrbuchset davon, wie beharrlich er sich Wissen aneignete, was wiederum die Hauptthese im Text Die Treppenstufen des Ideals beweisen soll.“ <?page no="127"?> 115 Die Aufsatzsorte Yilunwen wird. Andererseits kann es sich bei dem Thema auch um eine These handeln, die dem zu erörternden Gegenstand zugrunde liegt und im Text qua Analyse entwickelt wird. Unter Verwendung der Termini von K LEIN (1980) lässt sich sagen: Der Autor eines Yilunwen beruft sich mit seinen Argumenten und Belegen auf das „kollektiv Geltende“, um seiner Position Nachdruck zu verleihen. Die Schüler lernen, ihre Thesen durch autoritative „Fakten“ oder „Grundsätze“ abzusichern. Bei diesen Argumenten kann es sich um wissenschaftlich abgesicherte Lehrmeinungen, aber auch um kollektiv verankerte Merksätze oder Sprichwörter handeln. 8.4 Gliederung eines Yilunwen Seit den Thesen K APLAN s zum zyklischen Aufbau chinesischer Texte haben Beiträge im Rahmen der Kontrastiven Rhetorik wiederholt Formen der Textgliederung untersucht (vgl. Kapitel 2). Die vorherrschende Meinung ist, dass chinesische und andere ostasiatische Texte einem Gliederungsprinzip folgen, das in der chinesischen Rhetorik als qicheng-zhuan-he bekannt ist. Im zhuan-Teil werde der Textgegenstand aus einer anderen Perspektive betrachtet. Bereits L EHKER (1997: 118f.) weist mit Nachdruck darauf hin, dass sich im landesweit eingesetzten Lehrwerk Yuwen kein einziger Hinweis auf das angeblich so verbreitete viergliedrige Textmuster nden lässt. Auch H E (2000) betont, dass dieses Schema heute nicht mehr verbindlich ist: Früher dachte man (guren renwei), ein Text habe der Schrittfolge qi-cheng-zhuan-he zu folgen. Mit qi (beginnen) wird der Text eröffnet und die Position dargelegt, mit cheng (fortführen) wird üblicherweise die Position begründet, bei zhuan (wechseln) wird die Begründung vertieft oder die Position aus einer neuen Perspektive weiter begründet, bei he (zusammenfügen) wird der Text beendet und ein Fazit gezogen. Heute hingegen sollte ein musterhafter Yilunwen dem Gliederungsprinzip Einleitung (yinlun), Hauptteil (benlun) und Schluss (jielun) folgen (H E 2000: 27f.). Für einen Yilunwen wird also ausdrücklich ein dreiteiliger und kein vierteiliger Aufbau empfohlen. 74 L IU (1999) gibt folgenden kompakten Überblick über Inhalt und Funktion der drei Teiltexte: In jedem Yilunwen wird immer zuerst eine Frage aufgeworfen (tichu), gefolgt von einer Analyse (fenxi) oder einer Beweisführung (lunzheng), um das Problem zu lösen (jiejue) und Hinweise zu geben, welche Haltung (taidu) man gegenüber dem Problem einnehmen sollte. Diese Gedankenfolge (siwei yundong) entspricht einer logischen Abfolge (luoji jiegou), wobei sich die innere Logik (neizai luoji) der Gedankenfolge im äußeren Aufbau (waizai jiegou) eines Yilunwen zeigt. So entstehen auf natürliche Weise (ziran) die Teile Hinführung (xulun), Analyse (benlun) und Fazit (jielun) [...] Zusammenfassend lässt sich sagen: Bei einem gut gegliederten yilunwen konzentriert sich der Hauptteil (benlun) auf die Benennung von Gründen (shuo li). Einleitung (xulun) und Fazit (jielun) bezeichnen Anlass und Abschluss (yi qi yi shou). Sofern im Hauptteil die Gründe eingehend benannt werden und auch dem Anlass und dem Abschluss ein wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, dann entsteht ein zufriedenstellender Aufsatz (L IU 1999: 161). 74 Damit wird nicht behauptet, dass dieses traditionelle Gliederungsschema auch in anderen Textsorten keine Anwendung mehr ndet. Es wird auch nicht behauptet, dass Lerner nur Gliederungsmustern folgen, die das Lehrwerk explizit vorgibt. Betont werden soll lediglich, dass an Oberen Mittelschulen der Volksrepublik China im Aufsatzunterricht das Muster qi-cheng-zhuan-he nicht systematisch vermittelt wird. <?page no="128"?> 116 Die Aufsatzsorte Yilunwen L IU führt die äußere Dreiteilung des Textes auf die „innere Logik“ der gedanklichen Auseinandersetzung mit dem zentralen Textgegenstand zurück. Die gedanklichen Schritte werden als Handlungsfolge beschrieben: tichu wenti (Problem aufwerfen) - fenxi wenti (Problem analysieren) - jiejue wenti (Problem lösen). Einleitung (yinlun) In der Einleitung (yinlun oder xulun) eines Yilunwen wird die zentrale Frage des Textes aufgeworfen (tichu wenti). Die Hauptaufgabe dieses Teiltextes besteht darin, den Leser mit der zu erörternden Frage vertraut zu machen, um ihn auf den Hauptteil, in dem die Analyse erfolgt, vorzubereiten. Diese Einstimmung des Lesers, die Heranführung an das Textthema kann auf höchst unterschiedliche Weise geschehen. Folgender Überblick zeigt ganz verschiedene Varianten einer Einleitung. Eine gut geschriebene Einleitung (xulun) ist der erste Schritt zum Gelingen eines Yilunwen. Die Methoden, eine Einleitung zu verfassen, sind zahlreich: Manche tragen eine These vor, indem sie die Tür öffnen und den Blick auf den Berg freigeben (kai men jian shan). Manche deuten auf das Problem und benennen das Ziel. Manche geben Denkanstöße, indem sie einen Ziegelstein werfen, damit Jade zum Vorschein kommt (pao zhuan yin yu). Manche erklären Hintergründe (shuoming beijing), um den Gang der Ereignisse darzustellen, manche erzählen eine Geschichte (jiang gushi), um die These einzuführen. Manche beziehen sich auf die Vergangenheit, um auf die Gegenwart anzuspielen (jie gu yu jin) (L IU 1999: 161). Diese Übersicht zeigt ein großes Repertoire, wie ein Autor ein Problem aufwerfen kann. L IU verwendet zahlreiche Tetragramme, die metaphorisch Handlungen des Autors benennen. Dieser kann ein Problem direkt ansprechen, dann öffnet er eine Tür und gibt den Blick frei. Er kann Nebensächliches nennen, um eine fruchtbare Diskussion anzuregen, dann wirft er einen Ziegelstein, damit Jade zum Vorschein kommt. Er kann Anekdoten aus der Vergangenheit erzählen, um die Gegenwart zu beleuchten. Auch das Lehrwerk Yuwen nennt verschiedene Möglichkeiten, einen Text zu eröffnen. Um die Beweiskraft (lidu) der Argumentation (yilun) zu erhöhen, stellen einige Autoren ihren Behauptungen (zhuzhang) geeignetes Material (cailiao) oder Grundsätze (shili) voran, um dem Leser ein Sprungbrett (tiaoban) für eigene Überlegungen (sikao) und Ansichten (lijie) zu bieten, wodurch leichter eine Übereinkunft (gongshi) mit dem Autor erzielt werden kann. In argumentativen Texten (yilunxing wenzhang) werden folgende Methoden häu g angewendet: (1) Eine Methode besteht darin, mit einem ähnlichen, aber leichter zu verstehenden Beispiel (shili) zu beginnen. Durch eine Anspielung (yi ci yu bi) dringt man vom Seichten ins Tiefe (you qian ru shen) und nähert sich dem eigentlichen Thema (zhengti). [...] (2) Eine andere Methode besteht darin, zunächst darzulegen, dass alle konträren Positionen (guandian) falsch bzw. undurchführbar sind. Es werden Streitfragen gelöst (jiekai geda) und Hindernisse beseitigt (saochu zhang’ai), damit der Leser nachdenkt (sikao) und die Behauptungen (zhuzhang) des Autors übernimmt (jieshou). (3) Eine weitere Methode besteht darin, den Hintergrund (beijing) der betreffenden Frage vorzustellen (jieshao) und die Dringlichkeit (poqiexing) und Wichtigkeit (zhongyaoxing) der Frage aufzubauschen (xuanran), damit das Interesse des Lesers an der Lektüre (duzhe de yuedu xingqu) gesteigert wird. [...] Obwohl die dargestellten Methoden ihre eigenen Merkmale aufweisen, so sollten sie doch alle die inneren Beziehungen der Dinge (shiwu) und der Grundsätze (shili) erfassen und Motivationen des Lesers an der Lektüre (duzhe de yuedu xinli) berücksichtigen […] (YW, KB 12.1, 195f.). Das Lehrwerk re ektiert die Wirkungen einleitender Textpassagen auf den Leser. Ein Autor soll sich bemühen, das Interesse des Rezipienten zu wecken. Dies kann dadurch <?page no="129"?> 117 Die Aufsatzsorte Yilunwen geschehen, dass er dem Leser ein vertrautes, leicht verständliches Beispiel präsentiert, um ihn schrittweise in die eigentliche Thematik des Textes einzuweisen. Er kann Gegenargumente, die der Leser womöglich selbst vertritt, systematisch entkräften. Er kann schließlich die Dringlichkeit, das Problem zu lösen, durch eine dramatisierende Darstellung herausstellen. Die Funktion dieser drei Methoden beschreibt das Lehrwerk mit einer treffenden Metapher: Die Einleitung dient als „Sprungbrett“, um den Leser in das Thema einzustimmen und auf den Analyseteil des Textes vorzubereiten. Hauptteil (benlun) Im Hauptteil (benlun, zhenglun) wird die zentrale Frage, die in der Einleitung aufgeworfen worden ist, analysiert (fenxi wenti). Mit der Analyse verfolgt der Autor grundsätzlich das Ziel, „Ursachen zu benennen“ (shuo li), um den Leser zu „überzeugen“ (shuofu). Wie die Ausführungen zu den Begriffen „Thema“ und „These“ gezeigt haben, kann der zentrale Textgegenstand eines Yilunwen sowohl erklärungsals auch begründungsbedürftig sein. Hiervon hängt es ab, wie der Autor den Analyseteil des Textes gestaltet. Das Lehrwerk Yuwen geht sehr ausführlich auf Formen des Aufbaus eines Yilunwen ein. Zunächst werden die Schüler mit einem Grundprinzip vertraut gemacht. Das Lehrerhandbuch hält fest: „Zusammenfassen-Zerlegen“ (zong-fen-jiegou) ist grundlegendes Gliederungsprinzip aller erörternden Texte (yilunxing wenzhang). [...]. Daher sollten alle Übungen zum Aufbau erörternder Texte mit diesem Prinzip beginnen. Das Ziel besteht darin, dass die Schüler die elementare Gedankenfolge verstehen, ein Problem aufzuwerfen (tichu), zu analysieren (fenxi) und zu lösen (jiejue), damit sie das Analysieren (fenxi) und das Zusammenfassen (gaikuo) erlernen (YW, LHB 10.2, 291). Das Lehrerhandbuch bezieht das Zerlegen (fen) und Zusammenfassen (zong) auf die Handlungsschritte tichu-fenxi-jiejue (aufwerfen-analysieren-lösen). Nähere Angaben zum Aufbau eines Textes macht das Kursbuch. Die Aufgabe eines erörternden Textes besteht darin, Gründe zu benennen (shuo li). Um Grundsätze (daoli) zu verdeutlichen, muss man analysieren (fenxi) und generalisieren (gaikuo). Bezogen auf die Gliederung eines Aufsatzes bedarf es der „zusammenfassenden Darstellung“ (zongshu) und der „zerlegenden Darstellung“ (fenshu). Bei der „zusammenfassenden Darstellung“ ist es wichtig, Thema (lunti), These (lundian) oder Konklusion (jielun) zu nennen, bei der „zerlegenden Darstellung“ bedarf es einer konkreten, analysierenden Beweisführung (fenxi lunzheng). „Zusammenfassen“ und „Zerlegen“ bestimmen grundlegend den Aufbau (jiegou) eines erörternden Textes, wobei das „Zusammenfassen“ der Ausgangspunkt und das Ziel des „Zerlegens“ ist und das „Zerlegen“ der konkreten Entfaltung und kraftvollen Stützung des „Zusammenfassens“ dient. Wird „zusammengefasst“ und nicht „zerlegt“, dann wirkt der Text unweigerlich leer und nichtssagend. Wird „zerlegt“ und nicht „zusammengefasst“, dann erfasst der Leser womöglich den Hauptgedanken nicht. Je nach realer Anforderung kann man sich für das Gliederungsprinzip „Zusammenfassen-Zerlegen“ (zong-fen), „Zerlegen-Zusammenfassen“ (fen-zong) oder auch „Zusammenfassen-Zerlegen-Zusammenfassen“ (zong-fen-zong) entscheiden (YW, KB 10.2, 144). Der Grundgedanke dieser Ausführungen besteht darin, dass eine Analyse (fenshu) immer auf eine allgemeine Aussage zum Textgegenstand (zongshu) zielen soll. Wenn die Analyse nicht in eine allgemeine Aussage mündet, dann wird der Leser kaum verstehen, welchem Ziel die Analyse überhaupt dient. Wenn eine allgemeine Aussage nicht hinreichend begründet wird, dann fehlt ihr die notwendige Überzeugungskraft. Dem Autor bleibt es dabei überlassen, wann er die zentrale These nennt. Beim induktiven Verfahren (fen-zong) folgt die These der Analyse, beim deduktiven Verfahren (zong-fen) wird die <?page no="130"?> 118 Die Aufsatzsorte Yilunwen These der Analyse vorangestellt. Möglich ist auch, die Analyse einzurahmen (zong-fen- zong), dann bezieht sich das Fazit auf die eingangs geäußerte These. Nach diesen grundlegenden Ausführungen zur notwendigen Zielorientierung einer Analyse werden im Lehrwerk verschiedene Methoden vorgestellt, wie der Analyseteil strukturiert werden kann. Im Analyseteil (fenlun bufen) eines argumentativen Textes werden normalerweise mehrere Kernpunkte (yaodian) oder Teilargumente (fenlundian) aufeinander bezogen. Wenn die Kernpunkte parallel angeordnet werden (pingxing), spricht man vom „koordinierenden Aufbau“ (binglie jiegou). Wenn sie Schicht um Schicht entfaltet werden (cengceng dijin), spricht man vom „sukzessiven Aufbau“ (dijin jiegou). Wenn positive und negative Aspekte (zheng-fan) einander gegenübergestellt werden (duizhao bijiao), spricht man vom „kontrastierenden Aufbau“ (zhengfan duizhao jiegou) (YW, KB 10.2, 150). Die genannten Gliederungsprinzipien verknüpfen einzelne Aussagen zum Textgegenstand. Begrif ich unterschieden wird zwischen „Kernpunkten“ und „Teilargumenten“, was erneut auf verschiedene Warum-Fragen verweist. Untersucht ein Autor eine erklärungsbedürftige Angelegenheit, dann nennt er Kernpunkte. Untersucht er eine begründungsbedürftige Angelegenheit, dann setzt er Argumente in Beziehung. Das Lehrwerk Yuwen stellt in Jahrgangsstufe 10.2 und 11.1 verschiedene Formen des Textaufbaus im Hauptteil dar: (1) Koordinierender Aufbau (binglie jiegou): Im Allgemeinen vollzieht sich in Texten mit koordinierendem Aufbau (binglie jiegou) die Analyse (fenxi) eines Gegenstandes (shiwu) auf einer Ebene und entfaltet sich in horizontaler Richtung (hengxiang zhankai). Nehmen wir beispielsweise einen Text über das Lesen, in dem hauptsächlich diskutiert wird, wie man die Lesetechnik verbessern, seine Zeit vernünftig einteilen und Nachschlagewerke benutzen kann. Diese Gedanken werden in diesem Text parallel (pingxing) entwickelt, ohne dass ein Gedanke den anderen voraussetzt, ihn aufgreift oder entwickelt. In Texten mit sukzessivem Aufbau (cengjin jiegou) wird hingegen eine Technik der Erörterung (lunshu fangshi) angewendet, bei der die Gedanken in vertikaler Richtung entfaltet werden (zongxiang tuijin) (YW, KB 11.1, 162). (2) Kontrastierender Aufbau (zheng-fan duizhao jiegou): Werden positive und negative Aspekte (zheng-fan) oder Gegensätze (duili) gemeinsam erörtert, dann kann ein starker Kontrast (fancha) erzielt werden, der das Wesen der Dinge weit besser hervortreten lässt als eine einseitige Argumentation (danchun zhengmian yilun), wodurch die Überzeugungskraft (shuofuli) erhöht wird (YW, KB 10.2, 150). (3) Sukzessiver Aufbau (cengjin jiegou): Sukzessivität (zhuceng dijin) heißt, Schritt um Schritt voranzuschreiten (yi bu jie yi bu) und Schicht um Schicht zu vertiefen (yi ceng shen yi ceng). Ein Autor erörtert Grundsätze (chanshi shili) oder begründet Thesen (lunzheng lundian), indem er vom Prinzipiellen (yuanze) zum Konkreten (juti) oder vom Besonderen (gebie) zum Allgemeinen (yiban) gelangt, indem er an der Erscheinung (xianxiang) das Wesen (benzhi) oder am Zufälligen (ouran) das Notwendige (biran) zeigt, indem er aus der Motivation (dongji) die Wirkung (xiaoguo) folgert oder aus dem Resultat (jieguo) den Grund (yuanyin) rekonstruiert ... Im Text müssen alle inhaltlichen Aussagen miteinander verknüpft (huanhuan xiangkou) und schrittweise entfaltet werden (cengceng tuijin). Sie müssen klar gegliedert (cengci) und strukturiert (tiaoli) und innerlich miteinander verbunden werden (neizai lianxi), indem man vom Äußeren ins Innere (you biao ji li), vom Seichten in die Tiefe gelangt (you qian ru shen). Erst auf diese Weise wirkt ein Text gehaltvoll (you shendu) und überzeugend (you shuofuli) (YW, KB 11.1, 162). Die drei Gliederungsmethoden dienen dazu, im Hauptteil eines Yilunwen einzelne Aussagen zum Textgegenstand zu verknüpfen, um zu einer zentralen Textaussage zu ge- <?page no="131"?> 119 Die Aufsatzsorte Yilunwen langen. 75 Beim „koordinierenden“ Prinzip werden einzelne Aussagen zum Textgegenstand aneinandergereiht (vgl. He 2000: 34.). Beim „kontrastierenden“ Prinzip wird ein Textgegenstand „aus positiver und negativer Sicht“ (H E 2000: 34) betrachtet. Besonders empfohlen wird das „sukzessive“ Prinzip, um von der Erscheinung zum Wesen, vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Zufälligen zum Notwendigen zu gelangen. Fazit (jielun) In der Abfolge tichu-fenxi-jiejue fällt dem Schlussteil die Aufgabe zu, „das Problem zu lösen“ (jiejue wenti). Der Begriff jielun hat je nach Kontext verschiedene Bedeutungen: In einem Argumentationsmodell bedeutet er „Konklusion“, als Teil der Sequenz tichufenxi-jiejue bezieht er sich auf die Ebene des Gesamttextes und bedeutet „Fazit“. Nachdem das zentrale Problem im Hauptteil erörtert worden ist, bekräftigt der Autor im Schlussteil seine Position. Fazit (jielun): Der Schlussteil (jiewei bufen) eines Yilunwen ist notwendiges Resultat (biran jieguo) der Beweisführung (lunzheng), ist der Ort, an dem die Gedanken des Autors zusammengeführt werden, ist der letzte Teil einer logischen Gliederung. Er sollte die zentrale These (zhongxin lundian) klarstellen, indem er sie entweder zusammenfasst (guina lundian) oder vertieft (shenhua lundian). In der Praxis gilt es beim Verfassen des Schlussteils zweierlei zu vermeiden: (1) „Die Soldaten werden überhastet zurückgezogen“ (cao shuai shou bing). Dann entsteht der Eindruck, es sei versäumt worden, Wesentliches zu Ende zu führen. (2) „Einer gemalten Schlange werden Füße hinzugefügt“ (hua she tian zu). Dann werden über üssigerweise neue Ungewissheiten genannt (jiewai sheng zhi) (L IU 1999: 162). Nach L IU (1999) sollten im Schlussteil eines Yilunwen demnach die im Hauptteil entwickelten Gedanken lediglich zusammengefasst und bekräftigt werden. Zwei typische Fehler werden mit Tetragrammen umschrieben. Man soll nicht die Soldaten vorschnell zurückziehen, bevor der Kampf beendet worden ist. Das heißt, dass der Autor seinen Text nicht beenden soll, bevor er zentrale Aussagen entwickelt und ausreichend begründet hat. Außerdem soll man nicht einer gemalten Schlange Füße hinzufügen. Das heißt, ein Autor soll im Schlussteil keine neuen Fragen aufwerfen, um den Leser nicht im Ungewissen zu lassen. L IU (1999) macht außerdem auf die enge Beziehung von Einleitung und Fazit aufmerksam: Bei einem gut gegliederten Yilunwen konzentriert sich der Hauptteil (benlun) auf die Benennung von Gründen (shuo li). Einleitung (xulun) und Schlussteil (jielun) bezeichnen Anlass und Abschluss (yi qi yi shou). Sofern im Hauptteil die Gründe eingehend benannt werden und auch dem Anlass und dem Abschluss ein wenig Aufmerksamkeit geschenkt werden, dann entsteht ein zufriedenstellender Aufsatz (L IU 1999: 162). L IU benennt hier die kommunikative Funktion von Einleitung und Fazit mit den Begriffen qi (wörtlich: „sich aufrichten“) und shou (wörtlich: „zurückholen“). Sie bilden den Rahmen eines Yilunwen und lenken die Lektüre. Zunächst wird der Anlass benannt und das Interesse des Lesers geweckt. Dann wird im Hauptteil das Problem analysiert, um im Fazit wieder die Anfangsfrage aufzugreifen und sie abschließend zu beantworten. 75 In Schreibhilfen werden die im Lehrwerk genannten Grundformen häu g weiter differenziert, vgl. H E (2000: 32-34), Z HU / Q IAN (1998: 19), W ANG / Y ANG (2001: 31). <?page no="132"?> 120 Die Aufsatzsorte Yilunwen Lernziele Die Schüler lernen, einen Yilunwen in drei Teile zu gliedern, in Einleitung, Hauptteil und Schluss, die den Stadien der Sequenz „aufwerfen-analysieren-lösen“ entsprechen. Die einzelnen Teile eines Yilunwen erfüllen unterschiedliche Textfunktionen: In der Einleitung geht es darum, das Interesse des Lesers zu wecken. Hierzu kann beispielsweise der Hintergrund des zentralen Problems dargestellt oder auch eine Geschichte erzählt werden. Im Hauptteil ist es wichtig, das zentrale Problem des Textes zu analysieren, um den Leser zu überzeugen. Hierzu werden Textaussagen nach dem koordinierenden, kontrastierenden oder sukzessiven Prinzip angeordnet. Im Schlussteil wird ein Fazit gezogen, das die Position des Autors bekräftigt. 8.5 Darstellungsarten in einem Yilunwen Wie eingangs festgehalten wurde, bezeichnet der Begriff yilun eine Handlung, eine Textklasse, eine Aufsatzsorte und eine Darstellungsart. Zwischen Aufsatzsorten und Darstellungsarten bestehen zwar Abhängigkeiten, grundsätzlich ist jedoch von einer weitgehenden Kompatibilität auszugehen. Zur Darstellungsart yilun gibt H E folgende Zusammenfassung: Yilun ist eine analytische (pingxi) und begründende (shuolide) Darstellungsart (biaoda fangshi). Unter Verwendung von Tatsachen (shishi) und Grundsätzen (shili), durch logisches Schlussfolgern werden Ursachen dargelegt (chanshu daoli) und Wahres von Falschem unterschieden (mingbian shi-fei), um eine Behauptung (zhuzhang) oder Ansicht (guandian) des Autors auszudrücken (biaoda). Meist wird sie [die Darstellungsart] in erörternden Texten (lunshuo wenti) gebraucht, verwendet wird sie aber auch in Texten, die Menschen darstellen (ji ren), Ereignisse schildern (xu shi) oder Gegenstände beschreiben (zhuang wu). Dann erfüllt sie die Funktion, Wesentliches auf den Punkt zu bringen (hua long dian jing) (H E 2000: 26). In der Aufsatzsorte Yilunwen ist yilun zwar die dominierende Darstellungsart, es können jedoch auch die Darstellungsarten xushu, miaoxie und shuoming Verwendung nden. Das Lehrwerk Yuwen zeigt in Jahrgangsstufe 12.2, wie verschiedene Darstellungsarten in einem Text kombiniert werden können. Im Gegensatz zur [Darstellungsart] yilun besteht die Gemeinsamkeit [der Darstellungsarten] xushu, miaoxie und shuoming darin, dass mit ihnen Sinneseindrücke (ganzhi jieguo) ausgedrückt werden können, welche die konkreten Merkmale oder Eigenschaften der Dinge auslösen, wohingegen die Funktion [der Darstellungsart] yilun darin besteht, die inneren Gesetzmäßigkeiten (neizai guilü) oder die allgemeinen Bedeutungen (pubian yiyi) dieser Dinge zu analysieren und zusammenzufassen. [In Texten mit der dominierenden Darstellungsart] yilun bedarf es in sehr vielen Fällen auch der Darstellungsarten xushu, miaoxie und shuoming, denn diese stellen typische Beispiele und anschauliches Material mit hoher Überzeugungs- (shuofuli) und Anziehungskraft (ganranli) bereit. In Texten mit den dominierenden Darstellungsarten xushu, miaoxie oder shuoming wird wiederum häu g [die Darstellungsart] yilun benötigt, um den inhärenten, geistigen Gehalt (neizai sixiang yiyi) mit treffenden Worten aufzudecken (YW, KB 12.2, 161). Ein Yilunwen soll zwar die Gesetzmäßigkeiten der Dinge aufdecken, dem Lehrwerk zufolge genügt es jedoch nicht, den Leser nur rational anzusprechen. Die anderen Darstellungsarten sind erforderlich, um die Dinge anschaulich zu beschreiben, um den Leser auch emotional anzusprechen. Der Text gewinnt dann neben Überzeugungskraft (shuofuli) auch Anziehungskraft (ganranli). Durch den Einsatz bestimmter stilistischer Mittel wird eine Darstellung „emotional gefärbt“. <?page no="133"?> 121 Die Aufsatzsorte Yilunwen Das Schreiben eines Aufsatzes erfordert wahre Gefühle (zhenqing shigan), gleichzeitig ist auf die Methode oder Technik zu achten, diese Gefühle auszudrücken (biaoda). Die meisten Autoren herausragender Texte offenbaren ihre Emp ndungen in der konkreten Schilderung (xushu), Beschreibung (miaoxie) oder Erörterung (yilun) auf wahrhafte und natürliche Weise. [...] Erörternde Texte (yilunxing wenzi) sind an sich zwar „explizit“ (zhishuo), jedoch setzen einige Autoren stilistische Mittel (xiuci shouduan) wie Metapher (biyu) oder Parallelismus (paibi) ein, um ihren Begründungen (shuo li) Gewicht und Form zu verleihen. [...] Andere Autoren wiederum bedienen sich Darstellungsarten (biaoda fangshi) wie Ironie (fanyu) oder Abweichung (qubi), um die Durchschlagskraft ihrer Argumente (yilun de zhandou fengmang) zu steigern. [...] Die Erörterungen (yilun) in diesen Texten zeichnen sich neben ihrer Logik (luojixing) immer auch durch einen starken emotionalen Kolorit (ganqing secai) aus, wodurch sie eine eindrucksvolle Kraft erlangen (YW, KB 12.2, 162). Die Schüler lernen, in einem Yilunwen verschiedene stilistische und rhetorische Mittel einzusetzen, damit der Text verschiedene Textfunktionen erfüllen kann. Die dominierende Textfunktion ist es, den Leser zu überzeugen. Gleichzeitig versucht der Autor aber auch, den Leser zu informieren und emotional anzusprechen. 8.6 Merkmale eines Yilunwen. Fazit (1) Das zentrale Handlungsziel eines Yilunwen besteht darin, Gründe und Prinzipien zu benennen (shuo li). Bei diesen Gründen kann es sich um Ursachen, Motive oder Argumente handeln. Empfohlen werden verschiedene „Sichtweisen“ (guandian) auf Dinge und strittige Angelegenheiten. Unterschieden werden die prozessuale (fazhan), die relationale (lianxi) und die dialektische (duli-tongyi) Betrachtungsweise. (2) Zentraler Textgegenstand (lunti) eines Yilunwen ist eine erklärungsbedürftige Angelegenheit (shiwu) oder eine legitimationsbedürftige Angelegenheit (zhuzhang). (3) Ausgangspunkt eines Yilunwen ist eine These (lundian), die durch Argumente (lunju) begründet (lunzheng) wird. Bei der Klassi kation von Argumenten wird zwischen „Tatsachen“ (shishi) und „Grundsätzen“ (shili) unterschieden. In einem Yilunwen kann man einen Standpunkt vertreten (lilun) oder einen Standpunkt widerlegen (bolun). (4) Im Hauptteil werden Textaussagen nach drei Gliederungsprinzipien verknüpft, nach dem koordinierenden (binglie), kontrastierenden (zheng-fan duizhao) oder sukzessiven (cengjin) Prinzip. (5) Die Gliederung eines Yilunwen richtet sich nach einem zentralen Handlungsmuster, das drei Stadien umfasst: Ein Problem wird in der Einleitung aufgeworfen (tichu wenti), im Hauptteil analysiert (fenxi wenti) und im Schlussteil gelöst (jiejue wenti). (6) Wie in anderen Aufsatzsorten werden in einem Yilunwen verschiedene Darstellungsarten kombiniert, um verschiedene kommunikative Ziele realisieren zu können. Dominierend in einem Yilunwen ist die Darstellungsart yilun. Um einen Yilunwen auch informativ und anschaulich zu machen, wird die Verwendung der Darstellungsarten xushu, miaoxie und shuoming empfohlen. <?page no="134"?> 122 Die Aufsatzsorte Yilunwen Tabelle 8.1. veranschaulicht das Textmuster Yilunwen. Gliederung Handlungen Darstellungsarten Textfunktionen 1. Einleitung Problem aufwerfen argumentativ explikativ narrativ deskriptiv überzeugen (durch die Plausibilität der Begründung) informieren (durch die Dichte der Beschreibung) unterhalten (durch Lebendigkeit der Darstellung) berühren (durch den Ausdruck persönlicher Gefühle) 2. Hauptteil Problem analysieren koordinierend kontrastierend sukzessiv 3. Fazit Problem lösen Tabelle 8.1: Textmuster Yilunwen in Lehrwerken und Aufsatzdidaktiken aus der Volksrepublik China. <?page no="135"?> 9 Vergleich der Aufsatzsorten Erörterung und Yilunwen Nach den Darstellungen der Aufsatzsorten Erörterung (Kapitel 7) und Yilunwen (Kapitel 8) können zentrale Hypothesen zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden aufgestellt werden. 9.1 Varianten der Aufsatzsorten Erörterung und Yilunwen Sowohl bei einer Erörterung als auch bei einem Yilunwen handelt es sich um eine schulische Aufsatzsorte, in der Sach- oder Geltungsfragen diskutiert werden. Wird eine Sachfrage erhoben, besteht das vorrangige Ziel des Aufsatzes darin, ein Wissensde zit zu beheben. Im chinesischen Aufsatzunterricht genießt dieses epistemologische Interesse Priorität. Schülern werden verschiedene „Sichtweisen“ empfohlen, um das „Wesen der Dinge“ zu ergründen. Das zentrale Anliegen eines Textes besteht darin, Dinge in ihrer Komplexität, als wechselseitig verbundene, sich permanent ändernde und in sich widerspruchsgeladene Einheiten darzustellen. Im deutschen Aufsatzunterricht werden dagegen Sacherörterungen in weit geringerem Umfang als in China angefertigt. Die deutschen Schüler sollen Phänomene zwar auch in ihrer Komplexität erfassen, ihnen werden jedoch nicht wie in China bestimmte Sichtweisen auf die Dinge vermittelt. Neben Sachfragen können in einer Erörterung und in einem Yilunwen auch Geltungsfragen im Zentrum stehen. Dann besteht das Ziel darin, den Geltungsanspruch einer zentralen These argumentativ einzulösen. Im deutschen Aufsatzunterricht werden vorrangig Problemerörterungen angefertigt. Das oberste Lehrziel besteht darin, Schüler zu diskursivem Denken anzuleiten. Sie lernen, verschiedene Meinungen zu vergleichen und abzuwägen, um eine „begründete Meinung“ vorzutragen. Auch in China lernen Schüler, eine Meinung zu vertreten, sie lernen aber nicht systematisch, verschiedene Positionen „kontrovers“ einander gegenüberzustellen und Pro- und Kontra-Argumente aufeinander zu beziehen. Sie lernen vielmehr, ihre Meinung zu begründen (lilun) oder eine gegnerische zu widerlegen (bolun). Werden im Aufsatzunterricht Erörterungen oder Yilunwen angefertigt, dann liegen häu- g Ausgangstexte vor. Im deutschen Aufsatzunterricht wird nicht nur gelernt, auf andere Positionen kritisch zu reagieren. Mit der Aufsatzsorte Texterörterung wird insbesondere gelernt, sich kritisch mit Texten auseinanderzustzen. Im chinesischen Aufsatzunterricht werden zwar ebenfalls „materialbezogene Aufsätze“ (cailiao zuowen) angefertigt, jedoch ist es kein zentrales Anliegen eines Yilunwen, sich kritisch mit einem vorgegebenen Ausgangstext auseinanderzusetzen. <?page no="136"?> 124 Vergleich der Aufsatzsorten Erörterung und Yilunwen 9.2 Gliederung einer Erörterung und eines Yilunwen Der Aufbau einer Erörterung und eines Yilunwen folgt einer klaren Dreiteilung, wie es die in Kapitel 7 und 8 entwickelten Tabellen veranschaulichen. Teiltexte Handlungen Themenentfaltung Textfunktionen 1. Einleitung Problem aufwerfen • argumentativ • deskriptiv • narrativ • überzeugen (durch Stichhaltigkeit der Begründungen) • informieren (durch Komplexität der Beschreibungen und Erklärungen) • unterhalten (durch Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Darstellung) 2. Hauptteil Problem analysieren • linear • kontrovers 3. Fazit Problem lösen Tabelle 9.1: Textmuster Erörterung in Lehrwerken und Aufsatzdidaktiken aus der Bundesrepublik Deutschland. Gliederung Handlungen Darstellungsarten Textfunktionen 1. Einleitung Problem aufwerfen • argumentativ • explikativ • narrativ • deskriptiv • überzeugen (durch die Plausibilität der Begründung) • informieren (durch die Dichte der Beschreibung) • unterhalten (durch Lebendigkeit der Darstellung) • berühren (durch den Ausdruck persönlicher Gefühle) 2. Hauptteil Problem analysieren • koordinierend • kontrastierend • sukzessiv 3. Fazit Problem lösen Tabelle 9.2: Textmuster Yilunwen in Lehrwerken und Aufsatzdidaktiken aus der Volksrepublik China. Der Vergleich zeigt, dass in den Aufsatzsorten Erörterung und Yilunwen komplexe Handlungsmuster beschrieben werden. Hierbei lassen sich der formalen Gliederung (Einleitung, Hauptteil, Schluss) einzelne Handlungen zuordnen: Ein „Problem“ wird in der Einleitung aufgeworfen, im Hauptteil analysiert und im Schlussteil gelöst. Sowohl in China als auch in Deutschland werden im Aufsatzunterricht verschiedene Gliederungsprinzipien des Hauptteils vermittelt. Diese beziehen sich auf unterschiedliche Varianten der jeweiligen Aufsatzsorten. Im deutschen Aufsatzunterricht werden zwei Gliederungsprinzipien vermittelt. Für Sacherörterungen wird ein linearer, für Problemerörterungen ein kontroverser Aufbau empfohlen. Das Muster des kontroversen Textaufbaus eignet sich dazu, mögliche Gegenpositionen zu re ektieren und auf Einwände zu reagieren. Im chinesischen Aufsatzunterricht wird gelernt, einzelne Textaussagen zum zentralen Textthema nach drei Gliederungsprinzipien (parallel, kontrastierend, sukzessiv) zu verbinden. Bei Erörterung einer Sachfrage wird vor allem mithilfe des sukzessiven Gliederungsprinzips angestrebt, Dinge in ihrer Komplexität zu erfassen. <?page no="137"?> 125 Vergleich der Aufsatzsorten Erörterung und Yilunwen 9.3 Argumente und Formen der Darstellung Übereinstimmend werden im deutschen und chinesischen Aufsatzunterricht „Fakten“ und „Grundsätze“ als Argumente bezeichnet. Im deutschen Aufsatzunterricht wird empfohlen, den Geltungsanspruch einer These durch Verweise auf Expertenmeinungen und anerkannte Grundsätze zu stützen. Außerdem wird abgeraten, „unseriöse“ Argumente zu verwenden, die das Gefühl und nicht den Verstand des Lesers ansprechen. Im chinesischen Aufsatzunterricht werden ebenfalls „Faktenargumente“ und „Grundsätze“ als mögliche Argumente genannt, diese werden jedoch völlig anders bestimmt. Zu den „Faktenargumente“ zählen Ereignisse aus dem Leben einer berühmten Persönlichkeit, zu „Grundsätzen“ u. a. Lebensweisheiten und Sprichwörter. Erörterungen und Ylunwen verfolgen das zentrale Ziel, den Leser zu überzeugen. Für beide Aufsatzsorten ist es kennzeichnend, argumentative, deskriptive und narrative Textsequenzen zu verknüpfen. Markante stilistische Unterschiede sind auf sich voneinander unterscheidende, kommunikative Funktionen der Texte zurückzuführen. Im deutschen Aufsatzunterricht wird den Schülern vermittelt, eine Erörterung „sachlich, aber unterhaltsam“ zu schreiben, um den Leser zu überzeugen. Der Leser soll ebenfalls informiert und unterhalten, nicht jedoch affektiv angesprochen werden. Im chinesischen Aufsatzunterricht wird den Schülern vermittelt, „sachlich, lebendig und unterhaltsam“ zu schreiben. Ziel ist es ebenfalls, den Leser zu überzeugen, zu informieren und zu unterhalten. Ausdrücklich opportun ist es hierbei, „wahre Gefühle“ auszudrücken, um den Leser nicht nur rational sondern auch affektiv anzusprechen. <?page no="138"?> 10 Untersuchungsdesign Den Auftakt des empirischen Teils (10.1) bildet die Skizze des Untersuchungsdesigns und der Versuchsanordnung. Danach (10.2) werden die institutionell bedingten Unterschiede der Zugangsmodalitäten in die Felder der Untersuchung dargestellt. Es folgt (10.3) ein theoretischer Exkurs, der an die Ausführungen H ANSEN s (2000) zur Multikollektivität (vgl. 3.3) anknüpft. Gezeigt wird die Notwendigkeit, neben der Annahme mehrerer Dachkollektive auch ehemalige Mitgliedschaften zu berücksichtigen, um das Monokollektiv „Lernergruppe“ angemessen einschätzen zu können. Die drei Probandengruppen der Untersuchung werden dann (10.4) anhand einiger biographischer Eckdaten (Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildungskarriere) charakterisiert. Die Beschreibung der Erhebungsinstrumente beginnt (10.5) mit der Darstellung des verwendeten Ausgangstextes und seinen Varianten, gefolgt (10.6) von Ausführungen zur Schreibaufgabe. Abschließend (10.7) werden Zeiten, Orte, Probandengruppen, Erhebungsinstrumente und Datenkorpora tabellarisch in Beziehung gesetzt. 10.1 Vergleichsebenen der Untersuchung und Untersuchungsdesign Vor Beginn einer empirischen Untersuchung stellt sich zunächst die Frage, welche Daten in welchen Probandengruppen in welchen Handlungskontexten erhoben werden sollen. Es muss geklärt werden, welche Ansätze es bereits gibt und welcher - gegebenenfalls modi zierte - Ansatz sich im Kontext der Intention dieser Arbeit als angemessen erweist. Während die Kontrastive Linguistik traditionell L 1 -Texte gegenüberstellt (etwa Y IN 1999; W EN 2001) vergleicht die Kontrastive Rhetorik häu g drei Textkorpora, um Charakteristika von Texten in der Fremdsprache zu rekonstruieren. So vergleichen etwa T AYLOR / C HEN (1991, Darstellung bei C ONNOR 1996: 40f.) englische Texte muttersprachlicher Autoren aus den USA mit englischbzw. chinesischsprachigen Texten chinesischer Autoren, die in den USA bzw. der Volksrepublik China publiziert wurden. T AYLOR / C HEN erkennen deutliche Unterschiede zwischen Fachpublikationen amerikanischer und chinesischer Wissenschaftler. Die Texte der chinesischen Autoren waren vergleichsweise kurz, enthielten weniger Zitate und stellten den aktuellen Forschungsstand nicht so ausführlich dar wie die Texte der amerikanischen Autoren. Die Studie von T AYLOR / C HEN legt den Schluss nahe, dass chinesische Autoren unabhängig von der gewählten Sprache bestimmten eigenkulturell markierten Konventionen folgen. Zu anderen Ergebnissen gelangt K OBAYASHI (1984). Er vergleicht vier Textkorpora aus zwei Handlungsräumen. In den USA erhob er Daten von amerikanischen Hochschülern und fortgeschrittenen japanischen ESL-Lernern, in Japan erhob er Vergleichsdaten japanischer Studenten mit Englisch im Hauptfach (English-major) und japanischer Studenten anderer Hauptfächer (non-English-major). Die drei zuerst genannten Gruppen verfassten englische, die vierte Gruppe japanische Texte, wobei sich vor allem Unterschiede in den Texten der japanischen Studenten zeigten. Japanische Studenten in den USA produzierten in der Fremdsprache ähnliche Texte wie englische Muttersprachler, während die Interimstexte der japanischen English-major-Studenten in Japan denen der japanischen non-English-major-Studenten glichen. K OBAYASHI s Studie legt den Schluss nahe, dass Handlungsort und Erfahrungen in der Zielkultur die Organisation von Texten in der Fremdsprache beein ussen. <?page no="139"?> 127 Untersuchungsdesign Ähnlich wie K OBAYASHI verfährt L ACHENMAYER (1990). In der Volksrepublik China ließ sie unter anderem fortgeschrittene Deutschlerner zunächst Texte in der Fremd- und daraufhin Paralleltexte in der Muttersprache anfertigen. Mit folgendem Hinweis verzichtet sie auf eine Analyse der auf diese Weise gewonnenen Daten: Von einem Vergleich der beiden Textkorpora wurde jedoch abgesehen, da sich bei dem zweiten Textkorpus zeigte, daß es sich bei den chinesischen Texten hauptsächlich um Übersetzungen der deutschsprachigen handelte, die jedoch, wie mir chinesische Muttersprachlerinnen bestätigten, in keiner Weise korrekten chinesischen Texten entsprachen (L ACHENMAYER 1990: 80). Die Beobachtung, dass es sich bei muttersprachlichen Texten fortgeschrittener Deutschlerner nicht mehr um „korrekte“ chinesische Texte handelt, führt L ACHENMAYER darauf zurück, dass die Probanden ihre deutschen Texte ins Chinesische „übersetzten“, anstatt sich an chinesische Konventionen zu halten. Demzufolge beein usst die Textproduktion in der Fremdsprache die anschließende Textproduktion in der Muttersprache. Die drei exemplarisch genannten Studien gelangen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Während T AYLOR / C HEN (1991) das Beharrungsvermögen eigenkultureller Standardisierungen betonen, macht K OBAYASHI (1984) auf Ein üsse des Handlungskontextes auf Formen der Textorganisation aufmerksam. L ACHENMAYER (1990) schließlich deutet auf Rückwirkungen der Textproduktion in der Fremdsprache auf nachträgliche Textproduktionen in der Muttersprache hin. In vorliegender Arbeit orientiere ich mich an den Designs von K OBAYASHI und L A - CHENMAYER und vergleiche Daten, die in der Volksrepublik China und in Deutschland erhoben worden sind. Ähnlich wie K OBAYASHI vergleiche ich hierbei Daten deutscher Probanden mit Daten mehrerer chinesischer Probandengruppen. Im Einzelnen handelt es sich um chinesische Studienanfänger der Tongji-Universität Shanghai ohne Deutschkenntnisse und fortgeschrittene chinesische Studierende des Faches Germanistik derselben Universität, deren Texte muttersprachlichen Texten deutscher Studienanfänger der Friedrich-Schiller-Universität Jena gegenübergestellt werden. Anders als K OBAYASHI werte ich keine Daten chinesischer Studenten aus, die sich zum Zeitpunkt der Erhebung in Deutschland aufhalten. 1 Um mögliche Veränderungen der Textproduktion in der Muttersprache und Formen eines „gemischten Blicks“ auf Sachverhalte zu ermitteln (vgl. S KIBA 2007), untersuche ich ähnlich wie L ACHENMAYER (1990) neben Interimstexten auch muttersprachliche Texte fortgeschrittener chinesischer Deutschlerner, da ich davon ausgehe, dass gerade die typischen Abweichungen, der nicht „korrekt“ nach chinesischem Muster organisierten Texte aufschlussreich sein können, um kulturwissenschaftlich relevante Aussagen über Mitglieder dieser Probandengruppe zu treffen. Die fortgeschrittenen chinesischen Fremdsprachenlerner wurden im Rahmen vorliegender Untersuchung daher aufgefordert, im Anschluss an die kontrollierte Textproduktion im Seminarraum unter nicht kontrollierten Bedingungen muttersprachliche Paralleltexte anzufertigen. 2 1 Die Entscheidung, keine Daten chinesischer Studierender zu erheben, deren Lebensmittelpunkt sich zum Zeitpunkt der Erhebung seit geraumer Zeit in Deutschland be ndet, hat forschungspraktische und methodologische Ursachen. Es wäre erstens außerordentlich schwierig, in Jena eine etwa 15 Probanden umfassende Vergleichsgruppe chinesischer Studierender für die Teilnahme an der Untersuchung zu gewinnen. Zweitens ist davon auszugehen, dass Herkunft, Aufenthaltsdauer in Deutschland und gemachte Erfahrungen in der Zielkultur bei Probanden in einer solchen Gruppe stark variieren, was die Interpretation der Daten außerordentlich erschweren würde. 2 Um zu vermeiden, dass die Probanden ihre deutschen Texte einfach „übersetzen“, wäre es denkbar gewesen, die Gruppe der fortgeschrittenen Germanistikstudenten zu teilen. Gegen diese von L A - CHENMAYER (1990: 80) favorisierte Versuchsanordnung sprachen wiederum praktische und metho- <?page no="140"?> 128 Untersuchungsdesign Ausgewertet werden demnach vier Textkorpora von drei Probandengruppen (siehe Tabelle 10.1). Probandengruppe Ort der Datenerhebung Korpusmaterial Bezeichnung Deutsche Studienanfänger Friedrich-Schiller- Universität Jena L 1 -Texte Deutsch FSU1.TXT.dt. Chinesische Studienanfänger Tongji-Universität Shanghai L 1 -Texte Chinesisch T1.TXT.chin. Fortgeschrittene chinesische Deutschlerner Tongji-Universität Shanghai L int -Texte Deutsch/ Chinesisch T4.TXT.int. Tongji-Universität Shanghai L 1 -Texte Chinesisch T4.TXT.chin. Tabelle 10.1: Probandengruppen, Ort der Datenerhebung und Bezeichnung des Korpusmaterials. Diese Anordnung bietet verschiedene Vergleichsmöglichkeiten: Vergleich FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. Ein Vergleich dieser Textkorpora gibt Auskunft über Formen des muttersprachlichen Schreibens zu Beginn des Studiums. Rekonstruieren lassen sich Textmuster, die im Unterricht an deutschen Gymnasien bzw. Oberen Mittelschulen in der Volksrepublik China vermittelt werden. Vergleich T4.TXT.int., FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. Ein Vergleich dieser drei Textkorpora lässt Charakteristika interimssprachlicher Textmuster vor dem Hintergrund schulisch vermittelter Textmuster erkennen. Untersucht werden kann, ob sich Interimstexte zielsprachigen Konventionen angenähert haben. Vergleich T4.TXT.chin., FSU1.TXT.dt., T1.TXT.chin. und T4.TXT.int. Ein Vergleich aller vorliegenden Textkorpora gibt Hinweise darauf, ob sich ein dreijähriges Germanistikstudium nicht nur auf Interimstexte sondern auch auf Texte in der Muttersprache auswirkt. Die Versuchsanordnung orientiert sich an dem Textproduktionsmodell, das in Abschnitt 4.5 im Anschluss an B ÖRNER (1989) und W ROBEL (1997) entwickelt worden ist. Wie es B ÖRNER s Modell vorsieht, werden Schreibprozesse in vorliegender Untersuchung durch einen Ausgangstext initiiert und durch einen Arbeitsauftrag gelenkt. dologische Überlegungen: Erstens wären die dann entstandenen Probandengruppen sehr klein (ca. sieben Teilnehmer), zweitens wäre nicht erkennbar, ob ein Autor einen Text in Abhängigkeit von der jeweils gewählten Sprache anders organisiert. <?page no="141"?> 129 Untersuchungsdesign Handlungsraum X Explizites, implizites und bildliches Wissen Bedürfnisse Zwecke Explizites, implizites und bildliches Wissen Bedürfnisse Zwecke AKTANT 1 Rezipient AKTANT 2 Autor Schreiber Adressat Monitoring Planen Formulieren Inskribieren Revidieren Motive Orientierungen Ziele Strategien Kompetenzen Motive Orientierungen Ziele Strategien Kompetenzen Ausgangstext Schreibaufgabe bewirken X Text erwarten X Zeit/ Raum Schaubild 10.1: Versuchsanordnung. Im Schaubild 10.1 sind alle Variablen der Versuchsanordnung dunkel hervorgehoben, die bei der Erhebung konstant gehalten worden sind (vgl. F LICK 2003: 254). Eine Vergleichbarkeit der Daten wird dadurch gewährleistet, dass allen Probanden der gleiche Ausgangstext (in verschiedenen sprachlichen Varianten) ausgehändigt, der gleiche Arbeitsauftrag erteilt und der gleiche zeitliche Rahmen zur Anfertigung der Texte gesetzt wurde. Adressiert wurden alle Texte an den Initiator der Untersuchung, wodurch je nach kultureller Herkunft der Probanden unterschiedliche Kommunikationssituationen vorlagen. Während die deutschen Probanden ihre Texte an einen Angehörigen der gleichen Nationalkultur richteten, lag bei der Textproduktion der chinesischen Probanden ein interkultureller Adressatenbezug vor. Unterschiede bestehen vor allem hinsichtlich der Handlungsorte, zu denen unterschiedliche Zugänge gefunden werden mussten. Die jeweiligen Zugänge in Untersuchungsfelder bedingten wiederum die jeweilige Zusammensetzung der Probandengruppen, die im Rahmen der Untersuchung Texte anfertigten. <?page no="142"?> 130 Untersuchungsdesign 10.2 Zugänge in Felder der Untersuchung Werden in einer kontrastiven Analyse Kollektive gegenübergestellt, dann stellt sich unwillkürlich die Frage, inwiefern es sich um weitgehend analoge Kollektive handelt. 3 Im Ausland besteht nicht immer die Möglichkeit, Probanden nach bestimmten Kriterien auszuwählen, ein Forscher ist darauf angewiesen, Daten in Monokollektiven zu erheben, zu denen er Zugang erhält. Konkrete Monokollektive sind, wie es H ANSEN (2000) mit seinem Tennisclub-Beispiel zeigt, keineswegs homogene Gebilde. Deren „Gemeinsamkeit in den Differenzen“ eröffnet sich oft nicht vor, sondern während der Untersuchung. So gesehen ist die Wahl einer Probandengruppe oftmals eine prekäre Angelegenheit, denn Grenzen der Vergleichbarkeit werden oft erst erkennbar, nachdem Daten erhoben worden sind. Neben der Bereitschaft der Probanden, an der Untersuchung mitzuwirken, ist jeder Forscher auf die Bereitschaft von Verantwortlichen angewiesen, Daten überhaupt erheben zu können (vgl. F LICK 2002: 89). Die Schwierigkeiten, Zugänge in Untersuchungsfelder zu nden, werden in vielen empirischen Arbeiten ge issentlich verschwiegen (vgl. M ERKENS 2003: 288, W OLFF 2003: 336), obgleich sie die Untersuchungsergebnisse oft entscheidend beein ussen. Zugänge in Shanghai Die Anregungen von W OLFF zum Umgang mit Türstehern 4 richten sich vorrangig an Forscher, die vor Durchführung des Projekts keinen Kontakt zu den örtlichen Verantwortlichen hatten. Dies ist bei empirischen Untersuchungen im Bereich der Sprachlehr- und -lernforschung jedoch eher selten der Fall. Es dürfte kein Zufall sein, dass viele Untersuchungen im chinesischen Kulturraum (etwa H U 1996, S TEINMETZ 2001) an Institutionen durchgeführt wurden, an denen die Autoren als Dozenten gewirkt hatten. Hierdurch konnten im Vorfeld persönliche Beziehungen zu den Verantwortlichen aufgebaut werden. Hilfreich beim Umgang mit Entscheidungsträgern an germanistischen Fakultäten in China ist, dass diese meist in Deutschland promoviert haben, häu g Kontakte zu deutschen Partnerinstituten unterhalten und selbst in bilaterale Forschungsprojekte 3 Um kulturelle Unterschiede in den Gesundheitsvorstellungen portugiesischer und deutscher Frauen zeigen zu können, suchte beispielsweise F LICK Interviewpartnerinnen, „die in möglichst vielen Dimensionen (Leben in der Großstadt, vergleichbare Berufe, Einkommen und Bildungsniveau) unter zumindest sehr ähnlichen Bedingungen leben, um Unterschiede auf die Vergleichsdimension ‚Kultur’ zurückführen zu können.“ (F LICK 2003: 254). 4 Zum Umgang mit „Türstehern“ gibt W OLFF (2003) allgemeine Hinweise: Zunächst müsse geklärt werden, wer in einer Institution entscheidungsbefugt ist. „In eher monokratischen Organisationen mit bürokratisierten Entscheidungsabläufen zählt allein die Zustimmung der Geschäftsleitung, während es in dezentralisierten Organisationen ganz verschiedene Adressen geben kann, die zu kontaktieren sind.“ (W OLFF 2003: 342). Nach Klärung der Zuständigkeiten gilt es, die Verantwortlichen in Vorgesprächen dazu zu bewegen, das Projekt zu befürworten. K RONER / W OLFF (1986) geben einige nützliche Tipps zur Lenkung der Vorgespräche. So sei es eher kontraproduktiv, während der Vorgespräche inhaltliche Aspekte der geplanten Untersuchung zu betonen oder die Wichtigkeit des Forschungsziels herauszustellen. Dies sei „ein sicherer Weg, Forschung zu verhindern“. Weit wichtiger sei die Art des persönlichen Auftretens des Forschers sowie dessen Bereitschaft, Anregungen der Türsteher aufzugreifen. Um mögliche Bedenken auszuräumen, sollte der Forscher die Seriosität des Unternehmens betonen, Kooperationsbereitschaft, Solidarität und Verschwiegenheit zusichern und sich vor allem verp ichten, den alltäglichen Betrieb nur in einem vertretbar geringen Maß zu stören (vgl. W OLFF 2003: 345). <?page no="143"?> 131 Untersuchungsdesign eingebunden sind. Dies erleichtert den Zugang ins Feld und verhindert die sonst typischen „Immunreaktionen“ (vgl. W OLFF 2003: 343). Die Zuständigkeiten an einem germanistischen Institut in der VR China sind meist recht klar geregelt: Der Dekan trifft die Entscheidung, ob ein Forschungsvorhaben durchgeführt werden kann, und er muss ein Vorhaben nicht von einer höheren Stelle prüfen und bewilligen lassen. Im Falle vorliegender Untersuchung erteilte der Dekan der Deutschen Fakultät der Tongji-Universität Shanghai auf meine schriftliche Anfrage aus Deutschland sein grundsätzliches Einverständnis, in zwei Seminargruppen Daten erheben zu können. In Shanghai fand dann ein informelles Vorgespräch statt, in dem vor allem organisatorische Fragen geklärt wurden. Nach diesem Gespräch machte mich der Dekan mit den zuständigen Kursleitern bekannt, mit denen ich günstig erscheinende Termine zur Durchführung der Untersuchung vereinbarte. Der nächste Schritt bestand darin, die Studierenden kennen zu lernen und für eine Teilnahme an der Untersuchung zu motivieren. Die Kursleiter stellten mich als ehemaligen DAAD-Lektor vor, der lange an der Fakultät gearbeitet habe und nun plane, Aufsätze chinesischer Deutschlerner im Rahmen einer Dissertation zu untersuchen. Die Reaktionen in beiden Probandengruppen waren recht unterschiedlich. Bei den Studierenden im Erstsemester (T1) überwog „freundliche Neugier“, die wohl darauf zurückzuführen war, dass sich diese Probanden erst zwei Wochen an der Universität aufhielten und den Umgang mit Deutschen nicht gewohnt waren. Anders verlief das Vorstellungsgespräch bei den Studierenden im vierten Studienjahr (T4). Sie reagierten fast routiniert, da sie während ihres Studiums viele deutsche Kurz- und Langzeitlektoren und Gastprofessoren kennen gelernt hatten. Rückblickend kann festgehalten werden, dass es in Shanghai erstaunlich einfach war, einen Zugang ins Feld zu nden. Dies lässt sich auf monokratische Entscheidungsabläufe an einem germanistischen Institut in der Volksrepublik China zurückführen. Die Studierenden wurden nicht gefragt, ob sie sich überhaupt an der Untersuchung beteiligen wollten, es wurde ihnen mitgeteilt, dass eine Untersuchung durchgeführt werden sollte. Alle Mitglieder der beiden Probandengruppen beteiligten sich ohne Ausnahme. Zugänge in Jena Das Vorhaben, eine Vergleichsgruppe in Deutschland zu nden, erwies sich als weit schwieriger als zunächst angenommen. Als Vergleichsgruppe sollten Studierende an der Friedrich-Schiller-Universität Jena gewonnen werden, die wie Mitglieder der Gruppe T1 gerade ihr Studium aufgenommen hatten. Als große Hürde erwies sich, dass das Studium eines geisteswissenschaftlichen Fachs an einer deutschen Universität ganz anders organisiert ist als in China. Die Studienanfänger bilden keine festen Klassenverbände, außerdem ist es in Deutschland nicht möglich, Studierende zur Teilnahme an einer Untersuchung zu verp ichten. Möglich ist nur, sie zur freiwilligen Teilnahme einzuladen. Im vorliegenden Fall stellte ich das Anliegen im Rahmen einer studieneinführenden Veranstaltung am Institut für Auslandsgermanistik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache vor. Von den anwesendenden Studienanfängern (etwa 40 Teilnehmer) erklärten sich acht zur Mitarbeit bereit. Daraufhin stellte ich das Vorhaben ebenfalls in einer einführenden Vorlesung des Fachgebiets Interkulturelle Wirtschaftskommunikation vor. Von den etwa 200 anwesenden Studierenden im Erstsemester konnten weitere elf gewonnen werden. Konkrete Zugangsmöglichkeiten zum Feld determinieren die Wahl geeignet erscheinender Probandengruppen. Die jeweiligen Kollektive unterscheiden sich zudem durch Formen der Institutionalisierung (H ANSEN 2000: 203) und etablierten Kommunikations- <?page no="144"?> 132 Untersuchungsdesign strukturen und Kommunikationsbeziehungen (vgl. M. B ECK 1991: 62-74). In China bilden Studierende des Faches Germanistik eine viel engere soziale Gemeinschaft als in Deutschland, was unmittelbare Auswirkungen auf die Selektionsprinzipien der Probanden hat. Während sich in Shanghai alle Studierenden einer Jahrgangsstufe an der Untersuchung beteiligten, mussten in Jena Studierende für eine Mitarbeit erst motiviert werden. M ORSE (1994, zit. nach M ERKENS 2003: 288f.) beschreibt diese Restriktionen als „sekundäre Selektion“, da die einzelnen Teilnehmer nicht wie im Falle einer primären Selektion gezielt ausgewählt werden konnten. 10.3 Das Monokollektiv „Lernergruppe“ als Gegenstand empirischer Studien H ANSEN (2000: 204) klassi ziert Kollektive nach dem Kriterium ihrer wechselseitigen „Umfassung und Ineinander-Verschachtelung“. Als weitere Kriterien, anhand derer Kollektive typologisiert werden können, nennt er Anzahl der Mitglieder, Breite des Identitätsangebots, Heftigkeit der Abgrenzung sowie Grad der Institutionalisierung (H ANSEN 2000: 202ff.). Diese Kriterien quali ziert H ANSEN selbst als „vorläu g“ 5 : Die Erforschung menschlicher Kollektivität war und ist die Domäne der Soziologie. Ihre Ergebnisse blieben durch die Konstruktion von un exiblen Modellen oft genug im Formalen stecken. Hier ist von Seiten der Kulturwissenschaft, die ja eher inhaltlich vorgeht, Besserung zu erwarten. Doch es wird noch lange dauern, bis man sich im Labyrinth der Kollektivität [...] zurecht ndet (H ANSEN 2000: 202). In seiner kulturwissenschaftlichen 6 Beschreibung der Mitglieder des Tennisclubs zeigt H ANSEN die Einbindung eines Individuums in verschiedene Kollektive. Möglich ist aber 5 H ANSEN bezieht den Begriff „Kollektiv“ auf unterschiedlichste Gemeinschaften. So bilden für ihn Frauen und Jugendliche (2000: 204), Feministinnen (2000: 204), Katholiken und Protestanten (2000: 199), Mathematik-Professoren (2000: 202) und sogar Teilnehmer von bayrischen Schützenfesten (2000: 200), Katzenliebhaber und Atomkraftgegner (2000: 195) ein Kollektiv. Die Konturen des Kulturbegriffs werden durch Betrachtungen solch peripherer Kollektive wie dem der Katzenliebhaber undeutlich. 6 Trotz seiner Vorbehalte gegenüber der Soziologie argumentiert H ANSEN häu g selbst soziologisch, etwa in seinen Ausführungen zum „kulturellen Schicksal“ eines Menschen: „Der Zufall der Geburt bestimmt nicht nur meine biologischen Voraussetzungen wie Geschlecht, Gesundheit und Erbanlagen, sondern auch meine kulturellen. [...] Die Geburt eines Menschen, so scheint es uns, ist ein krass determinierender Akt. Das Geschlecht steht fest, ebenso die Nationalität, und sie oder er kommen in einem Elternhaus zur Welt, das für das Kind die ganze und einzige Welt ist. Sie ist vorgedeutet sowie vorstrukturiert und de niert für den neuen Erdenbürger das Normale und Sinnvolle. Daß es weder normal noch eventuell sinnvoll ist, daß er vielmehr kontingenten Willkürlichkeiten ausgeliefert wurde, wird er vielleicht nie durchschauen.“ (H ANSEN 2000: 172f.). H AN - SEN rekapituliert hier Grundannahmen der Rollentheorie (vgl. D AHRENDORF 2006: 39), wonach jeder Mensch im Verlauf seines Lebens Inhaber vieler, oftmals auch widersprüchlicher sozialer Rollen ist. Ein Teil dieser Rollen ist durch den „Zufall der Geburt“ vorgegeben, etwa die Zugehörigkeit zu einer Nation oder einer Sprachgemeinschaft. Die Primärbzw. Fundamentalrolle eines Menschen wird von seinem Geschlecht, seinem Alter, seiner Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen oder Schichten bestimmt. Darüber hinaus erwirbt er Sekundärbzw. Peripherrollen, etwa die Schüler- und Studentenrolle oder später die Berufs- und Freizeitrolle. Auch H ANSEN s Diktum, wonach sich Inkompatibilitäten der Kultur in Individuen als „partiell entstellte[n] Abbilder[n] von Kultur“ fortsetzen (H ANSEN 2000: 171), lässt sich mit soziologischen Begriffen fassen: Sieht sich ein Rolleninhaber mit widersprechenden Rollenerwartungen konfrontiert, gerät er unter Rollendruck. <?page no="145"?> 133 Untersuchungsdesign auch, das Modell der Multikollektivität auf ein einziges Monokollektiv zu beziehen, denn das Ziel einer empirischen Untersuchung kann nicht darin bestehen, Aussagen über sämtliche Kollektive zu treffen, denen einzelne Mitglieder einer konkreten Probandengruppe angehören bzw. angehört haben. 7 Kein Forscher besitzt auf Probanden einen ähnlich auktorialen Blick wie H ANSEN auf Mitglieder seines ktiven Tennisclubs. Zwar mag es möglich sein, durch teilnehmende Beobachtung allmählich immer mehr über Mitgliedschaften einzelner Probanden in anderen Kollektiven zu erfahren, dennoch kann das Ziel der Analyse empirischer Daten nicht darin bestehen, sämtliche Kollektive benennen zu wollen, denen einzelne Mitglieder einer Probandengruppe angehören bzw. angehört haben. Probanden muss zugebilligt werden, einige Mitgliedschaften zu verschweigen, auch sind nicht alle Mitgliedschaften in gleicher Weise relevant für die zentrale Forschungsfrage einer Arbeit. Anders als in Fallstudien wird in Vergleichstudien „der Fall nicht in seiner Komplexität und Ganzheit betrachtet“ (F LICK 2003: 254). Festgehalten werden kann also nur die Tatsache, dass jeder Fremdsprachenlerner unstreitig vielen Kollektiven angehört und dass in ihm eine „individuelle Mischung kultureller Chemikalien [brodelt], die aufeinander einwirken, die sich anziehen, abstoßen, verstärken, verringern, sich gegenseitig au ösen und im besten Fall neue Elemente entstehen lassen“ (H ANSEN 2000: 182). Die Frage, welchen einzelnen Kollektiven ein Fremdsprachenlerner angehört, welche kulturellen Widersprüche er persönlich austrägt, muss weitgehend unbeantwortet bleiben. Von Belang für die vorliegende Arbeit sind vor allem Kollektive, denen Fremdsprachenlerner als Fremdsprachenlerner angehören. Ausgehend von H ANSEN s Tennisclub-Beispiel geht folgende Übersicht von dem Gedanken aus, dass einzelne Mitglieder - ungeachtet anderer Mitgliedschaften - qua Mitgliedschaft in einem konkreten Monokollektiv bereits Mitglieder in Kollektiven höherer Ordnung sind (siehe Tabelle 10.2). Kollektivform Beispiele, bezogen auf ein Mitglied eines Monokollektivs Monokollektiv Mitglied in einem Passauer Tennisclub Multikollektiv Mitglied in einem Passauer Sportverein Superkollektiv Mitglied in einem deutschen Sportverein Globalkollektiv Mitglied im weltweiten Kollektiv aller Freizeitsportler Tabelle 10.2: Typologie der Kollektivformen in Anlehnung an H ANSEN (2000: 204ff.). Ein Mitglied im Monokollektiv Passauer Tennisclub ist in diesem Modell gleichzeitig Mitglied in mehreren übergeordneten Kollektiven. Es ist auch Mitglied im Multikollek- Werden gegensätzliche Erwartungen an eine Rolle von außen an ein Individuum herangetragen, spricht die Soziologie von „intrapersonalen“ Rollenkon ikten, „interpersonale“ Rollenkon ikte liegen vor, wenn Menschen widersprüchliche Erwartungen verschiedener Rollen in sich integrieren. Die Ausblendung soziologischer Befunde führt bei H ANSEN dazu, dass nicht deutlich wird, welche Standardisierungen auf den einzelnen Menschen prägender sind als andere. 7 Das Problem selbst einer um mehrere supranationale Ebenen erweiterten Typologie der Kollektivformen besteht darin, dass sich nicht alle Kollektive auf der untersten Ebene als Monokollektive beschreiben lassen. Viele Kollektive, wie beispielsweise eine aus Atheisten bestehende Gemeinschaft, „überspringen“ förmlich die Ebene der Monokollektive und sind kulturwissenschaftlich nur auf höheren Ebenen beschreibbar, etwa als Kollektiv deutscher Atheisten. <?page no="146"?> 134 Untersuchungsdesign tiv Passauer Sportverein. Dieser Sportverein ist weiterhin ein deutscher Sportverein, der den im Nationalkollektiv geltenden formellen und informellen Regeln für Sportvereine folgt. Schließlich gehört ein Mitglied des Tennisclubs auch den transnationalen Kollektiven der Tennisspieler und Freizeitsportler an - mit erfreulichen Konsequenzen für die interkulturelle Kommunikation. Wenn ein Passauer Tennisspieler einen indischen Tennisspieler trifft, dann wird es möglich sein, Tennis zu spielen, weil Tennis weltweit den gleichen Regeln folgt, ungeachtet welche unterschiedlichen Formen des Vereinswesens sich in einzelnen Ländern etabliert haben. Für die Betrachtung eines aus Fremdsprachenlernern gebildeten Kollektivs bieten sich Adaptionsmöglichkeiten dieses Modells an. Wie im Falle des Tennisclubs ist ein konkretes Monokollektiv anderen Kollektiven untergeordnet. Tabelle 10.3 zeigt am Beispiel fortgeschrittener chinesischer Germanistikstudenten die Mitgliedschaft der Probanden in Kollektiven verschiedener Ordnung. Kollektive im Kontext des Fremdsprachenlernens Handlungsräume Monokollektiv Mitglied einer Lernergruppe Deutschlerner einer Jahrgangsstufe an der Deutschen Fakultät Klassenraum Multikollektiv Student einer Universität Deutschlerner der Tongji-Universität Universitätsgelände, Bibliothek, Mensa, Studentenwohnheim Nationales Dachkollektiv Staatsbürger Deutschlerner aus der VR China Staatsgebiet Supranationales Dachkollektiv (1) Angehöriger einer Sprach- und Kulturgemeinschaft chinesischer Deutschlerner Sprach- und Kulturraum Supranationales Dachkollektiv (2) Angehöriger kulturanthropologisch kompatibler Gemeinschaften ostasiatischer Deutschlerner Kulturregion Transnationales Globalkollektiv Angehöriger einer Gemeinschaft mit bestimmten kollektiven Gewohnheiten Deutschlerner Welt Tabelle 10.3: Multikollektivität im Kontext fremdsprachlichen Lehrens und Lernens in Anlehnung an H ANSEN (2000) und B OLTEN (2003). Tabelle 10.3 zeigt verschieden groß gefasste Kollektive, denen ein Deutschlerner qua Mitgliedschaft in einem Klassenverband angehört. Er ist Mitglied einer mehr oder weniger stabilen Lernergruppe, zugleich gehört er damit den Multikollektiven „Institut“, „Fakultät“ und „Universität“ an, die ihrerseits bestimmte Vorgaben machen und dadurch die Kultur des Monokollektivs beein ussen. Der Deutschlerner ist ebenfalls chinesischer Staatsbürger und unterliegt damit curricularen Vorgaben der staatlichen Erziehungskommission. Als Mitglied der chinesischen Sprach- und Kulturgemeinschaft folgt er außerdem supranationalen Standardisierungen. Schließlich gehört er auch dem globalen Kollektiv aller Deutschlerner an; auf transnationaler Ebene verbinden ihn be- <?page no="147"?> 135 Untersuchungsdesign stimmte Fertigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen mit Lernern aus anderen Kulturräumen - mit wiederum erfreulichen Konsequenzen für die interkulturelle Kommunikation. Als Mitglied des Globalkollektivs aller Deutschlerner kann er sich auf Deutsch mit Deutschlernern aus anderen Nationen verständigen, weil diese ihrerseits Mitglied eines entsprechenden Monokollektivs in ihrem Heimatland sind oder waren. 8 Die Übersicht in Tabelle 10.3 re ektiert auch die lokale Gebundenheit von Kultur (vgl. P IETERSE 1998: 114), indem einzelnen Kollektiven Handlungsorte zugewiesen werden. Probanden unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer „Wissensvorräte“, sie werden nach B ARKOWSKI / Eß ER (2005: 90) an Handlungsorten auch durch materielle Repräsentationen von Kultur geprägt. Auf der Ebene des Monokollektivs unterscheiden sich Lernorte, beispielsweise durch die Anordnung der Sitzgelegenheiten, die Verfügbarkeit von Lehr- und Lernmaterialien und die mediale Ausstattung. Auch auf der Ebene der Multikollektive unterscheiden sich Handlungsorte, an denen sich Studenten vorrangig aufhalten (Bibliotheken, Studentenwohnheime, Mensen etc.). In China be nden sich diese Räume auf einem Campus, einem abgegrenzten Areal innerhalb des Stadtgebiets. Schließlich sind Fremdsprachenlerner auch Teil eines Globalkollektivs, dem ebenfalls materielle Repräsentationen von Kultur zugeordnet werden können (Overheadprojektoren, Computer etc.). 9 Tabelle 10.3 re ektiert nur die momentanen Mitgliedschaften in verschieden gefassten Kollektiven. Im Kontext des Fremdsprachenlernens ist jedoch die jeweilige Verweildauer in einem Kollektiv von größtem Belang. H ANSEN betrachtet die zeitliche Dimension von Kollektivität leider nicht ausführlich. An einer Stelle behauptet er, dass auch Menschen, die sich gar nicht kennen, einem Kollektiv angehören. [Der Begriff Kollektiv umfasst] alle denkbaren menschlichen Gruppierungen, die gemeinsame Gewohnheiten zu erkennen geben, also mehr sind als ein Zufallsprodukt. Obwohl auf engstem Raum zusammengedrängt, bilden die Fahrgäste einer städtischen Straßenbahn kein Kollektiv, wohl aber die Skiläufer in einer Gondel. Die Straßenbahnfahrer besitzen nur eine einzige, zudem noch unfreiwillige Gemeinsamkeit, sie haben einen Fahrschein gelöst. [...] Demgegenüber besitzen die in der Gondel nach oben Schwebenden eine ganze Reihe von kollektiven Gewohnheiten. Sie sind ähnlich gekleidet, tragen identische Sportgeräte, haben dasselbe Ziel und streben ihm aus identischer Motivation zu (H ANSEN 2000: 193). Die Skiläufer bilden, ohne dass sie sich vorher gesehen haben, ein Kollektiv, weil sie reale Gemeinsamkeiten besitzen und bestimmte Interessen teilen. H ANSEN betrachtet demnach eine Ansammlung von Menschen als Kollektiv, auch wenn in diesem Kollektiv noch keine nennenswerte Kommunikation stattgefunden hat. Alle Skiläufer gehören demnach einem Globalkollektiv an, bilden aber noch kein gemeinsames Monokollektiv. Erst wenn durch bestimmte Umstände - wenn beispielsweise die Gondel auf halber Strecke 8 H ANSEN betrachtet das Kollektiv aller Mathematik-Professoren als Globalkollektiv (H ANSEN 2000: 202). Das fügt sich in die hier zur Diskussion gestellte Interpretation, wonach Individuen unter Absehung aller nationalkultureller Standardisierungen ein Kollektiv bilden können, sofern gemeinsame Gewohnheiten erkennbar sind (vgl. H ANSEN 2000: 193). Man kann demzufolge auch von transnationalen Kollektiven der Landwirte, Heizungsmonteure, Lehrer oder Restaurantbesitzer ausgehen. 9 Die Betrachtung konkreter Gegenstände und Räume zeigt die Untauglichkeit einer Container-Theorie auch für die Beschreibung materieller Repräsentationen von Kultur. Beispielsweise handelt es sich bei einem Overhead-Projektor wohl kaum um eine Repräsentation der chinesischen Kultur. Viele Gegenstände lassen sich häu g nicht eindeutig einer Kultur zuordnen. Auch werden in konkreten Handlungsräumen häu g Gegenstände aus anderen Kulturen verwendet. Beispielsweise kann in China ein in Deutschland publiziertes Lehrwerk eingesetzt werden. <?page no="148"?> 136 Untersuchungsdesign stehen bleibt - Kommunikation einsetzt, werden aus Mitgliedern eines anonymen Globalkollektivs Mitglieder eines Monokollektivs. Das sich spontan bildende Kollektiv hat keine Vergangenheit. Gleiches gilt für jedes Kollektiv, welches sich gerade konstituiert. Fremdsprachenlerner, die an der Universität für das gleiche Fach eingeschrieben sind, sind zwar vergleichbar, denn sie alle erfüllen die Eingangsvoraussetzungen, und sie verbindet das gemeinsame Interesse, die deutsche Sprache zu erlernen und das Studium erfolgreich abzuschließen, jedoch konnte sich noch keine eigene Kultur des Kollektivs entwickeln. Erst im Verlauf ihrer Ausbildung bilden sich in dem Monokollektiv eigene Gewohnheiten, wodurch sich dieses Monokollektiv von anderen unterscheidet. Die Darstellung bei H ANSEN ist daher zu präzisieren: Monokollektive unterscheiden sich nicht nur durch Anzahl der Mitglieder, Breite des Identitätsangebots, Heftigkeit der Abgrenzung und Grad der Institutionalisierung (H ANSEN 2000: 202ff.), Monokollektive unterscheiden sich auch durch ihr Alter und die jeweilige Verweildauer der Mitglieder in ihnen. Von der Verweildauer hängt ab, ob sich durch die Interaktionen der Mitglieder, durch deren gemeinsame Unternehmungen und Erfahrungen eine eigene „Kultur“ des Monokollektivs etablieren konnte. In einem weiteren Punkt ist die Darstellung bei H ANSEN ergänzungsbedürftig: Individuen können in Kollektive nicht nur eintreten, sie können aus Kollektiven auch austreten. Es gehört häu g zum Kennzeichen vieler Kollektive, dass ihnen Mitglieder nur vorübergehend angehören, man denke beispielsweise an jugendkulturelle Gemeinschaften. In anderen Fällen erfordert der Eintritt in ein institutionalisiertes Monokollektiv den Austritt aus einem anderen, wenn beispielsweise die Mitgliedschaft in einer politischen Partei getauscht oder eine Arbeitsstelle gewechselt wird. Manchmal etablieren sich Monokollektive auch durch den gemeinsamen Eintritt ihrer Mitglieder, etwa im Fall von Studienanfängern. Dann werden in einer frühen Phase des Aufenthalts in diesem Kollektiv Gewohnheiten in Kollektiven, denen die Mitglieder früher angehörten, fortwirken und die Kultur des neuen Monokollektivs prägen. Die Gewohnheiten können allmählich auch verblassen und durch neue Standardisierungen ersetzt werden. Grundsätzlich muss eine Beschreibung einzelner Probanden neben aktuellen daher auch ehemalige Mitgliedschaften re ektieren. Der unbedingte Vorteil des Kulturmodells H ANSEN s besteht meines Erachtens darin, dass es konzeptionell von internen Widersprüchen in einem konkreten Kollektiv ausgeht und empirische Unterschiede weder ignoriert noch individualpsychologisch interpretiert. Die Annahme, dass sich kulturelle Identität durch Multikollektivität konstituiert, erlaubt es zweitens, von sich überlagernden, vielfach vernetzten Standardisierungen auszugehen, die in ihrem Zusammenwirken einen Menschen kulturell prägen. Das Kulturmodell H ANSEN s ist jedoch zu präzisieren, da Zeitlichkeit nicht thematisiert wird. Sowohl die aktuelle Verweildauer in einem Kollektiv als auch der Abstand zu ehemaligen Kollektiven sind kulturwissenschaftlich bedeutsam. Phänomene wie Migration werden erst beschreibbar, wenn Aufenthaltsdauer und Abstand zur Herkunftskultur re ektiert werden. Was bedeuten diese Re exionen für die Einschätzung der Probandengruppen in vorliegender Untersuchung? Lerner bringen, wenn sie ein neues Monokollektiv formen, ein bestimmtes Repertoire an Wissensvorräten, Handlungsmustern und Orientierungen mit, die während des Studiums verblassen können. In einem Kollektiv von Fremdsprachenlernern, das bereits einige Jahre besteht, könnten eigene Standardisierungen zu beobachten sein, weil sich neue Gewohnheiten etabliert haben und ehemalige Standardisierungen verblasst sind. Daher wird bei einer Untersuchung über Formen des Ar- <?page no="149"?> 137 Untersuchungsdesign gumentierens neben der aktuellen Mitgliedschaft der Probanden im Monokollektiv der Fremdsprachenlerner auch die ehemalige Mitgliedschaft im Multikollektiv der Mittelschüler zu berücksichtigen sein. Diese erweiterte Betrachtung der Multikollektivität von Fremdsprachenlernern bietet für empirische Untersuchungen folgende Vorteile: Die Unterscheidung ehemaliger und aktueller Mitgliedschaften in institutionalisierten Mono- und Multikollektiven macht es möglich, auch in die Vergangenheit reichende Standardisierungen in die Interpretation der Daten einzubeziehen und auch Entwicklungen zu beschreiben, die sich im Laufe der schulischen Sozialisation vollziehen. Die Annahme mehrerer Dachkollektive, denen Fremdsprachenlerner zugleich angehören, vermeidet es, Lerner einseitig als Repräsentanten ihrer Nationalkulturen zu betrachten, wie dies in vielen Arbeiten der Kontrastiven Rhetorik üblich ist. Die Annahme, dass sich kulturräumliche und nationalstaatliche Standardisierungen überschneiden, re ektiert den Umstand, dass sich in einem Kulturraum verschiedene Gesellschaftssysteme etablieren können, die das Verhalten der Mitglieder ganz erheblich beein ussen, etwa im Rahmen der staatlichen Bildungspolitik. 10.4 Die Probandengruppen Kein Monokollektiv ist wirklich repräsentativ. Man kann nicht erwarten, dass konkrete Vergleichsgruppen auch nur annähernd die Zusammensetzung einer Gesellschaft abbilden. Beispielsweise befand sich in den chinesischen Vergleichgruppen kein Angehöriger einer nationalen Minderheit. Man kann aber nicht prinzipiell ausschließen, dass sich in einer konkreten Gruppe zufällig Angehörige anderer Dachkollektive be nden. Hätten Tibeter in Shanghai oder Deutsche mit Migrationshintergrund in Jena von der Untersuchung ausgeschlossen werden sollen? Wohl kaum. Einige Unterschiede sind von vornherein unvermeidbar. Die Vergleichsgruppen T1 und T4 trennt neben dem deutlichen Altersunterschied vor allem die Verweildauer im jeweiligen Monokollektiv mit den angedeuteten Folgen. Man ndet jedoch in China keine anderen Monokollektive, deren Mitglieder in der Lage wären, sich auf Deutsch zu äußern. Das Auswahlkriterium „Fremdsprachenkompetenz” impliziert, dass Mitglieder gemeinsame Erfahrungen teilen, die sie im Kollektiv der Fremdsprachenlerner gesammelt haben. Hierdurch unterscheiden sich Mitglieder der Gruppe T4 notwendigerweise von Mitgliedern der Vergleichsgruppen T1 und FSU1. Eine nähere Betrachtung der Vergleichgruppen zeigt weitere deutliche Unterschiede. Allein die jeweiligen nationalen Bildungssysteme und Zugangsmodalitäten für ein Hochschulstudium haben gravierende Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Monokollektive. Daher wird jeder Versuch, in einem anderen Land eine „entsprechende“ Vergleichsgruppe zu nden, zwangsläu g fehlschlagen. Um es pointiert auszudrücken: Es gibt in Deutschland schlichtweg keine Millionenstadt, in der sich eine mehrheitlich aus weiblichen Teilnehmern bestehende Gruppe nden ließe, die mehrheitlich Elitegymnasien besucht haben, sich dort durch gute Leistungen in naturwissenschaftlichen Fächern auszeichnen konnten und sich dann entschieden, an einer Eliteuniversität in ihrer Heimatstadt ein Fremdsprachenstudium aufzunehmen. Wie bei Darstellung der Zugänge ins Feld dargestellt, nahmen in Shanghai sämtliche Studierende ihrer Jahrgangsstufen an der Untersuchung teil. Die Anzahl der Mitglieder <?page no="150"?> 138 Untersuchungsdesign der chinesischen Gruppen war daher vorgegeben, die Anzahl der Mitglieder der Jenaer Vergleichsgruppe orientiert sich an der Anzahl der chinesischen Studienanfänger. Bei den Probanden der ersten Gruppe (T1) handelt es sich um 20 chinesische Germanistikstudenten der Deutschen Fakultät der Tongji-Universität im ersten Studienjahr ohne Deutschkenntnisse. Die Probandengruppe aus Jena (FSU1) setzt sich aus 19 deutschen Studierenden im Erstsemester zusammen, die mehrheitlich ein geisteswissenschaftliches Fach studieren. Die dritte Gruppe (T4) bilden 15 chinesische Germanistikstudenten der Tongji-Universität zu Beginn ihres 4. Studienjahrs. Um erste Anhaltspunkte über die Vergleichsgruppen zu erhalten, wurden einige Eckdaten wie Geschlecht, Alter, Herkunft und Bildungskarriere (vgl. K ELLE / K LUGE 1999: 47f.) erhoben. Durchschnittsalter Aufgrund der einzelnen Altersangaben kann zunächst der Altersdurchschnitt in den jeweiligen Vergleichsgruppen ermittelt werden (siehe Tabelle 10.4). Vergleichsgruppe T1 FSU1 T4 Teilnehmerzahl 20 19 15 jüngster Teilnehmer 18,16 Jahre 18,50 Jahre 20,50 Jahre ältester Teilnehmer 19,08 Jahre 22,00 Jahre 22,58 Jahre Durchschnittsalter 18,65 Jahre 20,35 Jahre 21,64 Jahre Tabelle 10.4: Alterszusammensetzung der Vergleichsgruppen. Der Altersunterschied zwischen dem jüngsten und ältesten Teilnehmer beträgt in der Gruppe T1 etwa ein Jahr, in der Gruppe T4 etwa zwei Jahre. Demgegenüber besteht mit etwa dreieinhalb Jahren ein deutlich größerer Altersunterschied in der Gruppe FSU1. Außerdem sind die chinesischen Studierenden im Erstsemester wesentlich jünger als die Studierenden der deutschen Vergleichsgruppe. Das Durchschnittsalter der Probanden beider chinesischen Gruppen differiert um drei Jahre. Die Unterschiede lassen sich folgendermaßen erklären: Das chinesische Schulsystem folgt dem Schema 6-3-3-4. 10 Alle chinesischen Teilnehmer besuchten zuerst sechs Jahre die Grundschule und jeweils drei Jahre die Untere und Obere Mittelschule, um dann ein vierjähriges Hochschulstudium zu beginnen. Der Übergang zwischen den einzelnen Stufen dieses Systems erfolgt durch Aufnahmeprüfungen (vgl. L EHKER 1997: 44f.). Die Lerner der Gruppe T1 wurden demnach im sechsten Lebensjahr eingeschult, besuchten zwölf Jahre lang die Schule und begannen dann mit dem Studium. So waren sie durchschnittlich 18,65 Jahre alt. Mitglieder der Gruppe T4 hatten bereits drei weitere Jahre studiert. Deshalb waren sie durchschnittlich 21,64 Jahre alt. Die deutschen Studienanfänger sind im Durchschnitt deutlich älter als die chinesischen, was auf verschiedene Gründe zurückgeführt werden kann: Erstens dauert in Deutschland die Schulzeit in der Regel ein Jahr länger. Außerdem nehmen nicht alle Ab- 10 1986 wurde in der Volksrepublik China das Gesetz über die allgemeine Schulp icht erlassen, mit dem eine landesweite neunjährige Schulp icht durchgesetzt werden sollte. Im Jahr 1990 hatte die Mehrzahl der großen und mittleren Städte dieses Ziel erreicht. 97,8 Prozent aller Kinder besuchten landesweit sechs Jahre Grundschule, 74,6 % die Untere Mittelschule. (H ARNISCH 2000: 246). <?page no="151"?> 139 Untersuchungsdesign solventen der Sekundarschulen wie in China sofort nach bestandenem Abitur ihr Hochschulstudium auf. Einige verrichten ihren Zivil- oder Wehrdienst, andere absolvieren ein soziales Jahr. Außerdem nutzen viele Studierende die ersten Semester als Orientierungsphase. So nden sich in der Gruppe FSU1 einige Teilnehmer, die bereits seit zwei oder drei Semestern immatrikuliert waren, durch einen Wechsel des Hauptfachs jedoch das Fach DaF im ersten Semester studierten. In chinesischen Master-Studiengängen ist es weder möglich, Haupt- und Nebenfächer zu kombinieren, noch wechseln die Studierenden in den ersten Semestern den Studiengang. Geschlecht Das biologische Geschlecht gilt nach H ANSEN (2000: 204) als schicksalhaftes Primärkollektiv. In allen drei Vergleichsgruppen zeigt sich ein deutliches Übergewicht weiblicher Probanden (siehe Tabelle 10.5). Vergleichsgruppe T1 FSU1 T4 männliche Teilnehmer 3 (15 %) 2 (10 %) 4 (27 %) weibliche Teilnehmer 17 (85 %) 17 (90 %) 11 (73 %) Tabelle 10.5: Zusammensetzung der Vergleichsgruppen nach Geschlecht. An germanistischen Fakultäten in China studieren weit mehr Studentinnen als Studenten. Statistische Angaben, wie hoch der Frauenanteil unter chinesischen Germanistikstudenten landesweit ist, liegen meines Wissens nicht vor. Auch in Deutschland ist der Frauenanteil an DaF-Instituten überproportional hoch. Im Wintersemester 2003/ 2004 waren an der Friedrich-Schiller-Universität Jena insgesamt 323 Studierende für ein Magisterstudium mit DaF als erstem oder zweitem Hauptfach eingeschrieben. 267 Studentinnen (83 %) standen nur 56 Studenten (17 %) gegenüber. Ähnlich sind die Proportionen bei Studenten, die DaF als Nebenfach gewählt hatten. Hier waren 162 Studentinnen (90 %) und 18 Studenten (10 %) immatrikuliert. Im Fachgebiet Interkulturelle Wirtschaftskommunikation zeigt sich ein ähnliches Ungleichgewicht. Für dieses Fach, das als Magister-Nebenfach oder Teil eines Diplomstudiengangs studiert werden kann, waren im Wintersemester 2003/ 2004 von 621 eingeschriebenen Studierenden 477 weiblich (77 %). 11 Festzuhalten bleibt, dass der Anteil weiblicher Studierender in allen drei untersuchten Gruppen außerordentlich hoch ist. Sowohl in der Volksrepublik China als auch in der Bundesrepublik Deutschland ist der Frauenanteil im Fach Deutsch als Fremdsprache auffallend hoch. Herkunft Die Probanden wurden ebenfalls um Auskunft gebeten, in welchen chinesischen Provinzen bzw. deutschen Bundesländern sie die Sekundarschule absolviert hatten. Die Ergebnisse sind recht uneinheitlich. 11 Diese und folgende statistischen Angaben zur Situation in Jena verdanke ich Hartmut Pulst vom Dezernat 1 (Studium, Controlling, Datenverarbeitung) der Friedrich-Schiller Universität. <?page no="152"?> 140 Untersuchungsdesign T1 FSU1 T4 Shanghai 20 (100 %) Thüringen 9 (47 %) Shanghai 11 (73 %) Sachsen 3 (16 %) Jiangsu 2 (13 %) Brandenburg 1 (5 %) Zhejiang 2 (13 %) Mecklenburg- Vorpommern 1 (5 %) Westberlin 1 (5 %) Hessen 1 (5 %) Bayern 1 (5 %) Niedersachsen 1 (5 %) Baden- Württemberg 1 (5 %) südchinesische Küstenprovinzen 20 (100%) neue Bundesländer 14 (74 %) südchinesische Küstenprovinzen 15 (100 %) alte Bundesländer 5 (26 %) Tabelle 10.6: Zusammensetzung der Vergleichsgruppen nach Herkunft. Sämtliche Mitglieder der Gruppe T1 wurden in Shanghai geboren, ebenso die überwiegende Mehrheit der Gruppe T4. Jeweils zwei Studierende stammten aus den Provinzen Jiangsu (Heimatstadt: Suzhou) und Zhejiang (Heimatstädte: Wuyi und Ningbo). Die genannten Provinzen grenzen an das Stadtgebiet Shanghais und sind Teil des prosperierenden Küstengürtels, d. h. kein Proband stammte aus einer weit entfernten Provinz. Das gravierende Stadt-Land-Gefälle in der Volksrepublik spiegelt sich daher in keiner der beiden Probandengruppen. Die Angaben zur Herkunft in der deutschen Gruppe zeigen eine größere Streuung. Auffallend ist, dass etwa die Hälfte der Probanden (47 %) aus Thüringen stammt. Werden die anderen Bundesländer in alte und neue unterteilt, dann zeigt sich, dass etwa drei Viertel (74 %) der Studierenden in Gruppe FSU1 aus der ehemaligen DDR stammen. Dieses Ergebnis ist nicht zufällig. Der Anteil an Studierenden aus den alten Bundesländern hat sich an der FSU in den vergangenen Jahren zwar beständig erhöht, ist jedoch mit 11 % im Wintersemester 2003/ 2004 noch immer relativ gering. . Es zeigen sich in den drei Vergleichsgruppen also durchaus ähnliche Tendenzen: Die Mehrheit der Probanden stammt aus Gebieten, die nicht weit vom Studienort entfernt liegen. In der Gruppe FSU1 zeigen sich jedoch vergleichsweise große intrakulturelle Unterschiede: etwa drei Viertel der Probanden wurde in den neuen, ein Viertel in den alten Bundesländern schulisch sozialisiert. <?page no="153"?> 141 Untersuchungsdesign Schulbildung Eine Einschätzung der Bildungskarrieren kann nur vor dem Hintergrund der Schulsysteme in beiden Nationalstaaten erfolgen. Dem dreigliedrigen deutschen Schulsystem im Sekundarbereich, erweitert durch die Integrierte Gesamtschule, steht in der Volksrepublik China auf unterschiedlichen administrativen Ebenen ein eingliedriges, nach Leistungskriterien differenziertes System gegenüber. Leistungsstarke Schüler müssen nicht die Allgemeinen Mittelschulen (putong zhongxue) besuchen, ihnen stehen Schwerpunkt- Mittelschulen (zhongdian zhongxue) offen. Über diese Schulen schreibt L EHKER : Es wird die Schule zur Schwerpunkteinrichtung ernannt, die eine hohe Aufrückquote in die nächst höhere Schulkategorie vorweisen kann. Schwerpunktschulen werden nanziell und personell besser ausgestattet als allgemeine Schulen, was wiederum die Chancen ihrer Schüler auf einen Übergang zu einer weiteren Schwerpunktschule, ein gutes Abschneiden bei der Hochschulaufnahmeprüfung und damit die Aufnahme in eine der Schwerpunkthochschulen erhöht (L EHKER 1997: 46). In der Volksrepublik wird schon in der Grundschule streng nach Leistung selektiert. Nur die besten Grundschüler gelangen in Schwerpunkt-Mittelschulen und die besten dieser Schüler dann an Schwerpunkthochschulen. Die Teilnehmer der Untersuchung machten die in Tabelle 10.7 zusammengefassten Angaben: T1 FSU1 T4 Schwerpunkt- Mittelschule (Landesebene) 1 (5 %) Gymnasium 16 (84 %) Schwerpunkt- Mittelschule (Landesebene) 2 (13 %) Schwerpunkt- Mittelschule (Provinzebene) 14 (70 %) Integrierte Gesamtschule 3 (15 %) Schwerpunkt- Mittelschule (Provinzebene) 9 (60 %) Schwerpunkt- Mittelschule (Bezirksebene) 4 (20 %) Schwerpunkt- Mittelschule (Bezirksebene) 4 (27 %) Allgemeine Mittelschule 1 (5 %) Tabelle 10.7: Zusammensetzung der Vergleichsgruppen nach Schulbildung. Auffallend ist, dass mit einer Ausnahme alle Teilnehmer der chinesischen Vergleichsgruppen Schwerpunktmittelschulen besucht hatten, zumeist auf Provinzebene. Die Probanden konnten sich in diesen Schulen gut quali zieren, denn zum Studium zugelassen werden allein „Mittelschulabsolventen, die gute Leistungen bei der Hochschulaufnahmeprüfung (naturwissenschaftliche Fächer als Schwerpunkt) erzielt haben“ (Bericht der Deutschen Fakultät 2000: 10). Weil die Tongji-Universität eine Schwerpunkteinrichtung ist und seit 1998 zu den landesweit besonders geförderten Hochschulen im „Projekt 211“ 12 gehört, werden ihr fast ausschließlich Mittelschüler mit einer sehr hohen Punktzahl in der Hochschulaufnahmeprüfung zugewiesen. 12 Das „Projekt 211“ verdankt seine Bezeichnung einer Kombination der Zahl 21 für das 21. Jahrhundert und der Zahl 1 für 100 Universitäten, die besonders gefördert werden sollen. H ARNISCH (2000: <?page no="154"?> 142 Untersuchungsdesign In Deutschland werden Bildungseliten nicht so gezielt gefördert wie in China. Auch gibt es noch kein einheitliches Zentralabitur, welches Schulleistungen besser vergleichbar machte. Allein das Abitur attestiert die Hochschulreife, wenngleich zum Studium einzelner Fächer bekanntlich besondere Eingangsvoraussetzungen erfüllt werden müssen. Zur Aufnahme eines Studiums des Faches DaF bestand jedoch zum Zeitpunkt der Erhebung kein Numerus clausus. Insgesamt lässt sich festhalten: Die chinesischen Probanden hatten sich alle in einem streng selektierenden Schulsystem bewährt. Sie gehörten zu den besonders leistungsstarken Mittelschülern. Ähnliches kann den deutschen Probanden nicht attestiert werden. Zur Aufnahme des Studiums berechtigte sie das Abitur, das sie mit guten oder auch weniger guten Noten ablegen konnten. Studienschwerpunkte Zu den Eingangsvoraussetzungen wird im Bericht der Deutschen Fakultät hervorgehoben, dass Studienbewerber bei der Hochschulaufnahmeprüfung in naturwissenschaftlichen Fächern gute Leistungen nachweisen müssen. 13 Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Tongji-Universität eine Technische Universität ist, was die Studienziele sowie das Lehrangebot des Germanistikstudiums maßgeblich beein usst. 14 Die Besonderheit der chinesischen Germanistikstudenten an der Tongji-Universität besteht darin, dass sie an einer Technischen Universität ein geisteswissenschaftliches Fach studieren. Vergleichbare Studenten sind in Deutschland kaum zu nden, Abiturienten mit naturwissenschaftlichen Neigungen dürften sich kaum für ein Studium „Deutsch als Fremdsprache“ entscheiden. So hatten die Probanden an den Gymnasien oder Gesamtschulen erwartungsgemäß vorrangig geisteswissenschaftliche Leistungskurse belegt. 15 244) schreibt über dieses Projekt: „Durch die Einführung konkurrierender Begutachtung soll das fest gefügte Hochschulsystem, in dem die Schwerpunkthochschulen dauerhaft mit einer besseren Ausstattung rechnen konnten, aufgebrochen und durch eine gezieltere Förderung von Spitzenuniversitäten und Spitzeninstituten erreicht werden. Im Jahr 1998 waren insgesamt 350 Fächer an 59 Universitäten positiv begutachtet und für die Förderung im Rahmen dieses Projekts ausgewählt worden; weitere 38 Universitäten befanden sich in der Begutachtungsphase. Mit einem Finanzvolumen von insgesamt 13 Milliarden Yuan bis zum Jahr 2000 gilt dieses Projekt als die größte Investition im Bildungsbereich.“ 13 Chinesische Mittelschüler entscheiden sich bereits bei Eintritt in die Obere Mittelschule, ob sie später an einer geisteswissenschaftlichen oder an einer naturwissenschaftlichen Universität studieren wollen. Dann besuchen sie entweder den geisteswissenschaftlichen oder den naturwissenschaftlichen Zweig der Oberen Mittelschule (vgl. L EHKER 1997: 44), was wiederum Auswirkungen auf die Fächer hat, in denen sie bei der Hochschulaufnahmeprüfung geprüft werden. Trotz dieser Differenzierung gibt es P ichtfächer für alle Mittelschüler. So ist neben Mathematik auch Chinesisch ein P ichtfach an den Oberen Mittelschulen (vgl. L EHKER 1997: 66). Auch bei der Hochschulaufnahmeprüfung gibt es vier obligatorische Prüfungsteile für alle Kandidaten: Chinesisch, Mathematik, Politik und Englisch. 14 Zu den Studienzielen heißt es im Bericht: „Ausbildung von Übersetzern und Dolmetschern auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und Technik sowie die Ausbildung von Deutschlehrern für technische Hochschulen und Universitäten.“ Diese Orientierung beein usst das Lehrangebot: „Besonders zu erwähnen ist die Vermittlung der Kenntnisse von Fachsprachen und Wirtschaftsdeutsch.“ (Bericht der Deutschen Fakultät der Tongji-Universität 1979-1999: 10). 15 Mehr als die Hälfte der Teilnehmer (58%) hatte Deutsch als Leistungskurs gewählt, meist in Kombination mit einer Fremdsprache (37%), seltener mit einem weiteren geistes- oder einem sozialwissenschaftlichen Fach (16%) oder einer Naturwissenschaft (5%). Daneben wurden auch zwei Fremdsprachen (10%) oder eine Fremdsprache mit einem sozialwissenschaftlichen Fach (5%) kombiniert. Selten war die Kombination zweier Naturwissenschaften (5%) oder die Kombination einer Naturwissenschaft und einer Sozialwissenschaft (5%). <?page no="155"?> 143 Untersuchungsdesign In China wird nach amerikanischem Vorbild nur ein bestimmtes Fach studiert. Die chinesischen Probanden befanden sich daher im ersten oder vorletzten Semester ihrer vierjährigen Bachelor-Ausbildung im Studiengang Germanistik. In deutschen Magister- Studiengängen können hingegen Haupt- und Nebenfächer kombiniert werden, was zu einem recht heterogenen Bild einer Gruppe deutscher Studienanfänger führen kann. Die Teilnehmer der Gruppe FSU1 machten Angaben zu ihren Fächerkombinationen, die in Tabelle 10.8 zusammengefasst sind. Hauptfach 2. Hauptfach / 1. Nebenfach 2. Nebenfach Angestrebter Abschluss Deutsch als Fremdsprache Erziehungswissenschaft Soziologie Magister Deutsch als Fremdsprache Erziehungswissenschaft Anglistik/ Amerikanistik Magister Deutsch als Fremdsprache Erziehungswissenschaft Sprechwissenschaft Magister Deutsch als Fremdsprache Anglistik/ Amerikanistik Geschichte Magister Deutsch als Fremdsprache Anglistik/ Amerikanistik Romanistik (Spanisch) Magister Deutsch als Fremdsprache Psychologie Anthropogeographie Magister Medienwissenschaft IWK Psychologie Magister Medienwissenschaft IWK Psychologie Magister Medienwissenschaft IWK Anglistik/ Amerikanistik Magister Germanistik IWK Wirtschafts- und Sozialgeschichte Magister Germanistik IWK Wirtschafts- und Sozialgeschichte Magister Politikwissenschaft IWK Medienwissenschaft Magister Politikwissenschaft IWK Romanistik (Portugiesisch) Magister Romanistik Deutsch als Fremdsprache IWK Magister Erziehungswissenschaften Deutsch als Fremdsprache Volkskunde/ Kulturgeschichte Magister Biologie IWK Medienwissenschaft Magister Volkswirtschaftslehre IWK Diplom Volkswirtschaftslehre Diplom Betriebswirtschaftslehre Diplom Tabelle 10.8: Studienschwerpunkte FSU1. <?page no="156"?> 144 Untersuchungsdesign Diese Übersicht zeigt, dass sich an der Untersuchung vorrangig Studierende beteiligten, die sich im Studium für eine Kombination geisteswissenschaftlicher Fächer entschieden hatten. Die meisten Teilnehmer studierten in einem Magisterstudiengang das Hauptfach DaF und das Nebenfach Erziehungswissenschaft und/ oder eine Fremdsprache. Auch Studierende, die IWK im Nebenfach studierten, gaben als Hauptfach zumeist eine Geisteswissenschaft an. Erwähnenswert sind drei Studierende, die im Rahmen eines wirtschaftswissenschaftlichen Diplomstudiengangs Seminare im Bereich IWK belegten. Der Vergleich zeigt, dass den chinesischen Germanistikstudenten, die an einer Technischen Universität eine Geisteswissenschaft studieren, deutsche Studierende gegenüberstehen, die an einer Gesamthochschule mehrheitlich ein geisteswissenschaftliches Fach studieren. Ein markanter Unterschied zwischen den Gruppen besteht darin, dass die chinesischen Studierenden in der Mittelschule gute Leistungen in naturwissenschaftlichen Fächern nachweisen mussten, während sich die deutschen Teilnehmer in der Sekundarschule mehrheitlich für geistes- oder sozialwissenschaftliche Leistungskurse entschieden hatten. Die bisheigen Ergebnisse sind in Tabelle 10.9 zusammengefasst. Vergleichgruppe T1 FSU1 T4 Teilnehmerzahl 20 19 15 Durchschnittsalter 18,65 Jahre 20,35 Jahre 21,64 Jahre Frauenanteil 85 % 89 % 73 % Herkunft südchinesische Provinzen (100 %) neue Bundesländer (74 %) südchinesische Provinzen (100 %) Besuchte Sekundarschulen Schwerpunktmittelschulen (95 %) Gymnasien (84 %) Schwerpunktmittelschulen (100 %) Studienrichtung an der Universität Germanistik (100 %) DaF oder anderes geisteswissenschaftliches Hauptfach (79 %) Germanistik (100 %) Tabelle 10.9: Überblick über die Zusammensetzung der Vergleichsgruppen. Die Probandengruppe T1 Mitglieder der Gruppe T1 formen ein Monokollektiv, das sich erst kürzlich konstituiert hat. Bedingung für den Eintritt in dieses Kollektiv war, eine hohe Punktzahl bei der landesweiten Aufnahmeprüfung erreicht zu haben. Die Mitglieder kennen einander kaum und hatten noch keinen Kontakt zu deutschen Lektoren, so dass sich noch keine eigenen Standardisierungen des Kollektivs etablieren konnten. Da der Eintritt in das Kollektiv erst wenige Wochen zurückliegt und die Hochschulaufnahmeprüfung erst kürzlich absolviert worden ist, kann davon ausgegangen werden, dass Prägungen ehemaliger Monokollektive fortwirken und Formen der Textproduktion beein ussen. Mitglieder der Gruppe T1 sind durchschnittlich etwa zwei Jahre jünger als Mitglieder der Gruppe FSU1, was vor allem darauf zurückgeführt werden kann, dass chinesische Schüler die Mittelschulen ein Jahr früher verlassen als deutsche Schüler die Gymnasien. <?page no="157"?> 145 Untersuchungsdesign Der Frauenanteil ist in der Gruppe T1 sehr hoch, außerdem stammen Mitglieder dieses Kollektivs ausnahmslos aus Shanghai. In dieser prosperierenden Metropole haben sie mehrheitlich eine Schlüssel-Mittelschule besucht und konnten hohe Eingangsvoraussetzungen der Universität erfüllen. Die Mitglieder dieses Monokollektivs gehören denselben Dachkollektiven an. Als Bürger der Volksrepublik China gleicht sich ihre schulische Sozialisation. In den Mittelschulen benutzten sie Lehrwerke, die landesweit eingesetzt werden, sie folgten Curricula der Staatlichen Erziehungskommission und absolvierten die zentrale Hochschulaufnahmeprüfung. Hierin unterscheiden sie sich von Studierenden aus Taiwan, Hongkong oder Singapur. Mit diesen verbindet sie die Mitgliedschaft im Dachkollektiv der chinesischen Kulturnation, in dem bestimmte Werte und Normen gelten, ähnliche Handlungsmuster und Diskurskonventionen befolgt werden etc. Schließlich sprechen alle Mitglieder dieses Kollektivs neben dem lokalen Dialekt die chinesische Standardsprache (putonghua), wodurch sie dem supranationalen Kollektiv aller Sprecher des Chinesischen angehören. Die Probandengruppe FSU1 Auch die Mitglieder der Gruppe FSU1 formen ein Kollektiv, dessen Mitglieder sich nicht oder kaum kennen, da sich dieses Monokollektiv nur konstituiert hat, um an einer empirischen Untersuchung mitzuwirken. Vor und nach Durchführung der Untersuchung formen die Mitglieder dieses Kollektivs keinen Klassenverband, da sie für unterschiedliche Studiengänge eingeschrieben sind und daher keine feste Seminargruppe bilden. Bedingung für die Mitgliedschaft war die Bereitschaft, sich an der Untersuchung zu beteiligen, außerdem hatten die Mitglieder eine deutsche Sekundarschule besucht und mit dem Abitur die Berechtigung erworben, an einer deutschen Hochschule zu studieren. Eine Einschätzung, ob es sich um ehemals besonders leistungsstarke Schüler deutscher Gymnasien handelt, ist aufgrund der erhobenen Angaben nicht möglich. Ähnlich wie in Gruppe T1 liegt der Austritt aus den jeweiligen Monokollektiven an den Sekundarschulen noch nicht lange zurück. Daher kann ebenfalls davon ausgegangen werden, dass dort erworbene Gewohnheiten fortwirken und aktuelle Formen der Textproduktion beein ussen. Mitglieder der Gruppe FSU1 sind etwa zwei Jahre älter als Mitglieder der chinesischen Vergleichsgruppe, was auf eine in Deutschland generell später erfolgende Aufnahme des Hochschulstudiums zurückgeführt werden kann. Der Frauenanteil in dieser Gruppe ist wie in der Vergleichsgruppe T1 recht hoch. Unterschiede sind hinsichtlich der Herkunft der Mitglieder zu konstatieren: Mehrheitlich wurden Mitglieder dieses Kollektivs in Ostdeutschland sozialisiert, nur jedes vierte Mitglied besuchte eine westdeutsche Sekundarschule. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Herkunft sind alle Mitglieder des Kollektivs Einwohner der Bundesrepublik Deutschland und gehören ebenfalls dem supranationalen Dachkollektiv der deutschen Kulturnation und deutschen Sprachgemeinschaft an, was sie mit vielen Altersgenossen in Österreich und Teilen der Schweiz verbindet. Die Probandengruppe T4 Die Besonderheit des Kollektivs T4 besteht darin, dass sich in diesem Monokollektiv eigene Gewohnheiten etablieren konnten, weil die Mitglieder bereits drei Jahre lang in engem Kontakt zueinander standen und gemeinsame Erfahrungen während ihrer Ausbildung gemacht hatten. Während ihres Bachelor-Studiums besuchten sie bei chinesi- <?page no="158"?> 146 Untersuchungsdesign schen und deutschen Dozenten die gleichen Lehrveranstaltungen, beschäftigten sich mit der deutschen Sprache und Kultur, was sie überhaupt erst in die Lage versetzte, im Rahmen der Untersuchung Texte in der Fremdsprache zu produzieren. Die Mitglieder der Gruppe T4 sind durchschnittlich drei Jahre älter als Mitglieder der Gruppe T1, der Frauenanteil ist ebenfalls relativ hoch, auch stammen sie aus der Region Shanghai oder angrenzenden Provinzen und gehören den gleichen Dachkollektiven an wie Mitglieder der Gruppe T1. Zwischenfazit Die personengebundenen Angaben lassen einige deutliche Unterschiede zwischen den drei Vergleichsgruppen erkennen. Unwillkürlich stellt sich die Frage nach der Berechtigung eines kulturkontrastiven Vergleichs, nach der Kompatibilität der erhobenen Daten aufgrund der jeweiligen Zusammensetzung der untersuchten Kollektive. Rückblickend möchte ich festhalten: In der Praxis trifft man an ausländischen Hochschulen auf Lernergruppen, die sich von deutschen Vergleichsgruppen deutlich unterscheiden, weil bestimmte Zugangsmodalitäten im Ausland oft anderen Personengruppen einen Hochschulbesuch ermöglichen. Eine kontrastive Untersuchung kann sich daher nur bemühen, Probanden für eine Teilnahme zu gewinnen, die sich aufgrund zentraler soziodemographischer Eckdaten (K ELLE / K LUGE 1999: 47f.) annähernd entsprechen. Einziges Auswahlkriterium der Probanden vorliegender Untersuchung war, in ihrem Heimatland ein Hochschulstudium aufgenommen zu haben, unabhängig von Geschlecht, Herkunft und sozioökonomischem Status der Eltern. Erst im Verlauf der Untersuchung zeigten sich einige überraschende Übereinstimmungen. So erwies sich etwa der Frauenanteil in allen untersuchten Gruppen als überproportional hoch. Andere Merkmale zeigten wiederum Unterschiede zwischen den Gruppen. So hatten die chinesischen Probanden mehrheitlich Mittelschulen in der Stadt Shanghai besucht, während die deutschen Studienanfänger aus verschiedenen Bundesländern stammten und unterschiedliche Schulformen besucht hatten, was durchaus Ein uss auf Formen der Textproduktion haben könnte. Die Materiallage erlaubt es jedoch nicht, diese regionalen und institutionellen Unterschiede bei der Dateninterpretation zu re ektieren. Außerdem bleibt festzuhalten, dass viele, womöglich gravierende Unterschiede auch während der Untersuchung nicht erfasst worden sind, beispielsweise religiöse und politische Orientierungen der Probanden. Die Lektüre der Aufsätze lässt zwar einige Facetten ihrer individuellen Multikollektivität erahnen, viele Facetten bleiben jedoch auch nach Auswertung der verfügbaren Daten verborgen. 10.5 Der Ausgangstext Das Untersuchungsdesign (vgl. 10.1) sieht vor, dass allen Probanden der gleiche Ausgangstext vorgelegt und die gleiche Arbeitsaufgabe gestellt wird. Aus ihrem muttersprachlichen Unterricht in Deutschland und China ist den Probanden die Übungsform des gelenkten Schreibens bekannt, in beiden Ländern werden textgebundene Erörterungen bzw. cailiao zuowen (materialbezogene Aufsätze) geschrieben. Kriterien der Textauswahl Vor der Datenerhebung musste ein für alle drei Probandengruppen geeignet erscheinender Ausgangstext ausgewählt werden. Im Anschluss an N ORD (1995) nennt K AUTZ (2002: 147-154) acht Kriterien der Textauswahl für den Übersetzungsunterricht. Vier dieser <?page no="159"?> 147 Untersuchungsdesign Kriterien lassen sich auch für die Wahl eines Ausgangstextes im Rahmen einer Untersuchung zum Schreiben in der Fremdsprache anwenden. 1. Authentizität: Als Ausgangstext für die Textproduktion in der Fremdsprache bietet sich ein Text in der Zielsprache an, der von Muttersprachlern verfasst, repräsentativ für eine bestimmte Textsorte und in sich geschlossen ist (vgl. K AUTZ 2002: 148). 2. Thematik: Ein Ausgangstext sollte für die Kultur- und Kommunikationsgemeinschaften der Probanden relevant sein (vgl. K AUTZ 2002: 148). Zudem sollte er deren Erfahrungen berücksichtigen, ihnen interessant erscheinen und aktuell sein, indem er eine für sie relevante Situation einbezieht (vgl. K AUTZ 2002: 154). Dann bietet der Text einen geeigneten Schreibanlass. Ein gestelltes Thema sollte sich an der minimalen Anforderung orientieren, dass man erfolgreich nur über etwas schreiben kann, was einen betrifft oder interessiert, wozu man schon Kenntnis oder wozu man Lebenserfahrung hat. Ergänzend kann zum Kriterium einer geeigneten Thematik angemerkt werden, dass sich für eine Untersuchung argumentativer Texte ein Ausgangstext anbietet, in dem eine „wirklich“ strittige Angelegenheit verhandelt wird. Wie K ARG (2000) kritisiert, werden Lerner im Aufsatzunterricht oftmals aufgefordert, ein Thema kontrovers zu erörtern, das sich hierzu gar nicht eignet. 16 Der Ausgangstext sollte daher eine Frage aufwerfen, zu der tatsächlich konträre Standpunkte eingenommen werden können. Außerdem wird die Wahl eines Ausgangstextes auch von institutionellen Rahmenbedingungen beein usst. So verbietet es sich beispielsweise in der Volksrepublik China, einen Text einzusetzen, der ein brisantes politisches Thema aufwirft, obgleich er die Kriterien thematische Relevanz, Interessantheit und Aktualität erfüllt. 3. Schwierigkeitsgrad: Ein Ausgangstext sollte dem Niveau der Kultur-, Fach- und Sprachkompetenz der Probanden angemessen sein (vgl. K AUTZ 2002: 149). Ein Ausgangstext in der Zielsprache sollte kein umfangreiches landeskundliches Vorwissen voraussetzen und die Sprachkompetenz der Fremdsprachenlerner berücksichtigen, so dass diese ihn ohne umfangreiche Vorentlastung und ohne weitere Hilfsmittel verstehen können. 4. Länge: Ein Ausgangstext sollte in den zeitlichen Rahmen der Untersuchung passen bzw. passend gemacht werden können (vgl. K AUTZ 2002: 153). Sofern der Text zu umfangreich ist, wird die Phase der Textrezeption verlängert und die Phase der Textproduktion verkürzt. Die genannten Kriterien führten zur Wahl eines Textes von S TEFANIE G EORGE (2000) über Ereignisse an einer Hamburger Haupt- und Realschule und der dortigen Entscheidung, einheitliche Schulkleidung zur Eindämmung des Markenterrors einzuführen. Es handelt sich um einen von einer Muttersprachlerin verfassten authentischen Zeitungsbericht über ein aktuelles Ereignis. Thematisch bot sich der Text an, da er auf ein gesellschaftliches Problem eingeht, das auch in China bekannt ist. Die in Hamburg eingeleitete Maßnahme ist für chinesische Rezipienten keineswegs fremd, da an vielen Schulen seit langem Uniformen getragen werden. Daher schien der Text einen geeigneten Schreiban- 16 Ein Text über das Internet eignet sich beispielsweise nicht zur Diskussion der Frage „Sollte man heute einen Internetanschluss haben? “, da diese Entscheidungsfrage zu einer pseudo-dialektischen Argumentation und einer schematischen Anwendung des Modells These-Antithese-Synthese einlädt. Weitaus angemessener wäre es, die Lerner aufzufordern, sich in Form einer Sacherörterung schriftlich mit den Bedingungen des sinnvollen Umgangs mit dem Internet auseinander zu setzen (vgl. K ARG 2000: 196). <?page no="160"?> 148 Untersuchungsdesign lass zu bieten, auch eigene Erfahrungen zur Sprache zu bringen. Mit der Entscheidung, einen einheitlichen Schulpullover einzuführen, wird außerdem eine wirklich strittige These zur Diskussion gestellt. In ihren Texten können die Probanden die Hamburger Maßnahme befürworten oder ablehnen. Der Schwierigkeitsgrad und die Länge des Textes - dies bestätigten chinesische Dozenten im Vorfeld der Datenerhebung - entsprach schließlich der Kultur- und Sprachkompetenz der Probanden aus Gruppe T4. Drei Varianten des Ausgangstextes Mit Blick auf die unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen der Probanden wurden drei Varianten des Ausgangstextes angefertigt. Variante (1) Den Teilnehmern der Gruppe FSU1 wurde eine leicht gekürzte Version des Zeitungsartikels ausgehändigt. Im Originaltext werden nicht nur Argumente der Befürworter, sondern auch der Gegner genannt. So geben Psychologen zu bedenken, Jugendliche würden in Schuluniform kein Selbstbewusstsein mehr entwickeln, wie es normal der Fall sei (vgl. G EORGE 2000). Den Probanden sollte jedoch kein Ausgangstext vorgelegt werden, in dem Pro- und Kontra-Argumente gegenübergestellt werden. Dann wäre zu erwarten gewesen, dass sich die Probanden in ihren eigenen Erörterungen stark an die Darstellung des Ausgangstextes anlehnen. Daher wurde der Originaltext gekürzt und nur die Position wiedergegeben, die von den Initiatoren der Maßnahme vertreten wird. Markenterror an Schulen nimmt zu von Stefanie George (1) Der „Markenterror“ macht nicht vor deutschen Schulen Halt. (2) Viele Jugendliche werden tagtäglich von Mitschülern gedissed und verspottet, weil sie sich keine teuren Klamotten leisten können. (3) Eine mögliche Lösung dieses Problems wäre die Einführung der Schuluniform. (4) In der Haupt- und Realschule Hamburg-Sinstorf tragen die Schüler seit September einheitliche Pullover - (5) und das Projekt scheint zu funktionieren. (6) „Aldi-Kind“, „Altkleidersammler“ und „Sozialversager“ - die Begriffe sind nicht so lustig für den, dem sie nachgerufen werden. (7) Manchmal kommt es zu Prügeleien - auch aus der umgekehrten Perspektive heraus. (8) Einem Schüler einer Hauptschule wurde der Markenpullover zerrissen; seine Mitschüler beschimpften ihn als „Bonzenkind“. (9) Dem hartnäckigen Wettstreit um die teuersten Markenklamotten ein für allemal ein Ende zu setzen, (10) das war der Hintergrund, der Eltern und Schule zu diesem Projekt gebracht hat. (11) Seit zwei Monaten tragen die Schüler der Haupt- und Realschule deshalb im Unterricht ein einheitliches grünes Sweatshirt mit dem Logo der Schule. (12) Die Reaktion der Jugendlichen nach anfänglicher Skepsis: sehr positiv. (13) „Ich nde den Pullover gut“, so der zwölfjährige Manuel (14) und spricht damit offensichtlich auch für seine Mitschüler. (15) „Jetzt kann hier keiner mehr mit seinen teuren Klamotten angeben, (16) und es gibt weniger Streit.“ (17) Annika ist froh, dass sie morgens nicht mehr lange überlegen muss, was sie anziehen soll. (18) Auch wenn die Wahl von Hose und Schuhen weiterhin den Jugendlichen überlassen bleibt - (19) der Pulli setzt in jedem Fall ein Zeichen gegen das Markendiktat. (20) Unabhängig ob die Kinder aus wohlhabenden oder weniger begüterten Familien <?page no="161"?> 149 Untersuchungsdesign kommen - in Hamburg-Sinstorf ist man sich einig, dass der Modewettkampf aus der Schule verbannt werden muss. (21) Schulleiter Klaus Damian beobachtet das Problem schon lange mit Unbehagen. (22) Kinder aus sozial schwachen Familien stünden oft unter starkem Druck, mit den Klassenkameraden mithalten zu können. (23) Den grünen Schulpullover, der auch als T-Shirt und Polohemd zu Preisen zwischen 22 und 36 Mark erhältlich ist, sieht der Schulleiter als Zeichen der Zusammengehörigkeit. (24) Auch er selbst und einige der Lehrer tragen den Pullover inzwischen. In diesem Text werden verschiedene Beweggründe zur Einleitung der Maßnahme und Reaktionen der Schüler genannt, wodurch die getroffene Entscheidung rückblickend gerechtfertigt wird. Neben der informativen Grundfunktion verfolgt der Text auch eine persuasive Absicht (vgl. B RINKER 1997: 94). Der Geltungsanspruch der zentralen These wird durch Argumente eingelöst, vorgetragen von den Initiatoren der Maßnahme sowie den betroffenen Schülern. These: (3) Die Einführung der Schuluniform ist zu begrüßen. Argument 1: (5, 13; 14; vgl. 2; 6; 7; 8; 22 ) Der Markenterror wird eingedämmt. Argument 2: (19) Schuluniformen setzen ein Zeichen gegen das Markendiktat. Argument 3: (17) Schüler müssen morgens nicht mehr lange überlegen, was sie anziehen sollen. Argument 4: (23) Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Schüler wird gestärkt. Durch Lektüre dieses Textes werden die Probanden über Vorkommnisse in Deutschland informiert. 17 Auf der thematischen Ebene des Textes wird der Diskurs dargestellt, wie er in Hamburg geführt wurde, um ein aufgetretenes Problem zu bewältigen. Die Darstellung der Handlungen auf der Diskursebene (vgl. Kapitel 4.2) wird ergänzt durch eine Beschreibung der eingeleiteten Maßnahme und der eingetretenen Wirkungen. Mit R EHBEIN (1977: 182) lassen sich folgende Handlungsstadien rekonstruieren: 17 Wie das in Abschnitt 4.5 entwickelte Textproduktionsmodell zeigt, ist der Handlungskontext des Fremdsprachenunterrichts häu g dadurch gekennzeichnet, dass die interagierenden Akteure verschiedenen Kulturen angehören. Zur Kennzeichnung der kulturellen Unterschiede dienten die Variabeln K1 und K2. Weiter zeigt das Modell, dass in Texten, die im Unterricht eingesetzt werden, häu g Situationen thematisiert werden, die sich nicht in der Kultur der Lerner ereignet haben. Auch dieser Handlungsraum wird mit der Variable K2 bezeichnet. Wenn im Rahmen einer reproduktivproduktiven Schreibübung Lerner auf Grundlage eines Ausgangstextes, der Situationen in K2 darstellt, Texte verfassen, dann lässt sich das Modell folgendermaßen interpretieren: Ein Lerner aus K1 äußert sich im Modus der Interimssprache gegenüber einem Lehrer aus K2 zu Situationen aus K2. Mit H ANSEN ist bereits argumentiert worden, dass bereits die Entgegensetzung von K1 und K2 eine Vereinfachung darstellt, da unterstellt werden kann, dass zwischen den Kollektiven, denen Lerner und Lehrer angehören, vielfältige Überschneidungen und Vernetzungen bestehen. Gleiches gilt für die Texte, die im Unterricht eingesetzt werden. Sie zeigen nicht einfach Situationen in Deutschland, sondern nur Ausschnitte. So zeigt der Zeitungsbericht, der den Probanden aus Shanghai und Jena vorgelegt worden ist, eine Kontroverse an einer Hamburger Schule. <?page no="162"?> 150 Untersuchungsdesign 0 Handlungskontext (1) An der betreffenden Schule tritt das Problem des Markenterrors auf. (2) Kon ikte entstehen, weil sich nicht alle Schüler teure Markenkleidung leisten können. (6) Sie beschimpfen einander, (7) und es kommt zu Prügeleien. (22) Insbesondere Kinder aus sozial schwachen Familien stehen unter Druck, wie ihre Mitschüler aus wohlhabenden Elternhäusern Markenkleidung zu tragen. (8) Aber auch ein Schüler, der sich einen Markenpullover leisten konnte, wurde Opfer der Gewalt. Er wurde als „Bonzenkind“ angegriffen und sein Pullover zerrissen. 1 Einschätzung der Situation (21) Der Markenterror löst beim Schulleiter (sowie den betroffenen Schülern, Eltern und Lehren) Unbehagen aus. 2 Motivation (10) Elternschaft und Schulleitung treffen sich, (9) um gemeinsam nach Wegen zu suchen, wie man dem Wettstreit Einhalt gebieten kann. (20) Man ist sich einig, dass der Markenterror aus der Schule verbannt werden muss. 3 Zielsetzung (19) Gegen das Markendiktat soll ein Zeichen gesetzt (23) und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Schüler gestärkt werden. 4 Planbildung/ Planübernahme (3) Die Diskussion führt zu der Entscheidung, Schuluniformen einzuführen. (4) Die Schüler sollen einen einheitlichen grünen Pullover tragen, (18) die Wahl von Schuhen und Hosen soll ihnen jedoch wie bisher selbst überlassen bleiben. 5 Ausführung Die Schulpullover mit dem Logo der Schule werden angefertigt und den Schülern angeboten, (23) optional können sie auch grüne T- Shirts und Polohemden erwerben. 6 Resultat der Ausführung (4; 11) Die Schüler tragen seit zwei Monaten den Pullover. (24) Auch einige Lehrer und der Schulleiter tragen dieses Kleidungsstück. 7 Folgen (5) Das Projekt scheint zu funktionieren. (12) Nach anfänglicher Skepsis akzeptierten die Schüler die einheitliche Schulkleidung. (13, 14) Die befragten Schüler beurteilen die Maßnahme „sehr positiv“. (15) Keiner könne mehr mit teurer Markenkleidung angeben, (16) es gebe weniger Streit, (17) morgens müsse man nicht mehr lange überlegen, was man anziehen soll. Der Text weist die eingeleitete Maßnahme als Ergebnis eines Diskurses aus. Eltern, Lehrer und Schulleitung reagierten auf den Markenterror. Durch den aufgetretenen „Problemdruck“ (K OPPERSCHMIDT 1989: 57) suchten sie gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten, ihr Diskurs diente der „rationalen Bewältigung der Problemlage“ (K OPPER - SCHMIDT 1989: 55). Variante (2) Der Gruppe T1 wurde eine textsortenspezi sche Übertragung des Ausgangstextes ausgehändigt. Diese chinesische Version bemüht sich weniger um eine wörtliche Übersetzung des deutschen Textes, vielmehr wurde versucht, den chinesischen Kommunikationskontext zu berücksichtigen. Obgleich der Text durch die namentliche Nennung der Autorin als Übersetzung ausgewiesen wird, sollte er sich wie ein chinesischer Zeitungsbericht lesen. <?page no="163"?> 151 Untersuchungsdesign Bei dieser textsortenspezi schen Übertragung ins Chinesische sind einige Eingriffe vorgenommen worden, damit der Text nicht als wörtliche Übersetzung aus einer Fremdsprache sondern als Bericht erscheint, wie er in einer chinesischen Tageszeitung abgedruckt werden könnte. 18 18 Der Text wird in der Überschrift als Auslandsnachricht gekennzeichnet. Daher wird erläuternd ergänzt, dass es sich um Vorkommnisse an einer „deutschen“ Schule (Deguo xuexiao) handelt. Da die chinesische Sprache für den Begriff „Markenterror“ kein direktes Übersetzungsäquivalent bereithält, wird mit „Markenkult“ (mingpai chongbai) ein geläu ger Begriff verwendet. In der Übertragung lautet die Überschrift des Textes folglich: „Der Markenkult an deutschen Schulen gewinnt an Brisanz“. Ebenfalls schwer zu übersetzen ist die Bezeichnung „Haupt- und Realschule“ (4), da das chinesische Bildungssystem diese Schulform nicht kennt. Daher wird in der Übertragung nur allgemein festgehalten, dass sich die Ereignisse an einer deutschen „Mittelschule“ (zhongxue) zugetragen haben. Schließlich galt es, für die deutschen Schimpfwörter chinesische Entsprechungen zu nden. Das „Aldi-Kind“ (6) wird wiedergegeben als „armseliger Wicht" (qiongsuan xiaozi), das „Bonzenkind“ (8) als „Kind von Neureichen“ (baofahu de haizi). <?page no="164"?> 152 Untersuchungsdesign Variante (3) Teilnehmern der Gruppe T4 wurde wie der Gruppe FSU1 zunächst die deutsche Fassung des Ausgangstextes vorgelegt. Nach Rücksprache mit chinesischen Deutschlehrern, die das Sprachniveau der Probanden einschätzen konnten, wurden dem Text einige Worterklärungen angefügt, um Rezeptionsprobleme zu vermeiden. Worterklärungen: r M arkenterror starker Druck, Markenprodukte besitzen zu müssen dissen (Jugendsprache) beschimpfen, beleidigen Klamotten (Jugendsprache) Kleidung Aldi (Eigenname) deutsche Handelskette; bei Aldi werden besonders billige Waren verkauft r Bonze, -n (abwertend) reicher und ein ussreicher Mensch s Logo, -s Symbol, Abzeichen s Markendiktat Zwang, nur Markenprodukte zu kaufen s Unbehagen unangenehmes Gefü hl Nach Fertigstellung der Interimstexte wurde den Teilnehmern der Gruppe T4 zur Anfertigung muttersprachlicher Paralleltexte außerhalb des Seminarraums der Ausgangstext in der chinesischen Übertragung (Variante 2) erneut ausgehändigt. 10.6 Die Schreibaufgabe Auf dem Arbeitsblatt mit dem Ausgangstext wurde allen Probanden ein gleichlautender Arbeitsauftrag erteilt. Eine Aufgabenstellung kann zu bestimmten Schreibhandlungen auffordern und ein hohes Maß an Spezi kationen aufweisen (Angabe des Schreibanlasses, des Adressaten, der Rolle des Schreibers, der Textsorte, des Themas etc.). Nach B ROSSEL (1983) führen sehr detaillierte Aufgaben jedoch zu keinen guten Schreibleistungen. Am besten schnitten Probanden dann ab, „wenn ein mittleres Spezi kationslevel erreicht wird, d. h. das Thema ohne Nennung von Schreibanlass, Adressat und Rolle des Schreibers in einigen Sätzen ausgeführt wird“ (L EHKER 2005: 168). Im Rahmen einer empirischen Untersuchung, in der kulturell bedingte Unterschiede ermittelt werden sollen, verbieten sich sehr spezi zierte Arbeitsanweisungen auch deshalb, weil nicht intendiert sein kann, dass die Probanden die einzelnen Anweisungen akribisch befolgen. Dann würden sich die Texte womöglich stark ähneln und viele textsortenspezi sche Eigenheiten nivelliert. Andererseits kann der Arbeitsauftrag ein gewisses Maß an Vergleichbarkeit der entstehenden Texte gewährleisten, was die Analyse wiederum sehr erleichtert. Es gilt also im Rahmen einer empirischen Untersuchung bei der Formulierung eines Arbeitsauftrags einen Mittelweg zu nden, so dass textuelle Unterschiede erkannt werden können und trotzdem eine Vergleichbarkeit der Texte ermöglicht wird. Werden in einer Untersuchung mutter- und interimssprachliche Texte verglichen, dann sollte der Arbeitsauftrag so formuliert sein, dass ihn Fremdsprachenlerner erfüllen können und gleichzeitig ein Freiraum eröffnet wird, „to allow more pro ciant students to demonstrate their true range” (K ROLL / <?page no="165"?> 153 Untersuchungsdesign R EID 1994: 232). Nach den Empfehlungen von K ROLL / R EID habe ich mich in vorliegender Untersuchung bemüht, einen eindeutigen, verständlichen und transparenten Arbeitsauftrag zu formulieren - „as brief as clarity allows” (K ROLL / R EID 1994: 232). Den Teilnehmern der Gruppen T4 bzw. FSU1 wurde zur Anfertigung interimssprachlicher bzw. muttersprachlicher Texte folgende Aufgabe gestellt: Variante (1) Schreiben Sie einen Aufsatz zum Thema „Jugendliche und Markenprodukte“. Äußern Sie Ihre persönliche Meinung und beurteilen Sie die Entscheidung der Hamburger Schule, Schuluniformen einzuführen. Zur Anfertigung muttersprachlicher Texte wurde den Teilnehmern der Gruppen T1 und T4 dieser Arbeitsauftrag in folgender Übersetzung erteilt: Variante (2) Dieser Auftrag verzichtet bewusst auf die Nennung einer Textsorte, da im Fokus der Untersuchung nicht stand, ob die Probanden Texte nach den Vorgaben des Aufsatzunterrichts der Herkunftsländer anfertigen können. Vielmehr sollte auch die Möglichkeit geboten werden, von erlernten Mustern abzuweichen. Daher wurden die Probanden nicht aufgefordert einen Yilunwen oder eine textbezogene Erörterung zu verfassen, sie sollten lediglich einen „Aufsatz“ (wenzhang) schreiben. Der Auftrag gibt mit „Jugendlichen“ und „Markenprodukten“ zwei zentrale Textgegenstände vor. Die Probanden werden hierdurch aufgefordert, sich mit dem im Ausgangstext beschriebenen Problem des Markenterrors näher zu beschäftigen, um Beispiele aus der eigenen Erfahrung zu nennen, Ursachen darzustellen etc. Diese Ausführungen allgemeiner Art sollten durch eine persönliche Stellungnahme ergänzt werden. Die Aufforderung, die in Hamburg ergriffene Maßnahme zu beurteilen, sollte die Probanden veranlassen, sich im Diskurs zu positionieren. Sie sollten sich für oder gegen die Maßnahme aussprechen und ihre Entscheidung begründen. Durch diesen Auftrag sollten argumentative Texte entstehen, die mithilfe eines argumentationswissenschaftlichen Instrumentariums analysierbar sind. Bewusst nicht vorgegeben war die Form der Darstellung, etwa nach dem Muster „Diskutieren Sie Vor- und Nachteile der in Hamburg getroffenen Entscheidung“. Dieser „enge“ Arbeitsauftrag hätte sich sehr stark an der deutschen Aufsatzsorte dialektische Problemerörterung orientiert, die in China in dieser Form nicht vermittelt wird. Daher wurde eine „weite“ Formulierung gewählt, damit auch Texte entstehen konnten, die sich an anderen Mustern orientieren. 10.7 Zeitplan, Durchführung der Untersuchung Wie den Ausführungen zum Design und den Zugangsmodalitäten bereits zu entnehmen ist, wurde die Untersuchung in Shanghai und Jena durchgeführt. Folgende Übersicht (Tabelle 10.10) nennt Datum und Ort der Textproduktion sowie die jeweiligen Varianten der Erhebungsinstrumente. <?page no="166"?> 154 Untersuchungsdesign Datum Gruppe Ort der Textproduktion Ausgangstext Arbeitsauftrag Korpus 27.09.2001 08: 00-09: 30 T4 Textproduktion unter kontrollierten Bedingungen: Seminarraum im Fremdsprachengebäude der Tongji- Universität Shanghai, Zentralcampus Variante (3) Variante (1) T4.TXT. int. 27.09.2001- 05.10.2001 T4 Textproduktion unter nicht kontrollierten Bedingungen Variante (2) Variante (2) T4.TXT. chin. 27.09.2001 13: 00-14: 30 T1 Textproduktion unter kontrollierten Bedingungen: Seminarraum in einem Unterrichtsgebäude der Tongji- Universität, Westcampus Variante (2) Variante (2) T1.TXT. chin. 07.11.2002 18: 00-19: 30 FSU1 Textproduktion unter kontrollierten Bedingungen: Seminarraum 207, Campus Ernst-Abbe-Platz Variante (1) Variante (1) FSU1. TXT.dt. Tabelle 10.10: Durchführung der Untersuchung. In Shanghai wurde mit den zuständigen Kursleitern ein geeigneter Termin zur Durchführung der Untersuchung gesucht. Günstig erschien Donnerstag, der 27.09.2001, da an diesem Tag alle Studierenden Unterricht bei ihren Klassenlehrern hatten. Zur Datenerhebung stand jeweils eine Doppelstunde zur Verfügung. Zum angegebenen Zeitpunkt erschienen zunächst alle Mitglieder der Gruppe T4, die neben dem Arbeitsblatt mit den genannten zielsprachigen Erläuterungen keine weiteren Hilfsmittel benutzen konnten. Den Probanden der Gruppe T4 wurde nach Beendigung der kontrollierten Textproduktion der Ausgangstext in der chinesischen Fassung erneut ausgehändigt, verbunden mit der Bitte, nach dem gleichen Arbeitsauftrag zu Hause einen muttersprachlichen Text anzufertigen. Für die Produktion dieser Texte standen vier Tage zur Verfügung. Wiederum beteiligten sich alle Mitglieder dieses Kollektivs an der Untersuchung, nicht erfasst wurde Zeitaufwand und Ort der Textproduktion. Je nachdem, ob die Probanden in Wohnheimen untergebracht waren oder noch bei ihren Eltern wohnten, unterscheiden sich die konkreten Orte, an denen die Texte verfasst wurden. Am Nachmittag des 27.09.2001 fand die Datenerhebung in Gruppe T1 statt. Als günstig erwies sich, dass der Unterricht bei der Kursleiterin nicht im Fremdsprachengebäude auf dem Zentralcampus sondern in einem Seminargebäude auf dem Westcampus stattfand. So konnte ausgeschlossen werden, dass Mitglieder der Gruppe T1 vor Durchführung der Untersuchung von Mitglieder der Gruppe T4 über Form und Inhalt der Erhebung informiert werden konnten, da die Fahrzeit zwischen beiden Bereichen der Universität etwa eine Stunde beträgt. Wie bei den Probanden des dritten Studienjahrs war die Zeit zur Textproduktion auf 90 Minuten begrenzt, es standen ebenfalls keine Hilfsmittel zur Verfügung. Die Datenerhebung in Jena fand am 07.11.2002 statt. Als Ort bot sich ein Seminarraum im zentral gelegenen Gebäude am Ernst-Abbe-Platz an. Um Überschneidungen mit Lehrveranstaltungen der Teilnehmer auszuschließen, wurde ein Termin in den Abendstunden gewählt. Die zur Verfügung gestellte Zeit orientierte sich an den Bedingungen in Shanghai, Hilfsmittel wurden ebenfalls nicht eingesetzt. Im Anschluss an die Textproduktion machten alle Teilnehmer der Untersuchung auf einem Fragebogen Angaben zu Alter, Herkunft, schulischem Werdegang, verwendeten Lehrwerken im muttersprachlichen Unterricht und Studienrichtung an der Universität, um eine erste Einschätzung der Probandengruppen (vgl. Abschnitt 10.4) vornehmen zu können. <?page no="167"?> 11 Analyseverfahren, Analysefragen Das Ziel des vorliegenden Kapitels besteht nicht darin, ein Analysemodell zu entwickeln, das es vermag, alle in Teil A formulierten Hypothesen zu prüfen. Vielmehr möchte ich ein Verfahren vorschlagen, das Hypothesen zu Handlungen der Textproduzenten auf der zweiten und dritten Handlungsebene (vgl. Abschnitt 4.2) zulässt. Hierbei beziehe ich mich zunächst (11.1) auf Beschreibungsmodelle von H ELLWIG (1984) und M OILA - NEN (1996), die Diskurspotenziale einzelner Textaussagen freilegen und Texte dialogisch interpretieren. Weil deren Verfahren keine größeren „Informationsblöcke“ betrachten, beziehe ich mich anschließend (11.2) auf O LDENBURG s (1992) Bestimmung von „Teiltexten“, die mit H UTZ (2001) nach inhaltlich-funktionalen Kriterien in „Teiltextsegmente“ unterteilt werden können. Zur Interpretation dieser Teiltexte gehe ich danach (11.3) mit der chinesischen Aufsatzdidaktik davon aus, dass die Gliederung eines argumentativen Textes drei Phasen umfasst und beziehe diese auf die Phasen des Diskurses bei K OPPER - SCHMIDT (1989). Anhand eines Beispieltextes aus dem Datenkorpus zeige ich im nächsten Schritt (11.4), welche Teiltexte und Teiltextsegmente sich identi zieren lassen. Abschließend (11.5) gebe ich einen Überblick über die zentralen Analysefragen, die in den weiteren Kapiteln untersucht werden. 11.1 Texte als Abfolge von Frage- und Antwort-Sequenzen Eine grundsätzliche Schwierigkeit, Argumentationen auf Textebene zu beschreiben, besteht darin, dass sich mithilfe etablierter Verfahren der Argumentationsanalyse (etwa K IENPOINTNER 1992) nur jene Teile eines Textes erfassen lassen, die den „argumentativen Kern“ des Textes (L ÜGER 1995: 121) bilden. Wie B RINKER (1997: 78) zeigt, wird in argumentativen Texten jedoch nicht nur appelliert, sondern auch informiert. Für Kommentartexte kennzeichnend ist weiterhin die „(fakultative) Präsentation einer Gegenposition“ (L ÜGER 1995: 121). Der „argumentative Kern“ eines Textes umfasst also konvergente und kontroverse Argumentationen (vgl. Abschnitt 5.3), was eindeutige Zuordnungen von Textfunktion und Textstruktur nicht zulässt. 19 Neben argumentativen und deskriptiven können schließlich auch narrative Textsequenzen in einen Text integriert sein. Ein Modell der Textanalyse, das diese im Rahmen der Gesamtargumentation vielseitig verbundenen Textsequenzen erfasst, schlägt H ELLWIG (1984) vor. Sein Grundgedanke besteht darin, dass sich die Struktur eines Textes als „Übergang von einer Aussage zu einer Fragestellung und von dieser zur nächsten Frage modellieren“ lässt (H ELLWIG 1984: 62). Texte sind dieser Auffassung zufolge nach einem Bildungsprinzip des „Anknüpfens und Fortschreitens“ organisiert: „Zu einem Thema werden Ausführungen gemacht, die aber noch Fragen offen lassen oder neue Fragestellungen eröffnen. Diese werden zu Themen der folgenden Ausführungen gemacht und so fort“ (H ELLWIG 1984: 68). Die Struktur eines Textes lässt sich daher als „Voranschreiten von explizit oder implizit gestellten 19 B RINKER (1997: 121) geht davon aus, dass Textfunktion und Form der Themenentfaltung korrelieren. Wenn in Texten Gegenpositionen dargestellt werden, dann trifft dies jedoch nicht zu. Das Thema wird argumentativ entfaltet, jedoch nicht, um den Leser zu bewegen, sich dieser Position anzuschließen. Der Leser wird informiert, erst die sich anschließende argumentative Widerlegung der genannten Position dient der eigenen Bewertungshandlung, der man mit B RINKER eine appellative Funktion zuerkennen kann. <?page no="168"?> 156 Analyseverfahren, Analysefragen Fragen auf ihre Antworten“ beschreiben (M OILANEN 1996: 183). Das Ziel der Textanalyse besteht nun darin, das implizit Fragliche in die Form expliziter Fragen zu bringen (M OI - LANEN 1996: 180), wodurch die Abfolge von Illokutionen innerhalb größerer Informationsblöcke kenntlich gemacht werden kann. D RESCHER (1996: 97) kennzeichnet diesen Ansatz wie folgt: „Die grundlegende Annahme ist die, daß sich in Texten die Informationen von Äußerung zu Äußerung entfalten, wobei jeweils Teile beibehalten, andere hingegen neu eingeführt werden.“ Diese skizzierte Methode fokussiert also die Zusammenhänge einzelner Textaussagen. Hierdurch werden im Gegensatz zu anderen Analysemethoden Sprechhandlungen nicht nur identi ziert, sondern vor allem Verknüpfungen und Übergänge interpretiert: „Wie kommt der Autor von einer Aussage auf die nächste im Text“ (M OI - LANEN 1996: 179). Die Analyse legt das Diskurspotenzial einzelner Aussagen frei, indem inhaltlich-funktionale Zusammenhänge zur nächstfolgenden Aussage betrachtet werden. Die in den Text eingefügten Fragen lassen einzelne Textaussagen nicht nur im Zusammenhang des Textes, sondern auch als Antworten auf mögliche Fragen des bei der Textproduktion antizipierten Rezipienten interpretieren. Der Adressatenbezug eines Textes wird hierdurch sehr deutlich. Außerdem zeichnet sich die bei M OILANEN (1996) beispielhaft durchgeführte Textinterpretation durch eine große Textnähe aus. Dieses Verfahren, Dialogpotenziale einzelner Textaussagen freizulegen und Übergänge von einer Textaussage zur nächsten aufzuzeigen, ist jedoch notwendigerweise limitiert. Erstens lassen sich nicht alle satzübergreifenden Verweise und Formen der Wiederaufnahme erklären, zweitens lässt eine folgende Textaussage immer nur eine Interpretation der Textaussage zu, auf die sie Bezug nimmt. Nicht deutlich wird, welche anderen Diskurspotentiale und kommunikative Anschlussmöglichkeiten einzelne Aussagen haben. Drittens beschränkt sich diese Darstellung auf „die Linearisierung der Illokutionen innerhalb der Informationsblöcke“ (M OILANEN 1996: 179), was zur Folge hat, dass die Gesamtkohärenz eines Textes nicht rekonstruiert wird. 11.2 Texte als Abfolge von Teiltexten Die von M OILANEN nicht analysierten „Informationsblöcke“ können als „Teiltexte“ interpretiert werden. O LDENBURG de niert diese als größere, „relativ abgeschlossene Einheiten, die gemeinsam im Zusammenwirken den Text konstituieren und in den Textzusammenhang eingebettet sind“ (O LDENBURG 1992: 63). Dass es sich in kontrastiven Textanalysen anbietet, zunächst sprachübergreifend konstitutive Teiltexte zu identi zieren, um dann sprachvergleichend unterschiedliche textuelle Funktionen bzw. Abfolgemuster zu rekonstruieren, zeigen u.a. L IANG (1991) und H UTZ (2001). In einer kontrastiven Untersuchung wissenschaftlicher Rezensionen bestimmt H UTZ (2001: 114ff.) mithilfe eines „funktional-integrativen Analyserasters“ größere Teiltexte (bibliographische Angaben, Einleitung, Hauptteil, Schlussteil), die er in weitere Subkomponenten unterteilt. Jeder der identi zierten Teiltexte habe „thematisch abgrenzbare Untereinheiten“, die er als „Teiltextsegmente“ bezeichnet (H UTZ 2001: 114). Nach seiner Analyse sind für den Teiltext „Hauptteil“ einer Rezension beispielsweise die Teiltextsegmente „inhaltliche Wiedergabe des Werkes“ und „Bewertung inhaltlicher Aspekte“ konstitutiv, andere dagegen fakultativ, etwa „Vergleich mit anderen Werken ähnlicher Thematik“ oder „Bewertung der Form“ (H UTZ 2001: 115ff.). Kritisch anzumerken ist, dass H UTZ Teiltexte nach keinem einheitlichen Kriterium klassi ziert. Einerseits legt er inhaltliche Kriterien an (bibliographische Angaben), andererseits bestimmt er Teiltexte nach ihrer Position im Text (Hauptteil). <?page no="169"?> 157 Analyseverfahren, Analysefragen 11.3 Teiltexte und Phasen des Diskurses Ein einheitliches Klassi kationsschema bietet die chinesische Aufsatzdidaktik an. Wie dargestellt worden ist (vgl. Abschnitt 8.4), wird die Gliederung des Yilunwen (Einleitung, Hauptteil, Fazit) als Abfolge der Handlungsschritte tichu-fenxi-jiejue (aufwerfen-analysieren-lösen) interpretiert. Diese Phasen beziehen sich zwar auf einen Text, es zeigen sich jedoch deutliche Parallelen zur Struktur des Diskurses bei K OPPERSCHMIDT (1989: 86), der die Phasen Diskurseröffnung, Diskursverlauf und Diskursabschluss unterscheidet. Geltungs− Geltungs− Geltungs− eröffnung verlauf abschluß tives Handeln Diskurs− Diskurs− Diskurs− tives Handeln ratifikation einlösung problema− tisierung kommunika− kommunika− Schaubild 11.1: Phasenstruktur des Diskurses nach K OPPERSCHMIDT (1989: 86). In der ersten Phase erfolgt eine „situative Geltungsproblematisierung“, in der zweiten Phase die „argumentative Geltungseinlösung“ und in der dritten Phase die „konsensuelle Geltungseinlösung“ (K OPPERSCHMIDT 1989: 86, vgl. R EHBEIN 1977: 82ff.). Als Diskursbeitrag strebt ein Text wie andere Diskursbeiträge auch nach Geltungsrati kation: Ein argumentativer Text wird nicht in der gleichen Weise durch Gegebenheiten des Redegegenstands bedingt wie etwa ein narrativer oder ein deskriptiver Text. Vielmehr wird hier die Textkonstitution durch das Handlungsziel gesteuert, in einer strittigen Frage Vorschläge zur Konsensbildung zu unterbreiten (H AUEIS 2003: 229). Auch M OILANEN (1996: 179) geht davon aus, dass ein allgemeines „Konzept von Handlung“ als „mentales Argumentationsschema“ die Gesamtkohärenz eines Textes sichert, in dem man von einer Stufe zur nächsten durch Schlussfolgerungsbzw. Begründungsschritte kommt. 20 Ausgegangen werden kann demnach, dass sich der Aufbau eines Textes grundsätzlich am Handlungsziel auf der Diskursebene orientiert. Zur Einschätzung von Texten muss jedoch der Unterschied zwischen Diskurs und Diskursbeitrag betont werden. Die Abfolge der Handlungsschritte tichu-fenxi-jiejue bezieht sich auf den Text als Diskursbeitrag; dieser wird abgeschlossen (jiejue wenti), nicht jedoch der Diskurs, der noch nicht abgeschlossen ist. Vorliegende Untersuchung geht davon aus, dass sich der Aufbau eines argumentativen Textes vornehmlich an einem kollektiven Handlungsziel orientiert und sich drei zentrale Teiltexte identi zieren lassen, die als „Einschätzung der Problemlage“, „Einschätzung der Handlung“ und „Re exion von Handlungsoptionen“ bezeichnet werden. Diese Teiltexte lassen sich wie folgt näher charakterisieren: 20 Dieses Schema umfasst einzelne Stadien wie Situationsdeutung, Situationsbewertung, Handlungszielwahl, Handlungskonsequenzdeutung, Handlungskonsequenzbewertung etc. (vgl. R OSSIPAL 1983: 386, zit. nach M OILANEN 1996: 179). <?page no="170"?> 158 Analyseverfahren, Analysefragen (1) Der Teiltext „Einschätzung der Problemlage“ dient der „Einbettung“ der Argumentation. (vgl. B RINKER 1997: 68, 78). Der Terminus „Problemlage“ bezeichnet mit K OP - PERSCHMIDT (1989: 14, 55) eine Situation, die zur Handlungsunterbrechung nötigt und einen Diskurs eröffnet. Von einer solchen Situation und einem eröffneten Diskurs berichtet im Fall einer gelenkten Schreibübung der Ausgangstext. Im Text orientieren die Textproduzenten zunächst den Leser, indem sie ein Bild vom Handlungskontext entwerfen. Hierzu interpretieren sie den Kontext in Kategorien, die ihr „Wissen von Situationen“ bereithält (vgl. R EHBEIN 1977: 143). Wie W UNDERLICH (1980) zeigt, werden im Zuge eines Deutungsvorgangs Elemente der Vorgeschichte abgerufen, um eine bestimmte Deutung zu untermauern, wobei Deutungen einer Tatsache die Rekonstruktion der Vorgeschichte beein ussen. Je besser sich die gedeutete Tatsache aufgrund seiner Vorgeschichte erklären lässt, desto zutreffender erscheint die Deutung. Die Schreibaufgabe (vgl. Abschnitt 10.5) fordert im Fall vorliegender Untersuchung, sich auf „Jugendliche und Markenprodukte“ zu beziehen. Textsegmente, die dieser Aufforderung folgen und ein Bild vom Handlungskontext entwerfen, bilden den Teiltext „Einschätzung der Problemlage“. (2) Der Teiltext „Einschätzung der Handlung“ bildet den „argumentativen Kern“ (L ÜGER 1995: 121) eines Textes. Die Textproduzenten reagieren auf andere Diskursbeiträge, auf den Ausgangstext und/ oder auf die im Ausgangstext dargestellten Diskursbeiträge und beziehen Stellung. Die Schreibaufgabe (vgl. Abschnitt 10.5) fordert dazu auf, zur Maßnahme in Hamburg Stellung zu beziehen. Diesbezügliche, reaktive Textaussagen fasse ich als Teiltext „Einschätzung der Handlung“ auf. (3) Viele Texte beteiligen sich am Diskurs, indem sie Handlungsempfehlungen aussprechen. Daher nehme ich als dritten Teiltext „Re exion von Handlungsoptionen“ an. Es handelt sich um einen fakultativen Teiltext. Diese Empfehlungen richten sich an andere Teilnehmer des Diskurses und unterbreiten „Vorschläge zur Konsensbildung“ (H AUEIS 2003: 229). Würden sie von den anderen Teilnehmern „konsensuell rati ziert“ (vgl. K OPPERSCHMIDT 1989: 86), dann käme der Diskurs zum Abschluss. 11.4 Beispielanalyse Den drei genannten Teiltexten lassen sich einzelne Textaussagen recht problemlos zuordnen, was bei einer Orientierung an der Textgliederung (Einleitung, Hauptteil, Schluss) nicht der Fall ist. 21 An einem Beispieltext möchte ich zeigen, welche einzelnen Textsegmente ich als Bestandteile der genannten Teiltexte auffasse. FSU1-01.TXT.dt. (1) Wer „in“ sein will, muss „coole“ Klamotten tragen, so oder ähnlich lautet das ungeschriebene Gesetz, das heute unter den Jugendlichen herrscht. (2) Immer jun Doch nicht nur Jugendliche sind beugen sich dieser „Regelung“, immer jüngere Kinder überlegen morgens länger welchen Pullover sie in die der Schule tragen können, ohne dafür gehänselt zu werden. (3) Gleichzeitig Jedoch kann dieses „Gesetz“ ab nicht auf jeden 21 Ein Problem bei der Analyse besteht darin, dass viele Texte zwar dem allgemeinen Gliederungsschema (Einleitung, Hauptteil, Schluss) folgen, dass sich diese als „inhaltlich-funktionale Einheiten“ (O LDENBURG 1992: 63) aber erheblich unterscheiden. Beispielsweise kann sich ein Autor bereits in der Einleitung positionieren und erst im Hauptteil die Problemlage einschätzen. <?page no="171"?> 159 Analyseverfahren, Analysefragen beliebigen Schüler oder Jugendlichen übertragen werden. (4) Je nach sozialem Umfeld wird der Kleidung mehr oder weniger Wichtigkeit zugemessen. (5) Trotzdem lässt sich nicht verhehlen, dass die Medien täglich den sogenannten „Markenterror“ (Zitat Z.1) durch ihre ständige Werbung unterstützen. (6) Wirft man einen Blick in eine der vielen Jugendzeitschriften, so fällt sofort auf, dass etwa ein Drittel der Zeitung aus Reklame besteht. (7) Geworben wird hauptsächlich für Kleidung, ebenso aber auch für sogenannte „Accessoires“ und Make-up. (8) Die Models, die diese Produkte präsentieren entsprechen zu dem keines wegs dem Bevölkerungsdurchschnitt in ihrem Äußeren. Meist sind sie abgemagert bis auf die Knochen, (9) denn alles jeder über 60 kg gilt schon als fett. (10) Da Jugendliche meist noch ungeformt in ihren Charakteren, sich gern an den Inhalten dieser Magazine orientieren, (12) muss ihnen doch zwangsläu g auf Grund der Quantität großen Menge der Werbung der Eindruck entstehen, dass Mode ein wichtiger Bestandteil des Lebens sein muss. (13) Gleichzeitig orientieren sie sich an dem Aussehen der Models und versuchen ihnen nachzueifern. (14) Wenn man Glück hat, ermöglichen einem die Eltern alle auch noch so befremdenden Moden mitzumachen. (15) Trägt man jedoch immer noch die Klamotten, die vor 2 Jahren modern waren bzw. Billigprodukte so kann es leicht passieren dass man d in der Schule schräg angeguckt schaut wird. (16) Dieses eben beschriebene Geschehen stimmt sicherlich im Großen mit der Realität überein, (17) jedoch gibt es si noch Unterschiede zwischen den Jugendlichen. (18) Das genannte Beispiel aus dem Artikel beschreibt die Vorkommnisse und einer Haupt- und Realschule. (19) Schüler dieser Schulformen setzen die Prioritäten in ihrem Leben sicherlich anders als Gymnasiasten. (20) Sie sind meist darauf ausgerichtet einen praktischen Beruf zu lernen, schnell Geld zu verdienen. Für sie ist spielt das Lernen zu dem eine wesentliche geringere Rolle. (21) Deshalb lenken sie ihre Aufmerksamkeit eher auf Äußeres. Sie beurteilen auch ihre Mitmenschen eher nach ihrem äußeren Erscheinungsbild. (22) Deshalb werden auch die Unterschiede Sympathien für Mitmenschen schneller an der Kleidung festgemacht. „Häßliche“ Kleidung entspricht unsympathischen Menschen und umgekehrt. (23) Natürlich entstehen so leichter Täuschungen und Kon ikte können entstehen. (24) Schüler die ein Abitur o.ä. anstreben haben oft andere Werte. (25) Sie lernen um später mit dem erworbenen Wissen weiterzuarbeiten. Sie de nieren sich sicherlich auch außerdem mehr über ihr Wissen (26) deshalb ist die Chance geringer dass man ausgeschlossen wird, nur weil man billige Kleidung trägt. (27) Das bedeutet jedoch nicht das diese Kon ikte ausbleiben, sie werden nur weit anders gelöst. (28) Einheitliche Schulkleidung kann solchen Problemen vorbeugen, (29) wird sie allerdings nicht verhindern. (30) Sie stärkt natürlich das Zusammengehörigkeitsgefühl der Schüler, was sicherlich positive Auswirkungen auf das Lernklima hat. (31) Doch andererseits bedeutet sie eine zusätzliche nanzielle Belastung für die Familien, denn Freizeitkleidung wird trotzdem noch benötigt. (32) Der Markenterror geht außerdem nach der Schule weiter er wird lediglich verlagert. (33) Das Projekt der Hamburger Schule ist si trotzdem positiv zu beurteilen, (34) denn es demonstriert den Schülern eingängig, dass man auch auf andere Eigenschaften achten kann. (35) Insgesamt bin ich der Meinung dass das der Begriff „Markenterror“ eine Übertreibung der Tatsachen darstellt. (36) Aus eigener Erfahrung könnte ich von nur von wenigen Beispielen berichten. (37) Allerdings habe ich auch nie eine Hauptschule besucht. (38) Ich denke man sollte, um gegen dieses Problem anzugehen einen anderen Ansatzpunkt wählen. (39) Nämlich den Medien Einhalt gebieten in der Werbefreiheit. <?page no="172"?> 160 Analyseverfahren, Analysefragen FSU1-01.TXT.dt. Teiltexte und Teiltextsegmente Segment Teiltext Teiltextsegmente Textaussagen W (1-4) Einschätzung der Problemlage BESCHREIBUNG und SITUIERUNG der Problemlage (intrakulturell) Jugendliche beugen sich ungeschriebenem Gesetz: Wer „in“ sein will, muss „coole“ Klamotten tragen. Schon Kinder beugen sich dieser Reglung. Dieses Gesetz gilt nicht für alle Jugendlichen. Je nach sozialem Stand wird der Kleidung mehr oder weniger Wichtigkeit zugemessen. 423 (5-15) BESCHREIBUNG und ERKLÄRUNG des Verhaltens von Jugendlichen, WIEDERGABE des Ausgangstextes Medien unterstützen Markenterror durch Werbung. Ein Drittel der Jugendzeitungen besteht aus Werbung. Abgemagerte Models werben für Kleidung, Accessoires und Make-up. Jugendliche sind ungeformt in ihren Charakteren. Deshalb folgen sie dem Modediktat und orientieren sich am Aussehen der Models. Wer reiche Eltern hat, der kann auch noch so befremdliche Moden mitmachen. Wer Kleidung trägt, die vor zwei Jahren modern war, oder Billigprodukte, wird schräg angeschaut. (16-18) SITUIERUNG der Problemlage (intrakulturell), WIEDERGABE des Ausgangstextes Der Ausgangstext beschreibt Vorkommnisse an einer Haupt- und Realschule. (19-23) BESCHREIBUNG und ERKLÄRUNG des Verhaltens von Haupt- und Realschülern Schüler dieser Schulformen setzen andere Prioritäten im Leben als Gymnasiasten. Sie möchten einen praktischen Beruf ergreifen und schnell Geld verdienen. Für sie spielt Lernen eine geringere Rolle, daher beurteilen sie Mitschüler nach dem Äußeren. (24-27) BESCHREIBUNG und ERKLÄRUNG des Verhaltens von Gymnasiasten Gymnasiasten verfallen dem Markenterror nicht so leicht wie Hauptschüler. Sie haben andere Werte, de nieren sich über ihr Wissen und schließen Mitschüler in billiger Kleidung daher seltener aus. Kon ikte lösen sie mit anderen Mitteln. (28) Einschätzung der Handlung Positive BEURTEI- LUNG der Maßnahme (Pro-Argument) Einheitliche Schulkleidung kann aufgetretenen Problemen vorbeugen. 77 (29) Negative BEURTEI- LUNG der Maßnahme (Kontra-Argument) Einheitliche Schulkleidung wird Probleme nicht verhindern. (30) Positive BEURTEI- LUNG der Maßnahme (Pro-Argumente) Sie stärkt Zusammengehörigkeitsgefühl der Schüler. Sie hat positive Auswirkungen auf Lernklima. (31-32) Negative BEURTEI- LUNG der Maßnahme (Kontra-Argumente) Einheitliche Schulkleidung bedeutet eine zusätzliche nanzielle Belastung für die Familien. Der Markenterror geht nach der Schule weiter, er wird lediglich verlagert (33) Positive BEURTEI- LUNG der Maßnahme (These) Das Projekt ist positiv zu beurteilen. <?page no="173"?> 161 Analyseverfahren, Analysefragen (34) Positive BEURTEI- LUNG der Maßnahme (Pro-Argument) Das Projekt demonstriert Schülern, dass man auch auf andere Eigenschaften achten kann. (35) Einschätzung der Problemlage BEURTEILUNG des Problemdrucks Der Begriff „Markenterror“ ist eine Übertreibung der Tatsachen. 32 (36-37) BESCHREIBUNG eigener Problemkenntnisse; SITUIERUNG der Problemlage (intrakulturell) Aus eigener Erfahrung könnte ich nur von wenigen Beispielen berichten. Allerdings habe ich auch nie eine Hauptschule besucht. (38-39) Re exion von Handlungsoptionen EMPFEHLUNG, alternative Maßnahmen einzuleiten Man sollte einen anderen Ansatzpunkt wählen, nämlich den Medien Einhalt gebieten in der Werbefreiheit. 21 553 Der Text beginnt mit einer „Einschätzung der Problemlage“ (1-27). In diesem Teiltext wird das Problem situiert und das Verhalten von Jugendlichen an verschiedenen Schulen beschrieben und erklärt. Sichtbar wird, dass in diesem Teiltext bestimmte sprachliche Handlungen (Beschreiben und Erklären) dominieren. Im nächsten Teiltext (28-34) wird eine „Einschätzung der Handlung“ vorgenommen. Dieser Teiltext bildet den „argumentativen Kern“ des Textes; in Form einer Problemerörterung (vgl. Abschnitt 7.2) wird eine konkrete Maßnahme diskutiert. Wieder dominieren bestimmte sprachliche Handlungen (Beurteilen). Den genannten Teiltexten folgt eine Textsequenz (35-39), die in der Aufsatzdidaktik als „Fazit“ oder „Schluss“ bezeichnet wird. Es zeigt sich aber, dass der Autor in seinem abschließenden Kommentar die Problemlage erneut einschätzt, bevor er Vorschläge zur Lösung des Problems unterbreitet. Daher ordne ich die einleitenden Textaussagen des Fazits dem Teiltext „Einschätzung der Problemlage“ zu und identi ziere die abschließenden Textaussagen als Teil des Teiltextes „Re exion von Handlungsoptionen“. Dominierend in diesem Teiltext ist die sprachliche Handlung des Empfehlens. Die einzelnen Teiltexte beantworten übergeordnete Fragen, die mit K OPPERSCHMIDT (1989) geltungskritisch differenziert werden können (vgl. Abschnitt 5.2). So beantwortet der Teiltext „Einschätzung der Problemlage“ die Frage, warum Jugendliche nach Markenprodukten verlangen. In der Terminologie der Aufsatzdidaktik handelt es sich um einen sacherörternden Teiltext, der sich an einer Ergänzungsfrage orientiert (vgl. Abschnitt 7.2). Der problemerörternde Teiltext „Einschätzung der Handlung“ orientiert sich hingegen an der Entscheidungsfrage, ob sich Uniformen zur Eindämmung des Markenterrors eignen. Der fakultative Teiltext „Re exion von Handlungsoptionen“ schließt sich der Problemerörterung an und beantwortet die Fragen, ob bestimmte alternative/ ankierende/ modi zierende Maßnahmen eingeleitet werden sollten, um das Handlungsziel zu erreichen. Das skizzierte Verfahren, von der Diskursebene auszugehen und die genannten drei Teiltexte zu unterscheiden, bietet den großen Vorteil, auch Texte aufeinander beziehen zu können, die sich - anders als der vorliegende Beispieltext - nicht an einen von der Aufsatzdidaktik empfohlenen dreigliedrigen Aufbau halten. In vielen Texten werden Textaussagen zu den drei zentralen Handlungsschritten an mehren Stellen im Text realisiert. Der Vorteil des hier gewählten Verfahrens besteht darin, unterschiedlich aufgebaute Texte vergleichen zu können. Die Analyse lässt einerseits erkennen, welchen Umfang einzelne Teiltexte einnehmen. Konzentrieren sich die chinesischen Probanden <?page no="174"?> 162 Analyseverfahren, Analysefragen auf die Einschätzung der Problemlage, die deutschen Probanden hingegen auf eine Einschätzung der Handlung? Durch eine nähere Analyse der Teiltexte wird erkennbar, welche sprachlichen Handlungen dominieren. Neigen die deutschen Probanden eher dazu, Sachverhalte zu erklären, während die chinesischen Probanden eher dazu tendieren, Sachverhalte zu beurteilen? Die Möglichkeit, Antworten auf diese Fragen zu erhalten, nimmt bewusst in Kauf, dass sich vorliegende Untersuchung an einem zentralen Diskussionsstrang der Kontrastiven Rhetorik nicht beteiligt. Es wird darauf verzichtet, Ablaufmuster zu rekonstruieren, um die Hypothese zu überprüfen, ob in chinesischen Texten „zirkulär“ argumentiert wird, in deutschen hingegen „linear“ (vgl. Abschnitt 2.1). In der tabellarischen Darstellung von Beispieltext FSU1-01.TXT.dt. werden innerhalb der einzelnen Teiltexte einzelne Teiltextsegmente unterschieden. Diese werden ähnlich wie bei H UTZ (2001) vor allem nach funktionalen Gesichtspunkten ermittelt. Sichtbar wird, dass in Texten als „Sprechhandlungsketten“ (R EHBEIN 1977: 69) einzelne Textaussagen mit unterschiedlichem Diskurspotenzial verknüpft werden. Eine ausschließliche Orientierung an der linguistischen Pragmatik bietet sich in vorliegender Untersuchung jedoch nicht an, weil einige zentrale Aspekte der Texte dann nicht erfasst und zentrale Hypothesen nicht geprüft werden könnten. Beispielsweise ist es in der Analyse nicht nur von Belang, dass ein bestimmtes Verhalten beschrieben und erklärt wird, von Erkenntnisinteresse ist ebenfalls, dass das Verhalten von Hauptschülern beschrieben und erklärt wird, dass im Text also intrakulturell differenziert wird. Daher werden in den Beschreibungen der Teiltextsegmente in Abhängigkeit von den Analysefragen mehrere Angaben gemacht, um auch intertextuelle und inhaltlich-thematische Aspekte erfassen zu können. Das Verfahren geht also von den Analysefragen aus und fokussiert einige Aspekte der vorliegenden Texte, andere wiederum nicht. Beispielsweise wird nicht untersucht, inwiefern sich Texte der chinesischen Probanden hinsichtlich des Gebrauchs von Phraseologismen auszeichnen. 11.5 Analysefragen Die Analysefragen orientieren sich an der Abfolge der zentralen drei Teiltexte. Untersucht wird, wie die Texte Problemlagen situieren und deuten, wie sie auf Positionen im Diskurs reagieren und ob sie Empfehlungen aussprechen. Die Analysefragen orientieren sich gleichzeitig an Hypothesen, die in Teil A vorliegender Arbeit dargestellt werden. Anhand von Beispieltext FSU1-01.TXT.dt werden im Folgenden die zentralen Analysefragen vorgestellt. Textlänge. Quantitative Verteilung der Teiltexte (Kapitel 12) Der Vergleich muttersprachlicher Lehrwerke und Aufsatzdidaktiken legt die Annahme nahe, dass im Aufsatzunterricht beider Länder verschiedene Gewichtungen vorgenommen werden. Während in der Volksrepublik China vorwiegend Sachfragen erörtert werden, um Dinge in ihrer Komplexität und gegenseitigen Verbundenheit zu erfassen, werden in Deutschland vorrangig Geltungsfragen erörtert, um nach einem Vergleich verschiedener Positionen begründet Stellung zu beziehen. Dies könnte Auswirkungen darauf haben, dass die genannten Teiltexte in den vier Textkorpora einen anderen „Spielraum“ (H UTZ 2001: 117) einnehmen. Es bietet sich an, zunächst quantitative Angaben zum Umfang der Teiltexte zu machen und gruppenübergreifend zu interpretieren. Beispieltext FSU1-01.TXT.dt. legt den Schwerpunkt eindeutig auf die Erörterung einer Sachfrage (455 Wörter, 82 %). Der Umfang des problemerörternden Teiltextes ist deutlich geringer (77 Wörter, 14 %), den kleinsten Spielraum (21 Wörter, 4 %) nimmt der Teiltext „Re exion von Handlungsoptionen“ ein. <?page no="175"?> 163 Analyseverfahren, Analysefragen Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext (Kapitel 13) Der Vergleich muttersprachlicher Lehrwerke und Aufsatzdidaktiken zeigt zweitens, dass in der Volksrepublik China im schulischen Aufsatzunterricht keine Texterörterungen angefertigt werden. Das könnte sich auf den Umgang mit dem Ausgangstext auswirken. Daher werden Formen der expliziten Bezugnahme auf den Ausgangstext untersucht. Im Beispieltext FSU1-01.TXT.dt. nden sich zwei explizite Verweise auf den Ausgangstext. Der Begriff „Markenterror“ wird als Zitat gekennzeichnet (5), auch bei der Einschätzung der Problemlage bezieht sich der Text ausdrücklich auf den „Artikel“ (18). Dies zeigt, dass sich der Beispieltext auf den Ausgangstext als Diskursbeitrag bezieht. Situierung der Problemlage (Kapitel 14) Das in dieser Arbeit entwickelte Textproduktionsmodell zeigt kulturelle Unterschiede zwischen Lerner und Lehrer sowie einen unterschiedlich bemessenen Abstand zu der im Ausgangstext beschriebenen Situation. Dies könnte im Teiltext „Einschätzung der Problemlage“ zu unterschiedlichen Situierungen der Problemlage führen. In Beispieltext FSU1-01.TXT.dt. wird das Problem intrakulturell differenziert (1-4; 16-27; 36-37) Es zeigt sich, dass das Verhalten der Jugendlichen aufgrund mangelnder persönlicher Problemkenntnisse nicht als Verhalten deutscher Jugendlicher, sondern als Verhalten deutscher Hauptschüler gedeutet wird. Darstellung einzelner Textgegenstände (Kapitel 15) Wie der Vergleich der muttersprachlichen Lehrwerke zeigt, besteht ein zentrales Motiv vieler Yilunwen darin, das Wesen der Dinge aufzudecken und Dinge in ihrer Widersprüchlichkeit und wechselseitigen Verbundenheit darzustellen. Dies könnte sich in der Auseinandersetzung mit den im Arbeitsauftrag genannten Textgegenständen „Jugendliche“ und „Markenprodukte“ zeigen. Text FSU1-01.TXT.dt. fragt nicht dezidiert danach, was die genannten Textgegenstände kennzeichnet. Es ist also kein vorrangiges Ziel, Charakteristika einzelner Textgegenstände aufzuzeigen. Beschreiben, Erklären und Beurteilen (Kapitel 16) Eine Hypothese der Sekundärliteratur lautet, dass chinesische Kommentartexte häu g durch eine „stark normative Sachlagedarstellung“ (Y IN 1999: 144) gekennzeichnet sind. Dies könnte sich in Textaussagen zeigen, die das Verhalten von Jugendlichen beschreiben, erklären und beurteilen. In Beispieltext FSU1-01.TXT.dt. wird das Verhalten von Hauptschülern und Gymnasiasten in den Segmenten beschrieben und erklärt (5-15; 19-27). Der Text führt das Verhalten der Hauptschüler auf die „Ungeformtheit“ von Jugendlichen zurück (10) und zeigt deren Anfälligkeit für Versprechungen der Werbung (5-13). Vor allem aber wird die Perspektivlosigkeit vieler Hauptschüler für den Markenterror verantwortlich gemacht (19-23). Es zeigt sich, dass der Text das Verhalten der Jugendlichen beschreibt und erklärt, jedoch darauf verzichtet, es zu bewerten. Darstellung der Maßnahme (Kapitel 17) Wie das in dieser Arbeit entwickelte Textproduktionsmodell zeigt, liegt in interkulturellen Kontexten ein unterschiedlich bemessener Abstand zur im Ausgangstext dargestellten Situ- <?page no="176"?> 164 Analyseverfahren, Analysefragen ation vor. Dieser Abstand bedingt, dass die Textproduzenten auf unterschiedliche Erfahrungen zurückgreifen, was auch Auswirkungen auf den Teiltext „Einschätzung der Handlung“ haben könnte. Zu überprüfen ist, ob die Texte im Korpusmaterial die Darstellung des Ausgangstextes nur aufgreifen oder auch analoge Maßnahmen in anderen Ländern darstellen. In Beispieltext FSU1-01.TXT.dt. ist beides nicht der Fall. Nur kurz (33) wird auf das „Projekt“ in Hamburg hingewiesen, ausführlich dargestellt wird die Maßnahme nicht. Deutlich wird, dass der Text von Vorkenntnissen des Lesers ausgeht. Beurteilung der Maßnahme (Kapitel 18) Ein zentrales Ergebnis des Vergleichs muttersprachlicher Lehrwerke und Aufsatzdidaktiken lautet, dass das zentrale Textmuster des Aufsatzunterrichts in Deutschland, die Pro- und Kontra-Argumentation, in der Volksrepublik China im schulischen Aufsatzunterricht keine Entsprechung hat. Dort lernen die Schüler, sich durch lilun (eine Meinung vertreten) oder bolun (eine Meinung widerlegen) eindeutig zu positionieren, ohne gegnerische Argumente eingehend zu prüfen und in die eigene Argumentation einzubeziehen. Y IN (1999: 144) bemerkt zu journalistischen Kommentartexten, dass auch in diesen keine Gegenpositionen berücksichtigt werden. Dies könnte sich darin zeigen, dass in Texten der chinesischen Probanden eher konvergent, in Texten der deutschen Probanden eher kontrovers argumentiert wird. Beispieltext FSU1-01.TXT.dt. diskutiert die Maßnahme kontrovers (33-34). Einerseits wird ein Bündel an Pro-Argumenten genannt: Die Maßnahme kann aufgetretenen Problemen vorbeugen (28), sie stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl der Schüler und hat positive Auswirkungen auf das Lernklima (30). Andererseits werden auch einige Kontra- Argumente angeführt: Die Maßnahme kann den Markenterror nicht verhindern (29) und stellt für viele Familien eine zusätzliche nanzielle Belastung dar (31). Daraufhin wird ein Urteil gefällt: „Das Projekt der Hamburger Schule ist trotzdem positiv zu beurteilen, denn es demonstriert den Schülern eingängig, dass man auch auf andere Eigenschaften achten kann.“ (33-34). Deutlich wird, dass der Text ein abgewogenes Urteil fällt, nachdem auch Gegenargumente re ektiert worden sind. Re exion von Handlungsoptionen (Kapitel 19) Eine These der Kontrastiven Rhetorik lautet, dass in Kommentartexten aus der Volksrepublik China vielfach konkrete Hinweise gegeben werden (vgl. W EN 2001: 259), der Leser werde außerdem direkt zu einer Handlung aufgefordert (vgl. Y IN 1999: 144). Diese Hypothesen können in einer Untersuchung des Teiltextes „Re exionen von Handlungsoptionen“ geprüft werden. Der Beispieltext FSU1-01.TXT.dt. unterbreitet einen Vorschlag zur noch wirkungsvolleren Bekämpfung des Markenterrors (38-39). Man sollte durch geeignete Gesetze „den Medien Einhalt gebieten in der Werbefreiheit“. Der Gesamtkontext des Textes (grundsätzlich wird die Maßnahme begrüßt) zeigt, dass hier eine „ ankierende Maßnahme“ empfohlen wird. Der Text beteiligt sich also am Diskurs, indem er vorschlägt, politische Maßnahmen zu ergreifen. Dieser Vorschlag zielt darauf ab, von anderen Diskursteilnehmern rati ziert zu werden. <?page no="177"?> 12 Textlänge, Verteilung der Teiltexte Eine zentrale Hypothese nach Untersuchung der muttersprachlichen Lehrwerke lautete, dass im Aufsatzunterricht mit den Aufsatzsorten Erörterung und Yilunwen ganz andere Lernziele gesetzt werden. Während an bundesdeutschen Gymnasien vorwiegend Problemerörterungen angefertigt werden, um nach Abwägung verschiedener Argumente ein begründetes Urteil zu fällen, wird an den Oberen Mittelschulen in der Volksrepublik China mit einem Yilunwen geübt, „Gründe zu benennen“ (shuo li), wobei das zentrale Ziel des Textes darin besteht, Phänomene in ihrer Komplexität zu erkennen. Um ungefähre Anhaltspunkte zu gewinnen, wie die Probanden den Arbeitsauftrag aufgefasst haben, ob sie sich vorrangig mit dem Konsumverhalten von Jugendlichen befasst oder die Maßnahme in Hamburg diskutiert haben, sind in einem ersten Analyseschritt einzelne Textsegmente den drei zentralen Teiltexten „Einschätzung der Problemlage“, „Einschätzung der Handlung“ und „Re exion von Handlungsoptionen“ zugeordnet worden. Daraufhin ist bei jedem einzelnen Probanden der Gesamtumfang seines Textes sowie der Umfang der einzelnen Teiltexte ermittelt worden. Hierbei wurden Überschrift, metakommunikative Äußerungen und Themenfragen nicht berücksichtigt. Der Umfang in chinesischen Texten wird in Zeichen, der in deutschen und interimssprachlichen Texten in Wörtern angegeben. 22 Um die vier Textkorpora hinsichtlich des Textumfangs und der Gewichtung der Textsegmente vergleichen zu können, wurden aus den Angaben für die Einzeltexte die Mittelwerte für den Gesamttextumfang und die Mittelwerte für den Umfang der einzelnen Teilsegmente in einem Korpus bestimmt. 23 Zusätzlich wurden bei jedem einzelnen Text die prozentualen Anteile der Teilsegmente bezogen auf den jeweiligen Gesamttext ermittelt, da auch innerhalb eines Korpus der Textumfang deutlich variiert. Im Korpus der deutschen Studienanfänger variiert der Textumfang beispielsweise zwischen 304 Wörtern (FSU1-03.TXT.dt.) und 1115 Wörtern (FSU1-10.TXT.dt.). Während sich Proband FSU1-03 mit 125 Wörtern der „Einschätzung der Problemlage“, mit 136 Wörtern der „Einschätzung der Handlung“ und mit 43 Wörtern der „Re exion von Handlungsoptionen“ widmet, sind es bei Proband FSU1-10 für die „Einschätzung der Problemlage“ 549 Wörter, für die „Einschätzung der Handlung“ 425 und für die „Re exion von Handlungsoptionen“ 128 Wörter. Trotz der erheblichen Unterschiede in der absoluten Anzahl der Wörter zeigt sich bei der Analyse der prozentualen Anteile der Textsegmente, dass beide Probanden ihre Texte ähnlich gewichtet haben (FSU1-03.TXT.dt.: 41 % „Einschätzung der Problemlage“, 45 % „Einschätzung der Handlung“, 14 % „Re exion von Handlungsoptionen“; FSU1-10.TXT.dt.: 49 % „Einschätzung der Problemlage“, 38 % „Einschätzung der Handlung“, 12 % „Re exion von Handlungsoptionen“). 22 Folgende Prinzipien wurden befolgt: Generell wurden Zeichen und Wörter im Sinne der Textproduzenten gezählt, d.h. es wurden weder durchgestrichene Zeichen und Wörter gezählt, noch wurden nicht normgerechte Wortgrenzen vor der Zählung korrigiert. Daher werden „Doktor Titel“ und „die jenige“ als zwei Wörter aufgefasst. Abkürzungen werden entweder als einzelne Wörter („bzw.“) oder als Wortkombinationen („z.B.“; „usw.“) gezählt. Es stellte sich außerdem die Frage, wie Eigennamen in lateinischer Schrift in den chinesischen Texten gezählt werden sollten. Nach dem Prinzip der chinesischen Silbensprache werden nicht Wörter oder Buchstaben, sondern Silben gezählt. Demnach wird der Eigenname „Nokia“ als drei „Zeichen“ gezählt, ebenfalls die Abkürzungen „MP3“ und „NBA“. 23 Die statistische Auswertung der erhobenen Daten greift vor allem auf die einführende Darstellung Empirie in Linguistik und Sprachlehrforschung (A LBERT / K OSTER , 2002: 7-81) zurück. <?page no="178"?> 166 Textlänge, Verteilung der Teiltexte Aus den prozentualen Anteilen der Textsegmente wurden innerhalb eines Textkorpus Mittelwerte bestimmt, um auch die, von der Einzeltextlänge unabhängige Gewichtung der Textsegmente zwischen den Textkorpora vergleichen zu können. Um ferner die Homogenität eines Textkorpus einschätzen zu können, wurde aus dem Durchschnitt <x> und der Standardabweichung s (Wurzel aus der mittleren quadratischen Abweichung der Einzelwerte vom Mittelwert) ein Variationskoef zient ermittelt (s/ <x>). Ist dieser Variationskoef zient wesentlich kleiner als 1, herrscht im Korpus hinsichtlich des untersuchten Teiltextes große Homogenität. Ein Variationskoef zient mit einem Wert, der über 1 liegt, bedeutet, dass die Abweichungen vom Mittelwert häu g größer als der Mittelwert selbst sind. Dann herrscht im Korpus in Bezug auf den untersuchten Teiltext keine Homogenität. 12.1 Korpus FSU1.TXT.dt. FSU1.TXT.dt. 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 <x> s s/ <x> Einschätzung der Problemlage (W) 455 121 125 540 454 324 233 127 338 549 257 137 657 426 73 243 575 106 248 315 178 0,57 Einschätzung der Handlung (W) 77 229 136 290 87 176 301 327 293 425 137 305 270 382 577 245 205 532 372 282 132 0,47 Re exion von Handlungsoptionen (W) 21 20 43 44 27 42 42 52 53 128 79 55 137 65 - 109 - - 68 52 39 0,75 Sonstige Segmente (W) - 20 - 40 10 26 84 - 6 13 3 - 24 5 17 4 - - 15 14 20 1,43 Textumfang (W) 553 390 304 914 578 568 660 506 690 1115 476 497 1088 878 667 601 780 638 703 663 209 0,32 Tabelle 12.1: Absolute Textlänge und Aufteilung der Teiltexte in FSU1.TXT.dt. FSU1.TXT.dt. 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 <x> s s/ <x> Einschätzung der Problemlage in % 82 31 41 59 78 57 35 26 49 49 54 28 60 49 11 40 74 17 35 46,05 19,19 0,42 Einschätzung der Handlung in % 14 59 45 32 15 31 46 64 42 38 29 61 25 43 86 41 26 83 53 43,84 19,60 0,45 Re exion von Handlungsoptionen in % 4 5 14 5 5 7 6 10 8 12 17 11 13 7 - 18 - - 10 8,00 5,21 0,65 Sonstige Segmente in % - 5 - 4 2 5 13 - 1 1 - - 2 1 3 1 - - 2 2,11 3,04 1,44 Tabelle 12.2: Relative Aufteilung der Teiltexte FSU1.TXT.dt. in Prozent. Aus Kapitel 10 ist bekannt, dass die Texte im Korpus FSU1 unter kontrollierten Bedingungen produziert worden sind. Innerhalb von 90 Minuten fertigten die deutschen Studienanfänger Texte mit durchschnittlich 663 Wörtern an (siehe Tabelle 12.1). Dabei variiert der Textumfang zwischen 304 und 1115 Wörtern. Auf die „Einschätzung der Problemlage“ entfallen durchschnittlich 315 Wörter, auf die „Einschätzung der Handlung“ durchschnittlich 282 Wörter und auf die „Re exion der Handlungsoptionen“ durchschnittlich 52 Wörter. <?page no="179"?> 167 Textlänge, Verteilung der Teiltexte Wie in der Einführung zu diesem Kapitel erläutert, müssen zum Vergleich aber in erster Linie die prozentualen Anteile der Textsegmente herangezogen werden. Diese sind in Tabelle 12.2 aufgeführt. Man erkennt, dass sich die Probanden aus FSU1 genauso intensiv mit der „Einschätzung der Problemlage“ (47,04 %) auseinandergesetzt haben wie mit der „Einschätzung der Handlung“ (44,79 %). Ein wesentlich geringerer Textanteil entfällt auf die „Re exion von Handlungsoptionen“ (8,17 %). Lässt man die sonstigen Textsegmente außer acht, ergibt sich ein ungefähres Verhältnis der zentralen Teiltexte von 6: 5: 1. Der Variationskoef zient liegt bei allen drei Textsegmenten in einem mittleren Bereich (um 0,5), die Abweichungen vom Mittelwert sind also mäßig. 12.2 Korpus T1.TXT.chin. T1.TXT.chin. 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 <x> s s/ <x> Einschätzung der Problemlage (Z) 680 662 358 503 673 496 823 463 578 794 204 542 614 673 548 751 640 644 800 629 604 147,70 0,24 Einschätzung der Handlung (Z) 142 199 249 234 169 242 29 200 68 278 388 402 278 239 286 308 87 108 114 65 204 102,88 0,50 Re exion von Hand-lungsoptionen (Z) 22 107 135 - 88 - 22 107 77 23 - 33 - 122 - - 135 241 322 171 80 87,37 1,09 Sonstige Segmente (Z) 8 44 8 8 8 8 59 8 8 19 8 51 8 8 22 8 8 8 21 50 19 17,02 0,92 Textumfang (Z) 852 1012 750 745 938 746 933 778 731 1114 600 1028 900 1042 856 1067 870 1001 1257 915 907 153,48 0,17 Tabelle 12.3: Absolute Textlänge und Aufteilung der Teiltexte in T1.TXT.chin. T1.TXT.chin. 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 <x> s s/ <x> Einschätzung der Problemlage in % 79 65 48 68 72 67 88 60 79 71 34 53 68 65 64 70 74 64 64 69 66,10 11,29 0,17 Einschätzung der Handlung in % 17 20 33 31 18 32 4 26 9 25 65 39 31 23 33 29 10 11 9 7 23,60 13,90 0,58 Re exion von Handlungsoptionen in % 3 11 18 - 9 - 2 13 11 2 - 3 - 12 - - 15 24 25 19 8,35 8,30 0.99 Sonstige Segmente in % 1 4 1 1 1 1 6 1 1 2 1 5 1 1 1 1 1 1 2 5 1,95 1,61 0,85 Tabelle 12.4: Relative Aufteilung der Teiltexte T1.TXT.chin. in Prozent. Wie die deutschen Studienanfänger FSU1 fertigten auch die chinesischen Studienanfänger T1 ihre Texte unter kontrollierten Bedingungen an. Tabelle 12.3 kann man entnehmen, dass ihre Texte durchschnittlich 907 Zeichen lang waren. Die Textlängen betragen zwischen 600 Zeichen (T1-11.TXT.chin.) und 1257 Zeichen (T1-19.TXT.chin.). Dabei entfallen durchschnittlich 604 Zeichen auf die „Einschätzung der Problemlage“, 204 Zeichen auf die „Einschätzung der Handlung“ und 80 Zeichen auf die „Re exion von Handlungsoptionen“. Bereits bei der statistischen Analyse der Zeichen deutet sich an, dass in der Gruppe T1 in der Gewichtung des Teiltextes „Einschätzung der Prob- <?page no="180"?> 168 Textlänge, Verteilung der Teiltexte lemlage“ große Homogenität herrscht. Der Variationskoef zient beträgt hier lediglich 0.24 (siehe Tabelle 2.3). Noch deutlicher bestätigt sich dieses Ergebnis, wenn man die prozentualen Anteile der Teiltexte betrachtet (siehe Tabelle 12.4). Ein Variationskoef zient von 0,17 kennzeichnet, dass die chinesischen Studienanfänger, anders als die deutschen Studienanfänger, nahezu einheitlich besonderen Wert auf die „Einschätzung der Problemlage“ (durchschnittlich 66,1 %) gegenüber der „Einschätzung der Handlung“ (durchschnittlich 23,6 %) legen. Die Probandengruppe T1 zeichnet sich also hinsichtlich der „Einschätzung der Problemlage“ durch eine große Homogenität aus. Lediglich der Text von Proband T1-11 legt im Gegensatz zu allen anderen Texten aus T1 besonderen Wert auf die „Einschätzung der Handlung“ (65 %). Deutliche Differenzen zeigen sich in der „Re exion von Handlungsoptionen“. Während dieses Textsegment bei sechs Probanden (30 %) gar nicht vorkommt, gibt es sogar zwei Probanden (vgl. T1-19.TXT. chin. und T1-20.TXT.chin.), die sich in einem Viertel ihrer Darstellung der „Re exion von Handlungsoptionen“ widmen. Diese Tatsache spiegelt sich auch im relativ hohen Wert des Variationskoef zienten von 0,99 für dieses Textsegment wider. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die chinesischen Studienanfänger einen deutlichen Schwerpunkt setzen. Die zentrale Frage in den Texten aus T1.TXT.chin. ist die Problemlage und nicht die Handlung, was man auch am ungefähren Verhältnis der zentralen Teiltexte von 8: 3: 1 ablesen kann. 12.3 Korpus T4.TXT.int. T4.TXT.int. 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 <x> s s/ <x> Einschätzung der Problemlage (W) - 222 212 245 327 240 73 41 222 165 127 174 154 239 86 168 86,11 0,51 Einschätzung der Handlung (W) 245 34 46 89 122 196 194 171 54 56 165 101 198 89 45 120 66.74 0,55 Re exion von Handlungsoptionen (W) 86 - 57 16 - 17 99 - - 35 24 86 16 - 30 31 33,53 1,08 Sonstige Segmente (W) 3 3 3 3 3 3 3 3 3 36 3 3 3 3 3 5 8,23 1,58 Textumfang (W) 334 259 318 353 452 456 369 215 279 292 319 364 371 331 164 325 75,47 0,23 T abelle 12.5: Absolute Textlänge und Aufteilung der Teiltexte in T4.TXT.int. T4.TXT.int. 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 <x> s s/ <x> Einschätzung der Problemlage in % - 86 67 69 72 53 20 19 80 57 40 48 42 72 53 51,87 23,60 0,46 Einschätzung der Handlung in % 73 13 14 25 27 43 52 80 19 19 51 28 53 27 27 36,73 20,22 0,55 Re exion von Handlungsoptionen in % 26 - 18 5 - 4 27 - - 12 8 23 4 - 18 9,67 9,82 1,02 Sonstige Segmente in % 1 1 1 1 1 1 1 1 1 12 1 1 1 1 2 1,80 2,74 1,52 Tabelle 12.6: Relative Aufteilung der Teiltexte T4.TXT.int. in Prozent. <?page no="181"?> 169 Textlänge, Verteilung der Teiltexte Die fortgeschrittenen Deutschlerner fertigten ihre deutschen Texte ebenfalls unter kontrollierten Bedingungen an. Mit einem durchschnittlichen Textumfang von 325 Wörtern (siehe Tabelle 12.5) sind ihre Texte wesentlich kürzer als die der deutschen Muttersprachler. Der Textumfang variiert zwischen 164 Wörtern (T4-15.TXT.int.) und 456 Wörtern (T4-06.TXT.int.). Der „Einschätzung der Problemlage“ widmen die Deutschlerner durchschnittlich 168 Wörter, der „Einschätzung der Handlung“ durchschnittlich 120 Wörter und der „Re exion von Handlungsoptionen“ durchschnittlich 31 Wörter. Wie bei den chinesischen Studienanfängern gibt es auch bei den Deutschlernern fünf Probanden (33%), die gar keine Handlungsoptionen re ektieren, während der Teiltext „Re exion von Handlungsoptionen“ bei drei Probanden (vgl. T4-01.TXT.int., T4-07.TXT.int. und T4-12.TXT.int.) ein Viertel des Gesamttextes ausmacht. Diese erheblichen Unterschiede spiegeln sich in einem relativ großen Variationskoef zienten von 1,08 wider. Selbst wenn man zu den prozentualen Anteilen der betrachteten Textsegmente übergeht, ändert sich an der mäßigen bis relativ starken Streuung der Daten nichts. Deutlich erkennbar ist aber, dass die „Einschätzung der Problemlage“ (durchschnittlich 51,87 %) und die „Einschätzung der Handlung“ (durchschnittlich 36,73 %) nahezu gleichwertig im Mittelpunkt der Erörterung stehen. Lässt man die sonstigen Textsegmente außer acht, ergibt sich ein ungefähres Verhältnis der zentralen Teiltexte von 5: 4: 1. 12.4 Korpus T4.TXT.chin. T4.TXT.chin. 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 <x> s s/ <x> Einschätzung der Problemlage (Z) 1161 472 583 429 330 588 514 479 537 85 509 667 185 580 290 494 236,31 0,48 Einschätzung der Handlung (Z) 35 157 140 309 94 352 - 91 129 88 152 206 529 86 65 162 133,85 0,82 Re exion von Handlungsoptionen (Z) - - 168 33 209 68 - 26 - 365 63 62 95 56 71 81 95,90 1,18 Sonstige Segmente (Z) 7 31 7 6 8 36 25 8 - - 8 30 8 8 8 13 11,23 0,89 Textumfang (Z) 1203 660 898 777 641 1044 539 604 666 538 732 965 817 730 434 750 200,56 0,27 Tabelle 12.7: Absolute Textlänge und Aufteilung der Teiltexte in T4.TXT.chin. T4.TXT.chin. 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 <x> s s/ <x> Einschätzung der Problemlage 96 71 65 55 51 56 95 80 81 16 70 69 23 79 67 64,93 21,85 0,34 Einschätzung der Handlung 3 24 15 40 15 34 - 15 19 16 21 21 65 12 15 21,00 15,26 0,73 Re exion von Handlungsoptionen - - 19 4 33 7 - 4 - 68 8 7 11 8 16 12,33 17,18 1,39 Sonstige Segmente 1 5 1 1 1 3 5 1 - - 1 3 1 1 2 1,74 1,53 0,88 Tabelle 12.8: Relative Aufteilung der Teiltexte T4.TXT.chin. in Prozent. Auch die Texte aus T4.TXT.chin. wurden von den fortgeschrittenen Deutschlernern verfasst, diesmal aber unter unkontrollierten Bedingungen. Die chinesischen Texte sind durchschnittlich 750 Zeichen lang (siehe Tabelle 12.7). Der Textumfang variiert zwischen 434 Zeichen (T4-15.TXT.chin.) und 1203 Zeichen (T4-01.TXT.chin.). Mit durchschnittlich <?page no="182"?> 170 Textlänge, Verteilung der Teiltexte 494 Zeichen gehen die Probanden auf die „Einschätzung der Problemlage“ ein. Der „Einschätzung der Handlung“ widmen sie durchschnittlich 162 Zeichen. Wie bei den beiden Texktkorpora T1.TXT.chin. und T4.TXT.int. fällt auch hier die große Varianz der Zeichenzahl für das Textsegment „Re exion von Handlungsoptionen“ (durchschnittlich 81 Zeichen) auf. Während vier Probanden (27 %) gar keine Handlungsoptionen re ektieren, ist dieses Thema bei einem Probanden (T4-10.TXT.chin.) mit 365 Zeichen (also 68 % des Textumfangs) der zentrale Textgegenstand. Geht man zu den prozentualen Anteilen der Textsegmente über, zeigt sich, dass die Probanden relativ einheitlich (Variationskoef zient 0,34) der „Einschätzung der Problemlage“ etwa 64,93 % ihres Textes widmen. Die Teiltexte „Einschätzung der Handlung“ und „Re exion von Handlungsoptionen“ nehmen dagegen nur 21 % bzw. 12,33 % des Textumfangs ein. Dass die Bedeutung dieser beiden Textsegmente stark variiert - Proband T4-09 verzichtet beispielsweise ganz auf die Erörterung der beiden Themen, während die „Re exion von Handlungsoptionen“ bei Proband T4-10 zentraler Textgegenstand ist - spiegelt sich in den großen Variationskoef zienten von 0,73 bzw. 1,39 wider (siehe Tabelle 12.8). Das ungefähre Verhältnis der zentralen Textsegmente ist in den chinesischen Texten der fortgeschrittenen Deutschlerner 5: 2: 1. 12.5 Gruppenübergreifender Vergleich und Hypothesen FSU1.TXT.dt. T1.TXT.chin. T4.TXT.int. T4.TXT.chin. n=19 % n=20 % n=15 % n=15 % Einschätzung der Problemlage (W bzw. Z) 315 47,5 604 66,6 168 51,8 494 65,7 Einschätzung der Handlung (W bzw. Z) 282 42,5 204 22,5 120 37,0 162 21,8 Re exion von Handlungsoptionen (W bzw. Z) 52 7,8 80 8,9 31 9,6 81 10,8 Sonstige Textsegmente (W bzw. Z) 14 2,2 19 2,0 5 1,6 13 1,7 Textlänge (W bzw. Z) 663 907 325 750 Tabelle 12.9: Absolute Textlänge und Aufteilung der Teiltexte im gruppenübergreifenden Vergleich. FSU1.TXT.dt. T1.TXT.chin. T4.TXT.int. T4.TXT.chin. <x> in % s in % s/ <x> <x>in % s in % s/ <x> <x> in % s in % s/ <x> <x> in % s in % s/ <x> Einschätzung der Problemlage 46,05 19,19 0,42 66,10 11,29 0,17 51,87 23,60 0,46 64,93 21,85 0,34 Einschätzung der Handlung 43,84 19,60 0,45 23,60 13,90 0,58 36,73 20,22 0,55 21,00 15,26 0,73 Re exion von Handlungsoptionen 8,00 5,21 0,65 8,35 8,30 0,99 9,67 9,82 1,02 12,33 17,18 1,39 Sonstige Textsegmente 2,11 3,04 1,44 1,95 1,61 0,85 1,73 2,74 1,52 1,74 1,53 0,88 Tabelle 12.10: Relative Aufteilung der Teiltexte im gruppenübergreifenden Vergleich. Abschließend sollen die Ergebnisse gruppenübergreifend gegenübergestellt werden. Dazu führt Tabelle 12.9 die berechneten durchschnittlichen Längen der Textsegmente und der Gesamttexte in Wörtern bzw. Zeichen und die aus den Mittelwerten bestimmten Prozentzahlen auf. Tabelle 12.10 enthält die aus den prozentualen Anteilen der einzelnen Textsegmente bestimmten Mittelwerte <x> sowie die dazugehörigen Standard- <?page no="183"?> 171 Textlänge, Verteilung der Teiltexte abweichungen s und die Variationskoef zienten. Schaubild 12.1 veranschaulicht das Verhältnis der zentralen Textsegmente in den vier Textkorpora gra sch. Reflexion von Handlungsoptionen Einschätzung der Handlung Einschätzung der Problemlage T4.TXT.chin. T4.TXT.int. T1.TXT.chin. FSU1.TXT.dt. Schaubild 12.1: Relative Aufteilung der Teiltexte im gruppenübergreifenden Vergleich (gra sch). Vergleich FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. Bei den Studienanfängern bestehen gravierende Unterschiede im Verhältnis der zentralen Textsegmente, wie Schaubild 12.1 verdeutlicht: Bei den deutschen Studienanfängern (FSU1) ergibt sich ein ungefähres Verhältnis der Textsegmente „Einschätzung der Problemlage“, „Einschätzung der Handlung“ und „Re exion von Handlungsoptionen“ von 6: 5: 1, bei den chinesischen Studienanfängern (T1) hingegen von 8: 3: 1. Während also die deutschen Studienanfänger Problemlage und Handlung etwa gleichwertig betrachten, fokussieren die chinesischen Studienanfänger eindeutig die Erörterung der Problemlage. Dies ist vermutlich auf die unterschiedliche Prägung der Studierenden im schulischen Aufsatzunterricht zurückzuführen. Die deutschen Studienanfänger richten sich nach dem Muster einer Erörterung (siehe Kapitel 7) und fällen nach Abwägung verschiedener Argumente ein begründetes Urteil, während die chinesischen Studienanfänger nach dem Vorbild eines Yilunwen schreiben (siehe Kapitel 8) und das Problem vorrangig in seiner Komplexität erkennen wollen. Sowohl im Textkorpus FSU1.TXT.dt. als auch im Textkorpus T1.TXT.chin. handelt es sich bei der „Re exion von Handlungsoptionen“ um einen fakultativen Teiltext. Vergleich T4.TXT.int, FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. Auffallend sind zunächst die deutlichen Unterschiede im Umfang der Texte von deutschen Studienanfängern und fortgeschrittenen Deutschlernern. Die deutschen Muttersprachler (FSU1) schreiben unter kontrollierten Bedingungen in der gleichen Zeit mit durchschnittlich 663 Wörtern einen etwa doppelt so langen Text wie die Deutschlerner (T4) mit durchschnittlich 325 Wörtern. Dies kann auf die spezi schen Schwierigkeiten, einen Text in einer Fremdsprache zu verfassen, zurückgeführt werden. <?page no="184"?> 172 Textlänge, Verteilung der Teiltexte Bemerkenswert ist, dass die chinesischen Deutschlerner (T4) ihre deutschen Texte ähnlich gewichten wie die deutschen Studienanfänger (FSU1) und nicht wie ihre chinesischen Kommilitonen im Erstsemester (T1). Mit einem Verhältnis der zentralen Textsegmente von 5: 4: 1 liegen sie sehr nah an der Aufteilung der Texte der deutschen Muttersprachler von 6: 5: 1. Handlungsoptionen werden von den chinesischen Deutschlernern in ihren deutschen Texten mit einem Anteil von 9,67 % etwas stärker diskutiert als von den deutschen und chinesischen Studienanfängern. Dabei ist der prozentuale Anteil des fakultativen Teiltextes „Re exion von Handlungsoptionen“ bei den deutschen Studienanfängern noch relativ homogen (Variationskoef zient 0,65), während der prozentuale Anteil bei den chinesischen Studienanfängern und den Deutschlernern stark schwankt (Variationskoef zient 0,99 und 1,02). Vergleich T4.TXT.chin., FSU1.TXT.dt., T1.TXT.chin. und T4.TXT.int. Unter kontrollierten Bedingungen sind die chinesischen Texte der Studienanfänger durchschnittlich länger (907 Zeichen) als die chinesischen Texte der fortgeschrittenen Deutschlerner unter nicht kontrollierten Bedingungen (750 Zeichen). Mögliche Ursache hierfür könnten mangelnde Motivation der fortgeschrittenen Deutschlerner sein, im Rahmen der Untersuchung einen zweiten Text zu verfassen. Außerdem fehlt Mitgliedern dieser Probandengruppe nach Jahren des Germanistikstudiums mutmaßlich die Praxis, einen Text in der Muttersprache nach konventionalisierten Mustern zu verfassen. Während die deutschen Texte der fortgeschrittenen Deutschlerner inhaltlich wie die Texte der deutschen Studienanfänger gewichtet sind, gleichen ihre muttersprachlichen Texte mit einem Verhältnis der zentralen Teiltexte von 6: 2: 1 wieder den Texten der chinesischen Studienanfänger mit einem Verhältnis von 8: 3: 1. Das überraschendste Ergebnis der statistischen Auswertung ist also, dass sich die interimssprachlichen Texte der Deutschlerner markant von den muttersprachlichen unterscheiden. Das Schreiben in der Fremdsprache beein usst ganz offensichtlich auch die Wahl der zentralen Fragestellungen. Die Probanden tendieren dazu, je nach gewählter Sprache unterschiedliche Themenfragen zu erörtern. Besonders deutlich zeigen sich diese Verschiebungen bei zwei Probanden (T4-01, T4-07). In ihren deutschen Texten erörtern sie fast ausschließlich die Vor- und Nachteile der Maßnahme und geben Handlungsempfehlungen. In ihren chinesischen Texten widmen sie sich einer gänzlich anderen Frage: Sie fragen nach dem Konsumverhalten jugendlicher Konsumenten. Nicht auszuschließen ist bei der Probandengruppe T4 aber auch eine Beein ussung des ersten Textes auf den zweiten, um Ausführungen nicht zu wiederholen. Wenn z.B. die Maßnahme im ersten Text erörtert worden ist, dann könnte sich ein Textproduzent entschließen, in seinem später angefertigten Text eine andere zentrale Frage zu erörtern. Hierzu müssten andere vergleichende Untersuchungen durchgeführt werden. In meinem Datenmaterial ist eine Tendenz jedoch unverkennbar: Kein Deutschlerner diskutiert in seinem Interimstext die Problemlage und in seinem muttersprachlichen Text die Maßnahme. Sofern sich die beiden Texte markant unterscheiden, wird im Interimstext die Maßnahme, im chinesischen Text die Problemlage eingeschätzt. Außerdem zeichnet sich ab, dass die fortgeschrittenen Deutschlerner in ihren chinesischen Texten im Vergleich zu den anderen Probandengruppen am stärksten Handlungsoptionen re ektieren (durchschnittlich 12,33 %). Möglicherweise haben Erfahrungen während des Germanistikstudiums dazu geführt, verstärkt Handlungsoptionen zu erwägen. Außerdem könnte auch das höhere Durchschnittsalter der Probanden aus T4 für diese Änderungen verantwortlich sein. <?page no="185"?> 13 Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext Wie der Vergleich muttersprachlicher Lehrwerke in Kapitel 7 und 8 zeigt, wird an deutschen Gymnasien mit der Aufsatzsorte Texterörterung ein kritischer Umgang mit Texten eingeübt. Eine entsprechende Variante eines Yilunwen wird im Aufsatzunterricht an chinesischen Mittelschulen nicht vermittelt. 24 Dieser Unterschied könnte sich auf die Texte auswirken, die im Rahmen vorliegender Erhebung entstanden sind. Die leitende Frage dieses Kapitels lautet daher, ob und gegebenenfalls wie die Probanden in ihren Texten auf den Ausgangstext explizit Bezug nehmen. Wie die Darstellung des Untersuchungsdesigns (vgl. Abschnitt 10.1) zeigt, lag allen Probanden der gleiche Ausgangstext in verschiedenen Varianten vor (vgl. Abschnitt 10.5). Der Arbeitsauftrag (vgl. Abschnitt 10.6) forderte sie zudem auf, auf diesen Ausgangstext zu reagieren. Explizite Bezugnahmen könnten sich in den Teiltexten „Einschätzung der Problemlage“ und „Einschätzung der Handlung“ nden, da im Ausgangstext Informationen sowohl zur Problemlage als auch zur Handlung gegeben werden. In fast allen Texten wird auf die Vorgänge in Hamburg verwiesen, ohne zu kennzeichnen, dass man sich auf Informationen „aus zweiter Hand“ stützt (vgl. W EINRICH 1993: 261). Neben diesen impliziten Bezugnahmen wird in einigen Texten jedoch auch explizit auf den Ausgangstext verwiesen. (11) Dass die im Text erwähnten Hamburger Mittelschüler einander verhöhnen, (12) steht jedoch in keinem direkten Zusammenhang mit den Marken als vielmehr mit der moralischen Integrität eines Menschen (T1-03.TXT.chin.). Dieser Text bezieht sich nicht auf die „Hamburger Mittelschüler“ sondern ausdrücklich auf die „im Text erwähnten“. Der Ausgangstext wird somit als Informationsquelle angegeben. In den nächsten Textausschnitten ist es schwierig zu entscheiden, ob in beiden Fällen eine explizite Bezugnahme vorliegt. (5) Trotzdem lässt sich nicht verhehlen, dass die Medien täglich den sogenannten „Markenterror“ (Zitat Z.1) durch ihre ständige Werbung unterstützen (FSU1-01.TXT.dt.). (22) Soziale Gefüge einer Großstadt tragen sicher zum Fortbestehen des „Markenterrors“ bei (FSU1- 02.TXT.dt.). Der Unterschied dieser Aussagen besteht darin, dass nur in der ersten der Begriff „Markenterror“ eindeutig als Zitat gekennzeichnet ist. Bei der zweiten handelt es sich um eine nicht markierte Übernahme aus dem Ausgangstext, in dem der Begriff „Markenterror“ ebenfalls in Anführungszeichen gesetzt wird. Ich betrachte daher nur die erste Aussage als expliziten Verweis. Interpretationsbedürftig ist auch folgende Aussage: (33) Die an der Hamburger Mittelschule eingeleitete Maßnahme vermag offenbar das Problem zu lösen (T1-01.TXT.chin.). Unklar bleibt, ob sich das Adverb „offenbar“ auf den Ausgangstext oder auf die im Ausgangstext zitierten Stellungnahmen bezieht. Weil eine zweifelsfreie Zuordnung hier nicht möglich ist, werte ich diese Aussage nicht als explizite Bezugnahme. 24 Im Rahmen vorliegender Untersuchung kann nicht beurteilt werden, ob und gegebenenfalls auf welche Weise im Umgang mit literarischen Texten oder in anderen Unterrichtsfächern an chinesischen Mittelschulen eine kritisch-distanzierte Auseinandersetzung mit Texten eingeübt wird. <?page no="186"?> 174 Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext Auf den Ausgangstext nehmen die Texte im Datenkorpus auf verschiedene Weise explizit Bezug. Es werden Autorenname und Titel genannt, Zusammenfassungen des Inhalts gegeben. Informationen aus dem Ausgangstext können durch Verweise und Zitate bei Darstellung der Problemlage, der Maßnahme oder der positiven Reaktionen wiedergegeben werden. In einigen Fällen wird der Ausgangstext auch beurteilt. Ferner wird auch angegeben, welche Lektüreeindrücke der Ausgangstext ausgelöst hat (vgl. Tabellen 13.1-13.5). 25 13.1 Korpus FSU1.TXT.dt. Auseinandersetzung mit dem AT (FSU1. TXT.dt.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 n=19 % NENNUNG der Autorin des AT x x x x x x 6 32 NENNUNG des Themas des AT x x x x x x x x 8 42 BESCHREIBUNG des subjektiven Lektüreeindrucks x x 2 10 WIEDERGABE des AT (DARSTELLUNG der Problemlage) x (x) (x) x (x) x x (x) x (x) x x x x x (x) (x) (x) 10 47 WIEDERGABE des AT (DARSTELLUNG der Maßnahme) (x) (x) (x) (x) (x) x x x x (x) (x) (x) x (x) (x) (x) (x) (x) (x) 5 26 WIEDERGABE des AT (DARSTELLUNG der Reaktionen) (x) (x) x (x) x x (x) (x) (x) (x) x x (x) (x) (x) 5 26 BEURTEILUNG des AT (x) x (x) x x 3 21 Tabelle 13.1: Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext FSU1.TXT.dt. Die Übersicht in Tabelle 13.1 zeigt, dass sich vierzehn Probanden (74 %) der Vergleichsgruppe FSU1 explizit auf den Ausgangstext beziehen. Sechs Probanden (32 %) nennen die Autorin, acht (42 %) geben eine kurze Zusammenfassung des Ausgangstextes oder zitieren die Überschrift, zwei (10 %) teilen ihre subjektiven Lektüreeindrücke mit. Bei der Darstellung der Problemlage beziehen sich zehn (47 %), bei der Darstellung der Maßnahme und der positiven Reaktionen jeweils fünf Probanden (26 %) explizit auf den Ausgangstext. Drei Probanden (21 %) beurteilen schließlich den Ausgangstext. Aufsatzsorte Texterörterung und Einordnung des Ausgangstextes in einen Diskurs Im Arbeitsauftrag wird nicht ausdrücklich dazu aufgefordert, zum Ausgangstext Stellung zu beziehen. Deshalb konzipieren die deutschen Studienanfänger ihre Texte mehrheitlich auch nicht als Texterörterung sondern als Problemerörterung. Auffälligerweise 25 In den Tabellen 13.1 bis 13.4 werden alle expliziten Bezugnahmen mit x, alle impliziten Bezugnahmen mit (x) angegeben. Die Zitate aus dem Datenkorpus sind gegebenenfalls geringfügig „korrigiert“ worden, um sie den Normen der deutschen Orthographie, Grammatik und Interpunktion anzupassen. Hierdurch wird in der vorliegenden Untersuchung, die keine Fehleranalyse durchführt, eine bessere Lesbarkeit erreicht. Die geringfügigen Eingriffe können durch einen Vergleich mit den im Anhang dokumentierten Originaltexten überprüft werden. Bei kursiv markierten Textstellen in den Zitaten aus dem Datenkorpus handelt es sich um Hervorhebungen von mir, D. S. <?page no="187"?> 175 Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext klassi ziert ein Proband seinen Aufsatz jedoch als „textbezogene Erörterung zum Artikel von Stefanie George ‚Markenterror an Schulen nimmt zu’“ (FSU1-19.TXT.dt.0). Er zeigt damit, dass sich sein eigener Text auf einen anderen bezieht, setzt sich mit diesem aber nicht weiter auseinander, wie es die angegebene Aufsatzsorte eigentlich vorsieht. Nach dem Muster einer Texterörterung ist lediglich ein Text verfasst worden. (1) Der mir vorliegende Text befasst sich mit einem sehr aktuellem Thema - Markenterror an Schulen. (2) Das Problem [...] ist nicht nur in Hamburg ein Problem. (3) Vor allem in Großstädten, aber auch in kleinen Schulen nimmt der Druck auf die Schüler immer mehr zu. [...] (5) Ich denke, dass sich der Druck in den nächsten Jahren noch weiter aufbauen wird. [...] (7) Im ersten Abschnitt des Textes wird zuerst das allgemeine Problem dargestellt. (8) Das Wort „Markenterror“ wird in den Raum geworfen. Doch wie kann man „Markenterror“ de nieren? (9) Ich sehe das Wort in Verbindung mit Zwang, Unterdrückung und Spott. (10) Diese Eigenschaften werden dann auch im weiteren Verlauf des ersten Abschnittes benutzt. (11) Für mich ist „Markenterror“ hauptsächlich bei Hauptschülern anzusiedeln. (12) Andere, sozial schwächer gestellte Mitschüler werden aufgrund ihrer Kleidung verspottet und diskriminiert. (13) Im zweiten Abschnitt werden Begriffe für diese Art der Diskriminierung hervorgebracht und eine „Art des Terrors“ beschrieben. (14) Dass in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit viele Eltern wenig Geld haben und es sich deshalb nicht leisten können, ihren Kindern „Markenklamotten zu kaufen, geht nicht hervor. (15) Vielmehr denke ich, daß durch Begriffe wie „Aldi Kind“ oder „Sozialversager“ die Kinder ins soziale Abseits manövriert werden. [...] (20) Im dritten Abschnitt wird ein Lösungsweg aufgezeigt. (21) Die einheitlichen Pullover sollen ein erstes Zeichen gegen „Markenterror“ sein. [...] (23) Im vierten Abschnitt kommen konkrete Schüler zu Wort, die das Projekt unterstützen. (24) Von Seiten der Lehrer gibt es auch nur positive Meinungen. [...] (26) Ich denke aber, auch wenn das Projekt in Hamburg sehr gut funktioniert hat, (27) muss man es immer von zwei Seiten sehen (FSU1-06.TXT.dt.). Dieser Text erfüllt zentrale Anforderungen einer Texterörterung (vgl. S CHURF / W AGENER 2004: 62). Er nennt das Thema des Ausgangstextes und fasst zentrale Informationen unter Verwendung gängiger Gliederungssignale (im ersten Abschnitt, im zweiten Abschnitt, ...) zusammen. Die Wiedergaben werden ergänzt, interpretiert oder kommentiert. Deutlich wird, dass das Thema in diesem Text aus doppelter Perspektive betrachtet wird. Erklärt wird nicht allein das Verhalten der Jugendlichen, dargestellt wird nicht allein die eingeleitete Maßnahme, die Darstellung im Ausgangstext ist selbst Gegenstand einer kritischen Betrachtung. Dieser distanzierte Blick auf den Ausgangstext führt in einem anderen Text im Korpusmaterial zu einer Einordnung des Ausgangstextes in einen Diskurs. (1) In vielen Jugendmagazinen und auch in Fernseh- und Radioprogrammen ist ein Thema immer wieder anzutreffen, die Frage, was ist „in“ und was ist „out“. (2) Meist wird auch gleich eine Antwort nachgeliefert, und manchmal ndet man auch gleich einen Hinweis auf den Hersteller. [...] (4) Über die Frage, welchen Ein uß solche „Berichte“ auf Kinder oder Jugendliche haben, wird nur bedingt eingegangen. (5) Ziel ist natürlich, dass die Jugendlichen diese Produkte kaufen bzw. sie sich von ihren Eltern kaufen lassen. (6) Was mit denjenigen geschieht, die sich diese Artikel nicht leisten können, spielt in dem Moment keine Rolle [...] (7) Genau dieser Problematik widmet sich Stefanie George in ihrem Zeitungsartikel „Markenterror an Schulen nimmt zu“. (8) Sie greift die Thematik des „Markenkampfes“ auf und beschreibt am Anfang ihres Artikels, dass Kinder und Jugendliche auf Grund der Tatsache, daß sie eben solche Markenprodukte haben oder eben nicht, diskriminiert werden. (9) Die einen werden als „Aldi-Kind“ oder „Sozialversager“ bezeichnet und die anderen als „Bonzenkind“ [...] (FSU1-07.TXT.dt.). Ausgehend von einer Kritik an der tendenziösen Berichterstattung in den Massenmedien würdigt dieser Text den Ausgangstext, dessen Verdienst es sei, auch negative Folgen des Markenkults zu benennen. Der Ausgangstext wird damit in einen öffentlichen Diskurs über Mode eingeordnet und mit anderen Texten in Beziehung gesetzt. <?page no="188"?> 176 Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext Verweise und Zitate Nur die beiden zitierten Texte setzen sich sehr dezidiert mit dem Ausgangstext auseinander. Jedoch wird auch in anderen Texten der deutschen Studienanfänger häu g explizit auf ihn verwiesen. Sechs Texte (32 %) nennen die Autorin, acht (42 %) geben den Inhalt kurz wieder oder zitieren meist einleitend die Überschrift. (1) Wie auch schon Stefanie George in ihrem Artikel „Markenterror an Schulen nimmt zu“ aufzeigt, gehört es heute zur Tagesordnung über Kleidung von Mitmenschen laut zu reden (FSU1-11.TXT.dt.). (1) „Der ‚Markenterror’ macht nicht vor deutschen Schulen Halt.“ Dieses Zitat stammt aus einem aktuellen Zeitungsartikel und wurde von Stefanie George verfasst (FSU1-13.TXT.dt.). Der Ausgangstext wird vorgestellt, damit der Leser erfährt, auf welche Informationsquelle sich der Autor bezieht. Die Texte werden hierdurch nicht zu Texterörterungen, es zeigt sich jedoch ein deutliches Bestreben, fremde Diskursbeiträge als solche zu kennzeichnen. Dass es viele deutsche Studienanfänger gelernt haben, fremde Aussagen zu markieren, demonstriert ein Text besonders eindringlich. Um möglichst genau zitieren zu können, fügt eine Probandin dem Ausgangstext eine eigene Zeilennummerierung hinzu. (27) Die Haupt- und Realschule Hamburg-Sinstorf realisierte dabei Folgendes: Sie führte eine Schuluniform ein. Alle Schüler dürfen und müssen seit September ein „(...) grünes Sweatshirt mit dem Logo der Schule (...)“ (Zeile 13, Artikel) tragen. (28) Die Reaktion der Jungen und Mädchen ist durchaus positiv: Der Kon ikt scheint ausgestanden, d.h. Provokationen über Markenklamotten entfallen und ganz nebenbei entfällt der morgendliche Stress bei der Auswahl des äußeren Kostüms. (29) Auch Eltern und Lehrer sind erfreut, dass das Problem ausgestanden ist. Letztere tragen z.T. sogar selbst das Kleidungsstück, um zur Einheit beizutragen. Als „(...) Zeichen der Zusammengehörigkeit“ (Z. 25, 26) bewertet der Schulleiter glücklich die Situation (FSU1-13.TXT.dt.). Die vielfältigen Formen expliziter und impliziter Bezugnahme, die genauen Angaben der Belegstellen (Zeile 13, Artikel) zeigen einen akademisch-distanzierten Umgang mit Texten. Dem Leser ermöglichen die Verweise mit Zeilenangabe, die zitierten Belegstellen zu überprüfen. Beurteilung des Ausgangstextes Zu einem distanzierten Umgang mit Texten kann es auch gehören, den Ausgangstext zum Gegenstand einer Beurteilung zu machen. (12) Der mir vorliegende Zeitungsartikel von Stefanie George trifft das Problem ziemlich genau (13) und die dabei getroffene Lösung ist keine schlechte (FSU1-09.TXT.dt.). (13) Im zweiten Abschnitt werden Begriffe für diese Art der Diskriminierung hervorgebracht und eine „Art des Terrors“ beschrieben. (14) Dass in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit viele Eltern wenig Geld haben und es sich deshalb nicht leisten können, ihren Kindern „Markenklamotten zu kaufen, geht nicht hervor (FSU1-06.TXT.dt.). (20) Ich nde es gut, dass ein solches „Pilotprojekt“ nun auch in Deutschland existiert, (21) obwohl ich Zweifel habe, ob die Schüler andernorts auch „sehr positiv“ auf die Einführung einer Schuluniform reagieren würden (FSU1-02.TXT.dt.). Im ersten Textauszug wird anerkannt, dass der Bericht das Problem „ziemlich genau“ treffe. Im zweiten Auszug wird der Bericht kritisiert, er gebe keine Auskunft über die <?page no="189"?> 177 Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext sozialen Ursachen der Kon ikte. Im dritten Beispiel wird eindeutig die Glaubwürdigkeit (vgl. K OPPERSCHMIDT 1989: 45ff.) des Berichts in Zweifel gezogen, denn das als Zitat ausgewiesene Attribut „sehr positiv“ bezieht sich auf den Ausgangstext und nicht auf die dort wiedergegebenen Reaktionen der Betroffenen. Keine explizite Bezugnahme liegt demgegenüber in folgender Aussage vor: (17) Die Einführung von Schuluniformen, wie in dieser Hamburger Schule als die „Lösung allen Übels“ darzustellen, halte ich für falsch (FSU1-04.TXT.dt.). Hier bleibt offen, ob sich die Kritik auf die Darstellung bezieht. Dies gilt auch für viele Beurteilungen in anderen Texten, die sich auf positive Reaktionen der Maßnahme beziehen. Sie sei „offensichtlich“ ein großer Erfolg (FSU1-14.TXT.dt.13), „angeblich“ seien die Kon ikte entschärft worden (FSU1-19.TXT.dt.24), „angeblich“ seien alle Schüler in Hamburg gegen den Markenzwang gewesen (FSU1-05.TXT.dt.21), „anscheinend“ fand die Maßnahme bei den Schülern großen Anklang (FSU1-12.TXT.dt.21). Lektüreeindrücke Die deutschen Studienanfänger geben kaum an, welche Wirkung der Text auf sie hatte oder auf andere Leser haben könnte. Im Korpusmaterial nden sich nur zwei Hinweise auf die Wirkung des Ausgangstextes: (8) Daher würde ich das Projekt an der Hamburger Schule nie ablehnen, (9) auch wenn ich nicht gedacht hätte, dass es Schüler in diesem Alter so toll nden würden (FSU1-16.TXT.dt.). (1) „Der ‚Markenterror’ macht nicht vor deutschen Schulen Halt.“ Dieses Zitat stammt aus einem aktuellen Zeitungsartikel und wurde von Stefanie George verfasst. (2) Terror durch Marken: Das macht Angst, lässt einen schaudern, aber auch Mitleid hervorrufen (FSU1-13.TXT.dt.). Während der erste Text die persönliche Verwunderung der Autorin zum Ausdruck bringt, beschreibt der zweite Text die Wirkung auch auf andere Leser. Womöglich dient die Beschreibung der Textwirkung hier dazu, den Leser zur weiteren Lektüre zu animieren (vgl. F IX 2002: 46). Festhalten lässt sich, dass sich Mitglieder der Vergleichsgruppe FSU1 mehrheitlich (74 %) explizit auf den Ausgangstext beziehen. Texte dienen nicht nur der Informationsentnahme, sie sind in einigen Fällen selbst Gegenstand einer kritischen Beurteilung. Obwohl der Arbeitsauftrag nicht fordert, eine Texterörterung zu verfassen, orientiert sich eine Probandin an diesem Textmuster. Generell zu konstatieren ist eine Neigung, Texte distanziert zu betrachten und Textwirkungen nicht zu beschreiben. <?page no="190"?> 178 Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext 13.2 Korpus T1.TXT.chin. Auseinandersetzung mit dem AT (T1.TXT.chin.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 n=20 % NENNUNG der Autorin des AT x 1 5 NENNUNG des Themas des AT x x 2 10 BESCHREIBUNG des subjektiven Lektüreeindrucks x x x x 4 20 WIEDERGABE des AT (DARSTELLUNG der Problemlage) (x) x x (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) x (x) (x) x 4 20 WIEDERGABE des AT (DARSTELLUNG der Maßnahme) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) x (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) x (x) (x) (x) 2 10 WIEDERGABE des AT (DARSTELLUNG der Reaktionen) (x) (x) (x) (x) x (x) 1 5 BEURTEILUNG des AT - - Tabelle 13.2: Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext T1.TXT.chin. Die Übersicht in Tabelle 13.2 zeigt, dass sich viele Texte der chinesischen Studienanfänger nicht explizit auf den Ausgangstext beziehen. Nur neun Texte (45 %) lassen überhaupt erkennen, dass der Textproduktion ein Ausgangstext zugrunde lag. Nur ein Text (5 %) nennt die Autorin, nur zwei Texte (10 %) geben Hinweise auf den Inhalt des Ausgangstextes. Vier Texte (20 %) beziehen sich auf die Darstellung der Problemlage, zwei Texte (10 %) bei Darstellung der Maßnahme auf den Ausgangstext. Ein einziger Text (5 %) verweist bei der Wiedergabe der Reaktionen auf den Ausgangstext. Explizit beurteilt wird der Ausgangstext nicht, jedoch teilen vier Texte (20 %) Lektüreeindrücke mit. Verweise und Zitate Dass an chinesischen Mittelschulen offenbar ein anderer Umgang mit Texten gelernt wird, zeigt sich bereits darin, dass die Autorin des Ausgangstextes nur in einem Text namentlich erwähnt wird. (1) Als ich Georges Bericht las, war ich tief bewegt. (2) Der Markenkult gewinnt nicht nur in Deutschland an Brisanz, auf der ganzen Welt avancierte er zu einem Problem unter Kindern und Jugendlichen (T1-18.TXT.chin.). Ausführlich vorgestellt und zitiert wird der Ausgangstextes nur in einem einzigen Text: (1) Wenn uns ein solches Thema erreicht, dann gewinnt es an Brisanz. (2) „Ein übertriebenes Verlangen nach Markenprodukten macht nicht vor deutschen Schulen Halt.“ (3) Das Wort „übertrieben“ in diesem Satz verdient unsere Aufmerksamkeit, da es zum Kern des Themas leitet (T1-20.TXT.chin.). Allgemein kennzeichnend für die Texte der chinesischen Studienanfänger ist also, dass kaum bibliographische Hinweise gegeben werden oder den Inhalt des Ausgangstextes <?page no="191"?> 179 Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext zusammengefasst wird. Dass ein Yilunwen themen- und nicht textorientiert ist, zeigt sich in vielen unspezi schen Verweisen auf „den Text“. (32) Ich bezwei e stark, dass die im Text beschriebene Situation zutrifft (T1-14.TXT.chin.). (22) Aber gleichzeitig stimme ich persönlich der im Text dargestellten Maßnahme nicht zu (T1- 08.TXT.chin.). In diesen Texten 26 wird deutlich, dass der Textproduktion ein schriftlicher Text zugrunde lag. Manchmal wird auch nur mitgeteilt, dass mit dem eigenen Text auf nicht genauer spezi zierte Informationen reagiert wird. (3) Wie zu erfahren ist, führen deutsche Schüler auf dem Schulgelände einen immer heftigeren Wettstreit um Markenprodukte, was Disharmonie zwischen den Schülern und sogar gegenseitige Verachtung zur Folge hat. [...] (21) Dem Vernehmen nach ergriff eine Schule in einer Region Deutschlands die Maßnahme, „Schüler Uniformen tragen zu lassen“ (T1-17.TXT.chin.). Die chinesischen Wendungen ju xi („wie zu erfahren ist“) und tingshuo („dem Vernehmen nach“) können sich auf schriftliche und mündliche Informationen beziehen. Auch gekennzeichnete Zitate nden sich im Korpusmaterial kaum. Offenbar scheint es sehr vielen chinesischen Studienanfängern entbehrlich zu sein, den Leser darüber in Kenntnis zu setzen, woher sie ihre Informationen bezogen haben. 28 Vielfach wird sogar darauf verzichtet, die Situation in Hamburg näher zu beschreiben. (10) Obwohl mir ähnliche Vorgänge, wie sie sich in Hamburg zugetragen haben, zu Ohren gekommen sind, hat sich in meinem engeren Umfeld nichts Derartiges ereignet (T1-09.TXT.chin.). Ähnliches gilt auch für Darstellungen der in Hamburg eingeleiteten Schritte. In auffällig vielen Texten ist nur von „der Maßnahme“ die Rede, ohne auszuführen, um welche Maßnahme es sich handelt. 29 Der Ausgangstext ist schließlich in keinem Text Gegenstand einer Beurteilung oder Analyse, auch wird seine Glaubwürdigkeit in keinem Text explizit bezweifelt. So nden sich nur in zwei Texten Andeutungen, dass die Autorin die Situation nicht objektiv dargestellt haben könnte. (32) Ich bezwei e stark, dass die im Text beschriebene Situation zutrifft und die deutschen Lehrer und Schüler übereinstimmend die Einführung der Schuluniformen befürworten (T1-14.TXT.chin). (33) Die an der Hamburger Mittelschule eingeleitete Maßnahme vermag offenbar das Problem zu lösen (T1-01.TXT.chin.). 26 Vgl. auch T1-12.TXT.chin.1, T1-03.TXT.chin.11-12 und T1-16.TXT.chin.38. 27 Vgl. jedoch T1-17.TXT.chin.21, T1-20.TXT.chin.2 und T1-16.TXT.chin.2. 28 Eine Erklärung bietet der kommunikative Kontext, in dem die Texte entstanden sind. Bei der Diskussion des Textproduktionsmodells (vgl. Abschnitt 4.5) ist auf die Doppelrolle des Lehrers als Initiator und Rezipient der Texte bereits hingewiesen worden. Die Texte der chinesischen Studienanfänger zeigen ihn in einer weiteren Rolle: Er ist ebenfalls Leser des Ausgangstextes, sein Vorwissen kann also vorausgesetzt werden. 29 Vgl. folgende Textaussagen: „Ich meine, dass die Maßnahme der Hamburger Mittelschule korrekt und absolut richtig ist.“ (T1-06.TXT.chin.7). „Abschließend möchte ich zur Maßnahme der Schule eine etwas abweichende Meinung äußern“ (T1-07.TXT.chin.27). „Aber gleichzeitig stimme ich persönlich der im Text genannten Maßnahme nicht zu.“ (T1-08.TXT.chin.22). „Ich nde die Maßnahme der Hamburger Mittelschule äußerst gut.“ (T1-10.TXT.chin. 34). „Zur Maßnahme der Hamburger Mittelschule meine ich, dass sie für kurze Zeit zweckdienlich ist, das sie objektiv betrachtet die Schüler zwingt, ihre Kleidung zu wechseln.“ (T1-19.TXT.chin.42). „Ohne jeden Zweifel kann die Maßnahme der Hamburger Schule das Phänomen der Konkurrenz wirkungsvoll beseitigen und den sinnlosen Kon ikten unter den Schülern wirkungsvoll Einhalt gebieten.“ (T1-20.TXT.chin.26). <?page no="192"?> 180 Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext In diesen Textauszügen wird nicht explizit auf den Ausgangstext Bezug genommen, auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext wird in den Texten der chinesischen Studienanfänger völlig verzichtet. Lektüreeindrücke Es werden jedoch in vier Texten (20%) persönliche Lektüreeindrücke wiedergegeben. (1) Als ich Georges Bericht las, war ich tief bewegt (T1-18.TXT.chin.). (1) Beim Lesen dieses Berichts hatte ich das Gefühl einer Vertautheit (T1-12.TXT.chin.). (17) Dass sich auf deutschen Schulgeländen ein Wettstreit unter Schülern ereignet, verblüfft mich nicht im Geringsten (T1-14.TXT.chin.). (1) Wenn uns ein solches Thema erreicht, dann gewinnt es an Brisanz (T1-20.TXT.chin.). In den ersten drei Texten drücken die Autoren ein persönliches Gefühl („ich“) aus, im vierten Text wird die Textwirkung auf chinesische Rezipienten („wir“) beschrieben. Obwohl die emotive Darstellungsart shuqing für einen Yilunwen nicht ausdrücklich vorgesehen ist, ist es laut Lehrwerk Yuwen durchaus statthaft, „wahre Gefühle“ auszudrücken (vgl. Abschnitt 8.5). Insofern sind die zitierten Darstellungen der Lektüreeindrücke mit dem Muster eines Yilunwen kompatibel. Zwischenfazit Festzuhalten ist, dass der Ausgangstext den chinesischen Studienanfängern vorrangig der Informationsentnahme dient. In weniger als der Hälfte der vorliegenden Texte (45 %) nden sich explizite Hinweise auf den Ausgangstext. In vielen Texten wird zwar auf „den Text“ verwiesen, er ist jedoch nicht Gegenstand einer kritischen Analyse und Beurteilung. Die chinesischen Studienanfänger tendieren demnach dazu, ein Thema weitgehend unabhängig von einem ihnen ausgehändigten Text zu diskutieren. 13.3 Korpus T4.TXT.int. Auseinandersetzung mit dem AT (T4.TXT.int.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 n=15 % NENNUNG der Autorin des AT x 1 7 NENNUNG des Themas des AT x x x 3 20 BESCHREIBUNG des subjektiven Lektüreeindrucks - - WIEDERGABE des AT (DARSTELLUNG der Problemlage) (x) (x) x (x) (x) (x) (x) (x) (x) x (x) (x) (x) (x) (x) 2 13 WIEDERGABE des AT (DARSTELLUNG der Maßnahme) (x) (x) x (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) 1 7 WIEDERGABE des AT (DARSTELLUNG der Reaktionen) (x) (x) (x) (x) - - BEURTEILUNG des AT - - Tabelle 13.3: Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext T4.TXT.int. Wie Tabelle 13.3 zu entnehmen ist, verzichten auch die fortgeschrittenen Deutschlerner in ihren Interimstexten weitgehend auf explizite Hinweise auf den Ausgangstext. Nur <?page no="193"?> 181 Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext ein Text (7 %) nennt die Autorin, drei Texte (20 %) nennen die Überschrift oder geben eine kurze Zusammenfassung des Inhalts. Zwei Texte (13 %) beziehen sich bei der Darstellung der Problemlage, ein Text (7 %) auch bei der Darstellung der Maßnahme explizit auf den Ausgangstext. In keinem Text wird der Ausgangstext kritisch beurteilt, auch fehlt eine Beschreibung des Lektüreeindrucks. Einordnung des Ausgangstextes in einen Diskurs Ein Interimstext verdient besondere Aufmerksamkeit, weil er den Ausgangstext in einen Diskurs einordnet. (5) Das Problem besteht darin, daß Jugendliche zu viel Wert auf die Kleidung, auf die Marken legen. (6) Wie können wir das Problem lösen? (7) Sollten wir alle Textilfabriken schließen? Nein, natürlich nicht, denn es könnte zur Arbeitslosigkeit führen. (8) Über dieses Problem haben wahrscheinlich schon viele diskutiert. Der vorhandene Text ist schon ein Beispiel. (9) Eine Hamburger Schule hat Schuluniform eingeführt, um das Problem „Markenterror“ zu lösen. (10) Lehrer und Schüler sind sich einig, dass es eine tolle Idee sei (T4-07.TXT.int.). Zwischen Einschätzung der Problemlage und Darstellung der Maßnahme ist eine Re- exion eingefügt, die den Ausgangstext zum Gegenstand hat. Er wird „von außen“ als Beitrag eines supranationalen Diskurses betrachtet. 30 Verweise Auch ein anderer Interimstext macht den Ausgangstext zum Gegenstand der Betrachtung: (1) Der Artikel mit dem Titel „Markenterror an Schulen nimmt zu“ von Stefanie George stellt uns das Problem von Markenterror in deutschen Schulen dar (2) und emp ehlt die Einführung der Schuluniform als eine Lösung dazu (T4-03.TXT.int.). Dieser Interimstext gibt genaue Informationen, er nennt Autorin und Überschrift und interpretiert überdies die Hauptaussagen funktional: Der Markenterror werde im Ausgangstext dargestellt, Uniformen würden empfohlen. Auch ein anderer Text informiert den Leser präzise über den Inhalt des Ausgangstextes: (9) Die schlechten Konsequenzen sind offenbar, wie es im Text „Markenterror an Schulen nimmt zu“ dargestellt wird. (10) Ein Modewettkampf setzt die meisten Jugendlichen unter einen Druck, mit ihren Klassenkameraden mitzuhalten (T4-10.TXT.int.). Im Korpus T4.TXT.int. sind auch Distanzierungen von einer einseitig positiven Beurteilung der Maßnahme nachweisbar, etwa in folgendem Beispiel: (14) Um das Problem zu lösen, werden nun in einer Hamburger Schule Schuluniformen eingeführt, (15) und das Projekt scheint auch zu funktionieren (T4-10.TXT.int.). 30 Außerdem wird in diesem Text durch die Verwendung der indirekten Rede („sei“) markiert, dass es sich bei den zitierten Stellungnahmen um Positionen handelt, denen man sich nicht anschließen muss. Es handelt sich hierbei nicht um ein ungekennzeichnetes Zitat, denn wörtlich heißt es im Ausgangstext: „Eine mögliche Lösung dieses Problems wäre die Einführung der Schuluniform. In der Haupt- und Realschule Hamburg-Sinstorf tragen die Schüler seit September einheitliche Pullover - und das Projekt scheint zu funktionieren. [...] Unabhängig ob die Kinder aus wohlhabenden oder weniger begüterten Familien kommen - in Hamburg-Sinstorf ist man sich einig, dass der Modewettkampf aus der Schule verbannt werden muss.“ <?page no="194"?> 182 Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext Das Kopulaverb „scheint“ lässt Zweifel erkennen, dass in Hamburg das Problem tatsächlich gelöst worden ist, eine explizite Bezugnahme auf den Ausgangstext liegt jedoch nicht vor. 31 Zwischenfazit Der Leser wird in vielen Interimstexten ausführlich über die Vorgänge in Hamburg informiert, sowohl über die dortigen Kon ikte 32 als auch über die eingeleitete Maßnahme. 33 Nur wenige Texte richten sich an einen informierten Leser, der über die Vorgänge in Hamburg bereits unterrichtet ist. 34 Äußerst bemerkenswert ist schließlich, dass die fortgeschrittenen Deutschlerner in den Interimstexten völlig darauf verzichten, persönliche Lektüreeindrücke zu schildern. Folgendes Fazit lässt sich ziehen: In den vorliegenden Interimstexten wird auf den Ausgangstext nur selten explizit verwiesen. Dieser allgemeine Befund trifft auf zwei Texte jedoch nicht zu, da sie genaue Angaben sowohl über die Autorin als auch den Inhalt des Ausgangstextes machen bzw. diesen in einen Diskurs einordnen. Beurteilt wird der Ausgangstext nicht: Wenn auf ihn verwiesen wird, dann erfolgt das aus einer gewissen Distanz, da von einer Beschreibung subjektiver Lektüreeindrücke abgesehen wird. 13.4 Korpus T4.TXT.chin. Auseinandersetzung mit dem AT (FSU1.TXT.dt.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 n=15 % NENNUNG der Autorin des AT - - NENNUNG des Themas des AT (x) x 1 7 BESCHREIBUNG des subjektiven Lektüreeindrucks x 1 7 WIEDERGABE des AT (DAR- STELLUNG der Problemlage) (x) (x) (x) x (x) (x) (x) (x) (x) (x) x (x) (x) (x) 2 13 WIEDERGABE des AT (DAR- STELLUNG der Maßnahme) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) - - WIEDERGABE des AT (DAR- STELLUNG der Reaktionen) (x) (x) (x) - - BEURTEILUNG des AT - - Tabelle13.4: Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext T4.TXT.chin. In ihren muttersprachlichen Texten verzichten fast alle fortgeschrittenen Deutschlerner auf Verweise auf den Ausgangstext. Die Übersicht in Tabelle 13.4 zeigt, dass nur in zwei Texten (13 %) explizite Bezugnahmen vorliegen. In keinem Text wird der Ausgangstext beurteilt, in nur einem (7 %) ein Lektüreeindruck geschildert. 31 Vgl. auch T4-12.TXT.int.6-7. 32 Vgl.T4-02.TXT.int.18; T4-04.TXT.int.15; T4-06.TXT.int.17; T4-10.TXT.int.14. 33 Vgl.T4-11.TXT.int.9; T4-13.TXT.int.18; T4-14.TXT.int.13. 34 Vgl. folgende Aussagen: „Deswegen bin ich dafür, dass die Hamburger Schule Schuluniformen einführt.“ (T4-04.TXT.int.16); „Die Einführung der Schuluniformen in Hamburg, das ist meiner Meinung nach nicht so gut.“ (T4-06.TXT.int.17). Vgl. auch T4-01.TXT.int.20; T4-05.TXT.int.22. <?page no="195"?> 183 Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext Dass der Textproduktion ein Ausgangstext zugrunde lag, ist folgendem Text zu entnehmen: (1) Dass Jugendliche um Konsumgüter konkurrieren, ist längst keine Neuigkeit mehr. (2) Nicht allein in Deutschland, so glaube ich, sondern in den allermeisten Ländern der Erde existiert dieses Phänomen, unter anderem auch in China (T4-05.TXT.chin.). Der Text reagiert auf eine Nachricht, die keine Neuigkeit 35 mehr ist und gibt den Inhalt dieser Nachricht kurz wieder. Diese Aussage ist auch als Beschreibung eines Lektüreeindrucks interpretierbar. Die Nachricht sei so alltäglich, dass sie keinerlei Erstaunen mehr auslösen kann. Nur ein weiterer Text bezieht sich ebenfalls explizit auf den Ausgangstext. (13) [...] Ich meine, dass sich der Charakter des Markenkults an chinesischen Schulen von dem im Text dargestellten völlig unterscheidet und auch nicht so schrecklich ist. [...] (18) Wie es im Text heißt, kaufen die Schüler [in Deutschland] aus Rivalität Markenkleidung, (19) was wirklich recht schlimm ist. (24) Daher ist an einigen Schulen, wie etwa in Hamburg, das System der Schuluniformen eingeführt worden: Die Schüler tragen einheitliche Schulkleidung. (25) Diese Maßnahme hat das Problem des Markenkults angeblich gelöst, weil die Kleidung der Schüler vereinheitlicht worden ist (T4-12.TXT.chin.). Hier wird zweimal auf den Ausgangstext verwiesen, das Adverb „angeblich“ deutet zudem an, dass der Darstellung im Ausgangstext misstraut werden kann. Ähnlich skeptisch urteilt ein weiterer Text: (4) Tja, Markenprodukte sind wichtige Indizien geworden, sie stehen für [eigenen] Reichtum und Status und die Vergötterung durch andere. (5) Dieses Hirngespinst kann nicht vollständig vernichtet werden, schon gar nicht durch einheitliche Schuluniformen. (6) Ist es nicht ein Witz anzunehmen, dass mit Uniformen alles sofort in bester Ordnung sei? (T4-10. TXT.chin.). Auch dieser Text grenzt sich ab - in auffällig respektloser Weise, ohne sich jedoch explizit auf den Ausgangstext zu beziehen. Zwischenfazit In ihren muttersprachlichen Texten beziehen sich die fortgeschrittenen chinesischen Deutschlerner kaum auf den Ausgangstext. Sie diskutieren die beiden zentralen Fragestellungen überwiegend unabhängig vom Ausgangstext. 35 Der chinesische Begriff xinwen (Nachricht, Meldung, Neuigkeit) bezieht sich nicht nur auf Printmedien. Auch Fernsehnachrichten werden als xinwen bezeichnet. <?page no="196"?> 184 Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext 13.5 Gruppenübergreifender Vergleich und Hypothesen Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext FSU1.TXT.dt. T1.TXT.chin. T4.TXT.int. T4.TXT.chin. n=19 % n=20 % n=15 % N=15 % NENNUNG der Autorin des AT 6 32 1 5 1 7 - - NENNUNG der Themas des AT 8 42 2 10 3 20 1 7 BESCHREIBUNG des subjektiven Lektüreeindrucks 2 10 4 20 - - 1 7 WIEDERGABE des AT (DARSTELLUNG der Problemlage) 10 47 4 20 2 13 2 13 WIEDERGABE des AT (DARSTELLUNG der Maßnahme) 5 26 2 10 1 7 - - WIEDERGABE des AT (DARSTELLUNG der Reaktionen) 5 26 1 5 - - - - BEURTEILUNG des AT 3 21 - - - - - - Tabelle 13.5: Gruppenübergreifender Vergleich (Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext). Tabelle 13.5 fasst die Ergebnisse der fallübergreifenden Analysen zusammen, so dass auf den in Abschnitt 10.1 genannten Vergleichsebenen gruppenübergreifende Aussagen zum Umgang mit dem Ausgangstext gemacht und Hypothesen abgeleitet werden können. Vergleich FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. Der Vergleich der Texte der deutschen und der chinesischen Studienanfänger zeigt markante Unterschiede im Umgang mit dem Ausgangstext. Diese Unterschiede lassen sich auf schulisch vermitteltes Textmusterwissen zurückführen. Während die deutschen Texte tendenziell themen- und textbezogen sind, zeichnet die chinesischen Texte eine starke Themenbezogenheit aus. Dies führt dazu, dass in den deutschen Texten die Autorin des Ausgangstextes recht häu g genannt (32 %) und der Ausgangstext vorgestellt wird (42 %). Auf diese Angaben verzichten die vorliegenden chinesischen Texte fast völlig. Auch Zitate und explizite Verweise nden sich in den chinesischen Texten weit seltener als in den deutschen. So beziehen sich etwa die Hälfte der deutschen Texte (47 %), jedoch nur ein Fünftel der chinesischen Texte (20 %) bei der Darstellung der Problemlage auf den Ausgangstext. Durch gekennzeichnete Zitate wird in deutschen Texten also weit häu ger auf den Ausgangstext als Informationsquelle hingewiesen. Während in einigen deutschen Texten (21 %) der Ausgangstext selbst Gegenstand einer Beurteilung ist, wird er in den chinesischen Texten nicht bewertet. Die Wirkung des Ausgangstextes wird in den deutschen Texten kaum (10 %) angesprochen. Demgegenüber schildern die chinesischen Studienanfänger ihre Lektüreeindrücke weit häu ger (20 %). Auch diese Eigenheit der chinesischen Texte kann auf typologische Merkmale eines Yilunwen zurückgeführt werden. Vergleich T4.TXT.int., FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. Generell ist zu den Interimstexten der fortgeschrittenen chinesischen Deutschlerner anzumerken, dass sie wie die Texte der chinesischen Studienanfänger eher themenals textbezogen sind. Bemerkenswert ist jedoch, dass in zwei Texten der Ausgangstext wie in Texten der deutschen Vergleichsgruppe „von außen“ betrachtet wird. Ein Text nennt nach „deutschem Muster“ die Autorin des Ausgangstext und stellt diesen detailliert vor. Ein anderer ordnet ihn in einen Diskurs ein. Bemerkenswert ist außerdem, dass auf eine Eigenheit der chinesischen Texte der Studienanfänger völlig verzichtet wird. Kein Text beschreibt die persönlichen Lektüreeindrücke. Diese Befunde lassen die Schlussfolgerung zu, dass sich die Interimstexte einerseits stark an einem schulisch vermittelten <?page no="197"?> 185 Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext Muster orientieren (wenige explizite Bezugnahmen auf den Ausgangstext), dass sie sich von diesem Muster aber auch unterscheiden (keine Beschreibung des Lektüreeindrucks) und daher distanzierter wirken als die Vergleichstexte der chinesischen Studienanfänger. Zwei Interimstexte orientieren sich deutlich an deutschen Schreibkonventionen, da sie explizit auf den Ausgangstext Bezug nehmen. Dies zeigt, dass die Studierenden im Unterricht offenbar gelernt haben, sich in erörternden Texten auch mit den zur Verfügung stehenden Informationsquellen auseinanderzusetzen. Diesem Lernziel folgt die überwiegende Mehrheit der Probanden jedoch nicht. Vergleich T4.TXT.chin., FSU1.TXT.dt., T1.TXT.chin. und T4.TXT.int. Die muttersprachlichen Texte der fortgeschrittenen chinesischen Deutschlerner unterscheiden sich deutlich von den Texten der anderen Korpora. Ähnlich wie in Texten der chinesischen Studienanfänger wird kaum auf den Ausgangstext verwiesen. Für alle untersuchten chinesischen Texte ist es demnach typisch, Reformulierungen des Ausgangstextes nicht zu markieren. Bemerkenswert ist, dass einige fortgeschrittene Studenten auf eine Besonderheit ihrer Interimstexte, nämlich sich mit dem Ausgangstext auseinander zu setzen, verzichten, sobald sie in ihrer Muttersprache schreiben, was wiederum zeigt, dass die Wahl der Sprache offenbar Ein uss auf die Textproduktion hat. Zu den muttersprachlichen Texten der fortgeschrittenen Studenten ist weiterhin anzumerken, dass - anders als in einigen Texten der chinesischen Studienanfänger - auf jegliche Schilderung des Lektüreeindrucks, d.h. der Textwirkung verzichtet wird. Dies zeigt, dass einige Konventionen unabhängig von der gewählten Sprache auch verblassen können. <?page no="198"?> 14 Situierung der Problemlage und eigene Problemkenntnisse Das in Kapitel 4 entwickelte Textproduktionsmodell geht davon aus, dass beim Schreiben im Fremdsprachenunterricht nicht nur eine interkulturelle Kommunikationssituation zwischen Autor und Rezipient eines Textes vorliegt, was Auswirkungen auf den Adressatenbezug der Texte hat, sondern die kulturelle Herkunft der Lerner auch einen unterschiedlich bemessenen Abstand zu den Situationen bedingt, die in einem Ausgangstext dargestellt werden. Zweitens zeigte die Diskussion der Auswahlkriterien des Ausgangstextes (vgl. Kap. 10.), dass trotz dieses Abstandes von eigenen Erfahrungen der chinesischen Probanden mit dem sozialen Phänomen des Markenterrors ausgegangen werden kann, weil er auch in der Volksrepublik China um sich greift. In vorliegendem Kapitel werden nun die verschiedenen Situierungen der Problemlage in den Textkorpora untersucht. Die zentrale Frage lautet, in welchen Handlungsräumen die Probanden die im Ausgangstext dargestellten Kon ikte verorten, ob sie im Verhalten der Schüler ein spezi sch deutsches Problem erkennen, oder ob ihnen das im Ausgangstext dargestellte Verhalten vertraut erscheint, weil sich Jugendliche in Kollektiven, denen die Probanden selbst angehören, ganz ähnlich verhalten. In diesem Fall läge in der Herkunftskultur der Probanden eine analoge Problemlage vor. 36 Als Situierungen der Problemlage werden explizite und implizite 37 räumliche Verortungen in verschieden weit gefassten Kollektiven bezeichnet. Wie K OPPERSCHMIDT (1989: 59) festhält, haben Problemlagen auch eine „problemgeschichtliche Dimension“. Daher werden auch Angaben zur Problemgenese in bestimmten Handlungsräumen untersucht. In die Analyse auch einbezogen werden Aussagen zu eigenen Problemkenntnissen, um Relationen zwischen Problemperspektivierungen und eigenen Erfahrungen in bestimmten Kollektiven zu rekonstruieren. Die übergreifende Fragestellung lautet also: Wie situieren Textproduzenten vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen aktuelle Ereignisse, die sich an einem, im Ausgangstext genannten Ort ereignet haben? 36 Es ist im Einzelfall schwer, analoge und transnationale Problemlagen zu unterscheiden. B ECK (1986: 53) sieht etwa in ökologischen Risiken einen Zuwachs transnationaler Problemlagen. Auch bei dem Phänomen des Markenterrors kann davon ausgegangen werden, dass es sich um ein transnationales Problem handelt, zumal die Volksrepublik China heute ein wichtiger Absatzmarkt transnational operierender Unternehmen ist. 37 Unterschieden werden explizite und implizite Situierungen der Problemlage. Häu g ist in den vorliegenden Texten generalisierend von Kindern oder Jugendlichen die Rede, ohne dass Handlungsräume benannt werden. In diesen Fällen lässt der Kontext häu g erkennen, dass die zentrale Bezugsgröße der Nationalstaat ist. In einigen Texten wird das Verhalten ausländischer Jugendlicher beschrieben (vgl. FSU1-11.TXT.dt.; FSU1-09.TXT.dt.; FSU1-10.TXT.dt.). Dann liegt eine implizite supranationale Problemperspektivierung vor. Explizite Situierungen werden in den Tabellen 14.1 -14.4 mit x, implizite mit (x) gekennzeichnet. <?page no="199"?> 187 Situierung der Problemlage und eigene Problemkenntnisse 14.1 Korpus FSU1.TXT.dt. Problemsituierung (FSU1.TXT.dt.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 n=19 % SITUIERUNG der Problemlage (global) x 1 5 SITUIERUNG der Problemlage (supranational) (x) (x) (x) x x 2 10 SITUIERUNG der Problemlage (national) (x) (x) (x) (x) x (x) (x) (x) x (x) x (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) 3 16 SITUIERUNG der Problemlage (regional) x x x x x x 6 32 SITUIERUNG der Problemlage (intrakulturell) x x x x x 5 26 SITUIERUNG der Problemlage (historisch) x x x x x x 6 32 SITUIERNG der Problemlage (eigene Problemkenntnisse) x x x x x x x x x x x x 12 63 Tabelle 14.1: Problemsituierungen FSU1.TXT.dt. Diese Übersicht (Tabelle 14.2) erfasst explizite und implizite Situierungen der Problemlage. Fünfzehn Probanden (79 %) situieren die Problemlage explizit in unterschiedlich weit gefassten Handlungsräumen. Drei Texte (16 %) beziehen sich auf den globalen oder supranationalen Raum, ebenfalls drei Texte (16 %) diskutieren das Phänomen im nationalstaatlichen Kontext. Auffällig ist, dass neun Texte (47 %) Differenzierungen innerhalb des nationalstaatlichen Raums vornehmen. So situieren sechs Texte (32 %) das Verhalten der Jugendlichen in bestimmten Regionen, fünf Texte (26 %) in bestimmten sozialen Kollektiven. Angaben zur Problemgenese machen sechs Texte (32 %), Auskunft über eigene Problemkenntnisse erteilen zehn Texte (53 %). Situierung der Problemlage (global, supranational) Drei Texte heben ausdrücklich hervor, dass sich das Phänomen des Markenterrors nicht auf Deutschland beschränkt. Ein Text bezieht sich auf die „heutige Welt“, in der Marken in den unterschiedlichsten Medien omnipräsent sind (FSU1-14.TXT.dt.1). Zwei Texte beziehen sich auf supranationale Räume. Markenterror ereigne sich „in einer Wohlstandsgesellschaft wie Deutschland“ (FSU1-12.TXT.dt.1). „In vielen Ländern“ (FSU1-15.TXT.dt.5) habe man auf Kon ikte unter Jugendlichen reagiert. Situierung der Problemlage (national) Nur drei Texte beziehen sich explizit auf Deutschland. In einem Text heißt es, der Markenterror sei ein „gesamtgesellschaftliches Phänomen“ (FSU1-05.TXT.dt.27), in einem anderen werden die Verhältnisse in Deutschland kritisiert. (5) Dass nicht jeder diesem Trend folgen kann, ist klar, denn die Armut nimmt auch in Deutschland zu. (6) Und da diese Gesellschaft mittlerweile schon fast vollständig zu einer Ellenbogengesellschaft mutiert ist, in der viel von Solidarität und Nächstenliebe gesprochen wird, jedoch Erfolgsorientiertheit, Egoismus und Machtstreben auf dem Plan stehen, (7) ist dies sogar oder vielleicht auch gerade an den Jugendlichen zu spüren (FSU1-11.TXT.dt.). <?page no="200"?> 188 Situierung der Problemlage und eigene Problemkenntnisse Die aufgetretenen Kon ikte werden hier als symptomatische Krisensituationen gedeutet, in denen sich der Problemdruck der Gesellschaft äußert (vgl. K OPPERSCHMIDT 1989: 58). Festhalten lässt sich, dass sich die deutschen Studienanfänger zwar mehrheitlich auf die Situation im nationalen Dachkollektiv beziehen, dies geschieht jedoch meistens implizit, wenn generalisierend das Verhalten von Kindern und Jugendlichen beschrieben wird. Situierung der Problemlage (regional) Erstaunlich ist, dass die Hälfte aller Texte (47 %) genauer fragt, in welchen Handlungsräumen innerhalb Deutschlands die beschriebenen Kon ikte auftreten. Die Angabe im Ausgangstext, dass die Kon ikte in Hamburg aufgetreten sind, führt dazu, dass einige Probanden die Problemlage in multiethnisch zusammengesetzten Großstädten und Ballungsräumen situieren: (42) [Ich möchte] erwähnen, dass der „Markenterror“ an verschiedenen Orten, ob Groß- oder Kleinstadt, ob Stadt oder Land, ganz verschieden sein kann. (43) Ich persönlich habe nie die Erfahrung eines Druckes bezogen auf den Kauf von Designer-Klamotten empfunden. (44) Ich denke darum, dass besonders dort, wo extrem viele Menschen aus vielen verschiedenen nanziellen, konfessionellen, kulturellen Situationen und Schichten aufeinandertreffen, das Problem besonders in Erscheinung tritt. (45) Gerade diejenigen, die durch Leistung nicht in den Vordergrund treten können, besonders sozial Schwache, versuchen ihre Person besser zu stellen. (46) Darum kann die Ausprägung des beschriebenen Problems ganz verschieden sein (FSU1-13.TXT.dt.). In diesem Beispiel zeigt sich bereits ein typischer Mechanismus. Da der aus Jena stammenden Probandin der Markenterror unbekannt ist, vermutet sie, dass er vor allem in einer Metropole wie Hamburg anzutreffen sei. Ganz ähnlich verfährt eine Probandin aus Ilmenau/ Thüringen. Weil auch sie den Markenterror nicht kennt, vermutet sie, dass sich die beschriebenen Kon ikte vorwiegend in Westdeutschland ereignen: (11) Ich glaube, dass Markenbewusstsein mehr in Westdeutschland ausgeprägt ist, da dort einfach schon länger Zugang zu den Artikeln herrschte. (12) Als Kind aus der DDR kann ich mich noch daran erinnern, wie toll es war, etwas was einmal „aus dem Westen“ kam und schon drei Kinder vor mir getragen hatten, auch einmal tragen zu dürfen. [...] (14) Tja, aber damit ng alles an, und in die gut behütete Ex-DDR trat der Kapitalismus ein (FSU1-10.TXT.dt.). Dieser Text lässt das gleiche Prinzip erkennen. Mangelnde Problemerfahrung führt zu regional differenzierenden Situierungen der Problemlage. Hierbei können historische Veränderungen innerhalb dieser Regionen re ektiert werden. Eine Probandin aus Thüringen interpretiert den Markenterror, der heute auch in Ostdeutschland anzutreffen ist, als Folge historischer Veränderungen: (1) Das Problem der Markenprodukte ist erst wirklich zum Problem geworden nach ca. 1990. (2) In der DDR gab es solche Schwierigkeiten an einer Schule nicht. (3) Für die alten Bundesländer kann ich das nicht entscheiden, da ich in Jena geboren bin und auch nie in einer anderen Stadt zur Schule ging. (4) Nach 1990 gab es hier eine sehr große „Angebotsüberschwemmung“, wobei ich auch die Preisstufen nicht ausnehme, dass es früher oder später dazu kommen musste (FSU1-17.TXT.dt.). Problemsituierung (intrakulturell) Bezeichnenderweise vermuten fünf Probanden den Markenterror besonders an Hauptschulen, d.h. sie verorten die Kon ikte in einem, im Ausgangstext genannten Multikollektiv, dem sie selbst nicht angehört haben. Dies führt zu Mutmaßungen wie den folgenden: <?page no="201"?> 189 Situierung der Problemlage und eigene Problemkenntnisse (18) Das genannte Beispiel aus dem Artikel beschreibt die Vorkommnisse einer Haupt- und Realschule. (19) Schüler dieser Schulformen setzen die Prioritäten in ihrem Leben sicherlich anders als Gymnasiasten. [...] (36) Aus eigener Erfahrung könnte ich nur von wenigen Beispielen berichten. (37) Allerdings habe ich auch nie eine Hauptschule besucht (FSU1-01.TXT.dt.). (15) An meiner Schule gab es aber keinen ausgeprägten Markengruppendruck. (17) Markenbewusstsein hängt für mich aber auch stark von der Schulform ab. (18) Ich denke, dieser Markendruck ist seltener an Gymnasien zu nden, da dort die Schüler in der Regel schlauer sind und Manipulationsversuche durch Werbung schneller durchschauen. (19) An Realschulen und besonders Hauptschulen ist es häu g so, dass man, weil man nicht mit Leistung glänzen kann, einen Ersatz braucht (FSU1-10.TXT.dt.). Zwischenfazit Die deutschen Probanden rezipieren den Bericht als Inlandsnachricht. Das Datenmaterial zeigt, dass mangelnde Problemerfahrung häu g zu regionalen und intrakulturellen Problemsituierungen und problemgeschichtlichen Re exionen führt: Ostdeutsche verorten den Markenterror in Westdeutschland, Gymnasiasten an Hauptschulen, Bewohner einer Kleinstadt in einer Metropole. 38 14.2 Korpus T1.TXT.chin. Problemsituierung (T1.TXT.chin.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 n=20 % SITUIERUNG der Problemlage (global) x 1 5 SITUIERUNG der Problemlage (supranational) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) x (x) x (x) (x) (x) x (x) (x) (x) (x) (x) (x) 3 15 SITUIERUNG der Problemlage (national) (x) (x) (x) (x) x x x x x x x (x) x x x (x) x (x) x (x) 12 60 SITUIERUNG der Problemlage (regional) x x x x 4 20 SITUIERUNG der Problemlage (intrakulturell) x x 2 10 SITUIERUNG der Problemlage (historisch) x x x x x 5 25 SITUIERNG der Problemlage (eigene Problemkenntnisse) x x x x 4 20 Tabelle 14.2: Problemsituierungen T1.TXT.chin. 38 Nur in einem einzigen Text beruft sich eine Probandin bei einer regionalen Problemdifferenzierung auf eigene Problemkenntnisse. Eine Westberlinerin schreibt: „Ich komme selbst aus einer Großstadt und weiß, was für Probleme sich ergeben können, wenn ‚Arm’ auf ‚Reich’ trifft; wenn ‚Modebewusstsein’ das Zusammenleben so stark beein usst, dass man sich kaum seinem eigenen Stil hingeben kann, sondern dem ‚Trend’ unterwerfen muss.“ (FSU1-02.TXT.dt.14-15). <?page no="202"?> 190 Situierung der Problemlage und eigene Problemkenntnisse Die Übersicht in Tabelle 14.2 zeigt, dass in insgesamt vierzehn Texten der chinesischen Studienanfänger (70 %) das Problem explizit situiert wird. In dreizehn Texten (65 %) wird die Situierung in größeren Dachkollektiven vorgenommen: Ein Text (5 %) sieht im Markenterror ein globales, zwölf Texte (60 %) ein supranationales oder nationales Phänomen. Regionale Unterschiede innerhalb Chinas thematisieren vier Texte (20 %), zwischen sozialen Gruppen differenzieren fünf (25 %). Auffällig ist, dass sieben Texte (35 %), also etwa ein Drittel aller Texte, das Problem in keinem größeren Dachkollektiv situieren. Sie beziehen sich generalisierend auf Jugendliche, auf deutsche, auf chinesische oder auf die weltweite Gemeinschaft der Jugendlichen. Fünf Texte (25 %) machen Angaben zur Problemgenese, vier Texte (20 %) berichten von analogen Kon ikte an der eigenen Schule oder im Bekanntenkreis. Diesen Hinweisen ist zu entnehmen, dass das Phänomen des Markenterrors den chinesischen Studienanfängern bekannt ist. 39 Situierung der Problemlage (global, supranational) Am dezidiertesten situiert ein Text die Problemlage, indem er zunächst die Ausführungen des Ausgangstextes aufgreift, dann die globale Dimension des Phänomens unterstreicht, um schließlich einzelne Regionen zu nennen, in denen das Phänomen eine besondere Ausprägung gefunden hat. (2) Der Markenkult gewinnt nicht nur in Deutschland an Brisanz, auf der ganzen Welt avancierte [er] zu einem Problem unter Kindern und Jugendlichen. (3) Besonders in einigen Großstädten drückt sich jugendliches Überheblichkeitsgefühl im Verlangen nach Markenprodukten aus (T1-18.TXT.chin.). Eine supranationale Situierung der Problemlage nehmen drei Texte vor. Die Situation in Deutschland wird mit der in anderen Staaten verglichen. (5) Tatsächlich existiert die Praxis der deutschen Schüler, sich zu vergleichen, immer auch schon in China und anderen Ländern. (6) Der Grund hierfür besteht einzig darin, dass sich heutige Jugendliche in einer Gesellschaft, die Individualität betont, präsentieren möchten (T1-08.TXT.chin.). (1) Welche Bedeutung haben eigentlich Markenprodukte? (2) Seit auf den Schulgeländen in den entwickelten Regionen der Welt das Marken eber grassiert, müssen wir diese Frage stellen (T1-10.TXT.chin.). (16) Besonders unter den Bedingungen der Markwirtschaft kann man das Verlagen der Jugendlichen nach Markenprodukten nicht als Fehler bezeichnen, denn sie können sich den Ein üssen von Familie und Gesellschaft nicht entziehen. (17) Dass sich auf deutschen Schulgeländen ein Wettstreit unter Schülern ereignet, verblüfft mich nicht im Geringsten. (18) Ich kann festhalten, dass es unter chinesischen Schülern schon in der Grundschule ähnliche Erscheinungen gibt. [...] (20) Ich denke, dass die Zustände an den Mittelschulen Shanghais und Deutschlands womöglich zusammenfallen wie gleiche Melodien mit gleicher Wirkung. [...] (37) Der wirtschaftliche Aufschwung ist ohne Zweifel „Urheber allen Übels“. (38) In Hamburg und Shanghai existiert das Problem, dass sich eine bereits beträchtliche Kluft zwischen arm und reich tagtäglich vergrößert (T1-14.TXT.chin.). 39 Eine Probandin schreibt, an der von ihr besuchten Mittelschule hätten Jugendliche eine „angemessene und korrekte Haltung“ gegenüber Markenprodukten eingenommen (T1-12.TXT.chin.34). Eine andere Probandin weiß zwar von keinen vergleichbaren Vorfällen in ihrem Umfeld zu berichten, jedoch seien ihr ähnliche Kon ikte zu Ohren gekommen (T1-09.TXT.chin.10). Ein Text berichtet von einem Mitschüler, der am Essen sparte, um sich Markenkleidung leisten zu können (T1-01.TXT.chin.12). Ein Text schildert sogar eine Begebenheit an der eigenen Schule, die der Problemlage in Hamburg entspricht: Einen Mitschüler wurde ein teures NBA-Trikot zerrissen, woraufhin die Schulleitung die Einführung von Uniformen verfügte (T1-14.TXT.chin.25-26). <?page no="203"?> 191 Situierung der Problemlage und eigene Problemkenntnisse Diese drei Texte konstatieren grundsätzliche Analogien zwischen der Situation in Deutschland und China. Der erste Text erkennt Gemeinsamkeiten beider Gesellschaften, weil sie die Individualität betonten. Der zweite Text konstatiert ähnliche Problemlagen in allen „entwickelten Regionen der Welt“. Der dritte Text führt die analogen Problemlagen auf das heute herrschende Wirtschaftssystem zurück, das Deutschland und China verbindet. Situierung der Problemlage (national) Die Situierungen im Nationalstaat beziehen sich fast alle 40 auf die Volksrepublik China. Diese Situierungen werden häu g ergänzt durch Hinweise auf die ökonomischen Veränderungen seit Einleitung der Reform- und Öffnungspolitik: (1) Mit der Erhöhung des Lebensstandards steigerte sich auch das Bedürfnis nach den verschiedensten Gebrauchsgütern (T1-04.TXT.chin.). (1) Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung war es unvermeidlich, dass die verschiedensten Markenprodukte in unser Leben drangen, begleitet von einem Wettkampf um sie (T1-05.TXT.chin.). (1) Mit der stetigen Erhöhung des Niveaus der materiellen Zivilisation vergrößerte sich auch das Verlangen nach einem angenehmen Leben. (2) Die „Sehnsucht“ nach Markenartikeln ist hierbei ein Aspekt (T1-17.TXT.chin.). Die Mehrheit der chinesischen Studienanfänger nehmen demnach den Ausgangstext zum Anlass, einen Text über analoge Zustände in der Volksrepublik zu verfassen. Situierung der Problemlage (regional, historisch) In vier Texten (20 %) wird die Situation in Hamburg auf die Situation in einzelnen Regionen Chinas bezogen. Diese Texte nehmen ebenfalls grundsätzliche Analogien in den Nationalstaaten an, sie schränken diese jedoch durch regionale Differenzierungen ein: (18) China ist heute zwar nicht reich, (19) aber über Shanghai, dieses Wirtschaftszentrum, lässt sich sagen, dass sich die Frage nach ausreichender Versorgung kurz nach der Befreiung gewandelt hat in die Frage nach Lebensqualität. (20) Die Stadt Shanghai nimmt wie das Meer einhundert Flüsse auf. Diese Besonderheit führte dazu, dass unterschiedliche Vorstellungen aus dem Ausland Eingang fanden, so auch das Verlangen nach „Marken“ (T1-09.TXT.chin.). Dieser Text differenziert nicht nur unterschiedliche Formen der Problemlage innerhalb der Volksrepublik, er historisiert die Problemlage auch. Heutige Bedürfnisse seien nicht mit Bedürfnissen in den Aufbaujahren der Volksrepublik („kurz nach der Befreiung“) vergleichbar. 40 Zwei Texte beziehen sich nur auf Deutschland, sowohl bei der Einschätzung der Problemlage als auch bei der Erörterung der Maßnahme: „In Deutschland haben Jugendliche an Schulen damit begonnen, nach Markenkleidung zu verlangen. [...] In Hamburg-Sinstorf tragen die Mittelschüler ab September einen einheitlichen Pullover. Es handelt sich um eine sehr gute Maßnahme (T1-13.TXT.chin.6, 29-30). Explizite Hinweise auf die Situation in China fehlen auch in einem anderen Text: „Wie zu erfahren ist, führen deutsche Schüler auf dem Schulgelände einen immer heftigeren Wettstreit um Markenprodukte, was Disharmonie zwischen den Schülern und sogar gegenseitige Verachtung zur Folge hat. [...] Dem Vernehmen nach ergriff eine Schule in einer Region Deutschlands die Maßnahme, ‚Schüler Uniformen tragen zu lassen’. Das ndet meine uneingeschränkte Zustimmung.“ (T1-17.TXT.chin.3, 21-22). <?page no="204"?> 192 Situierung der Problemlage und eigene Problemkenntnisse Zwischenfazit Kennzeichnend für viele Texte der chinesischen Studienanfänger ist es, die Problemlage im nationalen Kontext zu diskutieren. In ca. zwei Dritteln der vorliegenden Texte wird deutlich, dass der Ausgangstext als Auslandsnachricht rezipiert wird, woraufhin die Situation in beiden Ländern verglichen wird. In ca. einem Drittel der Texte wird die Frage nach einer Vergleichbarkeit jedoch gar nicht gestellt. Dann wird generalisierend über Jugendliche geschrieben, ohne dass deutlich wird, ob chinesische oder deutsche Jugendliche gemeint sind. 14.3 Korpus T4.TXT.int. Problemsituierung (T4.TXT.int.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 n=15 % SITUIERUNG der Problemlage (global) x x 2 13 SITUIERUNG der Problemlage (supranational) (x) x x (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) (x) x (x) (x) x 4 27 SITUIERUNG der Problemlage (national) (x) x x (x) (x) (x) (x) x (x) (x) x x (x) x x 7 47 SITUIERUNG der Problemlage (regional) - - SITUIERUNG der Problemlage (intrakulturell) - - SITUIERUNG der Problemlage (historisch) x x x x x 5 33 SITUIERNG der Problemlage (Problemkenntnisse) x 1 7 Tabelle 14.3: Problemsituierungen T4.TXT.int. Die Tabelle 14.3 zeigt, dass die Problemlage in insgesamt neun Interimstexten (60 %) situiert wird. In sechs Texten (40 %) werden generalisierend die Jugendlichen eingeschätzt. Zwei Texte (13 %) erkennen im Markenkult ein globales Problem, vier (27 %) beziehen die Problemlagen in China und Deutschland aufeinander. Vier Texte (27 %) machen ferner Angaben zur Problemgenese, zwei Texte (13 %) berichten von einer Begebenheit im Familienkreis bzw. einer Diskussion an der eigenen Schule. 41 Problemsituierungen (global, supranational) Zwei Probanden wählen eine globale Perspektive: (1) Die jetzige Welt ist eine Welt, die von den verschiedenen Medien beherrscht wird. (2) Heutige Jugendliche leben in einer Welt, in der jeden Tag neue Moden entstehen und sich durch die verschiedenen Medien verbreiten (T4-04.TXT.int.). (1) Das Problem „Markenterror“ existiert auf der ganzen Welt, bei allen Generationen, nicht nur bei Jugendlichen (T4-07.TXT.int.). 41 Nur in einem Text werden persönliche Problemkenntnisse geschildert. T4-02.TXT.int. stellt die Cousins der Autorin vor, die sich in ihrer Freizeit die neuesten Sportartikel ansehen und sich in normaler Kleidung unwohl fühlen. T4-06.TXT.int. berichtet von einer Diskussion in der eigenen Klasse, nachdem dort ähnliche Kon ikte wie in Hamburg aufgetreten waren. <?page no="205"?> 193 Situierung der Problemlage und eigene Problemkenntnisse In relativ vielen Texten der fortgeschrittenen Deutschlerner werden die Zustände in Deutschland und China aufeinander bezogen: (1) Es gibt jetzt in den deutschen Schulen einen Markenterror. [...] (17) In China ist das Problem, nämlich der „Markenterror“ nicht so schlimm, (18) aber ich glaube, dass es sich zuspitzt (T4-12. TXT.int.). (3) Markenmode gibt es nicht nur in Deutschland, sondern auch in China. (4) Wenn man beurteilen möchte, ob ein Mensch erfolgreich ist, fragt man zuerst, was für einen Beruf er hat, und wie viel er verdient. (5) Markenprodukte zeigen den Wohlstand und sind zu einem Zeichen des Status geworden (T4-15.TXT.int.). (1) Der Artikel mit dem Titel „Markenterror an Schulen nimmt zu“ von Stefanie George stellt uns das Problem von Markenterror in deutschen Schulen dar. [...] (3) Leider ist dieses Phänomen auch üblich in China. (4) Nur Kinder aus reichen Familien können sich Markenprodukte leisten (T4-03.TXT.int.). (1) Seit langem hat der Markenterror die Schulen beein usst. (2) Die Jugendlichen sind immer die Anhänger der Mode und legen großen Wert auf die Markenprodukte. (3) Die Situation in Deutschland ist mir nicht bekannt. (4) Aber in China, meiner Meinung nach hat der Markenterror an Schulen kontinuierlich zugenommen (T4-02.TXT.int.). In den zuletzt zitierten Texten zeigt sich eine erhöhte Sensibilität für interkulturelle Unterschiede. Analogien werden nicht nur konstatiert, die Situationen in China und Deutschland werden in Beziehung gesetzt. So sei der Markenkult in China „nicht so schlimm“ wie in Deutschland, aber die Situation „spitze sich zu“. Bemerkenswert ist vor allem der letzte Textauszug, in dem die Autorin selbstkritisch ihr eigenes Urteilsvermögen bewertet. Hier zeigt sich ebenfalls eine erhöhte interkulturelle Kompetenz. Freimütig wird eingeräumt, sich aufgrund mangelnder Kenntnisse nicht quali ziert über die Situation in Deutschland äußern zu können. Problemsituierung (national, historisch) Wie in den Texten der chinesischen Studienanfänger nden sich in einigen Interimstexten Anmerkungen zur Problemgenese im nationalen Kontext. Ein Text bedient sich des geläu gen Hinweises auf die Reform- und Öffnungspolitik: (1) Mit der Reform und Öffnung der Volksrepublik China entstehen hier immer mehr berühmte Marken, zum Beispiel Adidas, Nike, Mizuro sowie chinesische Marken Jeanswest usw. (T4-14.TXT.int.). Einige Anmerkungen zur Problemgenese dienen der Erklärung der aktuellen Situation in China, etwa der Hinweis, dass vor dreißig Jahren ein fast „egalitärer Lebensstandard“ herrschte (vgl. T4-03.TXT.int.18-19), oder die ausführliche Darstellung der Ein-Kind-Politik und deren Ein uss auf traditionelle Familienstrukturen (vgl. T4-11.TXT.int.1-8). Einige Probanden äußern sich auffällig kritisch zur gegenwärtigen sozialen Lage ihres Landes: (11) Wegen der Änderung des Marktsystems gibt es in China zurzeit eine Menge von Arbeitslosen. (12) Sie haben nur knapp Geld, ihre Familien zu unterhalten. Für die Kinder ein Paar Nike- Schuhe oder eine Adidas-Sporthose zu kaufen, ist eher ein Traum (T4-08.TXT.int.). Situierung der Problemlage (historisch) Eine problemgeschichtliche Betrachtung unterscheidet sich von allen bisher dargestellten. Der Text bezieht sich vordergründig nicht auf einen bestimmten Handlungsort, vielmehr stellt er allgemeine historische Entwicklungsgesetze dar. <?page no="206"?> 194 Situierung der Problemlage und eigene Problemkenntnisse (1) Als man noch nicht genug essen konnte, dachte man den ganzen Tag an Lebensmittel, aber nur an Quantität, an Qualität noch nicht. (2) Aber wenn man nun keine Angst vor Hunger hat, möchte man Spezialitäten, köstliche Speisen probieren. (3) Das ist ein Instinkt von Menschen, immer mehr zu verlangen. (4) Die vielen Forderungen haben in Wirklichkeit einen großen Beitrag zur Entwicklung unserer Gesellschaft geleistet, erst Forderung, dann Gedanke und zuletzt Lösung. (5) Aber alles soll eine ratsame Grenze haben. (6) Nach der Lehre des Buddhismus kommt alles Leid aus Wünschen (T4-09.TXT.int.). Dieser Erklärungsversuch führt das Verlangen nach Verbesserung der materiellen Lage auf einen elementaren menschlichen Instinkt zurück. Grundsätzlich ermögliche dieser Instinkt gesellschaftlichen Fortschritt. Im Text wird mit dem Hinweis auf „unsere Gesellschaft“ angedeutet, dass die Geschichte des Landes rekapituliert wird. Der Hinweis auf den Buddhismus dient dann der Kritik an der gegenwärtigen Situation. Heute sei in China Mäßigung erforderlich. Zwischenfazit Die fortgeschrittenen Deutschlerner lesen den Ausgangstext ebenfalls als Auslandsnachricht. In 40% der Texte werden Unterschiede zwischen den Nationalstaaten nicht re ektiert, in 60% der Texte wird die Problemlage in größeren Dachkollektiven verortet, wobei in einigen Texten eine erhöhte Sensibilität für interkulturelle Unterschiede auffällt. Auf regionale und intrakulturelle Differenzierungen verzichten die Interimstexte ganz, in einem Text werden aktuelle Ereignisse auf allgemeine historische Triebkräfte bezogen. 14.4 Korpus T4.TXT.chin. Problemsituierung (T4.TXT.chin.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 n=15 % SITUIERUNG der Problemlage (global) x x 2 13 SITUIERUNG der Problemlage (supranational) x x x (x) x (x) (x) x x x (x) x x (x) (x) 9 60 SITUIERUNG der Problemlage (national) x x x (x) x (x) (x) x (x) (x) (x) x x x (x) 8 53 SITUIERUNG der Problemlage (regional) x 1 7 SITUIERUNG der Problemlage (intrakulturell) x x 2 13 SITUIERUNG der Problemlage (historisch) x x x x 4 27 BESCHREIBUNG eigener Problemkenntnisse - - Tabelle 14.4: Problemsituierungen T1.TXT.chin. In elf Texten (73 %) wird in den chinesischen Texten der fortgeschrittenen Deutschlerner das Problem situiert, nur vier Texte (27 %) schreiben generalisierend von den Jugendlichen. Einen Vergleich zwischen Deutschland und China ziehen sechs Texte (40 %), von denen zwei (13 %) im Markenterror ein globales Phänomen erkennen. Außerdem sind drei intrakulturelle Differenzierungen nachweisbar, eine (7 %) situiert die Problemlage <?page no="207"?> 195 Situierung der Problemlage und eigene Problemkenntnisse in einer Region des Landes, zwei (13 %) in einer bestimmten Schulform. Außerdem machen vier Texte (27 %) Angaben zur Problemgenese, auf eigene Problemkenntnisse geht kein Text ein. Problemsituierung (global, supranational) Zwei Probanden betrachten den Markenterror aus globaler Perspektive. „Überall“ sei dieser Zustand eingetreten, „in Deutschland, China und auch anderen Ländern und Gebieten“ (T4-08.TXT.chin.5). Ein Proband bezieht den Markenkult auf das Informationszeitalter (T4-04.TXT.chin.3). Eine supranationale Situierung wird vorgenommen, wenn das Phänomen in den „allermeisten Ländern der Erde“ vermutet wird (T4-05.TXT.chin.2). Einen Vergleich zwischen Deutschland und China ziehen vier Probanden. In China herrsche „ein ganz ähnlicher Zustand“ wie in Deutschland (T4-02.TXT.chin.2), „in China wie im Ausland“ sei es Mode geworden, Markenkleidung zu tragen. (T4-03.TXT.chin.1). Die Kluft zwischen armen und reichen Schülern bestehe „an deutschen und chinesischen Schulen“ (T4-13.TXT.chin.8). Eine Probandin konstatiert wie bereits in ihrem Interimstext große Unterschiede zwischen den Problemlagen in China und Deutschland. (5) Im Ausland gibt es Marken wie Nike, Adidas, Reebok und Playboy, in China Marken wie Shanshan, Baromon, Youngour, und Gold Lion. (6) All dies sind allgemein bekannte, große Marken, und es ist nicht außergewöhnlich, wenn ihr Preis 1000 RMB übersteigt. (7) Aber heute gibt es viele Schüler (ich meine jene in entwickelten Küstenstädten), für die es keine große Belastung mehr darstellt, ein oder zwei dieser Kleidungsstücke zu besitzen. [...] (9) Ich vertrete aufgrund meiner Beobachtungen die Meinung, dass viele Schüler keine Markenkleidung kaufen, weil sie nach einer „Marke“ verlangen. (10) Vielmehr drücken sie damit aus, dass sie einem Star nacheifern. [...] (13) Daher meine ich, dass sich der Charakter des Markenkults an chinesischen Schulen von dem im Text dargestellten völlig unterscheidet und auch nicht so schrecklich ist (T4-12.TXT.chin.). Wesentliche Aussagen des Interimstextes werden hier aufgegriffen. Wieder zeigt sich, dass die Probandin differenziert und zu einer unterschiedlichen Bewertung des Problemdrucks in beiden Ländern gelangt. Im chinesischen Text wird außerdem durch den Hinweis auf die entwickelte Küstenregion regional differenziert. Problemsituierungen (national, historisch) Im nationalen Kontext diskutieren zwei Texte das Phänomen des Markenkults. Wie in Interimstexten wird auf den „anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung Chinas und die Vertiefung der Reform- und Öffnungspolitik“ (T4-14.TXT.chin.2) verwiesen, um ein aktuelles Geschehen zu erklären. Auf problemgeschichtliche Ausführungen jeglicher Art verzichtet T4-01.TXT.chin. Stattdessen analysiert er eingehend das aktuelle Konsumverhalten chinesischer Jugendlicher. Dieser Text ist der einzige Text in den Vergleichstexten aller chinesischen Probanden, der wissenschaftlich fundiert Auskunft über die Situation in der Volksrepublik erteilt. 42 Wie gezeigt worden ist, führt einer der Interimstexte den Markenkult auf elementare, menschliche Instinkte zurück. Im muttersprachlichen Text wiederholt die Probandin diese Einschätzung: 42 Eine ausführliche Interpretation des Textes T4-01.TXT.chin. ndet sich in Abschnitt 16.4. <?page no="208"?> 196 Situierung der Problemlage und eigene Problemkenntnisse (1) Als noch Hunger und Armut das Leben kontrollierten, dachten die Menschen nur daran, sich satt zu essen und sich warm anzukleiden. (2) Als diese elementarsten Bedürfnisse keine Probleme mehr aufwarfen, verfügten die Menschen über zusätzliche Zeit und Energie, um sich zu überlegen, wie man sich gesund ernähren und schön kleiden könnte. (3) An diesem Verlangen ist nichts auszusetzen, [denn] de facto fördert gerade dieses Verlangen nach ständiger Verbesserung der Lebensqualität die Entwicklung der Welt [im Allgemeinen] und den Aufschwung von Handel und Industrie im Besonderen. (4) Markenprodukte können ihren Wert auch nur in einer wohlhabenden und stabilen Gesellschaft in vollem Umfang entfalten (T4-09.TXT. chin.). Der Unterschied dieses Textes zum Interimstext besteht in der Beurteilung der gegenwärtigen Situation. Es werden nicht die negativen Folgen des Markenkults betont, vielmehr werden die positiven Wirkungen des elementaren Verlangens nach Verbesserung der Lebensqualität hervorgehoben. Außerdem wird auf den Entwicklungsstand der Gesellschaft hingewiesen. Markenprodukte wären nur in wohlhabenden und stabilen Gesellschaften anzutreffen, womit Deutschland und China gemeint sein dürften. Dass dieses Erklärungsmuster in China offensichtlich sehr verbreitet ist, zeigt ein zweiter Text aus dem Korpus T4.TXT.chin. Auch hier wird das aktuelle Konsumverhalten auf veränderte Bedürfnisse zurückgeführt. (1) Mit der Erhöhung des Lebensstandards haben sich auch die Ansprüche moderner Menschen an Kleidung, Nahrung, Wohnraum und Fortbewegung erheblich verändert. (2) Nachdem man sich warm anziehen und satt essen konnte, begann man, nach gutem Essen und schöner Kleidung zu verlangen. (3) Dann griff immer mehr der Trend um sich, ungestüm nach Marken zu verlangen (T4-12.TXT.chin.). Festhalten lässt sich, dass die fortgeschrittenen Deutschlerner die Problemlage in vielfältiger Weise situieren und historisieren. Neben Unterschieden auf nationalstaatlicher Ebene werden auch Unterschiede auf regionaler Ebene benannt. Wie in anderen Texten chinesischer Probanden werden allgemeine historische Entwicklungsgesetze benannt, um eine aktuelle Problemlage zu historisieren. 14.5 Gruppenübergreifender Vergleich und Hypothesen Problemsituierungen und Problemkenntnisse FSU1.TXT.dt. T1.TXT.chin. T4.TXT.int. T4.TXT.chin. n=19 % n=20 % n=15 % n=15 % SITUIERUNG der Problemlage (global) 1 5 1 5 2 13 2 13 SITUIERUNG der Problemlage (supranational) 2 10 3 15 4 27 9 60 SITUIERUNG der Problemlage (national) 3 16 12 60 7 47 8 53 SITUIERUNG der Problemlage (regional) 6 32 4 20 - - 1 7 SITUIERUNG der Problemlage (intrakulturell) 5 26 2 10 - - 2 13 SITUIERUNG der Problemlage (historisch) 6 32 5 25 5 33 4 27 SITUIERNG der Problemlage (eigene Problemkenntnisse) 12 63 4 20 1 7 - - Tabelle 14.5: Gruppenübergreifender Vergleich (Situierung der Problemlage). Die Ergebnisse der fallübergreifenden Analysen fasst Tabelle 14.5 zusammen. Gruppenübergreifend lässt sich festhalten: <?page no="209"?> 197 Situierung der Problemlage und eigene Problemkenntnisse Vergleich FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. Mit Blick auf das in Abschnitt 4.5 entwickelte Textproduktionsmodell zeigt sich, dass Ausgangstexte in Abhängigkeit von der eigenen kulturellen Herkunft auf bestimmte Handlungsräume bezogen werden. Daher rezipieren in vorliegender Untersuchung die deutschen Studienanfänger den Ausgangstext als Inlandsnachricht. Diese Perspektivierung führt vorwiegend zu regional und intrakulturell differenzierenden Situierungen. Die chinesischen Probanden rezipieren den Ausgangstext hingegen als Auslandsnachricht, was eher zu Situierungen der Problemlage auf nationaler, supranationaler oder globaler Ebene führt. Außerdem zeigt der Vergleich, dass Problemlagen auch in Abhängigkeit von persönlichen Problemkenntnissen situiert werden, wobei bei den deutschen Studienanfängern eine deutlich größere Bereitschaft auffällt, über eigene Erlebnisse zu berichten. Offenbar führt sie ihre mangelnde persönliche Problemerfahrung dazu, die Situation an der eigenen Schule ausführlich darzustellen, um generalisierenden Problemsituierungen entgegenzutreten. In einem weiteren Schritt verorten sie die Problemlage dann in Kollektiven, denen sie selbst nicht angehört haben. Zu einer intrakulturell spezi zierenden Betrachtungsweise fühlen sich die chinesischen Studienanfänger nicht aufgerufen, sie rezipieren den Ausgangstext unhinterfragt als Bericht über einen allgemeinen Zustand in Deutschland. Vergleich T4.TXT.int., FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. Wie ein Vergleich der muttersprachlichen Texte der chinesischen Studienanfänger und der Interimstexte der fortgeschrittenen Studenten zeigt, verstärkt sich offenbar die Neigung, Problemlagen länderübergreifend zu vergleichen, wenn Texte im Modus der Fremdsprache verfasst werden. Im Korpusmaterial nden sich viele Belege für eine erhöhte Sensibilität der fortgeschrittenen Studenten gegenüber kulturellen Unterschieden. Einige Interimstexte zeigen, dass Analogien nicht wie bei vielen chinesischen Studienanfängern einfach postuliert werden oder generalisierend von den Jugendlichen ausgegangen wird. Die fortgeschrittenen Deutschlerner tendieren dazu, Problemlagen vor dem Hintergrund der jeweiligen Situation in einem Land genauer zu betrachten, in einem Fall werden sogar die Grenzen des eigenen Urteilsvermögens re ektiert. Vergleich T4.TXT.chin., FSU1.TXT.dt., T1.TXT.chin. und T4.TXT.int. Erstaunlicherweise unterscheiden sich die mutter- und die interimssprachlichen Texte der fortgeschrittenen Deutschlerner hinsichtlich der jeweils vorgenommenen intrakulturellen Differenzierungen. In den Interimstexten stellen die Probanden Problemlagen allein auf nationaler und transnationaler Ebene dar, während sie in den chinesischen Texten auch Unterschiede innerhalb der Volksrepublik China benennen. Sie beziehen in ihren Interimstexten Unterschiede in weiter gefassten Handlungsräumen (China und Deutschland) aufeinander, bezeichnen aber auch Unterschiede in enger gefassten Handlungsräumen (Shanghai und Hamburg). Der Vergleich der Korpora T1.TXT.chin., T4.TXT.int. und T4.TXT.chin. zeigt, dass die chinesischen Probanden eine aktuelle Problemlage häu g auf allgemeine Entwicklungsgesetze beziehen. Fast gleichlautend wird der Markenterror in einem Text der Studienanfänger (T1-09.TXT.chin.), in einem Interimstext (T4-09.TXT.int.) sowie in zwei chinesischen Texten der fortgeschrittenen Deutschlerner (T4-09.TXT.chin.; T4-12.TXT.chin.) auf allgemeine historische Triebkräfte bezogen. In den Vergleichstexten der deutschen Probanden fehlen derartige problemgeschichtliche Re exionen. <?page no="210"?> 15 Betrachtungen der Textgegenstände Laut den Ausführungen im Lehrwerk Yuwen (vgl. Abschnitt 8.2) besteht das zentrale Motiv eines Yilunwen darin „Gründe zu benennen“ (shuo li). Diese „Gründe“ (li) umfassen nicht nur Argumente (Geltungsgründe) sondern auch Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten, die den Erscheinungen inhärent sind. Dieses Motiv, in einem Aufsatz zum „Wesen der Dinge“ vorzudringen, so lautet die zu überprüfende Hypothese, könnte sich auf die Betrachtung der zentralen Textgegenstände auswirken, die im Arbeitsauftrag genannt werden. Untersucht werden Aussagen, die danach fragen, was Markenprodukte und was Jugendliche auszeichnet. Außerdem wird geprüft, ob diese Textgegenstände als abstrakte Entitäten in Beziehung gesetzt werden. Die beiden zentralen Textgegenstände sind zwar Referenzträger in allen vorliegenden Texten, fast immer fragen die Texte jedoch ausschließlich danach, wie sich Jugendliche verhalten und warum sie sich auf die beschriebene Weise verhalten: (2) Für Jugendliche, die unsicher sind und denen die Anerkennung Gleichaltriger alles bedeutet, führt der Weg hierzu meist nur über das Herabsetzen anderer. (3) Hat der andere keine augenscheinlichen „Makel“ wie eine Behinderung oder Ausländersein, greift man auf die Kleidung zurück. (4) Kleidung, Statussymbol Jugendlicher, kann über Beliebtheit oder Nicht- Beliebtsein entscheiden, (5) und die Hersteller reiben sich die Hände, da sie die Gewinner des Ganzen sind (FSU1-18.TXT.dt.). Das zentrale Anliegen dieses psychologisch argumentierenden Textes besteht darin zu erklären, warum Jugendliche nach Markenprodukten verlangen. Zwar werden die Textgegenstände aufeinander bezogen, über die Textgegenstände selbst wird jedoch nur wenig ausgesagt. 43 Von den zitierten Aussagen unterscheiden sich etwa folgende: (1) Was sind Markenprodukte? Markenprodukte sind Waren, bei deren Kauf man nur widerstrebend Geld ausgibt, deren Gebrauch aber äußerstes Wohlbehagen bewirkt. (2) Eigentlich repräsentieren Markenprodukte Qualität, (3) aber noch häu ger stellen sie ein Symbol dar. Dieses vermittelt ein subjektives Ehr- und Überlegenheitsgefühl (T1-02.TXT.chin.). Das Anliegen dieses Textes besteht eindeutig darin darzustellen, was Markenprodukte sind. Bereits die einleitend gestellte Frage betont diese Mitteilungsabsicht. Obwohl es im Einzelfall strittig ist, welche Textaussagen man als Teiltextsegment identi zieren kann, das vorrangig der Darstellung einzelner Textgegenstände dient, ist es unumgänglich, in einer Textanalyse von diesen Teiltextsegmenten auszugehen, um Merkmale chinesischer Texte zu rekonstruieren. In diesem Kapitel werden nur explizite Darstellungen der beiden zentralen Textgegenstände berücksichtigt. 44 Außerdem geben die Tabellen 15.1-15-5 an, ob diese Textgegenstände als abstrakte Entitäten in Relation gesetzt werden. 43 Mit dem Instrumentarium der Qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. M AYRING 2003) könnten konzeptionelle Aussagen zu den Textgegenständen „Jugendliche“ (sie sind unsicher, sehnen sich nach Anerkennung in der Peer-Gruppe etc.) und „Markenprodukten“ (es handelt sich um Statussymbole etc.) rekonstruiert werden. Vorliegende Arbeit geht aber nicht inhaltsanalytisch vor, Textaussagen werden vor allem kommunikativ-funktional betrachtet. Daher berücksichtige ich Textsegment (4) in FSU1-18. TXT.dt. nicht, obwohl in der Parenthese mitgeteilt wird, was Markenprodukte auszeichnet. 44 Nicht betrachtet werden Ausführungen zu anderen Textgegenstände, etwa dem Gegenstand „Uniform“ in FSU1-08.TXT.dt. Unberücksichtigt bleiben in diesem Kapitel auch die längeren Exkurse zu den Prinzipien „Individualität“ und „Konformität“ in FSU1-18.TXT.dt. Als implizite Aussagen, <?page no="211"?> 199 Betrachtungen der Textgegenstände 15.1 Korpus FSU1.TXT.dt. Darstellung einzelner Textgegenstände (FSU1.TXT.dt.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 n=19 % BESCHREIBUNG des Textgegenstands „Markenprodukte“ (x) (x) x 1 5 BESCHREIBUNG des Textgegenstands „Jugendliche“ - - BESCHREIBUNG des Verhältnisses der Textgegenstände „Jugendliche“ und „Marken“ x 1 5 Tabelle 15.1: Darstellung einzelner Textgegenstände FSU1.TXT.dt. In aller Deutlichkeit zeigt diese Übersicht (Tabelle 15.1), dass die deutschen Studienanfänger die Textgegenstände „Markenprodukte“ und „Jugendliche“ weder gesondert diskutieren, noch diese Gegenstände unabhängig von der konkreten Problemlage als abstrakte Entitäten aufeinander beziehen. Die Aufforderung, einen Text über Jugendliche und Markenprodukte zu verfassen, führt in dieser Vergleichsgruppe demnach nur im Ausnahmefall zur Beantwortung der Fragen, was diese Textgegenstände auszeichnet und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Folgender Text stellt die Frage nach Markenprodukten: (1) Meine Meinung zu Markenprodukten ist sehr differenziert. (2) Es muss erst einmal geklärt werden, was ein Markenprodukt ist. (3) Aldi zum Beispiel ist auch eine Marke. (4) Jugendlichen geht es aber oft darum teure Klamotten zu tragen. Diese sollen auch noch modisch hochaktuell und chic sein (FSU1-10.TXT.dt.). Dieser Text stellt die Themenfrage, „was ein Markenprodukt ist“, er beantwortet diese Frage nach dem kurzen Verweis auf Aldi jedoch nicht. Im weiteren Verlauf erklärt der Text nur, warum Jugendliche nach Markenprodukten verlangen. (1) „Aldi ist auch eine Marke! “ kommt es mir nach einem Monat Studentenleben mit beschränktem nanziellen Budget immer öfter in den Sinn. (2) Und tatsächlich: Bis jetzt stechen mir kaum Unterschiede zwischen den preisgünstigen Produkten der Billigkette und teureren Erzeugnisse bei den Eltern im Kühlschrank ins Auge. (3) Also - was ist dran am Mythos Marke? (FSU1-05.TXT.dt.). Auch dieser Text stellt die Frage nach dem „Mythos Marke“, ohne diese im weiteren Verlauf zu beantworten. Nur in einem Text wird ausführlich dargestellt, was Markenprodukte zu Markenprodukten macht: (4) Marken sind Namen von Produkten, mit denen wir gute Eigenschaften verbinden sollen. (5) Eine neue Firma, die äußerst „coole“ Skateboards herstellt, wird bekannt und ihr Markenname ein Synonym für Qualität. Qualität, die selbstverständlich ihren Preis hat, den nicht jeder zu bezahlen imstande oder bereit ist. [...] (31) Im Übrigen kann man Marken, wenn man sie von die in den Tabellen mit (x) gekennzeichnet sind, werden jene aufgefasst, in denen Eigenschaften der besagten Textgegenstände nicht näher dargestellt werden, aber die Frage nach den Eigenschaften aufgeworfen wird, wie etwa in FSU1-05.TXT.dt.1-3 oder T1-09.TXT.chin.1-6. <?page no="212"?> 200 Betrachtungen der Textgegenstände ihrer ursprünglichen inhaltsvermittelnden Werbefunktion auf Abgrenzungs- und Statussymbole abstrahiert, bis in die frühe Menschheitsgeschichte zurückverfolgen. (32) Die Patrizier im Römerreich und die Senatoren trugen aufwendige kostbare Togen, die dem Pöbel verboten blieben. (33) Kaiser und Könige besaßen Insignien und Wappen und übertrumpften sich gegenseitig an Luxus und Pracht. (34) Die Christen führten das Kreuz als ihr Symbol, (35) die Juden den Davidsstern ein. (36) Dahingegen gilt das gedrehte Kreuz heute Jugendlichen als Abgrenzung zum konventionellen (FSU1-14.TXT.dt.). Dieser Text ist also keineswegs typisch für die Gruppe der deutschen Studienanfänger. In keinem anderen Text wird in vergleichbarer Ausführlichkeit dargestellt, wie aus einem unbekannten Unternehmen ein Markenhersteller wird. In keinem anderen Text ndet sich ein ähnlich langer Exkurs, in dem die Funktion von Marken als Status- und Abgrenzungssymbol bis zu den alten Griechen zurückverfolgt wird. Die beiden zentralen Textgegenstände werden nur in einem Text als abstrakte Entitäten in Beziehung gesetzt: (24) Marken und Jugend gehören nun mal irgendwie zusammen. (25) Denn die Jugend setzt die Trends und die Jugend verfolgt diese wiederum (FSU1-16.TXT.dt.). Hier wird ein dialektisches Verhältnis der Textgegenstände angedeutet: Die Jugend setzt Trends, denen sie folgt. Jedoch wird dieser Gedanke nicht expliziert. 15.2 Korpus T1.TXT.chin. Darstellung einzelner Textgegenstände (T1.TXT.chin.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 n=20 % BESCHREIBUNG des Textgegenstands „Markenprodukte“ x x x x (x) x x x x x x x 11 55 BESCHREIBUNG des Textgegenstands „Jugendliche“ x x x x x 5 25 BESCHREIBUNG des Verhältnisses der Textgegenstände „Jugendliche“ und „Marken“ x (x) (x) x 2 10 Tabelle 15.2: Darstellung einzelner Textgegenstände T1.TXT.chin. Die chinesischen Studienanfänger setzen sich anders als die deutschen dezidiert mit der Frage auseinander, was „Markenprodukte“ zu solchen macht. Wie es Tabelle 15.2 zeigt, enthält etwa jeder zweite Text (55 %) diesbezügliche Aussagen. Auch zu „Jugendlichen“ lassen sich in vielen Texten (25 %) allgemeine Aussagen nden, die zum Ziel haben, diesen Textgegenstand in einem umfassenden Sinn darzustellen. In zwei Texten (10 %) ist schließlich ein Dreischritt zu erkennen. Die genannten Textgegenstände werden zunächst einzeln betrachtet und dann aufeinander bezogen. Diese allgemeine Tendenz, Textgegenstände gesondert zu analysieren, wird in zwei Texten (T1-05.TXT.chin; T1-07.TXT.chin.) besonders deutlich. In T1-07.TXT.chin. ist die Frage, was Markenprodukte auszeichnet, die zentrale Themenfrage des Textes. Der Arbeitsauftrag führt bei dieser Probandin demnach dazu, dezidiert nachzuzeichnen, wie aus einem unbekannten Produkt ein Markenprodukt wird. <?page no="213"?> 201 Betrachtungen der Textgegenstände (5) Wovon hängt es eigentlich ab, dass klassische Marken die Zeiten überdauern und in der Modewelt Welle um Welle schlagen? (6) Ich glaube, weil erstens Ruf und Qualität verbürgt sind. (7) Auf dieses Fundament baut ein Geschäftsmann. Es ist der Ausgangspunkt, wenn man die Produktion aufnimmt und Gewinn erwartet. (8) Handel ohne Ruf gleicht einem Gehäuse ohne Haltestreben, das unweigerlich in sich zusammenfällt. (9) Daraus folgt, dass die Entwicklungsgeschichte einer Marke auf Ruf und Persönlichkeit des Unternehmers basiert. (10) Eine gesicherte Moralität gleicht dem soliden Fundament eines Wolkenkratzers. (11) Nach dem Motto „Fremd bei der ersten, vertraut bei der zweiten Begegnung“ öffnet man die Tür und treibt Handel, legt Wert auf Stammkunden und macht diese zu seinen besten Beratern. Dies ist gleichzeitig der beste Weg, Außenwerbung zu treiben. (12) Zweitens stützen sich Markenprodukte auf eine feinsinnige Intuition für populäre Trends. Es handelt sich um eine abstrakte Wirkung, wenn man die Gesellschaft erforscht, die Stimmung der Menschen ergründet und ihre Sorgen und Gedanken teilt. Dann dringt der Hauch des Zeitalters in die eigenen Werke und das Versmaß der Jugend erfüllt die Seele der Modethemen. Nur so kann eine Marke in den Wald der Weltmode dringen. (13) Drittens stützen sich Markenprodukte auf Kreativität und Stil. Die Mode entwickelt sich nicht auf dem Platz der Marktschreier, wo die Meinungen anderer nachgeplappert werden. Eine selbständige Marke muss sich durch eigene Gedanken und Inhalte auszeichnen und eine neue Richtung begründen. Erst so verdichtet sich die Wirkung eines Warenzeichens zur Marke, die in der von der Zeit geformten Landschaft als unabhängige Einheit besteht. (14) Festzuhalten bleibt, dass eine Marke nicht durch prunkvolle Dekoration entsteht, geschweige denn kann sie über Nacht erfolgreich sein. Nur wenn sich in ihr die Zeit abgelagert hat, wenn sie die Prüfungen der Konkurrenz bestanden hat und sich in der Mode gleichzeitig ein tiefer Inhalt offenbart, wird ihr der Titel „Ladenschild mit goldenen Lettern“ verliehen werden (T1.07.TXT.chin.). Dieser Text will aufklären, er stellt Schritt um Schritt die Verdienste von Unternehmern und Designern heraus, die an der Ober äche der Markenprodukte nicht sichtbar sind. Dieser Text folgt dem Gliederungsprinzip des „sukzessiven Aufbaus“ (cengjin jiegou), er „zeigt an der Erscheinung das Wesen, am Zufälligen das Notwendige“ (YW, KB 11.1, 162). Die zentrale Mitteilungsabsicht des Textes besteht darin, die den Dingen inhärenten Gründe und Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, die dem unkundigen Betrachter verborgen bleiben (vgl. Abschnitt 8.2). Daher kritisiert der Text das Verhalten der Jugendlichen nur am Rande, er prangert vor allem ihre Unkenntnis an: (15) Nun wollen wir uns wieder den hitzköp gen Jugendlichen auf den Boulevards zuwenden, deren Herzblatt die Marken sind. (16) Ihre Familien mögen wohlhabend sein, doch wie viele unter ihnen werden jene Wechselfälle und Reifungen wirklich verstehen, die sich hinter der mitreißenden Wirkung einer Marken verbergen? (17) Wie viele sind von der tiefen Bedeutung ihrer Themen innerlich erschüttert und gefesselt? (18) Es steht zu befürchten, dass sich unter all den Juwelen vor unseren Augen nicht einmal zehn Finger heben werden. (19) Ach, wie tragisch! Worin besteht noch ein Unterschied zu Herrn Nanguo, dem stummen Bläser im Bambusorchester? (T1.07.TXT.chin.). Kritisiert wird, dass die Jugendlichen „von der tiefen Bedeutung“ der Mode nicht innerlich erschüttert und gefesselt sind. Auch andere Texte im Korpus nehmen Anstoß an der Unkenntnis der Jugendlichen, kritisieren deren „Aberglauben“ (vgl. T1-05.TXT.chin.21) und „Blindheit“ (vgl. T1-20.TXT.chin.5). Ein anderer Text (T1-05.TXT.chin.) nähert sich dem Phänomen „Marke“ auf eine andere, nicht minder unvertraut wirkende Weise. Der Text beginnt mit einer Anekdote, um die Unkenntnis vieler Konsumenten darzustellen. Daraufhin erklärt der Text, wie der Markeneffekt, dem viele Konsumenten erliegen, entstehen konnte. (2) Ein Firmeninhaber hatte einmal große Mengen Cola hergestellt, konnte sie aber nicht absetzen. (3) Misstrauisch geworden führte er folgendes Experiment durch: Er nahm zwei Flaschen Cola, in der einen befand sich Coca-Cola, in der anderen seine selbst produzierte Cola. (4) Er <?page no="214"?> 202 Betrachtungen der Textgegenstände vertauschte die äußere Verpackung und ließ die Leute aus beiden Flaschen kosten. (5) Interessanterweise zeigte einer nach dem anderen auf die Flasche mit falschem Coca-Cola-Etikett und meinte, der Inhalt dieser Flasche schmecke gut. (6) Auch nachdem der Firmeninhaber die Anwesenden aufgeklärt hatte, beharrten viele darauf, dass sich in der Coca-Cola-Flasche wirklich Coca-Cola befunden habe, der Geschmack sei außerdem vorzüglich gewesen. (7) Dies kann man wohl als „Markeneffekt“ bezeichnen. (8) Wie konnte dieser Markeneffekt entstehen? (9) Wenn eine Ware zu einer Markenware wird, dann wird sie zu einer Kultur, zu einem Symbol, dem die Menschen unbewusst vertrauen, (10) wie etwa bei „Qinghua“. Beim Wort „Qinghua“ denken die Menschen nicht nur an eine erstklassige Universität, sie werden auch an die intensive Atmosphäre der Gelehrsamkeit und die herausragenden Persönlichkeiten, die der Qinghua entstammen. (11) Grundlos haben die Menschen das Gefühl, dass die beiden Schriftzeichen „Qinghua“ großes Gewicht besitzen, obwohl sie diese Universität wahrscheinlich noch nie betreten haben. (12) Dann ist der Name „Qinghua“ nicht mehr bloße Bezeichnung für eine Universität, er ist zu einer Kultur geworden. (13) Diese Kultur, dieses Symbolische wurde im Laufe vieler Jahre angesammelt und gespeichert (T1.05.TXT.chin.). Der Beschreibung des Markeneffekts (2-7) folgt die „Benennung der Gründe“ (shuo li), um das Wissensde zit, das zu dem beschriebenen „Aberglauben“ führte, zu beheben (8-13). In den Texten der chinesischen Studienanfänger zeigt sich demnach eine deutliche Tendenz, die Erscheinungen durchdringen und das Besondere überwinden zu wollen, um das Allgemeine zu erkennen (vgl. YW, KB 10.1. 130f). Die einleitende Anekdote bereitet den Leser auf die zentrale Frage des Textes vor, die Frage nach dem Wesen hinter der Erscheinung. Ein anderer Text stellt diese Frage ganz direkt: „Welche Bedeutung haben eigentlich Markenprodukte? Seit auf den Schulgeländen in den entwickelten Gebieten der Welt das Marken eber grassiert, müssen wir diese Frage stellen.“ (T1-10.TXT.chin.1-2). Auch dem Textgegenstand „Jugendliche“ nähern sich einige Texte dieser Vergleichsgruppe. 45 In zwei Texten werden die Textgegenstände zuerst einzeln analysiert und dann in Beziehung zueinander gesetzt, so dass sich ein Dreischritt ergibt. Dieses Muster zeigt sich am prägnantesten in T1-02.TXT.chin. 46 (1) Was sind Markenprodukte? Markenprodukte sind Waren, bei deren Kauf man nur widerstrebend Geld ausgibt, deren Gebrauch aber äußerstes Wohlbehagen bewirkt. (2) Eigentlich repräsentieren Markenprodukte Qualität, (3) aber noch häu ger stellen sie ein Symbol dar. Dieses vermittelt ein subjektives Ehr- und Überlegenheitsgefühl. (4) Daher sind manche Menschen ganz beschwingt, wenn sie Markenkleidung tragen oder Markenprodukte benutzen. (5) Diese über sich selbst hinausreichende Funktion der Markenprodukte besitzt eine nicht zu unterschätzende Kraft. (6) Auf der anderen Seite be nden sich Jugendliche gerade in einem Prozess allmählicher physischer und psychischer Vervollkommnung. (7) Sie reißen ungestüm jede Tür auf, die zur Reife führt und ersehnen sich unablässig die Anerkennung durch die Gesellschaft. (8) Alles, was sie in die Lage versetzt, als Erwachsene zu gelten, wird praktiziert. (9) Wenn nun Jugendliche auf Markenprodukte stoßen, auf Produkte, die ihnen Erfolgserlebnisse ermöglichen, dann begehren sie diese, ohne einen Augenblick lang zu zögern. (10) Die Lage eskaliert, so dass sich die im Text beschriebenen „Schlägereien um Markenpullover“ ereignen können (T1-02.TXT.chin.). 45 Dies geschieht in einem Text ohne gleichzeitige Betrachtung des Textgegenstands „Markenprodukte“ (vgl. T1-12.TXT.chin.4-10). 46 Vgl. besonders T1-19.TXT.chin.1-6, vgl. ferner T1-14.TXT.chin.1-16 und T1-16.TXT.chin.1-15. <?page no="215"?> 203 Betrachtungen der Textgegenstände Im ersten Abschnitt wird die Frage beantwortet, was Markenprodukte, im zweiten Abschnitt was Jugendliche kennzeichnet. Im dritten Abschnitt werden dann beide Textgegenstände aufeinander bezogen, um zu erklären, warum Jugendliche Markenprodukte begehren. Diese Schrittfolge richtet sich nach einer „relationalen Betrachtungsweise“ (lianxi de guandian), die das Lehrwerk Yuwen emp ehlt: „Bei der Analyse eines Problems müssen [...] die Beziehungen zwischen den Dingen sowie die Beziehungen zwischen den konstituierenden Faktoren innerhalb der Dinge erfasst werden“ (YW, KB 12.2. 172). 15.3 Korpus T4.TXT.int. Darstellung einzelner Textgegenstände (T4.TXT.int.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 n=15 % BESCHREIBUNG des Textgegenstands „Markenprodukte“ x x 2 13 BESCHREIBUNG des Textgegenstands „Jugendliche“ x 1 7 BESCHREIBUNG des Verhältnisses der Textgegenstände „Jugendliche“ und „Marken“ x 1 7 Tabelle 15.3: Darstellung einzelner Textgegenstände T4.TXT.int. Die fortgeschrittenen Deutschlerner widmen den einzelnen Textgegenständen nur geringe Aufmerksamkeit (siehe Tabelle 15.3), weil sie das Verhältnis von Jugendlichen und Markenprodukten ähnlich wie Mitglieder der deutschen Vergleichsgruppe vorrangig im Kontext des jugendlichen Konsum- und Sozialverhaltens diskutieren. Ein Text fällt aus diesem Rahmen, da er dem oben dargestellten Dreischritt folgt. (1) Jugendliche vertreten die Tendenz der Gesellschaft, etwa Internet, Videokamera, MP3. (2) Solche neugeborenen Dinge sind alle ihre Lieblinge. (3) Andererseits neigen sie auch dazu, ihre Markenprodukte wie Nike, Jansport, usw. zu zeigen. (4) Ich nde, dass diese Neigung natürlich ist. (5) Jugendliche sind neugierig und suchen immer nach etwas Neues. (6) Sie möchten bei Kleidung, Benehmen ihren Eltern nicht folgen, weil sie sonst verspottet werden könnten. (7) Jugendliche wollen etwas Kreatives machen und sie sind immer voller Energie. (8) Markenprodukte vertreten immer die neue Tendenz und viele von ihnen sind mit Sport zu tun. (9) Nike ist berühmt für Sportschuhe, etwa Fußball, Basketball, und Jansport zeichnet sich durch Sportrucksäcke aus. (10) Solche Markenprodukte erfüllen ausgerechnet die Wünsche der Jugendlichen, nämlich energievoll, angenehm, sportlich. (11) Daher können wir uns leicht vorstellen, warum sie von der Jugend begrüßt werden. (12) Aber einige Markenprodukte gehören nicht zu der oben genannten Kategorie, z.B. Rado, Gold Lion. (13) Solche Markenprodukte sind teuer als die oben genannten Markenprodukte, aber nicht sportlich. (14) Viele Jugendliche, die solche Markenprodukte tragen, wollen nur zeigen, dass sie reich sind. [...] (33) Ich meine, Jugendliche und Markenprodukte sind interaktiv. (34) Ohne Jugendliche nden Markenprodukte keinen schönen Absatz, und ohne Markenprodukte können die Jugendliche ihre Wünsche etwa sportlich, Kompetenz nicht erfüllen. (35) Das ist ein ewiges Thema (T4-05. TXT.int.). Im ersten und im dritten Abschnitt werden die zentralen Textgegenstände einzeln behandelt. Die Parallelität zeigt sich bereits in den jeweils ersten Sätzen. Sowohl Jugendliche als auch Markenprodukte vertreten nach Ansicht der Autorin die „neuen Tendenzen“ in einer <?page no="216"?> 204 Betrachtungen der Textgegenstände Gesellschaft. Im zweiten und vierten Abschnitt werden dann Wertungen vorgenommen. Die Aufgeschlossenheit und Neugier und Energie der Jugendlichen wird zuerst gewürdigt, dann wird ihr Imponiergehabe kritisiert. Im fünften Abschnitt werden die Textgegenstände aufeinander bezogen, sie seien „interaktiv“. In diesen Ausführungen zeigt sich eine Eigenheit diese Textes: Markenprodukte werden nicht nur als Objekte betrachtet. Sie selbst erscheinen als Teil der „interaktiven“ Verbindung und sind auf jugendliche Konsumenten angewiesen, wie diese auf die Markenprodukte angewiesen sind. 15.4 Korpus T4.TXT.chin. Darstellung einzelner Textgegenstände (T1.TXT.chin.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 n=15 % BESCHREIBUNG des Textgegenstands „Markenprodukte“ x x x x x x x x 8 53 BESCHREIBUNG des Textgegenstands „Jugendliche“ x x 2 13 BESCHREIBUNG des Verhältnisses der Textgegenstände „Jugendliche“ und „Marken“ x x x 3 20 Tabelle 15.4: Darstellung einzelner Textgegenstände T4.TXT.chin. Die muttersprachlichen Texte der chinesischen Germanistikstudenten gehen sehr ausführlich auf einzelne Textgegenstände ein. Mit Markenprodukten setzen sich acht Texte (53 %), mit Jugendlichen zwei Texte (13 %) näher auseinander. Das Verhältnis dieser Textgegenstände zueinander betrachten drei Texte (20 %), ohne dass jedoch der oben dargestellte Dreischritt zu erkennen ist. Die Texte setzen sich vorwiegend mit dem Textgegenstand „Markenprodukte“ auseinander, etwa folgender Beispieltext: (10) Markenartikel haben gewiss eine erstklassige Qualität, jedes Detail stimmt, (11) jedoch sind nicht alle Menschen in der Lage, den hohen Preis zu akzeptieren. (12) Die Qualität von einigen herkömmlichen Waren des gleichen Segments unterscheidet sich kaum von der Qualität von Markenprodukten, doch beträgt ihr Preis nur einen Teil, womöglich sogar nur einen Bruchteil des Preises eines Markenprodukts (T4-08.TXT.chin.). Ähnlich sachorientiert beschreiben fünf andere Texte die Markenprodukte. 47 Diese Darstellungen sind weniger anschaulich als vergleichbare in den Texten chinesischer Studienanfänger, der Stil ist prosaischer, weil auf narrative Elemente weitgehend verzichtet wird. In einem Beispieltext zeigt sich, dass die Stilebenen auch bewusst gewechselt werden können: (20) Was sind nun Markenprodukte? (21) Meines Erachtens handelt es sich um eine Warenform, die durch ihre hohe Qualität allgemein bekannt und beliebt ist. „Hohe Qualität“ meint vermutlich, dass innovative Designer geistige Arbeit und erfahrene Fachkräfte körperliche Arbeit verrichten, dass mechanisierte Produktionsverfahren zum Einsatz kommen und reguläre Vertriebswege genutzt werden. (22) Zudem will alles gut koordiniert und verwaltet sein. (23) Hierfür fallen unweigerlich gewisse Kosten an, so dass der Verkaufspreis natürlich wesentlich höher ist als der Preis für jene Plagiate, die auf der Straße angeboten werden. 47 Vgl. T4-05.TXT.chin.7-8; T4-09.TXT.chin.5-8; T4-11.TXT.chin.1,5-6; T4-14.TXT.chin.4-11; T4-15.TXT. chin.4. <?page no="217"?> 205 Betrachtungen der Textgegenstände (24) Als ich mich nach den Ursachen für den hohen Preis der Markenprodukte fragte, kam mir Pierre Cardin in den Sinn. Als dieses Unternehmen nach China kam, elen für die Eröffnung von Exklusivläden Kosten für Miete und Personal an. (25) Der Warenpreis muss neben diesen Aufwendungen auch Transportkosten und Steuern abdecken. (26) Der Preis dieser Waren ist daher natürlich etwas höher, was dazu führt, dass sie nicht so verbreitet sind wie Jogging- Hosen. (27) Es führt außerdem dazu, dass viele Menschen ihre Qualität ignorieren und nur über den hohen Preis sprechen, was den Markenprodukten in keiner Weise gerecht wird. (28) Wenn man hingegen keine Exklusivläden eröffnet, dann überschwemmen sofort Plagiate den Markt, wodurch das hohe Ansehen der Markenprodukte untergraben wird. (29) Die Qualität vieler Markenartikel ist erstklassig. (30) Hautp egeprodukte unterliegen strengen Hygienevorschriften, man kann sie unbesorgt benutzen und fühlt sich wohl. (31) Bekleidung besteht größtenteils aus Naturfasern, man bleibt gesund und sieht attraktiv aus. (32) Möbel werden aus hochwertigem Material gefertigt, sie sind schön und haltbar. (33) Ich glaube, dass Markenartikel die Prüfungen der Zeit bestehen müssen. (34) LEVI’S, die berühmteste Jeansmarke in Amerika, blickt auf eine Geschichte von über einhundert Jahren zurück, (35) anders als die Marke Apple, die ebenfalls einige Exklusivläden eröffnet hat. (36) Ich nde, dass die Zeit die Marken am besten prüft. (37) Einmal kaufte ich einen Anzug von Debbie & Co. Der Verkäufer meinte, dies sei eine Marke aus Hongkong. (38) Zu Hause merkte ich, dass der eine Ärmel etwas länger war als der andere. (39) Weil ich nicht der Meinung war, dass diese Qualität der eines Markenprodukts entspricht, wollte ich den Anzug am folgenden Tag zurückgeben. (40) Der Verkäufer meinte jedoch, ich könne ihn nur umtauschen und nicht zurückgeben. (41) Ich glaube kaum, dass diese Haltung einem Markenprodukt gemäß ist. (42) Einige neue Marken wählen einen ausländischen Namen, betreiben Markenwerbung und verlangen Markenpreise, doch fehlt ihnen Markenqualität und Markenservice. (43) Die Marktwirtschaft wird diese „Marken“ mit der Zeit und durch die Kenntnisse der Kunden allmählich aussondern (T4-01.TXT.chin.). Im ersten und dritten Abschnitt wird sachlich dargestellt, was Markenprodukte auszeichnet, im zweiten und vierten Abschnitt folgen dann Beispiele, deren Funktion darin besteht, die allgemeinen Darstellungen zu illustrieren. Drei Texte beziehen die beiden Textgegenstände aufeinander: „Markenprodukte erstrahlen in hellem Glanz, weil es Jugendliche gibt. Jugendliche wiederum gelangen mit dem Besitz von Markenprodukten zu Kapital, mit dem sich prahlen lässt.“ (T4-07.TXT. chin.4-6). Auch T4-13.TXT.chin. geht von einer beidseitigen Beein ussung aus. (1) Gegenwärtig legen viele Markenprodukte Jugendliche als aktive Konsumentenschicht fest. (2) Werbung und Marketing überschwemmen den Markt. (3) Viele Jugendliche entwickeln unbewusst ein „Markenbewusstsein“, streben nach einem Markeneffekt und vergöttern Markenprodukte (T4-13.TXT.chin.). Hier wird Markenprodukten eine Fähigkeit zuerkannt, die Fähigkeit, Konsumenten zu beein ussen. Sie legen die Jugendlichen fest, und diese entwickeln ihrerseits ein Markenbewusstsein. <?page no="218"?> 206 Betrachtungen der Textgegenstände 15.5 Gruppenübergreifender Vergleich und Hypothesen BEURTEILUNG der Maßnahme: Stellungnahmen FSU1.TXT.dt. T1.TXT.chin. T4.TXT.int. T4.TXT.chin. n=19 % n=20 % n=15 % n=15 % BESCHREIBUNG des Textgegenstands „Markenprodukte“ 1 5 11 55 2 13 8 53 BESCHREIBUNG des Textgegenstands „Jugendliche“ - - 5 25 1 7 2 13 BESCHREIBUNG des Verhältnisses der Textgegenstände „Jugendliche“ und „Marken“ 1 5 2 10 1 7 3 20 Tabelle 15.5: Gruppenübergreifender Vergleich (Darstellung einzelner Textgegenstände) Nach den fallübergreifenden Analysen (Tabelle 15.5) können nun gruppenübergreifende Aussagen zur Betrachtung einzelner Textgegenstände in den Textkorpora gemacht werden. Vergleich FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. Die Annahme, dass chinesische und deutsche Studienanfänger in ihren Aufsätzen andere Schwerpunkte setzen, wird durch das Datenmaterial sehr deutlich bestätigt. Nur ein einziger deutscher Studienanfänger (5 %) beschäftigt sich intensiv mit der Frage, was Markenprodukte auszeichnet. Nur eine deutsche Studienanfängerin (5 %) re ektiert andeutungsweise das Verhältnis der Textgegenstände. Eine eingehende Auseinandersetzung mit einzelnen Gegenständen ndet in den Texten der deutschen Muttersprachler nicht statt. Demgegenüber spielt die intensive Auseinandersetzung mit einzelnen Textgegenständen in den Texten der chinesischen Studienanfängern eine zentrale Rolle. Jeder zweite Text (55 %) fragt danach, was Markenprodukte zu Markenprodukten macht. Diese Texte verfolgen hierbei das Ziel, „das Blickfeld des Lesers zu öffnen“. Außerdem zeigt sich in einigen Texten (10 %) ein klar konturiertes Muster. In einem Dreischritt werden die beiden zentralen Textgegenstände zunächst unabhängig voneinander und dann in ihrem Zusammenwirken untersucht. Diese epistemologische Orientierung einzelner Texte trägt dazu bei, dass in den verglichenen Texten die Teiltexte unterschiedlich gewichtet werden (vgl. Abschnitt 12.5). Vergleich T4.TXT.int., FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. Die Interimstexte gleichen, wenn man von einer sehr bemerkenswerten Ausnahme absieht, den Texten der deutschen Muttersprachler, da sie die für die Texte der chinesischen Studienanfänger charakteristische Frage nach dem Wesen der Dinge und deren Verhältnis zueinander kaum aufwerfen. Vergleich T4.TXT.chin., FSU1.TXT.dt., T1.TXT.chin. und T4.TXT.int. Verblüffend ist, dass sich etwa die Hälfte der fortgeschrittenen Deutschlerner (53 %) in ihren chinesischen Texten mit den Textgegenständen auseinandersetzen. Demnach verfassen sie in Abhängigkeit von der verwendeten Sprache ganz unterschiedliche Texte. Es fallen jedoch auch deutliche Unterschiede zu den Texten der chinesischen Studienanfänger auf. Während es Kennzeichen vieler Texte der Studienanfänger ist, schrittweise die Erscheinungen zu durchdringen, begnügen sich viele fortgeschrittene Deutschlerner damit, die Charakteristika der Textgegenstände nur kurz zu benennen. <?page no="219"?> 16 Beschreiben, Erklären und Beurteilen In diesem Kapitel zum Teiltext „Einschätzung der Problemlage“ stehen Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen eines Sachverhalts im Mittelpunkt, von dem die Probanden durch Lektüre des Ausgangstextes informiert worden sind. Eine zentrale Hypothese von Y IN (1999) lautet, dass Sachverhalte in chinesischen Texten „stark normativ“ dargestellt würden, wodurch sich diese von deutschen Texten unterschieden. Diese Hypothese wird anhand des Datenmaterials geprüft, ebenso wie die Annahme einer spezi sch „chinesischen Kausalität“ von Y OUNG (1994) und die Annahme besonderer Verfahren der argumentativen Stützung von F ENG (1994). Bezugspunkt der Darstellungen im Teiltext „Einschätzung der Problemlage“ ist das Verhalten von Jugendlichen an einer Hamburger Schule, von deren Konsum- und Sozialverhalten der Ausgangstext berichtet. Weil die Texte im Korpus nicht nur auf die Vorgänge in Hamburg Bezug nehmen und diese nicht als singuläre sondern regelhafte Begebenheit interpretieren, differenziere ich nicht zwischen Beschreiben und Berichten (vgl. B RINKER 1997: 63-68) und bezeichne alle Textaussagen, die festhalten, wie sich Jugendliche verhalten, vereinfachend als Beschreibungen. Die Texte im Korpus stellen jedoch ein bestimmtes Verhalten nicht nur dar, sie deuten es auch. In vorliegender Untersuchung differenziere ich nicht zwischen Deutungen, die sich auf sinnhafte Ereignisse, und Erklärungen, die sich eigentlich auf sinnfreie Ereignisse beziehen (vgl. Abschnitt 5.5). Vereinfachend bezeichne ich alle Textaussagen, die festhalten, warum sich Jugendliche auf eine bestimmte Weise verhalten, als Erklärungen. Diese Aussagen bilden das Zentrum des sacherörternden Teils eines Textes. Das Verhalten der Jugendlichen wird in den Texten jedoch nicht nur erklärt, häu g wird es auch bewertet. Dies meint der von Y IN verwendete Terminus „normative Sachverhaltsdarstellung“. Bei diesen Beurteilungen wird keine Ergänzungsfrage beantwortet, sondern die Entscheidungsfrage, ob sich die Jugendlichen rechtschaffen verhalten. Zu den Beschreibungen, Erklärungen und Beurteilungen des aktuellen Verhaltens treten in vielen Texten im Korpus auch Beschreibungen des rechtmäßigen Verhaltens. Diese Aussagen stellen dar, wie sich Jugendliche verhalten sollen. Beurteilungen des Verhaltens von Jugendlichen führen in vielen Texten im Korpus zu einer Einschätzung der Handlungsnotwendigkeit. Diese Beurteilungen des Problemdrucks (vgl. K OPPERSCHMIDT 1989: 57) bilden häu g das Bindeglied der Teiltexte „Einschätzung der Problemlage“ und „Einschätzung der Handlung“. Eine Interpretation einer Aussage als Beschreibung, Erklärung oder Beurteilung ist häu g schwierig. Erstens bezieht sich ein Erklärendes immer auf ein zu Erklärendes (vgl. B RINKER 1997: 68f), ein Beurteilendes immer auf ein zu Beurteilendes, also auf einen Sachverhalt, der häu g bereits auf Satzebene bezeichnet und damit auch „beschrieben“ wird. Zweitens verbindet sich die informative Textfunktion häu g mit einer evaluativen Einstellung (vgl. B RINKER 1997: 106), in meinungsbetonten Darstellungen werden Sachverhalte daher nicht nur beschrieben sondern auch beurteilt. (6) Ich bin nicht der Meinung, dass es verwer ich ist, wenn sich Jugendliche Markenprodukte kaufen, sofern es ihre nanziellen Möglichkeiten erlauben. (7) Es handelt sich um ein natürliches menschliches Bedürfnis (T1-03.TXT.chin.). Meiner Interpretation zufolge wird in diesem Textausschnitt ein aktuelles Verhalten beschrieben, erklärt und beurteilt. Zur Beschreibung gehört, dass Jugendliche ungeachtet ihrer nanziellen Möglichkeiten Markenprodukte kaufen. Zur Erklärung gehört, dass es sich um ein natürliches Bedürfnis handelt. Gleichzeitig ist diese Erklärung Teil einer <?page no="220"?> 208 Beschreiben, Erklären und Beurteilen Beurteilung, weil die These vertreten wird, dass es grundsätzlich legitim ist, nach Markenprodukten zu verlangen, sofern es die nanziellen Möglichkeiten erlauben. Die gewählten Kategorien bieten sich vor allem an, um zu überprüfen, ob sich die vorliegenden Texte darauf beschränken, einen Sachverhalt wertfrei darzustellen, oder ob sie auch Werturteile fällen. Bei der Interpretation der Daten bleibt unberücksichtigt, auf welche sozialen Gruppen sich die Beschreibungen, Erklärungen und Beurteilungen beziehen. In Abhängigkeit von eigenen Problemkenntnissen und den jeweiligen Situierungen der Problemlage (vgl. Kapitel 14) setzen sich einige Texte generalisierend mit den Jugendlichen auseinander, andere Texte differenzieren zwischen Hauptschülern und Gymnasiasten, Kindern und Jugendlichen, etc. Wieder andere Texte beschreiben, erklären und beurteilen auch das persönliche Verhalten des Autors. Diese Differenzierungen bleiben unberücksichtigt. Nicht erfasst werden ferner Aussagen, die sich ausdrücklich auf eine andere soziale Gruppe, etwa die der Erwachsenen, beziehen. 16.1 Korpus FSU1.TXT.dt. Beschreibungen, Erklärungen und Beurteilungen (FSU1.TXT.dt.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 n=19 % BESCHREIBUNG des Verhaltens von Jugendlichen x x x x x x x x x x x x x x x x x x x 19 100 ERKLÄRUNG des Verhaltens von Jugendlichen x x x x x x x x x x x x x x x x x x x 19 100 BEURTEILUNG des Verhaltens von Jugendlichen x x x x x x 6 32 BESCHREIBUNG rechtmäßigen Verhaltens von Jugendlichen x x 2 10 APPELL, sich rechtschaffen zu verhalten - - BEURTEILUNG des Problemdrucks x x x x x x 6 32 Tabelle 16.1: Beschreibungen, Erklärungen und Beurteilungen FSU1.TXT.dt. Tabelle 16.1 zeigt, dass alle Texte der deutschen Studienanfänger das Verhalten der Jugendlichen beschreiben und erklären, es jedoch nur in etwa jedem dritten Text (32 %) beurteilen. Außerdem lassen sich nur in zwei Texten (10 %) Anmerkungen dazu nden, wie sich Jugendliche verhalten sollten. Schließlich zeigt die Tabelle, dass eine Einschätzung der Problemlage in sechs Texten in eine Beurteilung des Problemdrucks mündet. Beschreibungen und Erklärungen In keinem Text der deutschen Studienanfänger wird lediglich beschrieben, was der Fall ist. Das Verhalten der Jugendlichen wird immer auch gedeutet, um zu verstehen, warum sich an der Hamburger Schule die im Ausgangstext beschriebenen Kon ikte ereignet haben. Dem Ausgangstext werden bestimmte Informationen entnommen, regelhafte Zusammenhänge identi ziert und in Kategorien erklärt, die den Probanden als Wissen von Situationen zur Verfügung stehen (vgl. R EHBEIN 1977: 143). Häu g werden in den Texten Informationen aus dem Ausgangstext wiedergegeben: <?page no="221"?> 209 Beschreiben, Erklären und Beurteilen (7) Der Sachverhalt scheint eindeutig. An vielen deutschen Schulen haben Schüler die Beleidigungen oder gewalttätigen Ausschreitungen ihrer Altersgenossen zu ertragen. (8) Der Grund ist das Tragen von Markenklamotten - oder eben das Nichttragen dieser. (9) Die Jugendlichen beschimpfen sich mit Worten wie „Aldi-Kind“ oder „Sozialversager“ auf der einen Seite oder als „Bonzenkind“ auf der anderen (FSU1-13.TXT.dt.). Diese Beschreibung der Problemlage greift Informationen aus dem Ausgangstext auf. Im weiteren Verlauf des Textes wird dann unabhängig vom Ausgangstext eingeschätzt, wie die Lage eskalieren konnte: (10) Die jeweils Angegriffenen wehren sich, oder sie tun es nicht, dann erfahren sie oftmals die Gewalt der Beleidiger. Prügeleien sind darum nicht selten. Pullover werden zerrissen oder Erniedrigungen müssen ertragen werden. (11) Dabei dienen die Markenklamotten als Mittel zur Herstellung einer Rangordnung. Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht wird nach dem Äußeren festgelegt oder bewertet. Wer nicht die Jacke einer bekannten Firma trägt, wird als Versager eingestuft. (12) Die Jugendlichen haben dann die Möglichkeit, meist je nach Charakter, die Einschüchterungen und Beleidigungen zu ertragen oder als scheinbar einzigen Ausweg mit körperlicher Gewalt auf die seelische zu reagieren und die Frustrationen freizulassen und diesen Weg als Problemlösung anzusehen. (13) Lassen sie die Beschimpfungen über sich ergehen, dann beginnen sie sich „abzuducken“, zu verkriechen und die „unangenehmen“ Personen zu meiden. Sie entwickeln als Folge Angst vor der Schule, eigentlich vor den dort auf sie wartenden Kon ikten. (14) Die Mode beginnt für die Jugendlichen zum Hauptthema und -problem zu werden. [...] (16) Im schlimmsten Fall kann die Problemkette sich so weit entwickeln, dass die Kinder versuchen, sich selbst Geld zu verschaffen, um endlich dem Druck von außen zu entkommen. (17) In jedem Fall stellt der „Markenterror“ eine psychische Belastung für die Jugendlichen, die Eltern und auch die Schule dar, die oftmals den Hauptaustragungsort des Markenwettbewerbs darstellt (FSU1-13.TXT.dt.). Bei Darstellung der „Problemkette“ greift der Autor auf sein Vorwissen von psychologischen Zusammenhängen zurück und erklärt, wie Schulangst entstehen kann und Jugendliche delinquent werden können. Dann beurteilt er das Verhalten als „psychische Belastung“ für die Jugendlichen und die beteiligten Eltern und Lehrer. Im Text folgt nach der Einschätzung des Sozialverhaltens eine Darstellung des Konsumverhaltens: (19) Doch woher rührt das Problem eigentlich? (20) Wie schon erwähnt dienen die Marken zur Einordnung in soziale Schichten und Gruppen. Sie stellen ein Statussymbol dar. (21) Oftmals gerade sozial schwächere Familien und Personen, die im Beruf oder der Schule nicht durch gute Noten im Vordergrund stehen, versuchen sich selbst durch das Tragen von Markenklamotten aufzuwerten. (22) Die jeweiligen Hersteller der Kleidungsstücke tun ihr Bestes dazu, indem sie die Werbung besonders im Fernsehen gerade auf Jugendliche ausrichten und natürlich um Gewinn zu erwirtschaften auch weiter intensivieren. (23) Fast tagtäglich erscheinen Werbespots und suggerieren die gute Qualität mit ihrer Marke. In den Spots werden Jugendlichkeit, Fitness, Qualität ... vermittelt und mit dem jeweiligen Produkt in Verbindung gebracht. Wer dieses Produkt dann trägt, kann eben diese Eigenschaften auf sich beziehen, sich aufwerten. So glauben es jedenfalls viele Jugendliche. [...] (26) Nun stehen Schüler, Eltern und Schule vor einem Problem, das es zu lösen gilt (FSU1-13. TXT.dt.). Dieser Text kann als repräsentativ für Korpus FSU1.TXT.dt. gelten. Das Verhalten der Jugendlichen wird beschrieben und erklärt (im Textbeispiel wird das Verhalten sozial benachteiligter Jugendlicher als Kompensationsstrategie gedeutet), um den Problemdruck zu beurteilen („Schüler, Eltern und Lehrer stehen vor einem Problem, das es zu lösen gilt“) und nach Handlungsmöglichkeiten zu fragen. Mit den Erklärungen wird den Jugendlichen vor allem Verständnis entgegengebracht, ihr Verhalten wird gedeutet und kaum gewertet. <?page no="222"?> 210 Beschreiben, Erklären und Beurteilen Mit Blick auf die Texte der chinesischen Probanden, die weiter unten interpretiert werden, verdient in Korpus FSU1-TXT.dt. ein Text besondere Aufmerksamkeit, weil in einer Erklärung auf Platon verwiesen wird: (7) [...] Durch Abgrenzung von vielen entsteht eine Gemeinschaft mit wenigen sowie Stolz und Selbstvertrauen, was in diesem Alter am meisten gesucht wird. (8) Heute nennt man diesen Prozess Selbstentfaltung. Allerdings lässt er sich durch sämtliche Generationen bis hin zu den alten Griechen verfolgen. (Schon Platon erboste sich über die nichtsnutzige eigenwillige Jugend) (FSU1-14.TXT.dt.). Dieser Rückgriff auf Platon, der Verweis auf die „alten Griechen“, stellt in Korpus FSU1. TXT.dt. eine Ausnahme dar. Untypisch ist, sich in einer Erörterung auf Heroen der Geistesgeschichte zu beziehen. Auch ein anderer Text fällt aus dem Rahmen, weil er der Erörterung einer Sachfrage eine narrative Einleitung voranstellt: (1) Sabrina und ihre Mutter haben sich für diesen Nachmittag vorgenommen, gemeinsam in die Stadt zu gehen, da die Tochter einen neuen Winterpullover zu Weihnachen bekommen soll. (2) Die Vorstellungen der Mutter bezüglich dieses Vorhabens sind einfach: er soll schön warm halten und außerdem preislich erschwingbar sein. (3) Die dreizehnjährige Sabrina sieht das anders: warm halten - klar. Aber viel wichtiger ist es noch, daß dieses supercoole Miss-Sixty-Logo auf der Frontseite des Kleidungsstückes zu sehen ist; wie es die anderen Mädchen in ihrer Klasse auch haben. (4) Die nämlich tragen diesen Pullover und sind ständig im Vorteil, wenn es um die Toleranz der Lehrer oder um das Interesse der Jungen ihrer Klasse geht. (5) Mit diesen unterschiedlichen Vorstellungen bleibt das Chaos nicht aus (6) - als die Mutter den Preis des Pullovers sieht, zeigt sie totales Unverständnis und lehnt es ab, Sabrina diesen Pullover zu kaufen. (7) Wenn sie ihn sich so wünscht, so die Mutter, solle sie darauf sparen. (8) Doch das würde wohl noch einige Zeit dauern, sieht Sabrina gefrustet ein, (9) die beiden gehen zerstritten heim, und die Tochter muß ihren Traum auf Akzeptanz in der Klasse wohl noch einige Zeit verschieben ... (FSU1-09.TXT.dt.). Die kommunikative Funktion dieser Einleitung besteht darin, das Interesse des Lesers zu wecken, wie es deutsche Lehrwerke empfehlen (vgl. Abschnitt 7.4). Gleichzeitig wird die Brisanz des Themas unterstrichen. 48 Die Texte der deutschen Studienanfänger zeichnen sich also mehrheitlich durch eine sachliche Darstellung der Problemlage aus. Einige Texte bemühen sich jedoch um Anschaulichkeit und schildern einleitend Alltagsszenen, um das Interesse des Lesers zu wecken. Beurteilungen In sechs Texten der deutschen Studienanfänger (32 %) wird das Verhalten der Jugendlichen auch beurteilt. Diese Beurteilungen beantworten die Frage, ob sich die Jugendlichen angemessen verhalten. In drei dieser Beurteilungen wird den Jugendlichen zunächst Verständnis entgegengebracht und ihr Verhalten dann kritisiert. So sei der Wunsch, in einer Gruppe anerkannt zu werden, „fast allen Menschen gemeinsam“, „problematisch“ sei, dass sich eine Gruppe über eine andere erhebe (FSU1-05.TXT. dt.2425). Marken seien zwar ein wichtiger Bestandteil des Lebens, das Verlangen nach 48 Dies wird in einer anderen, ebenfalls narrativ entfalteten Einleitung deutlich: „Die vierte Stunde ist vorbei. Hofpause endlich! Ich, damals noch in der 7. Klasse an der Mittelschule „Wilhelm Ostwald“, suche gerade in meinem Ranzen nach dem Pausenbrot. Plötzlich kommt Ralf angelaufen. Er zieht meinen Pullover nach oben, lacht und pöbelt proletenhaft über die armselige Billigmarke meiner Jeans: „Real Blue, was soll das denn bitte sein? “ Gelächter, sie lachen über mich. Was soll’s, es ist Hofpause und ich will nur noch raus. (FSU1-19.TXT.dt.1-4). <?page no="223"?> 211 Beschreiben, Erklären und Beurteilen Marken würde von Jugendlichen jedoch „übertrieben“, was negative Folgen auf das „Sozialgefüge einer Schule“ hätte (FSU1-14.TXT.dt.27-28). Die Schulzeit könne durch den Markenterror „unerträglich“ werden (FSU1-18.TXT.dt.1). Das Verhalten führe zu einer „psychischen Belastung“ aller Beteiligten (FSU1-13.TXT.dt.17). Nur ein einziger Text ndet drastische Worte: (39) Dabei nde ich es absolut nicht wichtig, ob man nun Markensachen trägt oder nicht. (40) Gefallen muss es. (41) Es soll doch jedem selbst überlassen bleiben, wie viel Geld er für Klamotten ausgeben will und kann. (42) Jemanden beurteilen auf Grund seines Äußeren ist absolut daneben (FSU1-04.TXT.dt.). Beurteilt wird das Verhalten demnach in etwa jedem dritten Text, vorgetragen wird die Kritik meist in einem sehr moderaten Ton. Beschreibungen rechtmäßigen Verhaltens Ausdrücklich stellen nur zwei Texte (10 %) in knapper Form dar, wie sich Jugendliche verhalten sollten: (29) [An deutschen Schulen wurde penibel darauf Wert gelegt, ] ob die Schuhe mit der Hose und erst recht mit den der Schultasche zusammenpassen. (30) Nun muß man sich die Frage stellen, ob das wirklich notwendig ist. (31) Viel wichtiger ist es doch, miteinander lernen und spielen zu können ohne die Wertigkeit eines Menschen an der „Qualität“ (32) (was noch extra zu diskutieren wäre) oder Preisklasse seiner Kleidung festmachen zu wollen (FSU1-09.TXT.dt.). Der Text ist der einzige im Korpus, der detailliert ein musterhaftes Verhalten darstellt. Ein anderer fordert von den Jugendlichen nur knapp, keine „tiefgreifenden Urteile“ zu fällen (FSU1-17.TXT.dt.11). Häu g führen Beschreibungen, Erklärungen oder Beurteilungen zu einer Beurteilung des Problemdrucks. Eingeschätzt wird, ob es in Hamburg notwendig war, eine Maßnahme einzuleiten. Nur allzu verständlich sei, dass die Eltern „diesem Treiben nicht zusehen“ wollten (FSU1-18.TXT.dt.6). Schüler, Eltern und Schule standen „vor einem Problem, das es zu lösen“ galt (FSU1-13.TXT.dt.26). In Hamburg habe man zu „drastischen Mitteln“ greifen müssen (FSU1-10.TXT.dt.22). Drei Texte schätzen den Problemdruck unabhängig von der Situation in Hamburg ein: „Ich denke, dieser Druck wird in den nächsten Jahren enorm zunehmen“ (FSU1-06.TXT.dt.36). Wenn man nicht tolerant sei, könne es auch an anderen Schulen „zu einem ähnlichen Kon ikt“ wie in Hamburg kommen (FSU1-04.TXT.dt.38). Ein Text schätzt den Problemdruck an der eigenen Schule ein: „In der Schule, die ich besuchte, waren Markenprodukte kein Kon iktherd. Trotzdem wurde darüber beraten, Schulkleidung einzuführen, um das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken.“ (FSU1-11.TXT.dt.12-13). Zu den Texten der deutschen Studienanfänger lässt sich allgemein festhalten, dass sie alle das Verhalten der Jugendlichen deuten, nicht aber beurteilen. Ausdrücklich verurteilt wird das Verhalten der Jugendlichen kaum, die Studienanfänger bringen den Jugendlichen vielmehr Verständnis entgegen. <?page no="224"?> 212 Beschreiben, Erklären und Beurteilen 16.2 Korpus T1.TXT.chin. Beschreibungen, Erklärungen, Beurteilungen (T1.TXT.chin.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 n=20 % BESCHREIBUNG des Verhaltens von Jugendlichen x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x 20 100 ERKLÄRUNG des Verhaltens von Jugendlichen x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x 20 100 BEURTEILUNG des Verhaltens von Jugendlichen x x x x x x x x x x x x x x x x x x 18 90 BESCHREIBUNG rechtmäßigen Verhaltens von Jugendlichen x x x x x x x x x x x x 12 60 APPELL, sich rechtschaffen zu verhalten x x x x x 5 25 BEURTEILUNG des Problemdrucks x x x x x x 6 30 Tabelle 16.2: Beschreibungen, Erklärungen und Beurteilungen T1.TXT.chin. Wie in den Texten der deutschen Muttersprachler wird in allen Texten der chinesischen Studienanfänger (100 %) das Verhalten von Jugendlichen beschrieben und erklärt. Die Tabelle zeigt zweitens, dass das Verhalten in den meisten Texten dieser Probandengruppe (90 %) außerdem beurteilt wird. Drittens wird deutlich, dass es für die muttersprachlichen Texte der chinesischen Studienanfänger nicht nur charakteristisch ist, das Verhalten der Jugendlichen zu kritisieren, viele Texte (60 %) beschreiben außerdem rechtschaffenes Verhalten (60 %) und verbinden diese Beschreibung manchmal mit einem Appell, sich rechtschaffen zu verhalten (25 %). Beschreibungen und Erklärungen Bei den Beschreibungen des Verhaltens von Jugendlichen fällt in einigen Texten die Tendenz auf, das Verhalten der Jugendlichen dramatisch darzustellen. Drei besonders auffällige Beispiele möchte ich im Kontext zitieren. (1) In der heutigen Gesellschaft ist es von ausschlaggebender Bedeutung, Rang und Namen herauszustellen. (2) [Daher] werfen sich immer mehr Menschen vor prachtvollen, von den Marken erschaffenen Hüllen auf die Knie. (3) Diese törichte und leere Geisteshaltung greift von den so genannten besseren Kreisen langsam auf uns über. (4) Heutzutage, wo wir Jugendlichen blindlings der Mode nachjagen und lauthals über Modetrends reden, spricht nichts dagegen, den aufreizenden Schleier der Marken zu lüften und sich den Ladenschildern mit goldenen Lettern zu nähern, die von den Spuren der Zeit geprägt sind. [...] (15) Nun wollen wir uns wieder den hitzköp gen Jugendlichen auf den Boulevards zuwenden, deren Herzblatt die Marken sind. (16) Ihre Familien mögen wohlhabend sein, doch wie viele unter ihnen werden jene Wechselfälle und Reifungen wirklich verstehen, die sich hinter der mitreißenden Wirkung einer Marke verbergen? (17) Wie viele sind von der tiefen Bedeutung ihrer Themen innerlich erschüttert und gefesselt? (18) Es steht zu befürchten, dass sich unter all den Juwelen vor unseren Augen nicht einmal zehn Finger heben werden. (19) Ach, wie tragisch! Worin besteht noch ein Unterschied zu Herrn Nanguo, dem stummen Bläser im Bambusorchester? (T1-07.TXT.chin.). Dieser Beispieltext gibt keine sachsondern eine stark meinungsbetonte, evaluative Beschreibung des Geschehens. Jugendliche jagen Markenprodukten „blindlings“ nach, sie <?page no="225"?> 213 Beschreiben, Erklären und Beurteilen „werfen sich vor ihnen auf die Knie“, wodurch sie Herrn Nanguo gleichen, einer Figur aus der Überlieferung, der eigene Kenntnisse nur vortäuschte. Die dramatisierende Beschreibung kulminiert in einer direkten Gefühlsäußerung: „Ach wie tragisch! “ Den gesamten Text kennzeichnet ein betont archaisierender Stil unter Verwendung zahlreicher phraseologischer Wendungen und literarischer Anspielungen. Dass diese metaphernreiche Beschreibung der Problemlage keineswegs Kennzeichen eines Individualstils ist, zeigen andere Texte, etwa folgender, der die augenblickliche Situation ähnlich dramatisierend beschreibt. (11) Schon immer gab es auf dieser Welt Ungerechtigkeit, schon immer gab es eine arme und eine reiche Schicht. (12) Aber der rasante ökonomische Aufschwung vergrößerte den Gegensatz von arm und reich. (13) Daher konnten sich Leute mit Geld Markenprodukte leisten, ihre Kinder liebten es, in der Schule mit teurer Kleidung aufzufallen, um von anderen bewundert zu werden. (14) Allmählich wurden Markenprodukte nicht nur aus dem Verlangen nach Individualisierung gekauft, sie wurden zu einem Symbol für Ansehen, Geld und Status. (15) Daraufhin kauften die Reichen noch hemmungsloser Markenprodukte, und die Armen verlangten noch sehnsüchtiger nach ihnen. (16) So wurde der Wettstreit immer heftiger geführt, der unsägliche Zank unter den Schülern nahm immer mehr zu. Dies alles bildete einen Teufelskreis. (17) Solch ein fehlgeleitetes Verlangen nach Markenprodukten machte deren ursprüngliche Bedeutung zunichte. (18) Noch beängstigender ist, dass sich die Widersprüche zwischen den Schülern verschärften und dass sich eine bösartige Geschwulst in ihrem Geist bildete. (19) Die Jugendlichen achten nicht mehr auf ihre persönliche Kultivierung und ihren Charakter, sie erweitern nicht mehr ihren geistigen Horizont, weil sie davon ausgehen, dass man durch den Besitz von Markenprodukten Respekt, Anerkennung und Autorität erlangen kann ... (20) Die ober ächlichen Dinge rauben ihnen ihre gesunde Seele und behindern ihr Denken. (21) Sie werden sogar zu Straftaten verleitet, verkommen und stürzen unrettbar in einen tiefen Abgrund (T1-15.TXT.chin.). Dieser Beispieltext beginnt mit einer allgemeinen Aussage. Schon immer habe es auf der Welt soziale Unterschiede gegeben. Dann gewinnt der Text zunehmend an Dramatik, um den „Teufelskreis“ darzustellen, in den Jugendliche geraten können, bis dass sich in ihrem Geist eine „bösartige Geschwulst“ bildet. Den Jugendlichen ginge „ihre gesunde Seele“ verloren, „unrettbar“ seien sie in einen „tiefen Abgrund“ gestürzt. Auch ein dritter Beispieltext baut langsam Spannung auf, um das aktuelle Verhalten der Jugendlichen mit dramatischen Worten zu beschreiben. (15) Die Tage, in denen man um den Titel „Vorbildlicher Jugendlicher“ kämpfte, gehören längst der Vergangenheit an. (16) Solange Menschen leben, vergleichen sie sich, zumal in einer derart hitzigen Lebensphase. (17) Worin soll man sich nun vergleichen? Jugendliche werfen ihren Blick auf Dinge außerhalb des Körpers, auf die Kleidung. Sie vergleichen nicht nur Design, Farbe und Zusammenstellung, sondern auch Menge und Renommee der Marken, tragen heute französische, morgen amerikanische und übermorgen englische Marken. (18) Kleine Boutiquen, die herkömmliche Kleidung anboten, haben längst ihre Kunden verloren und ihre Tore geschlossen, Kälte und Trostlosigkeit verbleibt. (19) Der große Konkurrenzkampf wird hingegen immer ungestümer geführt, ungemein hitzig, bis dass der Geruch von Pulverdampf schließlich alles erfüllt. (20) Die Schüler vergessen wegen der Marken die Kameradschaft, sie bekämpfen sich nicht nur mit Mündern, sondern auch mit Händen und Füßen. (21) Oft gleichen sie wilden Tieren, die sich um Beute schlagen (T1-19.TXT.chin.). Dieser Beispieltext beginnt mit einem Rückblick auf die sozialistische Vergangenheit des Landes, als es noch Ziel war, den Titel „Vorbildlicher Jugendlicher“ zu erlangen. Nach der ökonomischen Öffnung des Landes änderte sich laut Darstellung des Textes die Situation, Jugendliche wetteiferten jetzt um Kleidung. Die Darstellung kulminiert in einem atmosphärischen Bild der Stadt: Dem allgegenwärtigen Kampf, dem „Pulverdampf“ der <?page no="226"?> 214 Beschreiben, Erklären und Beurteilen Konkurrenz seien kleine Boutiquen längst zum Opfer fallen. Nun wendet sich der Text wieder den Jugendlichen zu und vergleicht sie mit wilden Tieren, die sich um Beute schlagen. Derartige Vergleiche nden sich in vielen Texten der chinesischen Studienanfänger. 49 Diese Dramatik der Beschreibung, die zum Ausdruck gebrachten Gefühlsäußerungen sind in muttersprachlichen Lehrwerken vorgesehen (vgl. Abschnitt 8.4). Dort heißt es explizit, man könne in einem Yilunwen die zu erörternde Frage „aufbauschen“ (xuanran) (vgl. YW, KB 12.1, 196). 50 Eine generelle Tendenz, die Problemlage dramatisierend zu beschreiben, ist in den chinesischen Texten der Studienanfänger unübersehbar und auf Grundlage der Darstellungen in den muttersprachlichen Lehrwerken kommunikativ-funktional interpretierbar. Die affektive Ansprache dient in einem Yilunwen dazu, einen Leser zu bewegen (vgl. Abschnitt 6.3). Ein Text wirkt in diesem Sinne erst dann „überzeugend“, wenn er den Leser nicht nur rational sondern auch emotional anspricht. Gleichzeitig, so ist zu ergänzen, unterstreicht eine dramatisierende Beschreibung die Notwendigkeit, geeignete Maßnahmen einzuleiten. Auf ein bestimmtes Muster, eine Erklärung für das Verhalten der Jugendlichen zu geben, ist bereits im Zusammenhang mit der Darstellung einzelner Textgegenstände hingewiesen worden (vgl. Abschnitt 15.2). Das dort näher dargestellte Muster besteht aus einem Dreischritt, der mit der Betrachtung von zwei Textgegenständen beginnt und diese dann aufeinander bezieht. Nicht immer vollziehen die vorliegenden Texte diesen Dreischritt, jedoch kennzeichnet es auch anders aufgebaute Texte, dass in komplexen Erklärungen einzelne Textgegenstände getrennt voneinander beschrieben werden. (1) Die heutigen Jugendlichen sehnen sich fast alle nach Markenartikeln, denn in kostspieliger Markenkleidung scheint man das eigene Ansehen beträchtlich erhöhen zu können. (2) Unter den Jugendlichen ist Streitlust überaus stark ausgeprägt, so dass sich ein jeder erhofft, den anderen in jeglicher Hinsicht zu übertreffen. (3) Rivalität ist ein Charakteristikum der Jugendlichen. (4) Diese Neigung äußert sich u.a. bei der Arbeit, beim Lernen und im Leben. (5) Außerdem verehren Jugendliche immer einige Pop- und Filmstars, die bei ihren Auftritten immer prächtige und teure Kostüme tragen und meistens auch Werbebotschafter für berühmte Marken sind. (6) Hierdurch wird das Konkurrenzdenken der Jugendlichen, ohne dass diese es merken, auf ein Verlangen nach Markenprodukten gelenkt. (7) Diese Produkte avancieren immer mehr zu einem Merkmal für das jugendliche Streben nach Mode. (8) Für die meisten Jugendlichen scheint der Besitz von Markenartikeln ein Kapital darzustellen, mit dem man sich in Szene setzen kann. (9) Auf der anderen Seite sind die meisten Markenprodukte nicht preisgünstig und gelten daher bisweilen als Synonym von Reichtum. (10) Die Träger von Markenkleidung übermitteln ihrer Umgebung ausnahmslos die Nachricht: „Ich bin reich.“ (11) Die Streitlust, die ich oben erwähnt habe, entfaltet hier eine große Wirkung. (12) Der Wettstreit um Geld ist unter Jugendlichen eine unkontrollierbare Sitte, (13) jeder möchte schließlich reich werden. (14) Darüber 49 Jugendliche glichen einem „Schwarm wilder Enten“ (T1-06.TXT.chin.15-16), sie seien einem „tiefen Aberglauben an Markenprodukte verfallen, aus dem sie sich trotz aller Mühe nicht befreien können“ (T1-05.TXT.chin.21), der Markenkult habe „Saatkörner der Kriminalität“ ausgestreut (T1-18. TXT.chin.16). 50 Inwiefern und in welchem Maß chinesische Rezipienten durch bestimmte Texte emotional angesprochen werden, ist empirisch kaum fassbar. Daher wird in vorliegender Arbeit auf einen Versuch verzichtet, die affective appeals eines chinesischen Textes zu quanti zieren. L EHKER (1997: 137) entwickelt in Anlehnung an C ONNOR / L AUER (1985) Kategorien für die „affective appeals“ eines chinesischen Textes. Ihre Analyse eines Mustertextes der Textsorte Yilunwen kommt zu dem Ergebnis, dass „knapp 30% der Teilsätze“ eine affektive Ansprache des Rezipienten anstrebten (L EHKER 1997: 146). <?page no="227"?> 215 Beschreiben, Erklären und Beurteilen hinaus möchten die Jugendlichen andere wortlos auf ihren Reichtum aufmerksam machen. (15) So wurden Markenprodukte zum beliebtesten Sprachrohr (T1-16.TXT.chin.). Dieser Beispieltext gibt bereits im ersten Satz eine Erklärung. Jugendliche wollten mit Markenkleidung ihr Ansehen erhöhen. Dieser These folgen nähere, konzeptionelle Ausführungen zum Textgegenstand „Jugendliche“. In vielen Lebensbereichen zeige sich ihre Streitlust. Außerdem verehrten sie Pop- und Filmstars. Diese Charakteristika prädestinieren Jugendliche förmlich dazu, nach Markenprodukten verlangen, zumal ihre Vorbilder für bestimmte Marken werben. Der Textgegenstand „Markenprodukte“ wird ebenfalls zunächst für sich betrachtet. Diese seien „Synonym von Reichtum“. Aufgrund dieser inhärenten Eigenschaft wären Jugendlichen Markenprodukten zugetan. Ihre Streitlust könne durch das Prestige, das Markenprodukte vermitteln, große Wirkung entfalten. Nach einer dramatisierenden Beschreibung des Verhaltens der Jugendlichen schließt dieser Teiltext, indem er die eingangs genannte Erklärung aufgreift und präzisiert: Jugendliche trachten danach, ihr Ansehen dadurch zu erhöhen, dass sie mit Markenkleidung wortlos auf ihren Reichtum aufmerksam machen. In diesem Text folgt die Erklärung nicht wie in den meisten Texten der deutschen Muttersprachler einer ausführlichen Beschreibung der Problemlage. Vielmehr werden in der Erklärung bestimmte Aspekte der einzelnen Textgegenstände herausgearbeitet, um sie in ihrem Verhältnis darzustellen. Diese „chinesische Kausalität“ (vgl. Y OUNG 1994: 39f.) zeigt sich darin, dass in einem ersten, thematischen Teil bestimmte Aspekte der Textgegenstände als „Gründe“ (yinwei) analysiert werden, um dann zur Erklärung eines bestimmten Geschehens in einem rhematischen Teil als „Schlussfolgerung“ (suoyi) das Verhältnis der Textgegenstände zueinander darzustellen. Beurteilungen Vorliegende Arbeit untersucht nicht im Einzelnen, welche Motive in den Texten der Studienanfänger für das Sozial- und Konsumverhalten der Jugendlichen genannt werden. Auffälligerweise führen viele Texte der chinesischen Studienanfänger das im Ausgangstext beschriebene Verhalten der Jugendlichen auf einen alterstypischen Mangel an moralischer Integrität zurück: (11) Im Text heißt es, Hamburger Mittelschüler würden einander verhöhnen. (12) Das steht jedoch in keinem direkten Zusammenhang mit den Marken als vielmehr mit der moralischen Integrität eines Menschen. (13) Wenn jemand Markenkleidung trägt und Schimpfworte aus seinem Mund dringen, dann entspricht er in keiner Weise der Markenkleidung, die er trägt. (14) Markenkleidung kann nur sein Äußeres verschönern, nicht aber seine Seele (T1-03.TXT.chin.). Kennzeichen dieser und vergleichbarer Erklärungen 51 ist, dass nicht nur gefragt wird, warum die Jugendlichen das Bedürfnis haben, einander zu verhöhnen, warum sie das Bedürfnis haben zu prahlen. Das Verhalten der Jugendlichen ist in vielen Texten kein psychologisch oder soziologisch zu deutendes als vielmehr ein moralisch zu beurteilendes Problem. 51 Wie in diesem Text wird das Verhalten der Jugendlichen auch in anderen Texten vorrangig auf „mangelnde seelische Reife“ (T1-20.TXT.chin.20) zurückgeführt, auf ein „jugendliches Überheblichkeitsgefühl“ (T1-18.TXT.chin.3). Verantwortlich für den Markenterror sei „Prahlerei“ (T1-01. TXT.chin.10) und Eitelkeit (T1-05.TXT.chin.15, T1-17.TXT.chin.5). Jugendliche verlangten nach einem „Symbol für Ansehen, Geld und Status“ (T1-15.TXT.chin.14), „um den Reichtum der eigenen Familie zu zeigen und um sich selbstprahlerisch herauszustellen“ (T1-04.TXT.chin.7). <?page no="228"?> 216 Beschreiben, Erklären und Beurteilen Deutliche Wertungen des Verhaltens der Jugendlichen nden sich - im deutlichen Gegensatz zu den Texten der deutschen Vergleichsgruppe - in fast allen Texten (90 %) der chinesischen Studienanfänger. Einige Texte setzen allgemein an und beschreiben zunächst verschiedene Motive aller Konsumenten von Markenprodukten: (1) Marken kauft man aus vielerlei Motiven. Am typischsten sind wohl die beiden folgenden: (2) Man liebt eine bestimmte Marke, weil man einen bestimmten Stil mag. (3) Ein anderes liegt vor, wenn ich eine Marke seiner selbst willen unbedingt kaufen möchte. (4) Gegen das erste Motiv ist nichts einzuwenden. (5) Jeder Mensch nimmt eine andere ästhetische Perspektive ein, auch der Geschmack unterscheidet sich. (6) Bei Kleidung bevorzuge ich die vielen inländischen Marken, weil die Designer den Geschmack der chinesischen Mädchen stärker berücksichtigen, (7) anders als bei ausländischen Markenprodukten, die stärker den westlichen Geschmack beachten. (8) Bei Handys wiederum schätze ich Nokia, weil die Unternehmenskultur einen schwärmen lässt und ein exzellenter Kundenservice geboten wird. (9) Das zweite Motiv widerspricht dem „handelnden Nichthandeln“ Laozis. (10) Es handelt sich lediglich um ein Motiv blinder Konkurrenz und Prahlerei, als ob man anderen Menschen überlegen und imposanter wäre, sobald man sich Markenkleidung angelegt hat. (11) Dieses Motiv ist falsch, doch unter Jugendlichen weit verbreitet (T1-01.TXT.chin.). In diesem Text wird ein bestimmter Sachverhalt (Menschen kaufen Markenprodukte) zunächst erklärt (Menschen kaufen Markenprodukte aus Motiv A und Motiv B), um die einzelnen Motive dann zu beurteilen (Motiv A ist legitim, Motiv B ist nicht legitim). Diese Urteile werden dann argumentativ begründet. (Motiv A ist legitim, weil ...., Motiv B ist nicht legitim, weil ....) Auch im nächsten Beispieltext werden Argumente genannt, um ein Werturteil zu stützen. (11) Warum sollte man sich mit Marken „vergolden“? Das wäre lächerlich, und zwar aus drei Gründen: (12) 1. Nach Abschluss des Tauschgeschäfts sind Marken und Geld nicht mehr verbunden. [...] (17) 2. Menschen, die mit Marken prahlen, sind in Wahrheit ganz leer. [...] (31) 3. Das übermäßige Streben nach Markenkleidung ist Verschwendung und schafft übermäßige Abhängigkeit (T1-10.TXT.chin.). Diese Textbeispiele zeigen, dass das Verhalten der im Ausgangstext dargestellten Jugendlichen nicht nur beschrieben, erklärt und beurteilt wird, wie es in einer Sacherörterung geschieht. In diesen Texten wird bereits im Teiltext „Einschätzung der Problemlage“ argumentiert. Die chinesischen Probanden stellen sich eine Frage, die deutsche Probanden gar nicht aufwerfen: Verhalten sich die Jugendlichen rechtschaffen? Daher erörtern einige Texte der chinesischen Studienanfänger im Teiltext „Einschätzung der Problemlage“ neben einer Sachfrage (Warum verlangen Jugendliche nach Markenprodukten? ) überraschenderweise auch eine Geltungsfrage (Verhalten sich Jugendliche rechtschaffen? ). Beschreibungen rechtmäßigen Verhaltens und Appelle In den meisten Texten der chinesischen Studienanfänger wird das Verhalten der Jugendlichen nicht nur beurteilt, in 12 Texten (60 %) wird dargestellt, wie sich Jugendliche verhalten sollten. Dass diese Beschreibungen in den Texten häu g von zentraler Bedeutung sind, signalisieren bereits einige metakommunikative Äußerungen. 52 52 Vgl. auch T1-12.TXT.chin.39. <?page no="229"?> 217 Beschreiben, Erklären und Beurteilen (11) Oben habe ich mich mit Jugendlichen und Markenprodukten auseinandergesetzt. (12) Unten möchte ich meine Meinung äußern, wie sich Jugendliche gegenüber Markenprodukten verhalten sollten (T1-02.TXT.chin.). Häu g wird in großer Ausführlichkeit dargestellt, wie sich Jugendlichen gemäß tradierter Normen und Werte verhalten sollten: (6) Ich bin nicht der Meinung, dass es verwer ich ist, wenn sich Jugendliche Markenprodukte kaufen, sofern es ihre nanziellen Möglichkeiten erlauben. (7) Es handelt sich um ein natürliches menschliches Bedürfnis. (8) Doch wenn sie entgegen ihrer nanziellen Möglichkeiten unbeirrt nach Marken begehren, dann ist ihr Verhalten den Eltern gegenüber unverzeihlich. (9) Schließlich haben wir kein festes Einkommen und erhalten unseren Lebensunterhalt noch von den Eltern. (10) Das von den Eltern im Schweiße ihres Angesichts hart erarbeitete Geld darf keinesfalls leichtfertig zur Befriedigung unserer Eitelkeit vergeudet werden (T1-03.TXT.chin.). Die Erörterung einer Geltungsfrage (Ist es verwer ich, Markenprodukte zu kaufen? ) führt zu zwei Thesen. Die zweite These (Es ist verwer ich, Markenprodukte zu kaufen, wenn man nicht über die nötige Kaufkraft verfügt) wird mit dem Argument begründet, dass ein solches Verhalten den Eltern gegenüber „unverzeihlich“ sei. Dann wird ausgeführt, wie sich Jugendliche verhalten sollten: Sie dürften das hart erarbeitete Geld der Eltern nicht leichtfertig ausgeben. Auch im nächsten Textbeispiel wird an die P ichten der Jugendlichen erinnert: (15) Die Schüler setzen [...] beim Streben nach Marken zu viel Energie ein. (16) Das führt unwillkürlich zu einer Vernachlässigung des Strebens nach geistiger Bildung und Abhärtung. (17) Der Begriff xuesheng [Schüler] beginnt mit xue [lernen], deshalb sollte ein Schüler das Lernen in den Vordergrund stellen, denn „ohne Lernen erweitern sich die Kenntnisse nicht“. (18) Erst Kenntnisse und Fähigkeiten ermöglichen die Schaffung einer noch schöneren Zukunft (T1-17.TXT.chin.). Dass sich Schüler ihrer Bestimmung nach auf das Lernen konzentrieren sollten, wird als Stützung dem Argument angefügt, dass Schüler beim Streben nach Markenkleidung zu viel Energie einsetzen. 53 In fünf Texten (25 %) wird die Beschreibung des rechtmäßigen Verhaltens mit einem Appell an die Jugendlichen verbunden: (39) Das ist mein Verständnis der Frage „Wie sollten Jugendliche Markenprodukte betrachten? “. (40) Mein Standpunkt ist eindeutig: Stellen wir die Markenkleidung in unseren Dienst, anstatt dass wir Sklaven der Marken werden. (41) Im Rahmen unserer nanziellen Möglichkeiten dürfen wir durchaus einige Markenprodukte zu einem angemessenen Preis erwerben, um das Leben ein wenig aufregender und farbenfroher zu machen. (42) Keinesfalls sollten wir jedoch vor den Marken auf die Knie fallen und unsere Augen vom Blendwerk der „Marke“ trüben lassen. (43) Dies signalisiert die Gefahr, sich selbst zu verlieren. (44) Denkt daran: Kleidung ist nur äußerer Schmuck, doch die Erscheinung kann niemals die Aura des Wesens verdecken. (45) [Ich] hoffe, dass das Leben durch weitere Überraschungen noch herrlicher wird! (46) Geht euren eigenen Weg, Freunde! (T1-12.TXT.chin.). Die Autorin identi ziert sich zunächst mit den Jugendlichen („wir“), um sich dann direkt an Mitglieder dieser Gruppe zu wenden („Denkt daran“) und sie zu tugendhaftem Verhalten aufzufordern: „Geht euren Weg, Freunde! “ In den genannten Texten wird beschrieben, wie sich Jugendliche verhalten sollen. Zwei Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein vorbildliches Verhalten nicht nur fordern, sie verweisen auf berühmte Persönlichkeiten, die sich Ruhm durch vorbildhaftes Verhalten erworben haben. 53 Vgl. auch T1-13.TXT.chin.11-15. Auch in diesem Text werden kollektive Gewissheiten zur Stützung eines Arguments angeführt, woraufhin dargelegt wird, wie sich Jugendliche verhalten sollten. <?page no="230"?> 218 Beschreiben, Erklären und Beurteilen (12) Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Menschen keinen unsterblichen Ruhm genießen, weil sie prachtvoll gekleidet waren. (13) Das Gegenteil ist der Fall: Wir sollten ausnahmslos jene achten, die über Begabung verfügten und einen Beitrag für die Menschheit geleistet haben. (14) Bevor Einstein berühmt geworden war, achtete er nicht auf seine Kleidung. Als man ihn fragte, warum er immer einen so schäbigen Mantel trage, antwortete er: „Wer kennt mich denn schon? “ (15) Nachdem er berühmt geworden war, antwortete dieser Gigant der Wissenschaft auf die gleiche Frage mild lächelnd: „Wer kennt mich jetzt nicht, weil ich einen schäbigen Mantel trage? “ (16) Dies zeigt, dass ein Mensch niemals verehrt wird, nur weil er prachtvolle Kleidung trägt. (17) Wer begabt ist, wird nicht verachtet, auch wenn er keinen Wert auf Kleidung legt. (18) Im Gegenteil enthüllt übermäßiger Schmuck nur die Ober ächlichkeit eines Menschen (T1-08.TXT.chin.). Dieser Textausschnitt beginnt mit der Forderung, nur jene Menschen zu achten, die einen Beitrag für die Menschheit geleistet haben. Diese Forderung wird illustriert durch eine Beschreibung des untadligen Verhaltens Einsteins, um daraufhin die einleitende Forderung aufzugreifen. Auch T1-10.TXT.chin. beruft sich auf Einstein, um durch Schilderung dessen Verhaltens etwas „zu zeigen“: (17) Menschen, die mit Marken prahlen, sind in Wahrheit ganz leer. Warum kann man das behaupten? (18) Die Lebensleistung des berühmten Wissenschaftlers Einstein ist überragend (19), jedoch erschien er auf vornehmen Empfängen in Tennisschuhen und Arbeitskleidung. (20) Der Tadel der Anwesenden machte ihm nichts aus. (21) Wie heißt es doch im Volksmund: „Mit Gedichtbänden im Bauch glänzt jeder Auftritt.“ (22) Nur wenn du innerlich reich und charmant bist, werden die Menschen hinter deine alltägliche Kleidung blicken, dein wahres Selbst entdecken und deinem persönlichen Charme erliegen. (23) Umgekehrt werden Menschen, die es nur verstehen, sich mit Geld zu dekorieren, um ihr Ansehen zu erhöhen, bei näherem Kontakt Antipathie hervorrufen. (24) Denn man wird den Eindruck gewinnen: „Dieser Mensch ist nichts weiter als ein in Marken gehüllter Trottel“. (25) Oder wie es ein bekannter Spruch ausdrückt: „Außen Gold und Jade, innen wertlose Watte“ (T1-10.TXT.chin.). Auch hier wird eine These (Menschen, die prahlen, sind innerlich leer) durch die Schilderung des vorbildlichen Verhaltens Einsteins gestützt. Zusätzlich wird diese These im Anschluss an die Schilderung durch kollektiv verankerte Gewissheiten abgesichert (wie heißt es doch im Volksmund). In den Texten der chinesischen Studienanfänger wird nicht nur auf Heroen der Wissenschaft verwiesen. Ein Text rühmt ausgerechnet Pierre Cardin für seine Bescheidenheit: (23) Kleidung dient dem Schutz vor Kälte und dem Wohlbe nden. (24) Wenn sie sich dazu eignet, dann ist sie gut. Daher ist das Verlangen nach Marken und der Wettstreit wirklich unnötig. (25) Ist der Begründer der Weltmarke Pierre Cardin nicht einmal ein Schneider gewesen? (26) Ist es kein auffälliger Kontrast, dass er bis heute nur ganz einfache und normale Kleidung trägt? (T1-04.TXT.chin.). Die Ironie des Textes beruht darauf, dass Pierre Cardin, der Schöpfer teurer Markenmode, als moralische Instanz angeführt wird. Durch sein persönliches Verhalten habe er selbst gezeigt, wie unwichtig Markenkleidung eigentlich ist. Festhalten lässt sich, dass die Texte der chinesischen Studienanfänger mehrheitlich dazu tendieren, das im Ausgangstext dargestellte Verhalten der Jugendlichen zu beurteilen. Sie bringen den Jugendlichen nicht nur Verständnis entgegen, indem sie ihr Verhalten deuten. Einige Texte diskutieren ausführlich die Frage, ob sich die Jugendlichen rechtmäßig verhalten. Besonders auffällig sind narrative Sequenzen, die das vorbildliche Verhalten berühmter Persönlichkeiten schildern, um die eigene Argumentation zu stützen. Vielfach werden die Jugendlichen auch mit Appellen aufgefordert, sich rechtschaffen zu verhalten. <?page no="231"?> 219 Beschreiben, Erklären und Beurteilen 16.3 Korpus T4.TXT.int. Beschreibungen, Erklärungen und Beurteilungen (T4.TXT.int.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 n=15 % BESCHREIBUNG des Verhaltens von Jugendlichen x x x x x x x x x x x x x 13 87 ERKLÄRUNG des Verhaltens von Jugendlichen x x x x x x x x x x x x x 13 87 BEURTEILUNG des Verhaltens von Jugendlichen x x x x x x x x x x x 11 73 BESCHREIBUNG rechtmäßigen Verhaltens von Jugendlichen x x x x x 5 33 APPELL, sich rechtschaffen zu verhalten x x 2 13 BEURTEILUNG des Problemdrucks x x x x x 5 33 Tabelle 16.3: Beschreibungen, Erklärungen und Beurteilungen T4.TXT.int. Der Tabelle 16.3 lässt sich erstens entnehmen, dass zwei Interimstexte (T4-01.TXT.int.; T4-08.TXT.int.) das Verhalten der Jugendlichen gar nicht erörtern, da sie sich auf eine Diskussion der Maßnahme beschränken. Alle verbleibenden dreizehn Texte (87 %) beschreiben und erklären das Verhalten der Jugendlichen nicht nur, sie beurteilen es auch mehrheitlich (73 %). Jeder dritte Text (33 %) stellt dar, wie sich Jugendliche verhalten sollen, Appelle, sich rechtschaffen zu verhalten, sprechen nur zwei Texte (13 %) aus. Fünf Texte (33 %) beurteilen schließlich den Problemdruck. Beschreibungen und Erklärungen Beschreibungen, Erklärungen und Beurteilungen des Verhaltens von Jugendlichen beanspruchen in den Texten der chinesischen Deutschlerner einen relativ geringen Raum, was auf die geringe Gewichtung des Teiltextes „Einschätzung der Problemlage“ zurückzuführen ist (vgl. Abschnitt 12.3). In vielen Texten wird nur kurz auf die Situation in Hamburg hingewiesen, häu g in enger Anlehnung an entsprechende Passagen im Ausgangstext: (1) Es gibt jetzt in den deutschen Schulen einen Markenterror. (2) Viele arme Schüler werden oft von ihren Mitschülern beschimpft, weil sie sich teure Klamotten nicht leisten können. Sie werden „Aldi-Kind“, „Altkleidersammler“ und „Sozialversager“ genannt. (3) Umgekehrt werden reiche Schüler als „Bonzenkind“ beschimpft. (4) Es führt oft zu Prügeleien (T4-12.TXT.int.). Auch Beschreibungen, die sich weniger stark am Ausgangstext orientieren, übernehmen die dortige Darstellung: Markenprodukte seien ein Statussymbol, sozial schwache Schüler fühlten sich unterlegen (vgl. T4-02.TXT.int.5-8; T4-15.TXT.int.4-8). Auffällig ist, dass einige Beschreibungen, die sich vom Ausgangstext lösen, an Dramatik gewinnen: (10) Auf dem Campus tragen die Studenten, besonders die aus armen Familien einen großen Druck. (11) „Aldi-Kind“. „Altkleidersammler“ und „Sozialversager“, diese Begriffe beleidigen sie bestimmt. (12) Was können sie tun? Sie müssen etwas verschwenden, ja sogar aufgeben. (13) Dann was und wo? Das Geld für Lebensmittel und die Zeit für das Studium ist den meisten die Antwort. (14) Wahrscheinlich spielen die Markenprodukte bei der Verlängerung des Studiums auch eine bedeutende Rolle? (15) Die Studenten sind noch zu jung, daß sie sich nicht gut beherrschen können (T4-09.TXT.int.). Die Konsequenzen des Markenterrors werden - wie implizit bereits im obigen Text - besonders dann dramatisiert, wenn die Situation in China dargestellt wird: <?page no="232"?> 220 Beschreiben, Erklären und Beurteilen (3) Leider ist dieses Phänomen auch üblich in China. (4) Nur Kinder aus einer reichen Familie können sich Markenprodukte leisten (5) Was sie den anderen zeigen möchten, ist nicht die schulische Leistung, sondern sind die Schuhe, die sie tragen. (6) Das führt dazu, dass die armen Kinder sich anderen unterlegen fühlen, (7) oder manchmal auch, dass die armen Eltern unter Hunger leiden, um ihren Kindern ein T-Shirt von Adidas zu kaufen (T4-03.TXT.int.). Auch andere Texte greifen die Darstellung des Ausgangstextes auf und dramatisieren sie. Die Jugendlichen würden ihre Eltern „belästigen“, der Kauf von Markenkleidung sei „eine große Verschwendung von Geld“ (T4-13.TXT.int.12-13) etc. In diesen, aber nicht in allen Beschreibungen im Korpus erfolgt wie in vielen Texten der chinesischen Studienanfänger eine „Aufbauschung“ des Problems. Bei den Erklärungen fällt erneut das Muster auf, vom Textgegenstand auszugehen, bestimmte Aspekte herauszuarbeiten, um dann einen Sachverhalt erklären zu können: (4) Es ist nicht anzufechten, dass Markenprodukte wirklich ihren eigenen Charme haben. (5) Sie symbolisieren einen höheren Status und die Bedeutung der Besitzer. (6) Dies sind eben anziehungsvoll für die Jugendlichen, weil sie noch nicht viel erlebt haben, neugierig auf die Welt sind und von der Gesellschaft anerkannt werden wollen. (7) In ihren Augen sind Markenprodukte das Zeichen der Persönlichkeiten, die ihre Vorbilder sind, deshalb lässt ihr Interesse daran nicht einmal nach (T4-10.TXT.int.). Während dieser Text einem „chinesischen“ Muster folgt, ist ein anderer Text nach einem „deutschem“ Muster aufgebaut: (8) Aber was ist die Ursache für den Kult um Markenprodukte von Jugendlichen? (9) Erstens sind die Hersteller schuld. (10) Sie werben für die Marken statt für die Produkte selbst. (11) Es wird immer gesagt, „wer keine Schuhe mit dieser Marke trägt, ist lange out-of-date“. (12) Schüler sind leicht zu beein ussen. (13) Zweitens kommt diese Diskriminierung nicht nur in den Schulen sondern auch unter Erwachsenen vor. (14) Das Zeichen auf dem Anzug ist fast so wichtig wie der Doktortitel. (15) Ein Unterschied dazwischen ist, den Doktortitel kann man erst auf der Visitenkarte sehen, während man die Marke auf dem ersten Blick sieht. [...] (17) Drittens ist die Kluft zwischen den Armen und den Reichen ein entscheidender Faktor. (18) Vor 30 Jahren war der Lebensstandard fast egalitär. (19) Jetzt sind manche viel reicher, die „natürlich“ eine Clique bilden (T4-03.TXT.int.; D. S.). Dieser Text zählt systematisch verschiedene Gründe für das Fehlverhalten der Jugendlichen auf, deutliche Parallelen bestehen zu einigen Texten der deutscher Studienanfänger (vgl. FSU1-04.TXTdt.; FSU1-05.TXT.dt.; FSU1-13.TXT.dt.). Beurteilungen In den Interimstexten wird das Verhalten der Jugendlichen mehrheitlich nicht nur beschrieben und erklärt, sondern auch beurteilt (73 %). Hierbei zeigt sich auf der syntaktischen Ebene, dass die topic-comment-Struktur des Chinesischen (vgl. L I / T HOMPSON 1981: 15) häu g ins Deutsche übertragen wird. Beurteilungen werden dann als eigenständige, nachgeordnete Sätze realisiert: (13) [...] Allmählich beurteilen sie [= die Jugendlichen] ihre Mitschüler nur nach der Kleidung. (14) Das ist meiner Meinung nach sehr furchtbar. (15) Der Weltanschauung von Kindern und Jugendlichen ist noch nicht gut entwickelt, manchmal wissen sie nicht, ob es notwendig ist, teure Kleidung zu kaufen und warum sie diese kaufen möchten. (16) Sie wollen ein Markenprodukt besitzen, weil ihr Mitschüler ein solches Produkt hat. Das ist sehr komisch (T4-13.TXT.int.). Syntaktisch werden in diesem Interimstext rhematische Beurteilungen („Das ist sehr komisch“) einer Situationsbeschreibung angefügt, anstatt Beurteilung voranzustellen, wie <?page no="233"?> 221 Beschreiben, Erklären und Beurteilen es im Deutschen üblich ist („Es ist komisch, dass …“). Inhaltlich fällt die Drastik der Formulierungen auf. Das Verhalten der Jugendlichen sei „sehr komisch“ und „sehr furchtbar“. Ähnliche Formulierungen nden sich in zwei anderen Texten: Jugendliche hätten eine „furchtbare Idee in ihrem Kopf“ (T4-10.TXT.int.13), es sei „sehr furchtbar“, dass Selbstbewusstsein zu verlieren (T4-02.TXT.int.11). Die Urteile in den anderen Texten fallen deutlich moderater aus: Das Konkurrenzdenken sei eine „unangenehme Tendenz“ (T4-05.TXT.int.16), Verspottungen seien „nicht gut“ für die Entwicklung einer richtigen Weltanschauung (T4-15.TXT.int.9), das Problem sei „nicht so schlimm“, nur in letzter Zeit „schlimmer“ geworden (T4-07.TXT.int.2-4). Bis auf die genannten drei drastischen Urteile nden sich in Korpus T4-TXT.int. also meist verhaltene Urteile. Ein einziger Text bemüht sich um den Nachweis, dass es gerechtfertigt ist, Markenprodukte zu kaufen. Die Autorin legitimiert ihr eigenes Konsumverhalten. (1) Bei den Jugendlichen sind die Markenprodukte beliebt. (2) Vielleicht kann ich das nicht so sagen, weil ich nicht weiß, was die anderen meinen. Aber für mich selbst ist es so. (3) Mein Kugelschreiber ist Pilot - aus Japan, mein Handy ist Motorola, ich esse gern bei KFC, usw. (4) Meiner Meinung nach ist die Qualität von Markenprodukte besonders gut. (5) Deshalb haben sie eine Anziehungskraft auf mich. (6) Aber das heißt nicht, daß alles von mir eine berühmte Marke hat. Manchmal kaufe ich auch Produkte ohne Marke, also, das ist unmöglich, sondern die Marke habe ich vorher nicht gehört, oder selten. (7) Das ist mein eigener Wille. Die anderen brauchen nicht Kritik an meiner Entscheidung zu üben. (8) Außerdem glaube ich nicht, daß es zur Konkurrenz führt, wenn so viele Jugendliche die Markenprodukte mögen. (9) Jeder hat das Recht, etwas auszuwählen, das er mag. (10) Wenn jemand sich nicht für die Markenprodukte interessiert, kann ich auch ein gutes Verhältnis mit ihm haben. (11) Die Freundschaft hat gar nichts mit den Markenprodukten zu tun. (12) Und das Vorurteil, daß man viel Wert auf Geld legt, wenn man Markenprodukte mag, ist ziemlich falsch. (13) Im Gegensatz dazu ist das Geld für solche Menschen nur ein Mittel, damit sie sich etwas leisten können, das sie mögen. (14) Ich habe noch etwas zu ergänzen, es gibt auch ältere Menschen, bei denen die Markenprodukte beliebt sind. (15) Vielleicht können die Jugendlichen etwas Neues schnell akzeptieren, aber sie haben daran keine Schuld. (16) Markenprodukte sind keine Geister, bitte [habt] keine Angst davor! (T4-06.TXT.int.). Nicht die Frage, warum Jugendliche Markenprodukte kaufen, wird in diesem Text erörtert. Dargelegt wird, dass das Konsumverhalten der Jugendlichen legitim ist. Wie im oben diskutierten Text fühlt sich die Autorin durch die Darstellung im Ausgangstext persönlich angesprochen und verteidigt ihr Recht, Markenprodukte zu kaufen: „Das ist mein eigener Wille. Die anderen brauchen nicht Kritik an meiner Entscheidung zu üben.“ Symptomatisch ist, dass im Zentrum der Teiltextes „Einschätzung der Problemlage“ keine Sachsondern eine Entscheidungsfrage steht. Beschreibungen rechtmäßigen Verhaltens Relativ wenige Interimstexte Texte (33 %) stellen ein rechtmäßiges Verhalten dar. Ein Text hält kurz fest, Jugendliche sollten nicht mit Markenprodukten „ihre Fähigkeiten und ihren Wert zeigen“ (T4-10.TXT.int.8). Ein anderer Text gibt die Einschätzung der Eltern wieder: „Die wichtigste Aufgabe eines Schülers ist Lernen! “ (T4-14.TXT.int.9). Im Korpus nden sich nur zwei längere Beschreibungen eines rechtmäßigen Verhaltens: (19) Jugendliche be nden sich noch in der Phase, eine richtige Weltanschauung zu bilden und sie sollen inzwischen eine gute Grundlage für ihr späteres Leben legen. (20) Das heißt, sie sollen eine geeignete Karriererichtung nden und vieles lernen. (21) Sonst könnten sie auf Schwierigkeiten im späteren Leben treffen (T4-05.TXT.int.). <?page no="234"?> 222 Beschreiben, Erklären und Beurteilen (13) Die Schüler sollen nicht wegen ihrer Bekleidung unterschätzt oder überschätzt werden. (14) Wenn sie zu viel Zeit für die Markenprodukte verschwenden, können sie nicht mehr gut lernen. (15) Und sie müssen lernen, nicht nach dem Aussehen oder der Bekleidung andere Menschen zu beurteilen. (16) Der Markenterror bedroht nicht nur ihre Leistungen, sondern auch ihre Tugend (T4-11.TXT.int.). Dass nur in zwei Texten dieser Probandengruppe dargestellt wird, wie sich Jugendliche verhalten sollen, ist ein deutlicher Unterschied zu den muttersprachlichen Texten der chinesischen Studienanfänger. Ein weiterer besteht darin, dass in den Interimstexten kaum Handlungsanweisungen gegeben werden, bis auf folgende Ausnahmen: (12) Meiner Meinung nach spielt die Marke [eine] kleine Rolle für Kleider. (13) Es gibt so viele billige Kleider, die auch sehr cool und schön sind und gute Qualitäten haben. (14) Ein englisches Sprichwort ist: You go your way, I go mine. (15) Wir Chinesen sagen auch oft: “Geh ruhig deines Weges und lass die anderen spinnen.“ (16) so ist es (T4-12.TXT.int.). (36) Ich schlage vor, Jugendliche brauchen sich nicht zu viel darauf [= auf die Mode] zu konzentrieren, aber sie können das auch nicht vernachlässigen, weil das auch ein Teil ihres Lebens ist. (37) Wir sollen uns bemühen, ein schönes Leben zu führen (T4-05.TXT.int.). Erwähnenswert ist schließlich, dass in den Interimstexten jene Textsequenzen fehlen, die in den Texten der Studienanfänger besonders fremd wirkten: Beschreibungen des tugendhaften Verhaltens berühmter Persönlichkeiten wie Albert Einstein oder Pierre Cardin. 16.4 Korpus T4.TXT.chin. Beschreibungen, Erklärungen und Beurteilungen (T4.TXT.chin.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 n=15 % BESCHREIBUNG des Verhaltens von Jugendlichen x x x x x x x x x x x x x x x 15 100 ERKLÄRUNG des Verhaltens von Jugendlichen x x x x x x x x x x x x x 13 87 BEURTEILUNG des Verhaltens von Jugendlichen x x x x x x x x x x x 11 73 BESCHREIBUNG rechtmäßigen Verhaltens von Jugendlichen x x x x x 5 33 APPELL, sich rechtschaffen zu verhalten x x 2 13 BEURTEILUNG des Problemdrucks x x x x 4 27 Tabelle 16.4: Beschreibungen, Erklärungen und Beurteilungen T4.TXT.chin. Tabelle 16.4 zeigt, dass alle fortgeschrittenen Deutschlerner in ihren muttersprachlichen Texten das Verhalten von Jugendlichen beschreiben (100 %), es größtenteils auch erklären (87 %) und beurteilen (73 %). Weit seltener (33 %) wird dargestellt, wie sich Jugendliche verhalten sollen, appelliert wird kaum (13 %). Der Problemdruck wird in vier Texten (27 %) eingeschätzt. Beschreibungen und Erklärungen Anders als in ihren Interimstexten beschreiben die fortgeschrittenen Deutschlerner die Problemlage in ihren chinesischen Texten weitgehend unabhängig vom Ausgangstext. <?page no="235"?> 223 Beschreiben, Erklären und Beurteilen Auf die Situation in Hamburg wird in keinem Text ausführlich eingegangen, die Texte begnügen sich meist mit knappen Hinweisen, etwa einem Verweis auf die Überschrift: „Der Markenkult greift an deutschen Schulen immer stärker um sich.“ (T4-02.TXT. chin.1). Auffällig sind vor allem die großen stilistischen Unterschiede zwischen den Texten im muttersprachlichen Korpus dieser Probandengruppe. Zwei Texte verwenden einen dramatisierenden, metaphernreichen Stil, um die Situation zu beschreiben, was folgender Textauszug zeigt: (12) Die bizarre, bunt schillernde Gesellschaft darf nicht in die Schule, diesen letzten Hort der Reinheit dringen und die Quelle verschmutzen, die Talente für die Gesellschaft bereithält. (13) Der Markenkult ist Ausdruck dieser Invasion, (14) die Kinder lernen ohne Interesse, weder Noten noch Kenntnisse spielen für sie eine zentrale Rolle. (15) Ihr Blick verweilt ständig auf der Kleidung ihrer Mitschüler, ihre Gedanken kreisen ständig um die eigene Aufmachung, täglich zermartern sie ihren Kopf mit Gedanken an die schickste Kleidung. (16) Sobald sie feststellen, dass ein Mitschüler schäbige Kleidung trägt, verspotten sie ihn nach Kräften. (17) Mit der Zeit werden sie zu Gefangenen der Marke. (18) Noch bedenklicher ist, dass immer mehr Menschen in diesen sonderbaren Kreis, in diesen Strudel geraten und sich selbst nicht mehr herauswinden können (T4-11.TXT.chin.). Dieser Text ähnelt Texten der chinesischen Studienanfänger, die das Problem „aufbauschen“. Obwohl sich auch ein weiterer Text in Korpus T4.TXT.chin. einer dramatisierenden Schreibweise bedient (vgl. T4-09.TXT.chin.14-18), kann für die Mehrzahl der Texte gelten, dass sie auf die Situation einen eher sachlichen, distanzierten Blick werfen. So liest sich T4-01.TXT.chin. wie eine populärwissenschaftliche Abhandlung über das Verbraucherverhalten in der Volksrepublik China: (1) Die Jugend verlangt nicht nur nach Markenprodukten, weil sie deren Funktionalität zufrieden stellt. (2) Immer wichtiger wird es, dass ein Produkt über seine Funktion hinaus die Sinne, die Stimmungen und Gefühle der Jugend anspricht. (3) Markenkonsum ist zu einer Mode geworden: (4) Eine Umfrage unter 50.000 Konsumenten in 20 Städten Chinas zeigt, dass die Zahl der Menschen, die sich mit Marken identi zieren, in den vergangenen Jahren kontinuierlich angewachsen ist, direkt proportional zum Bildungsstand. (5) Dass die Empfänger von Informationen immer jünger werden, ist ein irreversibler Trend. (6) Weitere Trends im konsumtiven Bereich werden sich durchsetzen, etwa die Orientierung an einem Massenpublikum, die Individualisierung der Nachfrage und die Beachtung psychologischer Erkenntnisse (T4-01.TXT.chin.). Dieser Text bemüht sich um eine objektive Darstellung, beruft sich auf Ergebnisse der Demoskopie, nennt Zahlen und Fakten. Diese betont sachliche Schreibweise wirkt wie ein Gegenentwurf zu der betont emotionalen Schreibweise des ersten Beispieltextes. Bei den Erklärungen ist in vielen Texten der Versuch unverkennbar, verschiedene Gründe für den Markenterror aufzulisten: (1) Der Markenkult greift an deutschen Schulen immer stärker um sich. (2) In China herrscht ein ganz ähnlicher Zustand, viele Kinder und Jugendliche streben nämlich übertrieben nach Markenkleidung. (3) Wie konnte dieses Phänomen entstehen? Ich glaube, vornehmlich aus folgenden Gründen: (4) 1. Markenkleidung wird meistens von Fachgrößen entworfen, ihr Design ist originell und setzt Trends, (5) außerdem ist auf ihre Qualität Verlass. (6) Einen Sinn für Schönheit besitzen alle Menschen, natürlich stellen Jugendliche, die sich in der Blütezeit [des Lebens] be nden, keine Ausnahme dar. (7) 2. Der Preis für Markenkleidung ist meistens nicht gering. (8) Daher meinen viele Jugendliche, Marken seien ein Symbol der eigenen „Stellung“. Wer Markenkleidung trägt, gibt zumindest bekannt: „Ich stamme aus einem recht wohlhabenden Elternhaus.“ (9) Andere wiederum glauben, das Tragen von Markenkleidung sei Ausdruck des Geschmacks, man könne mit ihr seine Einzigartigkeit darstellen. (10) 3. Die gegenseitige Ri- <?page no="236"?> 224 Beschreiben, Erklären und Beurteilen valität. Wenn Kinder sehen, dass andere Kinder tolle Spielzeuge oder Leckereien haben, dann fordern sie meistens ihre Eltern auf, [diese Dinge] auch für sie zu kaufen. (11) Dieses Konkurrenzdenken des „Was andere haben, will ich auch“ ist auch unter Jugendlichen weit verbreitet. (12) Einige Jugendliche, die andere in Markenkleidung sehen, selbst aber keine besitzen, fühlen sich unterlegen und meinen, ihr Gesicht zu verlieren. (13) Auch wenn ihre wirtschaftlichen Verhältnisse nicht sonderlich gut sind, wollen sie sich „mit geschwollenen Backen als Dicke aufspielen“ (T4-02.TXT.chin.). Ähnliche Aufzählungen nden sich nur in einem Interimstext (T4-03.TXT.int.), jedoch in vier weiteren chinesischen Texten der Mitglieder dieser Probandengruppe. 54 In jedem dritten muttersprachlichen Text bemühen sich die fortgeschrittenen Deutschlerner also darum, verschiedene Motive für das Verhalten der Jugendlichen in eine systematische Reihenfolge zu stellen. Dieser Befund ist äußerst überraschend: Die muttersprachlichen und nicht die interimssprachlichen Texte gleichen in dieser Hinsicht den Texten der deutschen Studienanfänger. Beurteilungen Wie in den Interimstexten fallen auch in den muttersprachlichen Texten einige drastische Formulierungen bei der Beurteilung des Verhaltens von Jugendlichen auf. Das „übertriebene Verlangen“ nach Marken sei „völlig verfehlt“ (T4-02.TXT.chin.14), mehrheitlich wird das Verhalten jedoch eher moderat beurteilt. 55 Auch hierin zeigt sich unverkennbar eine Tendenz zu größerer Sachlichkeit. Zwei Texte im Korpus zeigen, dass einige chinesische Texte 56 eine Geltungsfrage aufwerfen, die in deutschen Texten gar nicht zur Diskussion steht: (9) Für Jugendliche, die normalerweise über kein Einkommen verfügen, ist es offensichtlich nicht angemessen, nach Marken zu streben. (10) Es lenkt die Aufmerksamkeit vom Lernen ab, fördert das Imponiergehabe und erhöht die nanzielle Belastung der Familie. (11) Schüler aus durchschnittlichen oder nanziell etwas schlechter gestellten Familien werden daher eher einem noch stärkeren psychischen Druck ausgesetzt sein und in der Schule ihren Kopf senken. (12) Im Extremfall werden Schüler den Weg von Raub und Erpressung einschlagen (T4-15. TXT.chin.). Dieser Text führt den Nachweis, dass es nicht angemessen ist, nach Marken zu streben. Dass einige chinesische Probanden auch im „eigentlich“ sacherörternden Teiltext eine Geltungsfrage aufwerfen, diese zeigte bereits die Interpretation der Texte der Studienanfänger und Interimstexte. 54 Vgl. T4-14.TXT.int.4-12; T4-03.TXT.int.8-19; T4-04.TXT.int.5-14; T4-08.TXT.int.13-19. 55 Der Markenkult sei „gar keine gute Erscheinung“ (T4-14.TXT.chin.19) oder „gewiss keine gute Erscheinung“ (T4-05.TXT.chin.3), er übe einen „unguten Ein uss“ aus (T4.13.TXT.chin.4). Die Rivalität sei „unangemessen“ (T4-10.TXT.chin.10), das Verhalten der Jugendlichen „nicht angemessen“ (T4-15.TXT.chin.9). Sich aufgrund teurer Kleidung überlegen zu fühlen, sei zwar „ganz natürlich“, doch könne von „keinem guten Phänomen“ gesprochen werden (T4-08.TXT.chin.20-23). Das Verlangen nach Markenprodukten sei zwar „leicht nachzuvollziehen“, es führe jedoch zu einer „Verkehrung von Anfang und Ende“, falls das schulische Lernen beeinträchtigt würde (T4-09.TXT.chin. 10, 23). 56 Neben dem zitierten Text rechtfertigt T4-06.TXT.chin. wie bereits T4-06.TXT.int., dass es gerechtfertigt ist, Markenprodukte zu erwerben. <?page no="237"?> 225 Beschreiben, Erklären und Beurteilen Beschreibungen rechtmäßigen Verhaltens und Appelle Wie gezeigt worden ist, nden sich in den Texten der chinesischen Studienanfänger vielfach Verweise auf tugendhafte Vorbilder, denen man nacheifern sollte. Diese Hinweise fehlen in allen Texten der fortgeschrittenen Deutschlerner, sowohl den interimsals auch den muttersprachlichen Texten. Jedoch enthalten die Interimstexte Darstellungen eines rechtmäßigen Verhaltens. So fordert ein Text dazu auf, „Fleiß und Genügsamkeit“ nicht zu vernachlässigen, wenn man das Leben genießt (T4-01.TXT.chin.10-13), ein Text richtet die Beschreibung rechtmäßigen Verhaltens an das kollektive „wir“: (21) Meines Erachtens wird jede gute Sache zu einer schlechten, sobald ein bestimmtes Maß überschritten wird. (22) Jugendliche sollten erkennen, dass es neben den Marken auch noch viele andere Dinge gibt, nach denen man streben kann. (23) Im Leben gibt es viele Dinge, die es verdienen, dass wir nach ihnen verlangen. (24) Nur wer strebt, erzielt einen Ertrag (T4-07. TXT.chin.). Die grammatischen Bezüge im nächsten Textbeispiel sind unklar. Der Kontext lässt vermuten, dass sich der Text an die Gruppe der Jugendlichen richtet. (36) Schüler sollten nicht um Kleidung wetteifern, sondern um Zensuren und um die eigenen Fähigkeiten. (37) Kinder aus reichen Familien sollten sich nicht an ihrer Markenkleidung berauschen und andere verspotten. (38) Arme Schüler sollten ihrerseits keine Minderwertigkeits- oder Schamgefühle haben. (39) Niemand kann sich seine Herkunft aussuchen, doch die heutige Welt eröffnet allen Menschen die gleichen Möglichkeiten. (40) Jeder Mensch lebt um seiner selbst willen. (41) Er lebt nicht für Urteile anderer Menschen, noch weniger lebt er für Markenkleidung. (42) [Den Schülern sei daher empfohlen: ] Reguliert [euer] Gemüt, lernt eißig und erweitert die eigenen Fähigkeiten, damit [ihr] in Zukunft zu Menschen werdet, die für die Gesellschaft nutzbringend sind (T4-12.TXT.chin.). Direkte Appelle an die Jugendlichen (vgl. T1-12.TXT.chin.46: „Geht euren eigenen Weg, Freunde! “) sind in den Texten der fortgeschrittenen Germanistikstudenten nicht nachweisbar. Diese Texte verzichten weitgehend darauf, den Rezipienten affektiv anzusprechen oder ihn zu einem Handeln aufzufordern. Diese Unterschiede zwischen den Textkorpora der chinesischen Probanden machen die Hinweise auf Pierre Cardin deutlich. Ein Studienanfänger (vgl. T1-04.TXT.chin.25-26) rühmte ihn als tugendhaftes Vorbild. Auch in einem Text der fortgeschrittenen Deutschlerner fällt der Name Pierre Cardin, jedoch in einem gänzlich anderen Kontext: (24) Als ich mich nach den Ursachen für den hohen Preis [der Markenprodukte] fragte, kam mir Pierre Cardin in den Sinn. Als [dieses Unternehmen] nach China kam, elen für die Eröffnung von Exklusivläden Kosten für Miete und Personal an. (25) Der Warenpreis muss neben diesen Aufwendungen auch Transportkosten und Steuern abdecken. (26) Der Preis [dieser Waren] ist [daher] natürlich etwas höher, was dazu führt, dass sie nicht so verbreitet sind wie Jogging-Hosen. (27) Es führt außerdem dazu, dass viele Menschen ihre Qualität ignorieren und nur über den hohen Preis sprechen, was den Markenprodukten in keiner Weise gerecht wird. (28) Wenn man hingegen keine Exklusivläden eröffnet, dann überschwemmen sofort Plagiate den Markt, wodurch das hohe Ansehen der Markenprodukte untergraben wird (T4-01.TXT.chin.). Hier wird nicht das tugendhafte Verhalten des Unternehmers Pierre Cardin herausgestellt, hier wird anhand des Unternehmens Pierre Cardin erklärt, warum für Markenprodukte ein hoher Preis gezahlt werden muss. <?page no="238"?> 226 Beschreiben, Erklären und Beurteilen 16.5 Gruppenübergreifender Vergleich und Hypothesen Beschreibungen, Erklärungen und Beurteilungen FSU1.TXT.dt T1.TXT.chin T4.TXT.int T4.TXT.chin n=19 % n=20 % n=15 % n=15 % BESCHREIBUNG des Verhaltens von Jugendlichen 19 100 20 100 13 87 15 100 ERKLÄRUNG des Verhaltens von Jugendlichen 19 100 20 100 13 87 13 87 BEURTEILUNG des Verhaltens von Jugendlichen 6 32 18 90 11 73 11 73 BESCHREIBUNG rechtmäßigen Verhaltens von Jugendlichen 2 10 12 60 5 33 5 33 APPELL, sich rechtschaffen zu verhalten - - 5 25 2 13 2 13 BEURTEILUNG des Problemdrucks 6 32 6 30 5 33 4 27 Tabelle 16.5: Gruppenübergreifender Vergleich (Beschreibungen, Erklärungen und Beurteilungen). Vergleich FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. Die Einschätzungen der Problemlage unterscheiden sich in den muttersprachlichen Texten der deutschen und chinesischen Studienanfänger gravierend voneinander: Die Beschreibungen in den deutschen Vergleichstexten sind mehrheitlich sachbezogen, obgleich in einzelnen Texten versucht wird, das Interesse des Lesers durch einleitende narrative Sequenzen zu wecken. Demgegenüber ist in den chinesischen Vergleichtexten die Tendenz einer dramatisierenden „Aufbauschung“ der Problemlage unverkennbar. Hierdurch wird dem Leser die Brisanz des Problems vor Augen geführt. Die genannten Unterschiede können auf Ein üsse des Aufsatzunterrichts zurückgeführt werden. Die Texte der deutschen Studienanfänger beschränken sich mehrheitlich (68 %) darauf, ein bestimmtes Verhalten zu erklären, ohne es zu bewerten. Die Texte der chinesischen Studienanfänger deuten das Verhalten auch, mehrheitlich (90 %) bewerten sie es aber. Dass in T1.TXT.chin. nicht nur beschrieben und erklärt, sondern meist auch beurteilt wird, bestätigt die Hypothese von Y IN (1999: 144), dass chinesische Texte eine Tendenz zur „normativen Sachverhaltsdarstellung“ kennzeichnet. In den vorliegenden Aufsätzen führt diese Tendenz dazu, dass im Teiltext „Einschätzung der Problemlage“ neben Sachfragen auch Geltungsfragen aufgeworfen werden. Einige chinesische Studienanfänger diskutieren ausführlich die Frage, ob sich die Jugendlichen rechtschaffen verhalten. Kein deutscher Studienanfänger widmet sich dieser Frage in ähnlicher Ausführlichkeit. Große Unterschiede in den verglichenen Korpora bestehen auch hinsichtlich der Darstellungen eines rechtmäßigen Verhaltens. Nur wenige deutsche Studienanfänger (10 %) geben überhaupt an, wie sich Jugendliche verhalten sollten. Demgegenüber widmen sich die chinesischen Studienanfänger mehrheitlich (60 %) dieser Frage. In den sehr langen Textsequenzen verweisen einige Texte auf tugendhafte Vorbilder (vgl. F ENG 1994: 146), entsprechende Darstellungen fehlen in den Texten der deutschen Studienanfänger völlig. In den Texten der deutschen Studienanfänger wird im Teiltext „Einschätzung der Problemlage“ der Leser weder direkt angesprochen, noch werden die Jugendlichen zu tugendhaftem Verhalten aufgerufen. Einige Texte der chinesischen Studienanfänger zeichnet es demgegenüber aus, keine alternativen Maßnahmen vorzuschlagen, vielmehr richten sie moralische Appelle an die Jugendlichen, um eine Lösung des Problems herbeizuführen. <?page no="239"?> 227 Beschreiben, Erklären und Beurteilen Vergleich T4.TXT.int., FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. In den Interimstexten zeigen sich Merkmale sowohl einiger Texte der chinesischen als auch einiger Texte der deutschen Studienanfänger. In einigen Texten wird das Problem durch eine dramatisierende Darstellung „aufgebauscht“, in anderen wiederum nicht. Einige Texte fokussieren einzelne Textgegenstände, um ein komplexes Phänomen zu deuten, andere wiederum listen verschiedene Ursachen auf, um dieses Phänomen zu deuten. Einige Texte erörtern auch im Teiltext „Einschätzung der Problemlage“ eine Geltungsfrage, die meisten jedoch nicht. Hier liegen also viele Überschneidungen chinesischer und deutscher Muster vor, das Datenmaterial zeichnet sich durch eine große Heterogenität aus. Einige Gemeinsamkeiten lassen sich jedoch erkennen. Auch die fortgeschrittenen Deutschlerner bewerten das Verhalten der jugendlichen mehrheitlich (73 %), ohne jedoch auf tugendhafte Vorbilder zu verweisen. Auch auf direkte Appelle an die Jugendlichen wird weitgehend verzichtet. Vergleich T4.TXT.chin., FSU1.TXT.dt., T1.TXT.chin. und T4.TXT.int. Im Vergleich zu den chinesischen Texten der Studienanfänger zeichnen sich die chinesischen Texte der Germanistikstudenten durch einen deutlich sachbetonteren Stil aus, auf eine „Aufbauschung“ der Problemlage durch eine dramatisierende Darstellung wird fast gänzlich verzichtet. Erklärende Teiltextsegmente nehmen in den muttersprachlichen Texten einen vergleichsweise großen Raum ein, wobei sich erstaunliche Parallelen zu den Texten der deutschen Muttersprachler zeigen. Auch in ihren muttersprachlichen Texten orientieren sich die fortgeschrittenen Deutschlerner demnach an stilistischen Konventionen und Formen der Textorganisation, die sie erst während ihres Germanistikstudiums erlernt haben. <?page no="240"?> 17 Darstellung der Maßnahme Um Kennzeichen des Schreibens in interkulturellen Kontexten zu rekonstruieren, gehe ich mit dem in Kapitel 4 entwickelten Textproduktionsmodell davon aus, dass beim gelenkten Schreiben im Fremdsprachenunterricht nicht nur eine interkulturelle Form der Interaktion zwischen Lerner und Lehrer statt ndet. Der Ausgangstext konfrontiert Lerner häu g mit Problemlagen in der Zielkultur, die ihnen aufgrund ihrer kulturellen Herkunft nicht vertraut sind. Wie Kapitel 14 zeigt, wird eine Problemlage je nach Abstand zu den beschriebenen Verhältnissen und eigenen Erfahrungen ganz unterschiedlich situiert. Der Ausgangstext informiert die Probanden nicht nur über den Markenterror, er informiert sie ebenfalls über die Hamburger Debatte, die zum Ergebnis hatte, probehalber Schuluniformen einzuführen. Auch im Teiltext „Einschätzung der Handlung“ sind Aussagen zu erwarten, die je nach kulturellem Hintergrund und persönlicher Erfahrung der Probanden differieren. In diesem Kapitel wird daher untersucht, wie sich die Probanden auf die Maßnahme beziehen. Einerseits werden referierende Darstellungen und Hinweise erfasst, die sich auf die konkrete Maßnahme beziehen, die in Hamburg eingeleitet wurde. Anderseits nden Darstellungen analoger Maßnahmen an anderen Schulen und in anderen Ländern Berücksichtigung. 17.1 Korpus FSU1.TXT.dt. Darstellung der Maßnahme (FSU1.TXT.dt.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 n=19 % HINWEIS auf die konkrete Maßnahme in Hamburg x x x x x x x x x x x 11 58 BESCHREIBUNG der konkreten Maßnahme in Hamburg x x x x x x 6 32 HINWEIS auf analoge Maßnahmen an anderen Schulen/ in anderen Ländern x x 2 10 BESCHREIBUNG analoger Maßnahmen an anderen Schulen/ in anderen Ländern x x x x x x 6 32 Tabelle 17.1: Darstellung der Maßnahme FSU1.TXT.dt. Siebzehn deutsche Studienanfänger (89 %) beziehen sich auf das Projekt in Hamburg, elf (58 %) belassen es bei knappen Hinweisen, sechs (32 %) beschreiben die an der Hamburger Schule eingeleitete Maßnahme detaillierter. Erstaunlich viele Probanden (42 %) verweisen auf analoge Maßnahmen in anderen Ländern oder an anderen Schulen. Zwei Probanden (10 %) erwähnen nur, dass Schüler in anderen Ländern Schulkleidung tragen, sechs Probanden (32 %) stellen die dortigen Maßnahmen und Erfahrungen jedoch eingehend dar. Dass die deutschen Studienanfänger mehrheitlich (89 %) nur kurz auf die Maßnahme verweisen, ist durch die spezielle kommunikative Situation beim gelenkten Schreiben erklärbar. Vom antizipierten Leser wissen die Studienanfänger, dass er über die Vorgänge in Hamburg informiert ist, da er als Initiator der Schreibübung selbst Leser des Aus- <?page no="241"?> 229 Darstellung der Maßnahme gangstextes gewesen ist (vgl. Abschnitt 13.2, Fußnote 5). Daher können Vorkenntnisse des Adressaten vorausgesetzt werden, was dazu führen kann, in einem reaktiven Text auf eine wiederholende Darstellung zu verzichten. In großer Ausführlichkeit werden demgegenüber Maßnahmen in anderen Ländern beschrieben. Neben zwei Hinweisen (10 %), dass Schüler auch in anderen Ländern Uniformen tragen 57 , beschreiben sechs Studienanfänger (32 %) analoge Maßnahmen in anderen Ländern oder an anderen Schulen. Die dortigen Erfahrungen können die eigene Argumentation stützen: (38) Das Argument der Schülerin Annika (weniger Zeit vor dem Kleiderschrank) halte ich für falsch. (39) Ich war als Au Pair in den USA (deshalb auch das schlechte Deutsch! ) und „mein“ Mädchen Sabrina (10 Jahre) hatte auch Schuluniform zu tragen. Das bloße Wissen aber, den bestimmten Rock und ein weißes T-Shirt sowohl wie das blaue Sweatshirt und weiße Socken zu tragen, hat sie nicht davon abgehalten, 45 Minuten vor dem Kleiderschrank zu verbringen! Das ist für mich teilweise schon sehr frustrierend gewesen. Wenn man aber nicht entscheidungsfreudig ist, dann kann man sich auch nicht zwischen zwei identisch gleichen Röcken entscheiden (FSU1-10.TXT.dt.). Die Autorin entkräftet mit dem Verweis auf Erfahrungen in den USA ein im Ausgangstext genanntes Pro-Argument (Die Maßnahme führt zu Zeitersparnis bei Auswahl der Kleidung). Erfahrungsbasiert gibt sie zu bedenken, dass Schüler auch nach Einführung von Uniformen viel Zeit vor dem Kleiderschrank verbringen können. Ein anderer Text bezieht sich auf die Situation in England: (17) Auch in England wird durch die Schulkleidung keineswegs das Problem der Verspottung und Benachteiligung gelöst, es verschiebt sich nur. (18) In den Schulen wird nicht mehr die Kleidung kritisch betrachtet, sondern nun werden Haarschnitt, Nase, Zähne oder sonstige offensichtliche Merkmale zum Keim des Spotts (FSU1-11.TXT.dt.). Auch hier wird zur Entkräftung eines zentralen Pro-Arguments (Die Maßnahme entschärft die Kon ikte unter den Jugendlichen) auf Erfahrungen im Ausland verwiesen. Ein anderer Erfahrungsbericht widerlegt kein Pro-Argument, er kommentiert es: (11) Schaut man aber z.B. nach England oder Irland ndet man dort ganz andere Arten von Schuluniformen, die aus ähnlichen Gründen eingeführt wurden. (12) Die Uniform ist aus ausgefallenen Kleidungsstücken zusammen gesetzt, meist bestehend aus Anzug, Hemd und Pullunder für Jungs und Rock, Bluse, Jackett und Pullunder für Mädchen. (13) In der Freizeit trägt diese Kleidung kein Kind, da sie unpraktisch und emp ndlich ist. (14) Bedenkt man aber jetzt, wie teuer solch eine Ausstattung ist, bleibt die Frage offen, ob eine nanzielle Erleichterung für die Familien dabei herauskommt. (15) Auch bzw. gerade Jugendliche wachsen noch, und somit ist des öfteren die Anschaffung neuer Uniformen nötig. (16) Ich weiß aus Erfahrung, da ich eine Zeit lang in einer Familie dort gelebt habe, dass die Familien viel Geld in die Uniform investiert haben, gerade da sie mehrere Kinder hatten. (17) Die Uniform wird nicht „aufgetragen“ wie normale Kleidung, sondern, da sie nur in der Schule als Bekleidung dient, eine Zeit lang benutzt und meist noch in gutem Zustand abgelegt, da sie zu klein geworden ist. (18) Einsparungen sind dann oft nicht möglich (FSU1-15.TXT.dt.). Das Pro-Argument (Die Maßnahme entlastet nanziell benachteiligte Familien) wird hier nicht entkräftet. Vielmehr beteiligt sich der Text an der Planbildung (vgl. R EHBEIN 1977: 162), um am Beispiel Großbritanniens zu zeigen, unter welchen Umständen ein zentrales Handlungsziel nicht erreicht wird. Der nächste Text spricht eine Warnung aus: 57 Vgl. FSU1-16.TXT.dt.1: „Es war schon immer an Schulen in Deutschland die Frage, ob man es den Engländern oder Japanern nachmachen sollte: Schuluniformen.“; FSU1-08.TXT.dt.12-13: „Ich persönlich war schon immer dafür, dass an Schulen Uniformen eingeführt werden. Zum einen, da es in jedem anderen Land welche gibt [...].“ <?page no="242"?> 230 Darstellung der Maßnahme (35) Eine englische Mutter (mit der ich mich in London über dieses Thema unterhielt) meinte, so vermeide man Neid unter den Schülern. (36) Sie hat Zwillinge, Mädchen, beide gehen an eine gute Schule, aber in getrennte Schulen. Die eine für Musik, die andere für Sport. Die beiden haben Auseinandersetzungen, welche Schule besser ist. (37) Jede Schule würde auf ihren Uniformen ihr Symbol platzieren, jeder Jugendliche kann also sofort einer Schule zugeordnet werden. Ist das nun gut oder schlecht? (38) Gymnasiasten und Realschüler sind untereinander nicht sehr freundlich. (39) Man würde damit ein anderes Problem anheizen. (40) Dann ginge es nicht mehr um „arm und reich“ sondern ist man klug, wenn man an einem Gymnasium ist oder dumm, wenn man in einer Realschule ist? ! (FSU1-17.TXT.dt.). Auch dieser Text beteiligt sich am Diskurs, indem er sich auf Erfahrungen im Ausland beruft, um vor unbeabsichtigten Folgen der Maßnahme zu warnen. Hier liegt eine erfahrungsbasierte Handlungskonsequenzdeutung vor, die zur Ablehnung der Hamburger Maßnahme führt. Jedoch berufen sich auch Befürworter der Maßnahme auf Erfahrungen an anderen Schulen. (24) Meiner Meinung nach müsste in jedem Fall die Einführung einer kompletten Uniform gewährleistet sein - (25) und das auch konsequent an den Schulen in Deutschland. (26) Aus persönlicher Erfahrung weiß ich, wie gut so etwas funktioniert, (27) denn an spanischen Gesamtschulen tragen die Schüler Einheitskleidung, (28) und obwohl es natürlich trotzdem Rangeleien untereinander gab (Hans spielt besser Fußball, Roman liest schlecht), war die Kleidung nie ein Thema (FSU1-09.TXT.dt.). Dieser Text schlägt eine Handlungsalternative vor. Um das Handlungsziel zu realisieren, sollte die Maßnahme nach spanischem Vorbild ausgeweitet werden. Die fünf zitierten Texte zeigen, dass die deutschen Studienanfänger auf ein Wissen von Situationen zurückgreifen, das sie während ihrer Auslandsaufenthalte erworben haben. Sie teilen Beobachtungen mit, wie sich Schüler unter analogen Bedingungen verhalten haben, um die Entscheidung der Hamburger Schule zu kommentieren. Sie widerlegen Pro-Argumente, beteiligen sich an Überlegungen, wie das Handlungsziel erreicht werden könnte, schlagen Handlungsalternativen vor etc. Weil sie über keine persönlichen Erfahrungen verfügen, beteiligen sie sich an der Diskussion, indem sie sich auf Erfahrungen in anderen Ländern berufen. Ein Text im Korpus FSU1.TXT.dt. unterscheidet sich in dieser Hinsicht: (32) In meiner Schule wurde Schuluniform wahlweise eingeführt, (33) und erstaunlicherweise besitzt jeder Schüler einen Schulpullover, sogar Ehemalige meldeten sich und kauften sich einen. (34) Für mich bedeutete es sehr viel, an Schulaufführungen zu zeigen, daß ich hier dazugehöre, (35) was absolut nichts mit Konformität zu tun hat. (36) Dass der Mensch kein Einzelkämpfer ist, und auf andere angewiesen ist, ist eine der wichtigsten Erfahrungen, die ein Schüler machen sollte, (37) und für mich ist die Schuluniform ein Schritt dorthin (FSU1-18.TXT.dt.). Auch dieser Text bringt Erfahrungen zur Stützung einer These ins Spiel, die persönlichen Erfahrungen der Autorin. Sie muss sich nicht auf Gespräche und Beobachtungen im Ausland berufen, die Wirkung von Uniformen kann sie selbst einschätzen. Als ehemalige Schülerin eines Gymnasiums in Baden-Württemberg verfügt sie über einen Erfahrungsvorsprung, der sie in die Lage versetzt, die Maßnahme in Hamburg anders zu beurteilen als die anderen Mitglieder der Probandengruppe FSU1. <?page no="243"?> 231 Darstellung der Maßnahme 17.2 Korpus T1.TXT.chin. Darstellung der Maßnahme (T1.TXT.chin.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 n=20 % HINWEIS auf die konkrete Maßnahme in Hamburg x x x x x x x x x x x 11 55 BESCHREIBUNG der konkreten Maßnahme in Hamburg x x x x 4 20 HINWEIS auf analoge Maßnahmen an anderen Schulen/ in anderen Ländern x x x x x x 6 30 BESCHREIBUNG analoger Maßnahmen an anderen Schulen/ in anderen Ländern x x x 3 15 Tabelle 17.2: Darstellung der Maßnahme T1.TXT.chin. Elf chinesische Studienanfänger (55 %) erwähnen die Maßnahme in Hamburg, vier (20 %) stellen sie näher dar (45 %). Auf analoge Maßnahmen in ihrem Heimatland weisen sechs Probanden hin (30 %), drei (15 %) beschreiben diese Maßnahmen ausführlich. Dass nur fünfzehn Texte (75 %) kurz auf die Maßnahme in Hamburg hinweisen, bestätigt die These, dass die chinesischen Studienanfänger dazu tendieren, einen Sachverhalt unabhängig vom Ausgangstext zu diskutieren (vgl. Abschnitt 13.2). Das eigentlich Erstaunliche ist, dass nur drei Probanden (15 %) von ihren eigenen Erfahrungen berichten, obgleich alle Mitglieder dieser Vergleichsgruppe einschätzen könnten, ob sich die Maßnahme in einem anderen Land unter anderen Bedingungen bewährt hat. Von der Möglichkeit, sich an der Debatte in Deutschland zu beteiligen, indem eigene Erfahrungen mitgeteilt werden, macht folgender Text Gebrauch: (31) Die Maßnahme der Hamburger Mittelschule, Uniformen einzuführen, war richtig und vernünftig. (32) Denn ich selbst habe an der Mittelschule sieben Jahre lang Uniform getragen. Besonders in den letzten drei Jahren habe ich nach den Regeln der Schule jeden Tag Uniform getragen. (33) Anfangs fühlte ich mich nicht sehr wohl, aber nach einer Weile realisierte ich, dass die Schuluniformen unmerklich die Rivalität der Schüler beseitigt hatten (besonders in Bezug auf Kleidung). (34) Außerdem förderte die Schuluniform das Einverständnis mit der Schule und ein Ehrgefühl ihr gegenüber. (35) In der Gesellschaft repräsentierte das Verhalten eines Schülers in noch stärkerem Maße seine Schule. (36) Das war gut sowohl für die Schüler als auch für die Schule (T1-02.TXT.chin.). In dieser Textsequenz wird zuerst eine These genannt, dann werden in einem Erfahrungsbericht verschiedene Pro-Argumente vorgetragen. Das Urteil einer ehemaligen Schülerin, die sieben Jahre lang Uniform getragen hat, hat Gewicht, denn sie beschreibt, wie die Schüler ein anfängliches Unbehagen überwanden und von den positiven Wirkungen der Maßnahme allmählich überzeugt wurden. Rückblickend befürwortet sie demnach die Maßnahme aufgrund eigener Erfahrungen. Auch ein zweiter Text führt eigene Erfahrungen der Autorin an: (26) [...] Die Schule schrieb vor, Schuluniformen zu tragen. (27) Obwohl wir [anfangs] Widerwillen empfanden, gewöhnten [wir uns] mit der Zeit daran. (28) Vielleicht entstand in den Uniformen tatsächlich ein Gefühl der Verbundenheit. (29) Das wäre meiner Meinung nach ein großer Vorteil von Schuluniformen. (30) Doch wer kann wiederum behaupten, dass es sich <?page no="244"?> 232 Darstellung der Maßnahme nicht nur um eine Äußerlichkeit handelt? (31) Ich meine, dass in dieser Hinsicht die Sehnsucht der Schüler nach Freiheit eingeschränkt wird. (32) [Daher] bezwei e ich stark, dass die im Text beschriebene Situation zutrifft und die deutschen Lehrer und Schüler übereinstimmend [die Einführung der Schuluniformen] befürworten. (33) Das Perfekte gibt es schließlich niemals, allenfalls eine Annäherung an das Bestmögliche (T1-14.TXT.chin.). Dieser Text erfüllt eine andere kommunikative Funktion als der zuvor zitierte. Aufgrund eigener Erfahrungen äußert die Autorin Zweifel an der Glaubwürdigkeit der im Ausgangstext zitierten Lehrer und Schüler. Deren positive Rückmeldung sei zu einseitig, da die Maßnahme unwillkürlich zu einer Einschränkung der persönlichen Freiheit führe. Ein dritter Text beschreibt ebenfalls ausführlich die Situation in China, wieder mit einer anderen Mitteilungsabsicht: (38) Wir sind von der Grundschule bis zur Höheren Mittelschule in Uniformen aufgewachsen. (39) Aber jetzt propagieren einige Schulen die „Individualisierung“, die von der Uniform für die eigene Klasse bis zur völlig freien Kleiderwahl reicht. (40) Lassen wir der Individualität freien Lauf! (41) Gleiche Kleidung, gleiche Schultaschen, selbst gleiche Schuhe zwängen die Schüler ein. (42) Ihnen werden die Kanten abgeschliffen, so dass sie keine Individualität mehr besitzen (T1-01.TXT.chin.). Die Pointe dieser Ausführungen besteht darin, dass gerade die Situation in China, einem Land also, in dem auf Erfahrungen mit Uniformen zurückgeschaut werden kann, gegen Befürworter der Maßnahme in Stellung gebracht wird. Während man in Hamburg überlegt, Uniformen neu einzuführen, habe man sich laut Auskunft dieser Probandin in China nach jahrelangen Erfahrungen mit dem System der Schuluniform jüngst entschieden, der Individualität der Schüler freien Lauf zu lassen. Die drei Beispiele zeigen, dass die chinesischen Studienanfänger durchaus vielfältige Möglichkeiten gehabt hätten, die Diskussion in Hamburg zu bereichern. Die drei diskutierten Beispiele zeigen, dass Schuluniformen in China sehr verbreitet sind. Viele Studienanfänger hätten also die Möglichkeit gehabt, sich mit Expertenwissen zur Hamburger Maßnahme zu äußern. Stattdessen verzichten die meisten chinesischen Studienanfänger darauf, die Maßnahme in Hamburg zu beurteilen, indem sie auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Nur die oben diskutierten drei Texte beschreiben analoge Maßnahmen in China. Die Lektüre der übrigen Texte vermittelt den Eindruck, als seien die Autoren persönlich nicht involviert, als wollten sie bewusst Abstand zur konkreten Entscheidung in Hamburg wahren. 17.3 Korpus T4.TXT.int. Darstellung der Maßnahme (T4.TXT.int.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 n=15 % HINWEIS auf die konkrete Maßnahme in Hamburg x x x x x x x x x x 10 67 BESCHREIBUNG der konkreten Maßnahme in Hamburg x x 2 13 HINWEIS auf analoge Maßnahmen an anderen Schulen/ in anderen Ländern x 1 7 BESCHREIBUNG analoger Maßnahmen an anderen Schulen/ in anderen Ländern x x x x x 5 33 Tabelle 17.3: Darstellung der Maßnahme T4.TXT.int. Tabelle 17.3 zeigt, dass fast alle fortgeschrittenen Deutschlerner (80 %) in ihren Interimstexten mehr oder weniger ausführlich auf die Maßnahme in Hamburg verweisen. Sechs <?page no="245"?> 233 Darstellung der Maßnahme Probanden (40 %) beschreiben außerdem, meist sehr detailliert (33 %), analoge Maßnahmen in China. Dass sich die fortgeschrittenen Deutschlerner stärker auf den Ausgangstext beziehen als die Studienanfänger, zeigen bereits die Analyseergebnisse in Abschnitt 13.3. Von Interesse ist, dass die Beschreibungen der Situation in China in einigen Texten sehr umfangreich sind. Folgender Text beschreibt bis ins kleinste Detail, welche Regelungen an der eigenen Schule galten: (1) Als ich in der Schule war, brauchte man auch eine Schuluniform zu kaufen. (2) Obwohl das Design und der Stoff der Uniform ganz schlecht waren, kosteten eine Hose und ein Jackett insgesamt schon über 100 RMB. (3) Damals war der Preis in China sehr teuer. (4) Mit diesem Preis konnte man sich eine Adidas-Hose oder eine Hose ohne Marke aber mit guter Qualität leisten. (5) Viele Schüler und sogar der Lehrer waren gegen die Einführung der Schuluniform. (6) Deshalb wurde es nicht durchgeführt, dass jeder Schüler an jedem Tag die Uniform tragen muß. (7) Nur an einigen speziellen Tagen, z.B. an dem Feiertag von unserer Schule sollte jeder die Uniform tragen. Sonst brauchte man [es] nicht. (8) Dies hat aber zu schlechten Folge geführt. (9) Die Studenten, die aus relativ reichen Familien kamen, legten die Uniform einfach in den Kleiderschrank und trugen sie alltäglich niemals. Das war eine Verschwendung für sie. (10) Im Vergleich dazu trugen sie manche Studenten fast jeden Tag, weil sie so eine große Geldsumme dafür investiert haben. Für manche Studenten war die Uniform wahrscheinlich die teuerste Kleidung, die sie seit Geburt getragen haben. (11) Trotzdem sieht diese Kleidung nicht schön aus, und man kann überall auf der Straße eine gleiche Kleidung nden. (12) Schuluniform ist zu einem hässlichen Kleid geworden (13) und „Aldi-Kinder“ sind immer noch „Aldi-Kinder“. (14) An diesem Punkt kann man viele Probleme bei der Einführung der Schuluniform erkennen (T4-01.TXT.int.). Die kommunikative Funktion besteht nicht allein darin, einem fremdkulturellen Leser landeskundliche Informationen zu geben 58 . Die Beschreibung der Verordnungen und des Verhaltens der Schüler unter den gegebenen Bedingungen ist ein Diskursbeitrag, denn die Situationsbeschreibung schließt mit dem Hinweis, man könne aus den Entwicklungen in China „viele Probleme bei der Einführung der Uniform erkennen“. Mit seinem Interimstext möchte sich der Deutschlerner also ausdrücklich am Diskurs beteiligen. Er möchte den Verantwortlichen in Hamburg seine Erfahrungen mitteilen, um auf bis dato verborgen gebliebene Probleme hinzuweisen. Auch der nächste Text versteht sich als Diskursbeitrag: (21) Als ich noch in der Grundschule war, trug ich auch Schuluniform. (22) Damals wurde nicht gefordert, jeden Tag die Uniform zu tragen. (23) Nur als wichtige Persönlichkeiten unsere Schule besuchten, trugen wir die Uniform. (24) Als ich die Mittelschule besuchte, trug ich immer weniger unsere Uniform. (25) Ein wichtiger Grund liegt darin, daß die Kleidung zu hässlich war. (26) Manche sahen sie sogar als „furchtbar“ an. (27) Sie passte mir nie. Der Rock war zu lang, und die Bluse war zu groß. (28) Deswegen meine ich, obwohl die Idee von der Einführung der Uniform sehr gut ist, (29) muss man auch beachten, die Uniform gut und schön zu entwerfen. (30) Nur wenn sie jedem Kind gefällt, ist sie die richtige Lösung des Markenterrors (T4-11.TXT.int.). Hier führt die Beschreibung einer analogen Maßnahme zu einer Handlungsempfehlung. 59 Um das intendierte Handlungsziel zu erreichen, müsse man die Uniformen attraktiv gestalten. Auch ein Befürworter der Maßnahme beschreibt analoge Reglungen in China: 58 Vgl. auch T4-12.TXT.int. 19-22. In diesem Text werden zur Information des Lesers die Reglungen an der eigenen Schule detailliert beschreiben. 59 Vgl. auch T4-08.TXT.int. (7-13). Dieser Text legitimiert die Maßnahme durch die Beschreibung der sozialen Lage in China. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit würden viele Familien nanziell entlastet. <?page no="246"?> 234 Darstellung der Maßnahme (1) In China sind Schuluniformen schon seit langem eingeführt. (2) Ich kann mich erinnern, als ich die Mittelschule besuchte, trug ich auch die Schuluniform. (3) Jetzt tragen die Schülerinnen und Schüler - in Grundschulen, Mittelschulen, manchmal auch Hochschulen - Schuluniformen. (4) Es gibt eigentlich keinen Zwangsbefehl, dass Schüler jeden Tag Schuluniformen tragen müssen. (5) Schulen legen normalerweise nur fest, daß ihre Schüler Schuluniformen kaufen müssen. (6) Mit der Zeit gewöhnen immer mehr Schüler an Schuluniformen. (7) Wenn sie an kollektiven Aktivitäten teilnehmen, tragen sie alle Schuluniformen. (8) Ich bin aufgewachsen, während ich fast jeden Tag meine Schuluniform trug und zur Schule ging. (9) Aus meinen eigenen Erfahrungen nde ich die Idee sehr toll, Schuluniformen einzuführen, besonders für Grundschulen und Mittelschulen (T4-13. TXT.int.). Bemerkenswert ist der letzte Satz, in dem die Autorin die eigene Rolle benennt. Sie befürwortet die Maßnahme als Außenstehende, die im Gegensatz zu den Diskursteilnehmern in Hamburg über einschlägige „eigene Erfahrungen“ verfügt. Generell lässt sich festhalten, dass viele Deutschlerner in ihren Interimstexten die Möglichkeit, in ihren Debattenbeiträgen auf eigene Erfahrungen zu verweisen, weit stärker nutzen als die chinesischen Studienanfänger. 17.4 Korpus T4.TXT.chin. Darstellung der Maßnahme (T4.TXT.chin.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 n=15 % HINWEIS auf die konkrete Maßnahme in Hamburg x x x x x 5 33 BESCHREIBUNG der konkreten Maßnahme in Hamburg x x 2 13 HINWEIS auf analoge Maßnahmen an anderen Schulen/ in anderen Ländern x x x 3 20 BESCHREIBUNG analoger Maßnahmen an anderen Schulen/ in anderen Ländern x 1 7 Tabelle 17.4: Darstellung der Maßnahme T4.TXT.chin. Das Übersicht in Tabelle 17.4 zeigt, dass nur etwa die Hälfte der Probanden (47 %) die Hamburger Maßnahme erwähnt, nur etwa ein Drittel (27 %) verweist auf analoge Maßnahmen in China, und nur ein einziger Proband (7 %) stellt die Maßnahmen in China und Deutschland ausführlich dar. Überraschenderweise nutzen die fortgeschrittenen Deutschlerner ihren Erfahrungsvorsprung in muttersprachlichen Texten weit weniger nutzen als in Interimstexten. Ein Text verweist kurz auf persönliche Erfahrungen: (34) Mir waren Schuluniformen zuwider, und bis heute hat sich daran nichts verändert. (35) Ich werfe mich gern in Schale und trage gern meinen eigenen Stil, um mit der Kleidung meinen Charakter und meinen Geschmack auszudrücken (T4-06.TXT.chin.). Die Autorin deutet an, selbst Uniformen getragen zu haben und gibt Auskunft über ihre Vorlieben, ohne die Wirkungen der Maßnahme jedoch detailliert zu beschreiben. Die anderen Hinweise werfen einen gänzlich unbeteiligten Blick auf analoge Maßnahmen in China: (28) Auch chinesische Grund- und Mittelschulen haben eigene Uniformen. (29) Dies zeigt, dass diese Maßnahme in Deutschland wie auch in China von der Schule, von den Lehrern und auch von den Schülern begrüßt wird (T4-02.TXT.chin.). <?page no="247"?> 235 Darstellung der Maßnahme (6) In China empfahl die Regierung daher vor einigen Jahren die Einführung von Schuluniformen. (7) Im Vergleich zur Markenkleidung sind Schuluniformen preiswert und von guter Qualität. (8) Auch in Deutschland beginnen jetzt einige Schulen, Uniformen einzuführen. (9) Meines Erachtens handelt es sich hierbei um äußerst notwendige Maßnahmen (T4-08.TXT.chin.). Beide Texte halten nur kurz fest, dass in China und Deutschland analoge Maßnahmen ergriffen worden sind, verbunden mit knappen Hinweisen, dass die Maßnahme „äußerst notwendig“ gewesen sei und die Betroffenen positiv reagiert hätten. Lediglich ein Text in Korpus T4.TXT.chin. begründet ausführlich, warum Uniformen in der Volksrepublik China viel früher eingeführt worden sind: (7) An der Schule tritt das soziale Phänomen einer „Kluft zwischen arm und reich“ offen zutage und erzeugt unter den Schülern einen beträchtlichen Antagonismus zwischen „zwei großen Schichten“, wodurch viele Widersprüche entstehen. (8) Mit diesem Problem waren sowohl deutsche als auch chinesische Schulen konfrontiert, (9) auch wurde der gleiche Lösungsweg eingeschlagen: die Einführung von Schuluniformen. (10) Vielleicht ist China diesbezüglich einen Schritt weiter als Deutschland, (11) bereits vor mehr als zehn Jahren wurde an [chinesischen] Grund- und Mittelschulen das System der Uniformen eingeführt, besonders in großen Städten. (12) Dies hängt sicherlich mit dem chinesischen Gesellschaftssystem und anderen Faktoren zusammen, (13) d.h. China tendiert zum Kollektivismus und betont auch den Formalismus etwas stärker (T4-13. TXT.chin.). Der Text liefert eine Erklärung, warum China „einen Schritt weiter“ ist als Deutschland. Politische und kulturelle Faktoren hätten zu einer früheren Einführung von Uniformen geführt. Dieser Text ist Beleg dafür, dass Handlungen im Kontext des jeweiligen Gesellschaftssystems und der Kultur betrachtet werden, ein Nachweis interkultureller Kompetenz, die einzelnen fortgeschrittenen Deutschlernern bescheinigt werden kann (vgl. Abschnitt 14.3). 17.5 Gruppenübergreifender Vergleich und Hypothesen Darstellung der Maßnahme FSU1.TXT.dt. T1.TXT.chin. T4.TXT.int. T4.TXT.chin. n=19 % n=20 % n=15 % n=15 % HINWEIS auf die konkrete Maßnahme in Hamburg 11 58 11 55 10 67 5 33 BESCHREIBUNG der konkreten Maßnahme in Hamburg 6 32 4 20 2 13 2 13 HINWEIS auf analoge Maßnahmen an anderen Schulen/ in anderen Ländern 2 10 6 30 1 7 3 20 BESCHREIBUNG analoger Maßnahmen an anderen Schulen/ in anderen Ländern 6 32 3 15 5 33 1 7 Tabelle 17.5: Gruppenübergreifender Vergleich (Darstellung der Maßnahme). Vergleich FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. Der Vergleich der muttersprachlichen Korpora der Studienanfänger zeigt, dass die Herkunft der Probanden die Möglichkeiten determiniert, sich auf analoge Maßnahmen beziehen zu können. Die chinesischen Studienanfänger verfügen zwar über einschlägige Erfahrungen, weil sie selbst oder zumindest einige Bekannte im persönlichen Umfeld Schulkleidung getragen haben. Jedoch nutzen sie diesen Erfahrungsvorsprung kaum (15%), um ihren Argumentationen Nachdruck zu verleihen. Dies ist ein völlig unerwartetes Ergebnis der Datenanalyse. Die deutschen Studienanfänger verfügen bis auf eine <?page no="248"?> 236 Darstellung der Maßnahme Ausnahme über keine persönlichen Erfahrungen mit Schuluniformen. Jedoch haben viele (32 %) Auslandsreisen unternommen und verweisen auf dortige Erfahrungen. Der Vergleich der Korpora bietet demnach das merkwürdige Bild, dass die chinesischen Studierenden, die sich aufgrund eigener Erfahrungen an der Debatte in Hamburg beteiligen könnten, kaum Auskunft über analoge Maßnahmen in ihrem Heimatland erteilen. Demgegenüber rekurrieren die deutschen Studierenden, die über keine persönlichen Erfahrungen verfügen, auf Erfahrungen in anderen Ländern, um ausgehend von dortigen Erfahrungen die Maßnahme in Hamburg einzuschätzen. Vergleich T4.TXT.int., FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. Die Interimstexte der fortgeschrittenen Deutschlerner unterscheiden sich von den muttersprachlichen Texten der chinesischen Studienanfänger recht deutlich, denn weit häu- ger (33 %) werden analoge Maßnahmen detailliert dargestellt. Es ist also eine größere Bereitschaft zu verzeichnen, sich erfahrungsbasiert an der Deutung möglicher Handlungskonsequenzen zu beteiligen. Hierin zeigt sich ein verändertes Rollenverhalten im Diskurs: die Interimstexte wirken engagierter, weil die Beschreibungen ähnlicher Maßnahmen in China und deren Folgen den deutschen Verantwortlichen bei ihrer Entscheidungs ndung dienlich sein sollen. Die fortgeschrittenen chinesischen Studierenden teilen deutschen Diskutanten stärker ihr Expertenwissen mit als chinesische Studienanfänger in ihrer Muttersprache. Vergleich T4.TXT.chin., FSU1.TXT.dt., T1.TXT.chin. und T4.TXT.int. Der Vergleich beider Korpora der Gruppe T4 zeigt eine auffällige Verschiebung: Nur in einem einzigen muttersprachlichen Text (7 %) wird eine analoge Maßnahme ausführlich dargestellt - gegenüber fünf Texten (33 %) im interimssprachlichen Textkorpus. Die bei Interpretation von Korpus T4.TXT.int konstatierte Bereitschaft, sich am Diskurs zu beteiligen, indem man von den eigenen Erfahrungen berichtet, ist kaum noch erkennbar. Die muttersprachlichen Texte wirken distanzierter, weil kaum noch Erfahrungswissen vermittelt wird. Demnach prägt die gewählte Sprache offenbar entscheidend das Diskursverhalten. <?page no="249"?> 18 Beurteilung der Maßnahme Die Beurteilung der Maßnahme erfolgt im problemerörternden Teiltext „Einschätzung der Problemlage“. In diesem Kapitel werden die argumentativen Muster in diesem Teiltext untersucht, um zwei zentrale Ex-Ante-Hypothesen zu überprüfen, die nach dem Vergleich der muttersprachlichen Lehrwerke aufgestellt wurden: Offenbar wird an deutschen Gymnasien mit der Aufsatzsorte Problemerörterung vorrangig gelernt, verschiedene Positionen zu vergleichen, um nach Abwägung verschiedener Argumente ein differenziertes Urteil fällen zu können. Demgegenüber wird an Oberen Mittelschulen der Volksrepublik China mit der Aufsatzsorte Yilunwen anscheinend vorrangig gelernt, sich mit den Varianten lilun oder bolun eindeutig zu positionieren (vgl. Abschnitt 9.1). Außerdem dient die Argumentationsanalyse der Überprüfung sich widersprechender Hypothesen der Kontrastiven Rhetorik: Einerseits wird behauptet, Autoren chinesischer Zeitungskommentare verhielten sich häu g „autoritär“ (vgl. Y IN 1999: 145), andererseits wird behauptet, viele chinesische Autoren vermieden eine klare Stellungnahme, besonders dann, wenn ihre Meinung vom allgemeinen Konsens abweicht (vgl. Y OUNG 1994: 122). Die einzelfallübergreifende Analyse ermittelt zunächst die Meinungsbilder in einzelnen Textkorpora. Hierzu werden die zentralen Konklusionen gegenübergestellt, die nach S CHURF / W AGENER (2004: 72) drei Formen annehmen können: begründeter Widerspruch, begründete Zustimmung und teilweise Zustimmung. 60 Nur wenige Propositionen lassen sich mechanisch den Kategorien T OULMIN s zuordnen. Um Texte vergleichen zu können, ist es daher nötig, Propositionen „etwas knapper zu fassen und implizite Aussagen explizit zu machen“ (B RINKER 1997: 75). Daher werden Aussagen mit explizit performativer Formel („Ich begrüße die Einführung von Uniformen.“) ebenso als Zustimmung gewertet wie Gesamtbeurteilungen mit eindeutigen Prädikationen („Ich nde die Maßnahme gut.“). Eine begründete Zustimmung liegt ebenfalls vor, wenn der Kontext eine eindeutige Stellungnahme erkennen lässt („Die Maßnahme kann die aufgetretenen Kon ikte vollständig lösen.“). Die Beurteilungen der Maßnahme erfolgen mit unterschiedlich starkem Nachdruck. Verschiedene hedge-Ausdrücke (vgl. S CHRÖDER 1998) erlauben es Autoren, sich vorsichtig auszudrücken. Andererseits können sie eine These auch mit großer Vehemenz vertreten, die Maßnahme „toll“ nden, ihr „mit beiden Händen Beifall spenden“. Um den jeweiligen Grad des Nachdrucks anzuzeigen, werden in Anlehnung an H OUSE / K ASPER (1981) drei Direktheitsstufen (vehement, moderat, verhalten) unterschieden, mit denen sich die Autoren in ihren abschließenden Stellungnahmen positionieren. 61 Argumente werden mit N AESS (1975) als Pro- oder Kontra-Argumente interpretiert. Außerdem werden Formen der argumentativen Bezugnahme erfasst, um darzustellen, ob die Texte eigene Argumente nach der Formel „Ich trage Äußerung A als Argument für Hypothese B vor“ nennen, oder ob fremde Positionen nach der Formel „X trägt Äußerung C als Argument für Hypothese D vor“ (vgl. G REWENDORF 1980: 133) wiedergege- 60 Als „teilweise Zustimmung“ fasse ich Konklusionen auf, die sich auf einen bestimmten geogra schen Raum oder Schultyp beziehen. 61 H OUSE / K ASPER (1981: 166-170) unterscheiden zwei Formen von Modalitätsmarkern (modality markers). Mit downgraders können Aufforderungen abgeschwächt werden, upgraders erhöhen den Nachdruck, mit denen eine Aufforderung vorgetragen wird. In vorliegender Arbeit werden anders als bei H OUSE / K ASPER keine Subtypen dieser Marker unterschieden. <?page no="250"?> 238 Beurteilung der Maßnahme ben werden. Auf diese Weise können eigene und reportative Argumente unterschieden werden. Bei der Darstellung der Argumentationsmuster unterscheide ich konvergente und kontroverse Argumentationen, verwende diese Termini jedoch anders als K OPPERSCHMIDT . Bei K OPPERSCHMIDT (1989: 208) setzen kontroverse Argumentationen mindestens zwei argumentierende Subjekte voraus, im Gegensatz zu konvergenten Argumentationen, die sowohl von einem Subjekt oder in Kooperation zwischen verschiedenen Subjekten erarbeitet werden können. Das Datenmaterial zeigt jedoch, dass argumentierende Subjekte „gewissermaßen mit sich selber Argumente für alle Seiten des Problems“ austauschen (M ETTENLEITER / K NÖBL 2000: 100). Eine Pro- und Kontra-Argumentation wird dann in Form eines „inneren Monologs“ geführt und ist ebenso „kontrovers“ wie die Auseinandersetzung mit einem explizit genannten Opponenten. Von diesen antithetisch aufgebauten kontroversen Argumentationen sind lineare, konvergente Argumentationen zu unterscheiden, in denen entweder nur Pro- oder nur Kontra-Argumente genannt werden. Abschließend stelle ich einige auffällige kommunikative Taktiken dar, mit denen auf gegnerische Argumente reagiert wird, ohne diese Taktiken jedoch zu quanti zieren. 18.1 Korpus FSU1.TXT.dt. Gesamtbeurteilung der Maßnahme (FSU1.TXT.dt.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 n=19 % Zustimmung x x x x x x x x x x 10 53 Zustimmung im Einzelfall x x 2 10 Ablehnung x x x x x 5 26 weder Zustimmung noch Ablehnung x x 2 10 vehement x x x x x 5 26 moderat x x x x x x x x x x x x 12 63 verhalten x x 2 10 Tabelle 18.1: Meinungsbild Gesamtbeurteilung der Maßnahme FSU1.TXT.dt. Die einzelfallübergreifende Interpretation des Datenmaterials lässt Rückschlüsse auf das Meinungsbild im Monokollektiv der deutschen Studienanfänger zu. Wie Tabelle 18.1 zeigt, wird die Maßnahme in zehn Texten (53%) generell und in zwei Texten (10%) als Pilotprojekt befürwortet, in fünf Texten (26%) wird sie abgelehnt, in zwei Texten (10%) ist schließlich keine deutliche Positionierung erkennbar. Von Interesse ist in der vorliegenden Untersuchung weniger, ob sich die Probanden in ihren Texten für oder gegen die konkrete Maßnahme in Hamburg aussprechen, von Interesse ist, wie nachdrücklich sie Stellung beziehen. In drei Texten geben sich die Autoren als entschiedene Befürworter zu erkennen: „Ich persönlich war schon immer dafür, dass an Schulen Uniformen eingeführt werden.“ (FSU1-08.TXT.dt.12). „[Ich würde] das Projekt an der Hamburger Schule nie ablehnen.“ (FSU1-16.TXT.dt.8). „Die Hamburger Schule [ist] zu beglückwünschen für ihre Initiative und ihr ist viel Glück in Zukunft zu wünschen.“ (FSU1-18.TXT.dt.38). In zwei Texten zeigen sich die Autoren als entschiedene Gegner: Die Maßnahme sei nicht mehr als ein „verzweifelter Versuch“, auf die Kon ikte zu reagieren (FSU1-19.TXT.dt.40). Es seien „große <?page no="251"?> 239 Beurteilung der Maßnahme Zweifel an der Wirksamkeit und Ef zienz der Maßnahme“ angebracht, „mit Sicherheit“ seien Markenprodukte für die Kon ikte nicht verantwortlich (FSU1-14.TXT.dt.14; 30). Anders als in den genannten fünf Texten (26 %) positionieren sich die Autoren in zwölf Texten (63 %) deutlich distanzierter. Neun Befürworter machen geltend, dass das Projekt insgesamt „positiv zu beurteilen“ sei (FSU1-01.TXT.dt.33). Es sei „gut“, dass dieses Pilotprojekt nun auch in Deutschland existiere (FSU1-02.TXT.dt.20). Die Maßnahme sei „prinzipiell nicht falsch“ (FSU1-03.TXT.dt.17). Es sei begrüßenswert, dass man „ein Zeichen“ gesetzt habe (FSU1-6.TXT.dt.28). Alles in allem sei das Projekt „eine gute Sache“ (FSU1-09.TXT.dt.33). Die Uniformern seien ein „gutes Mittel“ Gleichheit zu erlangen (FSU1-10.TXT.dt.54). „Trotz allem“ sei das Projekt „eine sinnvolle Maßnahme“ (T1-12. TXT.dt.18). Das Problem sei „tatsächlich gut gelöst worden“ (FSU1-13.TXT.dt.30). Zwar könne man die Maßnahme nicht als „Musterbeispiel“ betrachten, angesichts der aufgetretenen Kon ikte sei sie jedoch „längst überfällig“ gewesen (FSU1-17.TXT.dt.43-44). Auch die drei weiteren Gegner äußern sich sehr moderat: Die Maßnahme diene nur der „Bekämpfung eines Symptoms“ (FSU1-05.TXT.27), sie sei „keine Lösung für ein Problem, welches viel tiefer sitzt, nämlich in den Köpfen“ (FSU1-11.TXT.dt.14-15). Die Maßnahme sei „kritisch zu betrachten, da sie neben positiven Effekten eben auch negative birgt.“ (FSU1-15.TXT.dt.37). Als typisch für die Texte der deutschen Studienanfänger kann also gelten, dass die zentrale Konklusion nicht mit großer Vehemenz vertreten wird, weder von den Befürwortern noch von den Gegnern der Maßnahme. Mehrheitlich (63 %) folgen die deutschen Probanden demnach den Maßgaben der Aufsatzdidaktik und tragen ein sachlich begründetes Urteil auf moderate Weise vor. In zwei Texten (10 %) wird die Konklusion weder vehement noch moderat vorgetragen, denn es bleibt unklar, ob die Maßnahme letztlich befürwortet oder abgelehnt wird. In einem dieser Texte, in denen sich die Autoren verhalten äußern, folgt dem Bekenntnis der Autorin, persönlich würde ihr die Maßnahme „gar nicht gefallen“, das Urteil, Uniformen seien eine „erste Lösung des Problems der Hänseleien“ (vgl. FSU1-04.TXT.dt.26, 54-57). Auch ein zweiter Text legt sich nicht fest: „Grundsätzlich“ sei es nicht ratsam, die Kon ikte vom Schulgelände zu „verbannen“, man müsse jedoch auch an die Lehrer denken, die von der Maßnahme pro tieren könnten (vgl. FSU1-07.TXT.dt. 27, 22). In beiden Texten bleibt es offen, ob sich die Autoren letztendlich für oder gegen die Maßnahme entscheiden würden. Auch dieses Vorrecht, in einer Erörterung unentschieden zu bleiben, sieht die Aufsatzdidaktik vor (vgl. K OCH 2000: 60). Muster der Argumentation (FSU1.TXT.dt) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 n=19 % Pro-Argumente x x x x x x x x x x x x x x x 16 84 Pro-Argumente (reportativ) x x x x x x x x x x x x x x x x 16 84 Kontra-Argumente x x x x x x x x x x x x x x x x x x 18 95 Kontra-Argumente (reportativ) x x 2 10 Konvergente Argumentation x 1 5 Kontroverse Argumentation x x x x x x x x x x x x x x x x x x 18 95 Tabelle 18.2: Muster der Argumentation FSU1.TXT.dt. <?page no="252"?> 240 Beurteilung der Maßnahme Tabelle 18.2 erfasst die in den einzelnen Texten genannten Pro- und Kontra-Argumente, unabhängig von den abschließenden Stellungnahmen. Deutlich wird, dass in fast allen Texten (95 %) kontrovers argumentiert wird, die Probanden positionieren sich also mehrheitlich erst nach Abwägung verschiedener Argumente. Nur in einem Text (5 %) wird konvergent argumentiert. Konvergente Argumentationen Kein einziger Befürworter führt lediglich Pro-Argumente an, um seine These zu stützen. Nur in FSU1-11.TXT.dt. werden mehrere Kontra-Argumente angeführt, um zu einer eindeutigen Ablehnung der Maßnahme zu gelangen. FSU1-11. TXT.dt. Kontra-Argumente 1. Die Maßnahme kaschiert nur soziale Unterschiede, die Kluft zwischen Arm und Reich bleibt bestehen (vgl. 14-16). 2. Die Maßnahme bewirkt eine „Verschiebung“ des Problems: Schüler werden neue Angriffsziele nden, um ihre Mitschüler verspotten zu können (vgl. 17-19). 3. Die Maßnahme verhindert nicht, dass sozial Schwache diskriminiert werden: Reiche Schüler werden sich viele T-Shirts kaufen und Mitschüler in ausgewaschener Kleidung verlachen (vgl. 20-21). Stellungnahme „Grundsätzlich denke ich, dass Schulkleidung keine Lösung für ein Problem ist, welches viel tiefer sitzt, nämlich in den Köpfen.“ (14-15). Dieser Text verzichtet auf den Hinweis, dass in der Debatte auch andere Positionen vertreten werden. Auch die im Ausgangstext genannten Pro-Argumente werden nicht aufgegriffen und widerlegt. Dieser Verzicht auf eine diskursive Auseinandersetzung mit der strittigen Frage ist eine Ausnahme im Korpus FSU1.TXT.dt. Neunzehn Texte (85%) stellen dagegen verschiedene Argumente gegenüber, sie bauen ihre Problemerörterung kontrovers auf. Einige Studienanfänger kommentieren dieses Verfahren in ihren Texten: Schuluniformen seien „eine lange Liste mit Pro und Kontra“ (FSU1-17.TXT.dt.31), ein Problem müsse man immer „von zwei Seiten sehen“ (FSU1-06. TXT.dt.27). „Für alle diese Fragen“, die aufgeworfen worden sind, gäbe es „eine Menge Pros und Kontras“ (FSU 1-07.TXT.dt.19). Kontroverse Argumentationen: Innerer Monolog Einer ersten Gruppe kontroverser Argumentationen lassen sich zwei Texte (FSU1-01- TXT.dt.; FSU1-16.TXT.dt.) zuordnen. Sie stellen Pro- und Kontra-Argumente in Form eines inneren Monologs gegenüber, ohne Argumente aus dem Ausgangstext aufzugreifen. <?page no="253"?> 241 Beurteilung der Maßnahme FSU1- 01. TXT. dt. Pro Kontra 1. Die Maßnahme kann Problemen vorbeugen (vgl. 28). 2. Die Maßnahme stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl der Schüler (vgl.30). 3. Die Maßnahme hat positive Auswirkungen auf das Lernklima (vgl. 30). 4. Die Maßnahme demonstriert, dass man auch auf andere Eigenschaften achten kann (vgl. 34). 1. Die Maßnahme wird Probleme nicht verhindern (vgl. 29). 2. Die Maßnahme verhindert nicht, dass sich der Markenterror verlagert (vgl. 32). 3. Die Maßnahme verursacht zusätzliche Kosten für die Eltern entstehen (vgl. 31). Stellungnahme „Das Projekt der Hamburger Schule ist trotzdem positiv zu beurteilen, denn es demonstriert den Schülern eingängig, dass man auch auf andere Eigenschaften achten kann.“ (33-34). Nach einer Gegenüberstellung möglicher Argumente gelangt der Text zu der Einschätzung, die Maßnahme sei „trotzdem“ zu befürworten. Er fällt also ein abgewogenes Urteil. Auch FSU1-16.TXT.dt. stellt Pro- und Kontra-Argumente in Form eines inneren Monologs gegenüber. Die Autorin teilt außerdem mit, dass sich ihre Position zu Schuluniformen grundlegend geändert habe: FSU1-16. TXT.dt. Kontra-Argumente [Position früher] 1. Die Maßnahme raubt Schülern ihre Identität (vgl. 5). Stellungnahme [Position früher] „Seltsamerweise hatte ich [...] 1997/ 98 [...] eine ganz andere Meinung als heute.“ (3-4). Pro-Argumente [Position heute] Kontra-Argumente [Position heute] 1. Die Maßnahme wirkt Kon ikten („belangloser Scheiß“) entgegen (vgl. 10). 2. Die Maßnahme führt günstigstenfalls ästhetisch ansprechende Uniformen ein (vgl. 19). 3. Die Maßnahme stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl (vgl. 19). 4. Die Maßnahme verbannt „als Zusatzeffekt“ das Problem von der Schule (vgl. 20). 1. Die Maßnahme führt im konkreten Fall der Hamburger Schule ein unattraktives, „wäldliches Oberteil“ ein (vgl. 15). 2. Die Maßnahme erreicht nicht, dass sich „alle wieder lieb haben“: Außerhalb der Schule geht der Markenterror weiter (vgl. 21-23). Stellungnahme [Position heute] „Daher würde ich das Projekt der Hamburger Schule auch nie ablehnen [...]. Es ist eine absolut gerechtfertigte Maßnahme.“ (8, 10). „Meine konkrete Meinung zu Schuluniformen ist daher positiv. Liebend gerne! “ (18). Die Besonderheit dieses Textes besteht erstens darin, dass zwei Konklusionen gestützt werden, die frühere und die heutige Position. Zweitens befürwortet die Autorin heute die Maßnahme generell und stützt ihre These mit vier Pro-Argumenten. Gleichzeitig kri- <?page no="254"?> 242 Beurteilung der Maßnahme tisiert sie die konkrete Umsetzung der Maßnahme in Hamburg. Ganz deutlich zeigt sich das Bestreben, verschiedene Argumente gegenüberzustellen, verschiedene Positionen probehalber einzunehmen, bevor man sich festlegt. Dieses Austarieren verschiedener Argumente wird hier wie bereits im zuvor diskutierten Text als innerer Monolog vollzogen, d.h. unabhängig vom Ausgangstext. Kontroverse Argumentationen: Explizite Bezugnahme auf andere Debattenbeiträge Sechszehn Texte (84 %) greifen explizit Argumente aus dem Ausgangstext auf oder beziehen sich auf andere, im Ausgangstext nicht genannte Argumente. Bei diesen „reportativen“ Argumenten nehmen die Autoren die Rolle eines Chronisten ein. Sie referieren verschiedene Standpunkte, um anschließend zu einer persönlichen Stellungnahme zu gelangen. FSU1-07.TXT.dt setzt beispielsweise den Pro-Argumenten aus dem Ausgangstext eigene Kontra-Argumente entgegen. FSU1-07. TXT.dt. Pro-Argumente [reportativ] Kontra-Argumente 1. Die Maßnahme erleichtert die morgendliche Auswahl passender Kleidung (vgl. 12). 2. Die Maßnahme verhindert, dass Schüler mit teurer Kleidung angeben können (vgl. 12). 3. Die Maßnahme stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl von Schülern und Lehrern. (vgl. 13). 1. Die Maßname löst das Problem des Markenterrors nicht, es wird lediglich aus der Schule „verbannt“ (vgl. 15, 27, 31-32). 2. Die Maßnahme verhindert nicht, dass Schüler um Hosen, Schuhe, Jacken oder Mützen wetteifern (vgl. 18). 3. Die Maßnahme verhindert, dass Kon ikte an einem Ort ausgetragen werden, an dem Lehrer schlichtend und beratend eingreifen können (vgl. 20-21). Pro-Argumente 4. Lehrer werden durch die Maßnahme entlastet (vgl. 22-24). Stellungnahme „Eine sehr schwierige Thematik, zu der es sicher keine einfachen Lösungswege gibt. Ich selbst hätte keine einschlägige Idee diesem Problem auch nur einigermaßen gerecht zu werden. Denn grundsätzlich wäre ich dagegen, eine solch wesentliche Sache aus der Schule zu verbannen, anderseits weiß ich aus meiner eigenen Schulzeit, wie hil os Lehrer solchen Situationen gegenüberstehen, vor allem da Schüler immer gewaltbereiter werden.“ (25-28). Die Autorin re ektiert, was geschehen würde, wenn man trotz gewichtiger Einwände gegen die Maßnahme tatsächlich darauf verzichten würde, Uniformen einzuführen. Die Lehrer wären überfordert, da sie nicht ausgebildet sind, Kon ikte unter den Schülern zu lösen. Daher hält sie in ihrer abschließenden Stellungnahme fest, dass es bei dieser „schwierigen Problematik“ keine „einfachen Lösungswege“ gäbe. Zwei Texte beziehen sich nicht nur reportativ auf Pro-Argumente des Ausgangstextes, sie geben reportativ Argumente anderer Diskursteilnehmer wieder. Ein Musterbeispiel solch einer kontrovers aufgebauten Erörterung ist hierbei FSU1-18.TXT.dt. Die Autorin folgt einem Muster, das B ERGER / K IENZLER (2000: 38) darstellen: „Bei der Pro- und Kontra-Erörterung kommt es darauf an, gegensätzliche Stellungnahmen zu einer Frage <?page no="255"?> 243 Beurteilung der Maßnahme zu berücksichtigen und Begründungen für beide Positionen darzustellen. Auf Grund dieser Darstellung trifft man dann seine eigene Entscheidung.“ Die Autorin erörtert die zentrale Geltungsfrage gemäß diesen Vorgaben in einem Dreischritt, indem sie Pro- und Kontra-Argumente erst „im Block“ gegenüberstellt (vgl. S CHURF / W AGENER 2004: 27), um anschließend ein eigenes Urteil zu fällen. FSU1-18. TXT.dt. Pro-Argument [reportativ] Kontra-Argument [reportativ] 1. Die Maßnahme schafft eine Basis der Gleichheit: Die hauptsächlichen Statussymbole werden während des Unterrichts nicht zugelassen (vgl. 22-23). 2. Die Maßnahme führt zu einer entspannteren Atmosphäre in der Schule und wirkt sich positiv auf die Leistungen der Schüler aus (vgl. 24-25). 3. Die Maßnahme führt zu einer Identi kation mit der Schule (vgl. 26). 4. Die Maßnahme stärkt die Individualität der Schüler, die sich im Denken, Handeln und Sein eines Menschen zeigt (vgl. 27-29). 1. Die Maßnahme knüpft an eine militaristische Tradition an. Schuluniformen evozieren Bilder von Kindern in HJ-Hemden (vgl. 8). 2. Die Maßnahme beseitigt den Markenterror nicht: Andere Statussymbole sind weiterhin erlaubt (vgl. 10-11). 3. Die Maßnahme erfolgt gegen das Einverständnis der Jugendlichen und verursacht neuen Ärger (vgl. 12-14). 4. Die Maßnahme verhindert, dass Jugendliche ihre Individualität ausdrücken (vgl. 15-16). 5. Die Maßnahme verhindert, dass Jugendliche lernen sich durchzusetzen (vgl. 17). Pro-Argument 5. Die Maßnahme vermittelt den Schülern das Gefühl, kein Einzelkämpfer zu sein (vgl. 34-37). Stellungnahme „Ich persönlich bin ein Befürworter der Schuluniform.“ (30). Diese Au istung der Argumente zeigt, dass sich die Autorin bemüht, konkurrierende Positionen möglichst neutral darzustellen. Hierbei bedient sie sich standardisierter Redemittel, wie sie im Aufsatzunterricht vermittelt werden („Befürworter sind der Meinung, dass....; ein weiterer Punkt der Befürworter ist, dass....“). Außerdem folgt die Reihenfolge der einzelnen Argumente einer bestimmten Progression. Zunächst trägt die Autorin Argumente vor, die eine Position stützen, die sie selbst nicht teilt, womit sie ebenfalls Empfehlungen der Aufsatzdidaktik folgt (vgl. S CHILLING 2001: 18). Am Ende der Gegenüberstellung nennt sie dann die Argumente, die der „eigenen Meinung am ehesten entsprechen“ (F IX 2002: 66). Ferner bezieht die Autorin Pro- und Kontra-Argumente aufeinander. So reagiert das Pro-Argument, man könne eine Basis der Gleichheit schaffen, wenn man die „hauptsächlichen“ Statussymbole verbiete, auf das Kontra-Argument, wonach es unmöglich sei, alle Statussymbole zu verbieten. Dem Kontra-Argument, die Maßnahme erfolge gegen das Einverständnis der Jugendlichen, hält sie entgegen, es entstehe eine entspanntere Atmosphäre, wenn sich die Schüler erst an die Uniformen gewöhnt hätten. Dem zentralen Kontra-Argument, Jugendliche könnten ihre Individualität nicht ausdrücken, setzt sie entgegen, Individualität entstehe erst, wenn Jugendliche sich nicht auf Statussymbole konzentrieren würden. Dieser antithetische Aufbau des Textes lässt zunächst bewusst offen, welche Position die Autorin vertritt. Erst am Textende gibt <?page no="256"?> 244 Beurteilung der Maßnahme sie zu erkennen, dass sie während ihrer Schulzeit selbst Uniform getragen hat und die Maßnahme daher auch aufgrund eigener Erfahrungen vorbehaltlos unterstützt. Festhalten lässt sich, dass die Form einer antithetischen Gegenüberstellung von Pro- und Kontra-Argumenten, wie sie gängige deutsche Lehrwerke favorisieren, „in Reinform“ nur in diesem Text realisiert wird. Bis auf eine Ausnahme stellen aber auch die anderen Texte verschiedene Positionen gegenüber, oder sie weisen zumindest darauf hin, dass im Diskurs andere Positionen vertreten werden. Auseinandersetzung mit gegnerischen Argumenten Die deutschen Studienanfänger setzen sich in ihren Texten mit fremden Argumenten auseinander und lassen den Leser somit am Prozess der Meinungsbildung teilnehmen. Hierbei zeigen sich bestimmte kommunikative Taktiken, wie in folgendem Beispiel: (19) Ein anderer Aspekt ist die Zusammengehörigkeit, die durch gleiche Kleidung bei allen Schülern erzeugt werden soll. (20) Der Schulleiter in Hamburg sieht in der Uniform eine Chance, dieses Gefühl bei seinen Schülern zu wecken. (21) In gewisser Weise ist dies wirklich ein Phänomen, das man bei Jugendlichen beobachten kann. (22) Gerade in letzter Zeit lassen viele Abiturjahrgänge eigene Abi-T-Shirts anfertigen, als Zeichen, dass sie eine Gruppe darstellen. (23) Hier liegt aber auch der Knackpunkt, möchte man sich damit nicht von anderen jüngeren Schülern abgrenzen? (24) Zusammengehörigkeit ja, aber bitte nicht mit allen, lautet also das Motto (FSU1-15.TXT.dt.). Zunächst referiert FSU1-15.TXT.dt. das Pro-Argument des Schulleiters, dass die Maßnahme das Zusammengehörigkeitsgefühl steigern könne. Diesem Argument stimmt der Text zunächst ausdrücklich zu: Viele Schüler würden wirklich und sogar freiwillig ein T-Shirt der Schule erwerben, um sich als Schüler einer bestimmten Schule auszuweisen. Nun setzt die Kritik der Autorin ein, indem sie die Motive der Schüler deutet. Ihnen gehe es nicht um Identi kation, sondern vielmehr um Abgrenzung. Der Knackpunkt in der Argumentation des Schulleiters besteht also darin, dass die Schüler aus Motiven nach Schuluniformen verlangen, die der Schulleiter gar nicht erahnt. Am deutlichsten zeigt sich dieses Verfahren, gegnerische Argumente aufzugreifen und sich ihnen gegebenenfalls sogar anzuschließen, um dann doch andere Schlussfolgerungen zu ziehen, im bereits zitierten Text FSU1-18.TXT.dt. (8) Gegner der Schuluniform argumentieren einmal mit der Tatsache, dass die Schuluniform keine Tradition in Deutschland hat, wie etwa in England. In Deutschland wird eine Uniform mit Militär gleichgesetzt, so ihre These, und evoziert Bilder von Kindern in HJ-Hemden. (9) Dass dies nicht fortgesetzt werden kann und darf, ist selbstverständlich. (10) Weiterhin, so die Gegner, ist der Terror gegenüber sozial Schwächeren durch die Schuluniform keineswegs aus der Welt geschafft. (11) Es gibt auch andere Statussymbole, wie beispielsweise Schuhe oder Schmuckstücke. (12) Ein weiterer Punkt der Gegner der Schuluniform ist, daß es nicht die eigene Entscheidung des Jugendlichen ist, was er anzieht. (13) Für einen Jugendlichen ist aber nichts so wichtig, wie sich selbst entscheiden zu können und so wird ein Großteil der Jugendlichen gegen eine Einführung der Uniform sein. (14) Und etwas gegen den Willen der Schüler einzuführen, das kann jeder Lehrer bestätigen, bringt wiederum viel Ärger mit sich. Ärger, den man eigentlich aus der Welt schaffen wollte. (15) Die Jugendlichen be nden sich außerdem in der Phase der Entwicklung der Persönlichkeit. (16) Es ist somit einmal wichtig für den Jugendlichen, seiner Individualität durch die Kleidung, die er trägt, Ausdruck zu verleihen, denn sie zeigt, bevor er den Mund aufmacht und sich artikuliert (was ja eben in dieser Zeit für viele oft ein Problem darstellt), was und wer er ist. (17) Zudem ist es wichtig zu lernen sich durchzusetzen. Und wo lernt man dies besser, als beim Sich-Gegenüber-Gleichaltrigen-Behaupten? (18) In der Schule soll fürs Leben gelernt werden, so das Sprichwort, (19) doch vielen Jugendlichen wird die Aussicht <?page no="257"?> 245 Beurteilung der Maßnahme auf Leben regelrecht vergällt, wenn sie an das tägliche Hauen-und-Stechen auf dem Schulhof denken. (20) Und muß Schule tatsächlich auf Konsum und Schichtzugehörigkeitsdenken vorbereiten? (21) Befürworter der Schuluniform sind der Meinung, daß es eine Basis der Gleichheit schafft. (22) Daß man nicht jegliche Art von Statussymbolen verbieten kann, ist klar, (23) jedoch die hauptsächlichen gehören nicht in den Unterricht. (24) Sind die Uniformen erst einmal eingeführt und akzeptiert, ist auch eine entspanntere Atmosphäre in der Schule gewährleistet. (25) Dass sich dies nicht nur auf die Leistungen, sondern auch auf die Einstellung zur Institution Schule auswirkt, ist ein positiver Nebeneffekt. (26) Es wird Zeit, so die Befürworter, daß eine Identi- kation mit der Schule angestrebt wird, dass Schule nicht als abzulehnendes Übel betrachtet, sondern als Teil seines Lebens, in dem er momentan viel Zeit verbringt. (27) Dem Argument der Persönlichkeitsentwicklung der Gegner halten die Befürworter die Tatsache entgegen, daß Individualität mehr ist, als das T-Shirt das man trägt. (28) Sie zeigt sich durch das Handeln, Denken und Sein eines Menschen, (29) und das hat vielmehr die Chance sich herauszubilden, wenn keine Äußerlichkeiten, die ablenken, vorhanden sind (FSU1-18.TXT.dt.). Hier zeigt sich, dass einzelne Argumente der Gegenseite ernst genommen werden. Dem Kontra-Argument, Uniformen evozierten Bilder von Kindern in HJ-Uniformen, schließt sich die Autorin ausdrücklich an („Dass dies nicht fortgesetzt werden kann und darf, ist selbstverständlich.“). Dem Kontra-Argument, die Maßnahme verhindere, dass Jugendliche lernten sich auseinanderzusetzen, stimmt sie ebenfalls zunächst zu („In der Schule soll fürs Leben gelernt werden, so das Sprichwort.“), kontert dann aber mit einer rhetorischen Frage („Und muss Schule tatsächlich auf Konsum und Schichtzugehörigkeit vorbereiten? “). Auch das zentrale Argument der Gegner, die Maßnahme verhindere die Entwicklung der Individualität, greift sie auf, um es zu widerlegen. Wie die Gegner der Maßnahme sieht sie in der Entwicklung der Individualität ein wichtiges Erziehungsziel, nur de niert sie Individualität anders. Individualität sei mehr „als das T-Shirt, das man trägt“. Die zwei zitierten Texte zeigen diplomatisches Geschick. Gegnerische Argumente werden nicht pauschal abgelehnt, vielmehr werden sie kritisch geprüft und gegebenenfalls sogar übernommen. Es wird also ausgelotet, inwiefern sich in der Debatte Konsens herstellen lässt. Diese Aufgeschlossenheit gegenüber gegnerischen Argumenten, die Bereitschaft, eigene Argumente zu hinterfragen, ist Kennzeichen einer entwickelten Diskussionskultur, in der die Macht des Arguments zählt. Zwar prüfen nicht alle Texte im Korpus FSU1.TXT. dt. gegnerische Argumente mit gleicher Sorgfalt, dennoch zeigt sich die generelle Tendenz, kontrovers zu argumentieren und auf andere Debattenbeiträge einzugehen. 18.2 Korpus T1.TXT.chin. Gesamtbeurteilung der Maßnahme T1.TXT.chin. 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 n=20 % Zustimmung x x x x x x x x x x x x x x x 15 75 Zustimmung im Einzelfall x 1 5 Ablehnung x x x x 4 20 weder Zustimmung noch Ablehnung - vehement x x x x x x x x x x 10 50 moderat x x x x x x x x 8 40 Verhalten x x 2 10 Tabelle 18.3: Meinungsbild Gesamtbeurteilung der Maßnahme T1.TXT.chin. <?page no="258"?> 246 Beurteilung der Maßnahme Das in Tabelle 18.3 wiedergegebene Meinungsbild zeigt in der Gruppe der chinesischen Studienanfänger ein deutliches Übergewicht der Befürworter. Sechszehn Probanden (80 %) sprechen sich in ihren Texten (80 %) generell oder unter bestimmten Bedingungen für die Maßnahme aus. Dieser großen Gruppe der Befürworter stehen nur vier Gegner (20 %) gegenüber. Auffällig ist die Emphase, mit der die Maßnahme in neun Texten befürwortet wird: Sie sei „korrekt und absolut richtig“. Die Erfolge in Hamburg seien „für jeden ersichtlich, der Augen besitzt“ (T1-06.TXT.chin.7, 23). Die Maßnahme sei „äußerst gut“ (T1- 10.TXT.chin.34). Das System der Schuluniform sei „zurzeit die effektivste und empfehlenswerteste Maßnahme“, im Vergleich zu den Vorteilen seien „die Nachteile nicht der Rede wert“ (T1-11.TXT.chin.4, 21). Es handle sich um eine „sehr gute Maßnahme“ (T1-13.TXT.chin.30). „Zweifellos“ sei die Maßnahme „vernünftig“ (T1-15.TXT.chin.25). Sie sei „von größter Bedeutung“ (T1-16.TXT.chin.41). Sie ndet „uneingeschränkte Zustimmung“ (T1-17.TXT.chin.22). Ihr wird „mit beiden Händen Beifall“ gespendet (T1-18.TXT.chin.20). „Ohne jeden Zweifel“ könne sie „das Phänomen der Konkurrenz wirkungsvoll beseitigen und den sinnlosen Kon ikten unter den Schülern Einhalt gebieten“ (T1-20.TXT.chin.26). Moderater äußern sich sieben Befürworter. Die Maßnahme sei „richtig und vernünftig“ gewesen (T1-02.TXT.chin.31). Es handle sich um eine „vernünftige Wahl“ (T1-03. TXT.chin.19). Man habe eine „vernünftige“ Maßnahme ergriffen (T1-04.TXT.chin.17). Es würden „Vorteile überwiegen“ (T1-09.TXT.chin.15). Eine Autorin bezeichnet sich „eher“ als Befürworterin (T1-14.TXT.chin.46), eine andere schließt noch distanzierter mit den Worten: „Zur Maßnahme der Hamburger Mittelschule meine ich, dass sie für kurze Zeit zweckdienlich ist.“ (T1-19.TXT.chin.42). Eine Autorin, die für die Maßnahme nur an Grund- und Unteren Mittelschulen plädiert, bezeichnet die Maßnahme dort als „angemessen“, an Oberen Mittelschule hingegen als „völlig über üssig“ (T1-12. TXT.chin. 26-27). Aufschlussreich sind die Stellungnahmen der vier Gegner. Lapidar heißt es in einem Text: „Persönlich stimme ich der im Text dargestellten Maßnahme nicht zu.“ (T1- 08.TXT.chin.22). Ein Text vermeidet es, sich explizit gegen die Maßnahme auszusprechen: (38) Wir sind von der Grundschule bis zur Höheren Mittelschule in Uniformen aufgewachsen. (39) Aber jetzt propagieren einige Schulen die „Individualisierung“, die von der Uniform für die eigene Klasse bis zur völlig freien Kleiderwahl reicht. (40) Lassen wir der Individualität freien Lauf! (41) Gleiche Kleidung, gleiche Schultaschen, selbst gleiche Schuhe zwängen die Schüler ein. (42) Ihnen werden die Kanten abgeschliffen, so dass sie keine Individualität mehr besitzen (T1-01.TXT.chin.). Mit dem emphatischen Appell „Lassen wir der Individualität freien Lauf! “ gibt sich die Autorin als Gegnerin zu erkennen. Sie nennt zwar ein zentrales Kontra-Argument (den Jugendlichen werden die Kanten abgeschliffen), sie vermeidet unter Hinweis auf neue Reglungen in China jedoch, deutliche Kritik an der Maßnahme in Hamburg zu üben. Auch zwei andere Gegner vermeiden es, sich offensiv gegen die Maßnahme auszusprechen: „Abschließend möchte [ich] zur Maßnahme eine etwas abweichende Meinung äußern.“ (T1-07.TXT.chin.27). Ähnlich verhalten klingt folgendes Fazit: „Daher sind [Uniformen] für das Heranwachsen der Schüler vielleicht nicht unbedingt ‚erforderlich’.“ (T1-05.TXT.chin.35). Deutlich wird die übergroße Vorsicht der Gegner. Nur einer spricht deutlich aus, dass die Maßnahme nicht seine Zustimmung ndet. Ein Gegner kritisiert die Maßnahme <?page no="259"?> 247 Beurteilung der Maßnahme indirekt, indem er auf neue Direktiven verweist, die den Schülern größere Entfaltungsmöglichkeiten einräumen. Zwei Gegner äußern sich ausweichend. Sie deuten nur an, eine abweichende Position zu vertreten, um Befürworter der Maßnahme nicht zu brüskieren. Das Datenmaterial zeigt erstens den Hang vieler chinesischer Studienanfänger zur Emphase (50 %). Zweitens zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang von Emphase und vertretener Position. So sind es vor allem die Befürworter, die ihre Haltung voller Enthusiasmus vertreten. Moderat äußern sich sowohl Gegner als auch Befürworter, auffällig ausweichend allein zwei Gegner. Muster der Argumentation Muster der Argumentation (T1.TXT.chin.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 n=20 % Pro-Argumente x x x x x x x x x x x x x x x x 16 80 Pro-Argumente (reportativ) x x x 3 15 Kontra-Argumente x x x x x x x x x x 10 50 Kontra-Argumente (reportativ) x 1 5 Konvergente Argumentation x x x x x x x x x x 10 50 Kontroverse Argumentation x x x x x x x x x x 10 50 Tabelle 18.4: Muster der Argumentation T1.TXT.chin. Diese Übersicht (Tabelle 18.4) zeigt erstens, dass zehn Texte (50 %) die konvergente Form und zehn Texte (50 %) die kontroverse Form der Argumentation wählen. Die Übersicht zeigt zweitens, dass nur drei Probanden (15 %) auf den Ausgangstext Bezug nehmen, nur ein Proband (5 %) auf eine andere Position in der Debatte. Konvergente Argumentationen Die Eindeutigkeit, mit der in vielen Texten der chinesischen Studienanfänger eine Position vorgetragen wird, korrespondiert mit dem Muster der Argumentation. Acht Befürworter (40 %) nennen ausschließlich Pro-Argumente und tragen ihre These sehr emphatisch vor. Besonders umfangreich ist die Liste der Pro-Argumente in folgendem Text: <?page no="260"?> 248 Beurteilung der Maßnahme T1-16. TXT.chin. Pro-Argumente 1. Die Maßnahme unterbindet grundsätzlich den Wettstreit um Markenkleidung (vgl. 32). 2. Die Maßnahme lässt die Widersprüche zwischen armen und reichen Schülern nicht mehr so offen hervortreten (vgl. 32). 3. Die Maßnahme führt dazu, dass die Schüler mehr Energie für das Lernen aufbringen (vgl. 33). 4. Die Maßnahme führt dazu, dass sich die Schüler nicht mehr wegen der Armut minderwertig fühlen (vgl. 33). 5. Die Maßnahme beein usst die Lebenseinstellung positiv (vgl. 34). 6. Die Maßnahme führt dazu, dass die Schüler nicht mehr frühzeitig vom Geld korrumpiert werden (vgl. 36). 7. Die Maßnahme stellt die Schüler auf eine gemeinsame Horizontale und vermittelt ein Zusammengehörigkeitsgefühl (vgl. 37-38). 8. Die Maßnahme beugt vor, dass Jugendliche später nicht nach Markenwagen, Markenimmobilien etc. verlangen (vgl. 39). 9. Die Maßnahme ermöglicht, dass die Schüler später Beiträge für die Gesellschaft leisten können (vgl. 40). Stellungnahme „Persönlich halte ich die Maßnahme für sehr gut“ (19). „Ich meine, dass diese Maßnahme die Schüler sehr gut schützt“ (35). „Die Maßnahme ist von größter Bedeutung.“ (41). Der umfangreichen Au istung von Pro-Argumenten folgt in diesem Beispiel eine emphatische Befürwortung der Maßnahme. Im deutlichen Gegensatz zu vielen Befürwortern argumentieren die Gegner: T1-01. TXT.chin. Kontra-Argumente 1. Die Maßnahme kuriert nur die Symptome und nicht die Krankheit. Sie verhindert nicht, dass Schüler um andere Markenprodukte wetteifern (33-36). 2. Durch die Maßnahme werden den Schülern die Kanten abgeschliffen, so dass sie keine Individualität mehr besitzen (42). Stellungnahme „Lassen wir der Individualität freien Lauf! “ (40) „Ich persönlich verlange nicht nach Marken.“ (44). T1-07. TXT.chin. Kontra-Argumente 1. Die Maßnahme kuriert nur die Symptome und nicht die Krankheit (28). Stellungnahme „Abschließend möchte [ich] zur Maßnahme eine etwas abweichende Meinung äußern.“ (27) <?page no="261"?> 249 Beurteilung der Maßnahme Das Datenmaterial zeigt, dass Gegner nicht nur sehr verhalten ihre abweichende Meinung äußern, sie stützen diese auch nur mit wenigen Argumenten. Kontroverse Darstellung: Innerer Monolog Zehn Texte (50 %) stellen Pro- und Kontra-Argumente gegenüber. Folgender Beispieltext bezieht sich hierbei nicht auf den Ausgangstext: T1-02. TXT. chin. Pro Kontra 1. Uniformen beseitigen unmerklich die Rivalität der Schüler (33). 2. Uniformen fördern das Einverständnis mit der Schule und das Ehrgefühl ihr gegenüber (34). 3. In der Gesellschaft repräsentiert das Verhalten eines Schülers in noch stärkerem Maße seine Schule (35). 1. Die Maßnahme vermag nicht, die Psyche der Schüler zu berichtigen (39). 2. Die Maßnahme ist nicht konsequent, da es den Schülern weiterhin erlaubt ist, Markentaschen und Markenschuhe zu tragen (40). Stellungnahme „Die Maßnahme der Hamburger Mittelschule, Uniformen einzuführen, war richtig und vernünftig.“ (31) „Trotzdem stelle ich noch die Frage: Kann die Schuluniform das übertriebene Verlangen nach Markenprodukten beseitigen? Die klare Antwort lautet Nein.“ (37-38). Dieser Text zeigt, dass viele chinesische Studienanfänger ähnlich wie die deutschen Studienanfänger Argumentationen kontrovers aufbauen, mit dem Unterschied, dass sie sich kaum auf Argumente aus dem Ausgangstext beziehen, sondern es bevorzugen, Pro- und Kontra-Argumente in Form eines inneren Monologs einander gegenüberzustellen. Kontroverse Darstellung (Explizite Bezugnahme auf andere Debattenbeiträge) Nur drei Texte (15 %) reagieren auf Argumente aus dem Ausgangstext, nur ein Text (5 %) bezieht sich auf Argumente Dritter: <?page no="262"?> 250 Beurteilung der Maßnahme T1-11. TXT. chin. Pro Kontra [reportativ] 1. Erst ordentliche, einheitliche Kleidung kann Schülern ein Gefühl der Zugehörigkeit zum Kollektiv vermitteln und lässt sie noch inniger die Wärme des großen Kollektivs spüren. (vgl. 16). 2. Uniformen sind das Symbol der Schule. Erst ordentliche und geschmackvolle Uniformen hinterlassen beim Betrachter einen wunderschönen Eindruck (vgl. 19). 1. Uniformen gestatteten nicht, die eigene Persönlichkeit auszudrükken. (vgl..12). 2. Es entsteht der Eindruck, alle Schüler seien gleich (vgl. 12). 3. Jugendlichen wird in der schönsten Zeit ihres Lebens verwehrt, sich äußerlich herauszustellen (vgl. 13). Stellungnahme „Vielleicht gibt es immer noch Menschen, die diese oder jene Nachteile und Unzulänglichkeiten des Systems der Schuluniform anführen können, doch ich denke: im Vergleich zu den [genannten] Vorteilen sind die Nachteile nicht der Rede wert. Das System der Schuluniform sollte man befürworten, die Maßnahme sollte man verbreiten.(20-23) Dieser Text stellt eine Ausnahme dar, denn sowohl im Hauptteil des Aufsatzes als auch im Schlussteil werden mögliche Gegenpositionen in der Debatte re ektiert. Auseinandersetzung mit gegnerischen Argumenten Es kann generell festgehalten werden, dass die chinesischen Studienanfänger nicht bestrebt sind, widerstreitende Positionen einander gegenüberzustellen, um ein abgewogenes Urteil zu fällen. Ein Text (T1-11.TXT.chin.) ist eine bemerkenswerte Ausnahme, denn es bestehen deutliche Parallelen zu Texten deutscher Studienanfänger, die gegnerische Argumente aufgreifen und sorgsam prüfen. Daher lohnt eine nähere Betrachtung dieses Textes. (9) [Es] wurde bereits ein breiter Konsens erlangt: (10) Ungeachtet ob die Kinder aus reichen oder armen Familien stammen, der Konkurrenzkampf an den Schulen muss vollständig beseitigt werden. (11) Womöglich werden einige Menschen einwenden, dass Schuluniformen auch etliche Nachteile bergen. (12) Beispielsweise werden manche meinen, dass es eine Uniform nicht jedem gestatte, seine eigene Persönlichkeit auszudrücken, so dass der Eindruck entsteht, alle Schüler seien der gleiche Mensch. (13) Andere wiederum werden meinen, die Jugend sei die schönste Zeit des Lebens. Falls man sein äußeres Erscheinungsbild in dieser Zeit nicht herausstellen darf, dann wird es für immer zu spät sein. (14) Die Menschen, die diese Meinungen vertreten, bilden keine Minderheit. (15) Ich hingegen meine, dass tatsächlich ein Mangel an Persönlichkeit besteht. (16) Erst ordentliche, einheitliche Kleidung kann Schülern ein Gefühl der Zugehörigkeit zum Kollektiv vermitteln und lässt sie noch inniger die Wärme des großen Kollektivs spüren. (17) Die Schüler werden dies im Schulalltag vielleicht nicht bemerken, (18) doch wenn du auf der Straße zwei Schülergruppen erblickst, die eine mit, die andere ohne Uniform, dann wirst du den Unterschied zwischen ihnen ganz deutlich wahrnehmen. (19) Die Uniform ist das Symbol der Schule, ordentliche und geschmackvolle Uniformen hinterlassen einen wunderschönen Eindruck. <?page no="263"?> 251 Beurteilung der Maßnahme (20) Vielleicht gibt es immer noch Menschen, die diese und jene Nachteile und Unzulänglichkeiten des Systems der Schuluniform anführen können, (21) doch ich denke: Im Vergleich zu den [genannten] Vorteilen sind die Nachteile nicht der Rede wert. (22) Das System der Schuluniform sollte man befürworten, (23) die Maßnahme sollte man verbreiten (T1-11.TXT.chin.). Die Autorin hält zunächst fest, dass in Hamburg ein breiter Konsens hergestellt worden sei. Dann wendet sie sich möglichen Kritikern der Maßnahme zu und referiert deren Kontra-Argumente. In ihrer Entgegnung greift die Autorin das zentrale Argument der Gegner auf und entkräftet es: Uniformen behinderten nicht den Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, vielmehr reagierten Uniformen auf den Sachverhalt, dass sich die Persönlichkeit noch nicht entwickelt hat. Nach Nennung weiterer Pro-Argumente richtet sich die Autorin direkt an den Leser, der vielleicht noch Zweifel hat. Die Autorin fordert ihn auf, sich zwei Schüler auf der Straße vorzustellen, von denen der eine Uniform trägt, der andere nicht. Der Eindruck, den der Schüler in einer ordentlichen und geschmackvollen Uniform hinterlässt, werde jeden Kritiker überzeugen. Vor dem Schlussplädoyer wendet sich die Autorin erneut den Kritikern zu, die vielleicht immer noch nicht überzeugt sind. Ihnen teilt sie mit, dass ihrer Meinung nach die genannten Vorteile überwiegen. Daher solle man für die Maßnahme eintreten. Die gewählte Strategie, zentrale Argumente des Gegners zu entkräften, indem man sie aufgreift und widerlegt, weist deutliche Parallelen zum oben analysierten deutschen Vergleichstext FSU1.18.TXT.dt. auf. Lediglich charakteristische Stilmittel (etwa die direkte Ansprache des Lesers) lassen erkennen, dass ein Chinese und kein Deutscher diesen Text geschrieben hat. 18.3 Korpus T4.TXT.int. Beurteilung der Maßnahme: Stellungnahmen (T4.TXT.int.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 n=15 % Zustimmung x x x x x x x 7 47 Zustimmung im Einzelfall x 1 7 Ablehnung x x x x 4 27 weder Zustimmung noch Ablehnung x x x 3 20 vehement x x x x x 5 33 moderat x x x x x x x x x x 10 67 verhalten - - Tabelle 18.5: Meinungsbild Gesamtbeurteilung der Maßnahme T4.TXT.int. Im Korpus T4.TXT.int. stehen acht Befürwortern der Maßnahme (53 %) vier Gegner (27 %) gegenüber. Drei Probanden (20 %) positionieren sich nicht eindeutig. Drei Befürworter beurteilen die Maßnahme emphatisch: Die Maßnahme sei „eine tolle Idee“ (T4-08.TXT.int.17) bzw. „sehr gut“ (T4-09.TXT.int.17). Obwohl nicht alle Schüler mit den Uniformen zufrieden gestellt werden könnten, sei die Idee „sehr gut“ (T4-11. TXT.int.28). Vier Befürworter äußern sich eher moderat: Die Maßnahme sei „gut“ (T4-01. TXT.int.20), es handle sich um eine „gute Idee, das Problem zu lösen“ (T4-02.TXT.int.19). „Ich bin dafür, dass die Hamburger Schule Uniformen einführt“ (T4-04.TXT.int.16). Die Maßnahme sei „ganz gut und nützlich“ (T4-15.TXT.int.2). Ein Text befürwortet die Einführung von Uniformen nur an Grund- und Mittelschulen. Für dortige Schüler sei die <?page no="264"?> 252 Beurteilung der Maßnahme Idee „sehr toll“ und „besonders notwendig“, an Hochschulen und Universitäten brauche man Uniformen jedoch „nicht unbedingt“ (T4-13.TXT.int.9, 20-21). Die vier Gegner der Maßnahme bedienen sich vornehmlich eines moderaten Tons, lassen aber an ihrer ablehnenden Haltung keinen Zweifel: Die Maßnahme sei „nicht so gut“ (T4-06.TXT.int.17) bzw. „nicht gut“ (T4-10.TXT.int.16). Das Problem scheint zwar gelöst worden zu sein, „aber ich bin gegen eine einheitliche Uniform“ (T4-12.TXT. int.7-8). Ein Text der Gegner fällt aus dem Rahmen, da er sich einer sehr drastischen Formulierung bedient: „Ich [halte] die Einführung der Schuluniformen von böser Tat“ (T4-14.TXT.int.19). Drei Texte lassen schließlich keine eindeutige Stellungnahme erkennen: Die Maßnahme sei zwar „gut“, aber nicht geeignet, das Problem grundsätzlich zu lösen (T4-03.TXT. int.20-21). Die Maßnahme sei nur „zum Teil effektiv“ (T4-05.TXT.int.22). Das Problem werde „nur ober ächlich gelöst“ (T4-07.TXT.int.11). Die fortgeschrittenen Deutschlerner tragen in ihren Interimstexten eine Stellungnahme demnach überwiegend moderat vor. Jedoch bedienen sich einige Befürworter und ein Gegner auch sehr emphatischer Formulierungen. Die Urteile reichen von „tolle Idee“ bis „böse Tat“. Muster der Argumentation Muster der Argumentation (T4.TXT.int.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 n=15 % Pro-Argumente x x x x x x x x x x 10 67 Pro-Argumente (reportativ) x x x 3 20 Kontra-Argumente x x x x x x x x x x x x 12 80 Kontra-Argumente (reportativ) x 1 7 Konvergente Argumentationen x x x x 4 27 Kontroverse Argumentationen x x x x x x x x x x x 11 73 Tabelle 18.6: Muster der Argumentation T4.TXT.int. Die Beobachtung, dass Gesamtbeurteilungen in den Interimstexten vorwiegend (67 %) moderat vorgetragen werden, korrespondiert mit der Beobachtung, dass in den Interimstexten vorwiegend (73 %) kontrovers argumentiert wird. Konvergente Argumentation Vier Texte (27 %) betrachten die strittige Angelegenheit nur aus einer Perspektive, ohne dass man dieses Muster wie bei den chinesischen Studienanfängern Befürwortern oder Gegnern zuordnen könnte. <?page no="265"?> 253 Beurteilung der Maßnahme T4-08. TXT.int. Pro-Argumente 1. Die Maßnahme hilft, an der Schule eine harmonische Atmosphäre zu schaffen (vgl. 4). 2. Die Maßnahme verhindert, dass Kinder aus wohlhabenden Familien mit ihren teuren Markenklamotten prahlen (vgl. 5). 3. Die Maßnahme führt dazu, dass weniger Kon ikte hervorgerufen werden (vgl. 6). 4. Die Maßnahme hilft den Kindern, psychisch gesund aufzuwachsen (vgl. 14). 5. Die Maßnahme unterstützt die Schule, Unterricht besser und leichter durchzuführen (vgl. 15). 6. Die Maßnahme unterstützt die Eltern (vgl. 16). Stellungnahme „Das nde ich eine gute Idee.“ (3). „Eine tolle Idee! “ (17). T4-14. TXT.int. Kontra-Argumente 1. Die Maßnahme zwingt Schülern Gleichheit auf. (14-15) 2. Die Maßnahme behindert die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit. (16-17) Stellungnahme „Die Schüler sind nicht gehorsame Babys, sondern gehören zu den Malern der Zukunft. Deshalb halte ich die Einführung der Schuluniformen von böser Tat.“ (18-19) T4-08.TXT.int. listet verschiedene Pro-Argumente auf, um dann die Maßnahme emphatisch zu befürworten. T4-14.TXT.int nennt hingegen zwei Kontra-Argumente, um die Maßnahme emphatisch abzulehnen. Wie die Übersicht (Tab. 18.6) zeigt, sind beide Texte keineswegs repräsentativ. In den meisten Interimstexten wird weder linear argumentiert, noch mit ähnlicher Vehemenz Stellung bezogen. Kontroverse Argumentation: Innerer Monolog Weit häu ger als in den linear aufgebauten Argumentationen (27 %) werden in den Interimstexten Pro- und Kontra-Argumente berücksichtigt (73 %). Dabei vollzieht sich die Gegenüberstellung vorwiegend (47 %) in Form eines inneren Monologs, auf Argumente des Ausgangstextes nehmen die Texte also kaum Bezug. In einem Text wird das Bestreben, verschiedene Argumente zu re ektieren, um zu einem abgewogenen Urteil zu gelangen, besonders deutlich: <?page no="266"?> 254 Beurteilung der Maßnahme T4-05. TXT.int. Pro-Argumente Kontra-Argumente 1. Die Maßnahme erleichtert die Wahl passender Kleidung: Man muss nicht jeden Tag nachdenken, was man anziehen muss (vgl. 23). 2. Die Maßnahme ermöglicht, dass sich Schüler in der Schule besser auf das Lernen konzentrieren können (vgl. 24-25). 3. Die Maßnahme mildert den Markenterror etwas (vgl. 32). 1. Die Maßnahme kann den Markenterror nicht völlig beseitigen: Jugendliche verlieren ihr Konkurrenzdenken nicht und können weiterhin um andere Markenprodukte wetteifern (vgl. 26-31). Stellungnahme „Die Entscheidung der Hamburger Schule nde ich zum Teil effektiv.“ (22) Dieser Text re ektiert Pro- und Kontra-Argumente, er wägt ab, gelangt jedoch zu keiner klaren Konklusion. Abschließend heißt es nur einschränkend, dass die Maßnahme „zum Teil effektiv“ sei. Anders als alle chinesischen Studienanfänger legt sich diese Probandin demnach nicht fest. Kontroverse Argumentation: Explizite Bezugnahme auf andere Debattenbeiträge Dass auch fortgeschrittene Deutschlerner die zur Debatte stehende Frage weitgehend unabhängig vom Ausgangstext diskutieren, zeigte sich bereits in Abschnitt 13.3. Im Datenmaterial greifen lediglich drei Interimstexte (20%) explizit Argumente aus dem Ausgangstext auf. T4-06. TXT.int. Pro-Argument [reportativ] Kontra-Argumente 1. Die Maßnahme führt zu einer Zeitersparnis bei der morgendlichen Auswahl passender Kleidung (vgl. 27). 1. Die Maßnahme verhindert, dass sich „äußerlich und innerlich“ ganz verschiedene Schüler ihren Charakter zeigen (vgl. 21-22). 2. Die Maßnahme verhindert, dass sich „vollschlanke“ Schüler vorteilhaft kleiden können (vgl. 23-24). 3. Die Maßnahme wird gegen das Einverständnis der Schüler, denen die Kleidung nicht gefällt, eingeleitet (vgl. 25-26). Stellungnahme „Die Einführung der Schuluniformen in Hamburg, das ist meiner Meinung nach nicht so gut! “ (17) Dieser Text reagiert auf ein Pro-Argument und setzt diesem Kontra-Argumente entgegen, um sich daraufhin gegen die Maßnahme auszusprechen. Im Korpus liegen nicht nur sehr wenige Interimstexte vor, die auf genannte Argumente reagieren, es liegt nur ein einziger Interimstext vor, der ohne Bezug auf den Ausgangstext ein weiteres, mögliches Argument der Gegner in die eigene Argumentation integriert: <?page no="267"?> 255 Beurteilung der Maßnahme T4-04. TXT.int. Pro-Argumente Kontra-Argument [reportativ] 1. Die Maßnahme befreit Schüler, die sich keine Markenkleidung leisten können, von ihrem Unterlegenheitsgefühl. (17) 2. Die Maßnahme lässt die Eltern der Schüler, die Markenkleidung tragen, Geld sparen. (18) 3. Die Maßnahme verringert den von Markenprodukten ausgelösten Druck. (21) 1. Die Maßnahme führt zu Langeweile, jeden Tag die gleiche Kleidung tragen zu müssen. (19) Stellungnahme „Deswegen bin ich dafür, dass die Hamburger Schule Schuluniformen einführt.“ (16) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die fortgeschrittenen Deutschlerner in ihren Interimstexten zwar häu g Pro- und Kontra-Argumente gegenüberstellen, jedoch nur im Ausnahmefall markieren, wer diese Argumente in der Debatte vertritt. Auseinandersetzung mit gegnerischen Argumenten In den wenigen Texten im Korpus, in denen auf Argumente, die man selbst nicht teilt, reagiert wird, zeigen sich bestimmte Taktiken. (27) Und das Mädchen, Annika, das jeden Morgen lange überlegen muss, was es anziehen soll, (28) sein Wort nde ich Quatsch. Wenn es jetzt solch ein kleines Problem nicht lösen kann, wie kann es später sein Leben gut führen, wenn es noch auf große Probleme trifft? (T4-06.TXT.int.). Das Argument der im Ausgangstext genannten Annika wird aufgegriffen: Nach Einführung der Uniformen müsse man morgens nicht mehr lange überlegen, was man anziehen könnte. Der Text setzt sich mit diesem Argument nicht auseinander, um es zu entkräften, sondern lehnt es pauschal ab. Nicht das Argument sondern die Argumentierende wird angegriffen: Annika verfüge nicht über die notwendige Reife, was zu erheblichen Schwierigkeiten im späteren Leben führen könnte. Dieser Interimstext führt einen personenbezogenen Angriff (ad-hominem) und verstößt damit gegen das Sachlichkeitsgebot einer Argumentation (vgl. K IENPOINTNER 1996: 38f.). Andere Interimstexte greifen gegnerische Argumente auf, um sie zu prüfen und zu entkräften: (19) Natürlich glauben einige Menschen, dass es langweilig ist, dass man jeden Tag nur die gleiche Kleidung trägt. (20) Aber es gibt ja noch [das] Wochenende und [die] Freizeit, wo man etwas, was man möchte, tragen kann. (21) Mit den Schuluniformen wird mindestens der Druck von Markenprodukten an Schulen erleichtert (T4-04.TXT.int.). Ein Argument möglicher Gegner („einige Menschen“) wird referiert. Der Einwand wird aufgegriffen (tatsächlich könnte es manch einem Schüler langweilig erscheinen, täglich in der gleichen Kleidung zur Schule zu gehen) und entkräftet (in der Freizeit können die Schüler nach wie vor Markenkleidung tragen). Unter Berücksichtigung des gegnerischen Arguments wird dann ein Fazit gezogen: Durch die Maßnahme werden „mindestens“ die Kon ikte an der Schule entschärft. <?page no="268"?> 256 Beurteilung der Maßnahme 18.4 Korpus T4.TXT.chin. Beurteilung der Maßnahme: Stellungnahmen (T4.TXT.chin.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 n=15 % Zustimmung x x x x x x 6 40 Zustimmung im Einzelfall x 1 7 Ablehnung x x x x x x 6 40 weder Zustimmung noch Ablehnung x x 2 13 vehement x x x x x x 6 40 moderat x x x x x x 6 40 verhalten x x x 3 20 Tabelle 18.7: Meinungsbild Gesamtbeurteilung der Maßnahme T4.TXT.int. Tabelle 18.7 zeigt ein ausgeglichenes Verhältnis von Befürwortern und Gegnern der Maßnahme. Sechs Probanden (40 %) geben sich als Befürworter, sechs (40 %) als Gegner zu erkennen. Ein Text (7 %) stimmt der Maßnahme im Einzelfall zu, zwei Texte (13 %) äußern sich nicht zur Frage, ob Uniformen eingeführt werden sollten.. 62 Zwei Befürworter begrüßen die Maßnahme als „äußerst richtig und wirkungsvoll“ (T4-02.TXT.chin.23) bzw. „äußerst notwendig“ (T4-08.TXT.chin.28). Vier Befürworter äußern sich distanzierter: Die Maßnahme sei eine „gute, temporäre Methode“ (T4-04. TXT.chin.28). Die Hamburger Entscheidung wird „befürwortet“ (T4-09.TXT.chin.24). Trotz möglicher Einwände der Schüler sei die Maßnahme dennoch eine „Befreiung“ (T4- 11.TXT.chin.23). „In beträchtlichem Maße“ werde eine „harmonische und gedeihliche Atmosphäre“ geschaffen (T4-15.TXT.chin.14). Der Text, der die Einführung von Uniformen an Grund- und Mittelschulen befürwortet, ndet klare Worte: „Ich befürworte die Einführung von Schuluniformen mit aller Entschiedenheit, auch aus persönlicher Erfahrung.“ (T4-13.TXT.chin.19). Das eigentlich Überraschende an Korpus T4.TXT.chin. ist die Radikalität, mit der drei Gegner die Maßnahme ablehnen. Eine Probandin bekennt: „Mir waren [Schuluniformen] zuwider, und bis heute hat sich daran nichts verändert.“ (T4-06.TXT.chin.34). Eine zweite Probandin fragt provozierend: „Ist es nicht ein Witz [anzunehmen], mit Uniformen sei alles sofort in bester Ordnung? “ (T4-10.TXT.chin.6). Eine dritte Probandin meint sogar, die Einführung der Uniform gleiche dem Versuch, „eine Henne zu schlachten, um an die Eier zu kommen“ oder „Gift zu trinken, um seinen Durst zu stillen“. (T4-12.TXT. chin.32-33). Andere Gegner beurteilen die Maßnahme etwas zurückhaltender: Die Maßnahme sei „rein äußerlich, ober ächlich und temporär“ (T4-03.TXT.chin.30). Sie könne 62 T4-01.TXT.chin. stellt sich ändernde Konsumgewohnheiten in China dar und stellt am Ende des Textes die rhetorische Frage: „Wie können Eltern ihren Kindern Markenkleidung verbieten, deren Preis von der Bevölkerung akzeptiert wird? “ (T4-01.TXT.chin.46). Er spricht sich also dagegen aus, Kindern den Erwerb von Markenkleidung zu untersagen. Ob Kinder auch in der Schule Markenkleidung tragen sollten, dazu äußert sich der Text nicht. Auch in T4-07.TXT.chin. ndet sich keine explizite Stellungnahme. „Tatsächlich ist es nicht zu beanstanden, dass Jugendliche nach Marken verlangen, womit ich jedoch keineswegs das Verhalten der Jugendlichen rechtfertigen möchte.“ (T4-07.TXT.chin.19-20). Zur Maßnahme in Hamburg äußert sich der Text nicht und bleibt im Ungefähren: „Meines Erachtens wird jede gute Sache zu einer schlechten, sobald ein bestimmtes Maß überschritten wird.“ (T4-07.TXT.chin.21). <?page no="269"?> 257 Beurteilung der Maßnahme das Problem „nur ober ächlich und nicht grundlegend“ lösen (T4-05.TXT.chin.26). Sie sei „nicht unbedingt erforderlich“ (T4-14.TXT.chin.23). Allgemein festgehalten werden kann, dass sich die fortgeschrittenen Deutschlerner in ihren muttersprachlichen Texten viel deutlicher positionieren als in ihren Interimstexten. 63 Muster der Argumentation Muster der Argumentation (T4.TXT.chin.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 n=15 % Pro-Argumente x x x x x x x x x 9 60 Pro-Argumente (reportativ) x x x 3 20 Kontra-Argumente x x x x x x x x x x x 11 73 Kontra-Argumente (reportativ) x 1 7 Konvergente Argumentation x x x 3 20 Kontroverse Argumentation x x x x x x x x x x 10 67 keine Problemerörterung x x 2 13 Tabelle 18.8: Muster der Argumentation T4.TXT.chin. Wie die Übersicht in Tabelle 18.8 zeigt, argumentieren zehn Probanden (67 %) kontrovers, drei Probanden (20 %) hingegen konvergent. Wie in den Interimstexten stellen die fortgeschrittenen Deutschlerner also auch in den muttersprachlichen Texten mehrheitlich Argumente gegenüber. Konvergente Argumentation Wie die folgenden zwei Beispiele zeigen, argumentieren sowohl Befürworter als auch Gegner konvergent: T4-02. TXT.chin. Pro-Argumente 1. Durch die Vereinheitlichung der Kleidung wird den Schülern geholfen, ein Bewusstsein von der Gleichheit aller Menschen aufzubauen (vgl. 25). 2. Der seelische Druck bezüglich der Kleidung wird vermindert (vgl. 26). 3. Die Schüler entwickeln ein Kollektivbewusstsein (vgl. 27). Stellungnahme „Daher glaube ich, dass die Maßnahme der Hamburger Mittelschule, Uniformen einzuführen, äußerst richtig und wirkungsvoll ist.“ (vgl. 23). 63 Beispielsweise zieht T4-03 im Interimstext folgendes Fazit: (20) „Die Einführung der Schuluniform in [der] Hamburger Schule nde ich zwar gut, [sie ist] eine mögliche Lösung dieses Problems, (21) aber nicht die grundsätzliche Lösung.“ (T4-03.TXT.int. 20-21). Im muttersprachlichen Text erwähnt er die Vorteile der Maßnahme nicht mehr: „Auch wer keine Markenkleidung trägt, kann anderen gegenüber prahlen, Markenkleidung zu besitzen. (30) [Daher] ist diese Methode rein äußerlich, ober- ächig und temporär.“ (T4-03.TXT.chin. 29-30). <?page no="270"?> 258 Beurteilung der Maßnahme T4-14. TXT.chin. Kontra-Argumente 1. Die Maßnahme ruft als Zwangsmaßnahme den Widerstand der Schüler hervor (vgl. 25-26). 2. Die Maßnahme beeinträchtigt die Entfaltung der Individualität (vgl. 27-29). Stellungnahme „Zur [Frage], ob man an der Schule einheitliche Kleidung einführen sollte, meine ich, dass diese Maßnahme nicht unbedingt erforderlich ist.“ (23) Die Beispiele zeigen, dass eine konvergente Form der Argumentation zu einer emphatischen Befürwortung oder zu einer verhaltenen Ablehnung führen kann. Die Datenlage erlaubt keine Aussage zu möglichen Korrelationen, etwa von konvergenter Argumentation und Nachdruck der Stellungnahme. Festzuhalten bleibt, dass in den muttersprachlichen Texten der fortgeschrittenen Deutschlerner wie bereits in den Interimstexten vorwiegend kontrovers argumentiert wird. Kontroverse Argumentation: Innerer Monolog In sechs Texten (40 %) werden Pro- und Kontra-Argumente gegenübergestellt, ohne sich auf den Ausgangstext oder andere Positionen in der Debatte zu beziehen. Dies zeigt etwa folgender Beispieltext: T4-09. TXT.chin. Pro-Argumente Kontra-Argumente 1. Die Maßnahme vermittelt den Schülern, dass sie gleich sind (vgl. 25). 2. Die Maßnahme lässt Schülern viel Zeit bei der Auswahl der Kleidung einsparen (vgl. 26). 1. Die Maßnahme erfüllt das Schulgelände mit der gleichen Farbe und verstärkt die Anonymität (vgl. 27-28). 2. Die Maßnahme könnte die Individualität der Schüler auslöschen (vgl. 29). Stellungnahme „Daher befürworte ich die Entscheidung der deutschen Regierung, Schuluniformen an Mittelschulen.“ (24) Dieser Text kann als Beispiel dafür gelten, dass die fortgeschrittenen Deutschlerner auch in ihren chinesischen Texte mehrheitlich bemüht sind, Argumente gegenüberzustellen, um ein fundiertes Urteil zu fällen. Dies geschieht aber wie in den Interimstexten vorwiegend ohne explizite Bezugnahme auf andere Positionen im Diskurs. Kontroverse Argumentation: Explizite Bezugnahme auf andere Debattenbeiträge Die Tendenz, keine Argumente aus dem Ausgangstext aufzugreifen, ist in den chinesischen Texten der fortgeschrittenen Deutschlerner unübersehbar. Dies zeigt die äußerst geringe Zahl reportativer Argumente. Lediglich drei Texte (20 %) reagieren auf die Pro- Argumente im Ausgangstext, lediglich ein Text (7 %) deklariert ein Kontra-Argument als fremdes Argument: <?page no="271"?> 259 Beurteilung der Maßnahme T4-04. TXT.chin. Pro-Argumente Kontra-Argument (reportativ) 1. Die Maßnahme kann viele Kon ikte entschärfen. (19-21) 2. Die Maßnahme schafft wahrscheinlich eine entspannte und angenehme Lernumgebung. (22-23) 3. Die Maßnahme wirkt sich auch positiv auf das Verhalten außerhalb der Schule aus: Rivalisiert wird allenfalls im Lager der Besitzer von Markenkleidung. (26-27) 1. Die Maßnahme beschränkt individuelle Freiheitsrechte. (18) Kontra-Argument 2. Die Maßnahme kann den blindwütigen Streit nicht gänzlich beseitigen. Schüler führen auch ein außerschulisches Leben. (24) Stellungnahme „Wie auch immer, die Einführung der Schuluniform ist gegenwärtig für die Schule eine gute, zeitweilige Methode, um dem Problem des Wettstreits um Marken zu begegnen.“ (28) Das fremde Argument wird im Text folgendermaßen eingeführt: (18) Obwohl die zwangsweise Durchsetzung der Uniformen unausweichlich unter Verdacht steht, die individuellen Freiheitsrechte zu beschränken, (19) können doch viele Streitfälle, wer sich Markenkleidung leisten kann, entschärft werden (T4-04.TXT.chin.). Interessant ist, dass ein zentrales Kontra-Argument, dass nämlich die Maßnahme individuelle Freiheitsrechte beschränke, gezielt nicht als eigenes Argument ausgewiesen wird. Der Text belässt es bei einem Hinweis auf ein mögliches Gegenargument, ohne dieses Argument weiter zu kommentieren oder sich ihm anzuschließen. Im Fazit zeigt sich der Autor dann als moderater Befürworter, der auch angesichts möglicher Kritik auf die präventive Wirkung der Maßnahme verweist. Auseinandersetzung mit gegnerischen Argumenten Bereits diskutiert wurde das ad-hominem-Argument in T4-06.TXT.int. Dieses Argument trägt die Probandin auch in T4-06.TXT.chin. vor: (44) Dass dieses Mädchen sich morgens keine Sorgen mehr machen muss, was es anziehen soll, (45) nde ich lächerlich. (46) Wie wird sich jemand, der noch nicht einmal entscheiden kann, was er anziehen soll, später verhalten, wenn er mit den vielen Schwierigkeiten des Lebens konfrontiert wird? (47) Gibt es [außerhalb der Schule] denn eine egalitäre Gesellschaft, in der alle gleich sind? (T4-06.TXT.chin.). Wieder wird nicht auf das Argument eingegangen sondern Annika persönlich vorgeworfen, lebensuntüchtig zu sein. Auch in T4-10.TXT.chin. wird ein fremdes Argument beurteilt. (4) Tja, Markenprodukte sind wichtige Indizien geworden, sie stehen für [eigenen] Reichtum und Status und die Vergötterung durch andere. (5) Dieses Hirngespinst kann nicht vollständig vernichtet werden, schon gar nicht durch einheitliche Schuluniformen. (6) Ist es nicht ein Witz [anzunehmen], mit Uniformen sei alles sofort in bester Ordnung? (7) Markenkleidung darf man nicht tragen (dies gilt aber nur für Oberteile), aber Markenschuhe sind erlaubt, ebenso Markenfüller und hochwertige MP3-Player (T4-10.TXT.chin.). Auch dieser Text ist auffällig. Verblüffend ist, wie salopp auf das zentrale Argument des Ausgangstextes, man könne Kon ikte durch Uniformen entschärfen, reagiert wird. Der <?page no="272"?> 260 Beurteilung der Maßnahme Text lehnt dieses Argument nicht nur ab („ein Witz“), er begründet auch, warum die Hoffnung auf Entschärfung der Kon ikte realitätsfremd ist: Die Jugendlichen werden um andere Markenartikel wetteifern. Festgehalten werden kann, dass auffällig viele fortgeschrittene Deutschlerner in ihren muttersprachlichen Texten die in Hamburg eingeleitete Maßnahme ablehnen. Einige Probanden vertreten ihre abweichende Haltung unerwartet offensiv, was im Einzelfall sogar dazu führen kann, dass Vertreter einer anderen Position persönlich diskreditiert oder lächerlich gemacht werden. 18.5 Gruppenübergreifender Vergleich und Hypothesen BEURTEILUNG der Maßnahme: Stellungnahmen FSU1.TXT.dt. T1.TXT.chin. T4.TXT.int. T4.TXT.chin. n=19 % n=20 % n=15 % n=15 % Zustimmung 10 53 15 75 7 47 6 40 Zustimmung im Einzelfall 2 10 1 5 1 7 1 7 Ablehnung 5 26 4 20 4 27 6 40 weder Zustimmung noch Ablehnung 2 10 - - 3 20 2 13 vehement 5 26 10 50 5 33 6 40 moderat 12 63 8 40 10 67 6 40 verhalten 2 10 2 10 - - 3 20 Tabelle 18.9: Gruppenübergreifender Vergleich (Meinungsbild Gesamtbeurteilung Maßnahme). Muster der Argumentation (FSU1.TXT.dt.) FSU1.TXT.dt. T1.TXT.chin. T4.TXT.int. T4.TXT.chin. n=19 % n=20 % n=15 % n=15 % Pro-Argumente 16 84 16 80 10 67 9 60 Pro-Argumente (reportativ) 16 84 3 15 3 20 3 20 Kontra-Argumente 18 95 10 50 12 80 11 73 Kontra-Argumente (reportativ) 2 10 1 5 1 7 1 7 Konvergente Argumentation 1 5 10 50 4 27 3 20 Kontroverse Argumentation 18 95 10 50 11 73 10 67 Keine Problemerörterung - - - - - - 2 13 Tabelle 18.10: Gruppenübergreifender Vergleich (Muster der Argumentation). Vergleich FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. Wie Tabelle 18.9. zeigt, befürworten etwa die Hälfte der deutschen Studienanfänger (53 %) die Maßnahme, deutlich weniger als die chinesischen Studienanfänger, die sich mehrheitlich (75 %) als Befürworter zu erkennen geben. Besonders auffällig ist der Nachdruck, mit dem Stellung bezogen wird. Während die deutschen Studienanfänger dazu tendieren (63 %) ihr Fazit in einem moderaten Ton vorzutragen, beziehen sehr viele chinesische Studienanfänger (50 %) mit großer Emphase Stellung. Gravierende Unterschiede zeigen sich in der Wahl des Argumentationsmusters (siehe Tabelle 18.10). Während bis auf eine Ausnahme alle deutschen Studienanfänger (95 %) auf Argumente aus dem Ausgangstext reagieren, erörtern auffällig viele chinesische Studienanfänger die zentrale Geltungsfrage konvergent (50 %). Diese Unterschie- <?page no="273"?> 261 Beurteilung der Maßnahme de können eindeutig auf Textmuster zurückgeführt werden, die im muttersprachlichen Aufsatzunterricht vermittelt werden. In deutschen Gymnasien werden vor allem Problemerörterungen geübt, die Pro- und Kontra-Argumente systematisch gegenüberstellen. Demgegenüber werden an chinesischen Mittelschulen zwei Varianten des Yilunwen geübt, in denen verschiedene Argumente nicht systematisch aufeinander bezogen werden. So lernen die Mittelschüler, sich in den Varianten lilun und bolun eindeutig zu positionieren (vgl. Abschnitt 9.1) Die Hypothese der Kontrastiven Rhetorik, wonach sich der Autor eines chinesischen Textes entweder „autoritär“ positioniere oder darauf verzichte, sich deutlich zu positionieren (vgl. Abschnitt 2.5), kann präzisiert werden: Die chinesischen Studienanfänger positionieren sich nur dann sehr deutlich, wenn sie sich der im Ausgangstext präferierten Meinung anschließen. Dann begrüßen sie die Maßnahme mit großer Emphase. Wenn sie hingegen eine abweichende Meinung vertreten, dann tragen sie ihr Fazit äußerst verhalten vor. Vergleich T4.TXT.int., FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. Unter den fortgeschrittenen chinesischen Deutschlernern nden sich weit weniger Befürworter (47 %) als in der Vergleichsgruppe der Studienanfänger (75 %). Verändert hat sich vor allem der Tonfall, mit dem die eigene Position vorgetragen wird (siehe Tabelle 18.9). Mehrheitlich beurteilen die fortgeschrittenen Deutschlerner die Maßnahme moderat (67 %), was auch für die Gruppe der deutschen Studienanfänger (63 %) kennzeichnend ist. Zweitens zeigt das Datenmaterial, dass fortgeschrittene Deutschlerner in ihren Interimstexten mehrheitlich anders argumentieren als ihre Kommilitonen im ersten Studienjahr. Obwohl kein Text dem Muster einer antithetisch aufgebauten Problemerörterung folgt, werden in sehr vielen Texten (75 %) unterschiedliche Argumente genannt. Vergleich T4.TXT.chin., FSU1.TXT.dt., T1.TXT.chin. und T4.TXT.int. Äußerst überraschend ist die Vorbehaltlosigkeit, mit der einige fortgeschrittene Deutschlerner in ihren muttersprachlichen Texten die Maßnahme ablehnen. Häu g wird eine bereits im Interimstext vertretene Position radikalisiert. Hier zeigen sich gravierende Unterschiede sowohl zu den Texten der deutschen als auch der chinesischen Studienanfänger. Die fortgeschrittenen Deutschlerner re ektieren sowohl in ihren Interimstexten (73 %) als auch in ihren muttersprachlichen Texten (67 %) mehrheitlich verschiedene Argumente. Dies lässt die Hypothese zu, dass sich der Aufbau vieler chinesischen Texte an einem Muster orientiert, welches sich während des Germanistikstudiums formt. <?page no="274"?> 19 Re exion von Handlungsoptionen In diesem Kapitel wird der Teiltext „Re exion von Handlungsoptionen“ untersucht. Es handelt sich um einen fakultativen Teiltext (vgl. Abschnitt 12.5), dessen Analyse die Hypothese der Kontrastiven Rhetorik prüfen kann, wonach in argumentativen chinesischen Texten häu g konkrete Hinweise gegeben werden (vgl. W EN 2001: 249), die dazu dienen, die zukünftige Handlungsweise des Rezipienten zu beein ussen (vgl. L EHKER 1997: 156). Zum Teiltext „Re exion von Handlungsoptionen“ zähle ich auch Teiltextsegmente, die re ektieren, ob sich das aufgetretene Problem überhaupt lösen lässt und ob sich die Autoren überhaupt berufen fühlen, Handlungsempfehlungen auszusprechen. Daher untersuche ich in diesem Kapitel auch Aussagen zur Lösbarkeit des Problems sowie zur Beurteilung der eigenen Handlungskompetenz. Bei den Handlungsempfehlungen lassen sich modi zierende, ankierende und alternative Maßnahmen differenzieren. Eine Zuordnung konkreter Empfehlungen zu einer der genannten Kategorien kann oft nur unter Berücksichtigung des Kontextes erfolgen. Fordert beispielsweise ein Befürworter der Hamburger Maßnahme dazu auf, pädagogische Maßnahmen zu ergreifen, dann plädiert er für eine ankierende Maßnahme. Wenn hingegen ein Gegner der Hamburger Maßnahme dazu auffordert, pädagogische Maßnahmen zu ergreifen, dann schlägt er eine alternative Maßnahme vor. Viele Texte beantworten eine Frage, die an eine Darstellung im Ausgangstext anknüpft. Dort wird die Maßnahme in Hamburg als Projekt ausgewiesen. Daher diskutieren einige vorliegende Texte, ob es sinnvoll ist, die Maßnahme auch an anderen Schulen zu ergreifen. Diese Überlegungen betreffen eine mögliche Ausweitung der eingeleiteten Maßnahme. 19.1 Korpus FSU1.TXT.dt. Re exion von Handlungsoptionen (FSU1.TXT.dt.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 n=19 % BEURTEILUNG der Lösbarkeit des Problems x x x x x 5 26 BEURTEILUNG eigener Handlungskompetenz x x x x 4 21 EMPFEHLUNG, Maßnahme zu modi zieren x x x x 4 21 EMPFEHLUNG, ankierende Maßnahmen zu ergreifen x x x x x x x 7 37 EMPFEHLUNG, alternative Maßnahmen zu ergreifen. x x x x 4 21 EMPFEHLUNG, Maßnahme (nicht) auszuweiten x x x x 4 21 Tabelle 19.1: Re exion von Handlungsoptionen FSU1.TXT.dt. <?page no="275"?> 263 Re exion von Handlungsoptionen Deutlich wird in dieser Übersicht (Tabelle 19.1), dass einige deutsche Studienanfänger die grundsätzliche Frage stellen, ob das Problem lösbar ist (26 %) und ob sie selbst in der Lage sind, Handlungsempfehlungen auszusprechen (21 %). Außerdem re ektieren die Studienanfänger mehrheitlich (63 %), ob andere und gegebenenfalls welche Maßnahmen ergriffen werden sollten. Diskutiert werden vor allem ankierende (37 %), aber auch alternative (21 %) und modi zierende (21 %) Maßnahmen. Einige Texte (21 %) diktieren schließlich, ob die in Hamburg eingeleitete Maßnahme ausgeweitet werden sollte. Die Studienanfänger schätzen die Lösbarkeit des Problems eher skeptisch ein. Immer, wenn sie diese Frage aufwerfen (26 %), äußern sie Zweifel: Es handle sich um „eine sehr schwierige Thematik, zu der es sicher keine einfachen Lösungswege gibt“ (FSU1-07. TXT.dt.25). „Die Frage nach anderen Lösungsmöglichkeiten“ sei „schwer zu beantworten“ (FSU1-13.TXT.dt.41). Man könne den Markenterror zwar „in den Griff bekommen“, nicht jedoch den Besitzneid (vgl. FSU1-08.TXT.dt.25). Auch in Hamburg bleibe „die Frage offen, wie man denn in Zukunft mit anderen Äußerungsformen des Terrors wie Handyklingeln, Schmuck oder anderen Statussymbolen umgeht“ (FSU1-12.TXT.dt.25). Generell skeptisch beurteilt auch der folgende Text die Möglichkeit, die Kon ikte an der Schule zu entschärfen: (44) Wie der Versuch in Hamburg ausgegangen ist, weiß ich nicht. Ich glaube aber, er ist gescheitert. [...] (47) Ich glaube nicht, dass unsere Gesellschaft diesem Trend des Markenbewusstseins etwas entgegensetzen kann, wenn sich nicht Grundlegendes ändert (FSU1-10.TXT.dt.). Nicht nur die Lösbarkeit des Problems wird bezweifelt. Vier Probanden (21 %) beurteilen die eigene Kompetenz, Lösungsvorschläge unterbreiten zu können. Sie räumen ein, „kein Patentrezept“ (FSU1-04.TXT.dt.46) anbieten zu können, keine „einschlägige Idee“ zu haben, „diesem Problem auch nur einigermaßen gerecht zu werden“ (FSU1-07.TXT. dt.26), aufgrund eigener Unzulänglichkeiten „nicht in der Lage“ zu sein, das Problem zu lösen (FSU1-16.TXT.dt.36). Ein Text erörtert die eigene Handlungskompetenz sogar in einem längeren Exkurs: (43) Ich kann zwar Gedanken äußern und diese vertreten, aber zu einer wirklichen Beurteilung ist nur fähig, wer über Erfahrungen hinaus weitgehende Erkenntnisse errungen hat und eine Einschätzung gebunden an einen Lösungsvorschlag hervorbringen kann. (44) Dies kann ich nicht. Ich vermag es lediglich, den Schritt zu Uniformität begründet abzulehnen (FSU1-19. TXT.dt.). Das eigene Unvermögen wird ausführlich erörtert. Diese selbstkritischen Re exionen führen im Text dazu, keine Empfehlungen auszusprechen. Vier Probanden (21 %) re ektieren die Möglichkeit, die Maßnahme zu modi zieren. Einer Probandin missfällt der im Ausgangstext beschriebene grüne Pullover, daher plädiert sie für eine attraktivere Gestaltung der Schulkleidung (vgl. FSU1-16.TXT.dt.14-15). Zwei Probanden sprechen sich dafür aus, alle Kleidungsstücke zu vereinheitlichen (vgl. FSU1-09.TXT.dt.24, FSU1-13.TXT.dt.39). Diese Option re ektiert auch eine vierte Probandin: „Sollte man alles verbieten, uniformieren? “, um diesen Gedanken jedoch zu verwerfen: „Vielleicht bleibt nur der eine Ausweg über: Zurück zur Natur? ! “ (FSU1-12. TXT.26-27). Sieben Probanden (37 %) schlagen ankierende Maßnahmen vor: Engagierte Lehrer sollten auch mal „dazwischen gehen“ und Teamarbeit im Projektunterricht fördern (FSU1-03.TXT.dt.13); erzieherische Maßnahmen sollten „Toleranz und Vielseitigkeit“ vermitteln (FSU1-04.TXT.dt.45); der Unterricht sollte insgesamt so angelegt sein, dass die Einführung von Uniformen gar nicht erst nötig wird (FSU1-12.TXT.dt.16); eine Erzie- <?page no="276"?> 264 Re exion von Handlungsoptionen hung zur Toleranz sollte der Tendenz entgegenwirken, vorschnell zu urteilen (FSU1-16. TXT.dt.38). An die Eltern wird appelliert, wieder stärker moralische Werte zu vermitteln und das Selbstvertrauen ihrer Kinder zu stärken (FSU1-13.TXT.dt.47-51). Neben den genannten pädagogischen Maßnahmen wird auch gefordert, den Lehrern mehr Entscheidungsfreiheit zu geben (FSU1-06.TXT.dt.35). Ein Text schließt mit der Empfehlung, das Prinzip der Gleichheit aller Menschen nicht nur in der Schule, sondern auch in der Gesellschaft zu verdeutlichen (FSU1-10.TXT.dt.55). Vier Probanden, die sich gegen die Einführung von Uniformen aussprechen, schlagen alternative Maßnahmen vor: Ein aktives Eingreifen eines Pädagogen sei sinnvoller als „aufwendige Gleichmacherei“; statt Uniformen einzuführen sei eine „Heilung durch Konfrontation“ angeraten. (FSU1-14.TXT.dt.20, 36-38). Ein Text gibt konkrete Hinweise: (22) Meiner Ansicht nach ist es vor allem wichtig, nicht an den Symptomen zu arbeiten, sondern die Ursachen zu bekämpfen! (23) Das Problem muss unter den Schülern thematisiert werden und Pädagogen, wie es Lehrer sind, sollten hierbei in der Lage sein, Gespräche zu leiten, Diskussionen zu unterstützen, zu beraten (24) und den Schülern aufzuzeigen, dass in jedem, ob arm ob reich, ob klug oder nicht, ob in Armani oder Aldi, eines steckt: Ein Mensch (FSU1-11. TXT.dt.; Hervorhebung im Original). Zwei Texte gehen über pädagogische Empfehlungen heraus. Um ein soziales Problem zu lösen, genüge die Betrachtung der Schule, wo sich „die Macht des Markendiktats am stärksten äußert“ nicht (FSU1-05.TXT.dt.28). In einem Fall wird die Politik zu einer Reaktion aufgefordert: (38) Ich denke, man sollte, um dieses Problem anzugehen, einen anderen Ansatzpunkt wählen, (39) nämlich den Medien Einhalt gebieten in der Werbefreiheit (FSU1-01.TXT.dt.). Einige deutsche Studienanfänger (21 %) diskutieren schließlich die Frage, ob das Hamburger Pilotprojekt ausgeweitet werden sollte. Sie beziehen den Diskurs damit auf die Bundesebene und gelangen zu recht unterschiedlichen Einschätzungen: Die Frage, ob Uniformen auch an anderen Schulen eingeführt werden sollten, müsse noch offen bleiben (FSU1-02.TXT.dt.24). Es sollten „mehr solche beispielhafte Aktionen“ durchgeführt werden (FSU1-06.TXT.dt.34). Gefordert wird auch die Umsetzung der Idee „konsequent an allen Schulen in Deutschland“ (FSU1-09.TXT.dt.25, 39-43). Eine Probandin fordert eine Ausweitung der Maßnahme sogar auf Universitäten: (16) Schuluniformen wie in England sind [..] schon erstrebenswert. (17) Dann würde ich auch nichts dagegen haben, wenn Universitäten diese einführen würden. (18) Meine konkrete Meinung zu Schuluniformen ist daher positiv. Liebend gerne! “ (FSU1-16.TXT.dt.). Festhalten lässt sich, dass sich insgesamt dreizehn deutsche Studienanfänger (68 %) an der Debatte beteiligen, indem sie Handlungsoptionen re ektieren und/ oder sich zu der Frage äußern, ob die Maßnahme ausgeweitet werden sollte. <?page no="277"?> 265 Re exion von Handlungsoptionen 19.2 Korpus T1.TXT.chin. Re exion von Handlungsoptionen (T1. TXT.chin.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 n=20 % BEURTEILUNG der Lösbarkeit des Problems x x x x x x x x 8 40 BEURTEILUNG eigener Handlungskompetenz x x 2 10 EMPFEHLUNG, Maßnahme zu modi zieren x 1 5 EMPFEHLUNG, ankierende Maßnahmen zu ergreifen x x x x x x 6 30 EMPFEHLUNG, alternative Maßnahmen zu ergreifen. x x x x 4 20 EMPFEHLUNG, Maßnahme (nicht) auszuweiten x 1 5 Tabelle 19.2: Re exion von Handlungsoptionen T1.TXT.chin. Tabelle 19.2 zeigt, dass sich relativ viele chinesische Studienanfänger (40 %) zur Lösbarkeit des Problems äußern, relativ wenige (10 %) hingegen zur eigenen Handlungskompetenz. Etwa die Hälfte der Studienanfänger erteilt (55 %) Handlungsempfehlungen, wobei es sich je nach Gesamtbeurteilung der Maßnahme um ankierende (30 %) oder alternative (25 %) Maßnahmen handelt. Nur ein chinesischer Studienanfänger (5 %) schlägt Modi kationen der Maßnahme vor. Die Frage, ob das Projekt auch an anderen Schulen durchgeführt werden sollte, beschäftigt ebenfalls nur ein Mitglied dieser Vergleichsgruppe (5 %). Im Regelfall be nden sich in den Texten der chinesischen Studienanfänger Einschätzungen zur Lösbarkeit des Problems bzw. zur eigenen Handlungskompetenz im Schlussteil. Häu g wird in Form eines abschließenden Kommentars die Möglichkeit eingeschätzt, ob das Problem überhaupt gelöst werden kann, häu g verbunden mit einem Ausblick in die Zukunft oder einem Appell. (27) Wir werden die Markenhersteller kaum dazu bringen, die Produktion einzustellen. (28) Auch werden wir den Menschen kaum die tief verwurzelte Unsitte der Eitelkeit aus dem Herzen reißen können. (29) Solange ein Gefälle zwischen Reichen und Armen besteht, wird der Wettstreit um Marken nicht zu vermeiden sein. (30) Ich bin keine Soziologin, mir fällt auch kein Lösungsweg ein. (31) Ich kann nur darauf hinweisen, dass dieses Problem am Tage, an dem das „Volkseigentum“ Wirklichkeit geworden ist, vielleicht grundsätzlich gelöst werden kann (T1-03.TXT.chin.). (34) In Wirklichkeit gibt es noch einen weiteren Grund für die Kon ikte, nämlich die Kluft zwischen arm und reich. (35) Es handelt sich um ein soziales Problem, das weder ein Einzelner noch ein Kollektiv ändern kann. (36) Manche Menschen meinen, solange es auf der Erde noch Arme gibt, werden die Reichen keine glückliche Zeit verbringen. (37) Das klingt zwar recht abstrus, doch lohnt es sich, den wahren Kern dieser Worte langsam zu ergründen (T1- 20.TXT.chin.). <?page no="278"?> 266 Re exion von Handlungsoptionen Diese beiden Texte verbinden die Einschätzung, die Probleme heute nicht lösen zu können, mit einer Utopie. In ferner Zukunft, wenn keine sozialen Gegensätze mehr bestehen und alles Eigentum dem Volk gehört, werden die gegenwärtigen Kon ikte überwunden sein. Diesen sozialistischen Zukunftsvisionen stehen eher resignative Kommentare gegenüber: (26) [...] Heute glauben viele Menschen immer noch, dass Geld alles beherrscht. (27) Diese Vorstellung wird in absehbarer Zeit nicht vollständig zu beseitigen sein. (28) Deshalb wurden Marken zum Synonym für Geld, das Streben nach Marken wurde zum allgemeinen Bewusstsein. (29) Dass sich einige Menschen davon nicht lösen, daran ist nichts zu ändern (T1-09.TXT.chin.). Die meisten abschließenden Kommentare belassen es jedoch nicht dabei, die Unlösbarkeit des Problems zu konstatieren oder eine Lösung in ferner Zukunft in Aussicht zu stellen. Sie fordern dazu auf, sich dem Problem zu stellen: (36) Die Existenz von Marken ist zwangsläu g. (37) Auch das Verlangen der Jugendlichen nach Markenprodukten ist zwangsläu g. (38) Markenprodukte sind in der Gesellschaft verwurzelt, werden von der Gesellschaft beein usst und beein ussen ihrerseits die Gesellschaft. (39) Menschen können ihnen nicht ausweichen, sondern müssen ihnen gegenübertreten (T1-05. TXT.chin.24). (41) Es ist unmöglich, den Abstand zwischen arm und reich erzeugen oder beseitigen zu wollen. (42) Gerade wir Schüler sind überhaupt nicht in der Lage, einen derartigen Zustand zu kontrollieren. (43) Also kann uns nur unser Denken eine Richtung weisen. (44) Es hängt allein von unseren Gedanken ab, ob wir hartnäckig nach Markenprodukten streben oder ob sie für uns weniger wichtig sind. (45) Jedoch ist es ein äußerst beschwerlicher Prozess, das Denken zu verändern (T1-14.TXT.chin.). (30) Ich glaube, dass der Markenkult sicherlich beseitigt werden kann, falls die gesamte Gesellschaft dafür eintritt, Wert auf das Wissen zu legen (T1-08.TXT.chin.). Die zitierten Texte verbindet, dass am Textende resümiert wird, ob das Problem lösbar ist und dass Handlungsanweisungen gegeben werden. Sehr ungewohnt ist, dass in einem abschließenden Kommentar der Begründer der Evolutionstheorie zitiert wird: (49) Darwin sagte einmal: „Die Entwicklung der Gesellschaft vollzieht sich nicht über Nacht, sondern auf natürliche Weise durch andauernde Anstrengung und Praxis.“ (50) Um den blinden Markenkult in einen Stil zu transformieren, der dem wahren Selbst entspricht, sind Anstrengung, Experimentierfreude, Zuversicht und Geduld notwendig, (51) damit Jugendliche erwachsen und reif im wahrsten Sinne des Wortes werden (T1-19.TXT.chin.). Darwin wird zitiert, um zu verdeutlichen, dass sich gesellschaftliche Veränderungen nur langsam vollziehen. Daher sei große Beharrlichkeit erforderlich, um das Handlungsziel zu realisieren. Die kommunikative Funktion des Schlusssatzes im nächsten Text ist nicht leicht zu entschlüsseln: (29) Was Schüler tatsächlich benötigen, ist eine positive Anleitung. Bedenkt dies dreifach! (30) „Das östliche Haus ist schon verfallen, die Früchte des Maulbeerbaums sind noch nicht gereift“ (T1-07.TXT.chin.). Der Text endet mit einem klassischen Zitat, das Raum für unterschiedliche Interpretationen bietet. Das östliche Haus symbolisiert die Jugend, der Maulbeerbaum das Alter. Daher eignet sich dieses Zitat zum Abschluss eines Textes über Heranwachsende. Außerdem versinnbildlichen die Symbole anfänglichen Misserfolg auf einem Gebiet bei späterem Erfolg auf einem anderen Gebiet. Dieser Lesart zufolge will der Text mit dem Zitat Zuversicht vermitteln, dass die Bemühungen letztendlich von Erfolg gekrönt sein werden. <?page no="279"?> 267 Re exion von Handlungsoptionen In einigen der interpretierten Textausschnitte werden bereits Handlungsempfehlungen erteilt. Es handelt sich vorrangig um pädagogische Maßnahmen, die ankierend oder alternativ eingeleitet werden sollten. Das übergreifende Ziel besteht darin, „das Markenbewusstsein der Schüler zu entkräften und das Konkurrenzdenken zu beseitigen“ (T1-01. TXT.chin.37). Die Schüler benötigten eine „positive Anleitung“ (T1-07.TXT.chin.29). Die Motivation der Jugendlichen sollte „grundlegend korrigiert“ werden (T1-08.TXT.chin.4). Jugendliche sollten ein „individuelles Verständnis der Markenkleidung“ entwickeln (T1- 12.TXT.chin.33), Erzieher „verstärkt die Psyche der Schüler berichtigen“ (T1-02.TXT. chin.39) bzw. den Jugendlichen helfen, „ihre Psyche in ein Gleichgewicht zu bringen“ (T1-20.TXT.chin.30). Drei Texte rufen zu einer Art konzertierter Aktion auf: „Lehrer und Eltern sollten verstärkt mahnen und erziehen“ (T1-18.TXT.chin.34); „Schule und Gesellschaft sollten auf verschiedenen Ebenen die Jugendlichen positiv beein ussen“ (T1-19. TXT.chin.46). Am anschaulichsten beschreibt folgender Text ein umfassendes erzieherisches Programm: (26) [Ich glaube,] dass Schule, Familie und Gesellschaft noch stärker auf die Veränderung des Denkens der Schüler achten sollten. (27) In lebhaften Versammlungen und anhand anschaulicher Beispiele sollten wir sie in aller Tiefe erkennen lassen, dass „übertriebener Wettstreit Unheil anrichtet“, (28) sollten wir ihnen den Grundsatz „Sparsamkeit für die Familie, Fleiß für die Nation“ vermitteln (29) und ihnen verständlich machen, wie sich die Generation ihrer Väter in einem entbehrungsreichen Leben die eigene Zukunft aufgebaut hat (T1-17.TXT.chin.). Bemerkenswert ist, dass nur ein Text Modi kationen der Maßnahme vorschlägt: (25) Damit die Schüler die Schuluniformen noch bereitwilliger akzeptieren, sollte man ihnen meiner Meinung nach gestatten, sie selbst zu entwerfen. (26) Die Schule könnte dann die Vorschläge aller Schüler zusammenfassen und eine Uniform herstellen lassen, die ihren Vorstellungen so weit wie möglich entspricht. (27) Falls die Schüler meinen, es würde zu eintönig sein, an 365 Tagen die gleiche Uniform zu tragen, dann könnten sie mehrere Garnituren entwerfen: Am Montag könnten alle beispielsweise eine blaue, am Dienstag eine mit Rundkragen und am Mittwoch eine rote Uniform tragen, ... (28) Auf diese Weise wären die Schüler der Uniform bestimmt nicht überdrüssig. Sie könnten ihre Kleidung täglich wechseln und ihren jugendlichen Elan und ihre Individualität ausdrücken (T1-18.TXT.chin.). Die Tatsache, dass die chinesischen Studienanfänger kaum für Modi kationen der Maßnahme plädieren, bestätigt den Eindruck, dass sie sich in der Debatte nur selten auf eigene Erfahrungen berufen (vgl. Abschnitt 17.2). Sie benennen eher allgemeine Erziehungsziele und unterbreiten kaum konkrete Vorschläge. Auffällig ist außerdem, dass sie nicht diskutieren, ob das Projekt an weiteren Schulen Deutschlands eingeleitet werden sollte. Anders als die deutschen Studienanfänger diskutieren sie eine mögliche Ausweitung des Projekts bis auf eine Ausnahme nicht: (38) Ich hoffe, dass in naher Zukunft auch auf den Schulgeländen Chinas diese Maßnahme ergriffen wird (T1-10.TXT.chin.). Korpus T1.TXT.chin. zeichnet sich demnach dadurch aus, dass mehrheitlich ankierende pädagogische Maßnahmen, nicht jedoch modi zierende Maßnahmen vorgeschlagen werden. Eine mögliche Ausweitung des Projekts wird kaum diskutiert, was unterstreicht, dass die Studienanfänger die zur Debatte stehende Maßnahme nicht im innerdeutschen Rahmen erörtern. <?page no="280"?> 268 Re exion von Handlungsoptionen 19.3 Korpus T4.TXT.int. Re exion von Handlungsoptionen (T4.TXT.int.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 n=15 % BEURTEILUNG der Lösbarkeit des Problems x x 2 13 BEURTEILUNG eigener Handlungskompetenz - - EMPFEHLUNG, Maßnahme zu modi zieren x x x x x 5 33 EMPFEHLUNG, ankierende Maßnahmen zu ergreifen x x x 3 20 EMPFEHLUNG, alternative Maßnahmen zu ergreifen. x x x 3 20 EMPFEHLUNG, Maßnahme (nicht) auszuweiten - - Tabelle 19.3: Re exion von Handlungsoptionen T4.TXT.int. Dem Überblick in Tabelle 19.3 ist zu entnehmen, dass zwei fortgeschrittene Deutschlerner (13 %) in ihren Interimstexten die Lösbarkeit des Problems ansprechen. Nicht thematisiert wird die eigene Handlungskompetenz. Kennzeichnend für die Deutschlerner ist außerdem, dass sie neben ankierenden (20 %) und alternativen (20 %) besonders häu g modi zierende Maßnahmen (33 %) empfehlen. Die Frage einer möglichen Ausweitung diskutieren sie hingegen nicht. Wie in den meisten Texten der chinesischen Studienanfänger wird die Lösbarkeit des Problems auch in den Interimstexten erst am Textende eingeschätzt: (22) Das Problem zwischen Jugendlichen und Markenprodukten ist nicht leicht zu lösen. (23) Vielleicht ist es sogar unlösbar, (24) aber man muss etwas machen, damit das Problem nicht immer schlimmer wird (T4-04.TXT.int.). (28) Doch das Problem „Markenterror“ oder „Markenprodukte“ wird immer noch bleiben, solange wir Kleidungen tragen. (29) Wer möchte gerne wieder in den Urwald? (T4-07.TXT.int.). Im ersten Textbeispiel wird die Notwendigkeit betont, auch angesichts der offensichtlichen Unlösbarkeit des Problems etwas zu unternehmen, der zweite Text belässt es dabei, einen pessimistischen Blick in die Zukunft zu werfen. Sehr konstruktiv sind hingegen die vielen Handlungsempfehlungen, die unterbreitet werden: (14) An diesem Punkt kann man viele Probleme bei der Einführung der Schuluniform erkennen. (15) Meiner Meinung nach soll sich der Bildungsminister lange überlegen, bevor er eine einheitliche Regel durchsetzt. (16) Gute Absichten können auch böse Folgen hervorrufen. (17) Mindestens soll die Uniform gut entworfen sein, um dem Geschmack und den Eigenschaften von Jugendlichen zu entsprechen. (18) Außerdem soll der Preis auch günstig sein. (19) Sonst kann man kein Problem lösen, sondern sogar Probleme und Streitigkeiten hervorrufen (T4-01.TXT.int.). Dieser Text knüpft an eigene Erfahrungen an. Er beteiligt sich am Diskurs, der in Deutschland geführt wird, und spricht die dortigen Entscheidungsträger (Bildungsminister) an. Andere Texte knüpfen ebenfalls an persönliche Erfahrungen an und schlagen konkrete Modi kationen vor: (24) Ich bin ein bisschen vollschlank. Wenn meine Mitschülerinnen und ich dieselbe Kleidung tragen würden, würde meine Figur noch schlechter aussehen. [...] (26) Die Schüler sollen [Schuluniformen] freiwillig tragen (T4-06.TXT.int.). <?page no="281"?> 269 Re exion von Handlungsoptionen (24) Als ich die Mittelschule besuchte, trug ich immer weniger unsere Uniform. (25) Ein wichtiger Grund liegt darin, dass die Kleidung zu hässlich war. (26) Manche sahen sie sogar als „furchtbar“ an. (27) Sie passte mir nie. Der Rock war zu lang, und die Bluse war zu groß. (28) Deswegen meine ich, obwohl die Idee von der Einführung der Uniform sehr gut ist, (29) muß man auch beachten, die Uniform gut und schön zu entwerfen. (30) Nur wenn sie jedem Kind gefällt, ist sie die richtige Lösung des Markenterrors (T1-11.TXT.int.). Neben diesen und anderen konkreten Vorschlägen 64 , die aufgrund persönlicher Erfahrungen erteilt werden, empfehlen die Deutschlerner auch, ankierende pädagogische Maßnahmen zu ergreifen: (23) Vor allem soll die Erziehungsweise von Eltern und Lehrern geändert und verbessert werden, damit die reichen Schüler die armen nicht mehr verachten und die armen Selbstbewusstsein haben. (24) Die Schüler müssen gelehrt werden, dass jemand mit innerer Schönheit mehr respektiert wird (T1-03.TXT.int.). (15) Deshalb ist die Einführung der Schuluniform nur eine Seite, (16) es gibt aber auch andere Seiten, auf denen Lehrer und Schüler zusammenarbeiten können, (17) so werden Schüler allmählich [eine] neue Denkweise, [eine] neue Weltanschauung bilden (T4-07.TXT.int.). Auch wenn die Deutschlerner die Maßnahme ablehnen und Alternativvorschläge machen, wird häu g dafür plädiert, erzieherisch tätig zu werden, um das Problem „innerlich“ zu lösen (vgl. T4-10.TXT.int.19-20; T4-12.TXT.int.26-30). Politische Maßnahmen werden zwar erwogen, aber nicht gefordert: (6) Wie können wir das Problem lösen? (7) Sollten wir alle Textilfabriken schließen? Nein, natürlich nicht, denn es könnte zur Arbeitslosigkeit führen (T4-07.TXT.int.). Eine Re exion von Handlungsoptionen unterscheidet sich von den bisher genannten. Zunächst wird der Maßnahme Wirkungslosigkeit attestiert. Dann wird jedoch nicht wie in den anderen Texten erwogen, welche Maßnahme geeignet sein könnte, das Problem zu lösen. Stattdessen wird festgehalten, für diese Frage nicht zuständig zu sein: (29) Die Schuluniformen können nicht das Problem nicht lösen. (30) Obwohl sich die Schüler gleich anziehen, mögen sie noch die Markenprodukte. (31) Und sie können etwas anderes mit berühmten Marken kaufen. (32) Wie können die Schulen das verhindern? Die Schulleiter sollen noch darüber nachdenken. (T4-06.TXT.int.) Diese Aufforderung an die Entscheidungsträger, über das Problem doch gründlich „nachzudenken“, ndet sich in keinem deutschen Vergleichstext. Gewiss könnte man diese Haltung, einer höheren Instanz bereitwillig die Verantwortung zu überlassen, als Zeichen mangelnder Diskussionsbereitschaft in einem sozialistischen Staat werten. Das Datenmaterial berechtigt jedoch zu keiner Generalisierung, da diese Haltung nur in einem einzigen Text zum Ausdruck kommt. Mehrheitlich zeichnen sich die Interimstexte als Debattenbeiträge gerade dadurch aus, dass sie sehr konkrete, konstruktive Hinweise geben, damit es gelingt, das Handlungsziel zu realisieren. 64 Vorgeschlagen wird auch, Uniformen auf freiwilliger Basis einzuführen (vgl. T4-15.TXT.int.12-14) und sie attraktiv zu gestalten (vgl. T1-13.TXT.int.23). <?page no="282"?> 270 Re exion von Handlungsoptionen 19.4 Korpus T4.TXT.chin. Re exion von Handlungsoptionen (T4.TXT.chin.) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 n=15 % BEURTEILUNG der Lösbarkeit des Problems x x 2 13 BEURTEILUNG eigener Handlungskompetenz - - EMPFEHLUNG, Maßnahme zu modi zieren x x x 3 20 EMPFEHLUNG, ankierende Maßnahmen zu ergreifen x x 2 13 EMPFEHLUNG, alternative Maßnahmen zu ergreifen. x x x x x x 6 40 EMPFEHLUNG, Maßnahme (nicht) auszuweiten - - Tabelle 19.4: Re exion von Handlungsoptionen T4.TXT.chin. Wie in den Interimstexten, dies zeigt Tabelle 19.4, werfen die fortgeschrittenen Deutschlerner auch in ihren chinesischen Texten kaum (13 %) die grundsätzliche Frage auf, ob überhaupt Aussicht besteht, das Problem zu lösen. Es wird ebenfalls nicht gefragt, ob man über die Kompetenz verfügt, Lösungsvorschläge vorzutragen. In zehn Texten (67 %) werden jedoch Handlungsempfehlungen ausgesprochen. Hierbei werden je nach Gesamtbeurteilung der Hamburger Entscheidung vor allem (53 %) ankierende bzw. alternative und deutlich weniger (20 %) modi zierende Maßnahmen empfohlen. Einschätzungen, inwiefern das Problem lösbar ist, nden sich nur in zwei Texten, wobei sich die entsprechenden Teiltextsegmente nicht im Schlussteil be nden. (15) Dass Jugendliche Markenkleidung lieben, ist fast zu einem Gesetz geworden, so dass es fast unmöglich ist, dieses Phänomen grundlegend zu ändern. (16) Dennoch wird in Hamburg- Sinstorf ab September das System der Schuluniform eingeführt (T4-04.TXT.chin.). (2) Wenn die gesamte Gesellschaft die „Hochwertigkeit von Waren“ einfordert, dann ist es sehr schwer, die nachfolgende Generation davon zu überzeugen, gegenüber den Verlockungen der Markenprodukte gelassen zu bleiben. (T4-10.TXT.chin.). Wie in den Texten der deutschen Muttersprachler wird vor einer Einschätzung der Maßnahme die Frage aufgeworfen, ob überhaupt Aussicht auf Lösung des Problems besteht. Weniger häu g als in den Interimstexten (33%) werden in den muttersprachlichen Texten (20%) konkrete Vorschläge zur Optimierung der Maßnahme gemacht: (26) Den Lehrern sei geraten, hinsichtlich dieser Frage verstärkt die Meinungen der Schüler einzuholen und sich dafür einzusetzen, dass dieses Kleidungsstück so weit wie möglich die Charakteristika der Schule und auch den Frühlingshauch der Jugend ausdrückt. (27) Vergesst nicht, dass alle Menschen einen Sinn für Schönheit besitzen (T4-11.TXT.chin.). (37) Falls das System der Schuluniformen noch weiter verbessert werden soll, dann hoffe ich, dass die Designer noch originellere Uniformen entwerfen, die stärker den Eigenheiten der Jugendlichen entsprechen. (38) [Ich] glaube, dass dann noch mehr Schüler freiwillig und stolz die Schule in Uniform betreten (T4-13.TXT.chin.). (16) Persönlich meine ich, dass man keine Zwangsmaßnahmen ergreifen sollte. (17) Kinder und Jugendliche durchleben eine rebellische Zeit. (18) Zwingt man ihnen Schuluniformen mit autoritären Mitteln auf, dann reagieren sie leicht mit Antipathie, was kontraproduktiv wäre (T4-15.TXT.chin.). <?page no="283"?> 271 Re exion von Handlungsoptionen Diese Vorschläge unterscheiden sich inhaltlich nicht von denen der Interimstexte. Empfohlen wird erneut, unter Einbeziehung der betroffenen Jugendlichen eine möglichst attraktive Schulkleidung zu entwerfen und keinen Zwang auszuüben. 65 Wie viele Interimstexte plädieren auch muttersprachliche Texte dafür, erzieherisch tätig zu werden.Um das Problem zu lösen, sollte man „beim Geist der Menschen ansetzen“ (T4-05.TXT.chin.16). „Alle Teile der Gesellschaft - Lehrer, Eltern und Medien - sollten sich aktiv beteiligen und die Schüler mit Argumenten überzeugen“ (T4-14.TXT. chin.25). „Schule, Eltern und Gesellschaft sollten durch gemeinsame Anstrengungen Kinder und Jugendliche anleiten, ein richtiges Verbraucherbewusstsein zu entwickeln.“ (T4- 08.TXT.chin.29). Die Einführung von Uniformen müsse ergänzt werden durch „Propaganda der Schule und Beaufsichtigung der Eltern“ (T4-13.TXT.chin.25); Schüler sollten angeleitet werden, „auf korrekte und angemessene Weise ein Überlegenheitsgefühl zu entwickeln.“ (T4-10.TXT.chin.11). Typisch für Handlungsempfehlungen ist, dass häu- g zu einer konzertierten Aktion verschiedener gesellschaftlicher Gruppen aufgerufen wird, was folgender Beispieltext besonders detalliert ausführt: (31) Die richtige Methode besteht darin, die Krankheit mit der passenden Arznei zu bekämpfen. (32) [Man sollte] bei den Händlern, der Schule und den Eltern anzusetzen. (33) Das heißt, die Erziehung der Kinder sollte auf verschiedenen Ebenen erfolgen: (34) Den Händlern sollte es untersagt werden, in der Werbung Standesunterschiede zu betonen. (35) Die Schule sollte mehr Gewicht auf die moralische Erziehung legen. (36) Die Eltern sollten es unterlassen, ihre Kinder zu verwöhnen. (37) Auch die Schüler sollten selbstkritisch sein. (38) Erst wenn die Erziehung auf all diesen Ebenen erfolgt, wird ein Tag anbrechen, an dem dieser Unsitte Einhalt geboten sein wird (T4-03.TXT.chin.). 19.5 Gruppenübergreifender Vergleich und Hypothesen Re exion von Handlungsoptionen FSU1.TXT.dt. T1.TXT.chin. T4.TXT.int. T4.TXT.chin. n=19 % n=20 % n=15 % n=15 % BEURTEILUNG der Lösbarkeit des Problems 5 26 8 40 2 13 2 13 BEURTEILUNG eigener Handlungskompetenz 4 21 2 10 - - - - EMPFEHLUNG, Maßnahme zu modi zieren 4 21 1 5 5 33 3 20 EMPFEHLUNG, ankierende Maßnahmen zu ergreifen 7 37 6 30 3 20 2 13 EMPFEHLUNG, alternative Maßnahmen zu ergreifen. 4 21 5 25 3 20 6 40 EMPFEHLUNG, Maßnahme (nicht) auszuweiten 4 21 1 5 - - - - Tabelle 19.5: Gruppenübergreifender Vergleich (Re exion von Handlungsoptionen). 65 In zwei Texten werden Modi kationen erwogen, ohne sich für sie auszusprechen. Eine Probandin stellt eine rhetorische Frage „Sollte man dann nicht gleich alles vereinheitlichen? (T4-10.TXT. chin.8). Die Möglichkeit, auch andere Kleidungsstücke zu vereinheitlichen, erwägt eine weitere Probandin, um sie ebenfalls abzulehnen: „(38) Selbst wenn man auch die Schuhe vereinheitlichen würde, (39) gäbe es immer noch Dinge, die sich nicht vereinheitlichen lassen. Es wäre doch etwas zu mühselig, wenn sich die Schule auch um diese persönlichen Dinge kümmern würde. (40) Außerdem wäre dann zu befürchten, dass sie ihre Kompetenzen überschreiten würde.“ (T4-06.TXT. chin.) <?page no="284"?> 272 Re exion von Handlungsoptionen Vergleich FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. Der Vergleich der muttersprachlichen Texte der Studienanfänger zeigt, dass die deutschen Probanden seltener (26 %) nach der Lösbarkeit des Problems fragen als die chinesischen Probanden (40 %). Diese Frage wird in den deutschen Texten vor Einschätzung der Maßnahme, in chinesischen Texten meisten im Schlussteil aufgeworfen. Als allgemeine Tendenz in beiden Korpora ist zu erkennen, dass hauptsächlich pädagogische Maßnahmen empfohlen werden, entweder ankierend oder alternativ. Ein Unterscheid besteht hinsichtlich konkreter Hinweise. Die deutschen Studienanfänger unterbreiten weit mehr Hinweise (21 %) als die chinesischen (5 %). Das Datenmaterial bestätigt demnach nicht die Hypothese von W EN (2001: 259). Vielmehr ist es gerade eine Besonderheit der chinesischen Texte der Studienanfänger, dass bis auf eine Ausnahme keine konkreten Hinweise unterbreitet werden. Ein großer Unterschied zwischen den deutschen und chinesischen Texten besteht außerdem darin, dass nur die deutschen die Frage aufwerfen, ob die Maßnahme ausgeweitet werden sollte. An dieser „innerdeutschen“ Diskussion beteiligen sich die chinesischen Probanden nicht. Vergleich T4.TXT.int., FSU1.TXT.dt. und T1.TXT.chin. Die Frage nach der Lösbarkeit des Problems wird in Interimstexten kaum (13 %), die Frage nach der eigenen Handlungskompetenz gar nicht gestellt. Handlungsempfehlungen werden hingegen häu g (60 %) ausgesprochen. Im deutlichen Unterschied zu den chinesischen Studienanfängern beteiligen sich die fortgeschrittenen Deutschlerner mit ihren Texten an der Diskussion, indem sie aufgrund eigener Erfahrungen zahlreiche (33 %) konkrete Verbesserungsvorschläge machen. Die Empfehlungen richten sich an deutsche Adressaten, die bei ihrer Entscheidungs ndung von den Erfahrungen in China pro tieren können. Wie die chinesischen Studienanfänger beteiligen sich die Deutschlerner nicht an der Diskussion, ob die Maßnahme ausgeweitet werden sollte. Vergleich T4.TXT.chin., FSU1.TXT.dt., T1.TXT.chin. und T4.TXT.int. Die Fragen nach der Lösbarkeit des Problems, nach der eigenen Handlungskompetenz und einer möglichen Ausweitung der Maßnahme werden auch in den muttersprachlichen Texten der fortgeschrittenen Deutschlerner kaum oder nicht gestellt. Ein bemerkenswerter Unterschied besteht bezüglich der Handlungsempfehlungen: In den Interimstexten werden häu ger (33 %) Modi kationen der Maßnahme vorgeschlagen als in den chinesischen Texten (20 %). In den chinesischen Texten werden demgegenüber häu ger (53 %) alternative oder ankierende Maßnahmen empfohlen als in den Interimstexten (40 %). Es zeigen sich demnach Verschiebungen, die erneut darauf hindeuten, dass die gewählte Sprache beim Schreiben Ein uss auf das Diskursverhalten hat. <?page no="285"?> 20 Kurzfassung und Hypothesen Das Ziel der vorliegenden interpretativ-explorativen Untersuchung bestand darin, Hypothesen zu Formen argumentativen Schreibens in interimssprachlichen Texten chinesischer Germanistikstudenten zu generieren. Als Materialgrundlage dienten vier Textkorpora, angefertigt von 20 chinesischen und 19 deutschen Studienanfängern (L 1 ) und 15 fortgeschrittenen chinesischen Studierenden des Faches Germanistik im vierten Studienjahr (L int und L 1 ). Die Interpretation des Datenmaterials vollzog sich in ständiger Auseinandersetzung mit Hypothesen der Kontrastiven Rhetorik, Darstellungen in muttersprachlichen Lehrwerken, Beiträgen der Schreibdidaktik und Konzepten verschiedener Referenzwissenschaften. Die im Folgenden näher erläuterten Hypothesen beziehen sich zunächst auf konzeptionelle Grundannahmen zum Kulturbegriff in kontrastiven Untersuchen sowie zu Textproduktionsprozessen in interkulturellen Handlungskontexten. Es folgen Hypothesen zu zentralen, schulisch vermittelten argumentativen Textmustern und Möglichkeiten der Dateninterpretation durch die Identi kation konstitutiver Teiltexte. Anschließend werden zentrale Ergebnisse der empirischen Untersuchung vorgetragen, wobei sich die Hypothesen zusammenfassend auf einzelne der vier untersuchten Textkorpora beziehen. Zum Abschluss werden Grundannahmen der Kontrastiven Rhetorik vor dem Hintergrund der in vorliegender Arbeit generierten Hypothesen beurteilt und eine Neuinterpretation des zentralen Beispieltextes von K APLAN zur Diskussion gestellt. 1. Zur kulturwissenschaftlichen Beschreibung einer Lernergruppe eignet sich ein Kulturmodell, das von vernetzten und sich überlagernden Standardisierungen in verschieden gefassten Kollektiven ausgeht. Kulturkontrastive Untersuchungen müssen im Vorfeld einer Datenerhebung die grundsätzliche methodologische Frage klären, ob einzelne Probandengruppen, zu denen Zugang besteht, einen Kulturvergleich überhaupt rechtfertigen. Sollen Standardisierungen in institutionalisierten Kollektiven, wie sie Studierende an einer Universität bilden, untersucht werden, dann wird es sich in der Praxis als nahezu unmöglich erweisen, in verschiedenen Ländern auch nur annähernd gleiche Gruppen zu nden. Bestimmte Modalitäten des Hochschulzugangs und der Fächerwahl führen zur Bildung ganz unterschiedlich zusammengesetzter Gruppen, die sich nicht ohne weiteres mit analogen Gruppen in Ländern mit einem anderen Bildungssystem vergleichen lassen. Empirische Arbeiten können die angesprochenen Unterschiede ignorieren und Untersuchungsergebnisse generalisierend auf die Nationalkulturen der Probanden beziehen. Dieses häu g praktizierte Verfahren stößt jedoch spätestens dann an Grenzen, wenn man sich mehreren Kollektiven innerhalb einer Nationalkultur zuwendet, beispielsweise Lernern verschiedener Jahrgangsstufen an einer Hochschule. Auch Unterschiede zwischen diesen Kollektiven lassen sich - so die Hypothese - kulturwissenschaftlich interpretieren. Hierzu ist es nötig, von der individuellen Multikollektivität der Probanden auszugehen und plurale Mitgliedschaften in verschieden verfassten kulturellen Formationen anzunehmen. Diese Grundannahme ermöglicht einerseits eine genauere Einschätzung eines konkreten Monokollektivs in seinen Kongruenzen und Widersprüchen. Hierbei ist es erforderlich, neben aktu- <?page no="286"?> 274 Kurzfassung und Hypothesen ellen auch ehemalige Mitgliedschaften zu berücksichtigen, da die Probanden maßgeblich in Kollektiven geprägt worden sind, denen sie nicht mehr angehören, beispielsweise Klassenverbänden an örtlichen Mittelschulen. Einige dieser Prägungen können fortwirken, andere wiederum können verblassen oder von neuen überlagert werden. Für diese Vermutung spricht, dass Fremdsprachenlerner im Rahmen ihres Studiums permanent mit alternativen Standardisierungen konfrontiert und häu g von Angehörigen der Zielkultur direkt beein usst werden, etwa von muttersprachlichen Lektoren. Insofern orientieren sie sich nicht ausschließlich an Vorgaben der Herkunftskulturen, sondern integrieren auch Zielvorgaben vormals fremder Kulturen. Die Annahme einer prinzipiellen Multikollektivität verortet Probanden anderseits nicht ausschließlich in nationalen Dachkollektiven. Vielmehr wird individuelles Verhalten in einem Bedingungsgefüge mehrerer, sich partiell überlappender nationaler und supranationaler Dachkollektive erklärt. Dieses offene und dynamische Kulturverständnis entbindet den Forscher von der Aufgabe, möglichst gleiche Probandengruppen zusammenzustellen. Stattdessen kann er sich auf die genaue, dichte Beschreibung differenter Monokollektive konzentrieren und bestimmte Tendenzen festhalten. Der Verzicht, Lerner verkürzend als Repräsentanten ihrer Nationalkultur zu betrachten, gewährleistet außerdem eine höhere Reliabilität der Untersuchungsergebnisse, denn diese beziehen sich ausdrücklich auf konkrete, nur relativ repräsentative Monokollektive. 2. Zur Beschreibung von Textproduktionsprozessen in Lehr- und Lernkontexten eignet sich ein Textproduktionsmodell, das neben kognitiven Prozessen auch Formen der interkulturellen Interaktion re ektiert. Bei der gelenkten Textproduktion im Fremdsprachenunterricht interagieren häu g Lehrer und Lerner aus verschiedenen Kulturen. Die Interaktion vollzieht sich in einer typischen Schrittfolge, die dem Lehrer eine Doppelrolle als Initiator der Textproduktion und Adressat der Texte zuweist. Die Textproduktion wird gewöhnlich durch einen zielsprachigen Ausgangstext initiiert, der Lerner mit Problemlagen in der Zielkultur konfrontiert, die ihnen nicht immer hinlänglich bekannt sind. Der Arbeitsauftrag fordert sie dann dazu auf, sich mit ihren Texten an einem in der Zielkultur geführten Diskurs zu beteiligen. 3. Zur Rekonstruktion eigenkultureller Aufsatzmuster ist eine Analyse von Darstellungen in muttersprachlichen Lehrwerken zweckmäßig. Die Versuche der Kontrastiven Rhetorik, aktuelle Lernertexte auf klassisches Schrifttum zu beziehen, bleiben weitgehend spekulativ und ungenau. Zielführender ist die Untersuchung aktueller muttersprachlicher Lehrwerke und Aufsatzdidaktiken, um Muster zu rekonstruieren, die im Aufsatzunterricht an örtlichen Mittelschulen vermittelt werden und Schreibprozesse in der Fremdsprache maßgeblich beein ussen. Ein Vergleich der analogen Textsorten Erörterung und Yilunwen zeigt beachtliche Unterschiede: Die deutsche Aufsatzsorte Erörterung kennt die Varianten Sacherörterung und Problemerörterung. In der Praxis werden an deutschen Gymnasien und Gesamtschulen vornehmlich Problemerörterungen geübt, die einem kontroversen Argumentationsmuster folgen. Hierbei sollen die Schüler lernen, verschiedene Positionen zu vergleichen, Vor- und Nachteile abzuwägen, um ein kritisches Urteil zu fällen. Die Texte sind in drei Abschnitte (Einleitung, Hauptteil, Schluss) gegliedert und verfolgen vor <?page no="287"?> 275 Kurzfassung und Hypothesen allem das Ziel, den Rezipienten über eine komplexe Problemlage zu informieren und ihn durch eine stichhaltige Argumentation zu überzeugen. Außerdem zeichnen sich gute Erörterungen durch anschauliche und lebendige Darstellungen bestimmter Sachverhalte aus. Nicht angestrebt wird hingegen, den Rezipienten emotional zu berühren. Von geringerer Bedeutung scheinen sprachästhetische Kriterien zu sein. Texte wollen eher durch eine stichhaltige Argumentation als durch sprachliche Schönheit überzeugen. In der chinesischen Aufsatzsorte Yilunwen werden ebenfalls Sachfragen und Geltungsfragen erörtert, wobei eindeutig die erste Variante Priorität genießt. Die Schüler chinesischer Mittelschulen werden unterwiesen, Phänomene in ihrer Komplexität zu erfassen und wechselseitige Beziehungen zu erkennen. Yilunwen sind zwar wie eine Erörterung in drei Abschnitte (Einteilung, Hauptteil, Schluss) unterteilt, sie verfolgen aber andere Ziele. Sie wollen vor allem Wissensde zite beheben und folgen daher einem konvergenten Argumentationsmuster. Ebenfalls wichtig ist es, den Rezipienten durch die Lebendigkeit der Darstellung und den Ausdruck persönlicher Gefühle zu berühren. Außerdem dienen die Texte dazu, die Schreibkompetenz und die Stilsicherheit des Autors unter Beweis zu stellen, denn Texte sollen nicht zuletzt auch Lesevergnügen bereiten. 4. Als Grundlage eines Vergleichs argumentativer Texte eignet sich die analytische Unterscheidung von Teiltexten, denen einzelne Diskursphasen entsprechen. Grundsätzlich lassen sich beim argumentativen Schreiben drei Handlungsebenen unterscheiden: (1) die Ebene der Textproduktion, (2) die Ebene der textvermittelten Kommunikation und (3) die Ebene des Diskurses. Texte als Diskursbeiträge orientieren sich unabhängig von kulturell markierten Gliederungsmustern an dem übergeordneten Handlungsziel, ein Problem zu lösen. In reaktiven Texten, in denen vollzogene Handlungen diskutiert werden, lassen sich analytisch drei Teiltexte unterscheiden: „Einschätzung der Problemlage“, „Einschätzung der Handlung“ und „Re exion von Handlungsoptionen“. Diese Teiltexte markieren zentrale Phasen eines Diskurses. Bei der Korpusanalyse können im Text verteilte Segmente den genannten Teiltexten zugeordnet werden, was Texte aus verschiedenen Kulturen vergleichbar macht und unterschiedliche inhaltliche Fokussierungen zeigt. 5. Die muttersprachlichen Texte der deutschen Studienanfänger orientieren sich an dem schulisch vermittelten Aufsatzmuster Erörterung. Die Texte der deutschen Studienanfänger weisen große Unterschiede hinsichtlich Aufbau, Wirkungsabsicht und Stil auf. Die große Bandbreite von geübten und ungeübten Schreibern in der deutschen Probandengruppe berechtigt zu der Annahme, dass das argumentative Schreiben an bundesdeutschen Gymnasien und Gesamtschulen unterschiedlich intensiv geübt wird. Mehrheitlich orientieren sich deutsche Studienanfänger an der Aufsatzsorte Problemerörterung. Dies zeigt sich (1) durch eine vergleichsweise starke Fokussierung des Teiltextes „Einschätzung der Handlung“, (2) durch eine vergleichsweise große Distanz zum Ausgangstext, der in Texterörterungen selbst zentraler Textgegenstand sein kann, und (3) durch die deutliche Bevorzugung des kontroversen Argumentationsmusters. (4) Im Teiltext „Einschätzung der Problemlage“ werden Problemlagen beschrieben und erklärt, jedoch kaum beurteilt. <?page no="288"?> 276 Kurzfassung und Hypothesen Wie es die Aufsatzsorte Problemerörterung vorsieht, besteht das zentrale Ziel der Texte darin, die Kritikfähigkeit der Autoren zu zeigen, die nach Abwägung verschiedener Argumente ein sachlich-distanziertes Urteil fällen, um den Rezipienten zu überzeugen. 6. Die muttersprachlichen Texte der chinesischen Studienanfänger orientieren sich stark an dem schulisch vermittelten Aufsatzmuster Yilunwen. Die Mitglieder dieser Probandengruppe sind mehrheitlich sehr geübte Schreiber, was auf einen sehr zeitintensiven Aufsatzunterricht an chinesischen Mittelschulen schließen lässt. Außerdem tragen die Anforderungen der landesweiten Hochschulaufnahmeprüfung dazu bei, dass chinesische Studienanfänger über eine vergleichsweise hohe Schreibkompetenz verfügen. Chinesische Studienanfänger orientieren sich stark an der Aufsatzsorte Yilunwen. Dies zeigt sich (1) durch eine vergleichsweise starke Fokussierung des Teiltextes „Einschätzung der Problemlage“, (2) durch eine eingehende Betrachtung einzelner Textgegenstände und (3) durch die Bevorzugung des konvergenten Argumentationsmusters. (4) Im Teiltext „Einschätzung der Problemlage“ werden Situationen beschrieben und erklärt, häu g jedoch auch emphatisch beurteilt. Daher werden in weitgehend deskriptiven Teiltexten auch Geltungsfragen beantwortet. Wie es die Aufsatzsorte Yilunwen vorsieht, besteht das zentrale Ziel der Texte darin, Dinge in ihrer Komplexität und wechselseitigen Verbundenheit zu erfassen, um den Leser aufzuklären. Ein komplementäres Ziel besteht darin, eine bestimmte Position zu vertreten bzw. zu widerlegen, um den Leser zu überzeugen. Ein weiteres Ziel besteht darin, einen unterhaltsamen und stilistisch ansprechenden Text zu verfassen, der die Schreibkompetenz des Autors unter Beweis stellt. 7. In den Interimstexten der chinesischen Studierenden des Faches Germanistik überlagern sich die Aufsatzmuster Yilunwen und Erörterung . Die Interimstexte sind wesentlich kürzer als die muttersprachlichen Texte der Studienanfänger, was auf spezi sche Schwierigkeiten des Schreibens in der Fremdsprache zurückzuführen ist. Außerdem sind sie bezüglich Gliederung, Textfunktion und Stil recht uneinheitlich. Dies kann auf ein komplexes Bündel von Faktoren zurückgeführt werden: Die Probanden sind älter als die Studienanfänger, die in der Mittelschule vermittelten Textmuster sind daher bereits verblasst, außerdem haben die Germanistikstudenten im Rahmen ihrer Ausbildung fremdkulturelle Textmuster erlernt, die sich mit eigenkulturellen überlagern. Die Interimstexte orientieren sich an einander überlagernden Textmustern: (1) Einige Interimstexte fokussieren nach dem Muster eines Yilunwen den Teiltext „Einschätzung der Problemlage“, andere diskutieren nach dem Muster einer Problemerörterung die eingeleitete Maßnahme. (2) Einige Interimstexte betrachten nach chinesischen Konventionen einzelne Textgegenstände und beziehen sie aufeinander, andere informieren den Leser nach deutschen Konventionen über den Ausgangstext. (3) Einige Interimstexte argumentieren konvergent und vertreten nach chinesischen Konventionen emphatisch eine bestimmte Position, andere argumentieren kontrovers und bemühen sich nach deutschen Konventionen um eine sachlich-distanzierte Stellungnahme. (4) Viele Interimstexte beschreiben und erklären Situationen nicht nur, nach chinesischer Konvention beurteilen sie diese auch. <?page no="289"?> 277 Kurzfassung und Hypothesen Eines der zentralen Ziele der Texte besteht darin, die morphosyntaktischen Normen der Zielsprache zu befolgen und mit einem möglichst fehlerfreien Text eine hohe Fremdsprachenkompetenz zu demonstrieren. Unabhängig davon sind einige Verschiebungen im Diskursverhalten erkennbar. Im Gegensatz sowohl zu den deutschen als auch den chinesischen Studienanfängern tendieren die fortgeschrittenen Deutschlerner dazu, Problemlagen vor dem Hintergrund der jeweiligen Situation in einem Land einzuschätzen und Vergleiche zu ziehen. Zu konstatieren ist also ein Zuwachs an interkultureller Kompetenz. Außerdem tendieren die fortgeschrittenen Studierenden im Gegensatz zu den chinesischen Studienanfängern dazu, an einem im Ausland geführten Diskurs zu partizipieren, indem sie eigene Erfahrungen mitteilen. Zu konstatieren ist also eine erhöhte Bereitschaft, sich in Entscheidungsprozesse in der Zielkultur einzumischen. 8. In den muttersprachlichen Texten der chinesischen Studierenden des Faches Germanistik überlagern sich die Aufsatzmuster Yilunwen und Erörterung . Auch die muttersprachlichen Texte der fortgeschrittenen Studierenden folgen keinem einheitlichen Muster. Während sich einige stark an die Interimstexte anlehnen, unterscheiden sich andere deutlich von diesen. Einige Texte orientieren sich am chinesischen Yilunwen, andere folgen bewusst einer deutschen Erörterung. Die Heterogenität der Texte kann wieder auf viele Faktoren zurückgeführt werden. Das Schreiben in der Muttersprache kann es begünstigen, sich an eigenkulturellen Textmustern zu orientieren. Wenn jedoch ein interkultureller Adressatenbezug vorliegt, wenn schulische Aufsatzmuster verblasst sind bzw. von fremdkulturellen überlagert werden, dann können muttersprachliche Texte auch fremdkulturellen Textmustern folgen. Die quantitative Verteilung der Teiltexte zeigt auffällige Unterschiede zwischen den Interimstexten und den muttersprachlichen Texten der chinesischen Probanden. Eindeutig ist hierbei, dass sich die fortgeschrittenen Deutschlerner vorrangig mit der Problemlage auseinandersetzen, sobald sie Texte in ihrer Muttersprache verfassen. Die starke Fokussierung der Problemlage in den muttersprachlichen Texten sowohl der Studienanfänger als auch der fortgeschrittenen Studenten deutet darauf hin, dass die Setzung inhaltlich-thematischer Schwerpunkte kulturell tief verankert ist. Andere Merkmale eigenkultureller Textmuster werden hingegen nicht beibehalten. So weisen viele muttersprachliche Texte der fortgeschrittenen Studenten typische Merkmale einer Erörterung auf. Anders als in einem typischen Yilunwen wird fast gänzlich darauf verzichtet, den Leser mit längeren narrativen Textsequenzen zu unterhalten und ihn affektiv anzusprechen. Nachtrag zu Thesen der Kontrastiven Rhetorik Die vorliegende Arbeit zeigt, dass sich die muttersprachlichen Texte deutscher und chinesischer Studienanfänger an schulisch vermittelten Textmustern orientieren. In Interimstexten überlagern sich hingegen eigen- und fremdkulturelle Textmuster. Wie sind die Hypothesen der Kontrastiven Rhetorik, insbesondere die Folgerungen K APLAN s angesichts dieser Ergebnisse zu beurteilen? Um zu demonstrieren, dass sich Fremdsprachenlerner an eigenkulturellen Textmustern orientierten, wählen K APLAN und viele seiner Nachfolger aus heterogenem Datenmaterial selektiv jene Texte aus, die fremdkulturellen Mustern folgen. Es scheint, als <?page no="290"?> 278 Kurzfassung und Hypothesen konzentrierten sich Vertreter der Kontrastiven Rhetorik bewusst auf Unterschiede, auf exotische Aspekte der Interimstexte, um ihre Grundannahmen zu bestätigen. Symptomatisch ist hierbei das gängige Verfahren, „exemplarische“ Beispieltexte zu zitieren, um mutmaßliche Unterschiede zu illustrieren. Nach Analyse der Interimstexte chinesischer Deutschlerner in vorliegender Arbeit drängen sich Zweifel an der Repräsentativität vieler Aussagen der Kontrastiven Rhetorik zu Merkmalen von Lernertexten auf. Zweitens zeigt vorliegende Arbeit, dass zur Analyse von Interimstexten die profunde Kenntnis aktueller eigen- und fremdkultureller Aufsatzmuster notwendig ist. Hierzu bietet es sich an, muttersprachliche Lehrwerke und Aufsatzdidaktiken auszuwerten. K APLAN s Versuch, anhand von Interimstexten tradierte Gliederungsprinzipien zu rekonstruieren, erweist sich demgegenüber als hochgradig spekulativ und unhistorisch. Dass Darstellungen in aktuellen Lehrwerken tatsächlich den Blick öffnen für fremdkulturelle Muster, möchte ich abschließend an dem zentralen Beispieltext K APLAN s verdeutlichen. Obwohl der Text von einem koreanischen Englischlerner verfasst worden ist, zeigen sich deutliche Übereinstimmungen zu Texten chinesischer Studienanfänger, was darauf hindeutet, dass in der Republik Korea und der Volksrepublik China ähnliche Aufsatzmuster vermittelt werden. Wie gezeigt worden ist, verfolgen argumentative Texte aus China vor allem das Ziel, das Wesen der Dinge zu erforschen und sie in ihrer wechselseitigen Verbundenheit dazustellen. Das Verhältnis zweier Textgegenstände wird hierbei häu g in einem Dreischritt erörtert. Die Kenntnis dieses spezi schen Musters ist meines Erachtens ein Schlüssel zur Interpretation des „zyklisch“ aufgebauten Beispieltextes bei K APLAN . Der koreanische Englischlerner hatte geschrieben: De nition of college education (1) College is an institution of an higher learning that gives degrees. (2) All of us needed culture and education in life, if no education to us, we should to go living hell. (3) One of the greatest causes that while other animals have remained as they rst man along has made such rapid progress is has learned about civilization. (4) The improvement of the highest civilization is in order to education up-to-date. (5) So college education is very important thing which we don’t need mention about it (K APLAN 1966/ 2001: 17; Hervorhebungen und Segmentierung ergänzt, D. S.). Bei diesem Text handelt es sich zweifelsohne um einen authentischen Lernertext. In der Überschrift kündigt der koreanische Lerner an, college-education de nieren zu wollen, er möchte also wie in einem chinesischen Yilunwen eine Sachfrage erörtern. Hierzu löst er das Kompositum college-education auf, diskutiert die Begriffe zunächst einzeln und führt sie dann zusammen. So stellt er in (1) einleitend dar, was college bedeutet, dann betont er in (2) bis (4) die Wichtigkeit von education, schließlich gelangt er in (5) zu der zusammenfassenden Einschätzung, dass college-education unverzichtbar sei. Eine „zyklische“ Argumentation liegt demnach nicht vor, vielmehr ein charakteristischer Dreischritt. Auch weitere Merkmale des Textes erinnern an muttersprachliche Texte chinesischer Studienanfänger. Die drastische Formulierung living hell in (2) deutet darauf hin, dass der Leser affektiv angesprochen werden soll. Auch auf inhaltlicher Ebene zeigen sich erstaunliche Parallelen. Wie die chinesischen Studienanfänger diskutiert der koreanische Englischlerner in (3) ein aktuelles Geschehen vor dem Hintergrund der zivilisatorischen Entwicklung der Menschheit (improvement of the highest civilization). Schließlich erinnert auch die Schlussfolgerung (we don’t need mention about it) in (5) an die Aufsätze der chinesischen Studienanfänger, die sich mehrheitlich ebenfalls einer kollektiv rati zierten Position anschließen. <?page no="291"?> Anhang <?page no="292"?> Transkriptionshinweise Bei der Transkription der handschriftlichen Texte wird das originale Schriftbild möglichst genau wiedergegeben. Nicht markiert sind jedoch Revisionen mit Korrektur üssigkeit. Um die chinesischen Texte in einem weiteren Arbeitsschritt übersetzen zu können, war es notwendig, alle nicht normgerechten chinesischen Zeichen zu identi zieren. Die korrekte Schreibweise wird Fußnoten angegeben. Sofern in den Texten selbst Fußnoten verwendet wurden, ist dies vermerkt. Folgende Konventionen wurden durchgängig befolgt, hier demonstriert an chinesischen Texten: nicht normgerecht verwendetes Zeichen; in Fußnote (1) korrekte Schreibweise des Zeichens , gegebenenfalls versehen mit Kommentar durchgestrichenes Zeichen unleserliches Zeichen unleserliches, durchgestrichenes Zeichen nachträglich über oder unter eine Zeile eingefügtes Zeichen <?page no="293"?> 281 FSU1 FSU1-01 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 05/ 1984 in Jena, Thüringen Schulbildung Gymnasium in Jena, Thüringen Leistungskurse Mathematik, Englisch Studienfächer(HF/ NF/ NF) DaF/ Psychologie/ Anthropogeographie Angestrebter Studienabschluss Magister FSU1-01.TXT.dt. Datum 2002.11.07., 18: 05-19: 10 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 (1) Wer „in“ sein will, muss „coole“ Klamotten tragen, so oder ähnlich lautet das ungeschriebene Gesetz, das heute unter den Jugendlichen herrscht. (2) Immer jun Doch nicht nur Jugendliche sind beugen sich dieser „Regelung“, immer jüngere Kinder überlegen morgens länger welchen Pullover sie in die der Schule tragen können, ohne dafür gehänselt zu werden. (3) Gleichzeitig Jedoch kann dieses „Gesetz“ ab nicht auf jeden beliebigen Schüler oder Jugendlichen übertragen werden. (4) Je nach sozialem Umfeld wird der Kleidung mehr oder weniger Wichtigkeit zugemessen. (5) Trotzdem lässt sich nicht verhehlen, dass die Medien täglich den sogenannten „Markenterror“ (Zitat Z.1) durch ihre ständige Werbung unterstützen. (6) Wirft man einen Blick in eine der vielen Jugendzeitschriften, so fällt sofort auf, dass etwa ein Drittel der Zeitung aus Reklame besteht. (7) Geworben wird hauptsächlich für Kleidung, ebenso aber auch für sogenannte „Accessoires“ und Make-up. (8) Die Models, die diese Produkte präsentieren entsprechen zu dem keines wegs dem Bevölkerungsdurchschnitt in ihrem Äußeren. Meist sind sie abgemagert bis auf die Knochen, (9) denn alles jeder über 60 kg gilt schon als fett. (10) Da Jugendliche meist noch ungeformt in ihren Charakteren, sich gern an den Inhalten dieser Magazine orientieren, (12) muss ihnen doch zwangsläu g auf Grund der Quantität großen Menge der Werbung der Eindruck entstehen, dass Mode ein wichtiger Bestandteil des Lebens sein muss. (13) Gleichzeitig orientieren sie sich an dem Aussehen der Models und versuchen ihnen nachzueifern. (14) Wenn man Glück hat, ermöglichen einem die Eltern alle auch noch so befremdenden Moden mitzumachen. (15) Trägt man jedoch immer noch die Klamotten, die vor 2 Jahren modern waren bzw. Billigprodukte so kann es leicht passieren dass man d in der Schule schräg angeguckt schaut wird. (16) Dieses eben beschriebene Geschehen stimmt sicherlich im Großen mit der Realität überein, (17) jedoch gibt es si noch Unterschiede zwischen den Jugendlichen. (18) Das genannte Beispiel aus dem Artikel beschreibt die Vorkommnisse und einer Haupt- und Realschule. (19) Schüler dieser Schulformen setzen die Prioritäten in ihrem Leben sicherlich anders als Gymnasiasten. (20) Sie sind meist darauf ausgerichtet einen praktischen Beruf zu lernen, schnell Geld zu verdienen. Für sie ist spielt das Lernen zu dem eine wesentliche geringere Rolle. (21) Deshalb lenken sie ihre Aufmerksamkeit eher auf Äußeres. Sie beurteilen auch ihre Mitmenschen eher nach ihrem äußeren Erscheinungsbild. (22) Deshalb werden auch die Unterschiede Sympathien für Mitmenschen schneller an der Kleidung festgemacht. „Häßliche“ Kleidung entspricht unsympathischen Menschen und umgekehrt. (23) Natürlich entstehen so leichter Täuschungen und Kon ikte können entstehen. (24) Schüler die ein Abitur o.ä. anstreben haben oft andere Werte. (25) Sie lernen um später mit dem erworbenen Wissen weiterzuarbeiten. Sie de nieren sich sicherlich auch <?page no="294"?> 282 FSU1 außerdem mehr über ihr Wissen (26) deshalb ist die Chance geringer dass man ausgeschlossen wird, nur weil man billige Kleidung trägt. (27) Das bedeutet jedoch nicht das diese Kon ikte ausbleiben, sie werden nur weit anders gelöst. (28) Einheitliche Schulkleidung kann solchen Problemen vorbeugen, (29) wird sie allerdings nicht verhindern. (30) Sie stärkt natürlich das Zusammengehörigkeitsgefühl der Schüler, was sicherlich positive Auswirkungen auf das Lernklima hat. (31) Doch andererseits bedeutet sie eine zusätzliche nanzielle Belastung für die Familien, denn Freizeitkleidung wird trotzdem noch benötigt. (32) Der Markenterror geht außerdem nach der Schule weiter er wird lediglich verlagert. (33) Das Projekt der Hamburger Schule ist si trotzdem positiv zu beurteilen, (34) denn es demonstriert den Schülern eingängig, dass man auch auf andere Eigenschaften achten kann. (35) Insgesamt bin ich der Meinung dass das der Begriff „Markenterror“ eine Übertreibung der Tatsachen darstellt. (36) Aus eigener Erfahrung könnte ich von nur von wenigen Beispielen berichten. (37) Allerdings habe ich auch nie eine Hauptschule besucht. (38) Ich denke man sollte, um gegen dieses Problem anzugehen einen anderen Ansatzpunkt wählen. (39) Nämlich den Medien Einhalt gebieten in der Werbefreiheit. FSU1-02.TXT.dt Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 07/ 1980 in Westberlin Schulbildung Gymnasium in Westberlin Leistungskurse Englisch, Biologie Studienfächer (HF/ NF/ NF) Medienwissenschaft/ IWK/ Anglistik-Amerikanistik Angestrebter Studienabschluss Magister FSU1-02 Datum 2002.11.07, 18: 05-19: 02 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 (0) Markenterror an Schulen nimmt zu. Jugendliche und Markenprodukte (1) „Jetzt kann hier keiner mehr mit seinen teuren Klamotten angeben, und es gibt weniger Streit.“ (2) Das Thema Mode hat in den letzten Jahren scheinbar sehr an Wichtigkeit zugenommen. (3) Der Mensch de niert sich mehr und mehr über Äußerlichkeiten; das ist schon bei den ganz Kleinen zu spüren. (4) Der Grund hierfür ist meiner Meinung nach zuerst einmal bei den Medien und ihrem Umgang mit diesem Thema zu suchen. (5) Man braucht bloß den Fernseher einzuschalten und wird dort - sei es durch Werbefernsehen oder die eigene Lieblingsserie - mit einem Bild konfrontiert, dem man selbst nur schwer entsprechen kann. (6) Natürlich ist das Angebot an sog. „Markenklamotten“ immens hoch (7) und scheint fast nach dem Gesetz „Je teurer, desto besser“ zu funktionieren. (8) Ist es für einen drei jährigen Menschen wichtig, Turnschuhe der Marke „Nike“ zu tragen - (9) und ist es diesem auch wichtig, wie teuer diese Schuhe waren? Mit Sicherheit nicht (10) und trotzdem scheinen Eltern gar nicht früh genug damit anfangen zu können, ihre Liebsten nach dem neuesten Trend einzukleiden. (11) Wo es mir als zehn jährige vergönnt blieb, die Hose von „Levi’s“ und den Pullover von „adidas“ zu tragen, (12) so ist dies heutzutage offenbar zu einem Muß geworden - (13) und wer da nicht mithalten kann, der wird in vielen Fällen zum Außenseiter. <?page no="295"?> 283 FSU1 (14) Ich komme selbst aus einer Großstadt und weiß, was für Probleme sich ergeben können, Wenn „Arm“ auf „Reich“ trifft ; (15) wenn „Modebewusstsein“ das Zusammenleben so stark beein ußt, dass man sich kaum seinem eigenen Stil hingeben kann , sondern dem „Trend“ unterwerfen muss. (16) Die Einführung der Schuluniform in Hamburg-Sinstorf setzt „dem hartnäckigen Wettstreit um die teuersten Markenklamotten ein für allemal ein Ende“, (17) so hofft man zumindest. (18) Wo kommt ein derartiges Agressionspotential her (19) und wie kann man es stoppen? (20) Ich nde es gut, dass ein solches „Pilotprojekt“ nun auch in Deutschland existiert, (21) obwohl ich Zweifel habe, ob die Schüler andernorts auch „sehr positiv“ auf die Einführung einer Schuluniform reagieren würden. (22) Soziale Gefüge einer Großstadt tragen sicher zum Fortbestehen des „Markenterrors“ bei (23) und es bleibt die Frage offen, ob das Tragen einer Schuluniform national ausgeweitet werden sollte wie z.B. in England. (24) Man kann dem Menschen sicher nur in einer gewissen Phase seines Lebens vorschreiben, was er zu Tragen hat, (25) aber solange man damit Prügeleien und unnötige Agressionsausbrüche sowie Neid und Scham verhindern kann, sollte man dies in bestimmten Fällen auch tun! FSU1-03 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 12/ 1982 in Jena, Thüringen Schulbildung Gymnasium in Kahla, Thüringen Leistungskurse Deutsch, Englisch Studienfächer (HF/ NF/ NF) DaF/ Anglistik-Amerikanistik/ Spanisch Angestrebter Studienabschluss Magister FSU1-03.TXT.dt. Datum 2002.11.07, 18: 05-18: 50 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 (1) Kinder können grausam sein. (2) Das hat sicherlich jeder von uns am eigenen Leib in jungen Jahren erlebt oder spätestens bei den eigenen Kindern verfolgen können, (3) als sie weinend vom Kindergarten oder der Schule nach Hause kamen. (4) Das sich dieses Naturgesetz nicht nur auf einige wenige Bereiche des täglichen Miteinanderz zwischen den Kindern bezieht ist klar. (5) Besonders seit den 80er Jahren wird aber immer mehr Wert auf Äußerlichkeiten und Markenprodukte gelegt. (6) Kinder lernen von den Erwachsenen, dass nur teuere Markenpullover, Schuhe, Hosen usw einen Menschen wertvoll machen (7) und nutzen dies sofort als Anstoß um Mitschüler terrorisieren zu können. (8) Um dies zu verhindern werden nun Pilotprojekte begonnen, die die Wirksamkeit von Schuluniformen prüfen sollen . (9) Sicherlich kann dies als „Zeichen der Zusammengehörigkeit“ gedeutet werden. (10) Schließlich tragen Vereine oder öffentliche Einrichtungen wie Polizei oder Bundeswehr auch Uniformen um sich als Einheit darstellen zu können. (11) Ob dies aber den „School Spirit“ unterstützt ist fraglich. (12) Friedliches Zusammenarbeiten und darauf stolz zu sein, dass man gerade an diese oder jene Schule geht wird weniger durch uniforme Sweatshirts erreicht (13) als durch engagierte Lehrer, die auch <?page no="296"?> 284 FSU1 mal dazwischen gehen, wenn es Probleme zwischen Schülern gibt und Projekte organisieren, die Teamarbeit fördern. (14) Auf der anderen Seite können die Schüler sich besser auf den Unterricht und den Lehrstoff konzentrieren wenn sie nicht ständig über ihre Kleidung nachdenken bzw. andere um ihre neuen Adidas T-Shirts beneiden. (15) Dies ist aber ein eher kleineres Problem, wenn man den Kostenaufwand für die Ausstattung einer Schule mit Uniformen betrachtet. (16) Besonders in Deutschland, wo in Bildung sowieso verhältnismäßig wenig investiert wird, gibt es wichtigere Dinge wie z.B. Bücher und Computer in die investiert werden sollte. (17) Die Entscheidung der Hamburger Schule Schuluniformen einzuführen ist also prinzipiell nicht falsch; (18) allein wird es aber einer Schule mit Gewaltproblemen auch nicht weiterhelfen können. (19) Es kann aber ein erster Schritt zur Kon iktbeseitigung sein. FSU1-04 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 01/ 1983 in Neustrelitz, Mecklenburg-Vorpommern Schulbildung Gymnasium in Neustrelitz, Mecklenburg-Vorpommern Leistungskurse Englisch, Spanisch Studienfächer (HF/ NF/ NF) Medienwissenschaft/ Psychologie/ IWK Angestrebter Studienabschluss Magister FSU1-04.TXT.dt. Datum 2002.11.07, 18: 05-19: 18 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 (1) Was ist „Markenterror“? (2) Laut dieses Artikels „Markenterror an Schulen nimmt zu“ steigt die Anzahl der durch Kleidung Markensachen verursachten Probleme an deutschen, wie es heißt „auch“ an deutschen, Schulen zu. (3) Dies soll heißen, dass die Kinder unterschiedlichster Herkunft, wie ich dies in Hamburg annehme, aufeinandertreffen in der Schule. (4) Sie wachsen vielleicht durch verschiedene Herkunft Erziehung, und unterschiedliche soziale Klassen unterschiedlich auf und treffen dann zusammen. (5) Es kommt zu Beschimpfungen und Prügeln, da einer auf Grund seiner vielleicht weniger vermögenden Eltern billigere Sachen anhat und deshalb von anderen, reicheren, nicht akzeptiert wird. (6) Anders herum werden auch Mitschüler, die vielleicht eher Markenklamotten tragen, als „Bonzen“ beschimpft. (7) Woher kommt dieses Problem? (8) Woher haben Kinder diese intolerante, einseitige und unhinterfragte Meinung ander Kinder, die „anders“ sind herunterzumachen, (9) sei es aus Neid oder aus „Hochnäsigkeit“, dem Gefühl also besser zu sein nur weil man bessere Sachen trägt? (10) Ist die Werbeindustrie schuld, die einem einsugeriert Markenprodukte sind qualitativ hochwertiger, besser, schöner? (11) Man könnte also sagen die Sachen, die jemand trägt, gelten heutzutage als Statussymbol in der Schule, wie etwa Papas teures Auto. (12) Auch die Erziehung der Eltern, (13) die Allgegenwärtigkeit dieses so beliebten „Mir geht es schlecht, aber guck mal den da“-Gefühls lässt wohl immer mehr Intoleranz und Neid zu. (14) Dies bleibt natürlich nicht in der Elterngeneration stehen, sondern wird wie alle anderen sozialen Umgangsformen promt übernommen. (15) - Kinder können so grausam sein. (16) - Und was ist mit ihren Eltern? <?page no="297"?> 285 FSU1 (17) Die Einführung von Schuluniformen, wie in dieser Hamburger Schule als die „Lösung allen Übels“ darzustellen, halte ich für falsch. (18) Natürlich schafft dies ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl der unterschiedlichen Kinder. (19) Vor allem, wenn sie aus verschiedenen Schichten kommen, verschiedener Herkunft sind (20) oder einfach in Sachen Kultur, Lebensweise, Anschauungen unterschiedlich erzogen wurden wie es in Hamburg-Sinstorf doch anzunehmen ist. (21) Es wird also durch die gleiche Kleidung die eine gleiche Ebene der Verständigung geschaffen, eine Gemeinsamkeit kreiert und so das Zusammenleben organisiert und vor allem harmonisiert. (22) Man ist auf eine Weise gleich, verbunden mit der gemeinsamen Institution Schule (23) und streitet sich nicht mehr über die doch verbleibenden Unterschiede. (24) Die Kleidung ist sehr geeignet für so ein „Gemeinsames“, da sie das offensichtlichste Merkmal des Menschen ist. (25) Neid und Intoleranz verblasst. (26) Doch mir persönlich würde so eine Schuluniform garnicht gefallen. (27) Sie schafft eine harmoniebringende Gemeinsamkeit, (28) einen Ausgleich zwischen arm und reich, (29) doch schafft sie neben „Einheit“ auch „Einheitlichkeit“. (30) Sie zerstört also die offensichtliche Vielseitigkeit und Farbenfrohheit der Menschen. (31) Das Beispiel im Text, eine Schuluniform würde die täglich stressige Auswahl der Kleidung erleichtern, halte ich für sehr weit hergeholt und ach. (32) Schließlich ist Kleidung doch auch eine Merkmal Möglichkeit die eigene Persönlichkeit auszudrücken. (33) Man entwickelt seinen eigenen Stil, (34) drückt seine momentane Stimmung aus, (35) symbolisiert unbewusst seine Gruppenzugehörigkeit, (36) was in Bezug auf die persönliche politische oder lebenseinstellungsbezogene Meinung den Kontakt zu ähnlich denkenden erleichtert, (37) und unterstützt die eigene Individualität wie die Vielseitigkeit allgemein. (38) Dies ist natürlich nur möglich, wenn man gleichzeitig tolerant und zugänglich für andere Lebensweisen und Meinungen ist, da es sonst wohl zu einem ähnlichen Kon ikt wie in der Schule kommen würde. (39) Dabei nde ich es absolut nicht wichtig, ob man nun Markensachen trägt oder nicht. (40) Gefallen muss es. (41) Es soll doch jedem selbst überlassen bleiben wie viel Geld er für Klamotten ausgeben will und kann. (42) Jemanden beurteilen auf Grund seines Äußeren ist absolut daneben. (43) Schuluniformen sind daher, in meiner Sicht, nur ein Mittel um die Konsequenzen unterschiedlichen intoleranten Denkens zu verdecken, (44) aber keineswegs das Problem zu lösen. (45) Hierzu fallen mehr Dinge ein wie: die Erziehung in der Gesellschaft mehr auf die Normen „Toleranz“ und „Vielseitigkeit“ zu richten als zu „Neid“, „Anderssein-denken“ oder ähnlichem. (46) Leider, weiß auch ich kein Patentrezept, um die durch solche offensichtlichen Unterschiede ausgelöste Gewalt in Schulen zu verhindern. (47) Das Wort „Modewettbewerb“ oder „Wettstreit um die teuersten Klamotten“ nde ich auch einseitig. (48) Es symbolisiert die Hoffnung auf Harmonisierung durch Einheitskleidung und greift gleichzeitig auf eine ähnlich „intolerante“ Ausdrucksweise zurück wie im Problem beschrieben. (49) Ich glaub zwar auch, dass sich in den letzten Jahren der Stellenwert von „Klamotten“ sehr erhöht hat und das sie, leider, zum Teil als Statussymbol gelten, (50) aber gegen „Modewettbewerb“ im Sinne von Vielseitigkeit der Mode ist doch eigentlich nichts zu sagen. (51) Dumm ist bloß, dass oft in solchen Schulen wie in der beschriebenen auf Grund der Kleidung eine Ranglisteneinordnung vorgenommen wird. (52) Also nicht mehr alle gleich gut sind, und das Recht auf Anderssein, Individualität haben, sondern sich aus Angst vor Hänseleien so unter Druck gesetzt fühlen, dass sie sich unwohl fühlen und als einzigen Ausweg die Anpassung sehen. (53) Warum sollten Kinder mit billigeren Sachen „schlechter“ sein als andere? <?page no="298"?> 286 FSU1 (54) Zusammenfassend kann man also sagen: (55) als erste Lösung des Problems der Hänseleien kann die Einführung von Schuluniformen gelten. (56) Auch als Gemeinsamkeits-Kreiierer verschiedener Gruppen, (57) doch das eigentliche Problem der Intoleranz löst diese Sache nicht. (58) Ich hatte früher nie Probleme in der Schule obwohl ich keine Markenklamotten trage, sondern das was mir gefällt. (59) Und glücklicherweise ging ich auf eine Schule wo es herrlich mit anzusehen war, wieviele unterschiedliche Typen es gibt. Jeder trug was er wollte und drückte so frei und individuell seine Persönlichkeit aus. (60) Auch bei uns gab es viele unterschiedliche Leute mit anderer Herkunft, anderen Interessen oder Meinungen, doch war (und ist es) möglich ohne Vorurteile mit ihnen zu sprechen, alle als gleichwertig anzusehen und tolerant zusammen zu leben/ lernen. (61) Dies nd ich sehr schön (62) und hoffe natürlich, dass es auch in Großstädten und multikulturellen Zentren bald möglich sein wird friedlich und offen für andere Lebensweisen offen zu sein (63) und eben vor allem den Menschen als solchen zu bewerten und ihn nicht auf Grund seiner Kleidung oder seiner sozialen Schicht abzuurteilen. FSU1-05 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 09/ 1982 in Meißen, Sachsen Schulbildung Gymnasium in Luckau, Brandenburg Leistungskurse Mathematik, Englisch Studienfächer (HF/ NF/ NF) Medienwissenschaft/ Psychologie/ IWK Angestrebter Studienabschluss Magister FSU1-05.TXT.dt. Datum 2002.11.07, 18: 05-19: 35 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 (0) „Jugendliche und Markenprodukte“ (1) „Aldi ist auch eine Marke! “ kommt es mir nach einem Monat Studentenleben mit beschränktem nanziellen Budget immer öfter in den Sinn. (2) Und tatsächlich: Bis jetzt stechen mir kaum Unterschiede zwischen den preisgünstigen Produkten der Billigkette und teureren Erzeugnisse bei den Eltern im Kühlschrank ins Auge. (3) Also - was ist dran am Mythos Marke? (4) Wer sich vor Augen hält, dass Eltern ihre Kinder immer häu ger vor die bunt- immernde Scheinwelt des Fernsehens abschieben, wird vielleicht eine Antwort darauf nden. (5) Schon vor dem Frühstück werden dreijährige Knirpse während der Werbeunterbrechung ihres Lieblings lms dabei mit Markenprodukten unterschiedlichster Couleur konfrontiert: (6) Da tanzt die Barbie-Puppe neben einem schwer arbeitenden Lego-Bauarbeiter durch’s Bild, und alle gemeinsam suggerieren sie dem staunenden Kind eine schöne Welt - eine bessere Welt eben als jene, die sich nebenan im mit sündhaft teurem Spielzeug vollgepfropften Kinderzimmer ndet. (7) Dass daraus Neid entsteht auf Freunde und Altersgenossen, die das heiß begehrte Playmobil-Auto besitzen, ist verständlich. (8) Schließlich hat die Werbung es geschafft, unserer kleinen Fernseheule vorzugaukeln, es könne ohne jenes Spielzeug nicht leben. (9) Bei der angebotenen Fülle von Produkten müssen nicht wenige Eltern vor den Wünschen ihres Nachwuchses kapitulieren. (10) Nur mit großem nanziellen Auf- <?page no="299"?> 287 FSU1 wand kann einer Barbie schließlich die notwendige Kleidung 1 , das pompöse Luxus- Haus und die schicke Yacht „geschenkt“ werden. (11) Dabei bleiben einige Kinder auf der Strecke, und mit dem von der Cousine „geerbten“ Puppenwagen werden sie als (12) ohne die neueste Gameboy-Version werden sie 2 als „Aldi-Kinder“, „Altkleidersammler“ und „Sozialversager“ beschimpft. (13) Ihre vielleicht tausendmal niedlichere NoName-Anziehpuppe hilft ihnen nicht weiter, (14) denn das Image eines bestimmten Produktes muss mitgekauft werden, sonst ist das ganze Produkt nichts wert. (15) Dass Image im Grunde immateriell ist und über Qualität und Nutzen eines Produktes objektiv nur wenig aussagt, kann man einem Kleinkind nur schwer glaubhaft vermitteln. (16) Und was im Kindergarten anfängt, setzt sich im Schulalter fort. (17) Meines Meinung nach ist der in Stefanie Georges Text thematisierte Markenterror an Deutschlands Schulen in großem Maße auf die oben beschriebenen Ein üsse im Vorschulalter zurückzuführen - lediglich die Objekte der Begierde werden ausgetauscht, der angeblich zunehmenden Reife der Heranwachsenden angepasst. (18) Doch inwiefern zeugt es von Reife, eine Jeans auf Grund eines Labels auf der Pobacke zu kaufen? (19) Auch hier ist es das immaterielle Image, von dem man sich eine Aufwertung der eigenen Person zu versprechen scheint: (20) Die Aufwertung der eigenen Person muss nämlich durch andere Personen erfolgen, d.h. das positiv besetzte Image einer bestimmten Marke muss eine Vereinbarung zwischen einer Gruppe von Menschen sein. (21) Wenn an der Hamburger Schule angeblich alle Schüler gegen den Markenzwang sind, warum haben sie diese Vereinbarungen nicht auf andere Weise umgeschrieben? (22) Warum haben sie LEVI’S, S. OLIVER und Wrangler durch eine neue Marke - die der Schule - ersetzt? (23) Meiner Meinung nach täuscht die in Hamburg durchgeführte Initiative darüber hinweg, dass in unserer Gesellschaft durch gewi bestimmte Marken auch immer ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl vermittelt wird. (24) Mir ist dabei auch bewusst, dass der Wunsch, in einer Gruppe anerkannt zu werden, fast allen Menschen gemeinsam ist - (25) problematisch wird es erst, wenn eine Gruppe sich anmaßt, sich als wertvoller als eine andere zu präsentieren. Was im Fall der „Markenterror(s) an Schulen“ offensichtlich der Fall ist und aus diesem Grund das Zusammenleben unter den Schülern stört. (26) Die Rechtfertigung für diese Erhebung über Andere nden die Träger bestimmter Labels augenscheinlich in den von der Werbung suggerierten Scheinwelten, die den Begriff „Marke“ erst zu dem Machtinstrument werden lassen, den es heute darstellt. (27) Meine Gedanken zusammenfassend, möchte ich betonen, dass ich das Projekt der Haupt- und Realschule Hamburg-Sinstorf lediglich als die Bekämpfung eines Symptoms eines gesamtgesellschaftlichen Problems erachte. (28) Jenes zu lösen bedarf es meiner Meinung nach nicht allein einer Betrachtung der Schule als dem Ort, wo an dem sich die Macht des Markendiktats am stärksten äußert. 1 das trendige Out t [Fußnote im Originaltext] 2 wie im Text darfestellt [Fußnote im Originaltext] <?page no="300"?> 288 FSU1 FSU1-06 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 02/ 1982 in Zeulenroda, Thüringen Schulbildung Gymnasium in Plauen, Sachsen Leistungskurse Englisch, Wirtschaft Studienfächer (HF/ NF/ NF) DaF/ Erziehungswissenschaft/ Soziologie Angestrebter Studienabschluss Magister FSU1-06.TXT.dt. Datum 2002.11.07, 18: 05-18: 55 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 (0) Markenterror an Schulen nimmt zu (1) Der mir vorliegende Text befasst sich, meiner Meinung nach, mit einem sehr aktuellem Thema - Markenterror an Schulen. (2) Das Problem, daß Jugendliche aufgrund von „weniger guten“ „Klamotten“ gehänselt werden, ist nicht nur in Hamburg das ein Problem. (3) Vor allem in Großstädten, aber auch in kleinen Schulen nimmt der Druck auf die Schüler immer mehr zu. (4) Um dazu zu gehören, muss es eine bestimmte Marke sein, ein Label! (5) Ich denke das sich der Druck in den nächsten Jahren noch weiter aufbauen wird. (6) Der „Markenzwang“ wird sich ausbreiten, auch auf Real- und Mittelschulen übergreifen. (7) Im ersten Abschnitt des Textes wird zuerst das allgemeine Problem dargestellt. (8) Das Wort „Markenterror“ wird in den Raum geworfen - doch wie kann man „Markenterror“ de nieren? (9) Ich sehe das Wort in Verbindung mit Zwang, Unterdrückung und Spott. (10) Diese Eigenschaften werden dann auch im weiteren Verlauf des ersten Abschnittes benutzt. (11) Für mich ist „Markenterror“ hauptsächlich bei Hauptschülern anzusiedeln, (12) noch ... Andere, sozial schwächer gestellte, werden aufgrund ihrer Kleidung verspottet und diskriminiert. (13) Im zweiten Abschnitt werden Begriffe für diese Art der Diskreminierung hervorgebracht und eine „Art des Terrors“ beschrieben. (14) Das in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit viele Eltern wenig Geld haben und es sich deshalb nicht leisten können, ihren Kindern „Markenklamotten zu kaufen, geht nicht hervor. (15) Vielmehr denke ich, daß durch Begriffe wie „Aldi Kind“ oder „Sozialversager“ die Kinder ins soziale Abseits manövriert werden. (16) Sie trauen sich nichts mehr und ihre Seele wird angegriffen - sie fühlen sich als Menschen zweiter Klasse. Oft geht die Angst soweit das sie sich kaum noch zur Schule trauen. (17) Manche reagieren auf diesen Druck mit Leistungsabfall in der Schule, (18) andere versuchen sich das Geld für die „Markenklamotten“ auf kriminelle Weise zu beschaffen - um endlich dazuzugehören, um der täglichen Angst vor neuen Hänseleien ein Ende zu machen. (19) Somit kann man eigentlich sagen, daß bei Kindern durch diese Art des Terrors ein richtiger Teufelskreis ausgelöst wird! (20) Im dritten Abschnitt wird ein Lösungsweg aufgezeigt. (21) Die einheitlichen Pullover an der Hamburger Schule sollen ein erstes Zeichen sein, ein Zeichen gegen „Markenterror“, Angst und Gewalt. Kinder sollen wieder ohne Angst und Zwang zur Schule gehen können. (22) In Hamburg kommt dieses Projekt gut an. (23) Im vierten Abschnitt kommen konkrete Schüler zu Wort, die das Projekt unterstützen. (24) Von Seiten der Lehrer gibt es auch nur positive Meinungen. (25) Es wird erwähnt, daß der Streit deutlich nachgelassen hat und das Klima sich verbessert hat. Es gibt keinen Unterschied mehr, zwischen sozial schwachen Familien und sozial besser gestellten Familien. <?page no="301"?> 289 FSU1 (26) Ich denke aber, auch wenn das Projekt in Hamburg sehr gut funktioniert hat, (27) muss man es immer von zwei Seiten sehen. (28) Es ist gut, daß man in Hamburg einen Anfang gemacht hat, ein Zeichen setzt! (29) Es müssten viel mehr Schulen und Städte sich daran beteiligen. (30) Aber dann wird es auch immer die Meinung geben, man dürfe die Kinder in nichts einschränken - (31) indem man ihnen vorschreibt was sie anzuziehen haben schränke man ihre persönliche Freiheit enorm ein. (32) Durch die gleichen Pullover in Hamburg entsteht meiner Meinung nach auch ein „Wir- Gefühl“. Auch das wäre positiv und sehr nachahmenswert. (33) Doch an vielen Schulen ist nur noch ein „Ich-Gefühl“, was durch den „Markenzwang“ noch verstärkt wird. (34) Abschließend könnte man sagen, daß es viel mehr solche beispielhaften Aktionen wie in Hamburg geben müßte. (35) Dazu müßte es aber auch möglich sein, den Lehrkräften mehr Entscheidungsfreiheit zu geben und mehr Spielraum. (36) Ich denke dieser Druck wird in den nächsten Jahren enorm zunehmen, die Kluft wird größer werden und der soziale Unterschied stärker. FSU1-07 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 11/ 1980 in Hanau, Hessen Schulbildung Gymnasium in Hanau, Hessen Leistungskurse Deutsch, Englisch Studienfächer (HF/ NF/ NF) DaF/ Anglistik-Amerikanistik/ Erziehungswissenschaft Angestrebter Studienabschluss Magister FSU1-07.TXT.dt. Datum 2002.11.07, 18: 05-19: 23 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 (0) Markenterror an Schulen nimmt zu von Stefanie George (1) In vielen Jugendmagazinen und auch in Fernseh- und Radioprogrammen hört ma ist ein Thema immer wieder anzutreffen, „Was ist „in“ und was ist „out“ die Frage, was ist „in“ und was ist „out“. (2) Meist wird auch gleich eine Antwort nachgeliefert und manchmal sogar wird ndet man auch gleich an einen Hinweis auf den Hersteller ver. verwiesen. (3) Selbstverständlich sind die genanten genannten Produkte nie für 3,95 € bei Aldi oder für 25 € bei Walmart erhältlich, es handelt sich meist um Markenartikel, und diese haben natürlich ihren Preis. (4) Über die Frage, welchen Ein uß eine solche „Berichte“ auf Kinder oder Jugendliche haben, wird nur bedingt eingegangen. (5) Ziel ist natürlich, daß sie die Jugendlichen diese Produkte kaufen bzw. Sie sich von ihren Eltern kaufen lassen. (6) Was mit denjenigen geschieht, die sich die diese Artikel nicht leisten können, spielt in dem Moment keine Rolle, denn das ist ja nicht die angesprochene Zielgruppe. (7) Genau dieser Problematik widmet sich Stefanie George in ihrem Zeitungsartikel „Markenterror an Schulen nimmt zu“. (8) Sie greift die Thematik des „Markenkampes“ auf und beschreibt am Anfang ihres Artikels, daß Kinder und Jugendliche auf Grund der Tatsache, daß sie eben solche Markenprodukte haben oder eben nicht, haben diskriminiert werden (9) Die einen werden als „Aldi-Kind“ oder „Sozialversager“ bezeichnet und die anderen als „Bonzenkind“ <?page no="302"?> 290 FSU1 (10) In einem weiteren Teil ihres Artikels geht Frau George auf einen möglichen Lösungsansatz für dieses Problem ein, der welcher an der einer deutschen Schule der Hamburg- Sinntorf Schule ausprobiert wird, (11) die Jugendlichen müssen eine Art Schuluniform tragen, einen einheitlich grünen Pullover mit Schullogo. (12) Über Reaktionen Die Reaktionen auf diese Umstellung beschreibt sie in ihrem Bericht als sehr positiv, (13) die einen freuen sich, daß sie morgens nicht mehr vor der Frage stehen, was sie bloß anziehen sollen und andere wiederum sind froh, daß niemand mehr mit seinen teuren „Klamotten“ angeben kann. (13) Abschließend geht greift die Autorin noch mal die Anfangsproblematik des „Markendiktats“ auf, (14) diesmal aus Sicht des Schulleiters und sie schließt diesen Artikel mit der Bemerkung des Schulleiters, daß diese Pullover d die Zusammengehörigkeit der Schüler und Lehrer stärken. (15) Jetzt stellt sich natürlich die Frage, wie sinnvoll es ist, diese Problematik aus der Schule zu „verdammen“. (16) Ist das Problem damit gelöst, oder etwa nur verschoben? (17) Wird dieser „Markenkampf“ jetzt nach der Schule fortgeführt, oder spielt es etwa nicht? (18) Ist es denn genug, nur einen Pullover einzuführen, wo Hosen, Schuhe, Jacken und Mützen doch einen genau so großen oder sogar größeren Stellenwert haben als Pullover oder T-Shirts? (19) Für all diese Fragen gibt es eine Menge Pros und Kontras. (20) Zum Beispiel die T Ist es zum Beispiel nicht besser, wenn solche Streitigkeiten und sogar Prügeleien von Jugendlichen in der Schule ausgeführt werden, (21) hier sind doch wenigstens Erwachsene da, die eingreifen können, man kann dann auch im Unterricht über solche Vorfälle sprechen und nach Lösungsansätzen suchen. (22) Andererseits sind Lehrer keine Gefängnisbeamten, die geschult sind mit eventuell sogar gefährlichen Prügeleien umzugehen und „richtig“ eingreifen können einzugreifen, (23) sie haben Lehrer haben ja noch nicht einmal die Befugniss, einen Schüler gegen seinen Willen festzuhalten. wa (24) Da stellt sich die Frage, was Lehrkräfte eigentlich tun können, um solchen Situationen gerecht zu werden. (25) Eine sehr schwierige Thematik, zu der es sicher keine Einf einfachen Lösungswege gibt. (26) Ich selbst hatte keine ein einschlägige Idee diesesem Problem zu Problem auch nur einigermaßen gerecht zu werden. (27) Denn grundsätzlich wäre ich dagegen, eine solche grundlegende wesentliche Sache aus der Schule einfach zu verda verbannen, (28) anderseits weiß ich aus meiner eigenen Schulzeit, wie Hhil os Lehrer solchen Situationen gegenüberstehen, vor allem wenn da Schüler immer gewaltbereiter werden. (29) Die Lehrer unserer Schule wurden aus Sicherheitsgründen angewie von der Schulleitung aufgefordert, nicht tatkräftig in Prügeleien von Schülern einzugreifen. (30) Der Direktor der Hauptschule wurde auf dem Lehrerparkplatz von einem Angehörigen eines Schülers mit dem Messer bedroht, da der Schüler einen Schulverweis bekommen hatte. (31) Gerade dies zeigt aber, daß es nicht nur um Marken geht, sondern das die Problematik viel tiefer liegt, (32) und durch ständiges „verschieben“ verschwindet ein Problem nicht, es verlagert sich nur. <?page no="303"?> 291 FSU1 (33) Und ob eine weitere „Verlagerung“ sinnvoll (Aber wo soll man anfangen,) ist, und wir wollen, daß diese Streitigkeiten auf der „Straße“ ausgeführt werden, sollten wir uns dann doch fragen. (34) Erinnert und uns eine solche Vorstellung nicht irgendwie an den Z die Zustände in Amerika. Schuluniform in der Schule und „Schießereien“ am Abend? FSU1-08 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 04/ 1982 in Meiningen, Thüringen Schulbildung Gymnasium in Blankenhain, Thüringen Leistungskurse Deutsch, Wirtschaft/ Recht Studienfächer (HF/ NF/ NF) Erziehungswissenschaft/ DaF/ Volkskunde-Kulturgeschichte Angestrebter Studienabschluss Magister FSU1-08.TXT.dt. Datum 2002.11.07, 18: 05-18: 43 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 (1) Es ist alt bekannt, dass alle Nationen einen Hang dazu haben, das sie sich einheitlich kleiden. Man sieht es immer und überall. Im Krankenhaus, bei der Polizei, der Feuerwehr etc.. (2) Die Frage, warum sie es tun ist leicht zu erklären, sie wollen zeigen, dass sie zusammen gehören. (3) Das positive daran ist, das sie jeder erkennt. Keiner würde zu einem Arzt gehen um eine Anzeige zu machen. (4) So ist auch zu erklären, warum Schulen eine Schuluniform einführen wollen. (5) Dabei gibt es verschiedene Gründe, um zum einen, wie im Text schon erläutert, den „Markenterror“ zu vermeiden und zu unterbinden. (6) Aber auch andere Gründe spielen eine Rolle. (7) Die Schüler erkennen sich auf ihrem Schulweg, sie wissen, das „er“ auch in die selbe Schule geht. (8) Sie können Kontakte knüpfen zu Älteren, wenn sie hilfe brauchen. (9) Wobei es dann in diesem Punkt andere Probleme gibt, warum es dabei zu Kommunikationsstörungen kommt. (10) Zum anderen können Autofahrer so auch besser auf die Schulkinder achten, denn jeder kennt die Banner: „Achtung Schulkinder“. (11) Dazu entsteht innerhalb eine, so ich nenne sie mal, „Schulverbundenheit“. Die Schüler denken, wir gehören zusammen. (12) Ich persönlich war schon immer dafür, dass an Schulen Uniformen eingeführt werden. (13) Zum einen, das es in jedem anderen Land welche gibt (14) und zum anderen anderen, dass wie schon gesagt die Schüler sich erkennen. (15) Diesen „Markenterror“ habe ich an meiner Schule nicht mitbekommen. (16) Ich glaube auch, dass das eine „Er ndung“ der Neuzeit ist (17) und sich häu g in den jüngeren Klassen sowie an Haupt- und Regelschulen nden lässt. (18) Im Moment ist es auch so, dass die Kinder immer frühreifer werden. Rauchen mit 9, Kiffen mit 12 und das erste Handy kommt spätestens zum 11 Geburtstag. (19) Klar ist dann, dass die, die von Hause aus die Geldmöglichkeiten haben, diese auch zur Schau stellen und sich über andere lustig machen. (20) Sie „dissen und verspotten“ die anderen, die nicht so sind wie sie. (21) Dadurch entsteht innerhalb der Klasse eine Aggression, auf die man als Lehrer oder Eltern nicht einwirken kann. (22) Die Kinder sagen ja und meinen nein. <?page no="304"?> 292 FSU1 (23) An meiner Schule ist der Neid des Besitzens in 1998 „ausgebrochen“ (24) damals waren diese Jojo’s modern und jeder aus der 5. Klasse hatte so eins und wenn einer keins hatte wurde er ausgeschlossen. (25) Was ich damit sagen will ist, dass man den „Markenterror“ mit Schuluniformen in den Griff bekommen kann, aber der Neid des und des besitzen wollen wird leider bleiben. (26) Die Schule in Hamburg hat ein Pilotprojekt an ihrer Schule gestartet (27) und wie im Text stand „das Projekt scheint zu funktionieren.“ (28) Sie hatten ein Problem und haben es gelöst. (29) Erste Erfolge zeigen sich und auch von den Schülern kam nur positives feedback. „Ich nde den Pullover gut.“ (30) Die Schüler haben es akzeptiert einheitlich zu sein (allerdings nur in Bezug auf den Pullover). (31) Die „Markendiktatur“ und der „Modewettkampf“ wurden „aus der Schule verbannt“. (32) Das auch die Lehrer sich dem anschließen ist sehr gut, (33) auf diese Art und Weise motivieren sie die Schüler mitzumachen und nicht gegen die Uniformen zu demonstrieren. (34) Ob aber nun der Markenterror bei der Sportbekleidung erneuert erneut beginnt bleibt eine andere Frage. FSU1-09 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 03/ 1983 in Zwickau, Sachsen Schulbildung Gymnasium in Zwickau, Sachsen Leistungskurse Deutsch, Englisch Studienfächer (HF/ NF/ NF) Romanistik (Spanisch)/ DaF/ IWK Angestrebter Studienabschluss Magister FSU1-09.TXT.dt. Datum 2002.11.07; 18: 05-19: 02 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 Aufgabe zum Thema: „Jugendliche und Markenprodukte“ (1) Sabrina und ihre Mutter haben sich für diesen Nachmittag vorgenommen, gemeinsam in die Stadt zu gehen, da die Tochter einen neuen Winterpullover zum Weihnachen bekommen soll. (2) Die Vorstellungen der Mutter bezüglich dieses Vorhabens sind einfach: er soll schön warm halten und ausserdem preislich erschwingbar sein. (3) Die dreizehnjährige Sabrina sieht das anders: warm halten - klar. Aber viel wichtiger ist es noch, daß dieses supercoole Miss Sixty-Logo auf der Frontseite des Kleidungsstückes zu sehen ist; wie es die anderen Mädchen in ihrer Klasse auch haben. (4) Die nämlich tragen diesen Pullover und sind ständig im Vorteil, wenn es um die Toleranz der Lehrer oder um das Interesse der Jungen ihrer Klasse geht. (5) Aus Mit diesen unterschiedlichen Vorstellungen bleibt das so Chaos nicht aus (6) - als die Mutter den Preis des Pullovers sieht, zeigt sie totales Unverständnis und lehnt es ab, Sabrina diesen Pullover zu kaufen. (7) Wenn sie ihn so dring sich so wünscht, so die Mutter, solle sie darauf sparen. (8) Doch das würde wohl noch einige Zeit dauern sieht Sabrina gefrustet ein, (9) die beiden gehen zerstritten heim und die Tochter muß ihren Traum auf Akzeptanz in der Klasse wohl noch einige Zeit verschieben ... <?page no="305"?> 293 FSU1 (10) Diese Szenerie scheint uns - wenn wir nicht die Augen vor dem Terror an deutschen Schulen verschließen - nicht fremd, (11) und es wäre zu überlegen, ob die Vorstellung der Jugendlichen, nur mit Markensachen „ein Mensch zu sein sein zu können 1 , eine entscheidende Rolle beim Schulterror spielt. (12) Der mir vorliegende Zeitungsartikel von Stefanie George trifft das Problem ziemlich genau (13) und die dabei getroffene Lösung ist keine schlechte. Diskut (14) Im Artikel wird die Haupt- und Realschule Hamburg-Sinstorf fokusiert, in der auf die Probleme des „Markenterrors“ reagiert wurde, um indem ein einheitlicher Schulpullover mit dem Logo der Schule eingeführt worde. (15) Grund dafür waren die täglichen Unterdrückungen und Hänseleien die der Wettstreit Modewettkampf der unter den Schüler(innen) tagtäglich statt nden sollte, abzuscha abzuschaffen. (16) Die Idee der Einheitskleidung, (17) wie sie ja in anderen Ländern schon größtenteils umgesetzt worde, hilft trägt bestimmt dazu bei, den Wettstreit zu verin verringern, (18) doch das Grundproblem der Rangeleien und Unterdrückungen da läßt sich damit wohl kaum lösen. (19) Wir wissen ja - Kinder können gemein sein (20) und wenn ein Grund gesucht wird, den oder die Klassenkamerad(in) zu hänseln, dann wird auch meist einer gefunden. (21) Der Pullover wird an der Haupt- und Realschule in Hamburg-Sinstorf keinen Angriffspunkt mehr bieten, (22) doch da wäre doch noch die Hose, die Schuhe, die Haarfarbe, usw. zu kritisieren die Größe der Ohren o.ä. des Mitschülers zu kritisieren, (23) so daß der einheitliche Pullover wohl eher als ein „Tropfen auf den heißen Stein“ s zu sein scheint. (24) Meiner Meinung nach müsste in jedem Fall die Einführung einer kompletten Uniform gewährleistet sein - (25) und das auch konsequent an den Gesam Schulen in Deutschland. (26) Aus persönlicher Erfahrung weiß ich, wie gut so etwas funktioniert, (27) denn an spanischen Gesamtschulen tragen die Schüler Einheitskleidung, (28) und, obwohl es natürlich trotzdem Rangeleien untereinander gab (Hans spielt besser Fußball, Roman liest schlecht, ...), war das Kle die Kleidung nie ein Thema. (29) Im Gegensatz dazu sah ich die Kleider der deutschen Schule, wie pinibel wert darauf gelegt word wurde, ob die Schuhe mit der Hose und erst recht mit den der Schultasche zusammenpassen. Nun frage ich (30) Nun muß man sich die Frage stellen, ob das wirklich notwendig ist, (31) viel wichtiger ist es doch, miteinander lernen und spielen zu können ohne die Wertigkeit eines Menschen an der „Qualität“ (32) (was noch extra zu diskutieren wäre) oder Preisklasse seiner Kleidung festmachen zu wollen. (33) Alles in allem ist das Projekt der Haupt- und Gesamtschule Hamburg-Sinstorf eine gute Sache. (34) Es scheint sogar, daß die Schüler selber es leid waren, diesen Wettstreit führen zu müssen (35) und bewerten die Idee ebenfalls als „positiv“. (36) Das jedoch der Direktor Klaus Damian den, schon längst notwendigen, Versuch de den „Markenterror“ zu unterbinden, gleich als Zeichen der Zusammengehörigkeit emp ndet, nde ich für emp nde erkläre ich für sehr fragwürdig. (37) Man kann aus einem „Schlachtfeld“ kein „Paradies“ machen: (38) dazu sind die Grundzüge Wurzeln der Verspottungen viel zu fest verankert und viel zu tief verankert (39) und man muß wirklich naiv sein 2 , durch so ein Projekt alle Probleme aufgelöst haben zu können, (40) aber ein gutes Vorhaben (41) (mit zukünftiger Einführung einer einheitlichen Hose! ) ist es allemal (42) und man kann nur hoffen, das dieses Idee bald an allen Schulen in Deutschland (43) (bis zu einem gewissen Alter Alter! ) P icht 3 wird. 1 sein zu können [Fußnote im Originaltext] 2 wenn man glaubt [Fußnote im Originaltext] 3 umgesetzt [Fußnote im Originaltext] <?page no="306"?> 294 FSU1 FSU1-10 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 03/ 1983 in Ilmenau, Thüringen Schulbildung Gymnasium in Ilmenau, Thüringen Leistungskurse Deutsch, Englisch Studienfächer (HF/ NF/ NF) Politikwissenschaft/ IWK/ Medienwissenschaft Angestrebter Studienabschluss Magister FSU1-10.TXT.dt. Datum 2002.11.07, 18: 05-19: 12 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 (0) „Jugendliche undMarkenprodukte” (1) Meine Meinung zu Markenprodukten ist sehr differenziert. (2) Es muss erst einmal geklärt werden, was ein Markenprodukt ist. (3) Aldi zum Beispiel ist auch eine Marke. (4) Jugendlichen geht es aber oft darum teure Klamotten zu tragen. Diese sollen auch noch modisch hochaktuell und chic sein. (5) Dabei spielt, so denke ich, oft nicht die eigene Meinung und der Geschmack eine Rolle, sondern dass, was Freunde denken. Sagen die Freunde FILA ist cool, ndet man selbst das auch (als Jugendlicher). (6) Erst wenn man älter wird und merkt, dass Freunde auch wechseln können und man sich selbst auch weiterentwickelt, kommt man von diesem „Gruppenmarkendenken“ los. (7) Als Gegensatz ist aber zu nennen, wer schon immer von seinen Eltern verhätschelt und vertätschelt wurde, und auch schon immer Markenprodukte getragen hat, wird von diesem Denken nicht loskommen. (8) Ich zum Beispiel nde Marken nur insofern wichtig, dass sie wirklich mehr Qualität bieten z.B. Jeans von Levis halten bei mir länger als normale Produkte. Dabei acht (9) Beim Kauf achte ich aber auf Gefallen und Praktischkeit und nicht die Marke. (10) Das kann aber auch damit zusammenhängen, dass ich nicht viel Geld zur Verfügung habe und ich lieber satt bin als mit einem Adidas t-shirt zu frieren. (11) Ich glaube, dass Markenbewusstsein mehr in Westdeutschland ausgeprägt ist, da dort einfach schon länger Zugang zu den Artikeln herrschte. (12) Als Kind aus der DDR kann ich mich noch daran erinnern, wie toll es war, etwas was einmal „aus dem Westen“ kam und schon 3 Kinder vor mir getragen hatten, auch einmal tragen zu dürfen. (13) Ich kann mich auch an meine erste Markenjeans erinnern, damals war ich 12 6 Jahre nach der Wende und es sollte mein Geburtstagsgeschenk werden. Ich wollte extra eine Hose mit Reißverschluß weil ich mit den (eigentlich üblichen) Knöpfen nicht zurecht kam. Ich kannte das ja nicht. Voller Stolz habe ich diese Hose angezogen und ich habe sie auch heute noch (und werde sie einmal meinen Kindern vererben! ). (14) Tja, aber damit ng alles an, und in der gut behüteten Ex-DDR trat der Kapitalismus ein. (15) An meiner Schule gab es aber kein ausgeprägten Markengruppendruck. (16) Es gab halt die, bei denen die Eltern Geld hatten und sich deshalb das neueste Bike kaufen konnten, und die, bei denen die Eltern arbeitslos sind und man mit dem auskommen musste, was man hatte. Zwischendrin lagen sicherlich die meisten, und deshalb gab es da keinen, für mich erkennbaren, Druck, obwohl ich mich zu den eher mittellosen Bereich zählen würde. (17) Markenbewusstsein hängt für mich aber auch stark von der Schulform ab. (18) Ich denke, dieser Markendruck ist seltener an Gymnasien zu nden, da dort die Schüler i.d.R. schlauer sind und mManipulationsversuche durch Werbung schneller durchschauen. (19) <?page no="307"?> 295 FSU1 An Realschulen und besonders Hauptschulen ist es häu g so, dass weil man nicht mit Leistung glänzen kann, einen Ersatz braucht. (20) Und da sind Klamotten eine logische Variante. Die Eltern bezahlens, man hat keine weiteren Probleme und wird akzeptiert. (21) Das das aber zu einem Teufelskreis werden kann wird dann klar, (22) wenn man zu so drastischen Mitteln wie die Hamburger Schule greifen muß. (23) Die Idee einer Schuluniform ist zwar wohlgemeint, (24) doch wird sie meiner Meinung nach aus falscher Motivation heraus fer verfolgt. (25) Wenn die Schule plötzlich Schuluniformen einführt und dann wird den Schülern der Weg der persönlichen Geschmacksverfolgung versperrt. (26) Die Schule schreibt vor, was anzuziehen ist, daran muss sich gehalten werden um nicht negativ aufzufallen. (27) Sowe Wäre die Philosophie der Schule Gleichheit zwischen den Schülern zu schaffen, so wäre eine Schuluniform gerechtfertigt. (28) Plötzlich aber die „Gleichheit“ zu wollen, obwohl schon unüberbr Differenzen vorhanden sind, nde ich am Problem „vorbeigedocktert“. (29) Wenn schon Probleme zwischen den Schülern von bemerkt wurden, dann ist es auch keine Lösung, ihnen die gleichen grünen Pullover anzuziehen. (30) Die Probleme verlagern sich dann nur. Entweder auf außerhalb der Schule oder durch Übergang des „Physioterrors“ in „Psychoterror“. (31) A Schuluniform kann Markenterror nicht stoppen, da die Uniform nur in der Schule getragen wird. Was am Nachmittag, Wochenende, auf Parties passiert, kann die Schule nicht beein ussen. (32) Hinzu kommt, dass sich das Markenbewusstsein einfach erweitert. Da müssen dann halt DIE Hosen schlechthin her oder die Schuhe werden zu Objekten der Zusammengehörigkeit. Wer zeigen will, das er Geld hat, kauft sich dann halt eine teure Uhr oder einen feschen Rucksack. (33) Nicht zu verachten ist auch, dass die Schuluniform auch Geld kostet. Da man sie aber nicht den ganzen Tag trägt ist es eine zusätzliche Ausgabe, die besonders sozial schwächere Familien belasten könnte. (34) Natürlich hat Schuluniform für mich auch etwas positives. (35) Sie bestärkt die Schüler im Gleichheitsgefühl, man merkt, dass man zusammengehört. (36) Sicherlich werden auch ober ächliche Probleme gar nicht erst auftreten. (37) Trotzdem muss man überlegen, inwiefern das Gleichheitsgefühl „aufgezwungen“ ist. (38) Das Argument der Schülerin Annika (weniger Zeit vorm Kleiderschrank) halte ich für falsch (39) Ich war als Au Pair in den USA (deshalb auch das schlechte Deutsch! ) und „mein“ Mädchen Sabrina (10 Jahre) hatte auch Schuluniform zu tragen. Das bloße Wissen aber, den bestimmten Rock und ein weißes T-Shirt sowohl wie das blaue Sweatshirt und weiße Socken zu tragen, hat sie nicht davon abgehalten, 45 Minuten vor dem Kleiderschrank zu verbringen! Das ist für mich teilweise schon sehr frustrierend gewesen. Wenn man aber nicht entscheidungsfreudig ist, dann kann man sich auch nicht zwischen 2 identisch gleichen Röcken entscheiden! (40) Ein wichtiger Aspekt der Kl Mar Einheitskleidung ist die Konzentration auf das Wesentliche. (41) Den Schülern fällt es sicher leichter, dem Unterricht zu folgen, (42) oder untereinander Kontakt zu schließen (43) weil die Marken, die man vielleicht nicht hat, einen nicht ablenken oder entmutigen. (44) Wie der Versuch in Hamburg ausgegangen ist, weiß ich nicht. Ich glaube aber, er ist gescheitert. (45) Vielleicht nicht unbedingt weil die Klasse untereinander Probleme nicht lösen konnte, sondern weil andere Klassen/ Jugendliche, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben die teilnehmenden Jugendliche verunsichert haben. (46) Sie wussten ja, wie es ist, sich selbst kleiden zu dürfen und vielleicht sind sie jetzt zum Ersten Mal in der Position gedisst zu werden anstatt selbst zu dissen. (47) Ich glaube nicht, dass unsere Gesellschaft diesem Trend des Markenbewusstseins etwas entgegensetzen kann, wenn sich nicht grundlegendes ändert. (48) Die Medien <?page no="308"?> 296 FSU1 suggerieren den dafür besonders „anfälligen“ Jugendlichen, was hip und cool ist. (49) Diese übernehmen das, ohne weiter zu fragen. (50) Besonders „gutbetuchten“ ist es dabei egal, wie viel etwas kostet. Die Eltern haben’s ja. (51) Bei Kindern aus sozial schwachen Familien ist das häu g anders. (52) Sie wissen um die nanzielle Situation der Eltern, müssen vielleicht sogar auf Taschengeld verzichten oder arbeiten um die Familie zu unterstützen. (53) Diese Jugendlichen verstehen eher den Unterschied zwischen Preis-Leistung. (54) Grundsätzlich denke ich, um hier zum Abschluss zu gelangen, dass Schuluniformen ein gutes Mittel sind um Gleichheit zu erlangen. (55) Es muss aber durchdacht werden, wie in einer Gesellschaft, die daran an Uniformen nicht gewöhnt ist, dieses Prinzip verdeutlicht wird. (56) Nur wenn es auf Verständnis und Akzeptanz trifft, kann es zum Erfolg, also zum Bekämpfen des Markenterrors führen. FSU1-11 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 10/ 1981 in Friedrichroda, Thüringen Schulbildung Gymnasium in Gotha, Thrüringen Leistungskurse Deutsch, Geschichte Studienfächer (HF/ NF/ NF) DaF/ Erziehungswissenschaft/ Sprechwissenschaft Angestrebter Studienabschluss Magister FSU1-11.TXT.dt. Datum 2002.11.07, 18: 05-19: 21 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 (0) „Jugendliche und Markenprodukte“ (1) Wie auch schon Stefanie George in ihrem Artikel „Markenterror an Schulen nimmt zu“ aufzeigt, gehört es heutzutage heute zur Tagesordnung über Kleidung von Mitmenschen laut zu reden. (2) Markenprodukte sind mehr denn je Teil der Jugend. (3) Nicht nur an den Schulen wird dies sichtbar, sondern vor allem die Kaufhäuser haben sich diesem Trend angepasst. (4) Das Modebewußtsein insbesondere der Mädchen ab ca. 9 Jahren hat schon seine Ausprägung gefunden, so dass man Töchter und Söhne reicher Eltern schon im nicht-pubertären Al-ter so schick und gestylt wie Mutti und Papi auf der Straße trifft. (5) Dass nicht jeder diesem Trend folgen kann ist klar, denn die Armut nimmt auch in Deutschland zu. (6) Und da diese Gesellschaft mittlerweile schon fast vollständig zu einer Ellenbogengesellschaft mutiert ist, in der viel von Solidarität und Nächstenliebe gesprochen wird, jedoch Erfolgsorientiertheit, Egoismus und Machtstreben auf dem Plan stehen, (7) ist die vor allem in der Jugend zu spüren ist dies sogar oder vielleicht auch gerade an den Jugendlichen ist die zu spüren. (8) Es ist ein schmaler Grad, auf dem man sich in jungen Jahren bewegt: Individualität bewahren und doch Gruppenzugehörigkeit demonstrieren. (9) Bei sozial gut gestellten Familien ist eine Lösung nicht fern: der Mar-kenartikel, ob Levi’s, Jack Wolfkind oder Adidas: es ist individuell (weil es nicht jeder trägt), schick, es kleidet und es war teuer. (10) Das letztere ist natürlich besonders toll, weil es sich so gut erzählen lässt. (11) Kinder aus ärmeren Familien werden aufgrund von Ober ächlichkeiten beurteilt und abgewertet. (12) Ich selbst habe jedoch keine eigenen Erfahrungen mit diesem Problem gemacht. In der Schule, die ich besuchte war-en Markenprodukte kein Kon ikt- <?page no="309"?> 297 FSU1 herd. Und in meinem Bekanntenkreis freut man sich etwas schickes aus dem Second- Hand-Laden für 6 Mark ergattert zu haben. (13) Trotzdem wurde darüber beraten, Schulkleidung einzuführen, um das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. (14) Grundsätzlich denke ich jedoch, dass Schulkleidung keine Lösung für ein Problem ist, (15) welches viel tie-fer sitzt, nämlich in den Köpfen. (16) Die Kluft zwischen Arm und Reich wird zwar ober ächlich gemindert, doch der Graben bleibt. (17) Auch in England wird durch die Schulkleidung keineswegs das Problem der Verspottung und Benachteili-gung gelöst, es verschiebt sich nur. (18) In den Schulen wird nicht mehr die Kleidung kritiesch kritisch betrachtet, sondern nun werden Haarschnitt, Nase, Zähne oder sonstige offensichtliche Merkmale zum Keim des Spotts. (19) Aus diesem Grund denke ich, dass Schulkleidung auch in der Hamburger Schule keine Kon iktlösung dar-stellt, sondern nur eine Verschiebung des Problems beinhaltet. (20) Außerdem sind die Preise für ein T-Shirt zwischen 22 und 36 DM auch nicht für jeden erschwinglich. (21) Einige Schüler werden dann 20 Schuluniformen im Sch besitzen und andere werden vielleicht schon nach einem Monat wegen ihres einen ausgewaschenen Pullover gehänselt. (22) Meiner Ansicht nach ist es vor allem wichtig nicht an den Symptomen zu arbeiten, sondern die Ursachen zu bekämpfen! (23) Das Problem muss unter den Schülern thematisiert werden und Pädagogen, wie es Lehrer sind, sollten hierbei in der Lage sein, Gespräche zu leiten, Diskussionen zu unterstützen, zu beraten (24) und vor den ersten Schritt auf den Weg zu bringen, Schülern aufzuzeigen, dass in jedem, ob arm ob reich, ob klug oder nicht, ob in Armani oder Aldi, eines steckt: EIN MENSCH. FSU1-12 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 11/ 1981 in Stade, Niedersachsen Schulbildung Gymnasium in Bremervörde, Niedersachsen Leistungskurse Französisch, Englisch Studienfächer (HF/ NF/ NF) Politikwissenschaft/ IWK/ Romanistik (Portugisisch) Angestrebter Studienabschluss Magister FSU1-12.TXT.dt. Datum 2002.11.07, 18: 05-19: 30 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 (1) In einer Wohlstandgesellschaft wie Deutschland ist es nicht sehr überraschend wenn Kinder und Jugendliche von den Eltern dermaßen verwöhnt werden, dass so etwas wie „Markenterror“ an Schulen entstehen kann. (2) Dadurch, dass viele Kinder sich die Kleidung leisten können, die sie möchten, tritt automatisch Konkurrenzdenken auf, da manche dann behaupten, sie seien etwas Besseres. (3) Andere wiederum fühlen sich automatisch minderwertig, ohne dass sie überhaupt auf ihre schlichte „nicht-Markenkleidung“ angesprochen worden sind. (4) Ebenso kann die zur-Schau-Stellung von Marken provozieren und wie auch im Text genannt, zu Gewalttaten führen. (5) Die Diskriminierung derer, die sich keinen Markenluxus leisten können, stellt meiner Meinung nach ein Ausdruck von persönlicher Schwäche dar: De zite werden auf diese Weise „übertüncht“. <?page no="310"?> 298 FSU1 (6) Eine andere Konsequenz des „Markenterrors“ ist unter anderem auch, dass sich Cliquen bilden und andere zurückgesetzt, beziehungsweise ausgegrenzt werden. (7) Cliquenbildung wiederum verstärkt nur noch die Diskriminierung einzelner. (8) Tatsächlich wäre es vorteilhaft das Tragen von Uniformen einzuführen, da Zurücksetzung - zumindest im Bereich von Kleidung - verringert werden könnte. (9) Gerade in der Schule ist es wichtig, eine positive Atmosphäre für Kinder und Jugendliche zu schaffen, (10) weil die Kinder sich in einer sie prägenden Entwicklungsphase be nden. (11) In diesem Sinne haben Diskriminierungen jeglicher Art starken Ein uß auf den Schüler, dessen schulischen Werdegang und nicht zuletzt auf seine Integration in die Gesellschaft. (12) Schließlich ist die Schule ein Ort des Lernens und nicht dazu da um den eigenen Prunk zur Schau zu stellen. (13) Man muß jedoch bedenken, dass der „Markenterror“ nur ein Phänomen unter vielen von Diskriminierungen ist (14) und dass Kinder lernen müssen selbstbewußt mit Kon ikten welcher Art auch immer umzugehen. (15) Ebensowenig bedeutet die Einführung von Uniformen nicht, dass sich keine Cliquen herausbilden werden, die andere ausgrenzen. (16) Insgesamt betrachtet, sollte Unterricht darauf angelegt sein, das dass Einführen von Uniformen gar nicht erst nötig wird. (17) Es erscheint doch sehr widersprüchlich, wenn Eltern sich für Uniformen einsetzen, obwohl sie ihrem Kind Markenkleidung zuerst ermöglicht haben. (18) Trotz allem halte ich das Tragen von Uniformen in der Schule für eine sinnvolle Maßnahme, (19) die sich positiv auf sozial schwächere Schüler auswirkt und ihnen Selbstbewußtsein gibt. (20) Die Entscheidung der Haupt- und Realschule Hamburg-Sinstorf war angesichts der Vorfälle von Lästerei und sogar Gewalt aufgrund von „Markenterror“ eine richtige Entscheidung der einzig richtige Weg um diesem ein Ende zu bereiten. (21) Anscheinend fand diese Maßnahme auch auf Seiten der Schüler Anklang. (22) Positiv ist auch, wie Annika beschreibt, dass die Schüler zum Einen morgens sich nicht erst entscheiden müssen, was sie anziehen, sondern in ihre Uniform „schlüpfen“ können um auf diese Weise unbesorgt zur Schule zu gehen. können. (23) Zum Anderen ist es auch po erfreulich, dass sich selbst die Lehrer kleidungstechnisch anpassen. (24) Dies stellt ebenfalls einen Beitrag zum Zusammengehörigkeitsgefühl dar, das leider immer mehr in deutschen Schulen verschwindet. (24) Nicht ganz unwichtig ist aber vielleicht auch, dass Details wie Schuhe und Hose nicht uniform sind und eventuell noch eine Art „Angriffspunkt“ bieten. (25) Letztlich bleibt nur die Frage offen, wie man denn in Zukunft mit anderen Fo Äußerungsformen des Terrors wie Handyklingeln, Schmuck oder anderen Statussymbolen umgeht? (26) Sollte man alles verbieten, uniformisieren? (27) Vielleicht bleibt nur der eine Ausweg über: Zurück zur Natur? ! <?page no="311"?> 299 FSU1 FSU1-13 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 10/ 1983 in Eisenberg, Thüringen Schulbildung Gymnasium in Eisenberg, Thüringen Leistungskurse Mathematik, Biologie Studienfächer (HF/ NF/ NF) BWL/ Interkulturelles Management Angestrebter Studienabschluss Diplom FSU1-13.TXT.dt. Datum 2002.11.07, 18: 05-19: 40 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 (1) „Der ‚Markenterror’ macht nicht vor deutschen Schulen Halt.“ Dieses Zitat stammt aus einem aktuellen Zeitungsartikel diesen Jahres und wurde von Stefanie George verfasst. (2) Terror durch Marken: Das macht Angst, lässt einen schaudern, aber auch Mitleid hervorrufen. (3) Was steckt hinter diesen Worten? (4) Wer sind die Leidtragenden. (5) Welche Lösungen des Problems sind möglich? (6) Auf diese Fragen möchte ich nun im Folgenden eingehen. (7) Der Sachverhalt scheint eindeutig: An vielen deutschen Schulen haben Schüler die Beleidigungen oder gewalttätigen Ausschreitungen ihrer Altersgenossen zu ertragen. (8) Der Grund sind ist das Tragen von Markenklamotten - oder eben das Nichttragen dieser. (9) Die Jugendlichen beschimpfen sich mit Worten wie „Aldi-Kind“ oder „Sozialversager“ auf der einen Seite oder als „Bonzenkind“ auf der anderen. (10) Die jeweils Angegriffenen wehren sich oder sie tun es nicht, dann erfahren sie oftmals die Gewalt der Beleidiger. Prügeleien sind darum nicht selten. Pullover werden zerrissen oder Erniedrigungen müssen ertragen werden. (11) Dabei dienen die Markenklamotten als Mittel zur Herstellung einer Rangordnung. Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht wird nach dem Äußeren festgelegt oder bewertet. Wer nicht die Jacke einer bekannten Firma trägt, wird als Versager eingestuft. (12) Die Jugendlichen haben dann die Möglichkeit, meist je nach Charakter, die Einschüchterungen und Beleidigungen zu ertragen oder als scheinbar einzigen Ausweg sich mit körperlicher Gewalt auf die seelische zu reagieren und die Frustrationen freizulassen und diesen Weg als Problemlösung anzusehen. (13) So Lassen sie die Beschimpfungen über sich ergehen, dann beginnen sie sich „abzuducken“, zu vergri verkriechen und die „unangenehmen“ Personen zu meiden. Sie entwickeln als Folge Angst vor der Schule, eigentlich vor den dort auf sie wartenden Kon ikten. (14) Die Mode beginnt für die Jugendlichen zum Hauptthema und -problem zu werden. (15) Doch dieses Problem bleibt nicht auf ihnen lasten. Sie übertragen es auf ihre Eltern. Diese stehen dann je nach nanzieller Situation vor der Wahl dem Druck ihres Kindes, der eigentlich von dessen Mitschülern ausgelöst wurde, zu weichen und das entsprechende Kleidungsstück für viel Geld zu kaufen oder den Töchtern bzw. Söhnen zu erklären, dass sie dazu nicht in der Lage sind oder sein wollen. (16) Im schlimmsten Fall kann die Problemkette sich soweit entwickeln, dass die Kinder versuchen sich selbst Geld zu verschaffen, um endlich dem Druck von außen zu entkommen. (17) In jedem Fall stellt der „Markenterror“ eine psychische Belastung für die Jugendlichen, die Eltern und auch die Schule dar, die oftmals den Hauptaustragungsort des <?page no="312"?> 300 FSU1 Markenwettbewerbs darstellt. (18) Natürlich äußern sich die Kon ikte auch an anderen Orten, wo sich Minderjährige begegnen, wie Vereinen und Plätzen zum „Abhängen“, doch die Hauptbegegnungsstätte stellt die Schule dar. (19) Doch woher rührt das Problem eigentlich? (20) Wie schon erwähnt dienen die Marken zur Einordnung in soziale Schichten und Gruppen. Sie stellen ein Statussymbol dar. (21) Oftmals gerade sozial schwächere Familien und Personen, die im Beruf oder der Schule nicht durch b gute Noten im Vordergrund stehen, versuchen sich selbst durch das Tragen von Markenklamotten aufzuwerten. (22) Die jeweiligen Hersteller der Kleidungsstücke tun ihr Bestes dazu, indem sie die Werbung in besonders im Fernsehen gerade auf Jugendliche ausrichten und natürlich um Gewinn zu erwirtschaften auch weiter intensivieren. (23) Fast tagtäglich erscheinen Werbespotts und sugerieren die gute Qualität mit ihrer Marke. In den Spotts werden Jugendlichkeit, Fitness, Qualität ... vermittelt und mit dem jeweiligen Produkt in Verbindung gebracht. Wer dieses Produkt dann trägt, kann eben diese Eigenschaften auf sich beziehen, sich aufwerten. So glauben es jedenfalls f viele Jugendliche. (24) Außerdem wird natürlich vermittelt, wer das Geld aufbringt, um solche Waren zu kaufen und wer nicht. (25) Dabei wird der Fakt natürlich vollkommen außer Acht gelassen, wer denn das Geld aufbringen kann, es aber zu diesem Zweck gar ni oder gar nicht gewillt ist. (26) Nun stehen Schüler, Eltern und Schule vor einem Problem, das es zu lösen gilt. (27) Die Haupt- und Realschule Hamburg-Sinstorf realisierte dabei Folgendes: Sie führte eine Schuluniform ein. Alle Schüler dürfen und müssen seit September ein „(...) grünes Sweatshirt mit dem Logo der Schule (...)“ (Zeile 13, Artikel) tragen. (28) Direaktion der Jungen und Mädchen ist durchaus positiv: Der Kon ikt schein ausgestanden, d.h. Provokationen über Markenklamotten entfallen und ganz nebenbei entfällt der morgendliche Stress bei der Auswahl des äußeren Kostüms. (29) Auch Eltern und Lehrer sind erfreut, dass das Problem ausgestanden ist. Letzter tragen z.T. sogar selbst das Kleidungsstück, um zur Einheit beizutragen. Als „(...) Zeichen der Zusammengehörigkeit“ (Z. 25, 26) bewertet der Schulleiter glücklich die Situation. (30) Meiner Meinung nach ist das Problem hier zunächst tä tatsächlich gut gelöst worden. Es schien keinen Ausweg zu geben. Die Konzentration der Schüler hatte nur noch auf dem Äuß äußeren Erscheinungsbild gelegen. (31) Das eigentliche Problem entfällt, da der Angriffspunkt nicht mehr zu existieren scheint. (32) Die Idee war gut, doch erfolgte meiner Meinung ihre Umsetzung nicht vollständig. (33) Schließlich dürfen die Schüler immer noch Hose und Schuhe frei wählen. (34) Klar, etwas Freiheit will man ihnen no lassen. (35) Doch schwelt hier meiner Meinung nach das nächste Problem oder besser die Fortführung des alten. (36) Auch bei den Hosen gibt es Marken. Sehr schnell könnte den Schülern das bewusst werden. (37) Ebenso sind andere Kleidungsstücke, wie T-Shirts und Polohemden, mit dem selben Logo für Geld im Wert von 22-36 DM erwerbbar. (38) Damit wird das der alte Kon ikt wieder hervorgerufen oder damals dessen Ursache nicht erkannt: Wer das Geld hat, wird sich auch die beiden anderen Kleidungsstücke zulegen können, wer nicht könnte wieder als „Versager“ angeprangert werden. (39) Wenn, dann sollten alle nötigen Kleidungsstücke von der Schule gestellt werden, um Spott den Kon ikt um die nanzielle Lage der Elternhäuser nicht ersichtlich zu machen. (40) Darum halte ich die Idee der Schule für gut, ihre Umsetzung jedoch für nicht gelungen. (41) Die Frage nach anderen Lösungsmöglichkeiten ist schwer zu beantworten. (42) Hierzu möchte ich zunächst erwähnen, dass dur der „Markenterror“ an verschiedenen Orten, ob Groß- oder Kleinstadt, ob Stadt oder Land, ganz verschieden sein kann. <?page no="313"?> 301 FSU1 (43) Ich persönlich habe nie die Erfahrung eines Druckes bezogen auf den Kauf von Designer-Klamotten empfunden. (44) Ich denke darum, dass besonders dort, wo extrem viele Menschen aus vielen verschiedenen nanziellen, konfessionellen, kulturellen Situationen und Schichten aufeinandertreffen, besonders das Problem besonders in Erscheinung tritt. (45) Gerade diejenigen, die durch Leistung nicht in den Fordergrund treten können, besonders sozial Schwache, versuchen ihre Person besser zu stellen. (46) Darum kann die Ausprägung des beschriebenen Problems kann ganz verschieden sein. (47) Ich glaube, dass den Kindern und Jugendlichen in der Erziehung mehr Selbstvertrauen, mehr Werte und Fähigkeiten vermittelt werden müssen. (48) Sie müssen erfahren, wie sie durch Leistung und persönlichen Erfolg in viel eher Beachtung nden. Doch wir leben heute in einer Kon (49) Wir leben heute zwar in einer Konsumgesellschaft, doch denke ich, dass eine Aufwertung der Werte und die Verantwortung der Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder wieder mehr an Bedeutung gewinnen müssen. (50) Jugendliche stark zu machen, indem ihnen durch das Erfahren persönlicher, wenn auch kleiner, Erfolge Selbstvertrauen eingeimpft wird, ist Hauptaufgabe der Gesellschaft und sollte mehr beachtet werden. (51) Denn sonst beginnt man den Menschen ihre Freiheiten zu nehmen, da wenn sie damit nicht umgehen können. FSU1-14 Geschlecht männlich Geburtsdatum, Geburtsort 03/ 1983 in Erfurt, Thüringen Schulbildung Gymnasium in Erfurt, Thüringen Leistungskurse Deutsch, Französisch Studienfächer (HF/ NF/ NF) Volkswirtschaft Angestrebter Studienabschluss Diplom FSU1-14.TXT.dt. Datum 2002.11.07, 18: 05-19: 20 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 Thema „Jugendliche und Markenprodukte“ (1) Marken sind aus unserer heutigen Welt nur schwerlich wegzudenken. Sie begegnen uns in all ihren Erscheinungsformen im Fernsehen, Radio, Internet, in der Zeitung, am Weges- und Straßenrand, kurzum überall. (2) Kein Wunder, daß viele Menschen abschätzend über diese Flut an Werbung nur die Nase rümpfen und sich freuen, daß es noch einige wenige Orte zu geben scheint, an denen nicht in großer geschwungener Kursivschrift „Coca Cola“ zu lesen steht, so (noch! ) in Kirchen, auf dem Friedhof und ... da fällt mir nun auch nichts mehr ein. (3) Aber ernsthaft, wofür brauchen wir Marken? (4) Marken sind Namen von Produkten, mit denen wir gute Eigenschaften verbinden sollen. (5) Eine neue Firma, die äußerst „coole“ Skateboards herstellt, wird bekannt und ihr Markenname ein Synonym für Qualität. Qualität, die selbstverständlich ihren Preis hat, den nicht jeder zu bezahlen imstande oder bereit ist. (6) Gerade im Bereich der Jugendlichen sind Marken ein großer Ein ußfaktor. (7) Meiner Meinung nach resultiert das aus dem für junge Menschen typischen Drang nach Abgrenzung von der Masse. Durch Abgrenzung von vielen entsteht eine Gemeinschaft <?page no="314"?> 302 FSU1 mit wenigen, sowie Stolz und Selbstvertrauen, was in diesem Alter am meisten gesucht wird. (8) Heute nennt man diesen Prozeß Selbstentfaltung. Allerdings läßt er sich durch sämtliche Generationen bis hin zu den alten Griechen verfolgen. (Schon Platon erboste sich über die nichtsnutzige eigenwillige Jugend). (9) Und hier tritt das Neue am Markenphänomen zu Tage. Die Marke wird für d viele wichtiger als das, was sie verkörpert, was dazu führt, daß das jeweilige Unternehmen mit verschiedensten, auch wertlosen Produkten die unter seinem Namen laufen, die prestigedurstige Klientel bis zur Schmerzgrenze ausschröpfen kann. (10) Im vorliegenden Text schreibt die Autorin speziell über Markenkleider in der Schule, bzw. die negative Wirkung, die sich aus den unterschiedlichen „Bekleidungsbudgets“ der Eltern ergibt. Kinder werden nach ihrer sozialen Herkunft fast in „Klassen“ rangartig eingeteilt. (11) In Hamburg hat nun eine Schule den Versuch unternommen, diesen Trend mit der Einführung von Schuluniformen, wie sie in einigen Ländern Gang und Gäbe sind, zu unterbinden. Durch die Ver äußere Vereinheitlichung soll den Schülern die Grundlage für ihr gehässiges Tun genommen werden (12) und auch eine positive Reaktion, belegt durch Zitat, sei zu bemerken. (13) Offensichtlich ein großer Erfolg, (14)doch hege ich große Zweifel an der Wirksamkeit und Ef zienz dieser Maßnahme. (15) Erstens liegt es, wie oben beschrieben im Gemüt eines jeden Menschen nicht eins mit der Masse zu sein, so daß sich bei Schülern, die diesen Drang besonders stark fühlen, immer ein Ventil nden wird, sei es das Aussehen, die Hautfarbe, der Körperbau, die Aussprache, mangelnde Intelligenz oder sonstiges, ihre Mitschüler zu charakterisieren. (16) Auch andere Wege, wie Drogenkonsum, Kriminalität, Gewalt und „Ungehorsam“ sind Mittel zum Zwecke der Abschottung. (17) Zweitens fragt sich also, wo die Ursachen für einen verstärkten Selbstbestätigungstrieb lauern und nicht zuerst wie man seine Auswüchse unterbindet. (18) Drittens muß auch die Seite der Opfer kritisiert werden, die im Falle von „Markenterror“ (nicht bei Gewalt anwendbar! ) ja nur dadurch Opfer werden, daß sie überhaupt die das Gerangel um die besten Klamotten mitmachen. (19) Sie sind meistens von Haus aus mit wenig Selbstvertrauen ausgestattet und bieten sich als Ziele geradezu an. (20) Hier ist ein aktives Eingreifen der Pädagogen 100%ig sinnvoller als aufwendige Gleichmacherei. (21) Denn letztere wird früher oder später eh durchschaut, wenn herauskommt, wer den zu Hause die neuesten Spiele spielt, die aktuellen Chart-CD’s hat und was man denn in der Freizeit so trägt. (22) Die positive Reaktion eines 12-jährigen kann da nicht als Beweis gelten. (23) Es schiene mir unvorstellbar einen 16-jährigen Vollblut-Hip-Hopper, einen 18-jährigen NPD-Anhänger und eine 17-jährige Che-Guevara-Anhängerin in einen stinknormalen Pullover mit Schulemblem zu stecken und dann auf positive Reaktionen zu warten. (24) Für diese Menschen ist Abgrenzung ein wichtiges Identitätsmerkmal vo, dessen Unterbindung sicher auch mit der freien Meinungsäußerung reibt. (25) Als letztes Argument, sei noch die nanzielle Seite beleuchtet: ein Schüler benötigt für eine Schuluniform, die auch wirksam sein soll, mindestens Schuhe, Hosen und Jacke bzw. Pullover. Weiterhin müssen die Kleidungsstücke den Jahreszeiten und Witterungsbedingungen angepaßt sein. Somit läßt sich der nanzielle Aufwand nicht auf eine unter 40 Mark, sondern mit Sicherheit das zehnfache schätzen (man trägt ja auch nicht wochenlang den gleichen Pullover und dieselbe Hose). (26) Also genügend Geld, um sich eine der besten Markenjacken anzuschaffen, vor allem, da die Kleidung ja zusätzlich zur normalen angeschafft werden müßte. <?page no="315"?> 303 FSU1 (27) Summa summarum läßt sich also zusammenfassen, daß Marken einen wichtigen Punkt im Leben einnehmen, (28) der von Jugendlichen übertrieben, durchaus schlechte Folgen auf das Sozialgefüge einer Schule haben kann und hat. (29) Allerdings sind Marken das, was wir aus ihnen machen, und was wir von ihnen halten, nicht mehr und nicht weniger. (30) Die Ursachen liegen mit Sicherheit woanders. (31) Im Übrigen kann man Marken, wenn man sie von ihrer ursprünglichen inhaltsvermittelnden Werbefunktion auf Abgrenzungs- und Statussymbole abstrahiert, bis in die frühe Menschheitsgeschichte zurückverfolgen. (32) Die Patrizier im Römerreich und die Senatoren trugen aufwendige kostbare Togen, die dem Pöbel verboten blieben. (33) Kaiser und Könige besaßen Insignien und Wappen und übertrumpften sich gegenseitig an Luxus und Pracht. (34) Die Christen führten das Kreuz als Sy ihr Symbol, (35) die Juden den Davidsstern ein. (36) Dahingegen gilt das gedrehte Kreuz heute Jugendlichen als Abgrenzung zum konventionellen. (37) Interessant sind Bewegungen wie „No Name“, die versuchen die negativen Aspekte der heutigen Markensituation zu bekämpfen, indem sie den Leuten ihre ideologische Abhängigkeit von Statussymbolen vor Augen zu führen versuchen. (38) Heilung durch Konfrontation also, das ist eine Möglichkeit, die vielleicht ihren Beitrag leistet, um rationaler zwischen Markenschein und Wirklichkeit zu unterscheiden. Wer weiß. (39) ENDE FSU1-15 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 09/ 1981 in Aschaffenburg, Bayern Schulbildung Gymnasium in Aschaffenburg, Bayern Leistungskurse Deutsch, Biologie Studienfächer (HF/ NF/ NF) Biologie/ Medienwissenschaft/ IWK Angestrebter Studienabschluss Magister FSU1-15.TXT.dt. Datum 2002.11.07, 18: 05-19: 15 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 (0) Thema: Jugendliche und Markenprodukte (1) Levis, Puma, Esprit, S. Oliver, welcher Jugendlich kennt diese Marken nicht und auf wen üben sie keine Faszination aus? (2) Gerade Jugendliche im Alter von 12 Jahren kennen sich gut in den verschiedenen Marken aus, wissen was „in“ oder „out“ ist. (3) Probleme gibt es aber dann, wenn man sich die teure Kleidung nicht leisten kann. (4) Wie in dem Artikel beschrieben kann es in Schulen zu Auseinandersetzungen kommen, wenn unterschiedliche Geltverhältnisse der Eltern unterschiedliche Kleidungsstile erlauben. (5) Ein Weg, der in vielen Ländern schon ausprobiert wurde bzw. wird, ist die Einführung der Schuluniform. (6) Diese Maßnahme hat positive und negative Seiten, beide sollen im Folgenden angesprochen werden. (7) Im Fall der Hamburger Schule trifft es sicher zu, dass die Uniform aus Pullover, T-Shirt und Polohemd im Anschaffungspreis billiger sind als gleiche Produkte von bekannten Marken. (8) Für sozial schwächere Familien also ein deutlicher nanzieller <?page no="316"?> 304 FSU1 Vorteil. (9) Dadurch, dass die Kleidungsstücke keine ausgefallenen Kleidung darstellen, ist es auch möglich sie in der Freizeit zu tragen, wenn ein Kind das möchte. (10) Im Bezug auf die Hamburger Schule ist dies gut gelöst. (11) Schaut man aber z.B. nach England oder Irland ndet man dort ganz andere Arten von Schuluniformen, die aus ähnlichen Gründen eingeführt wurden. (12) Die Uniform ist aus so unter ausgefallenen Kleidungsstücken zusammen gesetzt, meist in unge bestehend aus Anzug, und Hemd und Pulunder für Jungs und Rock, Bluse, Jacket und Pulunder für Mädchen. (13) In der Freizeit trägt diese Kleidung kein Kind, da sie unpraktisch und emp ndlich sind ist . (14) Bedenkt man aber jetzt wie teuer solch eine Ausstattung ist, bleibt die Frage offen, ob eine nanzielle Erleichterung für die Familien dabei herauskommt. (15) Auch bzw. gerade Jugendliche wachsen noch und somit ist desöfteren die Anschaffung neuer Uniformen nötig. (16) Ich weiß aus Erfahrung, da ich eine Zeit lang in einer Familie dort gelebt habe, dass die Familien viel Geld in die Uniform infe investiert haben gerade da sie mehrere Kinder hatten. (17) Die Uniform wird nicht „aufgetragen“ wie normale Kleidung, sondern da sie nur in der Schule als Bekleidung dient, eine Zeit lang benutzt und meist noch in gutem Zustand abgelegt, da sie zu klein geworden ist. (18) Einsparungen sind dann oft nicht möglich. (19) Ein anderer Aspekt ist das die Zusammengehörigkeit, die durch gleiche Kleidung bei allen Schülern erzeugt werden soll. (20) Der Schulleiter in Hamburg sieht in der Uniform eine Chance, dieses Gefühl bei seinen Schülern zu wecken. (21) In gewisser Weise ist dies wirklich ein Phänomen, das man bei Jugendlichen beobachten kann. (22) Gerade in letzter Zeit, lassen viel Abiturjahrgänge eigene Abi-T-Shirts anfertigen, als Zeichen dass sie eine Gruppe darstellen. (23) Hier liegt aber auch der Knackpunkt, möchte man sich damit nicht von anderen jüngeren Schülern abgrenzen? (24) Zusammengehörigkeit ja, aber bitte nicht mit allen, lautet also das Motto. (25) Bei Schuluniformen bleibt zur Abgrenzung wenig Spielraum, gerade im Bezug auf die Darstellung der Persönlichkeit. (26) Kleidung kann sehr gut die Persönlichkeit eines Menschen verdeutlichen. (27) Gerade in der Pupertät, also während der Schulzeit, entwickeln Jugendliche ihre Persönlichkeit und möchten sie auch zeigen. (28) Dies kann bei einer Uniform dann nur in der Freizeit geschehen. (29) Die Schüler treten dann in einer „Einheit“ an in der Schule an. (30) Der Vorteil ist natürlich, dass keiner mehr ausgeschlossen wird, es ist weniger Kon iktpotential da, es gibt von Kleidungswegen her keine Außenseiter mehr sei es das „Aldi-Kind“ oder das Bonzenkind. (31) Erscheinen die Schüler in der Klasse, dann aber nicht auch als Einheit für den Lehrer. (32) Besonders an großen Schulen in denen das Schulleben relativ anonym abläuft, wird das die Anonymität durch gleiche Kleidung noch verstärkt. (33) Dies wirkt sich negativ auf das Verhal Verhaltnis Schuler-Lehrer aus. (34) Das Problem Die Situation , dass es verschiedene soziale Verhältnisse gibt und die nanziellen Möglichkeiten nicht in allen Familien gleich sind, wird dadurch nicht behoben. (35) Damit Mit Schuluniformen verschiebt sich die Konfrontation des Einzelnen mit unangenehmen Situationen, die durch nanzielle Schwäche entstehen können. (36) Nach der Schullaufbahn gibt es im „normalen Leben“ keine Rücksichtnahme mehr. (37) Meiner Meinung nach ist Einführung von Schuluniformen kritisch zu betrachten, da sie neben positiven Effekten eben auch negative birgt. (38) Hätte ich während meiner Schullau Schulzeit darüber entscheiden müssen, ob ich für, oder gegen Uniformen bin, hätte ich mit nein gestimmt, weil für mich die negativen Auswirkungen überwiegen. <?page no="317"?> 305 FSU1 FSU1-16 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 12/ 1982 in Jena, Thüringen [Zwillingsschwester von Probantin FSU1-17] Schulbildung Integrierte Gesamtschule in Jena, Thüringen Leistungskurse Deutsch, Geschichte Studienfächer (HF/ NF/ NF) Germanistik/ IWK/ Wirtschafts- und Sozialgeschichte Angestrebter Studienabschluss Magister FSU1-16.TXT.dt. Datum 2002.11.07, 18: 05-19: 10 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 (0)„Jugendliche und Markenprodukte“ (1) Es war schon immer an Schulen in Deutschland die Frage ob man es den Engländern oder Japanern nach machen sollte: Schuluniformen. (2) Zumindest seit ich noch, oder als ich noch an einer allgemeinen Schule war. (3) Seltsamerweise hatte ich - als das Thema für mich als Schüler am stärksten aktuell war (4) (da man 1998 1997/ 98 wirklich diese Möglichkeit ernst in Betracht zog - eine ganz andere Meinung zu Schuluniformen als heute. (5) Wir alle sahen uns unsere Identität beraubt. (6) Hierzu muß ich allerdings hinzufügen das wir (zu dieser Zeit war ich auch an einer Regelschule) nie ein Problem mit „Marke oder nicht“ hatten. (7) Aber die Zeiten ändern sich und meine kleine Schwester (16) 1 hat heute Probleme auf die ich in ihrem Alter nie gekommen wäre. (8) Daher würde ich das Projekt an der Hamburger Schule nie ablehnen, (9) auch wenn ich nicht gedacht hätte das Schüler in diesem Alter so toll nden würden. (10) Aber es ist eine absolut berechtigte Maßnahme wenn solch belangloser Scheiß (! ! ! ) eskall eskaliert. (11) Das Problem was ich dabei eher sehe - gut, das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen - ist: (12) Es ist doch Fragwürdig ob die deutschen Schulen überhaupt ein solches System der Schuluniform hinbekommen. (13) Denn ich hoffe das es dann bei einem grünen Pullover nicht bleibt. (14) Denn wenn die deutschen Schulen das Problem mit Marken ihiminieren wollen muß man schon ein wenig weitergehen und das ganze daher auch attraktiv gestalten. (15) Ich denke Schuluniform ist Schul SCHULUNIFORM und nicht ein „wäldliches“ Oberteil. (16) Schuluniformen wie in England sind dann schon erstrebenswert. (17) Dann würde ich auch nichts dagegen haben, wenn Universitäten diese einführen wurden. (18) Meine konkret Meinung über Schuluniformen ist daher positiv. Lieben gerne! (19) Allerdings, um ehrlich zu sein mehr der Ästhetik und/ oder der Zugehörigkeit. (20) Das dann auch noch das Problem mit Marken von den Schulen verbannt wird ist dann ein wunderbarer Zusatzeffekt. (21) Allerdings wären es utopisch zu glauben jetzt mit Schuluniformen hätten sich alle wieder lieb. (22) Mit Schuluniformen hat man nur eine neutrale Zone geschaffen. Eine Waffenpause, nichts mehr. (23) Denn außerhalb ist man dann wieder dem Individualismus verfallen oder seinem Sozialbzw. Finanziellem Stand. (24) Aber Marken und Jugend gehört nun mal irgendwie zusammen. (25) Denn die Jugend setzt die Trends und die Jugend verfolgt diese wiederum. 1 In Klammern gesetzte Altersangabe im Originaltext <?page no="318"?> 306 FSU1 (26) Das dies zu einem solchen sozialen Problem wurde liegt daran das „wir“ ihnen das vermitteln - auch wenn wir es nicht wollen - was wir schon gelernt haben. (27) Das Urteil fällt mit dem ersten Blick. (28) Bei kleinen Kindern wird nicht diskutiert wer jetzt mit Schaukeln dran ist, der darf schaukeln der sich am besten - physisch - durchsetzen kann. (29) Und do nur derjenige ist am beliebtesten der am hübschesten Aussieht. (30) Erwachsene gehen mit solchen Themen nicht zivilisierter oder besser um. (31) Erwachsene zeigen es nur nicht so sehr wenn ihn eine Person nicht passt weil sie billig gekleidet ist - denn das ist immer noch im Erwachsenenalter da - sie versuchen einfach darüber hinwegzusehen oder es gar nicht zu sehen indem sie die Person meiden. (32) Jugend, die diese Art der Diskretion gar nicht kennen, sie seltsamerweise auch nie lernent - sondern in sie hineinwächsent - (33) sagt in solchen fällen einfach was sie denkt und so spricht „Partei“ gegen „Partei“, und dann folgt vom kalten Krieg der heiße Krieg. (34) Doch dieses entscheiden zwischen gut und böse erziehen wir ihnen an. (35) Also sind Marken gut und keine böse. (36) Und dies zu ändern sind wir allerdings - zumindest heute - nicht dazu in der Lage, (37) da wir es unterbewußt anerziehen und anlernen und mit dem Alter verlernen. (38) Aber man könnte es mit Erziehung zu Toleranz abschwächen. (39) Doch dieses Wort kennen wir ja selbst kaum. (40) ENDE FSU1-17 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 12/ 1982 in Jena, Thüringen [Zwillingsschwester von Probantin FSU1-16] Schulbildung Integrierte Gesamtschule in jena, Thüringen Leistungskurse Deutsch, Englisch Studienfächer (HF/ NF/ NF) Germanistik/ IWK/ Wirtschafts- und Sozialgeschichte Angestrebter Studienabschluss Magister FSU1-17.TXT.dt. Datum 2002.11.07, 18: 05-19: 06 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 (1) Das Problem der Markenprodukte ist erst wirklich zum Problem geworden nach ca. 1990. (2) In der DDR gab es solche Pr Schwierigkeiten an einer Schule in den neuen Bundesländern nicht. (3) Für die alten Bundesländer kann ich das nicht entscheiden, da ich in Jena geboren bin und auch nie in einer anderen Stadt zur Schule ging. (4) Nach 1990 gab es hier eine sehr große „Angebotsüberschwemmung“, wobei ich auch die Preisstufen nicht ausnehme, dass es früher oder später dazu kommen musste. (5) Außerdem wird uns im Elternhaus und in der Schule „eingetrichtert“ dass materielle Dinge ein ganzes Lebensziel ausmachen. Wer nichts hat, der ist nichts. (6) Vorurteile der Eltern/ Großeltern übertragen sich sehr leicht auf die eigenen Kinder. (7) Und egal wie sehr man von sich glaubt tolerant zu sein, irgendwann ertappt man sich bei einem ober ächlichen Urteil über das Aussehen eines fremden Menschen, den man vielleicht zufällig <?page no="319"?> 307 FSU1 über die Straße gehen sieht. (8) Neid und Hochnäsigkeit sind sehr typisch menschliche Eigenschaften, dass es schon etwas komisches hätte würden wir in manchen Situationen nicht so denken. (9) Und wenn sich Schulen und Eltern fragen warum soetwas ein völlig normales Verhalten von Schülern untereinander ist, dann liegt die Antwort näher als wir glauben. (10) Materielle Sachen sind nicht schlechtes, wohl eher im Gegenteil, (11) aber sie sollten nur nie tiefgreifende Urteile fällen lassen, (12) denn Menschen mit großen nanziellen Recoursen haben viel mehr Möglichkeiten sich auszudrücken. (13) Außerdem läßt sich auch sehr oft erkennen, dass umso älter der Schüler ist umso geringer diese Rivalität besteht. (14) Als ich in der siebten Klasse war gab es genau das gleiche Problem, nicht so extrem wie es in dem Text beschrieben wird, aber es war da. (15) Da gab es dieses eine Mädchen, sie maßte sich oft an über andere wegen ihrer Kleidung zu lachen. (16) Die meisten Schüler aus meiner Klasse ignorierte das oft. (17) Das war auch zum Nachteil derjenigen über die sie lachte. (18) So in der neunten Klasse, also der Durchschnitt lag ungefähr bei 14/ 15 Jahren, ließen sich ihre Eltern scheiden und ihre Vater, bei dem sie nun lebte, überhäufte sie noch mehr mit unnötigen Sachen. (19) Ich kann nicht genau beschreiben wieso, aber ihr Beliebtheitsgrad rutschte in den Keller, ihr Selbstbewußtsein dagegen kletterte so weit auf der Skala dass es zu einer Krankheit wurde. (20) Jedenfalls saßen wir alle in der Umkleidekabine (natürlich nur die Mädchen). Und es war nach den Weihnachtsferien und alle quasselten über irgendwas und sie saß auf der Bank und hörte zufällig wie ein Mädchen zu ihrer Freundin sagte: (21) „du wirst nicht glauben was mir meine Eltern zu Weihnachten geschenkt haben ...“ (22) Weiter kam sie nicht denn dann wurde sie mit den Worten unterbrochen: „Ich habe 15 Geschenke bekommen.“ (23) So eine Stille habe ich nie wieder in einem Mädchenumkleideraum erlebt. Alle haben sie angestarrt und sie saß auf der Bank als wäre sie gerade zur Königin von England gekrönt wurden. (24) Und irgendjemand sagte schließlich: „Das will keiner wissen, hast du einen Buchhalter dafür.“ (25) Sie hat uns nie wieder sowas erzählt. (26) Ich bin der Meinung, daß umso älter der Mensch wird umso eher über soetwas hinwegschauen kann, (27) nicht immer und manche können es gar nicht, (28) aber ich habe es von der 10. bis zur 13. Klasse es nie wieder erlebt, daß jmd. sich über einen anderen gestellt hat nur weil er kein Adidas, Gucci oder Prada anhätte. (29) Der Mensch ist Gott sei Dank lernfähig und begreift die wichtigsten Dinge im Leben - meistens jedenfalls - und bildet seine eigene Meinung früher oder später selbst. (30) Warum Erziehung oft dann solche Fehler machen kann, kann ich leider trotzdem nicht beantworten. (31) Schuluniformen sind für mich eine lange Liste mit Pro und Contra. (32) Aber in meinen Augen können sie fast gar keine Lösung darstellen. (33) Der Ort dieses Problems wird dadurch nur verlegt ... auf die Freizeit. (34) Außerdem schaffen sie ein neues Problem. (35) Eine englische Mutter (mit der ich mich in London über dieses Thema unterhielt) meinte so vermeide man Neid unter den Schülern. (36) Sie hat Zwillinge, Mädchen, beide gehen an eine gute Schule, aber in getrennte Schulen. Die eine für Musik die andere für Sport. Die beiden haben Auseinandersetzungen welche Schule besser ist. (37) Jede Schule würde auf ihren Uniformen ihr Symbol platzieren, jeder Jugendliche kann also sofort einer Schule zugeordnet werden. Ist das nun gut oder schlecht? (38) Gymnasiasten und Realschüler sind untereinander nicht sehr freundlich. (39) Man würde damit ein anderes Problem anheizen. (40) Dann ginge es nicht mehr um „arm und reich“ sondern ist man klug wenn man an einem Gymnasium ist oder dumm wenn man in eine Realschule ist? ! <?page no="320"?> 308 FSU1 (41) Die Hamburger Schule hat mit Sicherheit eine Lösung gefunden (42) und wenn die Schüler dadurch sich nicht mehr mit so einem Problem konfrontiert sehen, (43) dann war es wohl längst überfällig, (44) aber dies als Musterbeispiel zu sehen, davon würde ich abrücken, (45) denn Individualität zieht auch bei Problemlösung mehr, als stures Nachmachen. FSU1-18 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 12/ 1981 in Friedrichshafen, Baden-Württemberg Schulbildung Gymnasium in Wald, Baden-Württemberg Leistungskurse Deutsch, Englisch Studienfächer (HF/ NF/ NF) DaF/ Anglistik-Amerikanistik/ Geschichte Angestrebter Studienabschluss Magister FSU1-18.TXT.dt. Datum 2002.11.07, 18: 05-19: 10 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 (1) Es muß kein Amoklauf, Erpresst-Werden auf dem Schulhof oder Notenprobleme sein, das einem die Schulzeit unerträglich macht. (2) Für Jugendliche, die unsicher sind, und denen die Anerkennung Gleichaltriger alles bedeutet, führt der Weg hierzu meist nur über das Herabsetzen anderer. (3) Hat der Andere keine augenscheinlichen „Makel“ wie eine Behinderung oder entspricht Ausländer sein führt der greift man auf die Kleidung zurück. (4) Kleidung, Statussymbol Jugendlicher kann über Beliebtheit oder nicht Beliebtsein entscheiden, (5) die und die Hersteller reiben sich die Hände, da sie die Gewinner des Ganzen sind. (6) Dass Eltern, egal ob zahlungsfähig oder nicht, diesem Treiben nicht zusehen wollen, ist nur allzu verständlich, (7) und so ackert die Diskussion um Schuluniform erneut auf. (8) Gegner der Schuluniform argumentieren einmal mit der Tatsache, daß die Schuluniform keine Tradition in Deutschland hat, wie etwa in England. In Deutschland wird eine Uniform mit Militär gleichgesetzt, so ihre These, und evoziert Bilder von Kindern in HJ-Hemden. (9) Dass dies nicht fortgesetzt werden kann und darf, ist selbstverständlich. (10) Weiterhin, so die Gegner, ist der Terror gegenüber sozial Schwächeren durch die Schuluniform, keineswegs aus der Welt geschafft. (11) Es gibt auch andere Statussymbole, wie bsw. Schuhe oder Schmuckstücke. (12) Ein weiterer Punkt für dier Gegner der Schuluniform ist, daß es nicht die eigene Entscheidung des Jugendlichen ist, was er anzieht. (13) Für einen Jugendlichen ist aber nichts so wichtig, wie sich selbst entscheiden zu können und so wird ein Großteil der Jugendlichen gegen eine Einführung der Uniform sein. (14) Und etwas gegen den Willen der Schüler einzuführen, das kann jeder Lehrer bestätigen, bringt wiederum viel Ärger mit sich. Arger, den man eigentlich aus der Welt schaffen wollte. (15) Die Jugendlichen be nden sich außerdem in der Phase der Entwicklung der Persönlichkeit. (16) Es ist somit einmal wichtig für den Jugendlichen seiner Individualität durch die Kleidung, die er trägt, Ausdruck zu verleihen, denn sie zeigt, bevor er den Mund aufmacht und sich artikuliert (was ja eben in dieser Zeit für viele oft ein Problem darstellt), was und wer er ist. (17) Zudem ist es wichtig zu lernen sich durchzusetzen. Und wo lernt man dies besser, als beim Sich-Gegenüber-Gleichaltrigen-Behaupten? (18) In der Schule soll fürs Leben gelernt werden, so das Sprichwort, (19) doch vielen Jugendlichen wird die <?page no="321"?> 309 FSU1 Aussicht auf Leben regelrecht vergällt, wenn sie an das tägliche Hauen-und-Stechen auf dem Schulhof denken. (20) Und muß Schule tatsächlich auf Konsum und Schichtzugehörigkeitsdenken vorbereiten? (21) Befürworter der Schuluniform sind der Meinung, daß es eine Basis der Gleichheit schafft. (22) Daß man nicht jegliche Art von Statussymbolen verbieten kann, ist klar, (23) jedoch die hauptsächlichen gehören nicht in den Unterricht. (24) Es Sind die Uniformen erst einmal eingeführt und akzeptiert, ist auch eine entspanntere Atmosphäre in der Schule gewährleistet. (25) Daß sich dies nicht nur auf die Leistungen, sondern auch auf die Einstellung zur Institution Schule auswirkt, ist ein positiver Nebeneffekt. (26) Es wird Zeit, so die Befürworter, daß eine Identi kation mit der Schule angestrebt wird, daß der Schuler Schule nicht als abzulehnendes Übel betrachtet, sondern als großt Teil seines Lebens, in dem er momentan viel Zeit verbringt. (27) Dem Argument der Persönlichkeitsentwicklung der Gegner halten die Befürworter die Tatsache entgegen, daß Individualität mehr ist, als das T-Shirt das man trägt. (28) Sie zeigt sich durch das Handeln, Denken und Sein eines Menschen, (29) und das hat vielmehr die Chance sich herauszubilden, als wenn keine Äußerlichkeiten, die ablenken, vorhanden sind. (30) Ich persönlich bin ein Befürworter der Schuluniform. (31) Uniform ist nur ein Wort, an dem sich aufgehängt wird, genauso wie „Einheitskleidung“. (32) In meiner Schule wurde Schuluniform wahlweise eingeführt, (33) und erstaunlicherweise besitzt jeder Schüler einen Schulpullover, sogar Ehemalige meldeten sich und kauften sich einen. (34) Für mich bedeutete es sehr viel, an Schulaufführungen zu zeigen, daß ich hier dazugehöre, (35) was absolut nichts mit Konformität zu tun hat. (36) Daß der Mensch kein Einzelkämpfer ist, und auf andere angewiesen ist, ist eine der wichtigsten Erfahrungen, die ein Schüler machen sollte, (37) und für mich ist die Schuluniform ein Schritt dorthin. (38) Daher ist die Hamburger Schule zu beglückwünschen für ihre Initiative und ihr ist viel Glück in Zukunft zu wünschen. FSU1-19 Geschlecht männlich Geburtsdatum, Geburtsort 03/ 1982 in Grimma, Sachsen Schulbildung Wirtschaftsgymnasium in Grimma, Sachsen Leistungskurse Mathematik/ Wirtschaft Studienfächer (HF/ NF/ NF) VWL Angestrebter Studienabschluss Diplom FSU1-19.TXT.dt. Datum 2002.11.07, 18: 05-19: 35 Uhr Ort FSU Jena, SR 207 (0)„Jugendliche und Markenprodukte“ textbezogene Erörterung zum Artikel von Stefanie George „Markenterror an Schulen nimmt zu.“ (1) Die vierte Stunde ist vorbei. Hofpause endlich! Ich, damals noch in der 7. Klasse an der Mittelschule „Wilhelm Ostwald“, suche gerade in meinem Ranzen nach dem Pausenbrot. (2) Plötzlich kommt Ralf von angelaufen. Er zieht meinen Pullover nach oben, lacht und pöbelt proletenhaft über die armselige Billigmarke meiner Jeans: „Real Blue“, <?page no="322"?> 310 FSU1 was soll das denn bitte sein? “ (3) Gelächter, sie lachen über mich. (4) Was solls, es ist Hofpause und ich will nur noch raus. (5) Eigenartigerweise konnte ich diese Szene bis heute nicht vergessen. (6) Nicht, dass es ein Trauma wäre. (7) Nein ich habe sehr lange nicht darüber nachgedacht, wie das damals war. Vergessen habe ich es jedoch nicht. (8) Mit dieser Erfahrung könnte man erwarten, dass ich durchaus für eine Einführung eine Generalisierung der Schulkleidung bin. (9) Im Gegensatz dazu bin stehe ich jedoch einer Einführung von Schuluniformen skeptisch Im Gegensatz dazu betrachte ich den d Gedanken der Einführung von Schuluniformen mit Skepsis. (10) Der Grund dafür liegt im Ansatz. (11) Ich bin nicht der Meinung, dass die „Markenklamotten“ den Realen realen Ursprung von Zwist und Gewaltanwendung bergen. Sie sind lediglich ein Auslös auslösende möglicher Auslöser. (12) Meiner Meinung nach steckt eine grundlegende grundsätzliche Id Identitätsunsicherheit der Jugendlichen dahinter. (13) Ein erstes Indiz dafür entnehme ich dem E Fakt, dass Markenstreitigkeiten vorwiegend an Mittelschulen verbreitet sind. (14) Die Jugendlichen der Mittelschule haben bereits eine erste soziale Abgrenzung in ihrem Leben erfahren. Durchaus ist ihnen bewusst, dass sie auf einer niedrigeren Stufe als bspw. Abiturienten Gymnasiasten stehen. (15) Identitätsunsicherheit spiegelt sich gerade in ihren Beschimpfungen. „Sozialversager“! Sie kennen die Versagensangst. (16) Die Abstufung des Nächsten bewirkt die Aufwertung der eigenen Existenz. Wo stehe ich? Wie kann ich mich behaupten. (17) Die eigene Unsicherheit bewirkt Agressionsabbau. (18) Die Suche nach Schwächeren ndet ihr Ziel. Aber jeweils nur eine Stufe abwärts. (19) Für mich bedeutet Kleidung den Ausdruck meiner Individualität. Ich de niere mich darüber, wie ich mich kleide, wie ich auftrete. (20) Durch dieses entfalten meines Individuums bewirke ich auch Veränderung meines Um Auch Entwicklung wird an Hand meiner Kleidung deutlich, was schon allein dadurch belegt wird, dass ich vor 2 Jahren einen anderen Stil hatte als heute. (21) Diese Entwicklung halte ich für enorm wichtig. Die freie Entfaltung der Individualität und dessen Ausdruck ist für mich ein Statussymbol unserer Freiheit. (22) Konformität schränkt diese Freiheit rigoros ein und bewirkt somit eine Stagnation der Individualitätsentfaltung. (23) Sicher behält die Schule in Hamburg-Sinstorf vorerst recht wenn sie Erfolge verzeichnet. (24) Angeblich seien Streitigkeiten verringert, doch wodurch? (25) Allein dadurch, dass man den Schülern eine Behelfsidentität verschafft. Sie de nieren sich nun über die Zugehörigkeit zu ihrer Schule. (26) Fraglich ist für mich jedoch, ob sich das vorhandene Streitpotential, was ja offensichtlich vorhanden ist, dadurch auch w wirklich verringert? (27) Was ist beispielsweise mit den Reaktionen im Umfeld? Man muss sich nun mit genau jenen auseinandersetzen, die diese Konformität nicht teilen. (28) Steigt das Kon iktpotential außerhalb der Schule eventuell? Gab es eine Umschichtung der Aggressionen in die Außenwelt? (29) Auch im globalen Kont Kontext erfahre ich Parallelen, die mich bestärken. (30) In Japan erwirtschaftet man immensen Umsatz und Produktionssteigerung durch das Konformitätsprinzip. (31) Der Mensch als Gruppe ist leistungsfähiger, ist produktiver. (32) Doch ist das, das Wesen des Menschen Doch auf für welchen Preis verkaufen wir unsere Identität uns. Was geht uns dadurch verloren. (33) Der Mensch wird unfrei gleicher den Gleichen Dies ist in unserem auf Kosten der Freiheit. (34) Da Freiheit der Persönlichkeit jedoch für mich und unsere breite Massen der Menschheit jedoch von immenser Wichtigkeit ist, lehne ich Konformität ab. (35) Damit stehe ich nicht allein. „Die Freiheit der Person“ steht nicht umsonst im Grundgesetz unter Artikel 2 formuliert. (36) Gleichfalls gehört sie zu den Menschenrechten. <?page no="323"?> 311 FSU1 (37) Individualität ist in besonderem Maße ein Motor der Entwicklung der Menschheit. (38) Der berühmte Wirtschaftsliberalist Adam Smith de niert im 19. Jahrhundert die freie Entfaltung des Einzelnen als gesamtwirtschaftliche Triebkraft. (39) Diese setzt sich durch oder auch nicht, bewirkt jed denoch auf jeden Fall eine Entwicklung. (40) In zusammenfassenden Diese Gedanken zusammenfassend, kann ich die Reaktion der Schule in Hamburg-Sinsdorf nur als verzweifelten Versuch werten werten, einen Mangel an Individualität und die sozialen Unsicherheiten der Jugendlichen mit einer Problemverlagerung zu kompensieren. (41) Das Schaffen einer Ersatzidenti kation stärkt die die Einzelnen nicht mittelbar. (42) Die Diskrepanz meiner Gedanken liegt jed allerdings darin, dass das „Urteilen“ ein Teil der Erkenntniskette ist, welches sehr weit oben angesiedelt ist. (43) Ich kann zwar Gedanken äußern und diese vertreten, aber zu einer wirklichen Beurteilung ist nur fähig, wer über Erfahrungen hinaus weitgehende Erkenntnisse errungen hat, welche die und eine Einschätzung gebunden an einen Lösungsvorschlag hervorbringen können kann. (44) Dies kann ich nicht. Ich vermag es lediglich, den Schritt a zu Uniformität begründet abzulehnen. (45) Deshalb möchte ich mich in der die Formulierung „zu werten“ zurücknehmen. <?page no="324"?> 312 T1 T1-01 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 08/ 1983 in Shanghai Schulbildung Schwerpunktmittelschule in Shanghai (Provinzebene) Studienfächer (HF) Germanistik Angestrebter Studienabschluss B.A. T1-01.TXT.chin. Datum 27.09.2001, 13: 30-14: 35 Uhr Ort Tongji-Universität Shanghai, SR (Südcampus) <?page no="325"?> 313 T1 T1-01.TXT.chin. (Übersetzung) (0) Jugendliche und Markenprodukte (1) Marken kauft man aus vielerlei Motiven. Am typischsten sind wohl die beiden folgenden: (2) Man liebt eine bestimmte Marke, weil man einen bestimmten Stil mag. (3) Ein anderes liegt vor, wenn ich eine Marke seiner selbst willen unbedingt kaufen möchte. (4) Gegen das erste Motiv ist nichts einzuwenden. (5) Jeder Mensch nimmt eine andere ästhetische Perspektive ein, auch der Geschmack unterscheidet sich. (6) Bei Kleidung bevorzuge ich die vielen inländischen Marken, weil die Designer den Geschmack der chinesischen Mädchen stärker berücksichtigen, (7) anders als bei ausländischen Markenprodukten, die stärker den westlichen Geschmack beachten. (8) Bei Handys wiederum schätze ich NOKIA, weil die Unternehmenskultur einen schwärmen lässt und ein exzellenter Kundenservice geboten wird. (9) Das zweite Motiv widerspricht dem „handelnden Nichthandeln“ Laozis. (10) Es handelt sich lediglich um ein Motiv blinder Konkurrenz und Prahlerei, als ob man anderen Menschen überlegen und imposanter wäre, sobald man sich Marken[kleidung] angelegt hat. (11) Dieses Motiv ist falsch, doch unter Jugendlichen weit verbreitet. (12) An der Mittelschule gab es einst einen Mitschüler aus bescheidenen Verhältnissen. Er sparte am Essen und anderen Ausgaben, um sich auch einen importierten, 80 Yuan teuren Bleistift und eine Hose zum Preis von mehreren hundert Yuan kaufen zu können. (13) In China kostet ein Bleistift nur 0.6 Yuan. (14) Ist das Preis-Leistungs-Verhältnis des importierten Bleistiftes tatsächlich derart hoch? (15) Wohl kaum, im Ursprungsland ist der Preis dieses Stifts wahrscheinlich nicht so hoch. (16) Ein Großteil der entrichteten Kaufsumme entfällt wahrscheinlich auf Steuern. (17) Und ist die mehrere hundert Yuan teure Hose tatsächlich ihren Preis wert? (18) Würde man einen Experten Material und Verarbeitung beurteilen lassen, dann würde [dieser] den Wert womöglich auf wenig mehr als hundert Yuan taxieren. (19) Wofür gibst du dann den Differenzbetrag aus? Wahrscheinlich für die angefallenen hohen Werbungskosten. (20) Hieraus folgt, dass bei einer Ware das Preis-Leistungs-Verhältnis am wichtigsten ist (21) und dass Marken einzig deine Prahlsucht befriedigen. (22) Besteht nun nicht ein Widerspruch zum ersten Motiv? Keineswegs. (23) Falls du das Design, den Stil einer Marke liebst und du dir für ein paar hundert Yuan ein Kleidungsstück im Wert von wenig mehr als einhundert Yuan kaufst, dann heißt das nur, dass du mit zusätzlichem Geld „Design und Stil“ erworben hast. (24) „Design und Stil“ sind keinesfalls völlig ohne Wert. (25) Wenn du daran Gefallen ndest, dann gewinnt dieser Wert eine Form. (26) Anderenfalls bleibt der überhöhte Wert formlos. (27) Hieraus folgt, dass es keinesfalls schlecht ist, Marken[kleidung] zu tragen. (28) Es besteht hingegen kein Anlass, verbissen nach Marken zu verlangen. (29) Bei der Auswahl einer Ware kommt es weniger auf die Marke als vielmehr auf ein ausgewogenes Preis-Leistungs-Verhältnis an. (30) Zuweilen ist das Preis-Leistungs-Verhältnis bei Markenprodukten am höchsten. (31) Daher [dürfen] wir Marken nicht pauschal ablehnen, (32) Es gilt, beide Extreme zu vermeiden. Aus einer anderen Perspektive betrachtet ist eine Marke vergänglich. Früher gab es in China Kosmetikartikel der Marke „Xia Fei“. Über Nacht ließ [sie] im Norden und Süden des Yangtse den Himmel beben mit dem Slogan „Lasst die Welt von Xia Fei erfahren“. Letztendlich verschwand diese chinesische Kosmetikmarke jedoch aufgrund eines veralteten Managmentsystems. (33) Die an der Hamburger Mittelschule eingeleitete Maßnahme vermag offenbar das Problem zu lösen. (34) Es handelt sich jedoch um eine „Behandlung der Symptome und nicht der Wurzel“. <?page no="326"?> 314 T1 T1-02 Geschlecht weiblich Geburtsdatum, Geburtsort 12/ 1982 in Shanghai Schulbildung Schwerpunktmittelschule in Shanghai (Provinzebene) Studienfächer (HF) Germanistik Angestrebter Studienabschluss B.A. T1-02.TXT.chin. Datum 27.09.2001, 13: 30-14: 30 Uhr Ort Tongji-Universität Shanghai, SR (Südcampus) <?page no="327"?> 315 T1 (35) Um Kleidung wetteifert man [zwar] nicht mehr, (36) doch solange die Motivation bestehen bleibt, wetteifert man um Hosen, Schuhe oder gar Lernmaterialien. (37) Daher ist es wichtig, das Markenbewusstsein der Schüler zu entkräften und das Konkurrenzdenken zu beseitigen. (38) Wir sind von der Grundschule bis zur Höheren Mittelschule in Uniformen aufgewachsen. (39) Aber jetzt propagieren einige Schulen die „Individualisierung“, die von der Uniform für die eigene Klasse bis zur völlig freien Kleiderwahl reicht. (40) Lassen wir der Individualität freien Lauf! (41) Gleiche Kleidung, gleiche Schultaschen, selbst gleiche Schuhe zwängen die Schüler ein. (42) Ihnen werden die Kanten abgeschliffen, so dass sie keine Individualität mehr besitzen. (43) Kleidung ist Ausdruck der Individualität, und Individualität bedeutet, dass man sich selbst entspricht (44) [daher] verlange ich nicht nach Marken. T1-02.TXT.chin. (Übersetzung) (0) Jugendliche und Markenprodukte (1) Was sind Markenprodukte? Markenprodukte sind Waren, bei deren Kauf man nur widerstrebend Geld ausgibt, deren Gebrauch aber äußerstes Wohlbehagen bewirkt. (2) Eigentlich repräsentieren Markenprodukte Qualität 6 , (3) aber noch häu ger stellen sie ein Symbol dar. Dieses vermittelt ein subjektives Ehr- und Überlegenheitsgefühl. (4) Daher sind manche Menschen ganz beschwingt, wenn sie Markenkleidung tragen oder Markenprodukte benutzen. (5) Diese über sich selbst hinausreichende Funktion der Markenprodukte besitzt eine nicht zu unterschätzende Kraft. (6) Auf der anderen Seite be nden sich Jugendliche gerade in einem Prozess allmählicher physischer und psychischer Vervollkommnung. (7) Sie reißen ungestüm jede Tür auf, die zur Reife führt und ersehnen sich unablässig die Anerkennung durch die Gesellschaft. (8) Alles, was sie in die Lage versetzt, als Erwachsene zu gelten, wird praktiziert. (9) Wenn nun Jugendliche auf Markenprodukte stoßen, auf Produkte, die ihnen Erfolgserlebnisse ermöglichen, dann begehren sie diese, ohne einen Augenblick lang zu zögern. (10) Die Lage eskaliert, so dass sich die im Text beschriebenen „Schlägereien um Markenpullover“ ereignen können. (11) Oben habe ich mich mit Jugendlichen und Markenprodukten auseinandergesetzt. (12) Unten möchte ich meine Meinung äußern, wie sich Jugendliche gegenüber Markenprodukten verhalten sollten. (13) Dass Jugendliche an Markenprodukten Gefallen nden, ist verständlich. (14) Unbestreitbar erhofft sich jeder von uns ein noch glücklicheres Leben. (15) Jedoch ist die Vorliebe für Markenprodukte nicht identisch mit einem übersteigerten Verlangen nach ihnen. (16) Da jeder Mensch seinen familiären und kulturellen Hintergrund hat, wird das Verlangen nach Markenprodukten in vielen Fällen eingeschränkt. (17) Deshalb können sich nicht alle Menschen Markenprodukte leisten, was jedoch mit „armseligen Wichten“ nicht zu tun hat. (18) Diese [Beschimpfungen verbieten sich] nicht allein deshalb, weil der Besitz von Markenartikeln zum großen Teil von den nanziellen Möglichkeiten der Familie abhängt. (19) Noch wichtiger ist, dass sich unter einer „Marke“ ein unabhängig