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Mit Bezug auf Sprache

Festschrift für Rainer Wimmer

0121
2009
978-3-8233-7470-1
978-3-8233-6470-2
Gunter Narr Verlag 
Wolf-Andreas Liebert
Horst Schwinn

Die Beiträge in der Festschrift für Rainer Wimmer anlässlich seines 65. Geburtstags dokumentieren die Vielschichtigkeit seines sprachwissenschaftlichen Wirkens. Eine große Anzahl der Artikel widmet sich einer seiner zentralen Forschungstätigkeiten, der Sprachkritik. Seine interdisziplinären und anwendungsorientierten Arbeitsfelder sowie seine frühen Arbeiten zu Eigennamen werden durch spezifische Beiträge ebenso gewürdigt, wie in einem Themenblock hervorgehoben wird, dass es »die« Sprache nicht gibt, sondern dass Sprachen nur neben Sprachen, d. h. in einem Miteinander, existieren können. Auf diese Weise entsteht ein Einblick in die wichtigsten Strömungen und Ansätze der zeitgenössischen interpretativen Semantik, zu deren Entwicklung Rainer Wimmer durch sein Schaffen wesentlich beigetragen hat.

Wolf-Andreas Liebert / Horst Schwinn (Hrsg.) Mit Bezug auf Sprache Festschrift für Rainer Wimmer Gunter Narr Verlag Tübingen Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E S T U D I E N Z U R D E U T S C H E N S P R A C H E 4 9 Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Ulrich Hermann Waßner Band 49 Wolf-Andreas Liebert / Horst Schwinn (Hrsg.) Mit Bezug auf Sprache Festschrift für Rainer Wimmer Gunter Narr Verlag Tübingen Redaktion: Franz Josef Berens Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Tröster, Mannheim Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-6470-2 Rainer Wimmer Inhalt Wolf-Andreas Liebert / Horst Schwinn Vorwort ......................................................................................................... 11 Sprache und Person Peter von Polenz Laudatio: Rainer Wimmer - Forschen, Lehren, Anwenden ......................... 15 Bernd Ulrich Biere Wissenschaft - Kunst - Leben. Ein Essay .................................................... 21 Hans Jürgen Heringer Wir zwei alten Kämpfer ................................................................................ 37 Sprache in Situationen Wolfgang Teubert Die Enteignung des Diskurses und der Diskurs der Enteignung .................. 47 Peter Kühn Konfliktstoff Kopftuch: Symbolisierungen im Alltags- und Mediendiskurs........................................................................................ 69 Dietz Bering ‘Intellektuelle’ - ein Grabmal für Unsterbliche? .......................................... 95 Norbert Groeben Argumentationsintegrität als Bollwerk gegen Hass-Sprache...................... 115 Friedrich Müller Methodologische Aspekte der Gerechtigkeit. Ein rechtsphilosophischer Essay................................................................. 133 Walter Grasnick Die Sprache der Konstruktivisten. Oder: So reden wir alle........................ 145 Sprache in der Kritik Ekkehard Felder Linguistische Sprachkritik im Geiste linguistischer Aufklärung ................ 163 Horst Schwinn Das Lexikon der Sprachkritik ..................................................................... 187 Inhalt 8 Ludwig M. Eichinger Vom rechten Deutsch. Wer darf die Sprache kritisieren? ........................... 201 Walther Dieckmann Sachliche Kritik und persönlicher Angriff in Rezensionen. Spielräume im Umgang mit einer kommunikativen Norm......................... 219 Bruno Strecker Richtiges Deutsch? ...................................................................................... 235 Anja Lobenstein-Reichmann Stigma - Semiotik der Diskriminierung ..................................................... 249 Sprache und Stil Barbara Sandig Das getilgte Ich und sein Stil ...................................................................... 273 Ulrich Püschel Referenzfixierungs-Spiele in Goethes „West-östlichem Divan“ ................. 285 Werner Holly Sprachkritik als sozialer Stil. Johannes Gross als Sprachkritiker „von oben herab“ ................................................................ 305 Wolf-Andreas Liebert Metapher und Stil - zwei ineinanderwirkende Momente der Identitätsbildung ................................................................................... 325 Sprache neben Sprachen Hans Bickes Perspektiven der Mehrsprachigkeit............................................................. 335 Nina Berend Vom Sprachinseldialekt zur Migrantensprache. Anmerkungen zum Sprachwandel der Einwanderungsgeneration ..................................... 361 Gerhard Stickel Unvorgreifliche Erwägungen zum heutigen und zum künftigen Deutsch ............................................................................... 381 Elisabeth Kals / Ursula Kals Entwicklung, Ausdruck und Regulierung kindlicher Gefühle ..................... 401 Inhalt 9 Franc Wagner Die Sprachverwendung Jugendlicher zwischen Gemein- und Individualsprache .................................................................. 425 Gerhard Bickes Sprache im hochschulbezogenen fremdsprachlichen Deutschunterricht ........................................................................................ 447 Sprache als Struktur Ulrich Engel Nachdenken über A.c.I.-Konstruktionen .................................................... 471 Dietrich Busse Prädikation durch Wortbildung. Zum Zusammenhang von Wortgrammatik und Satzsemantik .............................................................. 485 Cathrine Fabricius-Hansen Über Eigennamen und nicht kanonische definite Beschreibungen in populärwissenschaftlichen Texten .......................................................... 507 Gisela Zifonun Was lesen wir? Wo gehen wir hin? Zur Grammatik von Werktiteln und Gasthausnamen .................................................................. 519 Sprache in der Öffentlichkeitsarbeit Annette Trabold Sprachwissenschaft und Öffentlichkeit zwischen Wissensvermittlung und Engagement - Betrachtungen aus der Praxis....................................... 539 Birgit-Nicole Krebs Praktische Semantik in der Praxis. Über den Umgang mit Sprache in der Pressestelle eines Fernsehsenders ....................................... 563 Schriftenverzeichnis von Rainer Wimmer .................................................. 575 Wolf-Andreas Liebert / Horst Schwinn Vorwort Die Textsorte Festschrift ist nicht unumstritten, da die darin publizierten Inhalte meist heterogenen Charakter haben und das gemeinsame Band, der rote Faden als Verbindung zum Jubilar manchmal nicht auffindbar ist. Den Herausgebern ist zu Ohren gekommen, dass selbst derjenige, der mit dem vorliegenden Band geehrt werden soll, diese Skepsis teilt. Dennoch war es ihnen ein Bedürfnis, zusammen mit weiteren Schülern und Freunden Rainer Wimmers, ihm zu seinem 65. Geburtstag ein Buch zu widmen, das sich mit Themen befasst, die den Jubilar während seiner bisherigen vielfältigen Forschungstätigkeit beschäftigt haben. Es galt also, einen Band mit unverkennbarem Festschriftcharakter herauszugeben und keinen thematischen Sammelband mit inhaltlichen Vorgaben für die Beiträger. Dazu erschienen uns Person und Werk Rainer Wimmers zu vielschichtig. Die Kategorien, wie sie nun im Inhaltsverzeichnis erscheinen, sind aus der Art der Beiträge gewonnen, die sich alle am Wirken Rainer Wimmers orientieren. Es gibt im ersten Kapitel drei Beiträge, die sich mit der Person Rainer Wimmer beschäftigen. Zunächst hält sein Lehrer Peter von Polenz eine Laudatio auf den zu Ehrenden. Die Beiträge von Bernd Ulrich Biere „Wissenschaft - Kunst - Leben. Ein Essay“ und Hans Jürgen Heringer „Wir zwei alten Kämpfer“ beziehen sich nicht nur auf die Person, sondern setzen sich auch mit der aktuellen Diskussion um Postmoderne und Sprachkritik auseinander. Rainer Wimmers Forschung und Lehre sind gebrauchstheoretisch motiviert, Sprache verstand und versteht er immer als „Sprache in Situationen“. Dazu ging er auch interdisziplinär vor, arbeitete mit Psychologen und vor allem Juristen zusammen. Die Arbeiten in diesem Kapitel zeigen dies: Wolfgang Teubert geht in seinem Beitrag „Die Enteignung des Diskurses und der Diskurs der Enteignung“ auf aktuelle Entwicklungen im Bereich des Copyrights ein, Peter Kühn mit „Konfliktstoff Kopftuch: Symbolisierungen im Alltags- und Mediendiskurs“ auf die brisante „Kopftuchdebatte“ und Dietz Bering diskutiert mit seinem Beitrag „‘Intellektuelle’ - ein Grabmal für Unsterbliche? “ den angeblichen Tod der Intellektuellen. Norbert Groeben stellt mit seinem Artikel „Argumentationsintegrität als Bollwerk gegen Hass-Sprache“ Möglichkeiten und Anschlussfähigkeit einer sprachpsychologisch motivierten Sprachkritik Wolf-Andreas Liebert / Horst Schwinn 12 dar. Auf die interdisziplinären Aspekte im Bereich der Jurisprudenz gehen die Essays von Friedrich Müller „Methodologische Aspekte der Gerechtigkeit“ und Walter Grasnick „Die Sprache der Konstruktivisten. Oder: So reden wir alle“ ein. Ein Schwerpunkt des Werkes Rainer Wimmers liegt in seinen Arbeiten zur Sprachkritik, und sicherlich hätte man die meisten Artikel dieses Sammelbandes auch unter diese Kategorie subsumieren können. Im Kapitel „Sprache in der Kritik“ haben wir allerdings nur diejenigen Beiträge versammelt, die man im engeren Sinne der Sprachkritik zugehörig erachten wird. Hier werfen Ekkehard Felder und Horst Schwinn mit ihren Beiträgen „Linguistische Sprachkritik im Geiste linguistischer Aufklärung“ bzw. „Das Lexikon der Sprachkritik“ grundsätzliche Fragen der Sprachkritik auf und skizzieren mögliche Antworten. Die Arbeiten von Ludwig M. Eichinger „Vom rechten Deutsch. Wer darf die Sprache kritisieren? “, Walther Dieckmann „Sachliche Kritik und persönlicher Angriff in Rezensionen. Spielräume im Umgang mit einer kommuniktiven Norm“ und Bruno Strecker „Richtiges Deutsch? “ fassen Sprachkritik als Sprachnormenkritik. Der Aufsatz von Anja Lobenstein- Reichmann „Stigma - Semiotik der Diskriminierung“ entfaltet eine historische Dimension linguistischer Sprachkritik. Ein Credo Rainer Wimmers war und ist, dass es „die“ Sprache oder „das Deutsche“ nicht gebe, vielmehr müsse man von Individualsprachen und einer „inneren Mehrsprachigkeit“ (einem Begriff Helmut Hennes) ausgehen. Deshalb werden Arbeiten zum Stil und zu Varietäten in seinem Schaffen zentral. In diesen Arbeiten hat Rainer Wimmer immer wieder auf die Erkenntnisse von Barbara Sandig und Ulrich Püschel zurückgegriffen, die das Kapitel „Sprache und Stil“ mit den Aufsätzen „Das getilgte Ich und sein Stil“ bzw. „Referenzfixierungs-Spiele in Goethes ‘West-östlichem Divan’“ eröffnen. Dass es bei der Beschäftigung mit Stil nie im Sinne einer Verordnung eines wie auch immer definierten „guten Stils“ ging, sondern um das Arbeiten an konkreten Beispielen des Sprachgebrauchs, zeigen die Arbeiten von Werner Holly „Sprachkritik als sozialer Stil. Johannes Gross als Sprachkritiker ‘von oben herab’“ und Wolf-Andreas Liebert „Metapher und Stil - zwei ineinanderwirkende Momente der Identitätsbildung“. Wenn es „die“ Sprache nicht gibt, dann stehen „Sprachen neben Sprachen“. Deshalb werden in diesem Kapitel die klassischen Themen wie Mehrsprachigkeit (Hans Bickes „Perspektiven der Mehrsprachigkeit“) und Migrantensprachen (Nina Berend „Vom Sprachinseldialekt zur Migrantensprache. Anmerkungen zum Sprachwandel der Einwanderungsgeneration“) behandelt, Vorwort 13 aber eben auch die innere Mehrsprachigkeit (Gerhard Stickel „Unvorgreifliche Erwägungen zum heutigen und zum künftigen Deutsch“) und die Arbeiten von Elisabeth und Ursula Kals „Entwicklung, Ausdruck und Regulierung kindlicher Gefühle“, Franc Wagner „Die Sprachverwendung Jugendlicher zwischen Gemein- und Individualsprache“ und Gerhard Bickes „Sprache im hochschulbezogenen fremdsprachlichen Deutschunterricht“, die unterschiedlichen Varietäten und Registern gewidmet sind. Die starke Betonung von Individualsprachen und der Mehrsprachigkeit hat bei Rainer Wimmer allerdings nicht zu einer Verwerfung jeglicher sprachstruktureller Arbeit geführt. Wenn man strukturell arbeite, müsse einem bewusst bleiben, dass man daraus letztlich nur hypostasierende Aussagen gewinnen könne. In seinen eigenen Arbeiten hat Rainer Wimmer Wegweisendes, insbesondere im Bereich der Eigennamenforschung, beigetragen, ist aber auch durch verschiedene Arbeiten zur Syntax in Erscheinung getreten. Diesen eher sprachstrukturellen Aspekt behandeln im Kapitel „Sprache als Struktur“ die Arbeiten von Ulrich Engel mit einer klassischen syntaktischen Abhandlung „Nachdenken über A.c.I.-Konstruktionen“ und Dietrich Busse mit seiner Arbeit über „Prädikation durch Wortbildung. Zum Zusammenhang von Wortgrammatik und Satzsemantik“, worin er das Polenz'sche „Zwischenden-Zeilen-Lesen“ auf die Morphologie ausweitet und grundsätzliche Betrachtungen zur Schnittstelle Grammatik - Semantik anstellt. Dass eines der zentralen Themen Rainer Wimmers, Eigennamen, lebendiger denn je ist, zeigen die beiden Arbeiten von Cathrine Fabricius-Hansen „Über Eigennamen und nicht kanonische definite Beschreibungen in populärwissenschaftlichen Texten“ und von Gisela Zifonun „Was lesen wir? Wo gehen wir hin? Zur Grammatik von Werktiteln und Gasthausnamen“. Die Einflüsse des anwendungsorientierten Teils der Forschung und Lehre von Rainer Wimmer sind in den beiden Beiträgen des letzten Kapitels unschwer erkennbar. Annette Trabold und Birgit-Nicole Krebs berichten aus der Praxis der Öffentlichkeitsarbeit zweier wichtiger Institutionen: IDS und ZDF . Das Schriftenverzeichnis Rainer Wimmers bildet den Abschluss der Festschrift. Die Herausgeber Koblenz/ Mannheim, Februar 2009 Peter von Polenz Rainer Wimmer - Forschen, Lehren, Anwenden Die weithin in der deutschen Sprachgermanistik hochgeschätzten Tätigkeiten und Verdienste Rainer Wimmers sind mit den drei für diesen Wissenschaftsbereich bedeutenden Kulturzentren Heidelberg, Mannheim und Trier verbunden. Aus Norddeutschland kommend, wo er am 28. Februar 1944 in Wernigerode geboren wurde und 1962 in Bielefeld das Abitur bestand, zog es ihn südwärts, zunächst für ein Semester in Marburg, dann für eine längere Zeit des Reifens und Wirkens in Heidelberg. Dort studierte er Germanistik und Anglistik, wobei auch ich ihn als einen der interessiertesten, kritisch und konstruktiv mitdenkenden Studenten, Doktoranden und Assistenten zum Staatsexamen (1968) und zur Promotion (1970) auf dem Wege zu einer gesellschaftsbezogenen Sprachgermanistik geleiten durfte. Nach seiner Habilitation (1976) konnte er als Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1978-1982), ab 1984 als außerplanmäßiger Professor an der Universität Heidelberg forschen und lehren und elf Doktoranden zur Promotion, einen bis zur Habilitation fördern, von denen heute drei auf eigenen Professuren lehren. Die Tätigkeit in der Hochschullehre wurde unterbrochen durch seine Ernennung zum Direktor des Instituts für Deutsche Sprache ( IDS ) in Mannheim, zusammen mit Gerhard Stickel. So stand er von 1982 bis 1994 in vielfältigem Einsatz in der Verwaltungsarbeit und wissenschaftlichen Planung des Instituts, einschließlich dessen auswärtiger Beziehungen. In einem dritten Abschnitt seines beruflichen Weges konnte er, seiner stets Wunsch gebliebenen Priorität entsprechend, in den Universitätsdienst zurückkehren durch einen Ruf an die Universität Trier (1994) als Nachfolger nach meiner Emeritierung. So konnte er seine Tätigkeit als Hochschullehrer ebenso erfolgreich wie in Heidelberg fortsetzen, mit erneut großem Zulauf von Studierenden, von denen er bisher fünf bis zur Promotion, zwei bis zur Habilitation fördern konnte. Wimmers Engagement in theoretischen ebenso wie praktisch anwendbaren Themenbereichen entsprach seine aktive Mitarbeit in der akademischen Selbstverwaltung, z.B. als gewählter Vertreter der Assistenten in der Fachgruppenkonferenz, in Internationalen Ferienkursen, im Linguistisch-juristischen Arbeitskreis Heidelberg-Mannheim, in zahlreichen Ämtern und Kommissionen, wobei er sich stets für die argumentative Lösung von Problemen und die Peter von Polenz 16 Förderung von Hochschulreformen eingesetzt hat. Mit seinen Kollegen hat er erfolgreich, kooperativ und konstruktiv zusammengearbeitet. Sein bedeutender Lehrerfolg war vor allem seiner klaren, zum Mitdenken anregenden Formulierungsweise zu verdanken. Seine Lehrveranstaltungen erfreuten sich immer großer Beliebtheit bei den Studierenden, mit zu Diskussion und Projektarbeit anregenden, sehr fairen Lehrmethoden. Als Direktor und im Vorstand des IDS in Mannheim gab Wimmer, neben offiziellen Stellungnahmen - z.B. zum „Verzeichnis grundlegender grammatischer Fachausdrücke“ (1983) * - wirksame inhaltliche Anstöße für die Abteilungsarbeit, vor allem in der Planung einer mehrbändigen IDS -Grammatik und der Projekte „Lehnwortbildung“ und „Ost-West-Wortschatzvergleiche“. Sein Verdienst war auch die Organisation mehrerer IDS -Jahrestagungen und der damit verbundenen Publikation der IDS -Jahrbücher; zur Jahrestagung 1984: „Sprachkultur“; Jahrestagung 1986: „Sprachtheorie. Der Sprachbegriff in Wissenschaft und Alltag“; Jahrestagung 1988: „Wortbildung und Phraseologie“ und Jahrestagung 1990: „Das 19. Jahrhundert. Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch“. In diesen Jahren war „gerade die Ethik des Kommunizierens auch im Zusammenhang öffentlichen Sprachgebrauchs dank Wimmers Bemühungen ein Leitthema der Diskussionen und Orientierungen am IDS “ (briefliche Mitteilung von Gisela Zifonun). Bei der (schon 1985 begonnenen) Kontaktaufnahme des IDS mit dem Zentralinstitut für Sprachwissenschaft an der Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften ( DDR ) ist den beiden IDS -Direktoren Stickel und Wimmer die Aufgabe der Eingliederung von 22 Ost-Berliner Kollegen und Kolleginnen in das Mannheimer IDS „aufs glücklichste gelungen“; ihnen ist „für ihren unermüdlichen und engagierten Einsatz und ihre konstruktiven Vorschläge sehr zu danken“ (Siegfried Grosse, in: Kämper, Heidrun/ Eichinger, Ludwig M. (Hg.) (2007): Sprach-Perspektiven. (= Studien zur Deutschen Sprache 40). Tübingen, S. 50). Dabei war eine strikte Trennung von wissenschaftlichen und politischen Gesichtspunkten zu beachten, um diesen speziellen Wiedervereinigungsakt zum Erfolg zu führen. Wimmers wissenschaftlicher Weg durch viele wichtige, meist auch praxisbezogene Themenbereiche in der Lehre und in Publikationen begann mit Eigennamentheorie und Referenzsemantik und führte über Wissenschaftssprache, Fachterminologie, Rechtssprache zur pragmatischen Semantik, Syntax, Textlinguistik und zu Anwendungsgebieten wie Sprachdidaktik, Sprachnormung und Sprachkritik. In seiner Dissertation über den theoretischen Status der Ei- * Zur Literatur siehe Schriftenverzeichnis von Rainer Wimmer im Anhang. Rainer Wimmer - Forschen, Lehren, Anwenden 17 gennamen im Rahmen des Gesamtwortschatzes einer Sprache (1970) hat er auf diesem Gebiet die neue, pragmatische Semantik erfolgreich angewandt und damit die Namenforschung ebenso wie die Wortsemantik um wesentliche neue Perspektiven bereichert. Aus seiner Habilitationsschrift über Referenzsemantik (1976) ist besonders hervorzuheben seine konsequente Abkehr von der abstrakten, terminologistischen Beschreibungssprache der damals noch vorherrschenden formalistischen Linguistik durch eine systematische Ausnutzung der normalsprachlichen Möglichkeiten von Wissenschaftssprache im Anschluss an die Oxforder Ordinary Language Philosophy und die Sprechakttheorie (Wittgenstein, Austin, Searle, Grice). Über diese philosophischen, nur interindividuelles Handeln voraussetzenden Ansätze hinaus drang Wimmer zu wichtigen theoretischen Problemen und praktischen Verfahrensweisen im Handeln und Handelnkönnen von Gruppen und Institutionen vor. Das Problem der „Referenzfixierung“, d.h. der gruppen- und institutionsspezifischen Festlegung der Wirklichkeitsbezüge von genormten sprachlichen Zeichen, das über Eigennamen hinaus für Terminologiebildung in Wissenschafts- und Fachsprachen sowie für fiktionale Literatur wichtig ist, löste er sprachpragmatisch im Sinne kommunikativer und metakommunikativer Fähigkeiten von Sprachzeichenbenutzern. Damit hat er, entgegen strukturalistischen Theorien, überzeugend dargelegt, dass Gegenstände und Sachverhalte nicht abstrakt und statisch in Zeichensystem-Relationen existieren, sondern im sprachlichen Handeln und in Handlungsdispositionen konstituiert werden. In einer späteren Arbeitsphase, mit dem Ziel einer theoretisch begründeten und praktisch anwendbaren soziopragmatischen Linguistik, hat sich Wimmer seit 1977 in zahlreichen Einzelschriften für Probleme der Sprachkritik und Sprachnormung engagiert. Den in den 1960er-Jahren ergebnislosen Streit über den Stil der üblichen Sprachglossen und das „Wörterbuch des Unmenschen“ hob er, mit kluger Vermeidung von Polemik, auf eine höhere wissenschafts- und publizistikkritische Ebene. Gegen die damals modische strukturale oder generative Linguistik entwickelte er diesen Themenbereich zu einer vielseitigen, praxisnahen „linguistisch begründeten Sprachkritik“ und „Sprachkultivierung“ weiter, mit der mehrmals wiederholten These: „Sprachkritik ist für alle da, nicht nur eine Sache für Experten“. Mit theoretisch-methodenkritischen Begriffsklärungen diskutierte Wimmer immer wieder neu Grundprobleme wie den Unterschied zwischen Regeln und Normen, zwischen universalen und partikulären Begründungen, über Anlässe für Sprachkritik in der alltäglichen, unvermeidlichen Selbstreflexion zwischen Kommunikationspartnern in unserer heutigen konsensgerichteten Peter von Polenz 18 Streitkultur und setzte als Ziel eine „kommunikative Ethik“. Dabei konnte er Begriffe der soziopragmatischen Wort-, Satz- und Textsemantik (unscharfe Nominalisierungen, Zeitperspektiven, Präsuppositionen, Leerformeln, Kommunikationsmaximen usw.) fruchtbar anwenden. Damit hat Wimmer viel Wesentliches und Hilfreiches zur rationalen Differenzierung und praktischen Anwendbarkeit linguistisch begründeter Sprachkritik für Sprachexperten ebenso wie für Publizisten und Sprachfreunde beigetragen. Die von Wimmer so erfolgreich vertretene und bereicherte pragmatischsemantische Richtung der Linguistik führte ihn, im Rahmen einer aus Linguisten und Deutschdidaktikern bestehenden Heidelberg-Tübinger Arbeitsgruppe, konsequent zur Anwendung muttersprachlicher Linguistik in Sprachdidaktik und Curriculumentwicklung, vor allem in der Mitarbeit an der Konzeption von Sprachbüchern in den Schulbuchverlagen Klett und Diesterweg (1975-77). Im Unterschied zu fehlgeschlagenen Versuchen anderer jüngerer Linguisten, die jeweils modischen Richtungen formalistischer Linguistik unbesehen und ohne Rücksicht auf Erfordernisse des Schulunterrichts in die Sprachdidaktik einzuführen, ist er von konkreten Ergebnissen der Lernzieldiskussion ausgegangen und hat Wesentliches zur Entwicklung der Theorie, Methodik und Exemplifizierung des „kommunikativen Unterrichts“ (1978) beigetragen, oft zusammen mit Hans Jürgen Heringer und anderen. Hilfreiche Lösungen theoretisch-methodologischer Probleme fand Wimmer auch im Bereich der Sprachgeschichtsschreibung: Metaphorik (und Hypostasierungen) in der Sprachgeschichtsschreibung (1983) erklärte er als nicht un- oder vorwissenschaftlich, sondern als „Symptome für theoretische Schwierigkeiten mit verschiedenen Begriffen von Sprachwandel: Metaphern seien (in Weiterführung von Rudi Kellers „invisible-hand-Theorie“) eine oft unvermeidliche Kombination aus „intentionalistischer“ (handelnder Mensch als Mittelpunkt) und „kausalistischer“ Erklärung (Sprachwandel als Naturvorgang). Zur Verwendbarkeit von Schlüsselwörtern (1996) für die Sprachgeschichtsschreibung als „sprachliche Schaumkronen auf den Wellen und Wogen der Geschichte“ knüpfte er an der mit dem Begriff „kontroverse Begriffe“ verbundenen neuen Art von Sprachgeschichte von Georg Stötzel und seinen Mitarbeitern und Nachfolgern an: Schlüsselwörter sind „nicht als Einstieg in sprachhistorische Untersuchungen geeignet“, sondern eher „Ergebnis von sprachgeschichtlichen Darstellungen“. Innovativ führte er in einem Handbuchbeitrag über die Textsortenentwicklung des Neuhochdeutschen (1985) vor allem in die subliterarische, bürgerlich berufsorientierte Textsortenvielfalt der letzten vier Jahrhunderte ein. Rainer Wimmer - Forschen, Lehren, Anwenden 19 Von der Vielfalt der Wimmerschen Publikationen ist natürlich nicht alles in thematischen Schubkästchen unterzubringen. So blieben nun nach vollständiger Durchsicht seiner Literaturliste noch allerhand interessante Stichwörter seiner weltoffen aktualisierten Themenwahl zu würdigen: „Die Verdächtigungen gegen den Bürger Traube“ (1978), „Tolkiens Konstruktion fiktionaler Welten“ (1982), „berufsbezogener Deutschunterricht“ (1984), „Frieden in der Sprache und durch die Sprache? “ (1985), „Interkulturelle Germanistik“ (1987), „Interessierte Öffentlichkeit“ (1994), „Political Correctness“ (1997, 1998, 2007), „Schröder/ Blair-Papier“ (1999), „Leitkultur“ (2002), „Sprachreflexion - Spracharbeit“ (2002). Über die sympathische Persönlichkeit Rainer Wimmers stand 1981 in meinem Gutachten für die ganz ‘down under’ gelegene Victoria University of Wellington, Neuseeland, zusammenfassend: “Concerning his individual human qualities, he is a very cooperative, creative, likable young colleague, used to responsible work, highly experienced in team work and debating and very fond of humorous ways in solving difficult communication problems.” Wie Wie gut, dass er damals nicht dahin entschwunden ist! So blieb uns das große Glück, ihn 1994 für die Trierer Germanistik zu gewinnen. Bernd Ulrich Biere Wissenschaft - Kunst - Leben. Ein Essay Der essayistische Beitrag versucht zu zeigen, dass Wissenschaft gerade in einem relevanten Bezug auf Kunst wie auf Leben eher essayistisch als streng argumentativrational ist. Erst recht verweist die „wissenschaftliche“ Analyse von Sprache bzw. von Texten auf den Kunstcharakter dieser Art von Tätigkeit: Es kann nicht mechanisiert werden. - Während Kunst und Leben von Unstetigkeit, von Brüchen und Widersprüchen geprägt ist, scheint sich der Anspruch der Wissenschaft solcher „Irrationalität“ zu widersetzen. Dies findet seinen Ausdruck allerdings weniger in den Forschungsstrategien als in der mehr oder weniger (sprachlich) kohärenten Weise ihrer Darstellung, wie es bereits Paul Feyerabend dargelegt hat. ‚Kohärenz’ ist weder ein Erfordernis des Lebens noch der Kunst, sondern lediglich ein Erfordernis der sprachlichen Darstellung bzw. des verständlichen Redens darüber. Dass selbst diese Annahme ideologischen Charakter hat, versucht der Beitrag nicht ‚nachzuweisen’, sondern in der Art und Weise der Darstellung gewissermaßen selbstreflexiv zu veranschaulichen. Letztlich ist alles Kunst: die Kunst ist Kunst, die Wissenschaft ist Kunst, „Wissenschaftskunst“ (Schlegel), das Leben ist Kunst. Aufhören können - Let it be Können wir irgendwann aufhören: zu denken, zu zweifeln, zu schreiben, zu leben? Oder: Wann wollen wir es? - Wann können wir mit dem Aufhören anfangen? Wann wollen wir es? Was wir nicht wollen: aufhören zu leben (warum suchte sich jemand gerade dieses Wortfeld „Aufhören des Lebens“ aus, um daran die Wortfeldtheorie zu exemplifizieren? ). Müssen wir zurückblicken, um zu sehen, was vor uns liegt? Was müssen wir de-konstruieren, um Platz zu schaffen für neue Konstruktionen? Sozusagen post-professionale, post-professorale Konstruktionen. Was wollen wir da noch konstruieren bei aller Dekonstruktion, die uns im Leben voran gebracht hat? Rückblickend erzählen wir unsere Geschichte. Keine Dekonstruktion meistens, sondern die (verzweifelte? ) Suche nach Kohärenz. Wenn nicht das Leben, so können wenigstens die Texte kohärent sein, die das Leben „beschreiben“ (? ). Nicht die Texte, die das Leben schreibt? Aber schreibt das Leben denn „Texte“? Das Leben schreibt nicht, wir schreiben unser Leben. Wir schreiben es um in Texte unter dem Gebot der Kohärenz. Wir interpretieren Texte unter dem Gebot der Kohärenz. Weil wir sie anders nicht verstehen können? Wohl wissend, dass wir damit nichts über die Kohärenz der Texte aussagen, sondern lediglich etwas über unser Bedürfnis nach Kohärenz. Alles muss irgendwie zusammen- Bernd Ulrich Biere 22 hängen. Brüche lassen wir nicht zu, wir kleistern sie mit Kohärenz-Kitt zu. Es gibt sie nicht, weil unsere Texte kohärent, mindestens kohäsiv sein müssen. Alles klebt aneinander. Wir kleben die Texte immer wieder neu zusammen, weil niemand andauernd Neues, neue, unerwartete Kohärenzen schaffen kann. Wenn wir es könnten, würde niemand es bemerken bzw. verstehen. Wir sind in unserem Kohärenzdenken befangen, so inkohärent wir auch manchmal denken (wenn es uns gerade passt). Da erscheint der Dekonstruktivismus oder Poststrukturalismus wie eine Lektion, die uns lehren könnte, das Inkongruente auch ebenso zu denken. Aber wir können es nicht. Warum nicht? Weil wir nicht den Mut zum Aphoristischen haben? Weil wir Wissenschaftler sind, aber nicht Lichtenberg oder Wittgenstein? Rationalität 1 - So what? Denken wir auch wissenschaftlich, wenn es um lebenspraktische Entscheidungen geht? Oder führt das Denken gar nicht zu solchen Entscheidungen? Es führt uns an (rationale? ) Entscheidungsmöglichkeiten heran, aber es induziert nicht die eine richtige Entscheidung. Die müssen wir „treffen“, so dass sie uns bei Abwägung aller Möglichkeiten als rational erscheint oder als die rationalste, auch wenn Rationalität nicht steigerbar ist. Soweit die Wissenschaft. Wir müssen keine Bilder malen (freilich tun wir es manchmal doch, wenn nicht mit dem Pinsel, so mit Worten), um kreativ zu sein. Gleichwohl gilt die (Bildende, auch die Darstellende) Kunst als Inbegriff des Kreativen. Aber auch bei unseren wissenschaftlichen Aktivitäten konnten und können wir kreativ sein, beim „Er-finden“ einer Hypothese oder einer Deutung. Nur: Sobald wir darüber reden oder schreiben, beugen wir uns wieder dem Kohärenzgebot (für Texte). Alles kommt schön der Reihe nach, logisch miteinander verknüpft, das Eine aus dem Anderen herleitbar, wenn nicht deduzierbar. Nix mit „anything goes“ (Feyerabend 1986). Alles geht, aber eben nicht in seiner anything goes“ (Feyerabend 1986). Alles geht, aber eben nicht in seiner “ (Feyerabend 1986). Alles geht, aber eben nicht in seiner sprachlichen Darstellung. Alles ist ausdrückbar, aber das Gefühl ist unaussprechbar. Da hilft uns auch kein „Lexikon der Gefühlsausdrücke“, ein letztlich gescheitertes Projekt. Was hilft uns dann? Eine Theorie der kommunikativen Kompetenz? Ja, das Erstaunliche ist, dass wir das alles können, aber wie es funktioniert, wissen wir nicht, wir können es weder lexikografisch noch syntaktisch-semantisch erfassen: das Leben. Nicht einmal das sprachlichkommunikative. Wir reden und reden, wir schreiben und schreiben, kommunikativ oder heuristisch - und wir begreifen es nicht, das Leben. Aber auch die Kunst stellt, wie die Wissenschaft, permanent diesen unsäglichen Anspruch, etwas zu begreifen (pardon, die Wissenschaft soll es ja erklären, aber dann hat Wissenschaft - Kunst - Leben. Ein Essay 23 sie meistens nicht viel begriffen). Nur die Medien der Vermittlung dessen, was wir glauben begriffen zu haben, sind andere: die Sprache und die vielfältigen Vermittlungsmöglichkeiten der Kunst, die uns beständig etwas sagen wollen, nur wissen wir nicht, was. Und wir wissen auch nicht, was uns jemand mit (manchmal allzu vielen) Worten sagen will. Wir schreiben (interpretierende) Texte über Texte, die das, was uns jemand sagen will, anders auszudrücken versuchen, eben so, wie wir es selbst verstehen und wie wir andere glauben machen möchten, es verstehen zu müssen. Aber zwingen können wir niemanden, unser Verständnis zu teilen. Wir versuchen, es mehr oder weniger argumentativ plausibel zu machen, aber zwingen können uns selbst Argumente nicht. Vielleicht könnte die Logik uns zwingen, aber nicht einmal sie kann es, weil wir faktisch immer befangen sind. Soweit, dass wir weder Argumenten zugänglich sind, noch die Regeln logischen Schließens uns überzeugen können. Wenn wir es nicht wollen. Weil unser Interesse, etwas anders sehen zu wollen, stärker ist als Logik und Argumentation. Aber, oh je, das kann doch nicht Wissenschaft sein? Ist es dann Kunst? Vielleicht ist ja Wissenschaft mehr Kunst, als wir zu glauben geneigt sind. Wissenschaft ist Kunst! Aber ist dann umgekehrt Kunst auch Wissenschaft? Das sind wir (als Wissenschaftler) nicht geneigt zu glauben. Erkenntnis - ist Kunst genauso wie Wissenschaft ein Weg dazu? Was erkennen wir, wenn wir ein Werk der Bildenden Kunst betrachten, was erkennen wir, wenn wir ein wissenschaftliches Werk lesen? Lesen - ist es das? Lesen wir Kunstwerke wie literarische Werke oder gar wie Fachliteratur? Lesen wir sie überhaupt? Ist Lesen „Dechiffrieren“? Oder wie es in didaktischen Kontexten immer so schön heißt: „Sinn-Entnahme“? Und wenn nicht das, dann können - wie oft lese ich das in studentischen Hausarbeiten - die Kinder ihrer Phantasie „freien Lauf lassen“. Ja, das ist die Alternative zur Sinnentnahme, die Alternative zur Gefäß-Metapher: Der Autor tut etwas hinein und der Leser nimmt es wieder heraus. Der Autor verpackt es in Sprache und der Leser dechiffriert es. In was? Doch wohl auch in Sprache. - Und dann zitiert einer Paul Watzlawick: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Wie schön - ein Axiom sei das, aber frag mich nicht, was ein Axiom ist. Und ich sitze hier den ganzen Tag und schreibe und denke, aber ich kommuniziere nicht. Wir haben das von Anfang an nicht geglaubt und dann waren wir doch immer wieder „total überkommuniziert“ - wollten entspannen, uns ausruhen und haben eine Runde mit dem Riesenrad gedreht, das noch nicht sicherheitstechnisch abgenommen war. Wissenschaftlicher Zweifel hat uns da nicht geplagt. Wir haben es gewagt und die Sicherheitstechnik war uns egal, weil du es einfach wolltest. Nicht Wissenschaft, nicht Kunst: Leben. Das Unberechenbare, Wilde, Gewagte, das Jetzt oder Nie. Wir haben es überlebt. Das Verrück- Bernd Ulrich Biere 24 te - und in dieser Verrücktheit, waren wir da nicht ganz Wissenschaftler? Natürlich: das Unverstandene verstehen zu wollen, ist schon verrückt. Aber dann, egal, was wir erleben, wir disziplinieren die Verrücktheit sprachlich, schaffen Kohärenz - und das Riesenrad dreht sich weiter, jetzt mit dem sicherheitstechnischen Zertifikat, das wir uns qua sprachlicher Kohärenz nachträglich verschaffen. Rationalität 2 - But I won't do that Ein Problembereich, aphoristisch umrissen? Wissenschaft - Kunst - Leben? Manchen interessiert Ersteres mehr als das Zweite oder als Letzteres. Aber Leben ist nicht das Letzte, sondern das Erste. Und doch klingt es manchmal, wenn Kollegen in den Ruhestand gehen, anders. Sie hätten nur für die Wissenschaft gelebt (oder für die Kunst), sagen sie dann. Aber die können sie ja solange betreiben wie sie wollen, etwas schlechter (aber auch nicht schlecht) bezahlt freilich. Was werden wir vermissen? Vielleicht nicht die Wissenschaft an sich, aber den lebendigen Austausch der Meinungen und Überzeugungen, die kommunikative Dimension also. Auch die Kommunikation mit den Studierenden? Waren die uns nicht eher lästig (nein, nein, niemals! ) - und jetzt vermissen wir sie? An welchen Ansprüchen (oder Normen) haben wir sie, haben sie uns gemessen. Wir wollten nicht normativ denken, aber letztlich denken wir wohl immer noch normativ: „Normen? Ja - aber meine! “, wie es Hans Jürgen Heringer (1980) provokant formulierte. Ist das ein kategorischer Imperativ? Aber müssen wir dann nicht auch fragen, welche Normen für andere, auch für andere in anderen Kulturen, die richtigen (oder die geeigneten) sind? Und was heißt dann noch richtig? Richtig, gemessen an dem Maßstab, an der Bezugsnorm, an der sie sich selbst messen lassen wollen. Was ist unsere Bezugsnorm? Die der Wissenschaftlichkeit? Was ist Wissenschaftlichkeit? Intersubjektive Überprüfbarkeit? Ist Kunst auch intersubjektiv? Ist es das Leben? - Das Leben ist subjektiv, die Kunst ist subjektiv, und die scheinbar objektive Wissenschaft ist es auch. Was uns wirklich interessiert, ist das Leben, und so nutzen wir Wissenschaft und Kunst, um das Leben zu verstehen - und als Wissenschaftler, zumal als Sprachwissenschaftler, fragen wir natürlich weiter, was es heißt, „das Leben verstehen“, gerade so wie Peter Winch (1975) fragte, was es heißt, „eine primitive Gesellschaft zu verstehen“. Und wir fragen noch weiter: Was heißt ‘primitiv’? Das wirkliche Thema ist die Gewaltlosigkeit. Ist das nicht der Inbegriff von Rationalität, Konflikte gewaltlos zu lösen? Das habe ich geglaubt, als ich nach einer Theorie der (verbalen) Konfliktbewältigung und ihrer Genese unter Kindern suchte (Biere 1978). Konflikte gewalt- Wissenschaft - Kunst - Leben. Ein Essay 25 los - rational - lösen zu können, ist das nicht der Fortschritt, den wir in der Europäischen Union gemacht zu haben glauben? Haben wir ihn nicht wirklich gemacht, während in anderen, gar nicht so fernen Ländern Kriege wüten? Genauer: Wer oder was wütet da? Ist das eine linguistische Frage? War es für Chomsky eine linguistische Frage, sich gegen den Vietnam-Krieg zu engagieren? Er tat es, und es war ihm wohl egal, ob das eine linguistische Frage war (jedenfalls keine transformationsgrammatische). Und wenn es eng wurde, konnte man wenigstens versuchen zu sagen, auch Chomsky habe ... Wie viel haben wir getan, ohne es wissenschaftlich, gleichwohl mit Rationalitätsansprüchen, begründen zu können? Die Begründung des Krieges war auch nicht rational. Wir schlugen den Gegner mit seinen eigenen irrationalen Waffen. Aber gewonnen haben wir trotzdem nicht. Oder doch (ein bisschen)? Wie denn nun? - I did it my way Gewinnen - oder gar „siegen“? In welcher Art von Kampf (oder Krampf)? Wenn wir nicht den Tod besiegen können, dann vielleicht das Leben? Nein, auch das nicht. Wir wollen siegen in einem Kampf, der im Leben spielt, aber nicht das Leben ist. In der Professionalität der Wissenschaft. Kein Krieg der Sterne oder Kampf der Welten, da halten wir uns raus - siegen im Kampf der Theorien, im argumentativen Kampf gegen die falschen Theorien und die, die sie vertreten. Wir greifen sie an, zeigen ihnen ihre falschen Ausgangspunkte und Grundannahmen auf, ihre Fehlschlüsse - aber es hilft nicht, die Theorien ändern sich nur selten, ihre Vertreter sind nicht in unserem Sinn einsichtig, geben nicht klein bei, so dass uns nur die permanente Selbstbestätigung bleibt, wie gut wir sind: als Gruppenritual. So bleibt die Wissenschaft subjektiv wie die Kunst und die vermeintlich objektiven Zwänge, denen wir uns doch manchmal mit List entziehen können, - freilich nur manchmal - werden dadurch nicht weniger objektiv, dass wir uns ihnen entziehen. Wie dünn ist das Eis eigentlich, auf dem wir uns als Wissenschaftler (und Lebens- Künstler) bewegen? Was können wir leisten, ohne einzubrechen? Vielleicht geht es ja gar nicht darum zu gewinnen, sondern darum zu (über)leben? Also nicht einzubrechen, sondern das Eis als Tanzfläche zu nutzen, solange es geht? Ja, tanzen wir - und wenn wir dazu einen Tanzkurs zu benötigen glauben, dann machen wir ihn jetzt. Das ist freilich normativ gedacht. Die Schritte zu lernen, die der Norm der Standardtänze entsprechen. Aber wir konnten und können auch anders: Wir erfinden unsere Schritte, ohne sie zur Norm erheben zu müssen. Wir erfinden sie nur für uns. Normen ja, aber meine, d.h. Normen, Bernd Ulrich Biere 26 an die ich mich zu halten beabsichtige, ohne zu postulieren, dass sich irgendjemand außer mir daran halten müsste. Aber sind Normen Privatsache? Erheben sie keinerlei Anspruch, auch für (alle) anderen gelten zu sollen? Als Normen müssten sie das wohl. Oder gibt es individuelle Normen? Nein, aber meinte „Normen? Ja - aber meine! “ nicht genau dies: Wenn jeder seinen eigenen Normen folgt, wird der Allgemeingültigkeitsanspruch ad absurdum geführt und jeder lebt so, wie und mit wem er es für richtig, d.h. für sich selbst für gut hält. Und damit landen wir dort, wo wir landen möchten, bei uns selbst - mitten im Leben. Wenn ich da endlich angekommen bin, interessieren mich keine Wissenschaftlichkeitsansprüche mehr - alles ist gut. („Alles wird besser - Nichts wird gut“; Mauerrest-Aufschrift, Berlin). Versöhnt sich das Leben endlich mit der Wissenschaft (und mit sich selbst) oder verweist es alle Wissenschaftlichkeitsansprüche in die Sphäre hypothetischer Wahrheiten, während wir im wirklichen Leben Wahrheiten woanders finden als in den fadenscheinigen Ergebnissen wissenschaftlicher Disputationen? Das ist inkommensurabel! Verstehen ist Kunst - Don't let me be misunderstood Was wir alles zu verstehen versucht haben, was wir alles nicht verstanden haben. Verstehen verstehen. Hier heißt die Alternative nicht Wissenschaft oder Kunst, sondern Technik oder Kunst, keine mechanische Anwendung einer Regel, die die Auskunft über die Bedingungen ihrer Anwendung beharrlich verweigert. Keine Rede von Deduzierbarkeit; abduktives Schließen löst die Unterscheidung von Deduktion und Induktion in ihrer Gleichzeitigkeit im Vollzug auf. Verstehen - wie auch immer - hat Schlusscharakter, wie sich in permanenter Semiose, im Zeichenvollzug, das sprachliche Zeichen jeglicher außersprachlicher Verweisstrukturen entzieht und sich selbst hervorbringt. Kann man da noch pragmatisch denken? Pragmatik ohne Zeichenbenutzer? Oder mit Zeichenbenutzern, die sich und die Zeichen nicht mehr verstehen, nie verstanden haben, denen sich die Zeichen stets semiologisch „entziehen“ anstatt sich zu „offenbaren“. Entzugserscheinungen. Wer eine verstehensorientierte linguistische Analyse, beispielsweise von Gesprächen, in Angriff nehmen will, kann sein Verständnis nicht einfach aus einer Gesetzeshypothese deduzieren. Er bedient sich Formen des abduktiven Schließens, das, wenn es auch zirkulär erscheint, das einzige Schlussverfahren ist, etwas Neues einzuführen: Abduction is the process of forming an explanatory hypothesis. It is the only logical operation which introduces any new idea; for induction does nothing but determine a value, and deduction merely evolves the necessary conse- Wissenschaft - Kunst - Leben. Ein Essay 27 quences of a pure hypothesis. Deduction proves that something must be; Induction shows that something actually is operative; Abduction merely suggests that something may be. (Peirce 1965, 5.171) Die Abduktion ist eine Art Verstehenshypothese, die genau in dem Sinn zirkulär ist, in dem wir vom „hermeneutischen Zirkel“ sprechen. Für Sisyphos scheint es einmal mehr keinen Ausweg zu geben. Aber vielleicht eine Art Ausbruch. Am Anfang (eines Textes) bedarf es schlicht jener Art von Kühnheit, die vielleicht das verbindende Moment zwischen Wissenschaft, Kunst und Leben sein könnte: Es bedarf einer Entscheidung, etwas so und nicht anders sehen zu wollen (begründen können wir es später); es bedarf jenes „kühnen Entwurfs“, der nach Schleiermacher das „divinatorische“ Moment jedes Verstehens kennzeichnet: Um zu verstehen, was das, was uns als Einzelnes erscheint, als Teil eines Ganzen bedeuten könnte, das wir aber noch nicht kennen, müssen wir dieses Ganze gewissermaßen erahnen, hypothetisch antizipieren, konstruieren. Auch im Kontext des Divinationsbegriffs bilden wir also die Regelhypothese im gleichen Moment, in dem wir eine Äußerung, eine Textstelle (als Fall dieser Regel) unter sie subsumieren. Abduktion und Divination reflektieren das gleiche Problem, und auch Peirce mag dies geahnt haben, wenn er den Begriff der Abduktion als „divining“ und als „guesses“ umschrieb (Peirce 1965, 5.173). Wenn wir diesen divinatorischen Aspekt des Verstehens, letztlich „Urteilskraft“ im Kantschen Sinne, in Rechnung stellen, sehen wir, dass weder das (Er)finden der Regel, jener „kühne Entwurf“, noch die Anwendung der Regel auf den Fall eine schlichte Technik sein kann. Es ist, wie sich unter Bezug auf Schleiermacher zeigen lässt, Kunst. - So wird der Begriff der Kunst heimisch in einem genuin wissenschaftlichen Kontext, in Theologie und Hermeneutik, freilich romantisch gedeutet, also in einem Kontext, der nicht nur zur Aufhebung der Gattungsgrenzen in der Literatur, sondern gleichermaßen zur Aufhebung der Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst tendiert, der Kunst zu Leben und Leben zu Kunst stilisiert. Das Kind als kleiner Künstler oder der deutsche Aufsatz als „verkappter Schundliterat“ (Jensen/ Lamszus 1910)? Wenn Leben Kunst ist, sind dann die Künstler nur noch Lebenskünstler? Manchmal scheint es so; auch, dass sie es mehr sind als die Wissenschaftler. Aber sie inszenieren ihr Kunst-Leben nur öffentlichkeitswirksamer als die Wissenschaftler, die (zum Glück? ) nicht von solchen Inszenierungen leben müssen, wiewohl von anderen, die letzten Endes nur anders, aber um keinen Deut besser sind. Romantische Hermeneutik oder Aufklärungshermeneutik? Konstruktivismus oder Dekonstruktivismus - Anknüpfungspunkte für eine verstehende Sprachwissenschaft bzw. für eine Sprachwissenschaft als Verstehenswissenschaft? Bernd Ulrich Biere 28 Wenn das schwer zu verstehen ist, so sind es - wenn wir uns auf dieAufklärungshermeneutik einlassen - doch nur kleine Störungen, die wir leicht beseitigen können, weil identisches Verstehen prinzipiell möglich sein muss, damit wir weder an unserem eigenen Verstand, noch an dem anderer (ver)zweifeln (wiewohl wir letzteres ganz gern getan haben, ohne an der Aufklärung zu verzweifeln). Ganz Didaktiker (Aufklärer! ), will Chladenius diejenigen Leser, denen die zum „wahren Verstand“ einzelner Stellen notwendigen „Begriffe“ fehlen, zum „wahren Verstand“ führen, indem er ihnen nachträglich das notwendige (enzyklopädische) Wissen, also z.B. historisches Wissen, vermittelt, das ein Autor allgemein (im Fall einzelner Leser aber fälschlicherweise) vorausgesetzt hat, damit man eine Stelle richtig verstehen kann. Fehlt dieses Wissen, tritt der Ausleger auf den Plan: Er bringt den betreffenden Lesern die fehlenden Begriffe, das erforderliche Sachwissen also, bei und führt sie damit zum „wahren Verstand“ dieser Stellen. Das Auslegen ist somit eine genuin didaktische, am jeweiligen Wissen bzw. Nicht-Wissen des Lesers (Schülers! ) orientierte Aufgabe der Vermittlung von Wissen, was nicht zuletzt zur Konsequenz hat, dass man sich „bey der Auslegung nach der Einsicht des Schülers richten, und nach dessen seiner Unwissenheit bald diese bald jene Auslegung gebrauchen“ muss (Chladenius 1742 [1969], § 182). Adressatenorientierung wäre also vielleicht nicht primär die Aufgabe des Autors, sondern des Auslegers oder der Informatiker, die im Konzept der sliced books nach Möglichkeiten der adressatenspezifischen Vervielfältigung von Wissen durch die Adressaten selbst suchen. Produktion und Rezeption sind ebenso wenig unterscheidbar wie Autor und Rezipient. Eins zu null für Foucault. Aufklärungs-Optimismus, den die romantische Hermeneutik eines Friedrich Schleiermachers nicht mehr zu teilen vermochte. Die Aufgabe der Hermeneutik ist eine doppelte: positiv zum Verstehen anzuleiten, dies aber in der „Analysis des Verstehens“ zugleich als eine unendliche Aufgabe zu erweisen. Als solche unendliche Aufgabe ist das Verstehen weder beschränkt auf Schrift, noch auf kunstmäßige Rede, erst recht nicht auf einzelne Stellen. Verstehen ist universal. Und es hat den Charakter einer Kunst, weil es trotz positiver hermeneutischer Regeln, die gegeben werden können, eben nicht auf Technik reduzierbar ist, aus dem schlichten Grund, den nicht erst Wittgenstein (1967, S. 57), sondern bereits Schleiermacher nennt, dass nämlich „mit den Regeln nicht auch die Anwendung gegeben ist, d.i. nicht mechanisiert werden kann“ (Schleiermacher 1838 [1977], S. 81). Gerade in dem Maße, in dem sich Verstehen hier der aufklärerischen Idee prinzipiell möglicher identischer Konstruktion entzieht, wird es tendenziell Wissenschaft - Kunst - Leben. Ein Essay 29 „konstruktiv“. Wären dann kognitivistisch-konstruktivistische Theorieansätze vielleicht nur eine (freilich in einer anderen Tradition begründete und dementsprechend anders akzentuierte) Spielart der Hermeneutik? Solange Begriffe wie repräsentieren und abbilden Grundbegriffe einer (orthodoxen) Kognitionswissenschaft darstellen, darf man durchaus Zweifel hegen, ob die „Vorstellung einer starren Beziehung zwischen Text und Bedeutung“ (Engelkamp 1984, S. 32) wirklich aufgegeben worden ist. Zumindest die orthodoxe Kognitionswissenschaft ist von ihren Denkmustern her zunächst einmal repräsentationistisch. Erst im Rahmen holistischer Konzeptionen wird Verstehen als „ganzheitlicher mentaler Konstruktionsakt“ (Schnotz 1985, S. 16) gesehen. Und erst aus konstruktivistischer Perspektive kann beispielsweise Varela (1993) vorschlagen, Kommunikation nicht mehr als „Übertragung von Information vom Sender zum Empfänger“ zu begreifen, sondern „als wechselweise Gestaltung und Formung einer gemeinsamen Welt durch gemeinsames Handeln“: Somit ist das „Netzwerk von Sprechakten [...] kein Werkzeug der Kommunikation, sondern das Netzwerk, durch welches wir uns als Individuen selbst definieren“ (ebd., S. 113). Dementsprechend weist auch Schmidt (1994) die „alltagshermeneutische“ Vorstellung zurück, „Verstehen sei Bedeutungsentnahme aus einem Text (bzw. anderen Medienangeboten), und der bedeutungstragende Text determiniere den Verstehensvorgang“ (ebd., S. 123). Damit erscheint die Vorstellung einer (quasi authentischen) Rekonstruktion der Autorintention auf der Basis einer vermeintlich objektiven Textbedeutung (siehe Hirsch 1972) aus konstruktivistischer Sicht ebenso inadäquat wie aus radikal-hermeneutischer. Die poststrukturalistische oder dekonstruktivistische Perspektive schließlich geht noch einen Schritt weiter. Sie sucht keine Ausgleichung mehr zwischen Individuellem und Allgemeinem, zwischen Differenz und Identität, sondern setzt die Differenz primär, wenn nicht absolut, indem sie in der Qualifizierung jedes Verstehens als Missverstehen die Möglichkeit (richtigen) Verstehens grundsätzlich in Frage stellt. Verstehen heißt anders verstehen. Eine vergleichbare Konsequenz hatte allerdings bereits Schleiermacher gezogen, als er im Gegensatz zur Aufklärungshermeneutik das Missverstehen als den Regelfall und das Verstehen als ein immer neu zu suchendes, immer nur approximativ zu erreichendes betrachtete. Mit der Unterscheidung einer „laxeren Praxis in der Kunst“ und einer „strengere[n] Praxis“ (Schleiermacher 1838 [1977], S. 92) gesteht er jedoch immerhin zu, dass es im alltäglichen Verstehen, in der so genannten „laxeren Praxis“, ein vormethodisch gewisses, d.h. ein seiner selbst sicheres Verständnis gibt (und wohl auch geben muss). Die „strengere Bernd Ulrich Biere 30 Praxis“ allerdings kann sich nicht mehr damit zufrieden geben, Missverstand zu vermeiden, sie muss vielmehr davon ausgehen, „daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden“ (ebd.). Der Unterschied zwischen diesen beiden Praktiken ist darauf zurück zu führen, dass die „laxere Praxis“ von der „Identität der Sprache und der Kombinationsweise in Redenden und Hörenden“ ausgeht, während die „strengere Praxis“ „von der Differenz der Sprache und der Kombinationsweise aus(geht)“ (Schleiermacher 1838 [1977], S. 92). Aber auch das Ausgehen von der Differenz „[muss] auf der Identität ruhen [...]“, auch wenn diese nur „das Geringere“ ist. Genau dies - dass die Identität „nur das Geringere ist“ - entgeht der „kunstlosen Praxis“ (ebd.). Eine grundsätzliche „Kritik des identifizierenden Denkens“ ist dies jedoch nicht. Schleiermachers Denken zielt durchaus auf das Identische ab, wenn es auch nicht mehr unproblematisch vorausgesetzt wird, wie noch in der Aufklärungshermeneutik. Dagegen zielt das Denken der Differenz „auf das Verschiedene“ ab, das „nicht zurück[zu]führen [ist] auf dasselbe und das Gleichartige“, wie Kimmerle (1992, S. 15) mit Bezug auf Adornos „Negative Dialektik“ (siehe Adorno 1982, S. 16-18, S. 34f.) hervorhebt. Wenn das begriffliche Denken „von sich aus identifizierend“ ist, so „[muss] das Besondere, Nicht-Identische [...] durch die Raster dieses Denkens fallen“ (Kimmerle 1992, S. 16). Adornos Versuch, das identitätsphilosophische Denken zu überwinden, gibt sich freilich dialektisch in dem weiterhin als Philosophie gedachten Versuch, „durch den Begriff über den Begriff hinauszugelangen“ (Adorno 1982, S. 27). Erst Derrida ist nicht mehr - so Kimmerle - „bereit, die traditionelle Begrifflichkeit als etwas Unentrinnbares hinzunehmen“ (Kimmerle 1992, S. 17). Ohne die abstraktive Ebene des Begriffs scheint allerdings keine Philosophie mehr möglich, auch keine der Differenz. So kann es nur noch eine Praxis des differenten Denkens geben, eine Praxis der dekonstruktiven Arbeit mit und an Texten. Ist diese Praxis aber im Ergebnis etwas anderes als eine hermeneutische? Macht Derrida denn z.B. in seiner Rousseau-Interpretation unter der Leitfrage „Was sagt Rousseau, ohne es zu sagen? “ (1983, S. 371) etwas anderes als Schleiermacher, wenn dieser die Aufgabe des „objektive[n] und subjektiven Nachkonstruieren[s] der gegebenen Rede“ (Schleiermacher 1838 [1977], S. 93) als die Aufgabe beschreibt, „die Rede erst ebenso gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber“ (ebd., S. 94)? Auch wenn Derridas Ziel nicht mehr ein „Verstehen im Sinne einer Verschmelzung der Horizonte, sondern das Herausarbeiten der Unterschiede [ist], die nicht erneut in eine Einheit zu- Wissenschaft - Kunst - Leben. Ein Essay 31 sammengenommen werden“ (Kimmerle 1992, S. 52), so sind diese Unterschiede doch nur „Differenzen“ im Hinblick auf etwas identisch Gesetztes, selbst wenn dies „nur“ ein differenzielles System ist, in dem alles (negativ bestimmt) seinen „Wert“, seinen Platz im „Spiel der Differenzen“ hat. Aber auch dies ist eben doch ein bestimmbarer Platz, weil in der Sprache - so scheint Schleiermacher bereits de Saussure zu antizipieren - „jedes Element auf eine besondere Weise bestimmbar ist durch die übrigen“ (Schleiermacher 1838 [1977], S. 80). Dies muss Sprachwandel keineswegs ausschließen. Was konstant bleibt, ist lediglich das, was von den Kommunikationspartnern und/ oder vom Beobachter jeweils als identisch gesetzt, also konstant gehalten wird wie z.B. jene kontrafaktische Voraussetzung „intersubjektiv identischer Bedeutungszuschreibungen“ (Habermas 1988, S. 233). Was Habermas hier benennt, ist bei Schleiermacher (in der „Dialektik“) bereits präsent als die idealisierende Unterstellung „eines (wie immer unerreichbaren) Wissens-Ideals“, ohne die es ebensowenig eine „Gewähr für die Intersubjektivität der jeweils diskursiv erzielten Übereinkünfte“ gäbe, wie für die Identität eines Gegenstandes mit sich selbst. Damit wir zumindest glauben zu wissen, wovon wir reden und wovon unsere Partner reden, muss freilich die „Selbigkeit des Gegenstandes, dem divergierende Prädikate zugesprochen werden“ (Frank 1990, S. 11) schon gemeinschaftlich unterstellt werden. Identität muss also in Hermeneutik wie Dialektik in einem je spezifischen Sinn „voraus-gesetzt“, damit aber auch „gesetzt“ werden: einmal im habermasschen Sinn als „intersubjektiv identische Bedeutungszuschreibungen“ (Habermas 1988, S. 233) und dann im schleiermacherschen Sinn als eine gemeinschaftliche Vorstellung von einem „Ding als Einheit“, das wir gleichwohl von unterschiedlichen Standpunkten betrachten können, ohne dass dies seine Einheit in Frage stellt. Im Gegenteil: Die verschiedenen Perspektiven sind geradezu konstitutiv für die Einheit eines Dinges, denn wenn kein Ding als Einheit anders als in der Totalität seiner Relationen zu verstehen ist, diese sich aber anders gestalten müssen, je nachdem die Position des Menschen gegen die Natur eine andere ist, so müssen auf entgegengesetzten Punkten auch verschiedene Systeme der Erkenntnis stattfinden. (Schleiermacher 1812/ 13, S. 383) In diesem Sinn lässt sich Differenz als eine aus der jeweiligen Perspektive auf den (mit sich selbst) identischen Gegenstand resultierende begreifen, auch wenn diesem in „verschiedene[n] Systeme[n] der Erkenntnis“ (ebd.) divergierende Prädikate zugesprochen werden. Bernd Ulrich Biere 32 Die Einheit des zu verstehenden oder auszulegenden Gegenstandes, seine Identität, erscheint also in irgendeinem Sinn immer konstruiert. Entweder vom Beobachter oder von den Beobachteten im Feld selbst. Dabei müssen diese „Konstruktionen“ nicht wirklich identisch sein: Es sind idealisierende, kommunikativ notwendige wechselseitige Unterstellungen, tentative Sinn- Konstrukte, die gleichwohl aus unterschiedlichen Deutungsperspektiven gewonnen worden sein können. Diese Einsicht vermittelt uns allerdings nicht erst eine konstruktivistische oder dekonstruktivistische Perspektive auf das Verstehen, sie ist vielmehr bereits angelegt in hermeneutischen Denkweisen, die ich unter dem Begriff einer „radikalen Hermeneutik“ zusammenfasse. Eine solche radikal-hermeneutische Position finden wir noch nicht in der Aufklärungshermeneutik, obwohl gerade Chladenius in seiner Geschichtstheorie den Begriff der Perspektive wohl das erste Mal auf die Wahrnehmung und Deutung historischer Ereignisse bezieht, deren Einheit oder Identität nunmehr, wie ich zu argumentieren versucht habe, in der Vielfalt differenter Perspektiven auf diese Ereignisse immer wieder neu konstruiert werden muss. In der Hermeneutik Schleiermachers dagegen lässt sich eine radikal-hermeneutische Idee des Verstehens finden, die einen großen Teil dessen vorwegnimmt, was konstruktivistisch oder kognitivistisch als Konstruktion mentaler Modelle vorgestellt wird. Hermeneutisch fließt diese Vorstellung im Begriff jenes „kühnen Entwurfs“ zusammen, mit dem das Verstehen seinen divinatorischen Anfang nimmt (s.o.). Ein Entwurf, der ein Ganzes vorwegnehmen muss, um die sukzessiv zu verstehenden Teile auf eine Idee projizieren zu können, von der aus diese Teile einen möglichen Sinn als Teile eines hypostasierten Ganzen erhalten - und sei dieses Ganze nur ein einzelner Satz. Was ist dies anderes als die Vorstellung einer ständigen Wechselwirkung von Top- Down- und Bottom-Up-Prozessen? Unendlichkeit und Approximativität des Verstehens lassen es zu einer ständigen Probe werden, wie weit sich ein Verständnis als kommunikativ tragfähig erweist. Und was wir da immer wieder auf die Probe (und damit auch zur Disposition) stellen, sind eben unsere „Konstruktionen“ eines Sinns, der in der Materialität des Textes als Möglichkeit aufgehoben scheint. Konstruktionen also eines virtuellen Sinns, den wir nicht schlicht dechiffrieren im Sinne der gerade in didaktischen Kontexten gängigen Vorstellung einer Sinn-Entnahme, sondern den wir immer wieder neu konstruieren. Eine Zeit lang mögen solche Sinn-Konstruktionen durchaus als identisch wahrgenommen werden, solange wir uns in einem gemeinsamen Wissenschaft - Kunst - Leben. Ein Essay 33 Diskurs zu bewegen glauben bzw. uns und andere dies glauben machen wollen. Radikal hermeneutisch ist das Verstehen unabgeschlossen, nicht abschließbar, also konstruktiv. Und so lässt sich Friedrich Schleiermacher auch in der Dialektik-Vorlesung von 1822 einmal mehr konstruktivistisch bzw. „radikal hermeneutisch“ lesen: Alle Mitteilung über äußere Gegenstände ist ein beständiges Fortsetzen der Probe, ob alle Menschen ihre Vorstellungen identisch konstruieren. (Schleiermacher 1942, S. 460) Im Kontext des UnendlichkeitsundApproximativitätstopos, im „beständige[n] Fortsetzen der Probe“, bleibt die hypostasierte Identität genau das, was sie ist: eine kontrafaktische (gleichwohl kommunikativ notwendige) idealisierende Annahme. Wir halten voller Hoffnung inne, und in diesem Moment des Innehaltens scheint nicht nur die romantische Sehnsucht auf, das individuelle Bewusstsein des Anderen irgendwann doch noch verstehend erreichen zu können, sondern auch die Verzweiflung, es niemals zu schaffen. Gleichwohl oder nichtsdestotrotz: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“. Genau dieser Moment des Innehaltens, in dem er begreift, dass die Hoffnung eitel ist, „vollendet gleichzeitig seinen Sieg“ (Camus 1960, S. 156). Was wir sprachlich letztlich aushalten müssen, ist eben diese Einsicht, dass das Wesen der Sprache sich uns in ihrer doppelten, scheinbar paradoxen Charakterisierung als „individuelles Allgemeines“ (Frank 1977) erschließt. So [entsteht] von Seiten der Sprache [...] die technische Disziplin der Hermeneutik daraus, daß jede Rede nur als objektive Darstellung gelten kann, inwiefern sie aus der Sprache genommen und aus ihr zu begreifen ist (Schleiermacher 1812/ 13, S. 384), auf der anderen Seite kann sie aber nur entstehen [...] als Aktion eines Einzelnen, und als solche, wenn sie auch ihrem Gehalt nach analytisch ist, doch von ihren minder wesentlichen Elementen aus freie Synthesis in sich trägt. Die Ausgleichung beider Momente macht das Verstehen und Auslegen zur Kunst. (ebd.) Eine solchermaßen radikale Hermeneutik, die sich zu ihrem Kunstcharakter bekennt und doch nicht den Anspruch von Wissenschaftlichkeit aufgibt, ist der theoretische und methodische Ausgangspunkt einer hermeneutischen Linguistik bzw. einer linguistischen Hermeneutik, die es erlaubt, Sprachwissenschaft einerseits als verstehende Wissenschaft, andererseits als (Sprach)verstehenswissenschaft zu charakterisieren. Bernd Ulrich Biere 34 Oh, Sisyphos! Was man alles (nicht) tut. „Was verboten ist, das macht uns gerade scharf“ (Biermann). Glück wünschen. Deutsch sprechen. Üble Nachrede auf alle Vorreden in Wissenschaft und Kunst, die, wie diese, nicht nur nicht zum Ende, sondern nicht einmal zum Anfang, nicht zur Sache kommen. Beginnen wir noch einmal von vorn? Wissenschaft - Kunst - Leben, in dieser Reihenfolge? Leben - Kunst - Wissenschaft, besser so? Kunst - Leben - Wissenschaft? Kunst - Wissenschaft - Leben? Wissenschaft - Leben - Kunst? Alles ist selbstreferenziell und somit nicht mehr und nicht weniger als ein unendliches Spiel flottierender Signifikanten. Oder weniger frei schwebender Aktanten am Trapez? Nein, in ein trapeziöses System müssen wir uns nicht mehr einbinden lassen. Bleiben wir das, was wir sind: „Artisten in der Zirkuskuppel - ratlos“ (Kluge). Und unterschiedlich: am Trapez, auf dem Schwebebalken oder am Boden. „Ran ans Gerät“, sagt jetzt unser Tanzlehrer. Machen wir uns mit Kompass oder mit Nordic-Walking-Ausrüstung auf den Weg. Der Jakobsweg nur für die frühpensionierten Lehrer, für uns der Königsweg. Lob der Differenz. Und kurz vor dem Ziel? Noch einmal: Oh, Sisyphos! „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“ (Camus). Kurz davor, Wissenschaftler oder Künstler zu werden, zu sein und auf ewig zu bleiben - es ist ihm erspart geblieben. Kurz davor, mitten im Leben ... Literatur Adorno, Theodor W. (1982): Negative Dialektik. Frankfurt a.M. Biere, Bernd Ulrich (1978): Kommunikation unter Kindern. Methodische Reflexion und exemplarische Beschreibung. Tübingen. Camus, Albert (1960): Der Mythos von Sisyphos. In: Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Düsseldorf, S. 153-158. Chladenius, Johann Martin (1742 [1969]): Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften. Leipzig. [Nachdr. mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer. Düsseldorf]. Derrida, Jacques (1983): Grammatologie. Frankfurt a.M. Engelkamp, Johannes (1984): Sprachverstehen als Informationsverarbeitung. In: Engelkamp, Johannes (Hg.): Psychologische Aspekte des Textverstehens. Berlin/ Heidelberg/ New York, S. 31-53. Feyerabend, Paul (1986): Wider den Methodenzwang. Frankfurt a.M. Frank, Manfred (1977): Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher. Frankfurt a.M. Wissenschaft - Kunst - Leben. Ein Essay 35 Frank, Manfred (1990): Das Sagbare und das Unsagbare. 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Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers. Hrsg. und eingeleitet von Manfred Frank. Frankfurt a.M. Schleiermacher, Friedrich D. (1942): Dialektik. Im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften aufgrund bisher unveröffentlichten Materials hrsg. von R. Odebrecht. Leipzig. Auszugsweise in: Schleiermacher, Friedrich D. (1838 [1977]), S. 412-467. Schleiermacher, Friedrich. D. (1812/ 13): Ethik. Auszugsweise in: Schleiermacher, Friedrich D. (1838 [1977]), S. 371-386. Schmidt, Siegfried J. (1994): Kognitive Autonomie und soziale Ordnung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur. Frankfurt a.M. Schnotz, Werner (1985): Elementaristische und holistische Theorieansätze zum Textverstehen (Forschungsbericht des Deutschen Instituts für Fernstudien 35). Tübingen. Varela, Francisco J. (1993): Kognitionswissenschaft - Kognitionstechnik. Eine Skizze aktueller Perspektiven. 3. Aufl. Frankfurt a.M. Winch, Peter (1975): Was heißt „eine primitive Gesellschaft verstehen“? In: Wiggershaus, Rolf (Hg.): Sprachanalyse und Soziologie. Die sozialwissenschaftliche Relevanz von Wittgensteins Spätphilosophie. Frankfurt a.M., S. 59-102. Wittgenstein, Ludwig (1967): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M. Hans Jürgen Heringer Wir zwei alten Kämpfer Der Beitrag befasst sich mit der Frage, wie weit metaphorische Redeweisen in der linguistischen Beschreibung fruchtbar sein können und wie weit sie reflektiert sind. Es geht aber auch darum, wie die entsprechenden Redeweisen zu begründen wären und ob sie begründet sind. Dies wird an der Rede von semantischen Kämpfen beispielhaft erörtert. Das Ergebnis ist, dass die Redeweise als linguistisches Beschreibungsmittel kaum begründet und nicht fruchtbar, eher entstellend sein dürfte. 0. Es war einmal ein Philosoph, der hieß Hobbes. Der hat viel für die Wissenschaft getan. Vor allem wollte er uns wie sein Chef von den Idolen befreien (da meinte er nicht Personen wie Chomsky oder de Saussure, sondern eher Götzenbilder). Aber er hat auch gekämpft (! ) gegen die metaphorische Rede. Wissenschaft und Wahrheit seien nur formulierbar in wörtlicher Rede. Jede Jede Metaphorik in der Wissenschaft sei von Übel: „[...] in reckoning, and seeking of truth, such speeches are not to be admitted“ (Hobbes 1651, Chapter V). Da- , Chapter V). Damals wusste man noch, was wörtlich und was übertragen war. Nun hat unser Jubilar vor mehr als 25 Jahren einen Beitrag zur Metaphorik in der Sprachgeschichtsschreibung verfasst, in dem er zu einem anderen Schluss kommt als Hobbes: „Metaphorisierungen können nicht völlig vermieden werden. Das ist auch kein Manko.“ (Wimmer 1983, S. 79). Vorher hatte er aber warnend erwähnt, dass viel Ideologie in Metaphorisierungen steckt und auf die offenkundige Beliebtheit von Kampfmetaphern bei den Sprachgeschichtsschreibern hingewiesen. Mit Polenz wird auch eine Art sanftes, aber halbes Heilmittel angeführt: die handelnden Menschen in den Mittelpunkt der Beschreibung stellen. Das möchte ich hier in meinem Beitrag auch tun. Er ist inspiriert durch ein kürzlich erschienenes Buch zu semantischen Kämpfen in den Wissenschaften (Felder (Hg.) 2006) und deshalb werde ich hierauf auch öfter Bezug nehmen. Kommunikativ haben wir es in diesem Buch sozusagen mit drei handelnden Parteien zu tun: den schreibenden Autoren, den Beiträgern des Bandes, den Wissenschaftlern, über die geschrieben wird, den angepeilten Lesern, also auch mit uns. - - - Hans Jürgen Heringer 38 1. Ziel der versammelten Untersuchungen: Es soll verfolgt werden, wie durch Kommunikation und in Kommunikation Welt konstruiert wird, vielleicht auch die Welt. Etwas bescheidener heißt es, wie Sachverhalte konstituiert werden. Hintergrund für ein solches Konzept sollte die Konsensus-Theorie der Wahrheit sein. Das ist natürlich ein diffiziles bis heikles Unterfangen, das auch einen vorsichtigen Umgang mit der Beschreibungssprache erfordert. Ob man beispielsweise so schräg metaphorisch reden sollte: „Zum sprachlichen Umgang mit Embryonen“, scheint mir doch bedenkenswert. Ebenso kühne Behauptungen wie „Die Eroberung der Natur, der Kampf mit ihr und schließlich ihre Unterwerfung unter die menschlichen Zwecke ist vor allem ein sprachliches Phänomen.“ (Felder (Hg.) 2006, S. 7). Das weckt bei Realisten gewisse Reserven. Auf jeden Fall wird man da auf detaillierte Argumentation gespannt sein. Die bestehenden Sprachmittel sind für solche Untersuchungen unzulänglich bis riskant. Die vorgefasste Idee für den Band ist, die entsprechenden Diskurse durch die Kampfbrille anzusehen. Ich gehe erst einmal davon aus, dass die Autoren in einer Tradition schreiben, die geprägt ist durch den Kampf um Begriffe und Wörter, der angeblich in der Politik stattfindet. [Politik] ist auch der kommunikative Ort der politischen Schlagwörter. Denn in ihr vollzieht sich der politische Meinungsbildungsprozeß, werden semantische Kämpfe um die Bedeutung von Begriffen und um die ‘richtige’ Anwendung dieser Begriffe ausgetragen, hier prallen die divergierenden Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen aufeinander und hier konkurrieren unterschiedliche Ideologien und Weltanschauungen. (Strauß/ Haß/ Harras (Hg.) 1989, S. 27) So wird auch wiederholt Bezug genommen auf die Initiative Biedenkopfs als CDU -Parteisekretär, der seinerzeit programmatisch verkündet hat, die politische Auseinandersetzung werde zur Zeit wesentlich von dem Kampf um die politischen Begriffe bestimmt und es gehe für seine Partei jetzt nicht nur darum, die Gebäude der Regierungen zu besetzen, Kampfziel sei vielmehr Begriffe zu besetzen (Biedenkopf 1988). Damit wurde die fest etablierte Kampfmetaphorik in der Politik erweitert (oder begrenzt) auf kommunikative Zusammenhänge. Man kann also zustimmen, dass es Teil dieser Debatten ist, die sprachlichen Auseinandersetzungen als einen förmlichen Kampf zu thematisieren. (Christensen/ Sokolowski 2006, S. 353f.) Wir zwei alten Kämpfer 39 Bergsdorf soll sogar von „terminologischer Gefechtslage“ gesprochen haben (Christensen/ Sokolowski 2006, S. 355). Als Linguisten mit einer sprachorientierten Auffassung des politischen Handelns könnten wir hierin durchaus einen Fortschritt sehen, weil die krude, auf Handeln und Taten gerichtete Ideologie zumindest gelockert ist und damit sichtbar wird, dass politisches Handeln weitgehend kommunikatives Handeln ist. Das betrifft aber die Protagonisten, sozusagen die Ebene linguistischer Daten. Ob diese Redeweise wissenschaftlicher und damit linguistiktauglich wird, wenn man den eher linguistischen Terminus „semantisch“ hinzufügt, will ich nicht entscheiden. Auf jeden Fall wird sie nun zu einer Art linguistischem Programm erhoben. So geht es im Felder-Buch um Folgendes: Unter „semantischem Kampf“ wird hier - zunächst allgemein formuliert - der Versuch verstanden, in einer Wissensdomäne bestimmte sprachliche Formen als Ausdruck spezifischer, interessengeleiteter und handlungsleitender Denkmuster durchzusetzen. [...] solche semantischen Kämpfe verlaufen oft sehr heftig, können sich über Jahre bzw. Jahrzehnte hinziehen und Wissenschaftsgeschichte schreiben. (Felder 2006, S. 14) Willkommener Kronzeuge für Kämpfe in der Wissenschaft ist Bourdieu: Divergierende Interessen machen die Wissenschaft zu einem „Feld der Kämpfe um die Bewahrung oder Veränderung dieses Kräftefeldes“ (Bourdieu 1998: 20), betont Bourdieu und unterstreicht, dass der wissenschaftliche Kampf ein „bewaffneter Kampf“ sei, „mit Waffen ausgetragen, die so mächtig und wirksam sind, wie das im und vom Feld kollektiv angehäufte [...] Kapital.“ (Busch 2006, S. 49) Natürlich ist klar, dass wir es mit einer Metapher zu tun haben. Nach einer schönen Definition geht es bei der Metapher um das Sehen des Ähnlichen im Unähnlichen. Mit der Kampfmetapher würden die Autoren uns dann das Ähnliche im Unähnlichen zeigen. Darum sollte stets reflektiert werden: Wie weit trägt die Metapher? Wie weit die Anähnlichung? Wie fruchtbar ist sie? Was gebiert sie? Bemerkenswert ist hier erst einmal, dass beschreibende Linguisten eine Metapher verwenden, die auf der Ebene des zu Beschreibenden etabliert wurde, also eigentlich Beschreibungsgegenstand sein sollte. Ein solches Vorgehen wäre methodisch zu reflektieren. Sollte mit Folgendem eine reflektierte Ant- - - - Hans Jürgen Heringer 40 wort gegeben sein? „Grundsätzlich gilt das unvermeidbare methodische Problem, dass der Sprachforscher in demselben Zeichenbenutzerprozess ‘gefangen’ ist wie der Sprachbenutzer.“ (Felder (Hg.) 2006, S. 4). In vielen Fällen mag es durchaus angemessen sein, den Sprachgebrauch untersuchter Kommunikation aufzunehmen, etwa um an existente Probleme anzuknüpfen. Aber gefangen bleiben wir hierin nicht, auch nicht in Anführungszeichen. Darum können wir es durchaus mit Wimmer halten, wenn er sagt: Ob und wie weit Sprachwissenschaftler sich der Metaphorik in ihrem Beschreibungsvokabular bewußt werden und darauf reagieren, hat sicher etwas zu tun mit der Reflektiertheit ihres wissenschaftlichen Tuns und mit dem Grad ihres Nachdenkens über den Wandel nicht nur der Sprache im allgemeinen, sondern auch über den Wandel ihrer eigenen Beschreibungssprache. (Wimmer 1983, S. 63) In Felders Band wird ein sanfter Übergang geschaffen von der Objektebene auf die Beschreibungsebene. Dazu dient einmal eine Art eingefühlter Stil, in dem in der Beschreibung anfänglich distanziert das Vokabular der Protagonisten verwendet wird. So wenn anfangs zitiert wird „Politik als Sprachkampf“, kurz drauf dann synonymisch aufgreifend und variierend in gerader Rede vom „semantischen Gefecht“ gesprochen wird (Christensen/ Sokolowski 2006, S. 354). Ein anderes Link sind Anführungszeichen, die anfänglich gesetzt und dann langsam weggelassen (oder vergessen? ) werden. Für uns Leser sollten solche Anführungszeichen auch Aufmerksamkeitszeichen sein, vor allem ihre unsystematische Verwendung. Ein erster Schritt für die Verwendung einer Metapher in wissenschaftlichen Darstellungen sollte die Erprobung sein, wie weit sie tragen kann. Welche Ähnlichkeiten entdeckt sie uns? Zum Kampfszenario gehört ein Mindestinventar: Jemand kämpft mit jemandem um etwas unter Anwendung von Kampfmitteln, klassisch: Waffen oder Körpereinsatz, und Kampfmethoden. Im Falle dieser Übertragung sind wohl folgende Belegungen vorgesehen: Kämpfer haben Gegner. Wer sind die Gegner? Es sind Kollegen, wie sie in anderer Redeweise heißen. Oder nur deren Ansichten? Kämpfer haben Ziele, vor allem: Sie wollen gewinnen („den Triumph über den anderen“ (Christensen/ Sokolowski 2006, S. 358)). Was wollen die Wissenschaftler gewinnen? Sie wollen eine Sichtweise durchsetzen, heißt es immer wieder. - - Wir zwei alten Kämpfer 41 Kämpfer brauchen Waffen. Was sind hier die Waffen? Es sind wohl sprachliche Äußerungen. „Wörter als Waffen“ war gar der Titel eines Buchs. Und es werden „sprachliche Schläge“ (Christensen/ Sokolowski 2006, S. 360) ausgeteilt. Kämpfer wenden Kampfmethoden an. Welche Methoden werden hier verwendet? Wir wollen uns das etwas genauer ansehen. Wir prüfen zuerst, indem wir uns der Frage widmen, was die Wissenschaftler so tun, wenigstens nach den Beschreibungen der Kampfmetaphoriker. Über den gesamten Band finden wir, dass die Analysierten argumentieren und bewerten, widersprechen, Defizite bestreiten, Argumente widerlegen, Fehler vorwerfen, stilisieren (Busch 2006, S. 65). Das klingt doch erst einmal gar nicht so martialisch und ist eigentlich o.k. Moralisch kritischer wird es vielleicht, wenn sie zensieren und diffamieren oder etwas vortäuschen würden, etwa aus strategischen Gründen (Felder (Hg.) 2006, S. 9). Und warum tun sie das? Worum geht es ihnen? „Der Wissenschaftskrieg ist [...] ein Verteidigungskrieg von Besitzständen (Bischof 1998).“ (Busch 2006, S. 50). Es ist ein „Kampf um die Etablierung von Interpretationen“ (Busch 2006, S. 53), „Kampf um Systematiken“ (Busch 2006, S. 63), „Kampf um Anerkennung alternativer Verfahren“ (Busch 2006, S. 64), „Kampf um die kulturelle Hegemonie“ (Wengeler 2006, S. 163), „Kampf um Fördermittel“ (Busch 2006, S. 64), „Kampf um Inhalte und Ressourcen“ (Busch 2006, S. 49), „Kampf um fachexterne Anerkennung“ (Busch 2006, S. 64), „Kampf um finanzielle und personelle Ressourcen“ (Felder (Hg.) 2006, S. 6). Worin läge das Erhellende, die Fruchtbarkeit dieser Metaphorik? Vielleicht wäre es fruchtbar, andere Metaphern zu erproben. Die Kampfmetapher schleppt allerhand im Tross herbei. Die Kookkurrenzdatenbank von Belica (2001-2007) bietet uns genügend verwandte Profile für Kampf. Davon nur einige: Angriff, Fehde, Feldzug, Gefecht, Grabenkampf, Konkurrenzkampf, Krieg, Machtkampf, Scharmützel, Streit, Wettstreit, Zweikampf, die natürlich alle ihr eigenes Umfeld mitbringen. Darunter könnten wir auch alternative Metaphern finden und das Ganze noch weiter verschärfen. So ist auch in un- - - - - - - - - - - Hans Jürgen Heringer 42 serem Band die Rede von Kombattanten (Christensen/ Sokolowski 2006, S. 354), schlagkräftig (Christensen/ Sokolowski 2006, S. 354), durchzusetzen (Christensen/ Sokolowski 2006, S. 358), Zündstoff (Christensen/ Sokolowski 2006, S. 367), eine ganze Phalanx (Christensen/ Sokolowski 2006, S. 354), Gefolgschaft hinter sich sammeln (Wengeler 2006, S. 161), verbale Attacke und Gegenattacke (Christensen/ Sokolowski 2006, S. 361). Und Sieg: Förmlich zum „Kampf“ wird die Auseinandersetzung dann, wenn dieser Gewinn durch den Sieg über die Konkurrenz errungen werden soll. (Christensen/ Sokolowski 2006, S. 358) Vor Gericht mag das passen, wenigstens für mich Unbedarften. Die Darstellungsweise scheint aber nicht im Sinne aller Autoren. Manche sprechen sanfter von Kontroverse, Dissens, Auseinandersetzung. So schreibt etwa Scherner (2006) nicht in Kampfmetaphorik, bekommt sie aber unterstellt (Felder (Hg.) 2006, S. 10). Die Wahl der Darstellung als Kampf ist erst einmal eine Frage der eigenen Perspektive. Mir scheint in den Darstellungen nicht so viel Ähnlichkeit entdeckt, wenn ich das assoziative Umfeld von kämpfen aktiviere. Wo bleibt ums nackte Überleben, bis zum Umfallen, verbissen und hart, heftig und wacker, tapfer und aufopferungsvoll, verzweifelt (Belica 2001-2007)? Nicht nur, dass diese Plätze nicht besetzt werden in der Übertragung, wie alle Metaphorik ist auch diese einseitig. Es gibt einen toten Winkel, wie Brünner (1987) das nannte, was der Metapher entgeht. Und die Frage erhebt sich, welcher Winkel ist wichtiger? Welcher muss in der Darstellung leben? 2. Wie wird nun belegt, dass die Wissenschaftler wirklich sowas tun, was ihnen in der Beschreibung unterstellt wird? Ist die metaphorische Darstellung eigentlich fundiert durch das, was jene Wissenschaftler selbst sagen, was sie tun oder wie sie ihre Tätigkeit sehen? Wird das dokumentiert? Ist die Darstellung fundiert durch eine linguistische, textuelle Analyse? Im Prinzip nicht. Daten und Datenanalysen, die sozusagen gerichtlich verwertbar wären, finde ich nicht. Die beschreibenden Linguisten schlagen sich da schon mal auf die Seite einer Partei, die in der Kampfmetaphorik argumentiert und der anderen vorwirft, unsichere Ergebnisse als Wahrheit auszugeben oder Zensur auszuüben. Kriminalistisch gesehen ist es ja wohl ein schwaches Indiz, wenn Beteiligte auf die Frage, warum sehr wenige, der Schulmeinung widersprechende Studien veröffentlicht werden, Zensur dafür verantwortlich machen. Linguistik mit parteiischen Zeugen? Wir zwei alten Kämpfer 43 Wenn die „Stichhaltigkeit der Vorwürfe nicht bewertet werden kann“ (Busch 2006, S. 56), fragt man sich doch, wieso das entsprechende Muster dann in die Beschreibung übernommen wird. Es drängt sich nicht nur hier der Verdacht auf, dass wir es mit unreflektierten Übernahmen aus dem zu beschreibenden Bereich in die Beschreibung zu tun haben. So wie es generell unvorsichtig scheint, mit der Darstellung als semantische Kämpfe die Sichtweise der politischen Kontrahenten zu übernehmen. Wie werden die Intentionen der Protagonisten ermittelt? Welche Plausibilität hat es, dass Wissenschaftler eine Terminologie durchsetzen wollen? Was hat ein Wissenschaftler davon, wenn er seine Sicht, seine Terminologie durchgesetzt hat? Ist er dann berühmter, bekommt mehr virtuelles Geld? Vielleicht freut er sich einfach, dass sich die richtige Betrachtungsweise durchgesetzt hat, weil er ja wohl der Meinung ist, dass stimmt, was er behauptet. Etwas plausibler wäre schon, wenn es den Wissenschaftlern darum ginge, ihre Interessen durchzusetzen (Felder (Hg.) 2006, S. 10), obwohl da auch die Frage bleibt, welcher Art diese Interessen sind und welcher Art die Durchsetzungsmethode. Sollten nicht die Interessen belegt werden? Wo bleiben die Nachweise? Recht stark scheint da der Anfangsverdacht: „Es geht [...] schließlich auch um finanzielle und personelle Ressourcen.“ (Felder (Hg.) 2006, S. 6). Man ist gespannt, wie dieser allgemein virulente Verdacht erhärtet wird. Ganz heikel bei dem Kampf-Ansatz scheint mir die Idee, dass die beteiligten Wissenschaftler ihre Ziele auch unbewusst verfolgen und durchsetzen können (Felder (Hg.) 2006, S. 7), und ebenso, dass der Art kommunikativer Kampf auch implizit (Felder 2006, S. 17) oder latent (Felder (Hg.) 2006, S. 10) vonstatten gehen könnte. Da müssten die beschreibenden Linguisten als Beleg schon viel aus den Äußerungen herausholen. Denn etwas anderes haben sie doch nicht. Im toten Winkel bleiben bei dieser Metapher vor allem Kooperation der Wissenschaftler und die ideale Annahme, dass Wissenschaft ein gemeinsames kooperatives Unternehmen ist. Für die spricht ja doch einiges. Ist es eigentlich böse, wenn man einem Kollegen Denkfehler, Fehler in der Durchführung von Experimenten usw. erklärt? Das ist doch ein kollegialer Service. Welche Grundannahme steckt dahinter, wenn beschreibende Linguisten das irgendwie kritisch darstellen? Wie steht es mit Binnenkooperation in Mannschaften und Teams? Es können sogar Koalitionen im Kampf geschlossen werden. Schließlich gibt es selbstverständlich Kooperation im äußeren Rahmen. Denn ohne Hans Jürgen Heringer 44 kooperative Kommunikation geht nichts: Man würde sich nicht verstehen (Grice). So bewegt sich auch jede kommunikative Kompetition im Rahmen der Kooperation. Und dann leitet die Metapher in die Irre. Es scheint, als gäbe es im Kampf schon mal einen Sieger. Ganz interessant wird es, wenn ein Textlinguist über den semantischen Kampf in der Textlinguistik schreibt. Wer wird da wohl gewinnen? Und noch interessanter, wenn ich als Linguist mir das dann vorknöpfe. Geht das unparteiisch? Und können wir es mit einem Sieg beenden? Wissenschaft ist ein ständiger Prozess. Heute Sieger, morgen weg vom Fenster! 3. Kämpfe sind spannend und interessant, vor allem für die Zuschauer. Sollten wir sie deshalb fördern? Und wenn die Sache entstellt wird? Alles halb so schlimm, werden viele sagen. Wir Rezipienten werden es schon richtig verstehen. Was metaphorisch gemeint ist, sollte auch metaphorisch verstanden werden. Bleibt natürlich die Frage, wie wir diese Kampfrede verstehen. Wir sind ja nicht so doof, dass wir meinen, jene Wissenschaftler würden sich die Köpfe einschlagen oder so. Aber belanglos ist das Kampfgetöse nicht. Ich denke, eine gute Idee ist, dass es uns beim metaphorischen Verstehen so ähnlich ergeht wie bei Idiomen; dass wir eben doppelt verstehen: das Wörtliche und das Übertragene, mal dieses im Vordergrund, mal jenes. Und das Zeigen des Ähnlichen würde ja ins Leere laufen, wenn wir das Wörtliche nicht verstünden. Wimmer hat schön vorgeführt, dass vielleicht eine unmetaphorische Reformulierung nicht möglich ist. Ich glaube, oft schon deshalb nicht, weil ich öfter nicht weiß, wie ich verstehen soll, was gesagt wurde. Aber machen wir gemeinsam den Versuch. Auf die (parteiische? ) Verwendung der Anführungszeichen gehe ich nicht ein: Dies kann in Form des „Besetzens“ der in Frage stehenden „Begriffe“ mit eigenen Inhalten, durch das Verdrängen der „Begriffe“ der Gegenseite durch eigene Fahnenwörter, durch Pejorisierung der Fahnenwörter der gegnerischen Seite oder durch offensives Verteidigen des bedrängten eigenen Begriffs geschehen. (Wengeler 2006, S. 163) Mein Verständnis: Man kann das so tun: Versuchen, Leute (die Bürger, die Wissenschaftler-Kollegen, alle Kollegen? ) dazu zu bringen, die fraglichen Wörter so zu verwenden wie man selbst (oder wie man selbst es möchte? ). Wir zwei alten Kämpfer 45 Dafür sorgen, dass Leute (die Bürger, die Wissenschaftler-Kollegen, alle Kollegen? ) die Wörter der Gegenseite nicht mehr verwenden (verstehen? ) und dafür Wörter verwenden, die die eigene Ideologie (das eigene Programm, den eigenen Ansatz) vermitteln. Dafür sorgen, dass Leute (die Bürger, die Wissenschaftler-Kollegen, alle Kollegen? ) die Wörter (oder was sie sagen? ), die die Ideologie (den Ansatz, das Programm) der Gegenseite ausdrücken, für schlecht halten. Dafür sorgen, dass Leute (die Bürger, die Wissenschaftler-Kollegen, alle Kollegen? ) die Wörter (oder was sie sagen? ), die die Ideologie (den Ansatz, die Theorie, das eigene Programm) ausdrücken und von der Gegenseite madig gemacht werden, als gut werten. Zugegeben, ein literarisches Kunstwerk ist das nicht. Aber bezüglich der Mittel doch etwas neutraler und realistischer. Vor allem tauchen da Handelnde oder Beteiligte wieder auf. Bleibt die Frage, was wir aus diesem Verstehen folgern. Was die Wahrheitsfähigkeit metaphorischer Rede angeht, so sehen wir nicht mehr wie etwa Hobbes einen großen Unterschied zur wörtlichen Rede. Auch wörtliche Rede ist unscharf und vage und will verstanden werden. Wer die metaphorische Rede versteht, wird auch beurteilen können, was ihm wahr erscheint. In diesem Sinn sind sich viele Metapherntheoretiker einig, dass Metaphern Einsichten schaffen können (Hausman 2006). Was wir unter der metaphorischen Kampfrede verstehen, weiß ich nicht so genau. Kampfmetaphern sind so geläufig, dass man kaum noch den wörtlichen Gebrauch ermitteln kann. Was ich verstehe, weiß ich irgendwie schon, wenn auch nicht immer genau. So verstehe ich etwa Kampf oft wie Diskussion oder Argumentation. Und da ist der Witz irgendwie raus. Was aber ist der Witz? Es ist die Dramatisierung - und auf die können wir, wenigstens in der Wissenschaft, getrost verzichten. Oder nicht? Was nun mein Verhältnis zu unserem Jubilar betrifft: Wir haben nie gegeneinander gekämpft, höchstens miteinander, wenn man so reden will. Und immer nur mit Argumenten. Meine Idee ist auch nicht, man könne allweil unmetaphorisch reden. Aber ich fände es wünschenswert, eine gute Abwägung zwischen (eingebildeter) Wirksamkeit und verlässlicher Darstellung zu finden. Und dabei sollte man vor allem nicht den Eindruck aufkommen lassen, man sehe als Autor selbst das Ganze so einseitig und mit blinden Flecken. Aber für uns Rezipienten empfehle ich, auch in der Wissenschaft: Halten wir uns an den sprachkritischen Rat „Sprich, dass ich dich sehe! “ Hans Jürgen Heringer 46 Literatur Belica, Cyril (2001-2007): Kookkurrenzdatenbank. Internet: http: / / corpora.ids-mannheim.de/ ccdb/ (Stand: 28.08.08). Biedenkopf, Kurt (1988): Politik und Sprache. In: Heringer, Hans Jürgen (Hg.) (1988): Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprachkritik. 2. Aufl. Tübingen, S. 189-197. Brünner, Gisela (1987): Metaphern für Sprache und Kommunikation in Alltag und Wissenschaft. In: Diskussion Deutsch 94, S. 100-119. Busch, Albert (2006): Semantische Kämpfe in der Medizin. Ansätze zu einer Typologie der Wissenskämpfe. In: Felder (Hg.), S. 47-71. Christensen, Ralph/ Sokolowski, Michael (2006): Recht als Einsatz im semantischen Kampf. In: Felder (Hg.), S. 353-371. Felder, Ekkehard (2006): Semantische Kämpfe in Wissensdomänen. Eine Einführung in Benennungs-, Bedeutungs- und Sachverhaltsfixierungs-Konkurrenzen. In: Felder (Hg.), S. 13-46. Felder, Ekkehard (Hg.) (2006): Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften. Berlin. Hausman, Carl (2006): A review of prominent theories of metaphor and metaphorical reference revisited. In: Semiotica 161, S. 213-230. Hobbes, Thomas (1651): Leviathan. Internet: http: / / darkwing.uoregon.edu/ ~rbear/ hobbes/ leviathan.html (Stand: 10.09.08). Scherner, Maximilian (2006): „Text“, „Rede“, „Diskurs“. In: Felder (Hg.), S. 373-394. Strauß, Gerhard/ Haß, Ulrike/ Harras, Gisela (Hg.) (1989): Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist. Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch. Berlin. Wengeler, Martin (2006): Mentalität, Diskurs und Kultur. Kämpfe in der deutschen Geschichtswissenschaft. In: Felder (Hg.), S. 157-183. Wimmer, Rainer (1983): Metaphorik in der Sprachgeschichtsschreibung. In: Cramer, Thomas (Hg.) (1983): Literatur und Sprache im historischen Prozeß. Vorträge des Deutschen Germanistentages Aachen 1982. Bd. 2. Tübingen, S. 63-82. Wolfgang Teubert Die Enteignung des Diskurses und der Diskurs der Enteignung Das geistige Eigentumsrecht umspannt neben dem Urheberrecht auch das Handelsmarkenrecht und das Patentrecht. Die ersten beiden Rechte beziehen sich auf Texte als Inhalt und Ausdruck. Rechteinhaber sind in vielen Fällen nicht die Autoren, sondern ihre Verleger. Sie bestimmen, was es kostet, die Texte von Kollegen zu lesen und zu zitieren. Mit der Digitalisierung und Webvermarktung ganzer Bibliotheken werden nun auch immer mehr nicht urheberrechtlich geschützte Texte kostenpflichtig. Ärmere akademische Einrichtungen geraten deutlich ins Hintertreffen. Patenttexte wirken anders herum. Sie privatisieren den Ausschnitt der Wirklichkeit, auf den sie referieren. So versucht etwa eine Patentanmeldung, sich Schweine mit einer bestimmten DNA -Sequenz anzueignen, weil unterstellt wird, sie seien nach Monsanto-Anweisungen aufgezogen worden. Dabei kommt es weniger darauf an, dass diese Anweisungen wirklich neu sind, sondern nur, dass sie auf neue Weise formuliert sind. Durch die zunehmende Privatisierung von Diskurs und von dem, wofür er steht, bestimmt eine immer kleinere Gruppe von (oft selbsternannten) Rechteinhabern, welche neuen Ideen Chancen haben und wem sie gehören. 1. Wem gehört die Sprache? Ich kann mich noch gut erinnern, als Rainer Wimmer in der Pressekonferenz anlässlich der Jahrestagung 1984 des Instituts für Deutsche Sprache zum Thema Sprachkultur die versammelten Journalisten auf ihre besorgten Fragen hin mit der Feststellung beruhigte, die deutsche Sprache sei gut in Schuss. Es gibt wenig Grund daran zu zweifeln, dass sie das in vielerlei Beziehung noch heute ist, ebenso wie die anderen Sprachen, von denen wir umgeben sind. Aber was ist die Sprache? Ist es vielleicht das Sprachsystem mit seinen grammatischen Regeln („Rettet dem Dativ! “) oder der sich der neuen Weltordnung rapide anpassende Wortschatz (hedge funds als Heuschrecken), ist es die zur Freude des Duden stets reformbedürftige Orthografie oder ist es am Ende die Sprache, die Leute in ihren E-Mails benutzen? In diesen Punkten stimme ich Rainer Wimmer zu. Je lauter über die deutsche Sprache geklagt wird, desto besser sprießt sie. Alle gesellschaftlichen Entwicklungen, ob sie uns nun zum Vorteil gereichen oder uns in die Steinzeit zurückkatapultieren, haben ihren Ursprung im Diskurs, in der nie endenden Aushandlung von Bedeutungen, was mehr oder weniger dasselbe ist wie die kollektive Konstruktion immer neuer Wirklichkeitsentwürfe. Eine Verknöcherung der Sprache, eine Intransi- Wolfgang Teubert 48 genz in Bezug auf das, was gesagt werden kann und was nicht, kann, wie uns der Untergang der DDR gelehrt hat, eine Gesellschaft zerreißen. Über Sprachverfall hört man daher gewöhnlich Leute klagen, die besorgt sind, die Kontrolle über den Diskurs zu verlieren, den Diskurs nämlich, der unsere gesellschaftliche Wirklichkeit konstituiert. Aber können wir uns wirklich beruhigt zurücklehnen, wenn es um la parole, um den Diskurs im umfassenden Sinn geht, also um alles, was von Mitgliedern der Sprachgemeinschaft mündlich oder schriftlich geäußert wird? Gehorcht die Sprache noch den Bedürfnissen ihrer Sprecher, oder ist sie dabei, deren Kontrolle mehr als jemals zuvor zu entgleiten? Wem gehört Sprache? Wem gehört unsere Sprache? Heute wird Sprache zunehmend zu einer Handelsware, zu etwas, das man zu Geld machen kann. Die Gefahr wächst, dass Sprache, in Form und Inhalt, immer mehr zu einem Produkt wird, das uns, die Mitglieder der Gesellschaft, in Produzenten, Konsumenten und Vermarkter sondert. Inzwischen hat man uns daran gewöhnt, den Handel mit geistigem Eigentum als Fortschritt anzusehen. Heute gibt es so gut wie nichts Gesagtes, zu dem sich nicht etwas im Internet finden ließe. Es entfällt die überaus zeitraubende Suche in immer unbegehbareren Bibliotheken. Suchmaschinen lassen uns ohne Zeitverzug finden, wonach wir suchen. Das Internet sprengt jede Bibliothek. Alle in meinem Text herangezogenen Quellen finden sich im Web. 1 Und ich habe sie konsultieren können, ohne dafür zu bezahlen. Ein langes Leben hat mich jedoch gelehrt, dass man mit dem Klagen nie früh genug anfangen kann. Es mehren sich die Anzeichen, dass die Tage der Unbeschwertheit schneller vorbei sind, als wir glauben. Doch ist vielleicht nicht nur die Privatisierung des Diskurses unaufhaltsam; in immer größerem Maß wird Sprache auch dazu benutzt, die Welt, in der wir leben, in Privateigentum zu überführen. Es handelt sich hier um das ganz eigentümliche Genre der Patentschriften, die, wie das Urheberrecht, Fragen des geistigen Eigentums regeln. Ihr Wirken lässt sich nur mit dem von religiösen Ritualen vergleichen. Genauso, wie man durch entsprechende Sprechakte Brot und Wein in Körper und Blut des Gekreuzigten umwandeln kann, lassen sich heute etwa durch einen ritualisierten deklarativen Sprechakt Pflanzen und Tiere in das Eigentum des US -Saatgut-Konzerns Monsanto überführen. Hier 1 Damit will ich darauf aufmerksam machen, in welchem Umbruch sich die Praxis (geistes-) wissenschaftlichen Arbeitens befindet. Akademische Beiträge referieren künftig weniger auf gedruckte Quellen als auf Internet-Inhalte, über die globale Wirtschaftskräfte die Kontrolle ausüben. Die Enteignung des Diskurses und der Diskurs der Enteignung 49 wird nicht das Gesagte als solches privatisiert, sondern der Diskurs wird zum Instrument der Expropriation von Gemeingut oder auch von Privateigentum gemacht. Diese Gefahr ist sicher noch größer als die der Privatisierung des Diskurses. Aber beide Gefahren bedürfen, so scheint mir, sprachpflegerischer Aufmerksamkeit. Denn die Vermarkter von Texten können auch verhindern, dass bestimme Texte den Weg zum Abnehmer finden. In Großbritannien gibt es seit 1709 ein Gesetz zum Schutz des copyright. Mit dem Konzept des Urheberrechts werden Form und Inhalt eines Texts geschützt. Doch das Urheberrecht ist eben nur eine der Möglichkeiten, Eigentum über Form und Inhalt von Sprache zu reklamieren. Schon seit 1624 gibt es in England ein Gesetz zum Schutz von Erfindungen, ein erstes Patentrecht. Während es für das Urheberrecht unerheblich ist, ob ein geschützter Text in einer Beziehung zur Wirklichkeit steht oder fiktional ist, stellen Patente, so wird uns suggeriert, eine explizite Verbindung zwischen Text und Wirklichkeit her. Sie beanspruchen ein Eigentumsrecht an der Sache, die im Patenttext, normalerweise in der Form von Produktionsanweisungen, bezeichnet ist. Der Patenttext als solcher ist nicht geschützt; er muss, um seine Wirksamkeit entfalten zu können, öffentlich sein und darf nach Belieben kopiert werden. Ein Gesetz zum Schutz von trademarks (Handelsmarken), der dritten juridischen Säule geistigen Eigentums, gibt es auf den Britischen Inseln seit 1862. Mit diesem Gesetz wird nur die Form, aber nicht der Inhalt eines Ausdrucks, sei er ein ererbter oder erfundener Namen oder ein sonstiges Stück Sprache (d.h. eine mehr oder weniger feste sprachliche Wendung) geschützt. Derselbe Inhalt darf jedoch anders ausgedrückt werden. Das Getränk, das in der DDR verkauft wurde, durfte Vita Cola, aber nicht Coca Cola heißen, wenn es vielleicht auch genauso geschmeckt haben sollte. Patentrechtlich schützen lässt sich Coca Cola schon deshalb nicht, weil es angeblich einen geheimen Bestandteil gibt, der in einem Patent benannt werden müsste. Urheber-, Patent- und Handelsmarkenschutz haben alle auf verschiedene Weise mit Sprache zu tun. Es sind Rechte des geistigen Eigentums (intellectual property rights); und um diese Rechte geht es in diesem Beitrag. Ich werde versuchen zu zeigen, dass die präzedenzlose Ausweitung solcher textbezogenen Rechte immer größeren Einfluss auf die Diskurse ausüben, an denen wir privat und beruflich teilhaben. 2. Das Urheberrecht und die Akademiker Wann immer ein Sprachwissenschaftler einen Beitrag in einer akademischen Zeitschrift veröffentlicht, überträgt er in der Regel sein Urheberrecht, also Wolfgang Teubert 50 sein copyright, an den Verlag. Manchmal geschieht dies im Rahmen eines Vertrags, aber oft sozusagen unter einer stillschweigenden Annahme. Ich habe den Fall erlebt, dass ein Kollege sich ausdrücklich geweigert hat, sein copyright zu übertragen, was erst nach einer längeren Auseinandersetzung auch akzeptiert worden ist, wohl wegen des internationalen Rufs dieses Kollegen. Doch als dieser Beitrag in einem Sammelband erneut veröffentlicht wurde, ließ sich der Verlag widerrechtlich das Nutzungsentgelt (über 500 Euro) vom nachdruckenden Verlag vergüten und war erst auf massiven Druck hin bereit, diese Summe an den Autor weiterzuleiten. Das ist im Übrigen kein Einzelfall. Wir sind oft nicht gewärtig, dass unsere Zeitschriftenaufsätze in der Tat einen kommerziellen Wert besitzen. Erst seitdem die Verlage sich zu Gruppen zusammengeschlossen haben, die diese Texte im Internet zum Herunterladen feilbieten, sehen wir, dass es 30 Euro oder mehr kosten kann, auf einen einzigen Artikel zugreifen zu dürfen. Neuerdings gibt es eine ganze Reihe von solchen Anbietern elektronischer Versionen akademischer Zeitschriften, z.B. Saga, Swetswise, Ingenta. Im Durchschnitt zahlen Universitätsbibliotheken anscheinend ca. 700 Euro pro Zeitschriftenjahrgang. Bei tausend Zeitschriften für etwa tausend Universitäten und Forschungseinrichtungen in Europa wäre das ein Markt von ca. 700 Millionen Euro. Vergleichbare Summen dürften in den Vereinigten Staaten und für den Rest der Welt anfallen. Die Ware für diesen Markt wird von uns, den akademischen Arbeitskräften, kostenlos zur Verfügung gestellt. Aber dafür lieben wir ja auch unseren Beruf. Wer etwas gerne tut, braucht, so ist die Meinung vieler, dafür nicht extra bezahlt werden. Zu fragen wäre, was uns, den Schreibern von Zeitschriftenaufsätzen, das Urheberrecht (zumindest an dieser Stelle) nutzt. Wäre es nicht im Sinn eines demokratisierten Wissenschaftsbetriebs, wenn wir unsere Hervorbringungen jedermann zur Verfügung stellen würden? Welche finanziellen Nachteile hätten wir denn zu gewärtigen? Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Es ist zu begrüßen, wenn wir uns die Aufsätze, die wir zu Rate ziehen wollen, mit wenigen Mausklicks herunterladen können und uns dann auch noch Suchfunktionen zur Verfügung gestellt werden, die uns helfen, zitierwürdige Stellen zu finden. Das erspart uns immerhin, den ganzen Aufsatz lesen zu müssen. Das ist echter Fortschritt. Mich beunruhigt jedoch, dass uns immer mehr die Kontrolle über den Diskurs entgleitet. Wenn es keine gedruckten Exemplare mehr gibt, kann die Authentizität eines Textes nicht mehr leicht überprüft werden. Übelwollende Zensoren, wie wir sie aus Diktaturen kennen, können jederzeit missliebige Aufsätze verschwinden oder umschreiben lassen. Es müssten ja nicht unbedingt die Regierungen sein, die hinter solchen Maßnahmen Die Enteignung des Diskurses und der Diskurs der Enteignung 51 stünden. Würde es nicht reichen, wenn ein mit Monsanto freundschaftlich verbundenes Google juristische Bedenken hätte, einen Monsanto-kritischen Beitrag zugänglich zu machen? Es ist auch eine Frage von Sprachkultur, über solche Grenzen der Sagbarkeit zu reflektieren. 3. Die zunehmende Privatisierung urheberrechtsschutzfreier Diskurse Seit der Erfindung der Korpuslinguistik vor vierzig Jahren hat die Sprachwissenschaftler immer eine Sorge bewegt: Welche Texte dürfen sie in ihre Datenbanken herunterladen? Was ist erlaubt und was nicht? Was dürfen die Inhaber der Urheberrechte verlangen? Der empirisch arbeitende Linguist ist auf Texte angewiesen, und er muss diese Texte auch seinen Kollegen zugänglich machen können, damit alle seine Behauptungen überprüfbar sind. Anfänglich schenkte man dem Problem nur geringe Aufmerksamkeit, und trotz großen Wehklagens ist meines Wissens noch nie ein Korpuslinguist im Gefängnis gelandet. Aber was sagt das Urheberrecht? Hier besteht noch immer weithin Rechtsunsicherheit, wenngleich in den meisten Fällen für beide Seiten akzeptable Lösungen gefunden werden. Die Suche nach einer Verständigung mit den Verlegern mag oft aufwändig (und auch kostspielig) sein, und oft genug lässt man sich davon abschrecken, mit geschütztem Material zu arbeiten, und weicht lieber auf Texte aus, deren copyright abgelaufen ist. Glücklicherweise gibt es inzwischen auch gemeinnützige Organisationen wie beispielsweise das Projekt Gutenberg, die solche Texte in aller Regel zum kostenlosen Herunterladen anbieten. Doch schon bald wird das Projekt Gutenberg überholt sein. Schon gibt es neue Geschäftsideen, die darin bestehen, die Bestände bedeutender Bibliotheken, gerade wenn sie nicht (mehr) unter das copyright fallen, zu digitalisieren und anschließend nur noch gegen Gebühr zugänglich zu machen. Das kann einerseits natürlich von Nutzen für die Forschung sein. Wer etwa auf Inkunabeln zugreifen möchte, braucht nicht mehr Dutzende von Bibliotheken aufzusuchen, sondern kann sich den Text Seite für Seite auf seinem Bildschirm in unglaublicher Detailauflösung ansehen. Ihm wird Software an die Hand gegeben, die es gestattet, diese Texte auf Wörter und Phrasen abzusuchen, selbst wenn sie in Schriftfonts gesetzt sind, die noch vor zehn Jahre nicht automatisch „gelesen“ werden konnten. Das ist zweifellos von Vorteil. Was also hätten wir von der verdeckten, aber unaufhaltsamen Privatisierung unserer Bibliotheken zu befürchten? Aus Sicht der Anbieter handelt es sich um eine Dienstleistung im Sinne der Forschung, einen Beitrag zum Schutz unseres Wolfgang Teubert 52 kulturellen Erbes und um einen weiteren Beweis, dass die öffentliche Hand ohne die Hilfe der Privatwirtschaft verloren ist. So präsentieren sich drei willkürlich herausgegriffene Projekte: December 14, 2004 The Libraries of Harvard, Stanford, the University of Michigan, the University of Oxford, and The New York Public Library Join with Google to Digitally Scan Library Books and Make Them Searchable Online MOUNTAIN VIEW, Calif. - As part of its effort to make offline information searchable online, Google Inc. today announced that it is working with libraries [...] to digitally scan books from their collections so that users worldwide can search them in Google. „Even before we started Google, we dreamed of making the incredible breadth of information that librarians so lovingly organize searchable online“, said Larry Page, Google co-founder and president of Products. [...] „Google's mission is to organize the world's information, and we're excited to be working with libraries to help make this mission a reality.“ [...] „We believe passionately that such universal access to the world's printed treasures is mission-critical for today's great public university“, said Mary Sue Coleman, President of the University of Michigan. ( http: / / www.google.com/ press/ pressrel/ print_library.html ) 2 November 4, 2005 Microsoft to digitise 100.000 British Library books for MSN service Microsoft is working with the British Library to digitise 100.000 books and make them available online as part of its MSN Book Search service. To avoid the legal problems that have dogged Google Print in this field, the collection comprises out-of-copyright books from the 19th century and earlier, approximately 25 million pages worth of content. More books are promised to follow, but a spokesperson for the British Library insisted they would also be out-ofcopyright. ( http: / / www.pcpro.co.uk/ news/ 79552/ microsoft-to-digitise-100000-british-librarybooks-for-msn-service.html ) June 17, 2002 Gale Group to Digitize Most 18th-Century English-Language Books [...] Gale Group has announced a mammoth 20-million-page project that will bring to the Web most books published in the English language during the 18th century. Proclaimed as „the most ambitious single digitization project ever undertaken,“ it reflects cooperation by The British Library and other leading research libraries. [...] „We own the 18th century,“ boasted Mark Holland, publisher in Gale's U.K. office (and it sounded like he meant more than just the 2 Diese und die nachfolgenden Internetadressen befinden sich auf dem Stand vom 11.07.08, sofern nicht anders gekennzeichnet. Die Enteignung des Diskurses und der Diskurs der Enteignung 53 title of Gale's prospective digital edition of The Eighteenth Century). When finished, the project will include the full-image text of 150.000 English-language titles published between 1701 and 1800. Gale plans to complete the project in time to put the product on the Web beginning in June 2003. ( http: / / chnm.gmu.edu/ digitalhistory/ links/ cached/ chapter3/ link3.1a.digitization.html ) Angesichts der heutigen technischen Möglichkeiten sind solche Projekte wohl unausweichlich und an sich auch in vielerlei Hinsicht wünschenswert. Was da heraufdämmert, ist die Vision einer schönen neuen Welt, in der sich ein jeder die Bücher, die er immer schon mal lesen wollte, auf den elektronischen Nachttisch holen kann, wann immer er sich danach fühlt. Dass diese Entwicklungen auch dazu verwendet werden können, Zensur auszuüben, etwa Texte unter Verschluss zu halten, in denen genetisch modifizierte Lebensmittel kritisiert werden, steht sicher nicht im Vordergrund. Vielleicht würden manche wirklich gern darauf hinwirken, dass Texte, die Kinderpornografie, terroristische Gewalttaten, nationalsozialistische Verstrickungen unserer deutschen Industrie oder dschihadistisches Gedankengut thematisieren, nicht allgemein zugänglich gemacht werden. Doch darum geht es nicht in erster Linie. Die Projektpartner möchten sich wohl eher so verstanden wissen, dass sie eine Dienstleistung zum Schutz des kulturellen Erbes der Menschheit erbringen. Die beteiligten Bibliothekare mögen immerhin hoffen, sich endlich ihren geheimen Wunschtraum einer Bibliothek, in der alle Bücher alter Art an ihrem Platz stehen und die Ordnung nicht durch die Benutzer gestört wird, zu erfüllen. Doch wenn erst einmal die Bücherschätze hinter Panzertüren vor jeglicher Abnutzung geschützt sind, kann das Oligopol der Textanbieter die Nutzungsbedingungen definieren. Dahinter muss kein böser Wille stehen; es reicht, wenn, wie so oft, die normative Kraft des Faktischen wirkt. 4. Die Privatisierung des sprachlichen Ausdrucks Urheberrecht, Handelsmarkenrecht und Patentrecht sind seit 1994 auf eine weltweite Grundlage gestellt worden, nämlich auf das „Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentums“ (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights [ TRIPS ]). In diesem Abschnitt geht es mir um das Handelsmarkenrecht, das besagt, dass neben Produktnamen auch kürzere Textsegmente, die zur Werbung für Produkte dienen, geschützt werden können. In Abschnitt 2, § 15 und § 16 heißt es: Any sign, or any combination of signs, capable of distinguishing the goods or services of one undertaking from those of other undertakings, shall be capable of constituting a trademark. Such signs, in particular words including personal Wolfgang Teubert 54 names, letters, numerals, figurative elements and combinations of colours as well as any combination of such signs, shall be eligible for registration as trademarks. [...] The owner of a registered trademark shall have the exclusive right to prevent all third parties not having the owner's consent from using in the course of trade identical or similar signs for goods or services which are identical or similar to those in respect of which the trademark is registered where such use would result in a likelihood of confusion. [...] ( http: / / www.wto.org/ english/ tratop_e/ trips_e/ t_agm3_e.htm#2 ) Wie man sieht, ist die Benutzung geschützter Wörter nur dann untersagt, wenn damit kommerzielle Interessen verbunden sind. Als Laie darf ich unter Freunden weiterhin meinen Walkman als solchen bezeichnen. Aber darf ich auch dazu passende externe Lautsprecher als Walkman-kompatibel verkaufen? Am 10. Mai 2007 verbreitete der Sender BBC um 09.04 GMT folgende Meldung: A country pub in North Yorkshire is taking on an American fast food giant which claims it is using one of its trademark phrases The Tan Hill Inn, the highest pub in England, has been told by Kentucky Fried Chicken to remove the words „family feast“ from its menu. KFC 's lawyers said the company had registered the wording as a trademark. [...] The Tan Hill's owners then received a letter asking them not to use the „family feast“ description for the festive meal, which includes Guinness and stilton pate, roast turkey and Christmas pudding. Owner Tracy Daly said she thought the letter was a late April Fool's joke. [...] She added that they were determined to keep fighting for the right to use the „family feast“ description to help defend the freedom of the English language. A spokesman for KFC said the case was in the hands of their lawyers. ( http: / / news.bbc.co.uk/ 1/ hi/ england/ north_yorkshire/ 6641819.stm ) Besonders interessant für Sprachwissenschaftler ist, dass hier „Laien“ auf der Freiheit der (englischen) Sprache bestehen. Der Fall hat verständlicherweise den Nerv der britischen Bevölkerung getroffen. Das Pub ist schließlich der Ort, wo alle Klassenschranken fallen, wo im Sinne von Disraeli die Briten demokratisch zu einer Nation verschmelzen, umso mehr, als nun schon seit Jahrzehnten die frühere Geschlechtertrennung in allen Pubzonen aufgehoben ist. Hunderte von Zeitungsartikeln sind im Laufe weniger Tage in britischen Zeitungen zu dieser Groteske um den Ausdruck family feast erschienen. Am Ende musste KFC klein beigeben, um der Gefahr eines landesweiten Boykotts zu entgehen. Die Enteignung des Diskurses und der Diskurs der Enteignung 55 An diesem Beispiel lässt sich schön zeigen, wie absurd weitreichend die internationalen Bestimmungen sind. Google verzeichnet (am 23.02.07) 68.700 Treffer für family feast. Amazon.co.uk listet unter anderem diese Buchtitel auf: Italian Family Feast: Festive Cooking for Family Occasions The Thanksgiving Ceremony: New Traditions for America's Family Feast French Family Feast The French Family Feast Valentina's Italian Family Feast The Perfect Thanksgiving Book: Delicious Recipes for a Fabulous Family Feast Family feast ist, davon können wir ausgehen, ein völlig normaler Bestandteil der englischen Sprache. Wenn eine solche weit verbreitete Fügung zum Privateigentum einer Firma gemacht werden kann, wo bleiben dann die Grenzen der Sprachfreiheit? Im Fall der Olympischen Spiele von 2012 sind sie inzwischen sehr eng gezogen. In dem im Jahre 2006 verabschiedeten Gesetz London London Olympic Games and Paralympic Games Act werden Schurkenfirmen Gerichtsverfahren angedroht, die es wagen, Wörter aus zwei verschiedenen Listen in einem Text zu einem Ausdruck zusammenzufügen, sofern sie den (sportlichen oder kommerziellen) Interessen der Veranstalter zuwiderlaufen könnten. In der Liste 1 finden wir games, two thousand and twelve, 2012, twenty twelve, in Liste 2 gold, silver, bronze, London, medals, sponsor und summer. Bei Bedarf kann also schon eingeschritten werden, wenn man summer mit 2012 kombiniert. Besonders zukunftsweisend scheint mir zu sein, dass sich der zuständige Minister im Gesetz vorbehält, beliebige weitere Wörter auf die Listen zu setzen. So lässt sich leicht jede negative Berichterstattung unterbinden. 5. Die sprachliche Aneignung der Welt Jean-Jacques Rousseau glaubte, in der Urgesellschaft der Menschheit hätte es so etwas wie Privateigentum noch nicht gegeben, dafür aber wohl deutliche Unterschiede in der Intelligenz. Wie er meint, sei der Begriff des Privateigentums als einer zivilisatorischen Errungenschaft in erster Linie der Gutgläubigkeit tumber Toren zu verdanken: Le premier qui, ayant enclos un terrain, s'avisa de dire: „Ceci est à moi,“ et trouva des gens assez pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile. (Jean-Jaques Rousseau: Discours sur l'origineet les fondements de l'inégalité. http: / / www.horaz.com/ 03_Citations/ AUTEURS/ Rousseau_JJ.htm ) - - - - - - Wolfgang Teubert 56 Die Gültigkeit von Eigentum ist immer an die Anerkennung eines besitzanzeigenden Sprechakts gebunden. Zwar verteidigen auch viele Tiere ihr Territorium, aber es bleibt ihr Besitz nur so lange, wie sie es kontinuierlich ‘besitzen’. Das mag so auch für schriftlose Gesellschaften gegolten haben. Doch mit der Erfindung der Schrift wurden die Dinge komplizierter. Nun konnte der Besitzer eines Texts, der seinen Anspruch bescheinigte, sowohl das Stück Land als auch das darauf lebende Schwein für sich beanspruchen. Da waren die, die über Notare, Gerichte und Büttel verfügten, dem weithin analphabetischen Volk gegenüber im Vorteil. Im Prinzip lassen sich für den Aneignungsdiskurs drei wesentliche Phasen unterscheiden: Die occupatio rei nullius, d.h. die Aneignung einer (beweglichen oder unbeweglichen) Sache, die niemandem gehört. (Damit wird bis in die Gegenwart die Aneignung Australiens begründet, denn die Ureinwohner hatten sich ihre Parzellen nicht im Grundbuch eintragen lassen.) Eigentum begründet durch Arbeit, solange sie im eigenen Namen stattfindet. („Thus [...] the turfs my servant has cut [...] in any place where I have a right to them in common with others, become my property [...]. The labour that was mine [...] hath fixed my property in them.“). (John Locke: Second Treatise on Government. http: / / findarticles.com/ p/ articles/ mi_m2065/ is_4_54/ ai_97118068/ pg_2 ) Die Schaffung vermarktbaren Inhalts. („A man's ideas are his property [...]. He („A man's ideas are his property [...]. He has a right, as against all other men, to absolute dominion over his ideas. He has a right to selling them to other men. [...] One man can sue for and recover pay for ideas [...], just as he can for land, food, clothing or fuel.“ ) (Lysander Spooner: The Law of Intellectual Property - The Law of Nature. www. lysanderspooner.org/ intellect/ ch1s3s4s5.htm. Leicht gekürzt.) Damit bin ich bei meinem zweiten Thema angelangt, nämlich, wie durch die Privatisierung von Ideen, also inhaltlichen Konstrukten, konkrete Ansprüche auf die Wirklichkeit geschaffen werden können. Die Frage, die es hier zunächst zu beantworten gilt, ist die, was eine neue Idee ausmacht. Patente schützen das Eigentum an Ideen. Was aber heißt das genau? Was ist geschützt, wenn man, wie es in einigen Ländern möglich ist, ein Kochrezept patentiert? Es ist nicht der Text, denn der hat öffentlich und frei zugänglich zu sein. Das bezieht sich sowohl auf die Form wie auf den Inhalt des Texts. Verboten ist es dagegen, die Kochanweisungen auszuführen. So sagt Rechtanwalt David George in seiner Interpretation amerikanischen Patentrechts: „Under patent law, instructions do not infringe patents. For example, if someone patented a cake, then the recipe would not infringe the patent, but the cake that a baker bakes using the recipe would infringe.“ ( http: / / www.scotusblog.com/ wp/ commentary-and-analysis/ argument-preview-microsoft-v-att-on-221/ ). a) b) c) Die Enteignung des Diskurses und der Diskurs der Enteignung 57 Nach amerikanischem Patentrecht kann inzwischen fast alles patentiert werden. In den Worten des Reports der britischen Royal Society von April 2003 Keeping science open: the effects of intellectual property policy on the conduct of science heißt das: The US Supreme Court had ruled that laws of nature, phenomena and abstract ideas are unpatentable [...]. However, in its 1980 decision [...] it considered that, if the normal statutory criteria of novelty etc were fulfilled, ‘anything under the sun that is made by man’ was patentable; a view that was later qualified to exclude human beings. ( http: / / royalsociety.org/ displaypagedoc.asp? id=11403 ) Was der menschliche Geist beizusteuern hat, sind also die Instruktionen, die benötigt werden, um eine Idee zu verwirklichen. Die Frage, an der sich heute die Geister scheiden, ist, ob etwa Eigenschaften von in der Natur vorkommenden Dingen, beispielsweise von Pflanzen und Tieren, patentiert werden können, wenn man diese Eigenschaften quasi als Baupläne, und somit als Anweisungen formuliert. Das ist beispielsweise beim Genom der Fall. Anscheinend ist es heute möglich, die Dekodierung der DNA in eine geistige Eigenleistung umzudefinieren. Dadurch wird erreicht, dass nun nicht mehr nur Erfindungen, sondern auch Entdeckungen, also bisher in ihrer DNA nicht beschriebene potenzielle Nutzpflanzen, die man in der Dritten Welt findet, patentierbar sind. 6. Das Monsanto-Schwein Die Zeiten, in denen Bauern Schweine züchten konnten, wie sie es für richtig hielten, könnten bald vorbei sein. Denn in der Zwischenzeit hat sich die Firma Monsanto mit dem Borstentier befasst. Seine DNA ist dekodiert, und siehe da, es gibt durchaus unter dem Schweine-Genom Varianten, darunter bestimmte DNA -Sequenzen, die sich als Gene interpretieren lassen, weil sich behaupten lässt, dass diesen Genen bestimmte Phänotypen entsprechen. Manche Schweine sind, sagen wir einmal, fleischiger als andere. Am 01.08.2005 veröffentlichte Greenpeace Deutschland unter der Überschrift Monsanto will weltweites Schweine-Monopol einen Artikel, dessen Anfang ich hier zitiere: Der US -amerikanische Saatgutkonzern Monsanto produzierte ursprünglich chemische Spritzmittel für die Landwirtschaft. Doch seit Jahren weitet er seine marktbeherrschende Stellung auf die ganze Lebensmittelproduktion aus. Die Methoden: Firmenaufkäufe, Patente auf normales und genmanipuliertes Saatgut, Pflanzen, Tiere und Lebensmittel, Gerichtsprozesse gegen Landwirte. Das jüngste Beispiel: Zwei weltweit angemeldete Patente auf Schweinezucht. Die Schweineherden will sich Monsanto gleich mit patentieren lassen. Beide Pa- Wolfgang Teubert 58 tente haben letztlich zum Ziel, Schweine zu erzeugen, die schneller wachsen, um so langfristig die Kosten in der Fleischproduktion weiter zu senken. Die Patente WO 2005/ 017204 und WO 2005/ 015989 sind seit Februar 2005 bei der Weltpatentbehörde in Genf (World Intellectual Property Organisation, WIPO ) im Register verzeichnet. (Christoph Then: Monsanto will weltweites Schweine-Monopol. www.greenpeace.de/ themen/ patente/ konzerne/ artikel/ monsanto_will_weltweites_schweine_monopol/ ) Früher hatten Erfindungen etwas Konkretes, nämlich das Produkt, das durch die Befolgung der patentierten Instruktionen entsteht. Es liegt im Bereich des Anschaulichen, ob ein Artefakt über eine bisher nicht vorhandene Funktionalität verfügt. Das ist etwas, worauf man sich gemeinsam verständigen kann. Anders sieht es jedoch bei Ideen aus, die in ihrem Kern abstrakt sind. Bei den beiden Patenten, die von Monsanto angemeldet sind, geht es im Wesentlichen um Anweisungen, die so abstrakt und so vage formuliert sind, dass sie, was ihre Konkretisierung betrifft, viel Raum für Ambiguität schaffen. Es stellt sich die Frage, inwieweit die in ihnen enthaltenen Zuchtanweisungen nicht auch das bereits vorhandene Wissen über Schweinezucht beinhalten, also nicht wirklich neu sind. Denn es müsste ja eine neue Idee sein, die durch ein Patent geschützt wird. Dabei ist es nötig, auf die Frage, die ich bereits oben angeschnitten habe, ein zweites Mal zurückzukommen, nämlich auf die Frage, wie unabhängig (neue) Ideen davon sein können, wie sie ausgedrückt werden. Reicht es, dass eine Idee als neu gilt, wenn sie noch nie vorher in gleicher Weise formuliert worden ist? Woran also soll man feststellen, ob ein Vorschlag zur Schweinezucht, wie der von Monsanto, wirklich eine neue Idee ist? Kann man das vielleicht nur unter Bezug auf das durch die Anweisungen entstandene Produkt, nämlich das Schwein, entscheiden? Was aber, wenn es das ‘neue’ Produkt (ein Schwein, das über eine spezifische DNA -Sequenz verfügt) auch jetzt schon und unabhängig von der angeblich neuen Zuchtidee gibt? Dies ist der zentrale Anspruch des Patents WO 2005/ 017204 : „A Method for producing terminal swine parent animals having improved germplasm“. Auf der Webseite von No Patents on Seeds ist der Inhalt wie folgt zusammengefasst: Monsanto describes general methods of pig breeding, such as normal crossing and selecting methods, using artificial insemination and other methods which are already in use. The main so-called “invention” is a certain way to combine these elements to speed up breeding for animals that are better in meat quality, health or in other economical aspects. The patent covers the idea how to combine the different elements of breeding but also claims the whole animals and even herds of animals used for breeding. ( http: / / www.no-patents-on-seeds.org/ index.php? option=com_content&task=view&id=29&Itemid=20 ) Die Enteignung des Diskurses und der Diskurs der Enteignung 59 Dies sind einige der 180 Punkte in der 20.000 Wörtern langen Beschreibung der ‘Erfindung’: [0002] The present invention relates generally to the field of improving porcine (pig) genetics, at both the individual animals and herds levels. Among the various embodiments, it particularly concerns a method for improving and producing terminal sires so that these boars have improved genetic merit as compared with the average herd animal [...]. [0033] The instantly disclosed invention sets forth a method for the rapid improvement of an animal population, based on phenotypic and/ or genotypic information [...]. [0038] As used herein the term “ BLUP ” (which is an acronym for best linear unbiased prediction) refers to a statistical methodology introduced by Henderson (1959, 1963) that has become an animal breeding industry standard for predicting breeding values for individual animals. [0039] With standard post-graduate training in animal breeding techniques, BLUP can be performed, by those of ordinary skill in the art, using any of the various commercially available computer programs that are used for genetic evaluation of an animal and/ or herd [...]. [0043] As used herein the acronym “ DIUI ” denotes the phrase “deep intrauterine insemination.” [...] [0047] As used herein the terms “elite sire”, “elite boar” and “selected sire” can be used interchangeably [...]. [0066] As used herein the term “meat quality trait” preferably means any of a group of traits that are related to the eating quality (or palatability) of pork. Examples of such traits include, but are not limited to muscle pH, purge loss, muscle color, firmness and marbling scores, intramuscular fat percentage, and tenderness [...]. [0082] As was noted, supra, the instant invention provides methods that allow swine breeders to use a very few or, if desired, even a single boar to inseminate and/ or impregnate an entire generation of females in a target herd [...]. [0091] In certain aspects of this embodiment of the invention the semen from one or more terminal sires is used to breed all or substantially all of the females in the target herd. In a preferred aspect of this embodiment, the semen from a single elite sire is used to breed all or substantially all of the females in the target herd [...]. [0095] In various aspects of the invention the breeding plan is designed such that it provides for a sustainable production of offspring. [...] [0100] According to one aspect of this embodiment, the high level of offspring production is achieved and maintained through the use of deep intrauterine insemination ( DIUI ). [...] Wolfgang Teubert 60 [0113] Failure to breed a small number of the target herd females, does not take one outside the scope of the instant invention. [...] [0117] Rendement Napole ( RN ) gene has an economically important impact on the meat quality traits of swine. [...] ( http: / / www.wipo.int/ pctdb/ en/ wo.jsp? IA=WO2005015989&DISPLAY=DESC ) Der Vergleich mit anderen Texten zeigt, wie wenig originell die vorgestellten Zuchtmethoden sind. So heißt es beispielsweise in einem Bericht der University of Chicago angeschlossenen SwineReproNet: The Online Resource for the Pork Industry in einem Artikel mit dem Titel in einem Artikel mit dem Titel The Changing Nature of Pig Reproduction von 2005: von 2005: The new genetics represent high indexing sires and dams for both maternal and terminal classes of traits. The use of these genetics contribute to the ability to achieve overall reproductive performance near the top 10% for all herds, while at the same time producing offspring which produce high quality pork very efficiently. ( http: / / www.livestocktrail.uiuc.edu/ swinerepronet/ paperDisplay.cfm? Content ID=7588 ) Ein sprachwissenschaftlicher Vergleich von vorhandenen Texten mit dem Patenttext, zu dem natürlich Schweinezuchtexperten herbeizuziehen wären, würde, so glaube ich, demonstrieren, dass die Zuchtidee, die Monsanto patentieren lassen möchte, zwar noch nie gleichlautend formuliert worden ist, dass aber die einzelnen Formulierungen nichts weiter als Paraphrasen vorhandener Textstellen sind. Nehmen wir Punkt 117 („Rendement Napole ( Rendement Napole ( RN ) gene has an economically important impact on the meat quality traits of swine“), und “), und erinnern wir uns daran, dass in Punkt 66 als „meat quality traits“ pH-Werte und Fleischfarbe als Beispiele angeführt waren, und lassen wir Google nach ähnlichen Stellen suchen: The effect of [...] Rendement Napole genes on [...] meat quality characteristics of pigs. ( http: / / jas.fass.org/ cgi/ reprint/ 78/ 11/ 2862.pdf ) Rendement Napole ( RN ) gene is a swine gene found to cause low ultimate pH and water holding capacity ( WHC ) in pork. ( www.omafra.gov.on.ca/ english/ livestock/ swine/ facts/ 04-083.htm ) Animals that carry the dominant allele of the Rendement Napole gene ( RN -) have been found to produce paler meat with reduced water holding capacity. (www.livestocktrail.uiuc.edu/ porknet/ paperDisplay.cfm? ContentID=87 ) Normalerweise bestehen alle Texte, die neu in den Diskurs eingebracht werden, zu einem Großteil aus Paraphrasen von zuvor Gesagtem. Seitdem sich die Korpuslinguistik für dieses Phänomen interessiert, wissen wir, wie sehr ein Diskurs aus Wiederholungen von meist kleineren, aber auch größeren Die Enteignung des Diskurses und der Diskurs der Enteignung 61 Textsegmenten besteht. Das können mehr oder weniger feste Wendungen sein, aber durchaus auch komplexere Gebilde. Nur relativ selten finden wir völlig identische Klone; häufiger sind Permutationen, Reformulierungen und Rekombinationen; kurzum Varianten, in denen wir neben einer etwas anderen syntaktischen Struktur auch andere lexikalische Einheiten finden, die zu dem ursprünglich Gesagten in einer Paraphrasenrelation stehen. Was das Neue ist, das in den meisten Texten ja auch zu finden ist, so lässt es sich am ehesten darin sehen, dass in einem vertrauten Kontext ein neues Element eingeführt wird. Google zufolge hat es den Anschein, dass alle in Punkt 66 aufgeführten Eigenschaften von meat quality jede für sich häufig genug (d.h. in Hunderten von Fällen) mit meat quality korrelieren. Das gilt für Belege, in denen meat quality einerseits mit firmness and marbling scores (105 Belege), andererseits mit intramuscular fat percentage (875 Belege) in Verbindung gebracht wird. Doch alle vier Belege, die beide Eigenschaften gleichzeitig mit meat quality verbinden, beziehen sich auf Monsantos Patentantrag. Ist also meat quality hier neu definiert worden? Die Frage, was Anspruch auf Neuheit in hier neu definiert worden? Die Frage, was Anspruch auf Neuheit in Fragen geistigen Eigentums haben kann, wäre es wohl wert, in der Sprachwissenschaft ausführlicher als bisher diskutiert zu werden. Man müsste nur den Forschungsansatz interaktiven Wissensaufbaus (‘collaborative knowledge building’) mit der Analyse von Paraphrasen kombinieren, wie wir sie in dem Patentantrag etwa in den Punkten 38 („refers to“), 43 („denotes“), 47 („can be used interchangeably“) und 66 („means“) sprachlich angezeigt finden. Wenn es das Ziel der zum Patent angemeldeten Zuchtmethoden ist, Schweine, in deren DNA sich Rendement Napole findet, zu züchten, könnte man das, wie schon Greenpeace unterstellt hat, sicher auch leichter erreichen. Denn solche Schweine gibt es seit langem: The RN -rendement Napole (French for Napole yield) phenotype is common in Hampshire pigs [...]. ( www.biochemsoctrans.org/ bst/ 031/ 0232/ bst0310232.htm ) Angesichts des Einflusses, den Monsato auf Entscheidungsträger in den USA , aber auch in Europa und anderswo ausübt (vgl. den Report von Greenpeace: Monsanto: Ein Gentechnik-Gigant kontrolliert die Landwirtschaft ( http: / / www.greenpeace.de/ fileadmin/ gpd/ user_upload/ themen/ gentechnik/ greenpeace_ monsantoreport.pdf ), muss damit gerechnet werden, dass diesem Patentantrag zusammen mit anderen, darauf abgestimmten Anträgen letztlich stattgegeben wird. Soweit es in solchen Verfahren zu Gutachterschlachten kommt, braucht Monsanto davor nicht Bange zu sein. Es dürfte nur wenige Experten geben, die nicht in irgendeiner Form von diesem Konzern profitiert haben. Eine ganz oberflächliche Suche in Google brachte diese Ergebnisse: Wolfgang Teubert 62 The work was supported in part by the Monsanto Company [...] The authors sincerely thank Monsanto Agricultural Products [...] The authors thank the Monsanto Company (St. Louis, MO ) [...] These studies were supported by [...] a grant from Monsanto [...] Supported by Monsanto Company [...] This study was supported by the Collaborative Animal Research Program between the University of Missouri Department of Animal Science and Monsanto Animal Agriculture Group [...] 7. FUD : fear, uncertainty and doubt Die neue Generation von Patentanträgen, deren eigentlicher Zweck nicht darin zu bestehen scheint, neues geistiges Eigentum zu schützen, sondern darin, Anspruch auf in einer Gesellschaft vorhandenes kollektives Eigentum zu erheben, indem Verfahren, die bisher jedem zur Verfügung standen, privatisiert werden, arbeitet in ihrer Textgestaltung bewusst mit interner Widersprüchlichkeit und Umbenennungsstrategien, mit Vagheit und Ambiguität. Damit wird Unklarheit darüber erzeugt, was nun eigentlich unter Schutz gestellt ist. Diese Unsicherheit soll bewusst Furcht davor erzeugen, ein vorhandenes Eigentumsrecht zu verletzen. Schon seit den zwanziger Jahren gibt es das Konzept FUD : fear, uncertainty and doubt. Es ist, wie der entsprechende Wikipedia-Eintrag sagt, „eine rhetorische Taktik, die Verwendung findet im Verkauf, im Marketing und in Public Relations“ ( http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Fear%2C_uncertainty_and_doubt ). Wenn es Monsanto gelingt, den Verdacht zu streuen, dass die Schweine, die ein Bauer verkaufen möchte, Eigentumsrechte dieses Weltkonzerns verletzen könnten, wird dies die meisten Käufer vom Erwerb abhalten. Heute spielt FUD besonders im Bereich des Patentschutzes von Software, wie ihn das amerikanische (aber nicht das europäische) Patentrecht kennt, eine besonders herausragende Rolle. Auch hier geht es um die Frage, ob eine neue Formulierung in einem Softwareprogramm den Anspruch erheben kann, eine neue Idee auszudrücken. FUD ist einerseits zum Gestaltungsprinzip von Patentanträgen geworden und wird andererseits wirksam, wenn man Softwareanwendern aufwändige Gerichtsprozesse wegen angeblicher Patentschutzverletzungen androht, ohne im Einzelnen zu sagen, worin die Verletzungen bestehen. Genau das ist beim Verfahren des Großkonzerns SCO gegen IBM der Fall, einem Prozess, der 2003 begann und erst 2007 abgeschlossen wurde. Dies ist, aufs Wesentliche verkürzt, die Geschichte: On March 6, 2003, the SCO Group [...] filed a $ 1 billion lawsuit in the US against IBM for allegedly “devaluing” its version of the UNIX operating system. The amount of alleged damages was later increased to $ 3 billion, and then Die Enteignung des Diskurses und der Diskurs der Enteignung 63 $ 5 billion. SCO claimed that IBM had, without authorization, contributed SCO 's intellectual property to the codebase of the open source, Unix-like Linux operating system. In May 2003 SCO Group sent letters to members of the Fortune 1000 and Global 500 companies warning them of the possibility of liability if they use Linux. [...] In an “Order Granting in Part IBM 's Motion to Limit SCO 's Claims” dated June 28, 2006, Judge Brooke Wells [...] barred SCO from asserting 187 of the 298 allegedly misused items that IBM had moved to exclude from the lawsuit for lack of specificity [...], comparing SCO 's tactics with those of an officer who accuses a citizen of theft, but will not disclose what the citizen is accused of stealing. “Certainly if an individual was stopped and accused of shoplifting [...], they would expect to be eventually told what they allegedly stole. It would be absurd for an officer to tell the accused that ‘you know what you stole I'm not telling.’ [...]” On August 10, 2007, Judge Kimball [...] ruled that Novell, not the SCO Group, is the rightful owner of the copyrights covering the Unix operating system. The court also ruled that “ SCO is obligated to recognize Novell's waiver of SCO 's claims against IBM and Sequent”. ( http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ SCO_v._IBM ) The campaign evidently worked, as SCO stock skyrocketed from under $ 3 a share to over $ 20 in a matter of weeks in 2003. (It later dropped to around [...] $ 1.20 - then crashed to under 50 cents on August 13, 2007 in the aftermath of a ruling that Novell owns the UNIX copyrights). ( http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Fear,_uncertainty_and_doubt ) FUD hat in diesem Fall offensichtlich nicht gewirkt. Heute ist es die Firma Microsoft, die mit der Methode FUD versucht, Linuxanwender unter Druck zu setzen. So konnte man am 18. Mai 2007 in TGD aily lesen: „Recently [Microsoft] company officials have said that 235 of Microsoft's patents are being potentially breached by operating systems such as Linux.“ Es war das nichts als eine Neuauflage einer schon 2004 veröffentlichten Studie von Dan Ravicher, derzufolge Linux potenziell 283 Patente von Microsoft verletzt. Ravicher, ein Patentanwalt, ist Executive Director der Public Patent Foundation und Legal Director des Software Freedom Law Center. Doch hatte Ravicher seinerzeit Microsoft keineswegs einen Freibrief ausstellen wollen. Er sagte auch, „Microsoft is up to its usual FUD .“ Die Studie habe lediglich festgestellt, „that Linux potentially, not definitely, infringes 283 untested patents, while not infringing a single court-validated patent.“ Letztlich haben sich Microsofts Unterstellungen als eine Drohgebärde entpuppt, die ihre Wirkung schon dann getan hat, wenn Firmen davon abgeschreckt wurden, auf Linux statt auf Windows zu setzen. ( www.eweek.com/ c/ a/ Linux-and-Open-Source/ Author-of-Linux-Patent-Study- Says-Ballmer-Got-It-Wrong/ ). Wolfgang Teubert 64 Während sich viele Sprachwissenschaftler, beeinflusst etwa durch die Arbeiten von Jacques Derrida, dazu angeregt gesehen haben, wenigstens für schriftliche Texte jeden Bezug zu einer diskursexternen Wirklichkeit als irrelevant für die Bedeutung auszuschließen und statt dessen davon auszugehen, dass es nur eine einzige Wirklichkeit gibt, über die wir verfügen, nämlich die Wirklichkeit, die die Mitglieder einer Diskursgemeinschaft gemeinsam ausgehandelt haben, scheinen wir es bei Grundbüchern, Eigentumsurkunden und Patentschriften mit einem Genre zu tun zu haben, in dem symbolische Inhalte direkt auf eine Wirklichkeit außerhalb des Diskurses referieren. FUD , so hat es den Anschein, stellt diesen Bezug nicht in Frage, sondern dient lediglich dazu, ihn zu verunklaren. Doch vielleicht unterliegen wir auch einer Täuschung, wenn wir einen derartigen Wirklichkeitsbezug unterstellen. Denn wir können solche Texte auch aus einer anderen Perspektive lesen. Sie lassen sich ebenso als Anweisungen an das Verhalten von Mitgliedern einer Diskursgemeinschaft definieren, etwa, bestimmte Schweinezuchtmethoden zu unterlassen und mit Sanktionen bei Verstößen zu drohen. Die Behauptung eines eventuellen Verstoßes wird wiederum Teil des (nachfolgenden) Diskurses. Aber das gilt auch für die Aufarbeitung eines solchen Vorwurfs. Es ist letztlich die Diskursgemeinschaft als Ganze, die die ursprüngliche Eigentumsbehauptung, die Behauptung eines Verstoßes und die Auseinandersetzung darüber vor Gericht zu interpretieren hat. Dabei ist sie, im Prinzip wenigstens, frei. So gesehen lassen sich auch Patentschriften und Grundbucheinträge diskutieren. Doch was wird bei dieser Sicht aus dem unterstellten Wirklichkeitsbezug? Mit dieser Frage sind wir, so meine ich, wieder bei Rousseaus Diktum zur Erfindung des Eigentumskonzepts angelangt. Dieses Konzept verweist weniger auf eine Wirklichkeit außerhalb des Diskurses, als dass es von den Diskursteilnehmern ein bestimmtes Verhalten einfordert, nämlich die Anerkennung von Ansprüchen, die bestimmte Mitglieder der Diskursgemeinschaft einfordern. Das ganze Eigentumskonzept fällt wie das sprichwörtliche Kartenhaus in sich zusammen, wenn wir ihm im Diskurs diese geforderte Anerkennung versagen. 8. Anlass zur Sorge? Den Diskurs, den Marktplatz, auf dem Menschen symbolischen Inhalt teilen und austauschen, hat es gegeben, seit die Menschen begonnen haben, symbolischen Inhalt zu kommunizieren. Doch war, denke ich, der Diskurs zu früheren Zeiten gesellschaftlich und nicht marktwirtschaftlich organisiert. Soweit Hier- Die Enteignung des Diskurses und der Diskurs der Enteignung 65 archie institutionalisiert war, haben die, die Kontrollfunktionen ausübten, Mechanismen entwickelt, die regelten, wer zu wem über welches Thema in welcher illokutiven Weise reden durfte, und wer was hören oder lesen durfte. Es gab Zensur. Manche Diskurse, beispielsweise der intrafamiliäre oder der Stammtischdiskurs, waren von anderen Hierarchien bestimmt oder sogar mehr oder weniger ‘demokratisch’. Hierarchien und Mechanismen setzten ein gewisses Maß an Akzeptanz durch die davon Betroffenen voraus, das nicht immer gegeben sein musste, wie z.B. in der Endphase der DDR sichtbar wurde. In solchen Konfliktsituationen wurden Differenzen in eigenen ‘Metadiskursen’ thematisiert. Diese regelten, was in einem definierten Rahmen sagbar ist und was nicht, worauf verwiesen werden kann und was argumentativ angeführt werden kann und was nicht. An die Stelle der gesellschaftlichen Institutionen, die in der Vergangenheit den Diskursmarkt reguliert haben, treten heute mit zunehmender Deregulierung (und damit einhergehender Demokratisierung) verstärkt die privaten Diskursvermarkter, die eine ihren eigenen Interessen nutzbare Regulierung des Marktes vornehmen. So gesehen sind die heutigen Teilnehmer am Diskursmarkt aufgespaltet in Diskursproduzenten und Diskurskonsumenten, die nicht direkt, sondern nur über Diskursvermarkter miteinander in Beziehung treten, so wie der Verbraucher die Milch nicht beim Bauern, sondern im Supermarkt kauft. Es sind die großen Supermarktketten, die das Angebot und die Preise bestimmen. Was sie nicht in ihren Regalen anbieten, findet keinen Abnehmer. In ähnlicher Weise kontrollieren die Verleger akademischer Zeitschriften über die Bestellung von Herausgebern die Produktion von akademischem Diskurs. Indirekt beteiligt sind an der Produktion akademischen Zeitschrifteninhalts auch die öffentlichen, aber immer mehr auch die privaten Instanzen, die durch die Vergabe von Forschungsmitteln Einfluss nehmen auf das, was geschrieben wird. Besonders was die Forschung und Entwicklung in wirtschaftlich interessanteren Disziplinen angeht, sind es oft kommerzielle Interessen, die (mit-) entscheiden, wohin Gelder fließen. Monsanto ist beispielsweise, wie wir gesehen haben, solch ein großzügiger Forschungsförderer. Durch die zunehmende Monopolisierung des Angebots an (inzwischen elektronisch verpackten) Bündelungen akademischer Zeitschriften kontrollieren die Diskursvermarkter gleichzeitig auch das Konsumverhalten der Akademiker. Gelesen (und zitiert) wird, was sich im Angebot der führenden Universitätsbibliotheken befindet. Wem es dennoch einmal gelungen sein sollte, Texte mit alternativen Wirklichkeitsentwürfen in akademischen Zeitschriften zu platzieren, der läuft Gefahr, Wolfgang Teubert 66 nicht nur sich selbst künftig vom Bezug relevanter Forschungsgelder (und damit von der Finanzierung weiterer Textproduktion) auszuschließen, sondern auch seine eingereichten Beiträge künftig abgelehnt zu finden. Die geistigen Eigentumsrechte sind das hauptsächliche Instrumentarium für die Enteignung des Diskurses und für den Diskurs der Enteignung. Es ist in erster Linie das Urheberrecht, das den privatwirtschaftlichen Diskursvermarktern nicht nur ihren Gewinn sichert, sondern ihnen auch die Kontrolle über die angebotenen Inhalte erlaubt. Gäbe es einen freien Markt der Vermarkter, wäre das nicht weiter tragisch. Doch gerade in diesem Wirtschaftszweig lässt sich eine allgemeine Tendenz zur Oligopolisierung gut beobachten. Immer weniger Anbieter kontrollieren immer größere Teile des Diskurses. Dazu kommt jedoch ein Zweites. Über die Diskursproduktion bestimmen die Diskursvermarkter nicht allein. Es kommt daher beinahe zwangsläufig zu Interessenverbindungen mit anderen kommerziellen Interessen, die bewirken können, dass keine firmenfeindlichen Texte in Zeitungen erscheinen oder dass als solche nicht kenntlich gemachte Propagandafilme, die etwa den Klimawandel leugnen, im Fernsehen platziert werden. Gerade beim Warenzeichenrecht und beim Patentrecht kommen allgemeine, nicht speziell verlegerische, kommerzielle Interessen ins Spiel. Sie richten sich, anders als das Urheberrecht, nicht an den Diskurskonsumenten, sondern betreffen auf indirekte Weise den Verbraucher als Marktteilnehmer schlechthin. Beim Warenzeichenrecht geht es um die finanziellen Vorteile des branding. . Wörter, Fügungen und Eigennamen, die positive Assoziationen auslösen, werden zum Privatbesitz interessierter Anbieter entsprechender Waren gemacht. So darf in vielen Ländern nicht mehr Bier aus České Budějovice/ Budweis, sondern nur das von der Firma Anheuser-Busch produzierte Gebräu als Budweiser vermarktet werden. So hat beispielsweise der amerikanische Kongress entschieden, dass nur amerikanischer Wels catfish heißen darf, nicht aber aus Vietnam eingeführter Wels ( NYT 05.02.2002, Americans and Vietnamese Fighting Over Catfish ( ( http: / / query.nytimes.com/ gst/ fullpage.html? res=9 902E2D6123EF936A35752C1A9649C8B63 )); und so bedurfte es einer weltweiten Kampagne, um zu verhindern, dass nur Reis, der mit dem Saatgut der amerikanischen Firma RiceTec produziert wird, nicht aber etwa indischer Reis, als Basmati auf den (Welt-)Markt gebracht werden darf (Vandana Shiva: The Basmati Battle And its Implications for Biopiracy and Trips ( http: / / www. globalresearch.ca/ articles/ SHI109A.html )). In letzter Zeit werden viele solcher Schlachten geschlagen. Als im Jahr 2004 die äthiopischen Kaffeebauern ihre international besonders begehrten Kaffeesorten Sidamo, Harar und Yirgar- Die Enteignung des Diskurses und der Diskurs der Enteignung 67 cheffe als Handelsmarken bei dem United States Patent and Trademark Office ( USPTO ) registrieren und schützen lassen wollten, sind sie mit diesem Ansinnen gescheitert. Die US National Coffee Association, bei der Starbucks ein nicht unbedeutendes Mitglied ist, erhob gegen diesen Antrag Einspruch, dem prompt stattgegeben wurde. Im Mai 2007 hieß es in den Zeitungen, eine Einigung zwischen Starbucks und den äthiopischen Kaffeebauern stünde unmittelbar bevor. Seitdem hat man seltsamerweise nie wieder davon gehört. Doch Starbucks bietet unbeirrt Ethiopia Sidamo Coffee an. Wie ich oben gezeigt habe, behauptet das Patentrecht eine eigentümliche und einzigartige Verbindung zwischen Sprache und Wirklichkeit. Besonders durch die Anwendung der Methode ‘Furcht, Ungewissheit und Zweifel’ ( FUD : fear, uncertainty, doubt) geraten zunehmend Dinge unter Patentschutz, die mit bekannten Verfahren erzeugt werden, wenn nur diese Verfahren auf eine neuartige Weise beschrieben werden, also vorhandene Diskursobjekte neu benannt und existierende Beschreibungen rekombiniert und reformuliert werden. Der Nachweis, dass ein Text nicht etwas Neues beschreibt, sondern die Paraphrase einer vorhandenen Beschreibung und somit synonym mit ihr ist, lässt sich nur sehr aufwändig und immer nur interpretatorisch und damit subjektiv führen. Damit hat, wer über die Interpretationshoheit verfügt, immer einen Vorsprung. Hier zeigt sich dann auch, wie sich das Urheberrecht mit dem Patentrecht koppeln lässt. Wer darüber mitentscheidet, was etwa in der Fachöffentlichkeit über Forschung und Entwicklung im Bereich genmanipulierter Nahrungsmittel - sei es Soja oder das Hausschwein - geschrieben wird, kann so auch dafür sorgen, dass das, was im Patentantrag als neues Produktionsverfahren beschrieben wird, nicht als ein alter Hut entlarvt wird. Es ging mir in diesem Beitrag darum, deutlich zu machen, dass es uns das Phänomen geistiger Eigentumsrechte durchaus wert sein sollte, ihm unsere professionelle Aufmerksamkeit zu schenken. Um eine Sprachkultur, in der das, was gesagt wird, also der Diskurs, immer mehr in den Sog des Gewinnstrebens gerät, muss man durchaus besorgt sein. Werden in einer Gesellschaft immer größere Teile des (öffentlichen) Diskurses der Kontrolle einiger weniger Diskursvermarkter unterworfen, dann ist zu befürchten, dass längerfristig der Diskurs darunter mehr zu leiden hat als unter einer hierarchisch organisierten Gesellschaft. Dort wenigstens kommunizierten die Mächtigen mit ihren Untertanen direkt und waren letztendlich ihrer Akzeptanz ausgeliefert, oder sie verschwanden von der Bildfläche. Heute jedoch teilt die Enteignung des Diskurses die Diskursgemeinschaften in Produzenten und Konsumenten so auf, dass es zwischen Produzenten und Konsu- Wolfgang Teubert 68 menten keinen direkten Kontakt mehr gibt. Die zu kommunizierenden und die kommunizierten Inhalte werden von den Vermarktern dirigiert, die sich ihrerseits, geschützt durch das Privileg des Privateigentums, jeder gesellschaftlichen Kontrolle entziehen. Ein den Gesetzmäßigkeiten einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft unterworfener Diskurs ist ungesund. Er kann Herausforderungen wie etwa dem Klimawandel, der Notwendigkeit von nachhaltiger Entwicklung, einer Umverteilung von oben nach unten oder einer Abkehr vom Zwang zu immer mehr Wachstum nicht gerecht werden. Kaum jemand erinnert sich heute noch daran, dass es in den siebziger Jahren anlässlich der Veröffentlichung des Berichts des Club of Rome, Grenzen des Wachstums, eine ernsthafte Diskussion darüber gab, inwieweit Wachstum an sich eine Lösung sein kann. Dieser Wachstumsdiskurs ist nicht von ungefähr aus dem öffentlichen Diskurs verbannt worden. Stattdessen wird wirtschaftlicher Erfolg an nichts anderem mehr als an Wachstumsstatistiken gemessen. Es ist die Aufgabe der Sprachkritik, dem zentralen Arbeitsgebiet von Rainer Wimmer, auf solche Beschädigungen unseres öffentlichen Diskurses aufmerksam zu machen. In Rainer Wimmer verbinden sich akademische Autorität, Sachlichkeit, Offenheit für unterschiedliche Perspektiven und Konzilianz. Ihm könnte es gelingen, an den Interessen unserer Diskursvermarkter vorbei eine breitere Öffentlichkeit mit diesem Thema vertraut zu machen. Peter Kühn Konfliktstoff Kopftuch: Symbolisierungen im Alltags- und Mediendiskurs Das Kopftuch ist mehr als ein Stück Stoff - das zeigen die Alltags- und Mediendiskurse über dieses Kleidungsstück. Analysiert man diese Diskurse, wird deutlich, dass der Streit um das Kopftuch als Stellvertreterdebatte angesehen werden muss. Das Kopftuch ist ein Symbol mit polysemem Symbolwert. Die Alltags- und Mediendiskurse über das Kopftuch sind dabei vor allem durch kulturkonträre Symbolisierungen gekennzeichnet: So gilt beispielsweise für die einen das Kopftuch als Symbol der Unterdrückung, für die anderen ist es dagegen ein Symbol der Befreiung. Symbolisierungen, die mit dem Kopftuch in den Diskursen transportiert werden, wirken als Diskussionsblockaden: Im augenblicklichen Kopftuchstreit stehen sich Kulturpositionen unvereinbar gegenüber. Der Beitrag gibt jedoch auch Hinweise, wie der scheinbar unauflösbare Konflikt zwischen den bipolaren Positionen aufgeweicht werden könnte. 1. Das Kopftuch - mehr als ein Stück Stoff Kopftuch tragende muslimische Frauen gehören in manchen Regionen zum alltäglichen Straßenbild in Deutschland. Trotzdem erregt das Kopftuch nach wie vor wie kaum ein anderes Kleidungsstück die Gemüter. Die so genannte „Kopftuchdebatte“ wird dabei auf allen Ebenen unserer Gesellschaft geführt und ist Gegenstand zahlreicher journalistischer, juristischer, politischer, literarischer und wissenschaftlicher Debatten und Publikationen geworden. Interessant ist, dass sich oft bereits an den Titeln von Zeitschriftenartikeln sowie den Covern von Büchern oder Zeitschriften die Einstellungen und Wertungen von Autorinnen und Autoren über „das brisante Stück Stoff“ ablesen lassen: Frauen werden zu Unruhestifterinnen stigmatisiert (Kelek 2006). Ziemlich normale Köpfe unter dem Tuch (Claus Stille, in: Claus Stille, in: http: / / www.istanbulpost. net/ 06/ 09/ 03/ stille.htm). Ist die Baskenmütze auch ein Kopftuch? ( http: / / www.spiegel.de/ schulspiegel/ 0,1518,466473,00.html ). Kopftuch verhindert Einstellung (Daniel Kuppel, in: Daniel Kuppel, in: http: / / www.suedkurier.de/ region/ konstanz/ art1077,2763797 ). Das Tuch ist ein Sexsymbol (Muazzez Ilmiye Çig, in: Muazzez Ilmiye Çig, in: http: / / wissen.spiegel.de/ wissen/ dokument/ 84/ 06/ dokument.html? titel=%22Das+Tuch+ist+ein+Sexsymbol%22 &id=55766048&top=SPIEGEL&suchbegriff=&quellen=&vl=0 ). Das Kopftuch-Stringtanga-Syndrom (Serdar Somuncu: Hitler Kebap [Tonträ- Serdar Somuncu: Hitler Kebap [Tonträger]. München/ Köln, 2006). 1) 2) 3) 4) 5) 6) Peter Kühn 70 Das ultimative Symbol weiblicher Unterdrückung (Seyran Ates, in: Seyran Ates, in: http: / / www. literaturkritik.de/ public/ rezension.php? rez_id=9177&ausgabe=200603 ). Ein Stück Stoff und keine Ende (Jan Friedmann, in: Jan Friedmann, in: http: / / www.spiegel.de/ schulspiegel/ 0,1518,293543,00.html ). Kopftuchstreit: Religiöses oder politisches Symbol? (Ulrike Raffel, in: Ulrike Raffel, in: http: / / www. swr.de/ islam/ konflikte/ -/ id=1550002/ nid=1550002/ did=1552562/ 1v3bdia/ index.html ). Kopftuch nein, Kutte ja? ( http: / / www.spiegel.de/ schulspiegel/ 0,1518,459736,00.html ). 1 Grundsätzlich geht es in der „Kopftuchdebatte“ also um Bedeutungen, die diesem Stück Stoff im Alltags- und Mediendiskurs zugesprochen werden. Das Kopftuch gilt dabei vor allem als sichtbares Zeichen von Fremdheit, Exotik, Gefahr, Unfreiheit, Unterdrückung und Fremdbestimmung. Es gilt als Symbol für patriarchalische Repression bzw. weibliche Unterdrückung, für eine generelle Integrationsunwilligkeit, für die Islamisierung der westlichen Welt, für religiösen Fundamentalismus usw. und dient als Stigma in der Auseinandersetzung zwischen christlicher und islamischer Religion bzw. zwischen westlicher und islamischer Kultur. Im Folgenden soll gezeigt werden, welche Symbolisierungen und Konzeptionalisierungen mit dem Kopftuch verknüpft werden, wie diese sprachlich kommuniziert werden und welche diskursiven Konfliktstrukturen im Alltags- und Mediendiskurs aus diesen Symbolisierungen erwachsen. Abschließend wird versucht, Lösungswege aufzuzeigen, wie der scheinbar unauflösbare Konflikt zwischen den bipolaren Positionen aufgeweicht werden könnte. 2. Die Kopftuchdebatte als Stellvertreterdebatte Die bisherige Debatte in Alltag und Medien zeigt, dass der Streit um das Kopftuch eine Stellvertreterdebatte ist, in der unterschiedliche Aspekte und Probleme unserer Gesellschaft angesprochen werden. 1) In der politischen Debatte geht es um eine gesellschaftliche Kernfrage. Die Kopftuchdebatte kann dabei stellvertretend für aktuelle politische Grundsatzfragen angesehen werden: In welcher Kultur wollen wir leben? Wie soll die kulturelle und religiöse Vielfalt miteinander in Einklang gebracht werden? Wie gehen wir mit der Integration von kulturellen und religiösen Minderheiten um? Wie tolerant kann und darf unsere Gesellschaft sein? Gibt es Grenzen der Toleranz? Wie bewältigen wir die Angst vor religiösem Fanatismus? Wie soll das Verhältnis zwischen säkularem Staat und den einzelnen Religionsgemeinschaften aussehen? usw. Das Problem verkompliziert sich dadurch, dass sich auf der einen Seite die Problemstellungen 1 Stand der Internetabfragen: 22.07.08. 7) 8) 9) 10) Konfliktstoff Kopftuch: Symbolisierungen im Alltags- und Mediendiskurs 71 überlagern und sich auf der anderen Seite kontroverse Wertentscheidungen nicht immer eindeutig voneinander trennen lassen. So steht der Staat beispielsweise vor dem Konflikt, einerseits die Religionsfreiheit einer Lehrerin anzuerkennen und ihr das Tragen eines Kopftuchs zu gestatten (positive Religionsfreiheit), andererseits jedoch gleichzeitig die Freiheit der Schülerinnen und Schüler vor fremdbestimmter religiöser Einflussnahme und Indoktrination zu garantieren (negative Religionsfreiheit). 2) Die politische Debatte ist eng verknüpft mit juristischen Problemstellungen. So garantiert das Grundgesetz auf der einen Seite das Recht auf freie Religionsausübung und verbietet die religiöse Diskriminierung beim Zugang zu öffentlichen Ämtern, auf der anderen Seite schreibt es dem Staat religiöse Neutralität vor und steht den Eltern das Erziehungsrecht zu, über die religiöse Prägung der Erziehung ihrer Kinder zu entscheiden und sie von für schädlich gehaltenen religiösen Einflüssen fernzuhalten. Grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit und Neutralitätsgebot bilden scheinbar einen unüberbrückbaren Gegensatz. Diese Fülle an verfassungsrechtlichen Aspekten und Disparitäten führt juristisch zu konträren Entscheidungen: von der Verfassungswidrigkeit des Kopftuchverbots über das Gebot der Einzelfallprüfung bis hin zu generellen Kopftuchverboten. 3) In der feministischen Diskussion spielen sowohl Fragen nach der religiösen, sozialen und psychologischen Motivation der Kopftuchträgerinnen selbst als auch Fragen nach dem Kopftuch als Symbol der Unterdrückung und ethnischer Zugehörigkeit eine zentrale Rolle. Dabei muss die Bedeutung des Kopftuchtragens im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext und Diskurs gesehen werden (vgl. Karakasoglu 2005): So kann das Kopftuchtragen in der Diaspora identitätsstiftende Funktionen übernehmen, muslimische Frauen in westlichen Ländern können das Kopftuch einsetzen, um eine Akzeptanz ihres Andersseins einzufordern oder aber die Kopftuchgegner interpretieren das Kopftuchtragen als Unterdrückungssymbol. 4) Auch die religiöse Debatte um den Konfliktstoff „Kopftuch“ wird kontrovers geführt, denn die Religionsgelehrten sind sich keineswegs einig über das Kopftuchgebot. Koran und Sunna werden herangezogen und unterschiedlich interpretiert: Für den ECFR (European Council for Fatwa and Research) etwa ist die Bedeckung des Kopfes Pflicht für die Muslimin, andere islamische Strömungen, wie beispielsweise die Aleviten, kennen generell kein aus dem Koran abgeleitetes Gebot, ein Kopftuch zu tragen. 5) Vorbehalte gegen das Kopftuch gibt es in vielen Ländern Europas, besonders dort, wo das Kopftuch ein fremdes Kleidungsstück ist oder der poli- Peter Kühn 72 tische Islamismus als Gefahr angesehen wird. Allerdings stehen sich auch hier unterschiedliche Positionen gegenüber: Frankreich und die Türkei (Stand: 01.02.2008) praktizieren einen konsequenten Laizismus und verbieten grundsätzlich das Tragen von Zeichen und Bekleidung, die ostentativ eine religiöse Zugehörigkeit manifestieren. Großbritannien, die skandinavischen Länder, die Niederlande und Österreich dagegen plädieren eher für einen religiösen Pluralismus - oft auf dem Hintergrund einer historisch bedingten Multikulturalität. Zwei „islamische Kopftuchfälle“ können als Auslöser der kontroversen Debatte angesehen werden: Der Fall der Parfümerie-Verkäuferin Fadime Coral und die Klage der Lehramtsanwärterin Fereshta Ludin. Beide wollten auf das Tragen ihres Kopftuches bei der Arbeit nicht verzichten und beriefen sich auf das Recht der Religionsfreiheit. Beide Frauen bemühten alle Rechtsinstanzen. Die Parfümerie-Verkäuferin Fadime Coral arbeitete von 1989 bis 1999 im Kaufhaus Langer der hessischen Kleinstadt Schlüchtern in der Parfümerieabteilung. Die Frau wollte die Arbeit nach einem dreijährigen Erziehungsurlaub dann allerdings nur noch mit einem Kopftuch antreten, weil sich ihre religiösen Einstellungen gewandelt hätten und der Islam es ihr verbiete, sich in der Öffentlichkeit ohne Kopftuch zu zeigen. Daraufhin kündigte der Arbeitgeber, weil er einen Umsatzverlust bei seinem „ländlich-konservativen Kundenkreis“ befürchtete. Die Kündigung begründete er mit dem Grundrecht der Unternehmensfreiheit. Im sich anschließenden Rechtsstreit hielt das Landesarbeitsgericht die Kündigung für gerechtfertigt. Eine Verkäuferin habe sich „ohne auffällige, provozierende, ungewöhnliche oder fremdartige Akzente“ zu kleiden, hatte das Landesarbeitsgericht erklärt. Das entspreche einer „ungeschriebenen, von der Beklagten aber erkennbar erwarteten Kleiderordnung“; das sei auch Teil des Arbeitsvertrags. Wenn die Klägerin dieser „vertraglichen Nebenpflicht“ nicht nachkommen könne, dürfe das Arbeitsverhältnis beendet werden ( LAG Hessen, 21.6.2002, 3 Sa 1448/ 00). Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt folgte diesen Darlegungen jedoch nicht und hob mit seinem Urteil vom 10.10.2002 die Urteile des Arbeitsgerichts sowie des Landesarbeitsgerichts auf, die den Kündigungsgrund bejaht hatten. Den Kaufhausbetreibern wäre es zuzumuten gewesen, die Frau zunächst wieder einzusetzen und abzuwarten, ob es wegen des Kopftuches zu nicht hinnehmbaren Störungen komme und ob diesen Störungen nicht auf andere Weise als durch Kündigung zu begegnen gewesen wäre. Das Bundesarbeitsgericht stufte bei der Abwägung der beiden Grundrechte das der Religionsfreiheit als vorrangig ein und gab der Klägea) Konfliktstoff Kopftuch: Symbolisierungen im Alltags- und Mediendiskurs 73 rin Recht ( BAG , NJW 2003, 1685). Neben diesem Urteil des Bundesarbeitsgerichts muss der Arbeitgeber in Bezug auf das Kopftuchtragen auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ( AGG ), das im August 2006 in Kraft getreten ist - das so genannte „Antidiskriminierungsgesetz“ - beachten: Dieses Gesetz verpflichtet den Arbeitgeber zur Schaffung eines diskriminierungsfreien Arbeitsplatzes. Fünf Jahre lang hatte die aus Afghanistan stammende Pädagogin Fereshta Ludin juristisch dafür gekämpft, als Lehrerin im Unterricht ein Kopftuch tragen zu dürfen. Frau Ludin hatte gegen das Land Baden-Württemberg geklagt, weil das Oberschulamt Stuttgart sich 1998 geweigert hatte, sie nach dem Referendariat als Grund- und Hauptschullehrerin einzustellen. Sie sah sich dadurch in ihrem Grundrecht auf Religionsfreiheit verletzt. Das Land argumentierte dagegen, das Tragen eines Kopftuches im Unterricht sei nicht vereinbar mit der Pflicht des Staates, sich in religiösen Fragen neutral zu verhalten. Der sich anschließende „Kopftuchstreit“ zog sich jahrelang durch alle Instanzen hin. Am 24.09.2003 entschied das Bundesverfassungsgericht den Rechtsstreit ( BV erf G 108 = NJW 2003, 3111): Ohne gesetzliche Grundlage dürfe ihr das Tragen eines Kopftuches nicht verboten werden. Allerdings urteilten die Karlsruher Richter auch, dass es dem Landesgesetzgeber freistehe, „die bislang fehlende gesetzliche Grundlage zu schaffen“ und mit einer „zumutbaren Regelung“ das zulässige Maß religiöser Bezüge in der Schule neu zu bestimmen. Die Entscheidung erging knapp mit fünf zu drei Stimmen. Die „Kopftuchfrage“ ist seither Angelegenheit der einzelnen Bundesländer. Als erstes Bundesland erlässt Baden-Württemberg ein neues Schulgesetz: § 38 des Schulgesetzes bestimmt: (2) Lehrkräfte an öffentlichen Schulen nach § 2 Abs. 1 dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußeren Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülern und Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Schülern oder Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrkraft gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung der Menschen nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt. Die entsprechende Darstellung „christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen“ widerspricht nach dem Baden-Württembergischen Schulgesetz dagegen nicht diesem Verhaltensgebot. Damit bleibt Fereshta Ludin - trotz erfolgreicher Verfassungsklage - der Eintritt in den Staatsdienst verwehrt. b) Peter Kühn 74 Die rechtlichen Regelungen weichen allerdings von Bundesland zu Bundesland voneinander ab: Neben Baden-Württemberg haben sich auch Bayern, das Saarland, Hessen sowie Nordrhein-Westfalen für dieses Modell entschieden. Berlin, Bremen und Niedersachsen favorisieren ein säkulares Modell, das grundsätzlich das Tragen religiöser Kleidung und Symbole verbietet. In Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen wurde auf eine grundsätzliche Regelung verzichtet, es gelten Neutralitäts- und Mäßigungsgebote, die im Einzelfall zu prüfen sind. 3. Positionen im Kopftuchdiskurs: Symbol, Erkennungsmerkmal oder doch bloß Accessoire? Das Kopftuch ist im gegenwärtigen Alltags- und Mediendiskurs also mehr als nur ein Stück Stoff, es wird als auffälliges Symbol interpretiert. Symbole werden erst durch Handlungen und Kontexte zu Symbolen. Die Symbolhaftigkeit des Kopftuchs zeigt sich beispielsweise in Zeitungsberichten, in denen über den Kopftuchstreit berichtet wird: auf den meisten Fotos und Bildern ist das Kopftuch ostentativ in den Vordergrund gerückt, die Kopftuch tragenden Frauen sind oft „gesichtslos“ und anonym (vgl. Abb 1): Abb. 1: Ostentative Kopftuchdarstellungen 2 Transportiert wird das Kopftuch als Symbol in unterschiedlichen Situationen, u.a. als massive Bedrohung Europas oder als öffentlich brisanter Streitpunkt in der juristischen Auseinandersetzung. 2 Bildquellen (Stand: 22.07.08): Bild links: Haeming, Anne: Schlecht betucht. In: Spiegel Online, 02.03.07. Internet: http: / / www.spiegel.de/ unispiegel/ jobundberuf/ 0,1518,466107,00.html . Bild mitte: Manz, Ulrich: Wie entsteht ein Gesetz? Beispiel: Das Gesetz zum Kopftuchverbot an baden-württembergischen Schulen. In: Politik und Unterricht 4/ 04. Internet: http: / / www.politikundunterricht.de/ 4_04/ bausteinc.htm. Bild rechts: Homepage der Abukakr Moschee Frankfurt a.M. Internet: http: / / www.abubakr.de/ . Konfliktstoff Kopftuch: Symbolisierungen im Alltags- und Mediendiskurs 75 Der Symbolgehalt des Kopftuchs manifestiert sich natürlich auch in der Sprache - vor allem in Form von ist-Sätzen (alle Belege stammen aus der Suchmaschine Google im Internet): Gruppe 1: Das Kopftuch ist ein Symbol der Verachtung der deutschen Gesellschaft. Das Kopftuch ist eine Flagge der Islamisten. Das Kopftuch ist ein Symbol religiöser Unterdrückung. Das Kopftuch ist ein Symbol der Frauenunterdrückung. Das Kopftuch ist ein religiöses Symbol. Das Kopftuch ist ein politisches Symbol. Das Kopftuch ist kein religiöses, sondern ein politisches Symbol. Das Kopftuch ist ein faschistisches Symbol. Das Kopftuch ist ein Symbol der kulturellen Abgrenzung. Das Kopftuch ist primär ein politisches und erst sekundär ein religiöses Symbol. Das Kopftuch ist ein Symbol für die Missionarsabsichten der Trägerin, zumal wenn diese in der öffentlichen Schule unterrichten wollte. Das Kopftuch ist ein totalitäres Symbol. Für mich ist das Kopftuch also ein Symbol der Anti-Aufklärung. Gruppe 2: Das Kopftuch ist im Islam nicht als Symbol vorgesehen. In zahlreichen Ländern ist das Kopftuch ein Symbol für weibliche Selbstbestimmung geworden. Unser Kopftuch ist kein Symbol für Fundamentalismus, sondern das Symbol unseres Glaubens. Das islamische Kopftuch ist kein politisches Symbol, sondern ein Zeichen von Frömmigkeit. Das Kopftuch ist kein Symbol, weder ein religiöses noch ein politisches, sondern ein alltäglicher Gebrauchsgegenstand und Teil der religiösen Identität der muslimischen Frauen. Gruppe 3: Für viele muslimische Frauen ist das Kopftuch kein Symbol der Unterdrückung, sondern ein Modeartikel. Die Modedesigner sollten sich dieses Accessoires mal wieder annehmen, damit da ein wenig die Luft rausgelassen wird von wegen religiöses Symbol. Peter Kühn 76 Unter im Westen aufgewachsenen Töchtern ehemaliger Gastarbeiter ist es inzwischen zum Accessoire geworden, mittels der sie sich von der Elterngeneration abgrenzen - und vom Rest der Gesellschaft. Ein neuer Trend, der aus der Türkei zu uns herüberschwappt, ist, dass das Kopftuch mehr unter modischen Aspekten getragen wird, also zu einem Accessoire wird, das dann allerdings die religiöse Bedeutung verliert. Die Beispiele zeigen, dass der Alltags- und Mediendiskurs das Kopftuch zu einer semantischen Projektionsfläche gemacht hat. Das Kopftuch ist ein mehrdeutiges Symbol, dessen jeweilige Bedeutung individuell, situations- und kontextabhängig bestimmt werden muss („Das Kopftuch ist kein objektives Symbol“, vgl. Gutmair 2003). Analysiert man die Versuche, den unterschiedlichen Symbolgehalt des Kopftuchs zu kommunizieren, so fallen drei Tendenzen auf: Dem Kopftuch wird ein Symbolcharakter zuerkannt, wobei sich unterschiedliche Symbolisierungen differenzieren lassen (3.1). Dem Kopftuch wird ein grundsätzlicher Symbolcharakter aberkannt, das Kopftuch wird gewissermaßen de-symbolisiert (3.2). Das Kopftuch wird de-symbolisiert und entpolitisiert, indem es lediglich als Kleidungsstück oder Accessoire beschrieben wird (3.3). 3.1 Symbolisierungen des Kopftuchs Auffällig ist zunächst einmal die grundsätzliche Symbolisierung des Kopftuchs in Form von ist-Zuschreibungen („Das Kopftuch ist ein Symbol ...“). Dabei überwiegt in einer ersten Gruppe der negative Symbolwert. Das Kopftuch ist im Sinne Goffmans (1974, S. 318) ein Alarmsignal, das die alltäglichen Wahrnehmungen destabilisiert. Das Kopftuch gilt überwiegend als „negatives Symbol“, ihm werden u.a. folgende Symbolwerte zugeschrieben (vgl. auch Jäger 2006a, S. 4ff.): 1) Ausgrenzungssymbolik: Symbolisierung der Kopftuchträgerinnen und deren Befürworter als unflexible, integrationsunwillige, intolerante, Sonderrechte beanspruchende, renitente, sich in Parallelgesellschaften ausgrenzende, indoktrinierende Mitglieder der Gesellschaft („Das Kopftuch ist ein Symbol der kulturellen Abgrenzung“; „Das Kopftuch ist ein Symbol der Verachtung der deutschen Gesellschaft“). Patriarchatssymbolik: Symbolisierungen der Kopftuchträgerinnen und deren Befürworter als unterdrückte, unmündige, passive, fremdbestimmte, unfreie, diskriminierte, durch das Patriarchat beherrschte, nicht emanzipierte Mitglieder der Gesellschaft („Das Kopftuch ist ein Symbol der Frauenunterdrückung“). 2) Konfliktstoff Kopftuch: Symbolisierungen im Alltags- und Mediendiskurs 77 Rückschrittssymbolik: Kopftuchträgerinnen und die Befürworter des Kopftuchtragens werden als konservativ, rückschrittlich, unaufgeklärt, rückständig, unzeitgemäß, altmodisch oder bemitleidenswert betrachtet („Das Kopftuch als Symbol der Anti-Aufklärung“). Das Kopftuch ist damit ein Counter-Culture-Symbol. Fremdheitssymbolik: Kopftuchträgerinnen und die Befürworter des Kopftuchtragens werden als unbekannte, unvertraute oder fremde Mitglieder der Gesellschaft angesehen, deren Zahl allerdings ständig zunimmt. Die Angst vor Überfremdung spielt dabei eine wichtige Rolle: Wer ernsthaft behauptet, dass es keine Islamisierung in Europa gibt war schon länger nicht mehr in einer Innenstadt. Die Zahl der Kopftuchträgerinnen und ihrer unrasierten Begleiter nimmt ständig zu. Zu den Polizeistatistiken: auch der Angreifer auf den Rabbi in Frankfurt wird als „Deutscher“ in die Kriminalstatistik einfließen. Mehr ist wohl nicht dazu zu sagen. (User: meinereiner, 17.09.07, 12.38 Uhr, in: http: / / www.mein-parteibuch.com/ blog/ 2007/ 08/ 24/ wennpax-europa-spender-sucht/ Stand: 22.07.2008) 5) Gewaltsymbolik: Symbolisierung der Kopftuchträgerinnen und der Befürworter des Kopftuchtragens als agressive, Furcht einflößende, gefährliche, fanatische, islamistische, militante, fundamentalistische, totalitäre Bedrohung („Das Kopftuch ist eine Flagge der Islamisten“; „Das Kopftuch ist ein totalitäres Symbol“; „Das Kopftuch ist ein Symbol für die Missionarsabsichten der Trägerin“). Diese Gewaltsymbolik ist augenblicklich im Alltags- und Mediendiskurs „vorherrschend“ (Jäger 2006a, S. 6). Auffallend an der Symbolisierung des Kopftuches ist zum einen die Symbolüberfrachtung, zum anderen die Symbolfixierung, d.h. das Bemühen der Diskursbeteiligten, den Symbolgehalt eindeutig in einem bestimmten Sinne festzuschreiben und als richtig, wahr und allgemeingültig zu kommunizieren. In dieses Bild passen auch die Bemühungen, einzelne Symbolzuschreibungen zu hierarchisieren („Das Kopftuch ist primär ein politisches und erst sekundär ein religiöses Symbol“) oder als kontradiktorisch („Das Kopftuch ist kein religiöses, sondern ein politisches Symbol“; „Unser Kopftuch ist kein Symbol für Fundamentalismus, sondern das Symbol unseres Glaubens“) festzulegen. Grundsätzlich müssen die „Ist-Festlegungen“ kommunikationsstrategisch als Diskursverweigerer angesehen werden, da sie keinen Interpretationsspielraum zulassen. Die Symbolisierungen sind jedoch im Diskurs besonders gut geeignet, die Diskursteilnehmer zu emotionalisieren und zu polarisieren. 3) 4) Peter Kühn 78 Das Kopftuch muss dabei als „Kollektivsymbol“ angesehen werden: Kollektivsymbole sind als „kulturelle Stereotype“ zu verstehen, „die kollektiv tradiert und benutzt werden“ (Drews/ Gerhard/ Link 1985, S. 265) und die auf der Basis ihres Symbolcharakters „komplexe Wirklichkeit simplifizieren, plausibel machen und damit in spezifischer Weise deuten“ (Jäger/ Jäger 2007, S. 39). Über das Kopftuch und die damit verbundenen negativen Symbolisierungen werden im Alltag- und Mediendiskurs einfache Kulturgrenzen gezogen. 3.2 De-Symbolisierung als religiöses Bekenntnis-Signal Bei den Ist-Zuschreibungen der Kopftuchfunktionen lässt sich eine zweite Gruppe differenzieren, in der versucht wird, das Kopftuch zu de-symbolisieren („Das Kopftuch ist ein Symbol für weibliche Selbstbestimmung“; „Das islamische Kopftuch ist kein politisches Symbol, sondern ein Zeichen von Frömmigkeit“). Das Tragen eines Kopftuches wird nicht als Symbol, sondern eher als „Haltung“ verstanden, als „religiöse Einstellung“, „selbstverständlicher Bestandteil der Religionsausübung“, „Zeichen des Glaubens“, „kulturelle Eigenheit, die persönliche Schamgrenze betreffend“, „Ausdruck von Keuschheit“, „Ausdruck innerer Überzeugung“, „Erfüllung einer religiösen Pflicht“, „Zeichen gegen die Reduzierung der Frau als Lustobjekt“, „äußeres Erkennungs-Merkmal einer kulturellen Lebenstradition“ oder als ein „Bekenntnis-Signal“. Diese De-Symbolisierung des Kopftuchs wird vor allem von offiziellen Befürwortern des Kopftuchtragens kommuniziert. Zum einen entzieht man sich hierdurch der Gefahr, auf eine bestimmte Symbolisierung (z.B. die religiöse) festgelegt und damit eingeordnet zu werden. Zum anderen stellt man sich durch die Herausstellung des Kopftuchs als persönliches Bekenntnis unter den Schutz von Artikel 3 des Grundgesetzes. 3.3 Entpolitisierung des Kopftuchs zum modischen Accessoire Schließlich lässt sich an den Zuschreibungen auch eine Entpolitisierung und Säkularisierung der Kopftuchsymbolik feststellen: Das Kopftuch wird vollkommen de-symbolisiert und auf die Funktion eines Kleidungsstücks im Sinne eines Accessoires herabgestuft („Für viele muslimische Frauen ist das Kopftuch kein Symbol der Unterdrückung, sondern ein Modeartikel“). Jan Philipp Reemtsma (2005, S. 11) hat gerade die Marginalisierung des Kopftuchs als „Stolz der säkularen Gesellschaft“ bezeichnet, der darin bestehe, „sich den Blick auf Kleidung nicht von einem religiösen Bekenntnis vorschreiben zu lassen. Für den Blick des säkularen Staates sollte es sich beim Schleier um ein Modeaccessoire handeln, und Leute können anziehen, was sie wollen.“ Konfliktstoff Kopftuch: Symbolisierungen im Alltags- und Mediendiskurs 79 Das Kopftuch wird damit auf eine Stufe gestellt mit einem Stirnband, einem Hut oder einem als Schmuck getragenen Kreuz. Es sind gerade jüngere und selbstbewusste Kopftuch tragende Frauen, die das Kopftuch ihren individuellen Bedürfnissen anpassen und damit sowohl den Symbolwert als auch das Bild der islamischen Frau verändern. Eine solche Stilisierung des Kopftuches zu einem reinen Modeaccessoire sieht Iris Hanika (2006) bei den „schönen Töchtern Kreuzbergs“: Es sind junge Frauen, die sich sorgfältig schminken und kleiden, „und zwar auf so geschmackvolle Weise, als hätten sie es bei Coco Chanel persönlich gelernt. Nur war ihr Schick gerade darum so umwerfend, weil er absolut dezent war.“ Solche Frauen folgen allen Formen der allgemeinen Mode - ergänzt durch ihre Kopfbedeckung: „Unter dieser Kopfbedeckung nun hat man sich keineswegs ein Kopftuch vorzustellen, und sie hat auch nichts mit Burka, Tschador oder ähnlichen Folterinstrumenten zu tun. Vielmehr fließen riesengroße, in bunten Farben glänzende, offensichtlich von innen mit Polstern unterstützte Stoffe von den Köpfen dieser jungen Frauen herunter, so dass sie aussehen wie die nach der Mode der Gotik gekleideten Feen in alten Märchenbüchern. Auf ihre auffällig dezente Weise perfekt geschminkt sind sie dabei nach wie vor. Mit der züchtigen Kleidung, die der Koran den Frauen vorschreibt, hat das natürlich nichts zu tun, überhaupt mit Züchtigkeit nichts, vielmehr ist Islam Mode in Kreuzberg.“ Damit schlagen die Frauen zwei Fliegen mit einer Klappe: „Während sie ihren Mullahs vorgaukeln, brave Musliminnen und voller Unschuld zu sein, inszenieren sie sich für ihre prospektiven Liebhaber als ein einziges großes Versprechen, indem sie sich als gänzlich unerreichbar geben - was deren Interesse außerordentlich steigern dürfte.“ Dabei darf man diese „verspielte Variante des Islamismus“ nicht als Verwestlichung missverstehen. Es scheint ihnen zwar nicht so sehr um die hysterischen Kleidervorschriften des Islam zu gehen, sondern es geht ihnen vor allem darum, „als schöne Frauen erkannt zu werden. Und als selbstbewusste dazu: als solche, die sich bewusst von der Mehrheit absetzen, indem sie sich deutlich als nichtwestlich präsentieren.“ Abb. 2: Das Kopftuch als Modeaccessoire (Bild aus Hanika 2006) Peter Kühn 80 Dieser Säkularisierung und Marginalisierung des Kopftuchs zu einem Modeaccessoire wird augenblicklich im Kontext einer Konfliktdeeskalierung ein nicht zu unterschätzender Charme zugesprochen (vgl. Giannone 2005; Jäger 2006a; Jäger/ Jäger 2007, S. 109-130; Reemtsma 2005; Terkessidis 2002). 4. Das Kopftuch als Fahnenwort: Symbolisierungen als Diskussionsblockaden Betrachtet man den augenblicklichen Diskurs über das Kopftuch, so zeigt sich, dass dieser in Alltag und Medien von den o.a. Symbolisierungen geprägt ist und beherrscht wird. Dies zeigt sich selbst in den Beiträgen und Meinungsäußerungen derjenigen, denen man grundsätzlich keine negative Stigmatisierung von Muslimen unterstellen kann. Im Folgenden wird dies für ein Interview mit der Autorin Necla Kelek (2006) nachgewiesen, die augenblicklich neben der Bundestagsabgeordneten Ekin Deligöz, der Rechtsanwältin Seyran Ates, der niederländischen Politikerin Ayaan Hirsi Ali oder der Schauspielerin Sibel Kekilli zu den engagierten Frauenrechtlerinnen und Islamkritikerinnen gehört, die sich aktiv für die Rechte der Frauen einsetzen. KOPFTUCH-STREIT „Frauen werden zu Unruhestifterinnen stigmatisiert“ Das Kopftuch muslimischer Frauen sei eine „Art Branding, vergleichbar mit dem Judenstern“, hat Alice Schwarzer in einem „ FAZ “-Interview erklärt. Die Autorin und Frauenrechtlerin Necla Kelek teilt diese Einschätzung. Mit SPIEGEL ONLINE sprach sie über Gründe und Folgen von Verschleierung. SPIEGEL ONLINE : Frau Kelek, Alice Schwarzer hat in einem Zeitungsinterview erklärt, das Kopftuch stigmatisiere muslimische Frauen zu Menschen zweiter Klasse - ähnlich wie im Dritten Reich der Judenstern. Teilen Sie diese Auffassung? Necla Kelek: Frau Schwarzer hat vollkommen Recht: Mit dem Tragen eines Kopftuchs werden Frauen zu sexualisierten Wesen reduziert, anstatt gleichberechtigte Menschen zu sein. Frauen müssen sich zudecken, damit die Männer nicht unruhig werden. Sie verhüllen sich nicht für Gott, sondern weil Männer ihrer Triebe nicht Herr werden. Die Aussage, die dahinter steckt, lautet: Jede Frau, die kein Kopftuch oder keinen Tschador trägt, bringt Unruhe in der Öffentlichkeit. Frauen werden als Unruhestifterinnen stigmatisiert und haben einem einzigen Mann zu gehören. Das Recht auf Selbstbestimmmung wird ihnen damit genommen. SPIEGEL ONLINE : Gibt es nicht auch Frauen, die sich freiwillig für das Tragen eines Kopftuches entscheiden? Soziologin Kelek: „Das Kopftuch ist eine Flagge der Islamisten.“ Konfliktstoff Kopftuch: Symbolisierungen im Alltags- und Mediendiskurs 81 Kelek: Wenn Menschen sich freiwillig zu einem faschistischen System bekennen, dort glücklich und davon überzeugt sind, dann kritisieren wir das doch auch und sehen den gesellschaftlichen Kontext. Wir fragen uns etwa: Was bewirken diese Neonazi-Gruppen? Und eine Frau, die Kopftuch tragen will, flaggt für eine islamistische Partei. Auch wenn sie sich selbst dafür entschieden hat, sagt sie damit, dass die Frauen Sexualwesen sind. Das tut sie vielleicht nicht bewusst, weil sie keine Soziologin ist. Meine Aufgabe und die von Alice Schwarzer ist es deshalb einen gesellschaftlichen Kontext herzustellen. Seit 1979 wissen wir, was das Tragen eines Kopftuchs bedeutet. Als die islamistische Revolution im Iran begann, mussten die Frauen sich verschleiern. Das ist immer das erste, was die Islamisten tun. SPIEGEL ONLINE : Gegner eines Kopftuchverbots führen immer an, dass es keine allgemeingültige Interpretation dessen gibt, was es für die Einzelne bedeutet, ein Kopftuch zu tragen. Sie widersprechen dem? Kelek: Ja, im gesellschaftlichen Bild gibt es eine allgemeingültige Bedeutung. Nach der Scharia hat die Frau sich zu verschleiern, weil der Mann seine Triebe nicht beherrschen kann und er sich versündigt, wenn er sie anguckt. Wenn sie sich dafür entscheidet und sagt: Ja, ich bin ein Wesen, das die Männer zur Unruhe treibt und sich bedeckt, akzeptiert sie das doch. Bewusst oder unbewusst. Ich sage nicht, dass die Frauen das wissentlich machen. Meine ganzen Bücher drehen sich darum, dass die betroffenen Frauen durch ihre Sozialisation keine andere Alternative haben. Ihnen wird gesagt, sie seien Unruhestifterinnen und dürften nicht in die Öffentlichkeit. SPIEGEL ONLINE : Es ist in der letzten Zeit häufiger vorgekommen, dass sich ganz junge Mädchen aus scheinbar aufgeklärten Familien dafür entschieden haben, Kopftuch zu tragen - obwohl ihre Mütter es nicht machen. Was bedeutet das? Kelek: Nicht jeder Junge, der ein Hakenkreuz malt, ist ein politisch überzeugter Neonazi. Vielleicht will er damit nur seine Eltern, seine Lehrer provozieren. Das mag sein. Nicht jedes Mädchen, das ein Kopftuch trägt, ist eine Islamistin. Vielleicht will sie sich damit nur abgrenzen. Von den Eltern, von den Deutschen, von den Ungläubigen. Auch das mag sein. Im Kern ist es aber eine politische Bewegung. Seit 1979 ist das Kopftuch eine Flagge der Islamisten. Wer sich dem anschließt - egal aus welchem individuellen Grund - entscheidet sich politisch - für eine politische Marke. Auch diese jungen Mädchen. Es ist ein Zeichen dafür, dass sie meinen: Die Frau hat in einer anderen Gesellschaft zu leben. […] Das Interview führte Anna Reimann (Spiegel Online, 05.07.06, http: / / www.spiegel.de/ politik/ deutschland/ 0,1518,424999,00.html (Stand: 22.07.08). (Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Spiegel-Verlags und Necla Kelek)). Necla Kelek ist promovierte Sozialwissenschaftlerin (Islam im Alltag, 2002), sie war von 1999-2004 Lehrbeauftragte für Migrationssoziologie an der Evangelischen Fachhochschule für Sozialpädagogik in Hamburg. Bekannt gewor- Peter Kühn 82 den ist sie vor allem durch ihre journalistischen Veröffentlichungen in der Tagespresse zu aktuellen kulturellen Themen sowie ihre Buchpublikationen (Die fremde Braut, 2005; Die verlorenen Söhne, 2006). Sie ist ständiges Mitglied in der 2006 von der Bundesregierung berufenen Islam-Konferenz. Das vorliegende Interview bezieht sich auf die Kopftuchdebatte. Ausgangspunkt bildet das Statement von Alice Schwarzer (2006) in einem Interview mit Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: das Kopftuch sei „die Flagge des Islamismus. Das Kopftuch ist das Zeichen, das die Frauen zu den anderen, zu Menschen zweiter Klasse macht. Als Symbol ist es eine Art ‘Branding’, vergleichbar mit dem Judenstern.“ Mit ihrer Auftaktfrage („Frau Kelek, Alice Schwarzer hat in einem Zeitungsinterview erklärt, … Teilen Sie diese Auffassung? “) räumt die Interviewerin des Spiegel, Anna Reimann, Necla Kelek die Möglichkeit ein, ihre Grundposition zum Tragen von Kopftüchern durch muslimische Frauen abzugeben. Necla Kelek nutzt diese Möglichkeit: Sie bekräftigt zunächst die Aussage von Frau Schwarzer („hat vollkommen Recht“) und expliziert ihren Standpunkt, indem sie eine Folge von Behauptungen aneinanderreiht: Durch das Tragen eines Kopftuches werden die Frauen zu „sexualisierten Wesen“, d.h. zu Lebewesen, deren Besonderheit und Kennzeichnung ausschließlich durch ihre Sexualität bestimmt ist. Sie verschärft diese Behauptung durch die Nennung einer anzustrebenden Alternative („anstatt gleichberechtigte Menschen zu sein“), d.h. über die gleichen Rechte zu verfügen wie ein Mann. Durch den Zwang, ein Kopftuch zu tragen („Frauen müssen sich zudecken“), kann man diese Frauen nicht mehr sehen, sind sie nicht mehr erkennbar, wobei durch die Verwendung von „zudecken“ mitausgedrückt wird, dass sie sich vollkommen, total verbergen müssen, so wie es die alltagssprachlichen Wendungen nahe legen: sich mit einer Decke oder einem Mantel zudecken, sich bis zum Halse zudecken oder Bist du auch richtig zugedeckt? Zu dieser Behauptung setzt sie die von den Befürwortern des Kopftuchtragens implizierte Begründung „damit die Männer nicht unruhig werden“, wobei sie mit der semantischen Vagheit von „unruhig“ spielt und ein Set an Deutungen ermöglicht: von ‘sexuell erregt’ über ‘lüstern’ bis ‘sexuell gierig’. Damit verstärkt Kelek nochmals ihren Vorwurf, Kopftuchträgerinnen würden zu „sexualisierten Wesen“ stigmatisiert. Das Verhüllen der muslimischen Frauen hat keine religiösen Motive („sie verhüllen sich nicht für Gott“), sondern geschieht deshalb, weil Männer 1) 2) 3) Konfliktstoff Kopftuch: Symbolisierungen im Alltags- und Mediendiskurs 83 zwangsläufig und instinktgesteuert („Triebe“) ihrer Sexualität „nicht Herr werden“, wobei sie durch den Phraseologismus mitmeint, dass die Männer ihre Triebe nicht mehr kontrollieren können und dies zwangsläufig zu gefährlichen, ungehemmten oder zügellosen Folgen führe. Kelek behauptet, dass die Befürworter des Kopftuchtragens ihre eigentlichen Motive nicht nennen („Die Aussage, die dahinter steckt, lautet“): Sie behaupteten rigoros, dass „jede Frau, die kein Kopftuch oder keinen Tschador trägt, Unruhe in die Öffentlichkeit“ bringe. Kelek bekräftigt damit noch einmal ihre vorgetragenen Grundpositionen. Frauen ohne Kopftuch werden nach Kelek von den Befürwortern in der Öffentlichkeit negativ gezeichnet und gebrandmarkt („stigmatisiert“), da sie als Auslöser, Provokateure und Schuldige für die „Unruhe“ angesehen werden („Unruhestifter“). Wörterbuchsemantisch ist ein Unruhestifter derjenige, der die öffentliche Ruhe und den öffentlichen Frieden stört; es gibt schwere Unruhen, man wird von Unruhen heimgesucht, Unruhen erschüttern usw. Nach Ansicht der Befürworter dürften Frauen jedoch nur einem Mann gehören, wobei durch „gehören“ gewissermaßen ein Besitzanspruch geltend gemacht werde. Für Kelek folgt daraus: Kopftuch tragende Frauen sind fremdbestimmt, unterdrückt, rechtlos, ausgeliefert: „Das Recht auf Selbstbestimmung wird ihnen damit genommen“. Die Interviewerin widerspricht dieser apodiktischen Behauptung und gibt zu bedenken, dass es auch Frauen gibt, die freiwillig ein Kopftuch tragen. Kelek greift den Aspekt der Freiwilligkeit auf und bemüht zunächst einen Vergleich: „Wenn Menschen sich freiwillig zu einem faschistischen System bekennen, dort glücklich und davon überzeugt sind, dann kritisieren wir das doch auch und sehen den gesellschaftlichen Kontext. Wir fragen uns etwa: Was bewirken diese Neonazi-Gruppen? “ Sie weist damit das Argument der Freiwilligkeit zurück und fordert stattdessen eine Berücksichtigung des gesellschaftlichen Kontextes. Anschließend behauptet sie, dass „eine Frau, die das Kopftuch tragen will“, deutlich, erkennbar und offen - einer „Flagge“ ähnlich - signalisiert, dass sie einer „islamistischen Partei“ angehört und sich mit dieser Partei identifiziert. Gleichzeitig stellt sie eine Verbindung zwischen neonazistischen und faschistischen Gruppen mit islamistischen Gruppen her und weist damit auf das menschenverachtende, antidemokratische, ideologische, totalitäre, fundamentalistische Gefahrenpotenzial solcher Gruppen hin. Sie unterstellt Kopftuch tragenden Frauen faschistische Einstellungen: ähnlich wie der exzessive Gebrauch politischer Symbole von Fahnen im Fa- 4) 5) Peter Kühn 84 schismus „flaggt“ die Kopftuchträgerin für die „Partei“ des fundamentalistischen „Islamismus“. Direkt im Anschluss relativiert sie diese Unterstellung - eine Frau, die freiwillig ein Kopftuch trägt, sei eine Islamistin -, indem sie die Behauptung wiederholt, Kopftuch tragende Frauen reduzierten sich auf „Sexualwesen“. Es folgt eine weitere Relativierung, dass sich eine solche Frau dieser Funktionalisierung nicht bewusst sei („Das tut sie vielleicht nicht bewusst, weil sie keine Soziologin ist“). Anschließend hebt sie ihre und Alice Schwarzers kritische Einstellung und Mahnfunktion im öffentlichen Kopftuch-Diskurs hervor („Meine Aufgabe und die von Alice Schwarzer ist es deshalb einen gesellschaftlichen Kontext herzustellen“) und verweist auf die islamistische Revolution von 1979 im Iran, in der die Islamisten als erstes die Verschleierung der Frauen anordneten. Damit bekräftigt sie noch einmal ihren Vorwurf, Kopftuch tragende Frauen seien Islamistinnen. Dieser einseitigen Sichtweise versucht die Interviewerin nochmals zu begegnen, indem sie darauf verweist, dass die Gegner eines Kopftuchverbots behaupteten, das Kopftuchtragen ließe sich nicht auf eine „allgmeingültige Interpretation“ festlegen. „Sie widersprechen dem? “ In ihrer Replik widerspricht Kelek dieser Behauptung („Ja, im gesellschaftlichen Bild gibt es eine allgemeingültige Bedeutung“) und wiederholt ihre vorherige Ansicht, dass Frauen ohne Kopftuch als Unruhestifterinnen betrachtet würden, die in der Öffentlichkeit nicht zu suchen hätten - unabhängig davon, ob Frauen dies bewusst oder unbewusst, wissentlich oder unwissentlich machten. Die Interviewerin unternimmt einen letzten Versuch, Kelek ein Zugeständnis zu entlocken, dass es auch Frauen gebe, die das Kopftuch freiwillig tragen würden, „dass sich ganz junge Mädchen aus scheinbar aufgeklärten Familien dafür entschieden haben, Kopftuch zu tragen - obwohl ihre Mütter es nicht machen. Was bedeutet das? “ Kelek scheint dem zunächst zuzustimmen und bemüht wiederum einen Vergleich: „Nicht jeder Junge, der ein Hakenkreuz malt, ist ein politisch überzeugter Neonazi. Vielleicht will er damit nur seine Eltern, seine Lehrer provozieren. Das mag sein.“ Anschließend relativiert sie ihre vorigen Aussagen: „Nicht jedes Mädchen, das ein Kopftuch trägt, ist eine Islamistin.“ Kelek räumt ein („Auch das mag sein“), dass diese jungen Mädchen über das Kopftuchtragen eine Protesthaltung zum Ausdruck bringen könnten - gegenüber den „Eltern“, den „Deutschen“ oder den „Ungläubigen“. Dann negiert sie jedoch diesen Ausnahmefall und generalisiert, dass grundsätzlich („im Kern“) auch das Kopftuchtragen dieser Mädchen als „politische Bewegung“ einzuordnen sei. Sie wiederholt die Behauptung, „seit 1979 ist das Kopftuch eine Flagge der Konfliktstoff Kopftuch: Symbolisierungen im Alltags- und Mediendiskurs 85 Islamisten“. Kelek unterstellt „auch diesen jungen Mädchen“, dass ihr Kopftuchtragen politisch motiviert sei und ignoriert persönliche Gründe („egal aus welchem individuellen Grund“). Auch diese Mädchen meinten, „die Frau hat in einer anderen Gesellschaft zu leben“. Damit bewertet Kelek die Entscheidung dieser Mädchen für das Kopftuch ebenfalls als unkritisch und rückständig. Necla Kelek bemüht in ihrem Interview die gängigen Symbolisierungen, die mit dem Kopftuch verknüpft werden: Kopftuchträgerinnen sind fremdbestimmt und werden als sexuelle Objekte degradiert (Patriarchatssymbolik), sie lassen sich als Flagge des Islamismus einspannen, tragen somit ihren Teil zur Islamisierung bei (Gewaltsymbolik) anstatt sich zu integrieren (Ausgrenzungssymbolik) und Kopftuchträgerinnen isolieren sich von den Errungenschaften der Gesellschaft (Rückschrittssymbolik). Die kurze Analyse des Interviews verdeutlicht auch, wie diese Symbolisierungen sprachlich kommuniziert werden. Aus linguistischer Perspektive interessant ist darüber hinaus die Frage, wie die Äußerungen Keleks im Gesamtdiskurs der Kopftuchdebatte aufgenommen werden. Margarete und Siegfried Jäger (Jäger/ Jäger 2007, S. 15-37; Jäger 2004) haben ein Modell für solche Diskursanalysen vorgelegt. Ganz allgemein geht es dabei darum, miteinander verflochtene komplexe Diskurse („diskursives Gewimmel“) als Diskursstränge und -fragmente zu erfassen und zu interpretieren. Als Resultat der Diskursanalyse ergeben sich unterschiedliche Diskurspositionen, denen die Diskursteilnehmer ausgesetzt sind und die offengelegt werden müssen, vor allem deshalb, weil an den Alltags- und Mediendiskursen Diskursgemeinschaften mit unterschiedlichen Interessen teilnehmen. Ziel der kritischen Diskursanalyse ist es, „herrschende Diskurse zu hinterfragen, zu problematisieren und zu dekonstruieren“, es gilt also, die diskurstypischen „Deutungskämpfe“ herauszuarbeiten (Jäger/ Jäger 2007, S. 37; vgl. zur linguistischen Diskursanalyse auch Warnke (Hg.) 2007). Eine solche Diskursanalyse kann damit auch als Beitrag zur Sprachkritik verstanden werden (vgl. Wimmer 2006). Aus Platzgründen kann im Folgenden Keleks Interview diskursanalytisch nur fragmentarisch eingeordnet werden. Auffällig ist, dass die Diskursstränge, die sich z.B. im Internet oder in Leserbriefen auf das Interview ergeben, die von Kelek kommunizierten Symbolisierungen entweder bestätigen und befürworten oder aber in Frage stellen und rigoros ablehnen (vgl. auch Giannone 2005, S. 254; Jäger 2006a, S. 7). Der folgende Chatbeitrag ist ein Anerkennungsfragment im Diskursstrang über das Kopftuch: Peter Kühn 86 Im Grunde hat ja auch niemand etwas gegen das Kopftuch es geht in dem Interview Frau Kelek's um die Sexualtheorie, die das Tuch symbolisiert und mit der die Trägerin Übereinstimmung erklärt! Es geht um die islamische Erziehung, die durch ihre Indoktrination bereits in jungen Jahren den Jugendlichen den Weg zu einem gesunden Weltverständnis verbaut! Es wird hier bereits der Grundstein für eine Verhaltensstörung gelegt! Es geht darum, unsere Kinder vor diesem erzwungenen Rückschritt in voremanzipatorische Zeiten zu bewahren! Dabei meine ich keineswegs nur die Frauen, sondern vor allem die islamisch erzogenen Männer! Es ist eine Tatsache, dass allein in Köln im letzten Jahr ein überdurchschnittlicher Anteil der Vergewaltigungen von meist türkisch oder arabisch Stämmigen verübt wurden! Natürlich hat das nichts mit dem Islam als Religion zu tun, sondern mit den falschen Sexualtheorien, die mit der islamischen Kultur vermittelt werden. Welche perversen Auswüchse dieses Denken und diese Erziehung haben können, sehen wir z.B. im Iran, wo kaum eine Vergewaltigung zur Anzeige gebracht wird. ( http: / / www.geistigenahrung.org/ ftopic19752-10.html , Stand: 01.04.08) In diesem Beitrag werden alle Symbolisierungen des Interviews bestätigt: Thematisiert werden die Gewaltsymbolik („Es ist eine Tatsache, dass allein in Köln im letzten Jahr ein überdurchschnittlicher Anteil der Vergewaltigungen von meist türkisch oder arabisch Stämmigen verübt wurden! “), die Patriarchatssymbolik (Es geht um die islamische Erziehung, die durch ihre Indoktrination bereits in jungen Jahren den Jugendlichen den Weg zu einem gesunden Weltverständnis verbaut! ; falsche Sexualtheorie) sowie die Rückschrittssymbolik („Es wird hier bereits der Grundstein für eine Verhaltensstörung gelegt! Es geht darum unsere Kinder vor diesem erzwungenen Rückschritt in voremanzipatorische Zeiten zu bewahren! “), die zudem noch miteinander verschränkt sind. Ganz anders sind dagegen folgende Chatbeiträge ( http: / / www.geistigenahrung. org/ ftopic19752.html , Stand: 24.07.08), die als Ablehnungsfragmente im Gesamtdiskurs angesehen werden müssen: Wenn Muslim-Sein (mit all den Pflichten gegenüber Allah te'ala) bedeutet, für eine „islamistische Partei zu flaggen“, dann flagge ich aus ganzem Herzen und voller Überzeugung für diese. Ehrlich gesagt kann man die Frau Kelec, glaube ich, nicht für ganz voll nehmen. Sie kritisiert die Allgemeinheit der muslimischen Damen, die ein Kopftuch tragen. Ich kenne soviel Frauen die ein Kopftuch tragen und erst vor kurzem hat eine bekannte sich dafür entschieden (man glaub es nicht aber ganz ohne Zwang, Druck und Schläge; solls ja geben). Und ist damit sehr glücklich. Das Thema ist doch jetzt endlich mal ausdiskutiert, oder? In diesen Beiträgen kommt eine explizit formulierte Ablehnung der im Interview vorgebrachten Symbolisierungen zum Ausdruck: Frauen werden nicht - - Konfliktstoff Kopftuch: Symbolisierungen im Alltags- und Mediendiskurs 87 zum Kopftuchtragen gezwungen und das Kopftuch fungiert nicht als Flagge der Islamisten, sondern die Frauen tragen es ganz ohne Zwang, Druck und Schläge. Kopftuchbefürworter bewerten gerade den Mut der Kopftuchträgerinnen gegen die Meinung der Mehrheitsgesellschaft als Emanzipation (z.B. Aytac 2007). Während die Frauenrechtlerin Necla Kelek das Kopftuch als Symbol der Unterdrückung apostrophiert, das die Frau zu sexualisierten Wesen degradiert, wird das Kopftuch in den Chatbeiträgen als Schutz angesehen, die Frauen zu behüten. Die Befürworter des Kopftuchtragens sehen gerade im Kopftuch ein Symbol, das „Selbstwertgefühl“ und „Selbstbewusstsein“ der Kopftuchträgerinnen zu stärken, das Kopftuch und der Schleier „sind somit auch Zeichen der Würde der Frau“ (Hübsch 2007). Junge Kopftuchträgerinnen „bedecken ihren Kopf zum Zeichen der Emanzipation. Das Kopftuch, sagen sie, schütze vor Männern, die Frauen nur mit den Augen beurteilen“ (Spiewak/ Uchatius 1999). Diesen Auffassungen von Emanzipation steht der Emanzipationsbegriff der westlichen Frauenrechtlerinnen, wie ihn Necla Kelek in ihrem Interview vertreten hat, unvereinbar gegenüber. Bei der Betrachtung dieses kurzen Diskursstrangs über das Kopftuch geht es weniger um die Gültigkeit der einzelnen Positionen - die Feministinnen beschreiben die islamischen Positionen als „pseudofeministisch“ und sprechen von „Zwangsemanzipation“ (vgl. Filter 2004) -, es geht vielmehr um die Feststellung, dass die in der Kopftuchdebatte kommunizierten Symbolisierungen eher emotionalisieren: Sie dienen in den eigenen Reihen der Förderung und Festigung der eigenen Standpunkte und provozieren beim Gegenüber Missbilligung und Zurückweisung. Necla Kelek scheint sich dieser Wirkung durchaus auch bewusst zu sein, wenn sie in einem Parallelinterview äußert: „Lieber eine hitzige Debatte als gar keine“ (Kelek 2008; vgl. zur „Aufheizung“ der Kopftuchdebatte kritisch Jäger 2006b). In diesem Sinne muss die Auseinandersetzung über das Kopftuch als „Kopftuchdebatte“ ebenfalls als Symbolisierung aufgefasst werden. Es ist weniger die Erörterung eines Themas, bei der Meinungen und Argumente ausgetauscht werden mit dem Ziel, sich in unterschiedlichen Standpunkten anzunähern, Kompromisse zu schließen oder sich zu einigen. In der Kopftuch„debatte“ geht es vor allem um Positionierungen, die hauptsächlich über Symbolisierungen kommuniziert werden - vermischt mit Missverständnissen, Unterstellungen, Schuldzuweisungen, Vorwürfen und Verletzungen. Die angeführten Diskursstränge sind ein Beispiel für die traditionelle Denkschablone: Gerade der Konflikt um das Kopftuch zeigt, dass wir Migrantinnen und Migranten immer noch als fremde Gruppe mit fremden Sitten Peter Kühn 88 ansehen, die nicht in die eigene Lebenswelt passen. Die Symbolisierungen des Kopftuchs zementieren die bipolare Gegenüberstellung des Eigenen und des Fremden. Die Symbolisierungen fußen auf einem statischen Kulturbegriff und evozieren einen „Kampf der Kulturen“: Im Kopftuchstreit stehen sich via Symbolisierungen scheinbar einheitliche, homogene Kulturen gegenüber, deren Merkmale Kohärenz im Inneren und Abgeschlossenheit nach außen darstellen. Jüngste Entwicklungen in der Auseinandersetzung um das Kopftuch zeigen dagegen eine Alternative: Yasemin Karakasoglu-Aydin (1998) hat z.B. in Interviews mit türkischen Kopftuchstudentinnen festgestellt, dass die Studentinnen in ihrem Land den „Türban“ gerade nicht im Sinne der Traditionalisten sondern als Ausdruck individueller Persönlichkeit tragen. Nach Frank Jessen und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (2006, S. 23-25) haben in Deutschland von 312 befragten türkischstämmigen Kopftuchträgerinnen 97 Prozent angegeben, das Tuch freiwillig aus religiöser Pflichterfüllung zu tragen. 87 Prozent bekundeten, das Kopftuch gebe ihnen Selbstvertrauen. Solche Untersuchungen können dazu beitragen, den Diskurs über das Kopftuch „vielstimmiger“ zu machen, d.h., es sollte nach Margarete Jäger (2006a, S. 9) versucht werden, dass „die unterschiedlichen Bedeutungen und Motive, die Frauen dazu bewegen, in der Öffentlichkeit ein Kopftuch zu tragen, auch in den Mediendiskurs Eingang finden“. Mark Terkessidis (2002, S. 37) sieht gerade in solchen Verhaltensweisen die Herausbildung einer „aktiven Subkultur, die über den Bezug auf ein für die hegemoniale Kultur bedeutsames Zeichen via Stil Einwände formuliert“. 5. De-Symbolisierung und Hybridisierung als Diskursbeschleuniger Das Kopftuchverbot scheint trotz der konsequenten Durchführung kein probates Mittel in der Konfliktdebatte um das Kopftuch: Die „Kopftuch“-Befürworter haben die Möglichkeit, auf kopftuchähnliche Symbole auszuweichen (z.B. (z.B. Zeitungsschlagzeile: „Ist die Baskenmütze ein Kopftuch? “), diejenigen, die , diejenigen, die das Kopftuchverbot ausführen und durchsetzen sollen, geraten in bizarre Rechtsstreitigkeiten und Argumentationszwänge: Ist ein Rollkragenpulli, der den Hals bedeckt, ebenfalls als religiöses Symbol zu deuten? Welche Perücke ist ein Kopftuch? Muss jede Perücke und ihre Trageweise richterlich abgesegnet werden? Wie ist es, wenn die muslimische Lehrerin die Wollmütze auch als Schutz gegen die Kälte trägt? Das Verbot des Symbols scheint perspektivisch wenig Erfolg versprechend: Zum einen erstreckt sich das Kopftuchverbot lediglich auf den Bereich der Schule, zum anderen sind mit der Verbannung des Konfliktstoff Kopftuch: Symbolisierungen im Alltags- und Mediendiskurs 89 Symbols die daran geknüpften Symbolzuschreibungen nicht verschwunden. Zudem wird durch das Kopftuchverbot zumindest indirekt die Wirksamkeit der daran geknüpften Symbolisierungen verstärkt. Und wie würde der Fall bewertet, wenn auch alle übrigen Lehrerinnen ein Kopftuch tragen würden - und zwar im Grace-Kelly-Look? Barbara Vinken (2003) hat gerade diese „Ausdrucksfreiheit der Mode“ aufgegriffen, denn die Mode „braucht nicht auf den viel berufenen Integrationswillen zu warten, sondern kann ihm entgegenkommen. Sie braucht das Kopftuch nicht zu entreißen, sie kann es aneignen und umwidmen, ohne dass ein Symbolismus etwas dagegensetzen könnte.“ Vinken plädiert daher dafür, dass das Kopftuch „für zwei oder drei Saisons“ zur Mode werden sollte. „Der allgemein getragene Foulard würde die Unterscheidung zwischen Musliminnen und allen anderen auflösen. Danach wäre das islamische Kopftuch nie wieder, was es jetzt ist. Es würde die Buchstäblichkeit der islamischen Auslegung mit unseren Mitteln, den modernen und postmodernen der Mode, elegant unterlaufen. Aber es langte vermutlich schon, wenn sich ein paar möglicherweise katholische Lehrerinnen entschließen könnten, eine Zeit lang Kopftücher zu tragen, bis der politische Witz dem bürgerlichen Freiheitssinn gewichen ist.“ Antonella Giannone (2005, S. 259f.) weist darauf hin, dass schon ein Kopftuch von Yves Saint Laurent als Luxusobjekt „die gesamte Bedeutung eines Kopftuches verändern kann.“ In der augenblicklichen Diskussion scheint eine De-Symbolisierung und Entpolitisierung des Kopftuchs auch bei den Kopftuchträgerinnen in Gang zu kommen (vgl. schon 3.3): „Da geht ein Mädchen vorbei, das auf dem Kopf ein rosafarbenes Baumwolltuch trägt, am Leib eine rustikale Strickjacke im selben Rosaton, ein hellgelbes dünnes Kleid, das bis zu den Knien reicht, während die Beine in hellblauen Jeans stecken und die Füße in rosafarbenen Ballerinas. Dieses Mädchen fällt durch die ausgeklügelte Farbenkombination auf, eine verheiratete junge Frau dagegen trägt ein schwarzes Tuch überm hellen Mantel und zieht die Blicke durch ihr sehr elegantes Make-up am helllichten Tage auf sich. Am anderen Ende der Bekleidungsmöglichkeiten gibt es dann Mädchen, die Jeans und Parka tragen und ihr Haupt mit einem entsprechenden rustikalen Tuch verhüllen“ (Hanika 2006). Peter Kühn 90 Abb. 3: Moderne Kopftuchträgerinnen 3 Das Kopftuch wird folglich in den allgemeinen Kleidungsstil integriert, Frauen wählen nicht mehr das prototypische Kopftuch, sie tragen bunte und modische Kopftücher oder „Push-up-Kopftücher“, die unterschiedliche Kopfformen erlauben; das Kopftuch wird marginalisiert und scheint auf dem Weg zum Accessoire, „zum oberflächlichen Detail“, „der Hijab dominiert seine Trägerin nicht mehr in der gleichen Weise wie früher, macht aus ihr nicht mehr ein bloßes wandelndes Kleidungsstück. […] Frömmigkeit und Vergnügen gehen heute Hand in Hand. Auf den Straßen und öffentlichen Plätzen haben verschleierte Frauen den Sinn des Kopftuchs verändert: Aus einem Symbol der Unterdrückung und des Stillstands ist eines der Freiheit und Modernität geworden“ (Zbib 2006). Antonella Giannone (2005, S. 263) befürwortet aus kleidungssemiotischer Perspektive eine solche Auflösung der politischen und religiösen Symbolhaftigkeit des Kopftuchs, für Mark Terkessidis (2002, S. 36) ist das Kopftuch eine interessante und originäre „politisch-kulturelle Hybridisierung“. Die De-Symbolisierung des Kopftuches und seine Marginalisierung als Modeaccessoire darf jedoch nicht als Anpassung an westliche Kulturstandards missverstanden werden, die neuen Kopftuchträgerinnen werden nicht einfach Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft. „In den meisten Fällen bildet das Kopftuch für viele junge Frauen jedoch so etwas wie den Stoff gewordenen Kompromiss zwischen eigenen Karriere-Ambitionen und den Erwartungen des familiären Umfelds, mit dem man nicht brechen möchte. Als bedeckte Muslima, die mit ihrem Kopftuch zeigt, dass sie die Prinzipien von Anstand und Tugendhaftigkeit verinnerlicht hat, können muslimische Frauen und Mädchen aus konser- 3 Bildquellen (Stand: 22.07.08): Bild links: Sasura-Syrien (Webblog). Sasura-Syrien (Webblog). http: / / www.sarsura-syrien.de/ bekleidung_91.html. Bild rechts: Schanda, Susanne: Von der TV -Predigt zum intimen Tagebuch. In: swissinfo.ch, 30.01.06. Internet: http: / / www.swissinfo.ch/ ger/ swissinfo.html? siteSect=43&sid=6414113. Konfliktstoff Kopftuch: Symbolisierungen im Alltags- und Mediendiskurs 91 vativen Elternhäusern ihren Aktionsradius erweitern, an der Universität studieren und öffentlich in Erscheinung treten. Oft geht das Kopftuch bei ihnen mit einer Kritik an patriarchalen Traditionen einher, welche die Frau auf ihre Hausfrauenrolle beschränken wollen: ein Grund, warum das Kopftuch von vielen Trägerinnen als Zeichen der ‘Emanzipation’ und ‘Freiheit’ bezeichnet wird.“ (Bax 2004). Antonella Giannone (2005, S. 260) stellt aus kultursemiotischer Perspektive die rhetorische Frage: „Warum interpretieren wir Kopftücher nicht mit der gleichen Elastizität, mit der wir die Kreuze interpretieren, mit denen wir uns selbst und unsere Kleidung schmücken? […] Warum muss ein Kopftuch immer ein intendiertes und eindeutiges Zeichen der religiösen oder politischen Einstellung der Person, die es trägt, sein und kann nicht möglicherweise zurückführbar sein auf Gewohnheit, Tradition, Stil, kritische oder gar ironische Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft? “ Bei einem solchen Perspektivenwechsel handelt es sich um „Verschiebungen“ (Terkessidis 2002, S. 37), wie sie heute im Kontext transkultureller Forschungsansätze propagiert werden. Die Funktionalisierung des Kopftuches in Richtung Accessoire zeigt die Problematik einer „Verortung der Kultur“ (Bhabha 2000): Die Verortung in fixierten Räumen entspricht einem starren Kulturdualismus, der nicht mehr zeitgemäß erscheint. So sind jene jungen Frauen eher im „dritten Raum“ (ebd., S. 59) anzusiedeln, der nicht „zwischen den Kulturen“ liegt, sondern in einem hybriden Raum. Kulturen werden nicht mehr als Einheit gesehen, sondern als brodelndes Gemisch aus Heterogenem. Der Normalfall ist nicht die Kultur, sondern die Transkulturalität, es geht nicht um die Auseinandersetzung zwischen homogenen Gruppen, sondern um einen allgegenwärtigen „Gruppismus“ (Brubaker 2007). Gerade auch im Kopftuchstreit geht es „um Brüche, um jene Überlappungen, wo die angeblich voneinander geschiedenen kulturellen Entitäten in einem verschwiegenen, gemeinsamen Prozess produziert werden“ (Terkessidis 2002, S. 38). Kulturen sind hybrid, durchlässig und dynamisch (vgl. Kühn 2006, 33f.). Ein Kulturbegriff, der über Symbolisierungen auf Herkunft, Abgrenzung oder Fremdheit ausgerichtet ist, ist zu statisch. Kultur muss demgegenüber verstanden werden als „niemals stattfindende Ankunft“ (Baecker 2001, S. 30). Symbolisierungen, wie sie in der Auseinandersetzung um das Kopftuch typisch sind, verhindern solche inter-kulturellen Kommunikationsprozesse. Peter Kühn 92 6. Literatur Aytac, Gülmihri (2007): Neue Wege der Emanzipation. Internet: http: / / www.derislam. at/ islam.php? name=Themen&pa=showpage&pid=166 (Stand: 12.02.2008). Bax, Daniel (2004): Die Muster der Differenz. In: taz, 12.01.2004. Internet: Internet: http: / / www.taz.de/ index.php? id=archivseite&dig=2004/ 01/ 12/ a0145 (Stand: 23.6.2008). Baecker, Dirk (2001): Wozu Kultur? 2. erw. Auflage. Berlin. Bhabha, Homi (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen. Brubaker, Rogers (2007): Ethnizität ohne Gruppen. Aus dem Englischen von Gabriele Gockel und Sonja Schumacher. Hamburg. Drews, Axel/ Gerhard, Ute/ Link, Jürgen (1985): Moderne Kollektivsymbolik. Eine diskurstheoretisch orientierte Einführung mit Auswahlbibliographie. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1, S. 256-375. 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Der Text startet mit einer kurzen Theorie kulturwissenschaftlicher Begriffsgeschichte, gerafft im Bilde des „Werkzeugs“. Es werden dann verschiedene Ausprägungen von „Intellektueller“ vorgeführt: die semantische Füllung während des französischen Dreyfus-Prozesses, die Schimpfwortprägung bei den Nazis und den Kommunisten und die erste positive Auslegung im Deutschland der 60er Jahre, als das deutsche Bewusstsein auf das Niveau seiner westlichen Nachbarn gehoben werden musste. Es folgt der angebliche Tod der Intellektuellen nach Foucault, Lyotard und den deutschen Beiträgen zum Problem. Die Gründe für Vitalität und Mortalität werden nebeneinander gestellt, auf ihre Stichhaltigkeit geprüft und schließlich ein neuer Definitionsversuch gestartet, was als zentrale Substanz des Intellektuellenbegriffs verteidigt werden könnte. 1. Kulturwissenschaftliche Begriffsgeschichte Früher war es eine These, heute ist es eine selbstverständliche Grundannahme, dass sich die wissenschaftlichen Objekte anders ausnehmen, je nachdem von welchem Standpunkt man sie betrachtet. Welches sind meine Perspektiven? Hier spricht, meine Damen und Herren, kein Literaturwissenschaftler, kein Soziologe, sondern ein kulturwissenschaftlich interessierter Sprachhistoriker. Ich stelle die Begriffe in ihren kulturellen Zusammenhang und erkunde, welche Weltauffassung und welche Machtansprüche mit ihnen gestellt werden. Allemal sind die Begriffssysteme Spiegelungen menschlicher Bedürfnisse, menschlicher Ideologien. Diese Grundannahme in leicht fassbarem Bild: Mit griffsicheren Begriffen füllt der Mensch seinen Instrumentenkoffer, um die Welt nach seinen Wünschen umzumodellieren oder gar erst aufzubauen. Klar auf Anhieb: Diese Instrumente sind bestimmten historischen Situationen angepasst, also: Sie sind Produkte spezifischer historischer Konstellationen. Daraus ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen: 1 Der Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, den ich im April 2007 in Princeton gehalten habe - als Einleitung zu einer Diskussion mit Hans-Magnus Enzensberger. Ich habe den Charakter der Mündlichkeit erhalten und verzichte deswegen auch auf ausgedehnte Anmerkungen. Dietz Bering 96 Da Geschichte nichts anderes ist als das Ringen verschiedener Gruppen um Lebens- und Gestaltungsmöglichkeit, werden deren Instrumente nicht denselben Zielen dienen, sondern für verschiedene Zwecke ausgeformt sein, heißt: Sie sind ideologisch geprägt. Mögen die Instrumente sogar denselben Namen tragen („Freiheit“, „Intellektueller“) - sie sind gleichwohl zu verschiedenen Zwecken geformt. Sind die spezifischen historischen Situationen überwunden - nicht zuletzt durch effektvollen Einsatz von Begriffen umgestaltet -, dann greifen die ehemals stimmigen Begriffe oft nicht mehr. Die nicht mehr „packenden“ Instrumente müssen dann umgeformt werden, also Bedeutungsveränderung, oder man entfernt sie als nunmehr überlebt ganz aus dem Instrumentenkoffer. Meist geschieht dies fast unbemerkt, in einigen Fällen aber unter großem Geschrei. Hochbedeutsamen Leichen baut man ein Grabmal. Im Falle von Wörtern ist das vielleicht sogar ein Anzeichen, dass da etwas so tot nicht ist. Mit seinem berühmten Essay setzte Jean-François Lyotard 1983 ein solches Epitaph: „Grabmal des Intellektuellen“. In Frankreich jedenfalls nahmen viele an der Beerdigung teil. Der berühmte Jean Baudrillard wies einen Interviewer so zurück: „Es gibt keine französische Intellektuelle mehr. Was Sie französische Intellektuelle nennen, wurde von der Mediengesellschaft verschlungen.“ Nun, in Frankreich operierte man mit „Intellektueller“ ja schon fast 100 Jahre, sodass letale Abnutzungserscheinungen nicht so verwunderlich anmuten. In Deutschland aber, da war er erst nach dem zweiten Weltkrieg zu Kräften gekommen - und jetzt schon todgeweiht und ausrangiert? Um diese beiden Konsequenzen, historische Ideologiegebundenheit und Tod spezifischer Kategorien, wird es heute gehen. Um die Folgen jenes angenommenen Sterbens einschätzen zu können, müssen wir die Biografie des „Intellektuellen“ kennen. Was hat diese Kategorie da geleistet, was hat sie leisten sollen? Erst dies vor Augen, vermögen wir die Frage zu beantworten: Können wir auf diese Kategorie verzichten oder versuchen da bestimmte Ideologien, sich Unsterbliche doch irgendwie vom Halse zu schaffen? 2. Kontrastierender Aufbau von Intellektuellenbegriffen 2.1 Gegensätze: Die französische und die deutsche Tradition 2.2.1 Frankreich „Les intellectuels“, das kam 1898 während der Dreyfus-Affäre auf. Damals kämpften die demokratischen Kräfte unter Führung des öffentlich protestierenden Emile Zola siegreich gegen die faschistoiden, antisemitischen Kräfte, ‘Intellektuelle’ - ein Grabmal für Unsterbliche? 97 die sich den jüdischen Offizier als symbolisches Opfer ausgesucht hatten, um ihr autoritäres Staatsverständnis durchsetzen zu können. Ende des 19. Jahrhunderts gab es aber schon eine durch Presse mobilisierbare Öffentlichkeit. Zolas Leitartikel „J'accuse“ war ein Fanal, und Hunderte Schriftsteller, berühmte Wissenschaftler, jetzt eben „Intellektuelle“ genannt, unterzeichneten Protestlisten. Der Sturm wurde so stark, dass Dreyfus schließlich rehabilitiert und die erste faschistoide Bewegung Europas in die Knie gezwungen wurde. Der Kampf ging nicht zuletzt um die Füllung, Unaufgeklärte sagen: um die ‘wahre Bedeutung’ des Begriffes „Intellektueller“. Die Dreyfus-Freunde formten diese Kategorie zu einem attraktiven Identifikationsangebot. Emphatisch feierten sie diesen neuen Typ als Inkarnation der Wertbegriffe: „demokratisch“, „wissenschaftlich“, „politisiert“, „gewissensgeleitet“, „jugendlich“. Die Dreyfus-Gegner attackierten hingegen „den Intellektuellen“ als den „Abstrakt-Instinktlosen“, den „Dekadenten“, den „Inkompetenten“, als den „Jüdischen“, den „Feind des französischen Vaterlandes“. Auch das Ringen auf sprachlichem Feld endete mit dem Sieg der progressiven Kräfte. Es hat ja seit 1898 in Frankreich immer etwas gegolten, „Intellektueller“ zu sein, und als ihr Fahnenträger, Emile Zola, unter der ehrfürchtigem Begleitung von Zigtausenden zu Grabe getragen wurde, da rief ihm kein geringerer als Anatole France nach: „Für einen Moment war er das Gewissen der Welt“. Diesen Satz muss man im Gedächtnis behalten, denn er bietet einen erkenntnistreibenden Maßstab für die gesamte Geschichte der hier verhandelten Kategorie. Dies „Gewissen der Welt“, genau das ist die Qualität, die Emile Zola später als den Prototyp des „universellen Intellektuellen“ erscheinen ließ. 2.1.2 Deutschland Das tief geschwärzte Gegenbild zu Frankreich bietet Deutschland. Da wurde der Begriff „Intellektueller“ gleich von zwei Seiten berannt: Die Nationalsozialisten schliffen dieser Verbalwaffe sämtliche Negativ-Merkmale ein, die für sie den undeutschen Menschen par excellence ausmachten: „abstrakt-instinktlos“, „verbildet“, „zersetzend“, „krank-wurzellos“, „jüdisch-marxistisch“, der „Nein-Sager“ aus Grundsatz. Die Marxisten aber, auf die Arbeiterklasse fixiert, intellektuelle „Führer“ skeptisch beobachtend, sie wetterten: „disziplinlos“, „Phrasenschwinger“, „Individualisten“, von „Bildungshochmut durchseucht“, „schwankende Opportunisten“, „voll verneinenden Unglaubens an die Revolution“, kurzum: „Klassenfremde“. Unser historisches Gedächtnis hat durchaus parat, was die Nationalsozialisten mit den Intellektuellen anstellten. Hitler hatte es schon 1936 angekündigt: „ausrotten oder so etwas“ (Kotze/ Krausnick (Hg.) 1966, S. 281). Dietz Bering 98 Unserer etwas trüberen Erinnerung an die Marxisten hat Milan Kundera 1976 nachgeholfen: Intellektueller, das war im damaligen Politjargon ein Schimpfwort gewesen. [...] Sämtliche Kommunisten, die seinerzeit von anderen Kommunisten aufgehängt worden waren, hatte man mit diesem Schimpfwort belegt. („Das Buch vom Lachen und vom Vergessen“, als Motto zitiert in Baier 1990). Jetzt lässt sich das ideologische Gegeneinander gut zeigen: Lenin z.B. - war das ein „Intellektueller“? Nach der Definition der Marxisten wohl kaum, aber nach den Vorstellungen der Nazis, da war er gewiss einer der gefährlichsten. Das Bemerkenswerte ist nun, dass die doppelt Angegriffenen sich in der Weimarer Zeit nicht zur Modellierung eines verteidigungsfähigen Intellektuellen- Begriffs aufrafften, sondern kraftlos den Gegnern einfach das Feld überließen. Nun wagte Karl Mannheim wenigstens einen wissenschaftlichen Entwurf. Den „freischwebenden Intellektuellen“ setzte er in positive Zentralstellung, „freischwebend“, weil dieser Typ von parteilicher Perspektivenknechtschaft befreit sei und deswegen Nahstellung zur Wahrheit, Fernstellung zu bloßer Ideologie habe. Das ironieanfällige Wort „freischwebend“ ging natürlich im aggressiven Hohn der Rechten und Linken unter. Aber auch die Kulturbürger dachten gar nicht an Rettungsversuche. Sie hassten doch das freie Schweben; sie gaben ja alles für die tiefe Einwurzelung in die klassische Kultur des deutschen Idealismus. Ein ähnliches Schicksal hatte auch ein anderer Aufbauversuch. „Geistige“ nannte sich eine expressionistisch-aktivistisch eingestimmte Gruppe unter Kurt Hiller. Sie wollten endlich die getrennten Sphären ‘politische Macht’ und ‘geistige Kultur’ in einem Ethos der Tat zusammenführen. Es gelang dies nicht. Der im damaligen Deutschland überdeutlich große Wegweiser „Kulturnation“ hatte den Blick fast aller gebannt: Auf der einen Seite sah man den „Geist“ der unantastbar reinen Kunst- und Kultursphäre, auf der anderen die krude, unreine Welt der Macht. 2.2 1945 - 1976: Aufbau einer wehrhaften Kategorie „Intellektueller“ 2.2.1 Bewältigungsversuche der Nachkriegszeit So hatte denn der Nationalsozialismus relativ leichtes Spiel. Auf seinen Trümmerhaufen standen die Deutschen 1945 dann orientierungslos da, während die Franzosen in ihrer demokratischen Einstellung - nicht zuletzt wegen der korrektiven Kraft ihrer hoch geachteten Intellektuellen - ziemlich gut Richtung halten konnten. Wie jetzt im Desaster festen Boden unter die Füße bekommen? Vom Nationalsozialismus geschockt oder enttäuscht, von den Besat- ‘Intellektuelle’ - ein Grabmal für Unsterbliche? 99 zungsmächten wenig angezogen, mochte die dominante Mehrheit nicht gleich wieder auf politischem Terrain Posto fassen. „Die skeptische Generation“ mit ihrem „ohne mich“ beherrschte das Klima der frühen Bundesrepublik. Wie aber die uns viel weniger präsente Zeit von 1945 bis 1949? Sie interpretierte den Nationalsozialismus als Abfall von der Kultur, als ein Abirren vom deutschen Königsweg des unpolitischen „Volkes der Dichter und Denker“. Also: Zurück zum deutschen Geist! Wohl 200 kulturpolitische Zeitschriften mit immensen Auflagenzahlen wurden gegründet. Mit ganzem Ernst versuchten sie eine Wiedereinwurzelung in die deutsche klassische Kultur. Eine so achtbare, wenn auch Intellektuellen-skeptische Zentralfigur wie Friedrich Meinecke schlug vor: Goethe-Gesellschaften sollten sich sonntagnachmittags versammeln - wenn eben möglich in Kirchen! Und wie nannten die 200 Kulturzeitschriften durchweg die Protagonisten dieser Rückführung der Deutschen in ihr „gelobtes Land“? Die „Geistigen“ sollten es sein, jene Kategorie also, die schon einmal gescheitert war! Also immer noch nichts von „Intellektuellen“. 2.2.2 Aufbau „des Intellektuellen“ durch drei Zeitschriften, die Gruppe 47 und progressive Kräfte der SPD Nun ist bisher gezielt überzeichnet worden, denn die neuere Forschung hat genau drei Zeitschriften isolieren können, die einen anderen Weg gingen, energisch Politisierung forderten und für ihren Instrumentenkoffer einen in Deutschland verpönten Begriff positiv neu bestimmten: Intellektueller. Melvin Laskys gegen den Moskauer Totalitarismus gerichteter „Monat“, die linkskatholischen „Frankfurter Hefte“ unter der Führung von Walter Dirks und Eugen Kogon und als Drittes dann „Der Ruf“, für uns heute besonders interessant, weil in diesem 1946 gegründeten Organ viele schrieben, die später als ‘Gruppe 47’ bekannt wurden. Ich kann hier die mikroanalytischen Forschungen nicht vorführen, die zeigen, dass in diesen drei Organen der Nukleus für einen wehrhaften, der Politik zugewandten Intellektuellenbegriff angelegt worden ist. Hier nur ein Spotlight: 1949, da ließ der „Monat“ einen Schweizer zu Wort kommen: Max Frisch. Der hatte mit staunendem Entsetzen das Wiedereintauchen der Deutschen in ihre Tradition des Geistes gesehen. Sich offen „Intellektueller“ nennend, schockte er mit der Frage: „Ja, hat es denn in Deutschland jemals an Kultur gefehlt? “ Selbst mit den Nazis hätte man sich doch herrlich über Beethoven und Wagner unterhalten können! Bürgersinn - an ihm hätte es gemangelt und der könne nicht blühen, solange man die alten Götzen nicht stürze, nicht breche mit der „ästhetischen Kultur der Unverbindlichkeit“. Was nun in jenen drei Zeitschriften ebenso mühsam wie beharrlich aufgebaut wurde, das hat die Gruppe 47 ausgebaut, Alfred Andersch an vorderster Front. Dietz Bering 100 Aber ein Zwang, den begrifflichen Instrumentenkoffer praxisnah zu bestücken, ergibt sich nicht so sehr aus hochklassigen Diskussionen, sondern aus gefährlichen Ernstfällen - heißen sie nun „Dreyfus-Skandal“ oder „Wiederbewaffnung Deutschlands“. Als sich diese drängende Frage zum „Kampf gegen den Atomtod“ zuspitzte, da verließen auch viele Mitglieder der eigentlich literaturzentrierten Gruppe 47 ihre Dichterstuben und bauten, zusammen mit den progressiven Kräften der SPD , den Begriff „Intellektueller“ jetzt endlich zu einer Zitadelle des Widerstands aus, so dass schließlich doch eine neue, von Verfechtern und Feinden ernst genommene Figur auf der politischen Bühne stand. Hans Werner Richter, der spiritus rector der Gruppe 47, plädierte mit ganzer Energie für eine gemeinsame Aktion von Intellektuellen und progressiven SPD -Politikern. Von denen hörte man nun ganz neue Töne, z.B. von Carlo Schmid, jenem in Frankreich geborenen Feuerkopf. Er führte in fulminanten Reden alle bisher angesponnenen Denkansätze zu einer umfassenden Theorie des Intellektuellen zusammen. Seine außerordentliche Ausgangsthese spielt eine entscheidende Rolle, wenn es jetzt plötzlich um sein Grabmal gehen soll. Carlo Schmid konstatiert doch tatsächlich: „wenn heute die Demokratie unser Schicksal ist“, dann seien „die Intellektuellen das Schicksal der Demokratie“. Jetzt haben sie also eine unaufgebbare Zentralstellung. Die nunmehr Typ-definierenden Merkmale zeigen warum: Der Intellektuelle - grundsätzlich den „überzeitlichen Werten“, den „Menschenrechten“, dem „Frieden“ zugewandt, daher ein Kämpfer gegen die Instrumentalisierung des Menschen zu pur industriell-kapitalistischen Zwecken; im Staate ist er als Korrektiv tätig, weil mit seinen „kritischen“ Potenzen dem hugenottischen „savoir résister“ verschworen. „Nein sagen“ können wird zur höchsten Tugend. 2.2.3 Abwehr des Intellektuellen durch die Restauration Natürlich stemmten sich die restaurativen Kräfte des Adenauer-Staates gegen diesen neuen Gegner. Zugegeben, man ging da mit mehr argumentativem Aufwand zu Werke als bei den umstandslosen Denunziationen vor 1945; aber viele zogen doch die alten deutschen Gravuren nach, sodass sich die erstarkten Intellektuellen wieder mit Attacken konfrontiert sahen wie: sie seien „marxistisch“, „Staatsfeinde“, eigentlich „entwurzelt“, daher „zersetzend“ - kurzum sie seien die „inkompetenten“ „Dauer-Nein-Sager“ und allein schon deshalb gegen die Atombewaffnung. Zogen sich die Attackierten nun wieder feige zurück? Nein, mit ganzer Kraft verteidigten sie ihr Fahnenwort „Intellektueller“. Ironisch-gewieft hat damals auch Hans Magnus Enzensberger zurückgeschlagen. So wurden die Intellek- ‘Intellektuelle’ - ein Grabmal für Unsterbliche? 101 tuellen wirklich eine Macht. 21 Autoren, darunter Grass, Walser, Enzensberger und Lenz vereinten ihre Stimmen 1961 im rororo-Band „Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung? “ Dreizehn Mal wurde da die Kategorie „Intellektueller“ offen ins Feld geführt. Zwar konnten die so gestärkten Truppen 1961 die Wahl der Willy-Brandt-Partei noch nicht durchsetzen, aber am triumphalen Sieg von 1972 hatten sie erheblichen Anteil. Viele hatten stützende Komitees gebildet, Günter Grass zog sogar auf eigene Faust mit Wahlkampfreden durchs Land. Als „Sympathisanten“ der Terroristen besonders scharf angegriffen, brachten sie es dann 1976 aber auch zu einem ganz außerordentlichen Zeichen für die endlich Frankreich-ähnliche Stellung der Intellektuellen: Max Frisch hielt auf dem Parteitag der SPD in Hamburg eine Rede; 28mal von Beifall unterbrochen, schmetterte er da einen seit 1898 virulenten Standardvorwurf ab: „inkompetent“? Nun, unterwegs zu seiner Schriftstellerei habe er einmal eine Überschwemmung gesehen, die Kirche bis zur Turmuhr im Wasser, noch so gerade anzeigend, was die Stunde geschlagen hatte. Als guter Staatsbürger habe er die Katastrophe sogleich bei den Behörden gemeldet. Die abweisende Frage, ob er denn überhaupt ein kompetenter Experte im Kirchenbau sei, habe ihn nun doch sehr bescheiden gemacht. Jedenfalls „wundert es mich nicht, daß immer weniger Gläubige in jene Kirche gehen“ - tosender Beifall. Man hatte also verstanden. 3. Tod der Intellektuellen? 3.1 Das Grabmal des Jean-François Lyotard Wir kennen jetzt das Kräftefeld von 1976: Wenngleich verspätet, hatte der Intellektuelle nun auch in der Bundesrepublik eine nicht zu unterschätzende Macht erhalten. Jetzt versteht man den Schock, den kaum sieben Jahre später Lyotard auslösen musste: Am 8. Oktober 1983 waren die 400.000 Leser des linksliberalen „Le Monde“ mit dem „Grabmal des Intellektuellen“ konfrontiert. Auch wir erschrecken, denn Carlo Schmid hatte doch gesagt: Ist er tot, dann stirbt auch die Demokratie, weil sie ohne seine Unsterblichkeit nicht leben kann. Um nun sein unausweichliches Absterben deutlich zu machen, war Lyotard von einem Aufruf der linken Regierung an die „Intellektuellen“ ausgegangen: Frankreich erwarte jetzt Impulse gegen seine ökonomische und soziale „Rückständigkeit“, erhoffe sich mehr als nur „große Namen auf der Tribüne des Engagements“, nämlich „Reflexionen mit konkreten Folgen“. Dieser Aufruf sei offensichtlich falsch adressiert. Er spreche doch die „Planer, Experten, Entscheider“ an, gewiss Leute aus der Intelligenz. „Intellektuelle“ seien aber ganz anders definiert: Dietz Bering 102 Geister, die vom Standpunkt des Menschen, der Menschheit, der Nation, des Volks, des Proletariats, der Kreatur oder einer ähnlichen Entität aus denken und handeln. Sie identifizieren sich mit einem Subjekt, das einen universellen Wert verkörpert. Und dann steuert Lyotard sofort den heiklen Punkt an: Die Verantwortlichkeit der ‘Intellektuellen’ kann nicht getrennt werden von der allgemein geteilten Idee eines universellen Subjekts. Sie allein konnte Voltaire, Zola, Péguy oder Sartre [...] die Autorität verschafften, die ihnen zuerkannt worden ist. (Lyotard 1985, S. 10) Wie muten nun derartige Definitionen Menschen an, die durch die Postmoderne und Foucaults Diskurstheorien geprägt sind? „Universeller Wert“? „Subjekt“, ja sogar „universelle Subjekte“? Kann Derartiges noch ernsthaft verfochten werden, wo alle „großen Erzählungen“, also: das Christentum, der Marxismus, die Aufklärung zusammengebrochen, wir in bricolage geendet und zu glauben gelehrt worden sind, dass das Individuum gar keine autonome Kategorie mehr ist! Unsere Befürchtungen sind für Lyotard Gewissheiten: Nicht nur der Zusammenbruch der großen Erzählungen, schon die Revolution der Physik durch Einstein habe „die moderne Idee eines universellen Subjekts (und Objekts) zutiefst erschüttert“. Übrig geblieben seien nur noch zwei Figuren: erstens die Experten, ihrem Wesen nach von Intellektuellen vollkommen verschieden, denn: Höchstmaß an Effizienz, also rationales Kalkül - das allein sei ihre Richtschnur. Dementsprechend sei neuerdings auch das gesamte Bildungswesen aus- und umgebaut: Niemand erwartet heute mehr von der Schule, die überall in Ungnade fiel, dass sie aufgeklärtere Bürger heranbilde, sondern nur, dass sie auf eine erfolgreiche Berufstätigkeit vorbereite. (Lyotard 1985, S. 17) Und auf der anderen Seite die Schriftsteller, die Philosophen, die Künstler, also jenes Reservoir, aus dem so viele Intellektuelle hervorgegangen sind. Wie steht's mit ihm? „Was ist Malerei, Schreiben, Denken? “ Die hätten, so Lyotard, gar keinen Adressaten, ihre „Botschaften“ schickten sie einfach „in die Wüste“. Ich zitiere weiter: Wer den Kosmos mit Zweckabsichten anblickt oder darstellt, treibt Wissenschaft, […] oder mit Kunst getarnte Apologetik, nicht aber Kunst! Mit dem letzten Zitat habe ich mir nun einen Schabernack erlaubt und eingeschmuggelt, was der Schriftsteller Stefan Andres (1948, S. 133) geantwortet hatte, als man den damals so innig wieder dem Geist zugewandten Künstlern mit dem Ansinnen kam, doch endlich etwas zur Lösung der anstehenden Probleme zu schreiben. In seiner Abwehr war Benn präludiert, wahrlich kein ‘Intellektuelle’ - ein Grabmal für Unsterbliche? 103 Freund der „Intellektuellen“; auch er sah ja Gedichte an „niemand“ gerichtet, höchstens „an die Musen“. Ich habe Sie also mit Absicht verwirrt und möchte Sie jetzt raten lassen: Stammt der folgende Satz nun von Lyotard oder von Benn? Nichts beweise, „dass das künstlerische Schaffen die Entwicklung des politischen Zusammenlebens fördert oder ein Künstler dem Gemeinwesen ein besonderes Wissen mitzuteilen hat.“ Lyotard redet so! Warum baue ich diese etwas unstatthafte Schleife ein? Um bestimmten Warnungen Gewicht zu geben, die die deutsche Geschichte für uns bereithält. Wir wissen zu gut, was es heißt, wenn man „die Schriftsteller, die Philosophen, die Künstler“ aus dem Staat heraushält. Nun dürfen wir Lyotard nicht auf ein triviales Niveau herabstimmen. Er gesteht ja zu: „Die Benachteiligten“ müssten tatsächlich weiter gestützt werden, freilich nicht mehr, weil sie - wie's Sartre dachte - das „kommende, universelle Subjekt sind“, sondern weil „bürgerliche Verantwortlichkeit“ es gebiete, freilich nur in lokal (eben nicht universell) gesteuerten Stellungnahmen. Sofort fragt man: Woher denn plötzlich diese „bürgerliche Verantwortlichkeit“? Lyotard will seine Diagnose auch nicht als pessimistisch verstanden wissen. Er beendet die Anpassung seines Instrumentenkoffers, also die Aussortierung des Intellektuellen, mit der Hoffnung: Ohne die Idee einer Universalität, also auch ohne ihre angestammten Verfechter hätten sich Denken und Leben von „der Obsession der Totalität befreit“. „Geschmeidigkeit, Toleranz, ‘Wendigkeit’“ könnten endlich Platz greifen. Das ergäbe dann für die „Intelligenz“ (nicht mehr die Intellektuellen) eine „Höhe der neuen Verantwortlichkeit“. Wieder kann keiner die Frage zurückhalten: Ja, wie denn „Geschmeidigkeit, Toleranz und ‘Wendigkeit’“ als anzustrebende Ziele rechtfertigen - und erstmal die abermals aus dem Hut gezauberte „Verantwortlichkeit“? Lyotard hatte ein gewaltiges Echo, wenn er auch viele Fragen offen ließ. Vielleicht lösen sie sich aber, wenn wir diesen Grabmalbauer ins Ensemble der vielen Skeptiker stellen, die dem Intellektuellen ebenfalls den Tod vorausgesagt hatten. 3.2 Der Tod des „universellen Intellektuellen“ (Michel Foucault) Starb der Intellektuelle bei Lyotard konsequenterweise am Zerfall der großen umfassenden Erzählungen, so reduziert ihm Foucault schon 1977 den Lebensboden durch seinen Kampf gegen die Vorstellung eines souveränen, über den Diskursen stehenden Subjekts. Die Ausgangsthese: „Für uns hat der theoretisierende Intellektuelle aufgehört, ein Subjekt, ein repräsentierendes oder re- Dietz Bering 104 präsentatives Bewusstsein zu sein.“ Früher deckte der „universelle Intellektuelle“ bestimmte Wahrheiten auf. Anschließend sagte er „die Wahrheit denen, die sie noch nicht sahen“ (Foucault/ Deleuze 1977, S. 88). Prototyp war der Schriftsteller. „Als universelles Bewusstsein, als freies Subjekt stand er denen gegenüber, die nichts als Kompetenzen im Dienste des Staates oder des Kapitals waren (Ingenieure, Richter, Professoren usw.).“ Bemerkenswert, wie Foucault nun von dieser Perspektive Abschied nimmt: Seit vielen Jahren verlangt man nun schon nicht mehr, dass ein Intellektueller diese Rolle spielt […] Die Intellektuellen sind dazu übergegangen, ihre Arbeit nicht mehr im ‘Allgemeinen’ und ‘Exemplarischen’, in dem, was ‘für alle wahr und gerecht’ ist, anzusiedeln, sondern in bestimmten Bereichen und an spezifischen Punkten, kurz dort, wo sie in ihren Arbeits- und Lebensbedingungen betroffen sind (am Wohnort, im Krankenhaus, im Irrenhaus, in den Forschungsstätten, an der Universität, in den Familienverhältnissen und in der Sexualität). (Foucault 1978, S. 44) Dabei seien sie auf Probleme gestoßen, „die spezifisch, nicht ‘universell’“ waren. Eben dies hätte sie viel näher an die Seite des Proletariats gebracht, weil dieses ja auch immer auf konkrete Probleme stoße; überdies hätten beide immer mit denselben Gegnern zu tun gekriegt: mit den multinationalen Konzernen, dem Justizapparat, der Bodenspekulation. „Und diesen Typ würde ich im Gegensatz zum ‘universellen’ Intellektuellen den ‘spezifischen’ Intellektuellen nennen.“ (Foucault 1978, S. 45) Dieser neue Typus habe sich nach dem 2. Weltkrieg herausgebildet. Der Atomphysiker Oppenheimer sei das „Scharnier zwischen universellem Intellektuellen und spezifischem Intellektuellen“ gewesen. Es war das erste Mal, […] daß der Intellektuelle nicht wegen des allgemeinen Diskurses […] von der politischen Macht verfolgt wurde, sondern wegen des spezifischen Wissens, dessen Träger er war. [...] Da jedoch die atomare Bedrohung das Schicksal der Welt und der ganzen Menschheit betraf, konnte sein Diskurs gleichzeitig Diskurs des Allgemeinen sein. (Foucault 1978, S. 46f.) Jetzt sind drei Bemerkungen fällig. Staunt man nicht, dass Foucault auf ganz selbstverständliche Art wieder beim „Allgemeinen“ landet? Dieses zweieinhalbtausend Jahre alte platonische Gespenst lässt sich also auch von der Postmoderne nicht so leicht verjagen. Und gesetzt, wir sollten Foucaults neuen Intellektuellentyp so begreifen, dass er zwar auch zum Allgemeinen strebt, jetzt aber von spezifischen, Sonder-Kompetenz-gestützten Problemen aus startet, dann stehen wir doch vor noch erheblich schwierigeren Fragen; an Foucault weitergeleitet lauten sie: „Ja, wenn die spezifischen Probleme der ausgewie- ‘Intellektuelle’ - ein Grabmal für Unsterbliche? 105 senen Experten der eigentliche Kern der Intellektuellen sein sollen, wie kommt es dann, dass doch eine viel größere Anzahl von Atomwissenschaftlern fraglos zuarbeitende Experten geblieben sind? “ „Müssen wir nicht vermuten, dass das eigentlich intellektuelle Moment genau in dem Impuls liegt, der den Fachwissenschaftler antreibt, bei bestimmten Problemen mit seinem Fachwissenschaftlertum eben Schluss zu machen? “ Und drittens: „Wenn der universelle Intellektuelle tot sein und der mit Spezialwissen ausgerüstete seine Stelle einnehmen soll, welches Spezialwissen hat dann wohl Grass, Walser oder eben auch den hier anwesenden Enzensberger zum Intellektuellen gemacht? “ Fazit: Wie bei Lyotard enden wir also auch bei Foucault in Fragen. Ihre Antworten schieben wir auf, bis wir wissen, wie die deutsche Öffentlichkeit auf die mächtigen Impulse aus Frankreich reagiert hat. 3.3 Die deutschen Debatten Die vorgeführten Thesen lösten in Deutschland natürlich besondere Turbulenzen aus, weil hier der Intellektuelle doch gerade erst zu Kräften gekommen war. Wir halten uns vornehmlich an zwei ausgedehnte Debatten und einen Sammelband. Auf die Frage „Schweigen die deutschen Intellektuellen? “ ließ die linke Frankfurter Rundschau 1981 zehn bekannte Autoren antworten, druckte auch das entscheidende Essay Foucaults ab. Zum 100jährigen Gedächtnis von Zolas „J'accuse“ gab die noch linkere TAZ 1998 dreizehn Exponenten öffentlichen Bewusstseins das Wort. Den Titel „Intellektuellendämmerung“ übernahm sie von einer Aufsatzsammlung, die Martin Meyer, Kulturchef der eher rechtsliberalen Neuen Zürcher Zeitung, schon 1992 herausgegeben hatte. Wir führen zuerst die adaptierten oder neuen Gründe für den Tod des Intellektuellen vor; anschließend sprechen wir über die Argumente, die für die Vitalität von (vielleicht reduzierten) Intellektuellen ins Feld geführt werden. Dann allerdings ist die Entscheidung fällig: tot oder lebendig, womöglich sogar unsterblich? Zunächst das Gesamtergebnis: Die, die 1981 und 1998 den Intellektuellen einen Gedächtnis-Besuch auf dem Friedhof abstatten, sind gewiss zahlreicher als jene, die sie auf den alten oder erneuerten Feldern in wirksamer Tätigkeit wähnen. 3.3.1 Gründe für das Ableben der Intellektuellen Also jetzt die Argumente fürs Dahinschwinden und ihr sprachlicher Reflex: Erhard Schütz äußert sich 1998 in der TAZ so: Dietz Bering 106 Wir wünschten eine Welt der großartigen Eindeutigkeiten, wie Intellektuelle sie uns so hingebungsvoll entwerfen, aber wir wissen, daß wir uns tatsächlich auf dem Markt der Gurus, Kolporteure, Laienpriester, […] Herrenreiter, Alleinunterhalter, Gardinenprediger, Eckensteher, Mannequins, Quacksalber, Exhibitionisten und so fort bewegen. ( TAZ , 18.02.1998, S. 15) Die also früher einmal eindeutige Richtung gaben - die Intellektuellen, sie sind hier in die Nähe ganz anderer Figuren gerückt. So wird ihr (ehemaliger) Name untergraben. Ein weiterer Grund für ihr Absterben wird dargetan durch die raffinierte Abwandlung eines Brecht-Zitats (an Stelle von „Kunstwerk“ ist „Intellektueller“ eingesetzt): Ist der Begriff Intellektueller nicht mehr zu halten für das Ding, das entsteht, wenn ein Intellektueller zur Ware verwandelt ist, dann müssen wir vorsichtig und behutsam, aber unerschrocken diesen Begriff weglassen, wenn wir nicht die Funktion dieses Dinges selber mitliquidieren wollen. (Nach TAZ (ebd.), dort noch statt „Intellektueller“ „Kunstwerk“ mit nachgesetzter Einwechslungsaufforderung.) Das impliziert: Der Intellektuelle ist zur Ware geworden. Seine Aufgaben existieren weiter, müssen aber durch einen neuen Begriff geschützt werden. Das geschieht nicht. Ich zähle nun die angeführten Veränderungen auf, die den Intellektuellen auf den Markt gebracht und von seiner eigentlichen Vokation abgezogen haben. Es fehlt überhaupt an einer „weltanschaulichen Position, von der aus eine Bewertung übergreifender gesellschaftlicher Zusammenhänge möglich wäre“. (Hans-Jürgen Schmitt, in: Frankfurter Rundschau, in: Wysocki/ Lohmann, S. 47) Schon 1981 behauptet Michael Schneider in der Frankfurter Rundschau, dass nach dem Umfallen der ehemals marxistisch orientierten französischen Vorbilder auch die deutschen Intellektuellen abgeschworen und den Marsch durch die Institutionen angetreten hätten. So seien sie zu Verrätern an allem geworden, was sie einstmals hochgehalten hätten: den Internationalismus, die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, das einheimische Proletariat. Die Revoluzzer jener Ära werden also als die wahren Intellektuellen wahrgenommen; inzwischen hätten sie „das kapitalistische Innovations- und Verramschungprinzip selbst verinnerlicht“. Darum stünden sie sprachlos vor allen bedrängenden Problemen der jetzigen Protestgeneration: vor den Grünen, den Alternativen, den Atomgegnern, den Hausbesetzern. Die bürgerliche Hochkultur ist abgestorben. Mit dem Tode des Feuilletons und dem Sieg der Bilderwelt ist die Symbiose von Intellektuellen und dem a) b) c) ‘Intellektuelle’ - ein Grabmal für Unsterbliche? 107 lesenden Publikum beendet. Aus Bildern kritisches Wissen abzuleiten ist schwer. So wird die Geburtsstunde des allgegenwärtigen Showbusiness zur Todesstunde der Intellektuellen. Sie sind zu „Moderatoren“ transformiert und sogar noch als „Querdenker“ vom Dienst ins kommerzielle System integriert. Also fungieren Intellektuelle heute nur noch als „Geistberater des Faktischen“. (Walter von Rossum, in: Walter von Rossum, in: TAZ , 21.1.1998, S. 15) Der Intellektuelle, immer an der klaren Kartographie von rechts und links ausgerichtet, ist in der neuen postmodernen Welt der Unübersichtlichkeit nicht orientierungsfähig. Richtung zu geben, war aber das Zentrum seiner Aufgabe. Nun gibt es aber keine Masteridee mehr. „Das Reale besteht aus sich widersprechenden Gewißheiten.“ Also bleibt höchstens noch das ironische Hin- und Herspringen zwischen den Entwürfen. (Norbert Bolz, in: Norbert Bolz, in: TAZ, 12.2.1998, S. 13)) Das Dahrendorf-Paradoxon: Die fürsorgestaatlichen Erfolge der Linken machen die Linken überflüssig. ( ebd. ) Die Intellektuellen von heute operieren „ohne Ressourcen“, d.h., daß sie auf Positionen beharren, die in der Gesellschaft als Erinnerungsposten an vergangene Konfliktlinien ihren Charme haben, aber nicht mehr als Einsätze zu aktuellen Problembestimmungen gelten können. In der Informationstheorie und in der Kybernetik, in der Soziologie und in der Literaturwissenschaft wurden Hypothesen formuliert, die die Beschreibung der Gesellschaft aus ihrer bisherigen […] Orientierung am Buchdruck herauslösten. (Dirk Baecker, in: Dirk Baecker, in: TAZ , 7.2.1998, S. 13)) Der an kulturtragenden Zentralbegriffen und ihrer Funktion Interessierte wird jetzt fragen: Wie verfahren die vorgestellten Stimmen nun mit den Totgesagten. Wie heißen sie jetzt? Obwohl sie zu etwas ganz anderem erklärt sind, werden sie sehr häufig noch Intellektuelle genannt. Beispiel: Nachdem Kurt Scheel, der Herausgeber des konservativen „Merkur“, Günter Grass höhnisch in die „Tradition alttestamentarischer Propheten“ gestellt, ihn des „ranzigen Moralismus“ geziehen und dann den naiven „Gutmenschen“ beigezählt hat, wendet er sich gegen die Mär vom Schweigen der Intellektuellen : Es wird ja permanent geredet, von Frau Schreinemakers über Herrn Willemsen bis zu Herrn Wickert, und das sind zweifellos Intellektuelle. Die Zeitungsjournalisten, die Rundfunk- und Fernsehkommentatoren - Tausende, die uns täglich die Welt erklären, alles Intellektuelle. ( TAZ , 13.1.1998, S. 17)) Genau die, die von anderen gerade wegen wesensvernichtender Deformation nicht mehr den Intellektuellen beigezählt sind, hier werden sie höhnisch wied) e) f) Dietz Bering 108 der als Intellektuelle genommen. Welche Rechtfertigung wird vorgetragen? Der „Brockhaus“ definiere das doch so. Scheel fordert dann, dass sich der verhasste Typ, ganz nach der foucaultschen Forderung, zum Spezialisten, also von einem Moralisierenden zu einem Wissenden, wandeln solle. Als glanzvolles Beispiel führt er dann einen an, der diese Transformation geschafft habe: Hans Magnus Enzensberger. Haben wir uns jetzt in bloßer Begriffsklauberei verfangen? Zur neuerlichen Selbstvergewisserung, dass wir, ganz im Gegenteil, bei einer sinnvollen Inspektion unseres Instrumentenkoffers sind, holen wir uns zunächst Hilfe bei Pierre Bourdieu und dann bei Jean-Paul Sartre. Der erste stärkt uns in seiner Theorie vom „intellektuellen Feld“ so: Auf diesem Kampffeld sei es unstatthaft, „unter Berufung auf statistische Gründe [ich füge hinzu: unter Berufung auf den Brockhaus] Grenzen“ festzulegen, „die in der Realität selbst noch unentschieden sind“, „die nämlich, wer Intellektueller und wer es nicht ist, wer die ‘wahren’ Intellektuellen sind, die das Wesen des Intellektuellen wirklich realisieren“ (Bourdieu 1992, S. 159f., 165). Also nach wie vor: Um diesen Bourdieu 1992, S. 159f., 165). Also nach wie vor: Um diesen Also nach wie vor: Um diesen Wertbegriff wird weiter gerungen! Und nun Sartre bei einer solchen kämpferischen Grenzziehung: Als Intellektuelle lasse er nur Linke gelten, die sich um das Allgemeine kümmern, die für die Universalisierung (d.h. gegen Unterdrückung, Ausbeutung) und damit gegen die partikularen Interessen kämpfen. Von den anderen sagt er dezidiert: die „Spezialisten der Forschung“ die „Beamten des Überbaus“ - niemand erwäge, „sie als Intellektuelle zu bezeichnen“ (Sartre (1965 [1995]), S. 100) und genau so: Kein noch so ausgefuchster Wis- (1965 [1995]), S. 100) und genau so: Kein noch so ausgefuchster Wis- und genau so: Kein noch so ausgefuchster Wissenschaftler, der Atombomben baut, darf Intellektueller genannt werden. Wenn das nun aber - wie vorgeführt - doch geschieht, ist das ein Malheur? Angesichts der besonderen Geschichte des Wortes in Deutschland vielleicht. Unsere Bedenken verstärken sich, wenn wir den Terminus „pathologische Sprachsituation“ heranziehen. Eine solche liegt immer dann vor, wenn essenziell Verschiedenes gleich benannt und damit verwechselbar oder durch Einebnung unkenntlich gemacht wird. Als Beispiel: Das Französische unterscheidet säuberlich zwischen „Bourgeois“ und „Citoyen“. Im Deutschen heißen beide gleich: „Bürger“. Mittels dieser Äquivokation kann man sich hierzulande leicht Zustimmung erschleichen, wenn man verkündet: „Das bürgerliche Zeitalter ist vorbei“. Für das Zeitalter des „Bourgeois“ mag man das sogar hoffen, aber gleichzeitig mit ihm auch den „Citoyen“ untergehen zu lassen - das wäre ein schwerer Schaden. So zur Begriffsschärfe aufgerufen, wenden wir uns wieder „dem Intellektuellen“ zu. Gesetzt, wir hörten plötzlich auf dem „kulturellen Feld“ seinen Namen an jedweden Medienschwadroneur und die ‘Intellektuelle’ - ein Grabmal für Unsterbliche? 109 Hunderttausende von studierten Fachleuten vergeben und sähen gleichzeitig, dass man dem ursprünglichen, dem grundständig „kritischen“ Intellektuellen ein Grabmal baut, dann ist es vielleicht unumgänglich, für seine Vitalität zu kämpfen. Man muss dann die Grenzen so scharf ziehen, dass sich zumindest die schlimmsten Platt-Moderierer und servilsten Diener der Macht hinter der Demarkationslinie wiederfinden. 3.3.2 Überlebensmöglichkeiten für die (reduzierten) Intellektuellen Jene 23 Zeitbeobachter, fast alle vereint im Glauben, dass die Zeit letzter Wahrheiten abgelaufen ist, was führen sie dennoch gegen ein Grabmal der Intellektuellen an? Die Intellektuellen seien aufgerufen, „das erkennbare Richtige zu wollen, ohne eine letzte Wahrheit zu prätendieren“. (Hans-Martin Lohmann, in: Hans-Martin Lohmann, in: Frankfurter Rundschau, in: Wysocki/ Lohmann (Hg.) 1981, S. 30) ) Intelligenz, das meine ja ohnehin „keine stabile und homogene Schicht, eher „eine Haltung, eine moralische Kategorie“. (Burkhardt Lindner in der Burkhardt Lindner in der Frankfurter Rundschau, zit. n. Wysocki/ Lohmann (Hg.) 1981, S. 33) Per Per definitionem müsse, wenn schon keine universale Wahrheit mehr möglich, „wenigstens diese moralische Verantwortung“ gestärkt werden. (Hans-Jür- Hans-Jürgen Schmitt, in: Frankfurter Rundschau, in: Wysocki/ Lohmann (Hg.) 1981, S. 49)) Wenn Juristen gegen die Nürnberger Massenuntersuchungshaft protestierten, Ärzte gegen die Isolationshaft und NATO -Generäle gegen die Nachrüstung, dann seien das doch schon gute Beispiele für Foucaults „spezifischen Intellektuellen“, weil vom „‘Ort des Experten’ aus gesprochen wurde“. „Unterschriftenaktionen namhafter Intellektueller [...] erscheinen demgegenüber anachronistisch.“ (Burkhardt Lindnier, in: Frankfurter Burkhardt Lindnier, in: Frankfurter Rundschau, in: Wysocki/ Lohmann (Hg.) 1981, S. 37) ) Das Eingeständnis, dass „Kritik“ überhaupt nicht mehr gehe, löst eine ganze Kaskade von Bricolage-Pflichten für Intellektuelle aus: 1) beobachten und beschreiben, 2) Dekonstruktion der Frames, 3) „souveräner Eklektizismus“ - ohne Fragen nach einem „Ansatz“, 4) Medienkompetenz, die sich nicht von der öffentlichen Meinung ködern lässt, 5) Kultur einer ironischen Vernunft und 6) „Wenn Intellektuelle denn doch unbedingt sein müssen, werden sie nur eine Zukunft haben, wenn sie die intelligente Intellektuellenkritik ad notam nahmen“ - also Gehlen, Schelsky, Marquard und Lübbe. (Norbert Bolz, in: Norbert Bolz, in: TAZ , 12.2.1998, S. 13)) a) b) c) d) Dietz Bering 110 Wenn es nun die Wahrheit nicht mehr gibt, ans Licht gebracht durch „repräsentatives Sprechen“ von „humanistischen Intellektuellen“, dann bleibt nur noch „sein Wirken als Störfaktor“. (Heinz Bude, in: Heinz Bude, in: TAZ, 2.4.1998, S. 17)) 3.4 Das „unsterbliche“ Zentralmerkmal des Intellektuellen Jeder der vorgeführten Lebens- und Todesgründe müsste natürlich in einer jeweils eigenen tiefgreifenden Untersuchung beurteilt werden. Hier ist aber nur Raum für die Feststellung: Die genannten Vorschläge lassen wieder viele Fragen offen. Präparieren wir diese heraus, dann zeigen sich nicht viele Antworten, sondern fast nur eine. Alles läuft auf einen einzigen Punkt zu, aus dem dann auch unsere Fragen an Lyotard und Foucault zu klären sind. Der eine war ja, ganz denkwidrig, wieder beim „Allgemeinen“ gelandet; der andere stellte sich erst gar nicht die Frage, welcher Impetus den spezialisierten Fachmann denn zu einem „speziellen Intellektuellen“ mutieren lässt. Und die eben aufgeführten deutschen Stimmen? Auch sie erzaubern sich plötzlich den Begriff „Verantwortlichkeit“. Woher diese denn in jener Bricolage, im Leben ohne Masteridee? Ja, wie denn das „erkennbar Richtige“ erkennen? „Souveräner Ek-lektizismus“? Das kann doch nicht Zufallswillkür sein, sondern ist und heißt ja auch: „Aus-wahl“, also allemal: zielgesteuertes Zugreifen. Und „Störfaktor“, einfach so - dem „Stänkerer“ gleich? Nein. Wir müssen jetzt den alles beantwortenden Kern- und Zentralpunkt nennen, von dem aus der Intellektuelle startet. Wir tun das nicht gerne, weil gerade dieser Begriff obsolet, fast schon lachhaft scheint. Da ich aber an einem Ort spreche, an dem man auch Heikles wagen kann, sage ich freiweg: Es ist ein Glaube, der dem Intellektuellen Richtung und Festigkeit gibt. Es ist der Glaube an die Menschenwürde. Menschenwürde ist nämlich keine vorfindliche Tatsache, sondern das Zentrum eines Kulturwillens, der durch noch so inhumane Fakten nicht gebrochen werden kann. Unbeirrt hält der Intellektuelle also, auch kontra-faktisch, seinen Glauben an die Menschenwürde fest. Er folgt damit einer nie umfassend einzulösenden Minimalutopie. Diese passt sogar in die postmoderne Zeit, weil sie nicht futuristisch auf noch ferne, aber schon ziemlich festgelegte Strukturen unserer sozialen Verhältnisse zu hoffen lehrt. Sie wurzelt im hic et nunc alltäglicher Praxis. Gleichwohl aber impliziert Menschenwürde einen wirklichkeitsresistenten Glauben, eine habituell verfestigte Grundannahme. Einzig und allein aus einem solchen Glaubenssprung lassen sich die apostrophierten Verpflichtungen, Zielstellungen, Grenzen des Handelns und die Pflichten des kritischen Eingreifens ableiten. Dieser Glaube ist also der Quellpunkt von „verallgemeinerungsfähigen Interessen“, deren Anwalt der Intellektuelle auch nach Jürgen Habermas bleibt. e) ‘Intellektuelle’ - ein Grabmal für Unsterbliche? 111 Allerdings: Er ist kein willkürlicher, er ist ein gut bezeugter Glaube, bezeugt und gesichert durch außergewöhnliche Biografien, extraordinäre wissenschaftliche Leistungen und nicht zuletzt durch grandiose Kunstwerke. Diese alle empfehlen jenen Glaubenssprung, sichern ihn ab. Denn sie werfen ein Licht der Glaubhaftigkeit auf jene Grundüberzeugung, die in Wirklichkeit ein Glaube ist. Zu ihm unterhält der Intellektuelle also eine unmittelbare, ideologieferne, aber trotzdem unbeirrbare, allemal emphatisch getönte Beziehung. Dass er außerdem - in aller Regel - noch die Möglichkeit hat, Reputation in die Waagschale zu werfen und diese in der Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen, sind dann hinzutretende Eigenschaften. Ohne die steuernde Kraft solcher Menschen lässt sich eine Demokratie, also jene Staatsform, die grundsätzlich auf Menschenwürde baut, nicht stabil halten. Denn immer wieder versuchen gewissenlose Machtmenschen oder auch durchgriffsstarke, aber reflexionsschwache „Planer, Experten, Entscheider“ (s.o. Kap. 3.1), die Schlüsselstellungen zu besetzen. Deren Gegner und Widerpart ist der Intellektuelle. Er kann also in der uns überschaubaren Zeit nicht weggedacht werden. Postuliert ist daher tatsächlich seine - menschlich gesprochen - Unsterblichkeit. 5. Reduktionsformen des (universellen) Intellektuellen Dass ich nun nicht mit dieser heiklen These enden muss, will ich einen resümierenden Satz sagen, der mich auf sichereres Gelände bringt: Überblicken wir die ganze Geschichte der Kategorie „Intellektueller“, so sehen wir zuerst in Frankreich, dann auch in Deutschland definierende Eigenschaftsbündel, von den verschiedenen ideologischen Grundpositionen verschieden zusammengestellt. Die eher linken Intellektuellen-Freundlichen bauten so ein Identifikationsangebot, in dem die Deontik, also die Handlungsverpflichtungen dominieren. Die eher rechten Intellektuellen-Feinde bündelten negative Eigenschaften mit dem Ziel, einen bestimmten Typ als Feind zu markieren. Seit den 1960er Jahren war der Intellektuelle als potente Figur auch in Deutschland präsent. Nach den Todesanzeigen für Intellektuelle war dann die Begriffsverwendung aber schließlich auch über ein dermaßen breites Feld gedehnt, eben von Habermas bis Schreinemakers, dass man zu Spezifikationen neigte. Das forderte Fraktionierung heraus. Seit den 70er Jahren stoßen wir auf terminologisch verfestigte Sondertypen. Da sind: der „organische Intellektuelle“ (als Denkorgan einer Partei (Gramsci)), der „spezielle Intellektuelle“ Foucaults, die „Alt-Intellektuellen“ der 68er Zeit, - - - Dietz Bering 112 der „universelle“, der „totale Intellektuelle“ (Zola, Sartre als Prototypen), Dahrendorfs „Erasmier“ in Kontraststellung zu den „Intellektuellen“, die „Medienintellektuellen“, die „öffentlichen Intellektuellen“ usw. Mehr als zehn Typen allein in den zugrunde gelegten Texten. Eigentlich müsste man über jeden einzelnen einen Vortrag halten. So komme ich nach meiner heiklen These zu einem Schlusssatz, der mir vielleicht doch Ihre Sympathien sichert: Diese fälligen Vorträge werde ich jetzt nicht mehr halten. 6. Literatur Andres, Stefan (1948): Über die Sendung des Dichters. In: Literarische Revue 3, H. 3, S. 129-139. Baier, Lothar (1990): Des Volkes Feinde. Zur Wiederauferstehung des Antiintellektualismus. In: Freibeuter 43, S. 39-46. Bering, Dietz (1978): Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes. Stuttgart. Bering, Dietz (2005): Neue Formung eines alten Werkzeugs. „Intellektueller“ 1945- 1950. In: Busse, Dietrich/ Niehr, Thomas/ Wengeler, Martin (Hg.): Brisante Semantik. Neuere Konzepte und Forschungsergebnisse einer kulturwissenschaftlichen Linguistik. Tübingen, S. 249-268. Bering, Dietz (2007): „Intellektueller“ bei der frühen Gruppe 47. Sprachgeschichtliche Spurensuche. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur ( IASL ) 32, 1, S. 192-226. Bourdieu, Pierre (1992): Das intellektuelle Feld: Eine Welt für sich. In: Bourdieu, Pierre: Rede und Antwort. (= edition suhrkamp 1547). Frankfurt a.M., S. 155-166. Enzensberger, Hans-Magnus (1960): Die literarische Regierungspartei. In: Enzensberger, Hans-Magnus: Einzelheiten. Frankfurt a.M., S. 171-178. Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin. Foucault, Michel/ Deleuze, Gille (1977): Der Faden ist zerrissen. Berlin. Habermas, Jürgen (1987): Heinrich Heine und die Rolle der Intellektuellen in Deutschland. In: Habermas, Jürgen: Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI. Frankfurt a.M., S. 27-54. Kotze, Hildegard von/ Krausnick, Helmut (Hg.) (1966): Es spricht der Führer. Sieben exemplarische Hitlerreden. Gütersloh. Lyotard, Jean-François (1985): Grabmal des Intellektuellen. In: Lyotard, Jean-François: Grabmal des Intellektuellen. Graz/ Wien, S. 9-19. - - - - ‘Intellektuelle’ - ein Grabmal für Unsterbliche? 113 Meyer, Martin (Hg.) (1992): Intellektuellendämmerung? Beiträge zu neuesten Zeit des Geistes. München. Sartre, Jean-Paul (1965 [1995]): Plädoyer für die Intellektuellen. In: Sartre, Jean-Paul: Plädoyer für die Intellektuellen. Interviews, Artikel Reden 1950-1973. Deutsch von Hilda von Born-Pilsach. Reinbek, S. 90-148. [Dt. Erstausg.] Wysocki, Gisela von/ Lohmann, Hans-Martin (Hg.) (1981): Schweigen die deutschen Intellektuellen? Eine Debatte. Berlin. Norbert Groeben Argumentationsintegrität als Bollwerk gegen Hass-Sprache Hass-Sprache als unbegründete, irrationale (verbale) Herabsetzung von Menschen ist immer noch und wieder ein weit verbreitetes Phänomen, dessen destruktive Wirksamkeit in der Rechtfertigung und damit Produktion von Gewalt(spiralen) besteht. Diese destruktive Wirkung entwickelt Hass-Sprache durch eine zunehmende Verschärfung der Abwertungsdynamik von Stereotypen bis hin zu dehumanisierender Entwürdigung. Der Prozess der sukzessiven Steigerung von Abwertungsintensitäten stellt auch eine Sozialisation der Sprachbenutzer/ innen in Richtung auf die darin zum Ausdruck kommenden diskriminierenden, dehumanisierenden Sprach- und Denkmuster dar. Dem kann mit Argumentationsintegrität als präventiv-konstruktivem Gegenmodell entgegengewirkt werden, weil in einer solchen Ethik der Kommunikation die generellen Ziele der Rationalität und Kooperativität konkretisiert und realisiert werden. Die (elf) Standards der Argumentationsintegrität sind daher als Inokulation (Impfung) gegen Hass-Sprache auch und gerade in der individuellen Sprachsozialisation anzusehen und einsetzbar. 1. Problemstellung: Hass-Sprache als sozialisatorisches Sprech- und Denkmuster Im Geschichtsbewusstsein der Deutschen sind Hassreden verständlicherweise vor allem mit der nationalsozialistischen Propaganda verbunden, und hier mit dem Namen des Propagandaministers Joseph Goebbels sowie ggf. mit dem prototypischen Beispiel der sog. Sportpalast-Rede („Wollt Ihr den totalen Krieg? “). Das verengt den Blickwinkel vor allem auf antisemitischen Hass und seine Verbalisierung, gegen deren Wiedererstarken in der Bundesrepublik nicht zuletzt gesetzlich vorgegangen wurde, indem die sog. Auschwitz-Lüge unter Strafe gestellt wurde. Die internationale Forschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat allerdings deutlich gemacht, dass hate speech ein weit verbreitetes Phänomen ist, das von politisch organisierten (brachialen) Sprachformen bis hin zu subtilen Implikationen der Alltagssprache reicht (Nielsen 2002; Sternberg 2005; Tsesis 2002; Vollhardt et al. 2007; Whillock/ Slayden 1995). Dabei besteht Einigkeit darüber, dass es sich im weitesten Sinne um eine unbegründete, irrationale (verbale) Herabsetzung von Menschen auf Grund von Rasse, Ethnie, Nationalität, Geschlecht, Religion, Alter, Behinderung, sexueller Orientierung etc. handelt (vgl. Boeckmann/ Turpin-Petrosino 2002; Delgado/ Norbert Groeben 116 Stefancic 2004; Leets 2002; Vollhardt et al. 2007). Zumeist geht es dabei um Gruppen, die bereits früher unterdrückt worden sind (vgl. Tsesis 2002, S. 1), was aber sicherlich nicht als definitorisches Merkmal anzusehen ist. Die sprachlichen Manifestationen sind außerordentlich vielfältig „including direct and indirect, veiled or overt, single or repeated, backed by authority and power or not, and accompanied by threat of violence or not. [...] It can be delivered orally, in writing, or on the internet.“ (Delgado/ Stefancic 2004, S. 11). Es können einzelne Personen, kleine Gruppen oder umfassende generelle Gruppierungen die Opfer der verbalen Aggression werden (ebd.). Und diese Aggression ist nicht nur in politischen Reden zu beobachten, sondern genauso in der Alltagskommunikation, in Talkshows, im Internet, in der wissenschaftlichen Kommunikation etc. (Delgado/ Stefancic 2004, passim). Vor allem aber reicht auch der Schweregrad von indirekten Vorformen der Hass-Sprache bis zu gewaltdurchtränkten Extremformen, die auch heute noch und immer wieder den Boden für zerstörerische politische Gewalt gegen bestimmte Gruppen bereiten, bis hin zum Genozid, z.B. in Ruanda (zu einem gedrängten historischen Abriss von Hass-Sprache und Gewaltspiralen in Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo: vgl. Vollhardt et al. 2007, S. 16ff.). Das macht schon deutlich, dass es bei hate speech nicht nur um individuelle Sprechhandlungen geht. Vielmehr gibt es sowohl eine psychoals auch soziolinguistische Dimension, d.h. diese Form von verbaler Aggression ist auf der individuellen Mikrowie auf der überindividuellen Makro-Ebene verankert und zu beobachten (van Dijk 1995, S. 3f.; Tsesis 2002, S. 99ff.). Das bedeutet, es handelt sich auch und gerade um Denk- und Sprechmuster, die Teil von gesellschaftlichen Ideologien und Sprachformen sind, in die das einzelne Individuum im Laufe seiner Entwicklung ggf. hineinsozialisiert wird. Da es mir nicht zuletzt um diese Sozialisationsdynamik - und deren Verhinderung, zumindest Schwächung - geht, verwende ich im Folgenden nicht den Ausdruck Hassreden, sondern Hass-Sprache, um die (gesellschaftliche) Präformiertheit dieser Sprech- und Sprachmuster und die mit ihnen verbundenen sozialen und Sozialisations-Dynamiken zu thematisieren. 2. Merkmale und Funktionen von Hass-Sprache Gerade unter der Sozialisationsperspektive ist es sinnvoll, die Binnenstrukturierung von Hass-Sprache nach verschiedenen Stufen im Sinne von - aufeinander folgenden - Schweregraden vorzunehmen. Denn auch die gesellschaftliche Entwicklung von Hass-Sprache gegenüber einer bestimmten Gruppe Argumentationsintegrität als Bollwerk gegen Hass-Sprache 117 muss immer so vor sich gehen, dass die Mitglieder der jeweiligen Sprach-/ Kultur-Gemeinschaft die aggressive, abwertende Dynamik der verbalen Aggression mitmachen und übernehmen, was nur durch eine sukzessive Steigerung der Negativität möglich ist. Diese prozessuale Steigerung nimmt in der Regel ihren Ausgang von bereits existierenden Stereotypen (Tsesis 2002, S. 25f.; Whillock 1995, S. 33f.), die zum Teil zunächst in recht subtiler, evtl. sogar verschleierter Form verbalisiert werden (van Dijk 1995, S. 5f.). Dabei sind für Hass-Sprache natürlich vor allem negative Stereotype in Form von Vorurteilen relevant, die eine Abgrenzung der Wir-Gruppe zu Fremd-Gruppen enthalten, und zwar in hierarchisierender Form, mit der zugleich eine Selbstaufwertung und Fremdabwertung realisiert wird (vgl. Staub 2005, S. 52f.; Tsesis 2002, S. 83f.; Vollhardt et al. 2007, S. 23ff.; Whillock 1995, S. 33f.). Negative Stereotype vernachlässigen Informationen über Individuen und fällen abwertende Urteile rein auf Grund der Zugehörigkeit des Gegenübers zu einer Gruppe, wobei diese Abwertung durch die Über-/ Generalisierung größtenteils unbegründet ist (Tsesis 2002, S. 82f.). Insofern stellt die (stereotype, vorurteilsmäßige) Herabsetzung des Gegenübers, die Bezeichnung der Gruppe als minderwertig etc. eine indirekte verbale Gewalt in Form von Diskriminierung dar (Swigonski 2006, S. 368f.). Sprachpsychologische Analysen zeigen auf, dass diese Diskriminierung (zunächst) in indirekter (verschleierter) Form auftritt, nämlich durch Implikationen, Präsuppositionen und nahe gelegte Suggestionen (van Dijk 1995, S. 7ff.). So werden in den Berichten über Ausländer z.B. nur Problemthemen angesprochen, ihre Positionen werden in anzweifelnder Form zitiert, und nicht zuletzt wird die Verantwortung für ihr (belastendes) Schicksal ihnen selbst zugeschrieben (blaming the victim; Sternberg 2005, S. 41ff.; Vollhardt et al. 2007, S. 25f.). Die darin enthaltene Ursache-Wirkungs-Umkehrung muss als eine der typischen Manifestationen diskriminierender Verunglimpfung angesehen werden. In solchen argumentativ fehlerhaften Sprachmustern kommt deren strategische Funktion zum Vorschein, weshalb man diese Muster auch berechtigterweise Stratageme nennen kann (Whillock 1995, S. 32). Ihre Funktion ist es, Emotionalität auszulösen, die angegriffene Fremd-Gruppe herabzuwürdigen, ihren Mitgliedern dauerhaften und irreparablen Schaden zuzufügen und letztlich sie zu überwältigen, zu beherrschen (im Extremfall des Genozids: auszulöschen) (ebd. S. 35ff.). Die diskriminierte Gruppe wird in immer stärkerer Form als Feind von außen aufgebaut, der den Zusammenhalt der Wir-Gruppe stärkt und die subjektive Berechtigung zu immer gravierenderen Feindseligkeiten gegenüber der Außengruppe vermittelt. Norbert Groeben 118 Dazu gehört dann vor allem auch, dass die angegriffene Fremd-Gruppe als Sündenbock für alle existenziellen Schwierigkeiten der Wir-Gruppe aufgebaut wird (Tsesis 2002, S. 23f.; Vollhardt et al. 2007, S. 26). Dabei ist die Sündenbock-These in der Regel lediglich der letzte Schritt in einer Legendenbildung, bei der - historisch unbegründete - Geschichten erfunden und tradiert werden, die der Fremd-Gruppe an allem Negativen in einer Gesellschaft die Schuld geben (Sternberg 2005, S. 44ff.; Tsesis 2002, S. 23f.). Solche Legendenbildung bietet mit der Sündenbock-These eine simplifizierte Erklärung für die Genese komplexer Probleme und verspricht zugleich mit der Entmachtung bis Zerschlagung der beschuldigten Fremd-Gruppe eine unrealistisch einfache, simplizistische Lösung dieser Probleme. Die Sündenbock-These ist daher in der Regel Teil einer größeren, umfassenderen Ideologie, in der komplexe gesellschaftliche Entwicklungen in einem verzerrenden Schwarz-Weiß-Denken zu Lasten bestimmter gesellschaftlicher Gruppierungen interpretiert werden (Staub 2005, S. 54f.; Tsesis 2002, S. 90f.). Wenn die Wir-Gruppe auf diese Art und Weise an immer umfassendere und stärkere Vorwürfe gegenüber der Fremd-Gruppe gewöhnt ist, immer drastischere und existenziellere Abwertungen der Fremdgruppe vornimmt und sich schließlich sogar von einer weiteren Steigerung der (verbalen) Aggression die Lösung aller eigenen Probleme verspricht, ist der Weg zur letzten Stufe der Hass-Sprache nicht mehr weit, nämlich der Verwendung dehumanisierender Sprachformen. Dabei gibt es sowohl die Variante der Gleichsetzung mit Tieren (animalistische Dehumanisierung) als auch mit nicht-menschlichen Objekten (mechanistische Dehumanisierung: Haslam 2006). Die zentrale Funktion dehumanisierender Sprache liegt darin, die Hemmschwelle gegen Gewaltanwendung drastisch bis dramatisch zu senken, so dass im Extremfall Gewalt bis hin zum Genozid als gerechtfertigt angesehen wird (ebd., S. 255f.; Vollhardt et al. 2007, S. 26ff.). 3. Wirkungen von Hass-Sprache und das Problem ihrer Überwindung Die Konsequenzen von Hass-Sprache lassen sich auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene, von psychischer bis physischer Verletzung nachweisen. Auch subtile, indirekte Formen von Hass-Sprache lösen bei den Betroffenen natürlich psychische Beeinträchtigungen von Ärger und Zorn bis Furcht und Angst aus, wobei die Reaktionen in der Regel eher passiv (‘aus dem Felde gehen’) als aktiv sich wehrend sind (Leets 2002, S. 353ff.; Nielsen 2002, S. 273ff.). Argumentationsintegrität als Bollwerk gegen Hass-Sprache 119 Neben emotionalen Kurzzeiteffekten sind vor allem auch langfristige Wirkungen in Bezug auf den Verlust von Selbstwertgefühlen und Würde relevant, so dass man bei jeglicher Form von Hass-Sprache psychische Verletzungen in Form von Traumatisierungen erwarten muss (Tsesis 2002, S. 96f.). Dabei ist die psychische von der physischen Dimension selbstverständlich nicht eindeutig abtrennbar, insofern andauernde Konfrontation mit Hass-Sprache auch psychosomatische Reaktionen und damit letztlich physische Erkrankungen nach sich ziehen (kann). Die maximale zerstörerische Kraft erreicht Hass- Sprache allerdings dadurch, dass sie auf gesellschaftlicher Ebene dezidiert auch die Funktion haben soll und hat, die Wir-Gruppe zu einem (destruktiven) kollektiven Fühlen, Denken und Handeln zu bewegen (Tsesis 2002, S. 117), - was dann zum letzten Schritt der Legitimierung von Gewalt führt, indem vor allem auch jegliches Mitgefühl für die angegriffene Fremd-Gruppe schwindet (Tsesis 2002, S. 105ff.). Diese Gewalt kann, wie die Geschichte immer wieder zeigt, bis zu „ethnischen Säuberungen“ und zum Genozid führen (nicht nur in Deutschland während des Nationalsozialismus, sondern auch im Jugoslawien- Krieg, in Afrika: Ruanda/ Kongo etc.: vgl. Tsesis 2002; Vollhardt et al. 2007). Die Funktionen und Wirkungen von Hass-Sprache lassen unter ethischer Perspektive ihre - kritische - Bewertung als eindeutig erscheinen, obwohl es auch hier Stimmen gibt, die auf die soziale Funktion von Hass-Sprache hinweisen, so dass es (zunächst einmal) gelte, diese Sprachmuster einfach zu beschreiben (Goldberg 1995; Whillock/ Slayden 1995, S. X ff.). Danach kann man an der Verwendung von Hass-Sprache diagnostizieren, welche Gruppen sich wie in einer Gesellschaft benachteiligt fühlen und mit welcher Energie sie ihre als unbefriedigend erlebte gesellschaftliche Position verbessern wollen (ebd.). Allerdings steht auch hinter dieser primär soziologisch beschreibenden Position m.E. letztlich der Impetus, die gewonnene Diagnose zur Veränderung der Gesellschaft (zum Besseren) zu nutzen. Und es ist nicht einzusehen, warum dieser Veränderungsimpetus nicht auch das Auftreten von Hass-Sprache selbst mit umfassen sollte. Allerdings ist zu konzedieren, dass Hass-Sprache sowohl von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als auch der psychologischen Funktionalität her eine erhebliche Änderungsresistenz aufweisen dürfte. Auf gesellschaftlicher Ebene ist zu berücksichtigen, dass Hass-Sprache immer dann einen besonders guten Nährboden vorfindet, wenn ökonomische und/ oder politische Unsicherheit herrscht, so dass die beschriebenen ideologischen Legendenbildungen und kurzschlüssigen Lösungsvorschläge eine erhöhte Faszination ausüben Norbert Groeben 120 (vgl. Swigonski 2006, S. 365ff.; Staub 2005, S. 55ff.; Vollhardt et al. 2007, S. 23ff.). Aber auch in der psychologischen Dimension dürfte die Verwendung von Hass-Sprache ein ziemliches Beharrungspotenzial aufweisen, nicht zuletzt weil sie - wie beschrieben - über eine lange Zeit der Sozialisation (zum Teil schon ab dem Kindesalter) Schritt für Schritt erworben und damit Teil des (nicht nur politischen) Denkens und Fühlens wird (vgl. Tsesis 2002, S. 106f.). Außerdem reagiert der Mensch, wenn man ihm seine einfachen Erklärungen nehmen und durch komplexe Gedankengebäude ersetzen will, in der Regel mit Reaktanz (ebd., S. 91), - zumal wenn das auch noch die Übernahme von Verantwortung für eigenes und fremdes Schicksal bedeutet, die vorher mit der Sündenbock-‘Argumentation’ und dem Schuldvorwurf an die Fremd-(Opfer-) Gruppe so ökonomisch von sich selbst abgeschoben werden konnte (ebd.). Deshalb ist auch der juristische Lösungsansatz, nämlich Hass-Sprache über Gesetze oder Verhaltenskodizes (z.B. in der Universität) zu verhindern, außerordentlich umstritten (Delgado/ Stefancic 2004, S. 117ff.; Swigonski 2006, S. 379ff.; Tsesis 2002, S. 196ff.). In der Tat dürfte das Argument, dass man mit Verboten lediglich die sichtbare Häufigkeit einschränken kann, aber kaum etwas an den Denkinhalten und der Denkstruktur der Menschen ändern wird, nicht unrealistisch sein. Eine ‘Heilung’ von Hass-Sprache, wenn sich diese denn erst einmal gesellschaftlich und individuell etabliert hat, ist also mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Sinnvoller und Erfolg versprechender scheint es da u.U. zu sein, nach Möglichkeiten der (vorbeugenden) Inokulation zu suchen, damit der skizzierten Sozialisationsdynamik von Hass- Sprache konstruktive Werthaltungen, Einstellungen und Kompetenzen entgegengesetzt werden können, die die Wirksamkeit dieser Dynamik zumindest einzuschränken in der Lage sind (vgl. Goldberg 1995, S. 270ff.; Vollhardt et al. 2007, S. 26ff.). Damit sind Einstellungen und Kompetenzen gemeint, die den Merkmalen und Funktionen von Hass-Sprache entgegengesetzte Werte und Ziele enthalten und damit eine Art Immunabwehr gegen die Übernahme und Entwicklung von Hass-Sprache bilden (können). Das betrifft zum einen in längsschnittlich-diachroner Perspektive die frühe Sprach- und Kommunikationssozialisation im Kindes- und Jugendalter. Wenn in jungen Jahren Einstellungen und Kompetenzen erworben werden, die den Strukturen von Hass-Sprache diametral entgegengesetzt sind, dann kann die (beschriebene) progressive Sozialisation zu immer extremeren Formen von Hass-Sprache nicht mehr funktionieren. Aber auch unter querschnittlich-synchroner Perspektive ist eine Inokulation denkbar und anzustreben, indem solche konstruktiven kommunikativen Einstellungen und Kompetenzen die Ausbreitung von Argumentationsintegrität als Bollwerk gegen Hass-Sprache 121 Hass-Sprache in einer Gesellschaft be- oder sogar verhindern können (wie es z.B. mit den aufklärenden Radioprogrammen in der Demokratischen Republik Kongo versucht wird: Vollhardt et al. 2007, S. 19ff.). Denn diejenigen Mitglieder einer Sprach- und Kulturgemeinschaft, die über derartige ethisch konstruktive Kompetenzen und Werthaltungen verfügen, werden die progressive Entwicklung von Hass-Sprache gegenüber bestimmten Fremd-Gruppen nicht (so einfach) mitmachen - so dass im Optimalfall die kritische Masse von Wir-Gruppen-Mitgliedern nicht erreicht wird, die die Basis für die Ausübung von Gewalt gegen die Fremd-Gruppen-Opfer der Hass-Sprache darstellt. Das bedeutet dann zwar keine ‘Heilung’ (von) der Hass-Sprache beim einzelnen, ggf. schon ‘infizierten’ Mitglied einer (Sprach-)Gemeinschaft, aber doch eine (approximative) Überwindung der Hass-Sprache-Dynamik auf gesellschaftlicher Ebene durch Inokulation möglichst vieler gegen die sozialisatorische Dynamik der destruktiven Sprach- und Denkmuster. 4. Argumentationsintegrität als präventiv-konstruktives Gegenmodell Ein zentraler Einsatzpunkt, um die Wirksamkeit und Genese von Hass-Sprache zu brechen, ist natürlich die Einsicht, wie sie funktioniert, aufgebaut ist und wirkt; diese auf Durchblick, Einsicht, Kenntnis ausgerichtete Aufklärung wird denn auch durchwegs auf höchstem Abstraktionsniveau als Ansatz zur Überwindung von Hass-Sprache vorgeschlagen (vgl. z.B. Staub 1995; Sternberg 2005; Vollhardt et al. 2007). Dabei werden implizit oder explizit im weitesten Sinne demokratisch-egalitäre Werthaltungen als Rahmenbedingungen vorausgesetzt, auf Grund derer erst die Irrationalität und Ungerechtigkeit der - durchschauten - Hass-Sprache deutlich werden, so dass sie ihre Wirksamkeit verlieren (vgl. Tsesis 2002, S. 115). Das betrifft gerade auch die Anforderungen adäquaten Argumentierens (vgl. Whillock/ Slayden 1995, S. XII f.), durch die die kognitiven Verzerrungen sichtbar werden, ohne die die Hass-Sprache mit ihrer simplifizierenden Legendenbildung und Sündenbock- Strategie niemals auskommen kann. Diese kognitiven Verzerrungen reichen, wie Beck/ Pretzer (2005, S. 69f.) herausgearbeitet haben, von Schwarz-Weiß- Denken und Übergeneralisieren bis zum Labeling und Personalisieren, wobei z.B. für Männer, die Gewalt in der Ehe ausgeübt haben, auch empirisch vor allem drei Formen von kognitiven Verzerrungen nachgewiesen werden konnten: Übertreiben, dichotomes Denken und zufälliges Schlussfolgern (ebd., S. 82). Norbert Groeben 122 Zur Kritik und Überwindung solcher kognitiven Verzerrungen scheint ein Konzept wie das des fairen, integren Argumentierens daher besonders geeignet (vgl. auch Vollhardt et al. 2007, S. 28ff.). Nun besitzt aber Hass-Sprache, wie dargestellt, nicht nur eine kognitive, sondern mindestens ebenso stark eine emotionale (Wirk-)Dimension. Insofern das Konzept der Argumentationsintegrität eine Ethik der Kommunikation begründet und expliziert, betrifft es allerdings durchaus auch solche emotional-motivationalen Perspektiven. Denn auf höchstem Abstraktionsniveau enthält das Konstrukt des integren Argumentierens nicht nur das Zielkriterium der Rationalität, sondern auch der Kooperativität - und damit eine Verbindung von kognitiven und emotionalmotivationalen Anforderungen (vgl. Groeben/ Schreier/ Christmann 1993). Daher lässt sich Argumentation als ein Gesprächstyp rekonstruieren, in dem versucht wird, eine strittige Frage (Voraussetzung) durch partner-/ zuhörerbezogene Auseinandersetzung (Prozess) einer (möglichst rational) begründeten Antwort (Ziel) von (möglichst kooperativer) transsubjektiver Verbreitung (Ziel) zuzuführen (ebd., S. 366). Diese Definition führt die Tradition der deskriptiven sowie normativen Argumentationstheorie (in der Linguistik: vgl. van Eemeren, Grootendorst/ Kruiger 1987; Völzing 1980) zusammen, wobei die (kursiv gesetzten) Ziele der Rationalität und Kooperativität sich auch für die Begriffsvorstellung und den Begriffsgebrauch bei Experten wie Laien als eine zentrale Dimension haben nachweisen lassen (Christmann/ Groeben 1991, 1993). Unter möglichst rationaler Begründung ist dabei zu verstehen, dass die (vorgebrachten) Gründe für eine Position weder kognitiv noch motivational verzerrt sind, so dass sich die Argumentationsteilnehmer/ innen unabhängig von ihrer Ausgangsposition in dem „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Habermas 1984, S. 144) treffen können. Diese (argumentative) Einigung auf eine gemeinsame Position berücksichtigt dann im Optimalfall auch die berechtigten Interessen beider (bzw. aller) Parteien - was mit dem Zielkriterium der Kooperativität gemeint ist und in der Zustimmung aller Beteiligten bzw. Betroffenen zum Ausdruck kommt (Groeben et al. 1993, S. 365f.). Argumentationen gehen also in der Regel von Meinungsverschiedenheiten aus, die durch den Austausch von Begründungen für die unterschiedlichen Positionen, d.h. unter Rückbezug auf die jeweiligen Gegenpositionen der Partner/ innen oder Zuhörer/ innen konstruktiv aufgelöst werden sollen, indem sie - - - - Argumentationsintegrität als Bollwerk gegen Hass-Sprache 123 im Optimalfall in einen Konsens überführt werden. Dabei sollen die Begründungen aus möglichst guten und vernünftigen Gründen (Zielmerkmal der Rationalität) bestehen, die von möglichst vielen Betroffenen auch und gerade unter Rückbezug auf ihre jeweiligen (unterschiedlichen) Interessen akzeptiert werden können (Zielmerkmal der Kooperativität). Die „Rationalität und Kooperativität stellen dabei die Wertungskriterien dar, die Grundlage für eine ethische Beurteilung von Argumentationsbeiträgen bieten.“ (Groeben/ Christmann 2005, S. 160). Aus diesen übergeordneten Zielkriterien lassen sich nun vier Bedingungen integren Argumentierens ableiten, die eine erste Konkretisierung und Spezifizierung dieser Ethik der Kommunikation darstellen (Groeben et al. 1993, S. 366f.; Schreier/ Groeben/ Christmann 1995, S. 267ff.): formale Richtigkeit: Die Teilnehmenden müssen folgerichtig argumentieren und ihre Position inhaltlich begründen; inhaltliche Richtigkeit/ Aufrichtigkeit: Die Teilnehmenden an einer Argumentation müssen aufrichtig sein, d.h. abgekürzt, sie dürfen nur solche Meinungen und Überzeugungen zum Ausdruck bringen, die sie selbst in dieser Form für richtig erachten; inhaltliche Gerechtigkeit: Die vorgebrachten Argumente müssen sachlich und persönlich angemessen, d.h. gerecht sein; prozedurale Gerechtigkeit/ Kommunikativität: Die Durchführung des Verfahrens muss gerecht sein, d.h., die einzelnen Teilnehmenden dürfen weder bei der Entfaltung ihrer Argumente noch bei der Suche nach einer Lösung behindert oder benachteiligt werden. Damit sieht die präskriptive Binnenstruktur des Konzepts Argumentationsintegrität folgenderweise aus: Verallgemeinerbarkeit Rationalität Kooperativität Formale Richtigkeit Inhaltliche Richtigkeit/ Aufrichtigkeit Inhaltliche Gerechtigkeit Prozedurale Gerechtigkeit/ Kommunikativität Abb. 1: Binnenstruktur von ‘Argumentieren’ I) II) III) IV) Norbert Groeben 124 Komplementär ergeben sich daraus auch die zentralen Merkmale unintegren Argumentierens, die darin bestehen, dass eine Person (vgl. Groeben et al. 1993, S. 375f.): nicht folgerichtig argumentiert oder ihre Behauptungen nicht oder unzureichend begründet (fehlerhafte Argumentationsbeiträge); unaufrichtig ist (z.B. die Wahrheit verfälscht), d.h. wider bessere Überzeugung argumentiert (unaufrichtige Argumentationsbeiträge); sachlich und persönlich ungerecht ist, d.h. die Person des Gegenübers herabsetzt (inhaltlich ungerechte Argumente); die gleichberechtigte Teilnahme anderer Personen erschwert oder unmöglich macht (ungerechte Interaktion). Eine weitere Konkretisierung dieser Merkmale war dadurch möglich, dass wir aus der vorhandenen Argumentations- und Rhetorikliteratur die wichtigsten negativen (d.h. sensu Schopenhauer eristischen) Argumentationsstrategien (vgl. Schopenhauer 1989) Experten/ innen wie Laien vorgelegt haben mit der Bitte, sie nach Ähnlichkeit zu gruppieren; diese Gruppierungen wurden dann clusteranalytisch ausgewertet (vgl. Schreier/ Groeben 1990, 1996). Es resultieren elf Standards des integren Argumentierens, für die auch die wichtigsten paradigmatischen Strategien angegeben werden können. Da eine ausreichende präskriptive Rechtfertigung nur für Unterlassensforderungen möglich ist, sind diese Standards als Unterlassensforderungen expliziert und geben damit auch gleichzeitig die zu vermeidenden bzw. zu überwindenden (Strategie-)Aspekte unintegrer Argumentation an. Es handelt sich um folgende elf Standards (vgl. Groeben et al. 1993; Schreier/ Groeben 1996; Groeben/ Christmann 2005, S. 166ff.): Standard 1 ‘Stringenzverletzung’: Unterlasse es, absichtlich in nicht-stringenter Weise zu argumentieren. Standard 2 ‘Begründungsverweigerung’: Unterlasse es, Deine Behauptung absichtlich nicht oder nur unzureichend zu begründen. Standard 3 ‘Wahrheitsvorspiegelung’: Unterlasse es, Behauptungen als objektiv wahr auszugeben, von denen Du weißt, dass sie falsch oder nur subjektiv sind. Standard 4 ‘Verantwortlichkeitsverschiebung’: Unterlasse es, Verantwortlichkeiten absichtlich ungerechtfertigt in Abrede zu stellen, in Anspruch zu nehmen oder auch auf andere (Personen oder Instanzen) zu übertragen. I) II) III) IV) Argumentationsintegrität als Bollwerk gegen Hass-Sprache 125 Standard 5 ‘Konsistenzvorspiegelung’: Unterlasse es, absichtlich oder nur scheinbar in Übereinstimmung mit Deinen sonstigen (Sprech-)Handlungen zu argumentieren. Standard 6 ‘Sinnentstellung’: Unterlasse es, fremde oder eigene Beiträge sowie Sachverhalte absichtlich sinnentstellend wiederzugeben. Standard 7 ‘Unerfüllbarkeit’: Unterlasse es, und sei es auch nur leichtfertig, für solche (Handlungsauf-)Forderungen zu argumentieren, von denen Du weißt, dass sie so nicht befolgt werden können. Standard 8 ‘Diskreditieren’: Unterlasse es, andere Teilnehmer/ innen absichtlich oder leichtfertig zu diskreditieren. Standard 9 ‘Feindlichkeit’: Unterlasse es, Deinen Gegner in der Sache absichtlich als persönlichen Feind zu behandeln. Standard 10 ‘Beteiligungsbehinderung’: Unterlasse es, absichtlich in einer Weise zu interagieren, die das Mitwirken anderer Teilnehmer/ innen an einer Klärung behindert. Standard 11 ‘Abbruch’: Unterlasse es, die Diskussion ungerechtfertigt abzubrechen. Die wichtigsten dazugehörigen (unintegren) Strategien zeigt das vollständige Standard-Strategien-System (vgl. Abb. 2). Die empirische Gültigkeit dieses Standard-Strategien-Systems konnte in mehreren empirischen Untersuchungen nachgewiesen werden, wobei die einzelnen Personen jeweils nur einen Teilbereich der Standard-Strategien als subjektives Wertkonzept abgebildet haben, in der Summe aber das gesamte System als überindividuelles Wertkonzept für den Gesprächstyp der Argumentation gesichert werden konnte (zusammenfassender Überblick in Groeben/ Christmann 2005, S. 178ff.). Die Probleme des Erkennens von wissentlichen Integritätsverletzungen und des darauf aufbauenden Schuldvorwurfs sind für die Kritik und Immunisierung gegen Hass-Sprache nicht relevant, weil es sich hier ja (vor allem) um die überindividuellen Sprachmuster handelt, deren Verwendung auch unabhängig von der bewussten Intentionalität ihrer Verwendung zu kritisieren ist. Norbert Groeben 126 Abb. 2: Standard-Strategien-System Argumentationsintegrität als Bollwerk gegen Hass-Sprache 127 5. Ansatzpunkte einer Inokulation gegen Hass-Sprache Mit den (unintegren) Argumentationsstrategien ist eine Konkretheitsebene erreicht, die die potenzielle Inokulationsfunktion des Wertkonzepts Argumentationsintegrität gegen die Dynamiken von Hass-Sprache unmittelbar deutlich werden lässt. Dabei handelt es sich in der Regel um eine Sequenz oder Kombination von Verstößen gegen die Rationalität und Kooperativität, d.h., dass es sowohl um Strategien der Standards hinsichtlich fehlerhafter und unaufrichtiger Argumentationsbeiträge geht als auch um solche der ungerechten Argumentationsbeiträge und Interaktionen. Der beschriebene Ausgangspunkt der Stereotypen z.B. ist gekennzeichnet durch die Strategie der unzulässigen Verallgemeinerung (Standard 1., Strategie 6.) sowie des ungerechten Übertreibens bzw. Aufbauens von Strohmännern (6.1.). Die negativen Vorurteile als vorschnelle, unzureichend belegte Urteile operieren durchwegs mit der Strategie, die eigene Sicht als gesicherte Tatsache darzustellen (3.2.) - und das eben nicht selten in verschleierter Form, d.h. dadurch, dass Schlechtes über das Gegenüber angedeutet wird (8.9.). Die mit der vorurteilsfundierten Diskriminierung verbundene Selbstauf- und Fremdabwertung stellt auf jeden Fall einen Gefühlsappell (2.7.) dar, wobei das selektive Berichten über problematische Ereignisse im Zusammenhang mit der Fremdgruppe und das anzweifelnde Zitieren von deren Position/ en eine ineinandergreifende Kombination von Strategien der Sinnentstellung ist, nämlich einerseits des Übertreibens und andererseits des Relativierens/ Bagatellisierens (6.1. und 6.2.). Die in Hass-Sprache darauf aufbauende Stufe des Schuldvorwurfs an die Opfer (blaming the victim) enthält, wie bereits erwähnt, auf jeden Fall eine Ursache-Wirkungs-Umkehrung und damit einen Umkehrschluss (1.1.) sowie ein starkes Element von Verantwortlichkeitsverschiebung (Standard 4.), wobei man u.U. für bestimmte Problemkontexte diesen Schuldvorwurf an die Opfer als weitere spezielle (unintegre) Argumentationsstrategie in das Standard-Strategien-System explizit einführen könnte und sollte. Die Verantwortlichkeitsverschiebung bildet, wie beschrieben, sowieso einen Schwerpunkt von Hass-Sprache, und zwar in Form der Strategie der Sündenbocksuche (4.3.), die als eine zentrale Manifestation von simplifizierender Problemstellung und Problemlösung in Bezug auf komplexe gesellschaftliche Probleme anzusehen ist. Insofern mit der Sündenbock-These auch die - unrealistische - Unterstellung verbunden ist, dass - allein - die Sündenböcke für die Lösung aller Probleme zuständig seien, ist damit auch praktisch unvermeidlich die Strategie unerfüllbarer Forderungen (7.2.) verbunden. Es Norbert Groeben 128 dürfte eine lohnende Analyseperspektive darstellen, im Einzelnen herauszuarbeiten, in welchen Argumentationsmustern diese Unerfüllbarkeitsforderung innerhalb von Hass-Sprache zum Ausdruck kommt. Der größere Rahmen der simplifizierenden Problemperspektiven in Form von Legendenbildung und Ideologieeinbettung impliziert dabei auf jeden Fall eine Mehrzahl von irrationalen Argumentationsstrategien: Das betrifft die schon erwähnte unzulässige Verallgemeinerung (1.6.), die aber zumeist auch kombiniert wird mit einer danach-deshalb-Argumentation (1.3.) sowie einer Vermischung von Ursache und Gleichzeitigkeit (1.4.). Die in Ideologien systematisch unzureichende Begründung (Standard 2. ‘Begründungsverweigerung’) manifestiert sich vor allem in dem überzogenen Rückgriff auf Einzelfälle (Präzedenzverweis: 2.2.), im Rückgriff auf den ‘gesunden Menschenverstand’ (2.4.) bzw. in einfachen, allerdings unablässigen Behauptungswiederholungen (2.9.). Eine besondere Rolle spielt auch hier, wie schon bei der vorurteilsfundierten Diskriminierung, die Strategie des Gefühlsappells (2.7.), durch den die fehlenden Begründungen überspielt bzw. ersetzt werden. Und dort, wo - scheinbar - Begründungen angeführt werden, handelt es sich insbesondere und gravierenderweise um rein subjektive Evidenzen und Bewertungen, die unzulässigerweise als gesicherte Tatsachen dargestellt werden (3.2.). Die letzte Stufe von Hass-Sprache, nämlich die dehumanisierenden Sprachinhalte und -muster, betreffen in erster Linie die Standards 8. und 9.: ‘Diskreditieren’ und ‘Feindlichkeit’. Dabei beginnt, wie beschrieben, das Diskreditieren schon frühzeitig in Form der Strategie 8.9.: ‘Schlechtes über das Gegenüber andeuten’. Es steigert sich über die Strategien, das Gegenüber lächerlich zu machen (8.2.) und die moralische Redlichkeit (der Fremdgruppe) anzuzweifeln (8.4.) bis hin zu unberechtigten Vorwürfen (8.6.). Dies sind allerdings alles noch (wenn auch unintegre) Strategien, die von der Personalität des Gegenübers ausgehen und nicht die Radikalität einer Entpersonalisierung und Entmenschlichung der als gegnerisch empfundenen Fremdgruppe implizieren. Das gilt im Prinzip auch ebenso für die Strategien des Standards ‘Feindlichkeit’, bei denen es immer noch um die Kommunikation mit einem Gegenüber geht, nicht um das bloße Reden über Andere (Fremdgruppen). Insofern Argumentationsintegrität eine Ethik der Kommunikation mit Anderen darstellt, kommen Extremformen des negativ-dehumanisierenden Redens über Andere darin gar nicht mehr vor. Dies spricht aus meiner Sicht allerdings nicht gegen, sondern gerade für die postulierte potenzielle Inokulationsfunktion des Wertkonzepts Argumentationsintegrität, weil durch diese Werthaltung bereits die Anfälligkeit für die Anfangsstadien von Hass-Sprache reduziert wird; und Argumentationsintegrität als Bollwerk gegen Hass-Sprache 129 wenn schon die Anfangsstadien nicht übernommen werden, kann die Radikalisierung in Richtung auf dehumanisierende Sprache und die damit verbundene Legitimierung von Gewalt gegenüber Fremdgruppen gar nicht mehr funktionieren. Die potenzielle Inokulationsfunktion von fairem Argumentieren gegenüber Hass-Sprache stellt also eine konstruktive Konkretisierung des Prinzips ‘Wehret den Anfängen’ in diesem Bereich dar, das am ehesten eine Überwindung der Sozialisation zu Hass-Sprache verspricht, da diese Sozialisation eben weitgehend über eine Gewöhnung an immer intensivere, radikalere Formen der Abwertung von Fremdgruppen abläuft (vgl. oben Abschnitt 2.). Unter psychowie soziolinguistischer Perspektive lässt sich also konzeptuell sehr plausibel machen, dass das Wertkonzept der Argumentationsintegrität als konstruktives Gegenmodell gegen Hass-Sprache fungieren kann und damit frühzeitig - sowohl in der individuellen Sozialisation als auch in der gesellschaftlichen Genese von Hass-Sprache - deren Dynamik zu brechen in der Lage ist. Diese potenzielle Inokulationsfunktion lässt sich damit auf der mittleren Abstraktionshöhe der Standards folgenderweise zusammenfassen (vgl. auch Vollhardt et al. 2007, S. 28ff.): Stringenzverletzungen kommen vor allem in ideologischen Stereotypen und Legendenbildungen in Bezug auf abgewertete Fremdgruppen vor, so dass Menschen, die eine entsprechende Sensibilität gegenüber Stringenzverletzungen entwickelt haben, für diese Stereotypen- und Legendenbildung kaum mehr anfällig sein dürften. Das Gleiche gilt für die mit solcher Legendenbildung und ideologischen Vereinfachungen verbundenen Begründungsverweigerungen, bei denen Begründungen weitestgehend ersetzt werden durch Wahrheitsvorspiegelungen (insbesondere der subjektiven Sicht als gesicherte Tatsache) und Verantwortlichkeitsverschiebungen (insbesondere der Suche nach Sündenböcken sowie unerfüllbaren Forderungen). In all diesen Stufen von der Nutzung stereotyper Vorurteile bis hin zur Legendenbildung der Sündenbockthese kommen Sinnentstellungen (des Übertreibens wie Bagatellisierens) vor, verbunden mit Diskreditierungen personaler Art, die den Boden für die noch radikaleren Abwertungen der Dehumanisierung bereiten sollen. Wenn durch eine Sensibilität im Bereich dieser Standards (un-)integren Argumentierens die entsprechenden Merkmale von Hass-Sprache nicht übernommen werden, ist damit zugleich das stärkste Bollwerk gegen die letzte Stufe von Hass-Sprache, nämlich die Dehumanisierung und die Legitimierung von Gewalt, errichtet. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann diese Funktion von Argumentationsintegrität als (inokulierendes) Bollwerk gegen Hass-Sprache selbstverständlich erst einmal nur theoretisch-heuristisch postuliert werden. Die psycho- und Norbert Groeben 130 soziolinguistische Forschung zur Hass-Sprache zeigt aber so viele Merkmale auf einem Konkretheitsniveau auf, wie es auch für die Strategien unintegren Argumentierens gilt, dass sich daraus leicht eine Fülle an empirischen Überprüfungsmöglichkeiten ergibt. Das gilt für die skizzierte Relation einzelner (unintegrer) Argumentations-Strategien zu den elaborierten Merkmalen von Hass-Sprache, desgleichen aber auch für die übergreifende Relation von argumentativen Analyse- und Bewertungskompetenzen und die Anfälligkeit gegenüber Hass-Sprache generell. Hier ist im Forschungsprogramm Argumentationsintegrität mit der Skala für die passive argumentativ-rhetorische Kompetenz (Spark: vgl. Flender/ Christmann 1999; Flender/ Christmann/ Groeben 1999) ein Instrument entwickelt worden, das eine solche generelle Kompetenz zu diagnostizieren erlaubt, von der aus überprüft werden kann, ob dadurch in der Tat eine geringere Anfälligkeit für Hass-Sprache auf allen ihren Intensitätsdimensionen vorliegt oder nicht. Neben diesen querschnittlich-synchronen Inokulationsperspektiven wären auf die Dauer sicher ebenso die längsschnittlich-diachronen Perspektiven in der Sprachsozialisation von Kindern und Jugendlichen zu untersuchen, wobei die Verhinderung von Anfälligkeit gegenüber Hass-Sprache in der frühen Sprach- und Kommunikationssozialisation letztlich der optimale Weg zur Überwindung von Hass- Sprache in unserer Gesellschaft sein könnte. Literatur: Beck, Aaron T./ Pretzer, James (2005): A cognitive perspective on hate and violence. In: Sternberg (Hg.), S. 67-85. Boeckmann, Robert J./ Turpin-Petrosino, Carolyn (2002): Understanding the harm of hate crime. 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Umzingelt von gegensätzlichen Interpretationen und umstrittenen Anforderungen, durch das geltende Recht zu einer Entscheidung gezwungen und durch die Standards des Rechtsstaats zu einer plausiblen Begründung verpflichtet - kurz: vor der Notwendigkeit, das inhaltlich Undefinierbare („gerecht“) praktisch zu definieren und das Unentscheidbare zu entscheiden, haben die Rechtsarbeiter Varianten von „Gerechtigkeit“ entwickelt, die bereichernd und anregend auf die allgemeine Gerechtigkeitsdebatte zurückwirken sollten: Genauigkeit und Nachprüfbarkeit, Methodenehrlichkeit und Gleichbehandlung, Inhalts-, Verfahrens- und Methodengerechtigkeit. Mit dem überlieferten Positivismus ist das nicht zu realisieren; die avancierten Positionen der Strukturierenden Rechtslehre und der Praktischen Semantik, zu deren Pionieren Rainer Wimmer gehört, eröffnen dafür einen besseren Weg. Der entwickelte demokratische Rechtsstaat fordert - nicht nur politisch und ideologisch, sondern normativ - das (durch Repräsentation zumeist nur indirekt) demokratisch erzeugte geltende Recht, also die Normtexte in den Gesetzes- und Verordnungssammlungen, korrekt zu verwirklichen. Was eine Mehrheit der Wahlberechtigten, stets nur auf Zeit, inhaltlich durchsetzen wollte, hat die dadurch geregelten Sektoren der gesellschaftlichen Wirklichkeit dann auch entsprechend zu prägen - soweit verlangt es das nicht zureichende, aber notwendige formale Modell dieses politischen Systems. Dass es nicht zureichen kann, erklärt sich nicht zuletzt durch die beharrliche Forderung aller an den Staat, es müssten zum einen die allgemeinen Regelungen aufs Ganze hin und zum andern die aus ihnen folgenden Entscheidungen im jeweiligen Einzelfall nicht nur korrekt, sondern auch noch gerecht ausfallen. Dabei geht es in der uralten philosophischen, in der ethischen Debatte um Gerechtigkeit herkömmlich um weitläufige Prinzipien, kaum je um kleinteilige Einzelheiten und schon gar nicht um Erwägungen zur Arbeitsmethodik der beteiligten Juristen. Doch stehen, der Sache nach, solche Fragen im Zentrum des Problems - wenn wir denn „die“ Gerechtigkeit als ein solches begreifen wollen und nicht weiterhin als einen beruhigenden Vorrat endgültiger Argumente, als Kostümkammer für das rechtliche Welttheater. Friedrich Müller 134 I. * Gerechtigkeit hat keine einfache Struktur, bietet keinen vorgegebenen Inhalt, ist nicht eine naturhafte Wesenheit. Sie tritt als von Menschen erdachtes, von Menschen getanes Werk auf, unvermeidbar in einem Zusammenhang mit Gesellschaft und Konflikt. Sie kann gar nicht anders, als komplex und mehrdeutig, als bestreitbar und umstritten zu sein. Darum ist „Gerechtigkeit“ noch kein von Theorie, Ideologie, Demagogie leicht zu vereinnahmendes Schlagwort. Sie ist ein tief begründetes Lebensbedürfnis der Menschen. So groß ist dieses - wenigstens nach ihr, da Besseres, da Glück in nennenswertem Umfang 1 nicht zu haben ist -, dass es ohne Umschweife als Sehnsucht und dass die Institution der Gerichtsbarkeit als „Gerechtigkeit (Justiz)“ bezeichnet zu werden pflegt. Aber auch als Lebensbedingung ist Gerechtigkeit nicht einheitlich benennbar, denn sie wird von allen gebraucht, und auf viele Arten. Gerechtigkeit ist nicht erst als der Sprachtext Menschenwerk, der sie zu formulieren versucht, sondern bereits, grundlegend für all ihre sprachlichen Formeln, als Bedürfnis erzeugt durch die Umstände materiellen sozialen Lebens. Empfindlich für (Un-)Gerechtigkeit in einer bestimmten Frage macht weniger ein Text oder das Denken über ihn. Selbst betroffen zu sein macht empfindlich. Auch ehrliche Personen können sich als Parteien in einem Rechtsstreit kaum je darüber einigen, welches Urteil in ihrer Sache denn gerecht sei; ein Vergleich hat so gut wie immer für beide Seiten den Nachgeschmack des Ungerechten. Und der zur Entscheidung berufene Jurist urteilt nicht deshalb, weil er der Zerrissenheit des Gerechten entrückt wäre, weil er über ihr stünde. Er urteilt, weil das seine Berufspflicht ist, seine (auch für ihn) verbindliche Rolle. Im Übrigen würde Gerechtigkeit als absolutes Datum, als inhaltlicher Fixstern in dieser und jener Kontroverse, da sie aus Menschenmund kommt, den selbstgewissen Besitz einer Heilswahrheit oder den eines idealistischen Systems wahrer Aussagen voraussetzen, also von Texten; und zudem von Texten, die ihrerseits aus Menschenmund stammen. Die Gerechtigkeit des Schamanen, des Medizinmanns, des Clanherrschers, der Stammesmutter kann aus dem Vollen schöpfen; hoffen wir, dass es aus dem Vollen ihrer einfühlsamen Humanität sei. Was dagegen im hoch differenzierten Rechtssystem den Namen des Gerechten verdienen will, braucht Präzision. * Die Abschnitte I. bis IV. sind bereits in Müller (1990, S. 38ff.) erschienen; hier in bearbeiteter Form. 1 Goethe, Faust I: "hie und da“. Methodologische Aspekte der Gerechtigkeit 135 II. Den Ausdruck „Gerechtigkeit“ zu beanspruchen, verlangt zunächst, inhaltlich genau zu sein. Was mit ihm gemeint ist, welches Entscheiden, welcher Zustand diesen Namen verdient, ist meist umstritten, weil es von Schichtbindung, Sozialisation, allgemeinen Interessen, konkreten Zielen abhängt. Die Genauigkeit, die rechtsstaatliche Juristen hier zunächst einmal beitragen können, liegt im Unterscheiden zwischen schon geregelten und vorläufig erst angestrebten Inhalten, von Recht und Rechtspolitik. Der Formalitätsvorsprung, der Geltungsvorteil positiv vertexteten Rechts in Gestalt von Gesetzeswortlauten, ist für Juristen im demokratischen Rechtsstaat so strikt zu beachten, wie es arbeitstechnisch nur möglich ist. Die mit verbindlichen Normen angestrebten Wirkungen nähern sich um so mehr einer Inhaltsgerechtigkeit, als sie sachlich und zeitlich, verglichen mit anderen Betroffenen, der Forderung nach Gleichheit genügen. Das Verfassungsrecht des Grundgesetzes bietet nicht wenige Gleichheitsnormen; sein Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1) wird jedoch von der Praxis - nicht immer, aber vielfach - zur kleinen Münze eines, wenn überhaupt, dann negativ greifenden Willkürverbots geschlagen. Allerdings drückt sich darin nicht nur das bekannte Ziel höchstrichterlichen Handelns aus, Bestehendes beizubehalten. Eine allgemeine Überprüfung aller exekutivischen und judiziellen Staatsakte durch das oberste Verfassungsgericht am Maßstab inhaltlicher Gleichheit würde die staatlichen Gewaltfunktionen auch so sehr umverteilen, dass es mit der Konzeption des Grundgesetzes nicht mehr vereinbar wäre. Das deutet schon darauf hin, dass Gerechtigkeit neben der inhaltlichen noch eine organisatorische Seite hat. Auf anderer Ebene liegt ein seit jeher vertrauter Fehler herkömmlicher Rechtspraxis. Sie hat einen erstaunlich verengten Begriff von „gerecht“ im Sinn von Einzelfallgerechtigkeit. Ungesagt wird dabei vorausgesetzt, nur eine materiellrechtliche, nicht auch eine prozessuale Entscheidung sei fähig, gerecht genannt zu werden. Dieses Missverständnis speist eine nicht abreißende Serie von Legitimationen „richterrechtlicher“ Gesetzwidrigkeit. Diese eingewurzelte Ansicht verkennt, dass Kompetenz- und Verfahrensrecht mit materiellem Recht gleichrangig ist und dass Verfassungsvorschriften über die Bindung richterlicher Tätigkeit gegenüber den materiellen Zivil-, Straf- oder Verwaltungsgesetzen sogar vorrangig sind. Sie verfehlt den Kampfcharakter des Rechtsstreits, bei dem es für den Verlierer im richterrechtlichen Schöpfungsakt gesteigert um Einzelfallungerechtigkeit geht. Die üblich gewordene Praxis Friedrich Müller 136 verdrängt auch die Kampffunktion materieller Normen im Allgemeinen. Das geltende Recht verkörpert nicht „die“ Gerechtigkeit, sondern nur zeitweilige, unter heutigen Bedingungen sogar rascher Änderung verdächtige Kompromisse. Im schlechteren Fall, bei entsprechender politischer Lage, liefert es vorläufige Diktate im Streit von Macht- und Interessengruppen. Vom einzelnen Rechtsstreit her gesehen, dem sie ihre Entstehung verdanken, sind richterrechtliche Sprüche meist für die eine Seite in dem Maß ungerecht, in dem sie für die andere „gerecht“ genannt werden. Diese - bei verbindlichen Entscheidungen im Grundsatz unvermeidbare - strukturelle Ungleichheit ist hier aber nicht eine gesetzlich geformte und damit immerhin politisch zu verantwortende, sondern eine im Einzelfall autoritär erfundene. Diese besondere Ungleichheit trägt noch zu einer zusätzlichen, einer prozeduralen Variante von Ungerechtigkeit bei. III. Denn Gerechtigkeit hat im ausdifferenzierten Verfassungsstaat auch organisatorische Voraussetzungen. Die einen Funktionsträger verabschieden Normtexte, die anderen entwickeln im Ausgang von diesen Rechts- und Entscheidungsnormen für den vorliegenden Fall; wieder andere sorgen dafür, dass deren Ergebnisse durch Vollstreckung verwirklicht werden. Zwischen den Stationen des umkämpften Ausarbeitens und Setzens, erneuter Diskussion und einer möglichen Änderung von Normtexten spielt sich eine Art von rechtspolitischem Kreislauf ab. Wissenschaftstexte dienen der Vorbereitung, Formulierung, Kritik und Kontrolle, sei es von Normtexten der Legislative, sei es von Entscheidungs- und Begründungstexten der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt. Debatten und Kämpfe über das inhaltlich Gerechte sind erfahrungsgemäß unabschließbar. Gerechtigkeit kann durch materielles wie durch Verfahrensrecht angestrebt werden; dasselbe gilt für alles Bemühen um gerechtes Handeln in den verschiedenen Abschnitten der Erzeugung und Vollstreckung von Recht, zu denen auch die arbeitsteilige Differenzierung und gegenseitige Abgrenzung der Funktionen öffentlicher Gewalt gehört. Diese gleichzeitig zu wahrende, vor normwidriger Ungleichheit zu bewahrende Verfahrensgerechtigkeit ist der Inhaltsgerechtigkeit normativ gleichrangig. Die Bedürfnisse nach Gewissheit und Sicherheit von Recht, nach Klarheit der Voraussetzungen und Verfahren verbindlicher Entscheidung, nach genauer Behandlung und redlicher Begründung sind in der Prozedur nicht weniger wichtig für das, was „gerecht“ zu nennen ist, als Gleichheit und Gleichmäßig- Methodologische Aspekte der Gerechtigkeit 137 keit beim Erarbeiten der Entscheidungsinhalte. Diese Bedürfnisse sind allgemein. Besonderer Bedarf nach Gerechtigkeit ergibt sich zusätzlich aus den Lagen, Problemen und Interessen einzelner Gruppen. Die besonderen Bedürfnisse werden angemeldet, zurückgewiesen oder durchgesetzt in den formalen Verfahren, die den Normenbestand „Demokratie“ bilden, und inhaltlich im Rahmen der Grundrechte und der sozialstaatlichen Zielvorstellungen und Einzelnormen. Die Bedürfnisse nach Klarheit und Verlässlichkeit des Rechts hat dagegen der Komplex „Rechtsstaat“ abzudecken. All das ist gleichzeitig geltende Norm, gleichrangige Verfassungsstruktur, im Rahmen desselben Legalitäts- und Legitimitätsmodells verbindliche Bedingung für die erwünschten gerechten Ergebnisse staatlichen Handelns. Mit einer solchen Verfassungsordnung ist es unvereinbar, einzelne Seiten des Bedürfnisses nach Gerechtigkeit - etwa informelle gegen normativ ausgeformte oder inhaltliche gegen verfahrensrechtliche - sowie die Normen und Einrichtungen, die auf sie antworten sollen, gegeneinander auszuspielen. Gerechtigkeit kann im hochgradig differenzierten modernen Verfassungsstaat nur arbeitsteilig angestrebt werden. Herrschende Lehre und Praxis rechtfertigen „Richterrecht“ mit mannigfachen „über-“ (also: nicht-)positiven Hilfskonstruktionen. Diese sich in Deutschland seit mehr als hundert Jahren immer wieder selbst Mut machende Doktrin beruft sich auf so eindrucksvolle Dinge wie die „Rechtsidee“, auf „leitende überpositive Prinzipien“, die "Einheit der Rechtsordnung“, eine „Natur der Sache“, „Normen des Sittengesetzes“ - und eben bei all dem auf „die“ Gerechtigkeit. Die aufgeworfenen Fragen werden von der Doktrin im Wesentlichen beantwortet; leider werden aber die wesentlichen Fragen nicht aufgeworfen. Sie betreffen zunächst einmal das, was hier Verfahrensgerechtigkeit genannt ist. Durch das Setzen und durch die Annahme von „Richterrecht“ wird eine materiell ungleiche Entscheidung unter Verstoß gegen geltende Normtexte akzeptiert, welche die Zuständigkeiten und deren Grenzen sowie die Bindungen des rechtsprechenden Teils der Staatsgewalt begründen. „Die“ Gerechtigkeit im Rein- und Rohzustand, die Recht„idee“ en bloc werden einer Rechtsordnung aufgenötigt, die nach der inneren Logik ihrer historischen und normativen Entwicklung längst anderen Mustern folgt. Fiat iustitia, pereat ius! IV. Gerechtigkeit kennt noch eine weitere Bedingung für ihre Präzision, und zwar eine der Arbeitsweise. Diese Frage geht dahin, ob das am positiven Recht legitimierte, das heißt Normtexten rational zuzurechnende Ergebnis nicht nur als Friedrich Müller 138 inhaltlich vertretbar erscheint, sondern ob es auch korrekt, offen und nachprüfbar, in generalisierbaren Einzelschritten nach den Grundsätzen einer gleichheitlichen Methodik erzielt wurde. 2 Auch bei dieser Variante von Gerechtigkeit steht der Gleichheitssatz im Zentrum, hier in methodologischer Form, als Methodengerechtigkeit. Nur wenn auch diese verwirklicht ist, kann ein juristisches Ergebnis im demokratischen Rechtsstaat als ganz rechtmäßig bezeichnet werden. Dann wurde nicht nur auf irgendeine, im schlimmsten Fall auf beliebige Art ein Ausspruch erzielt, der „rechtfertigungsfähig“ ist, der also auch auf dem Weg einer anderen - und zwar einer korrekten - Begründung und durch andere Stellen hätte gefunden werden können. Das ganz rechtmäßige Ergebnis ist schon durch seine eigene Begründung und durch die vorliegend mit ihm befasste Instanz „gerechtfertigt“. 3 Der Rechtsstaat verlangt durch zahlreiche gesetzliche Vorschriften von den zur Lösung von Rechtsfällen berufenen Juristen, die von ihnen erarbeitete Entscheidung in einem Text zu begründen. Das bedeutet nicht die Pflicht zu irgendeiner, sondern die zur ehrlichen Darlegung, welche die Bestimmungs„gründe“ des tatsächlichen Entscheidungsvorgangs im Wesentlichen wiedergibt. Sind sowohl das Finden als auch das Darstellen der Lösung jeweils in sich schlüssig gearbeitet, dann könnten sie sich genauso gut decken. Im Einzelnen sind die Anforderungen verschieden, so sind sie etwa anders für gerichtliche Urteile als für wissenschaftliche Gutachten. Es kommt aber durchweg darauf an, das Finden der Entscheidung, also die wirklichen Gründe, nicht im Gegensatz zu ihrer nach außen wirkenden Darstellung, zu den dann nur vorgeschobenen Gründen, geraten zu lassen. Sonst ermöglicht die Begründung nicht mehr Kontrolle und Überprüfung durch andere, sondern verhindert, sabotiert sie. Die für Rechtsstaat und Demokratie unverzichtbare Wirkung der Begründungspflicht ist dann durch apokryphe Praxis in ihr Gegenteil verkehrt. Nach verbreiteter Übung wird, gegen Norm und Geist des demokratischen Rechtsstaats in Fragen der Arbeitsmethodik, eine inhaltlich vom jeweils Urteilenden als „gerecht“ gewertete Entscheidung nicht beanstandet, die mit methodologischen "Sonder“mitteln, also auf nicht generalisierbarem Weg, erzielt wird. Es mag sich dabei um einen Widerspruch zu ständigen Grundsätzen der eigenen Judikatur aus Gründen der Opportunität im Einzelfall oder um ähnliche Konstellationen handeln. Es wird dann mit dogmatischen Unterscheidungen gearbeitet, mit begrifflichen Instrumenten oder mit einer Prozedur, an die sich das betreffende Entscheidungsgremium in sonstigen Fällen desselben 2 Dazu im Einzelnen Müller (1976), mit dem Vorschlag, das Grundgesetz im Sinn eines "Grundrechts auf Methodengleichheit“ zu konkretisieren. 3 Dieser Zusammenhang wird diskutiert bei Müller (1977, S. 271ff.). Methodologische Aspekte der Gerechtigkeit 139 Typs - aber etwa zu einem anderen Zeitpunkt oder mit anderen Verfahrensbeteiligten - nicht gerne erinnern lassen möchte. Solch überflüssige, weil nicht aus Schwierigkeiten der Sache, sondern aus Mangel an Methodenehrlichkeit kommende Kadijustiz wird oft vorbeugend dadurch möglich gemacht, dass sich vor allem die höchstrichterliche Praxis in Methodenfragen nicht deutlich festlegt, um sich für künftige "Sonder“fälle nicht selbst die Hände zu binden. Ungleichheit - und in diesem Zusammenhang Ungerechtigkeit - wird so von einer politisch nicht zur Verantwortung zu ziehenden, hinter verschlossenen Türen beratenden richterlichen Instanz gesetzt und durchgesetzt. 4 V. Das Gesagte betrifft typische Arbeitsmethoden und die an sie gerichteten rechtsstaatlich-demokratischen Anforderungen. Es sollte nicht individualistisch und psychologisierend missverstanden werden. Bei im engeren Sinn befangenen Richtern oder Verwaltungsbeamten gibt es Möglichkeiten für die Beteiligten, sie abzulehnen. Aber auch wo eine Befangenheit unerkennbar ist und daher nicht sanktioniert wird, muss sie das Ergebnis nicht notwendig ungleich und ungerecht machen. Das Resultat eines juristischen Entscheidungsvorgangs ist nicht schon dann und deswegen Unrecht, weil es von einem Rechtsfunktionär gesetzt wurde, der an ihm interessiert ist. Der interesselose Rechtsarbeiter ist auch der uninteressierte, da eine „Rechtsordnung an sich“ eine Chimäre und der bloß technische Rechtsexperte gesetzespositivistischer Fasson eine bequeme Selbst- und wirkungsvolle Fremdtäuschung ist. Mit anderen Worten ist ein Vorurteil auch etwas, das vor ein Urteil gehört, und ein Vorverständnis ist eine Sache, die mit Verstehen zu tun hat; wenn auch, im Normalfall, eine Sache verstehen eines, Sachverstand „haben“ ein anderes ist. Unrecht ist, als Prädikat einer Rechtskonkretisierung, ein Ergebnis nur dann, wenn es mit verallgemeinerungsfähigen und nachvollziehbaren, mit handwerklich schlüssigen, rechtsstaatlich korrekten Methoden durch andere nicht erzielt werden kann, wenn es in diesem Sinn also der positiven Rechtfertigung nicht fähig ist. Es ist eine der Aufgaben der Strukturierenden Methodik, 5 ein so dichtes und folgerichtiges Netz von Arbeitselementen unter der Herrschaft rechtsstaatlicher Anforderungen auszuarbeiten, dass auch im Fall persönlicher Befangenheit, ideologischer Vorurteile oder sonstiger Störungsquellen für eine unpar- 4 Der vielleicht nicht tägliche, wohl aber alltägliche Horror solcher Praktiken ist beispielsweise schon von Lautmann (1972) protokolliert worden. 5 Müller/ Christensen (2004). Friedrich Müller 140 teiische Entscheidung das Ergebnis der Rechtsarbeit dennoch die Chance hat, methodologisch, prozedural und inhaltlich korrekt, nach Maßgabe der Leistungsfähigkeit einer positiven Rechtsordnung gleichheitlich und gerecht zu sein. Es wäre ein widersinniger Missbrauch, einzelne Elemente aus dem strukturierenden Modell zu isolieren, um sie von Fall zu Fall für autoritäre, Nachprüfung abschneidende Schlüsse und die Adressaten irreführende Begründungen zu verwenden. Über das Ausmaß des Mangels an Methodenehrlichkeit in der üblichen Praxis sind Illusionen nicht angebracht. Der Vorschlag der Strukturierenden Methodik, redlich zu arbeiten, ist trotzdem etwas anderes als der Appell eines reinen Toren. Er ist nicht Selbstzweck. Seine Erfüllung macht eine rechtswissenschaftlich sinnvolle Kontrolle durch andere Instanzen möglich; darüber hinaus auch eine politische Kontrolle im Rahmen nicht propagandistischer, sondern versachlichter Kontroversen der Rechtspolitik; nicht zuletzt die Überprüfung der Frage, ob und wie weit sich die Anordnungen des demokratischen Gesetzgebers in der praktischen Politik wiederfinden. Firmenwahrheit und Firmenklarheit des politischen Systems im Allgemeinen, die des Verfassungsrechts im Besonderen, bleiben Objekt und Produkt von Sonntagsreden, solange nicht die Juristen in ihrer alltäglichen Arbeit den methodischen Standards gerecht werden. Eine Methodenlehre ist nicht normativ. Was sie tun kann, ist, ihre Vorschläge der Kritik, Diskussion und Kontrolle durch andere anzubieten. Ein Maßstab für diese Debatte ist die Verallgemeinerungsfähigkeit des Rahmenmodells und seiner methodologischen Einzelheiten. Im Hinblick auf den Rechtsarbeiter muss es sich, unabhängig vom Tun des Individuums, um von jeder fachlich gleich gut trainierten Person anwendbare Operationen handeln; mit Blick auf die anstehenden Rechtsfälle um Begriffe, Verfahren, Denkschritte, die über den Fall hinaus gleichheitlich verwendbar sind. Die methodischen Mittel müssen - im Gegensatz zu einer noch verbreiteten Praxis der Justiz - geeignet sein, der entscheidenden Instanz für künftige Fälle dieser Art die Hände zu binden. Die Funktion einer Berufung auf juristische Methodik ist nämlich: die Lösung des Falls nach geltendem Recht zwar nicht nach Art einer Ontologie „herauszufinden“; wohl aber eine Entscheidungsnorm zu erarbeiten, deren Zurechenbarkeit an einen legislativ gesetzten Normtext mit den soeben gebrauchten generalisierbaren Regeln überprüfbar ist. Denn die zweite Funktion der Methodik besteht darin, mit denselben Argumentationsschritten das Setzen gerade dieser Entscheidungsnorm darstellend zu begründen. Dagegen neigt die Rechtspraxis dazu, ihre Operationen eher für diese zweite Funktion Methodologische Aspekte der Gerechtigkeit 141 einzusetzen, als nachträglich rechtfertigendes Absichern einer jedenfalls nicht im ersten Sinn „methodisch“ erzielten Falllösung. Daher ist es eines der Vorhaben der Strukturierenden Methodik, typische Quellen herkömmlicher methodischer Beliebigkeit möglichst auszutrocknen. Wer so arbeitet, wie sie vorschlägt, wird - auch wenn er sich auf sekundäre Rechtfertigung zu beschränken versucht - seine wie auch immer gesetzte Entscheidungsnorm unter den relativ strikteren, systematischeren Zurechnungsbedingungen dieses Modells darzustellen haben. Gelingt ihm das, so hätte er die Entscheidungsnorm ebenso gut bereits im primären Vorgang mit denselben methodischen Mitteln entwickeln können. Dann würden sich die Abläufe decken, in denen die Entscheidungsnorm erstellt und danach gegenüber den Beteiligten, anderen Instanzen und auch der Öffentlichkeit bekannt gegeben und begründet wird. Mehr an Nötigung zur Ehrlichkeit wird eine nicht-normative juristische Methodik nicht erhoffen können, soweit ihre Vorschläge aufgegriffen werden. 6 Die Strukturierende Methodik wie die sie begründenden und begleitenden Arbeiten sind rechtspolitisch nicht neutral geblieben. Sie stellen sich gegen das die Verantwortung des Juristen verdrängende technokratische Axiom vom logisch subsumierenden Rechtsexperten, vom gesetzgeberische (also politische) Entscheidungen durch Syllogismus unpolitisch nachvollziehenden juristischen Fachmann. Wer auch immer sich im Dienst eines autoritären, irrationalen, nicht rechtsstaatlich-demokratischen „Erkenntnis-“ (deutlicher: Herrschafts-)interesses auf diese Arbeiten berufen wollte, täte das missbräuchlich. Das genannte Axiom prägt den Gesetzespositivismus, und auch in diesem politischen Sinn ist die strukturierende Position in Theorie, Dogmatik und Methodik nachpositivistisch. Der Positivismus kann, neben anderem, als der zur Doktrin stilisierte Abstumpfungsreflex der Juristen vor dem Maß an sachlicher, menschlicher und sozialer Verantwortung verstanden werden, dem sie bei ihrer täglichen Entscheidungsarbeit ausgesetzt sind. Das ist schon Analyse, nicht mehr Darstellung. Auch der Positivismus kann nicht einfach linear begriffen werden, auch er ist nicht monochrom. Gegen den Strich gebürstet, hat er wichtige Lehren zu bieten. Ob der historische Gesetzespositivismus seine proklamierten Ziele nun erreicht hat (er hat sie nicht 6 So sieht das auch die kritische Auseinandersetzung mit diesem Konzept. Beispielsweise widmet sie ihm „um so mehr Aufmerksamkeit, als in der Methodendiskussion oft gerade die Beliebigkeit des methodologischen Arrangements mit Unbehagen vermerkt wird“ (Dubischar 1973, S. 285); oder z.B. auch Schlink (1976, S. 100) der die Maßstäblichkeit dieser Vorschläge gegenüber einer Rechtswissenschaft betont, „die methodisch eher traditionell und großzügig verfährt und dafür bei der Hermeneutik die Bestätigung und Rechtfertigung sucht“. Friedrich Müller 142 erreicht), ob er dazu überhaupt fähig war oder nicht - aus seinen Postulaten ist eine Haltung zu destillieren, die es mit geeigneten Methoden beizubehalten gilt. Damit das Tragfähige an ihm fortgeführt werden kann, muss er gegen die Logik seiner Grundlagen und seiner zu kurz greifenden Mittel umgewendet werden. Rechtsarbeit ist nicht bloß fachliches Tun von Experten und daher politisch neutral. Zugleich aber ist das Richtige am Positivismus in eine Anforderung an die Juristen umzuformulieren; sind durch rationale Regelhaftigkeit der Arbeitsschritte die Entscheidungsvorgänge für judizielle, wissenschaftliche und politische Selbst- und Fremdkontrolle so weit wie möglich zu öffnen. Alle einschlägigen Normtexthypothesen müssen einbezogen, alle in Frage kommenden Denkoperationen systematisch und vollständig durchgespielt, dargestellt werden. Solcher Positivismus hat keine arbeitstechnisch verschleiernde Wirkung; ob er eine politisch und sozial verhärtende oder befreiende hat, hängt dann nicht mehr von der Arbeitsweise ab, sondern von der Tendenz der betreffenden Normtexte. Deren inhaltliche Qualität kann wissenschaftspraktische Arbeitsmethodik nicht direkt beeinflussen; aber sie kann klarstellen, was es mit diesen Inhalten und den Folgen ihrer (ehrlichen, methodisch selbstkritischen, generalisierbaren) Umsetzung auf soziale Konflikte auf sich hat. Angesichts der hartnäckigen Funktionsinteressen von Herrschaft sollte Positivismus in diesem Sinn immer und wird er zugleich wenig gefragt sein. Ob nun diese Arbeitshaltung noch „Positivismus“ genannt werden sollte oder nicht, wir brauchen sie jedenfalls. Die Rechtswissenschaft wird methodisch rational und redlich, oder sie wird nicht sein. Es wird sie immer noch geben; aber nicht als Wissenschaft, sondern in ihrem dogmatischen Teil als sammelnde, sichtende, Herrschaft entschuldigende, Einwände beschwichtigende Rechtskunde; auf ihrem rechtspolitischen Feld als Wochenendjournalismus mit Fußnoten, als die Publizistik des Meinens und die Jurisprudenz der Interessenten. Die Chance, Rechtswissenschaft zu sein, hat das, was durch die Federstriche der Gesetzgeber nicht zu Makulatur wird. IV. Rechtsgeschichte wie heutige Rechtswelt lehren, dass sich Menschen mit Herrschaftszuständigkeit und Entscheidungsmacht, Juristen etwa, durch geltende Normen, auf die sie zugleich sich berufen, im Verfolgen ihrer eigenen Zwecke so wenig wie möglich behindern lassen. Der rechtshistorische Teil dieses Anschauungsunterrichts macht klar, dass es nicht nur um Verformungen im Verhalten bürgerlicher Charaktermasken geht, sondern um eine für die Methodologische Aspekte der Gerechtigkeit 143 bisherige Geschichte der Rechtspraxis und ihre absehbare Zukunft allgegenwärtige Deformation. Dieser Webfehler praktischer Jurisprudenz bedeutet, dass der Jurist für sich (und seine Auftraggeber) die geltende Norm als instrumentell und - gestützt durch seine Fertigkeit im Umgang mit rechtlichem Herrschaftswissen - als zweckdienlich biegbar behandelt und das, während er von den anderen verlangt, dieselben Vorschriften als verbindliche Autorität anzunehmen. Im „Recht des Stärkeren“ wird der Stärkere wenigstens als solcher kenntlich. Herrschaft durch Recht, über Normen vermittelte Gewalt, beansprucht dagegen, nicht als Herrschaft, als Gewalt erkannt, sondern als Norm anerkannt zu sein; somit auch vor den Unterworfenen als richtig ausgewiesen werden zu können.Vor den Unterworfenen; nicht vor den Unterwerfenden und nicht, beobachtet man für sie typische Praktiken, vor ihren Vermittlern, den Juristen. All das ist nicht neu; vielleicht wäre es erträglich, soweit die Gleichheit aller vor dem positiven Recht nicht nur Text dieses positiven Rechts wäre, sondern Gleichheit, das heißt verwirklichte. Nun ist es aber anders. Verfassungsgebote von Gleichheit, auch Forderungen wie die nach der Ehrlichkeit rechtsstaatlicher Methode, können ihrerseits ebenso zweideutig gebraucht werden wie die Rechtsordnung, auf die sie sich beziehen: herrschsüchtig strikt in fremder, unverbindlich in eigener (und in Auftraggebers) Sache. Die solche Praxis mittragen, mögen unter ihresgleichen das Augurenlächeln tauschen. VII. Dass wir weder substanzielle Bedeutungen verwendeter Ausdrücke noch die Wahrheit des geltenden Rechts für den Streitfall beobachten und aussprechen können, ist im Verlauf langjähriger Analysen der Praxis einer realistischen (weil induktiv ansetzenden) Rechts- und Verfassungstheorie, juristischen Methodik und Dogmatik im Rahmen der Strukturierenden Rechtslehre erkennbar geworden. Noch näher liegt diese Einsicht einer wirklich auf der Höhe der Zeit befindlichen Pragmalinguistik in Gestalt der Praktischen Semantik, zu deren Pionieren seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre nicht zuletzt auch Rainer Wimmer zählt. Jedenfalls die Jurisprudenz wird in solcher Konstellation - nolens volens - zur politischen Sache. Recht ist eine - durchaus sehr besondere - Form von Politik; einer Politik, die sich nicht über Demokratie und Recht stellt (wie beim mörderischen Begriff des Politischen im Dezisionismus), sondern neben sie. Sie zielt nicht im Realen das Totschlagen des Feindes an, auch nicht im Symbolischen sein Totschweigen und Mundtotmachen. Ihr geht es stattdessen um das Überzeugen des Gegners; und immer Friedrich Müller 144 dort, wo sich das (noch) nicht als möglich erweist, jedenfalls um sein Ruhigstellen: inhaltlich durch Kompromiss bei und trotz fortbestehender Differenz, rechtlich durch Vergleich, politisch durch Mehrheitsentscheidung. Also mit Mitteln, die friedlich bleiben, die aber jeweils nur auf Zeit wirken. Dieses Entscheiden des Unentscheidbaren macht das Politische aus - Jacques Derrida hat uns davon so unvergesslich wie immer gesprochen. Die Juristen haben es mit der Pflicht, Unentscheidbares entscheiden zu müssen, noch mehr als andere zu tun. Also ist „die“ Gerechtigkeit weder Schatztruhe noch Kriegskasse, in die bei Bedarf immer noch wird gegriffen werden können, sei es um zum finalen Schlag auszuholen, sei es zum endgültigen Argument, nach dem weiteres Argumentieren nicht mehr sinnvoll sein könnte. Gerechtigkeit ist nichts vorab definierbar Gegebenes. Sie ist kein Vorrat von etwas, sondern ein Problem - das Problem, das sich in alle praktische Rechtsarbeit, die zu entscheiden hat, störend einmischt. Sie ist die Unruh im Uhrwerk, die durch ihr Unruhig-Bleiben das Ganze in Gang hält - das Ganze des Rechtsbetriebs, dessen Räderwerk von allen, die in es hineingeraten, als sehr bedrohlich erlebt werden kann. So insistiert Gerechtigkeit als nicht still zu stellende Frage, Anfrage, Anforderung. Sie bleibt das cor inquietum, das unruhige Herz des Rechts. 8. Literatur Dubischar, Roland (1973): Rezension von: F. Müller, Juristische Methodik, Berlin 1971. In: Die Öffentliche Verwaltung 1973, S. 285. Lautmann, Rüdiger (1972): Justiz - die stille Gewalt. Frankfurt a.M. Müller, Friedrich (1976): Juristische Methodik und Politisches System. Berlin. Müller, Friedrich (1977): Rechtsstaatliche Methodik und politische Rechtstheorie. In: Müller, Friedrich: Rechtsstaatliche Form - Demokratische Politik. Beiträge zu öffentlichem Recht, Methodik, Rechts- und Staatstheorie. Berlin. Müller, Friedrich (1990): Gerechtigkeit und Genauigkeit. In: Müller, Friedrich: Essais zur Theorie von Recht und Verfassung. Berlin, S. 38ff. Müller, Friedrich/ Christensen, Ralph (2004): Juristische Methodik. 1. Grundlagen öffentliches Recht. 9. neu bearb. u. stark erw. Aufl. Berlin. Schlink, Bernhard (1976): Juristische Methodik zwischen Verfassungstheorie und Wissenschaftstheorie. In: Rechtstheorie 7, S. 94ff. Walter Grasnick Die Sprache der Konstruktivisten Oder: So reden wir alle Konstruktivisten wissen: Wir können nicht nicht konstruieren. Unser Sprechen beweist es. Tagtäglich. Auch davon handelt mein Essay, wie bereits sein Titel verrät. I. Rainer Wimmer, der Trierer Sprachwissenschaftler, Germanist und Linguist, gehört zu den Gründungsvätern - Mütter, Töchter und Söhne kamen später hinzu - der so genannten „Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik“. Die seit Jahren regelmäßig in Mannheim tagt. So startet auch dieser Beitrag zu seinen Ehren mit einer satten Paradoxie. Sie wird nicht die einzige bleiben. Bilden doch Paradoxien den Jungbrunnen, ja das Lebenselixier der Juristen. 1 Dass auch sie überhaupt nur entscheiden können, was per se unentscheidbar ist, darf man getrost als ihre Grundparadoxie betrachten. 2 Die heikelste von allen. Haben sie doch damit, wie Paradoxiegegner gern monieren, ihre Sache auf Sand gebaut. Ein Vorwurf indessen, der unfreiwillig anerkennt, dass in der Tat wir, die Juristen, es sind, die ihre „Sache“, die selbstredend keine ist, selbst bauen: das Recht als Produkt eigener Herstellung. Und die Rede vom ‘Sand’ ist auch gar nicht so abwegig. ‘Flugsand’ wäre noch besser. Denn diese Metapher charakterisiert treffend die „Dynamik der laufenden Rechtserzeugung von Fall zu Fall“. So Thomas Vesting. Wobei er nicht vergisst anzumerken, So Thomas Vesting. Wobei er nicht vergisst anzumerken, Wobei er nicht vergisst anzumerken, dass bereits Kelsen „diese dynamische Seite des Rechts von aller ‘Rechtsstatik’ abgesondert [hat]“ (Vesting 2007, Vesting 2007, RN 112). Und damit ineins, wie un- Und damit ineins, wie unschwer zu ergänzen ist, die alteuropäische Ontologie. Aus systemtheoretischer Sicht kommt man zum selben Ergebnis. Denn der „Effekt dieser Intervention von Systemtheorie kann als De-Ontologisierung der Realität beschrieben werden“ (Luhmann 1993, S. 37). Es empfiehlt sich, Luhmann 1993, S. 37). Es empfiehlt sich, Es empfiehlt sich, 1 Diesem Thema galt eine im Oktober 2007 an der Goethe-Universität in Frankfurt von Klaus Lüderssen, Jochen Hörisch und Klaus Günther ausgerichtete Tagung. Die Beiträge hierzu sollen 2009 erscheinen. 2 Zur prinzipiellen Unentscheidbarkeit erfrischend klar: Foerster/ Bröcker (2002, S. 6-12). Walter Grasnick 146 sogleich zu versichern, derart werde die Realität nicht etwa geleugnet. Just so lautet ja der sattsam bekannte Einwand. Jeder Konstruktivist kennt die menschenfreundliche Aufforderung, er möge doch bitte nur mal mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Dann wisse er, was Realität ist. Und damit sind wir fast nebenbei, doch nicht von ungefähr, beim Konstruktivismus gelandet. Auch nicht zufällig findet sich ja der Beitrag von Luhmann, aus dem ich soeben zitierte, in dessen Aufklärungsband mit dem Untertitel „Konstruktivistische Perspektiven“. Andere sind auch schwerlich möglich. Doch man muss sie erst lernen. Sie einüben. Schließlich und endlich sind wir doch alle ganz anders sozialisiert worden. Nämlich noch immer im Banne einer tausendjährigen Tradition. Zu der die zähe Illusion zählt, wir seien in der Lage, die Realität mittels unserer Sprache abzubilden. Es war bekanntlich der junge Wittgenstein, der in dem ersten seiner beiden Klassiker der philosophischen Weltliteratur die berühmte Abbildtheorie auf den Nenner brachte: „Um zu erkennen, ob das Bild wahr oder falsch ist, müssen wir es mit der Wirklichkeit vergleichen.“ (Wittgenstein 1963, § 2.223). . Ein schöner Satz. Ein eleganter Satz. Nur: Ein unbrauchbarer Satz. Spätestens der späte Wittgenstein hat ihn nachhaltig korrigiert. Für die Juristen aber, an ihrer Spitze die Strafrichter, ist er noch heute die Maxime ihres Handelns. Die Wahrheit fest im Blick, das heißt, nichts sehend, schreiten sie zu Werke. Dabei brauchten sie zunächst einmal gar nichts anderes zu tun, als die nächstliegende, sich geradezu aufdrängende Frage zu stellen, nämlich welche Sprache denn angeblich beschreibt, wie es nun wirklich ist, gewesen ist. Die Antwort müsste für sie entmutigend sein. Die Antwort in einem Wort: keine. Wer so fragt, Ernst von Glasersfeld (1996, S. 14-15) hat das getan, und von 1996, S. 14-15) hat das getan, und von hat das getan, und von hier aus weiter fragt, befindet sich auf dem besten aller Wege: mitten hinein in den Radikalen Konstruktivismus. Der freilich für Luhmann noch lange nicht radikal genug war. Auch in unserer Arbeitsgruppe, der Heidelberger in Mannheim, und dort im Gasthof „Zum Ochsen“, kursieren von Zeit zu Zeit konstruktivistische Ideen. Vor kurzem erst war ein eigens aus Wien angereister Kollege Gastreferent in Sachen Konstruktivismus. Die Sprache der Konstruktivisten 147 Das regte mich an, auch meinerseits zu diesem Thema demnächst etwas beizutragen. Unter Rückgriff auf den Wiener Konstruktivisten schlechthin. Das ist Heinz von Foerster. 3 Die Überlegungen, die ich demnächst in Mannheim vortragen möchte, habe ich bereits hier für den Freund Rainer Wimmer zu Papier gebracht. II. Es geht dabei vor allem um eine von zwei Damen. Und das ganze Heer derer, die um sie herumscharwenzeln. Das sind die Diener zweier Herrinnen. Die hören auf die Namen Wahrheit und Gerechtigkeit. Dazu gesellt sich ein wahrer Herr. Der schon genannte Grandseigneur des Konstruktivismus. Persönlich habe ich ihn leider nie kennenlernen dürfen. Aber immerhin ein einziges Mal doch persönlich erlebt. Das war 1992 in Bielefeld. Da wurde ein anderer Großer geehrt: Niklas Luhmann aus Anlass seines 65. Geburtstags. Zu den Gast- und Festrednern gehörte - der Leser ahnt es schon - Heinz von Foerster. Sein Auftritt ist mir unvergesslich. Es war ein Auftritt. Und was für einer. Ganz bescheiden trat der kleine elegante Herr hervor. Und ehe man es sich versah, blitzschnell griff er, so habe ich es jedenfalls gesehen, in sein Jackett und zauberte - im wahrsten Sinne im Handumdrehen - einen herrlich bunten Blumenstrauß hervor. Foerster-Fans wissen: Er besaß die „Lizenz zum Zaubern“. Von ihr hat er reichlich Gebrauch gemacht. Wo er ging und stand. Und bei allem, was er sagte und schrieb. Doch während andere, sozusagen normale Zauberer, uns primär etwas vormachen, vortäuschen, führte er uns vor, wie unter seinen Händen, mit seinen Gedanken neue Welten entstehen. Niemand wird annehmen wollen, ausgerechnet die Wahrheit hätte darin noch ihren alten Platz. Wie bei den Juristen. Da behauptet sie neben der Gerechtigkeit nach wie vor den ersten Platz. Und jeder unserer Richter hat feierlich geschworen, ihnen beiden zu dienen. Zu diesem Richterschwur fällt einem nur Toas ein: „Du sprichst ein großes Wort gelassen aus.“ Ein großes Wort? Oder doch eher ein leeres Wort? Klar ist jedenfalls: Alle, die da hoch und heilig ihr Versprechen abgeben, übernehmen sich. 3 Eine hinreißend inspirierte, kluge Darstellung von und über ihn ist das in Anm. 2 genannte Werk (Foerster/ Bröcker 2002), gleichsam eine Auto-Biografie in Gesprächsform. Walter Grasnick 148 Denn wie vermag es einer, zwei derart zweifelhaften Damen wie der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu dienen? Ohne sich am Ende selbst zu korrumpieren? Verspricht er doch, ja schwört gar, schlechthin Unmögliches zu leisten. Wie will er denn den Damen zu Willen sein, ohne sie überhaupt zu kennen, je kennen zu können? Ich überlege mir manchmal, was wohl passierte, fragte man den, der da gerade geschworen hat: „Sagen Sie mal, wie stellen Sie sich die Wahrheit eigentlich vor? Und wie sieht in Ihren Augen die Gerechtigkeit aus? “ Das Stammeln verdiente, auf Band aufgenommen zu werden. Bleiben wir bei der Dame Wahrheit. Sie ist - jedenfalls für uns heute - weitaus attraktiver. Fährt der Richter gut, fahren wir mit dem Richter besser, soweit er sich ihr verpflichtet fühlt? Denn sie ist doch bei Licht besehen ein besonders irrlichterndes Geschöpf. Aber man kann sich über die Dame das Maul zerreißen so viel und oft man will - auch ich habe es wiederholt getan, bin also heute ein Wiederholungstäter, schlimmer noch: ein Hangtäter -, noch hat die Wahrheit das alles überstanden. Vermeintlich. Dies allerdings auch mit fremder massiver Unterstützung. Aus den allerbesten Kreisen. In denen zum Beispiel der Gesetzgeber verkehrt. Oder gehört der eher zur Halbwelt, wo sich die Leute mitunter lieber gern verbergen? Sicher ist nur: Auch den Gesetzgeber hat - nicht anders als die Wahrheit - noch niemand zu Gesicht bekommen. Wie auch immer. Oder sagen wir besser: Wer auch immer, er hat Folgendes in die Strafprozessordnung einrücken lassen. Deren § 244 bestimmt in Absatz 2, was das Gericht alles zu unternehmen habe, und zwar „zur Erforschung der Wahrheit.“ Da kann man doch nur staunend den Kopf schütteln: Der Diener soll nach Dienstantritt erst einmal seine Herrin erforschen. Hier erinnert sich vielleicht mancher unwillkürlich des Kommunarden Teufel, der, lang lang ist's her, vor Gericht nach der Aufforderung durch den Vorsitzenden, er möge sich doch von seinem Platz erheben, frisch und frech zu Protokoll gab: „Ja, wenn es der Wahrheitsfindung dient.“ Was aber ist dieser denn dienlich? Am ehesten wohl, wenn einer ehrlich klipp und klar offen sagte, wie es um die Wahrheit in Wahrheit bestellt ist. Die Sprache der Konstruktivisten 149 Heinz von Foerster hat das getan. Und nicht nur einmal. Von ihm wissen wir: „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.“ (Foerster/ Pörksen 1998). Foerster/ Pörksen 1998). Doch die allerwenigsten wollen das wissen. Zumal die Wahrheitsdiener nicht. Wären sie doch, träfe es zu, allesamt zugleich auch Lügenknechte. Man sieht - die meisten wohl mit Schrecken -, Heinz von Foerster bringt, gewiss ungewollt, das hehre Bild des Richters ins Wanken, das nicht allein dieser von sich selber hat. Wir alle wünschen uns doch den untadeligen, unvoreingenommenen Richter. Der sine ira et studio entscheidet. Ohne Ansehen der Person. Streng objektiv. III. Aber die Binde vor den Augen sollte er schon zumindest ab und an von den Augen nehmen. Um sodann sehenden Auges die Bedingungen, die Grundlagen seines richterlichen Tuns zu reflektieren. 4 Dazu zählt nicht zuletzt ein zutreffendes Verständnis von Wahrheit und Objektivität. Vor allem auf letztere halten sich die Richter einiges zugute. Und die Staatsanwälte erst. Tragen sie doch nicht die allergeringsten Bedenken, sich selbst gönnerhaft zu bescheinigen, die Staatsanwaltschaft sei die „objektivste Behörde der Welt“. Das alles ohne einen Hauch von Selbstironie. Gar von Selbstzweifeln. Aber Zweifel sind angesagt. Zumindest die Bereitschaft, die eigene Position einmal kritisch zu überdenken. Dann stellte sich heraus, dass die „objektive Lage“ alles andere eher ist, denn objektiv. Auch derartige Überlegungen anzustoßen, gehört zu den großen Vorzügen des Konstruktivismus. Den missverstünde, wer in ihm ein festgefügtes Gedanken-, gar Lehrgebäude sähe, mit glasklaren Strukturen einer fix und fertigen Architektur. Dies alles ist und hat er nicht. Stattdessen haben wir es zu tun mit einer Theorie des kreativen Unterscheidens. Wenn es, wie uns Robert Musil (1978, S. 16) so brillant romanesk und 1978, S. 16) so brillant romanesk und so brillant romanesk und essayistisch vorgeführt hat, neben dem Wirklichkeitssinn auch einen Möglichkeitssinn gibt, dann liefert der Konstruktivismus die Philosophie dazu. Die , dann liefert der Konstruktivismus die Philosophie dazu. Die dann liefert der Konstruktivismus die Philosophie dazu. Die 4 Speziell für Journalisten und ihren Beruf gibt es neuerdings eine Darstellung, mit der glänzend vorgeführt wird, wie ein derartiges Unternehmen aussehen kann. Man lese Pörksen (2006). Den Juristen ist eine solche Erkenntniskritik dringend zu wünschen. Der Titel könnte heißen: Konstruktivismus im Recht. Walter Grasnick 150 uns ein „Reservoir für neue Perspektiven und Beobachtungsmöglichkeiten bereitstellt“. Diese gelungene Charakteristik stammt von Bernhard Pörksen (2006, S. 17). Die Rechtstheorie wäre in der Tat gut beraten, ihrerseits gleichfalls am Konstruktivismus anzudocken. Von einem seiner Erz- und Urväter, dem chilenischen Biologen und Kognitionswissenschaftler Humberto R. Maturana, sagt Pörksen, er stünde nicht „im Verdacht, ein naiver Realist zu sein“, denn: „Er glaubt nicht an eine beobachterunabhängige Existenz der Objekte.“ (Pörksen 2002, S. 12). Anders ge- Anders gewendet: Sie sind nicht objektiv. So wenig wie alles andere, das wir gedankenlos objektiv nennen, obwohl es - und dies unausweichlich - abhängig ist von einem Beobachter. Oder von Beobachtern. Von, traditionell gesprochen, Subjekten. Naturgemäß fällt es ganz besonders schwer, solche konstruktivistischen Befunde in den juristischen Alltag zu integrieren. Unterstellt, man nimmt sie überhaupt an. Sich darum zu kümmern, ja es auch nur - und sei es probeweise - einmal gedanklich durchzuspielen, kommt alle hart an. Erst recht, damit ernst zu machen. Denn was dann geschieht, hat ein Freund Heinz von Foersters in aller nur denkbaren Deutlichkeit gesagt. Ich spreche von Ernst von Glasersfeld. In dessen beeindruckender intellektueller Biografie habe ich die folgende Passage entdeckt. Sie steht im ausdrücklichen Zusammenhang mit Glasersfelds „Aneignung der konstruktivistischen Position“ (Glasersfeld 1996, S. 50), die 1996, S. 50), die die schließlich auch die des Heinz von Foerster ist. Dieses Geschäft des Sichaneignens der neuen, der konstruktivistischen Denkweise, die auch vor der Wahrheit nicht haltmacht, erfordert etwas ganz und gar Ungewöhnliches. Nämlich, „daß man fast alles umbaut, was man zuvor gedacht hat“. Glasersfeld fügt hinzu: „Das ist mühsam und schwierig.“ (ebd.). Und schon deshalb ebd.). Und schon deshalb Und schon deshalb für die meisten einfach lästig. Schlimmer noch: auch gefährlich. Denn mit den neuen Einsichten verlieren sie leicht die alten Sicherheiten. Und kaum einem gereicht es zum Trost, wenn man ihm klarmacht, oder doch versucht, dies zu tun, dass seine vermeintliche Sicherheit nur eine Pseudosicherheit ist. Das bringt ihn dann erst recht in Rage. Ich habe das alles erlebt. Mehrfach. Und gerade soeben, während ich dies schreibe, schon wieder. Da flattert mir ein Text ins Haus, das Manuskript eines Vortrages, das demnächst gedruckt Die Sprache der Konstruktivisten 151 werden soll. Es stammt - und das ist das wahrhaft Erschreckende daran - nicht etwa von einem altersgemäßen Alteuropäer, der um das von ihm und anderen seit Jahrzehnten und länger treulich Bewahrte bangt, einem Uraltkonservativen aus Angst vor dem Konstruktivismus. Wer könnte das nicht verstehen? Doch es handelt sich um den Beitrag eines frisch habilitierten Juristen. Er schreibt, „wir [sollten] endlich ein weniger neurotisches Verhältnis zur Ontologie bekommen“. Wir? Er mag sich ja auf die Couch legen. Mein Platz ist der Schreibtisch. Doch das sind ja noch Peanuts. Evans ist da ein ganz anderes Kaliber. Ich komme darauf zurück. IV. Aber müssen denn nicht selbst Wohlmeinende - damit sind die gemeint, die den Konstruktivismus nicht von vornherein ablehnen, ihn gar verteufeln, vielmehr bereit sind, dem neuen Denken eine Chance zu geben -, müssen also nicht gerade sie stutzig werden, wenn sie erfahren, ausgerechnet Siegfried J. Schmidt (2003) habe sich inzwischen vom Konstruktivismus verabschiedet. Er, der „renommierte Mitbegründer, engagierte Verfechter und erfolgreiche Verbreiter konstruktivistischen Denkens“. 5 Wie heißt es doch im „Tollen Tag“ des Beaumarchais: „Er ist der Vater, er sagt es ja selbst.“ Eben. Und Schmidt schrieb selbst seinen „Abschied vom Konstruktivismus“. Indessen: Der Konstruktivist - keine Sorge, er ist es geblieben -, der erfahrene Konstrukteur versteht etwas von Sprache. Damit auch von Rhetorik. Von wegen Erzählen. Und deshalb steht bei Schmidt Erzähltes im Mittelpunkt. Also sind Geschichten sein Thema. Die neuerdings von ihm zusätzlich eigens thematisierten Diskurse können wir hier beiseite lassen. Geschichten genügen uns. Von ihnen gelangt der Narrativist Schmidt (2003, S. 48-59) zur Interpretation. Und mithin zur (2003, S. 48-59) zur Interpretation. Und mithin zur zur Interpretation. Und mithin zur Konstruktion. Dank der interpretativen, konstruktiven Kraft unserer Sprache. Es ist unser aller Sprache. Natürlich auch die der Historiker. Mit ihnen hat man speziell die Strafrichter stets erneut verglichen. Sie sehen sich als und man sieht in ihnen die professionellen Wahrheitssucher. Ein grundlegender Irrtum. Wogegen anzugehen nicht zuletzt, sogar zuerst, gerade deshalb so schwierig ist, weil diesen Köhlerglauben nahezu jedermann teilt. Und zwar in der Gestalt der überlieferten Korrespondenztheorie der Wahrheit. Sie ist die Wahrheitstheorie von Hinz und Kunz. Doch leider nicht nur das. Denn Hilary Putnam irrt - so steht zu befürchten - keineswegs, wenn er be- 5 So Sandbothe in seinem Vorwort zu Schmidts ‘Geschichten & Diskurse’ (Schmidt 2003, S. 7). Walter Grasnick 152 hauptet: „Viele, ja vielleicht die meisten Philosophen vertreten heute eine Version der ‘Abbild’-Theorie der Wahrheit, also der Auffassung, wonach eine Aussage genau dann wahr ist, wenn sie ‘den (vom Geist unabhängigen) Tatsachen entspricht’ [...]“ (Putnam 1980, S. 9). Putnam 1980, S. 9). Einen besonders geeigneten, ganz modernen Beleg für seine These fände der pragmatische Amerikaner im Doppelheft 09/ 10 (2005) des Merkur, der „Deutsche[n] Zeitschrift für europäisches Denken“. Vieles von dem, was da „wahrheitsgetreu“ verkündet wird, glauben auch unsere Richter. Und wollen es andere glauben machen. Wer sich ihrem common-sense-Diktat nicht beugt, gerät schnell in Ungnade; läuft seine Weigerung doch hinaus auf eine „Leugnung der Objektivität der Wahrheit“ (Putnam 1980, S. 9). Putnam 1980, S. 9). ). Dabei lässt sich gerade die Abbildtheorie leicht widerlegen. Außerdem - und das ist eigentlich noch schlimmer - versagt sie gerade in foro. Wo es doch gemeinhin darum geht, Einlassungen von Angeklagten, die Aussagen von Klägern und Beklagten sowie Bekundungen von Zeugen daraufhin zu überprüfen, ob sie denn auch wahr sind. Und wie macht man das? Angeblich. Der Zufall beschert uns just hierzu einen Text, einen nachgerade klassischen Ausweis alteuropäischer Denkungsart. Der Autor des Textes, heute Emeritus, ist ein prominenter Forscher und lehrte die Fächer Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtstheorie. Außerdem war er rund 20 Jahre lang als Richter tätig. Und zwar als so genannter Tatrichter, aber auch als Revisionsrichter. Er liefert Alteuropa pur. Und dies in seiner juristischen Bestform. Die Rede ist von Karl Heinz Gössel. Der Titel seines Vortrages vom Juni 1999 bringt den bis heute unter Strafrechtlern ungeschlichteten Streit auf den Punkt: „Ermittlung oder Herstellung von Wahrheit im Strafprozeß? “ (Gössel 2000). Gössel 2000). Auch Gössel arbeitet mit dem in der Tat verführerischen Bild vom Wahrheitsbild, das mit der Wahrheit verglichen werde. Doch die Wahrheit allein ist Gössel noch nicht genug. Er setzt, sich realitätsfetischistisch überkugelnd, noch eines drauf, nämlich einen Vergleich mit „dem wirklichen wahrheitsgemäßen Geschehen“ (ebd., S.16). Das spielt für ihn in allen Instanzen eine Rolle, wenn es darum geht, die (vermeintlichen) Ergebnisse (vorgeblicher) Wahrheitserforschung zu kontrollie- Die Sprache der Konstruktivisten 153 ren. Stets werde dabei - meint Gössel wie die meisten Juristen und andere - „die Existenz der Wahrheit als Gegenstand eines [...] Wahrheitsbildes vorausgesetzt“ (ebd., S.17). Das klingt in nicht wenigen Ohren durchaus plausibel und ist doch keineswegs überzeugend. Denn man kann - in Gössels Denk- und Schreibweise - ein „Wahrheitsbild “ mit der „Wahrheit selbst “ (ebd., S.15) nur vergleichen, wenn beides da ist. Doch aus der Not, dass letztere fehlt, lässt sich schwerlich die Tugend machen, das Vermisste einfach zu postulieren. Gottesbeweise funktionieren bekanntlich ähnlich. Wer keine letzte Ursache findet, der erfindet sie. Gössels jedes common-sense-Herz erwärmende Bildgeschichte läuft indessen auch im Übrigen leer. Weil nämlich Wahrheit „als solche“, gäbe es sie denn, nicht nur die „reine“, sondern zugleich die „nackte“ wäre. Mithin allein schon deshalb keine taugliche Vergleichsfolie abgibt. Erbarmten wir uns aber ihrer Nacktheit, das heißt, zögen wir sie an, dann doch mit unseren Kleidern, unseren Sprachkleidern. Womit sonst? Wir haben doch keine anderen. Eine von uns überhaupt erst kostümierte Wahrheit ist freilich kaum seriöser als ein mit unserem Geld bestochener Schiedsrichter. Der Unterschied: Schiedsrichter sind unverzichtbar. Die Abbildtheorie der Wahrheit dagegen sehr wohl. Und das völlig unabhängig davon, dass sie obendrein falsch formuliert ist. Gedacht ist wohl: die Abbildung der Realität durch angeblich wahre Sätze. V. Das ließe sich mühelos, schier endlos fortsetzen. Es sei denn, man gelangt irgendwann an den Punkt, da man dieses Treibens überdrüssig wird. Da hilft dann nur noch ein Befreiungsschlag, man wirft die Wahrheit einfach über Bord. Heinz von Foerster hat es getan. Dafür weiß er gute Gründe zu nennen. Ein Stichwort genügt: Kreuzzüge. Dazu Foerster: „Man muss daran erinnern, wie viele Millionen von Menschen verstümmelt, gefoltert und verbrannt worden sind, um die Wahrheitsidee gewalttätig durchzusetzen.“ (Foerster/ Pörksen 1998, S. Foerster/ Pörksen 1998, S. 30). Und vergast, um die Und vergast, um die Wahrheit der Rassenideologie zu realisieren. Wer sich aber im Besitz der Wahrheit wähnt, ist dem autoritären Wahn nahezu jeder Ontologie bereits verfallen. Und ontologisches Denken beherrscht noch immer auch das rechtliche Denken. Die Wahrheit und die Gerechtigkeit de- Walter Grasnick 154 monstrieren es. Auf ihre Weise. Damenhaft. Auf dem Laufsteg rechtlicher Irrtümer sind sie die Starmannequins. Doch „in Wahrheit“ ziemlich abgetakelt. Was aber bliebe von der Wahrheit bar aller Ontologie? Einer Wahrheit, der das seinsmäßige Fundament fehlt? Eine Dame ohne Unterleib! Doch wie soll ein Richter einer halbierten Dame dienen? Dann doch wohl so, dass er vorab versuchte, das ontologische Manko seiner Herrin zumindest zu kaschieren. Indem er den Anschein erweckte, als sei sie wirklich und wahrhaftig eine Dame. Von Kopf bis Fuß. Und just das tun unsere Richter auch. Seit eh und je. Als treue Diener der Wahrheit täuschen sie die anderen. Vor allem auch die braven Bürger, die ja noch immer davon ausgehen, ein richterliches Urteil basiere auf der Wahrheit. Festgestellt von Wahrheitserforschern. Von wahrheitssuchenden Richtern. Wer von der Wahrheit, dieser Erfindung eines Lügners, redet, egal wie, ob als „Gegenstand des Wahrheitsbildes“, Abbild oder Trugbild, er jedenfalls sollte nicht lügen. Und auch nichts verschweigen. Dazu zählt seine Arbeitsweise. Über die machen sich Historiker oft gründlichere Gedanken als die allermeisten Juristen. Einer der Historiker, die nicht Ruhe geben, der wissen will, was es mit seinem Forschungsgegenstand, der Geschichte, in Wahrheit (! ) auf sich hat, und wie er wirklich (! ) damit umgeht, heißt Hayden White. Der programmatische Titel eines schmalen Bandes von ihm lautet: „Auch Klio dichtet“. Und deshalb beherrscht den historischen Diskurs das Erzählen, „Die Fiktion des Faktischen“ (White 1991). Das weiß Hayden White nur zu gut. Und da hilft es Evans auch White 1991). Das weiß Hayden White nur zu gut. Und da hilft es Evans auch Das weiß Hayden White nur zu gut. Und da hilft es Evans auch nichts, gegen White und andere postmoderne Herumtreiber (vgl. Evans 1998, vgl. Evans 1998, S. 17) den Holocaust zu instrumentalisieren, diesen zu missbrauchen als „entden Holocaust zu instrumentalisieren, diesen zu missbrauchen als „entscheidenden Test“ für die „Behauptung [...], Geschichte sei nicht in der Lage, reale Fakten über die Vergangenheit zu ermitteln“ (ebd., S. 123). Das ist unse- S. 123). Das ist unse- Das ist unseriös. Evans mag die Postmoderne nicht mögen, sogar für schädlich halten, für „bedrohlich“, „destruktiv“ und „sinnlos“ oder gar den „Gipfel der Häresie“. Mit diesen Worten zitiert Evans beifällig den Historiker Geoffrey Elton (ebd., ebd., S. 16). Er darf getrost die Reinheit der Lehre von gestern vertreten, sich als Er darf getrost die Reinheit der Lehre von gestern vertreten, sich als Krisenmanager in der Historiografie aufhäufeln und dergleichen mehr. Nur eines ist ihm mit Sicherheit nicht gestattet: Nämlich die Vertreter der Postmoderne gleichsam als Holocaustleugner zu diffamieren. Aber genau das tut Die Sprache der Konstruktivisten 155 Evans, wenn er ihnen entgegenschleudert: „Auschwitz war kein Diskurs. Massenmord als Text anzusehen bedeutet, ihn zu verharmlosen. Die Gaskammern waren keine rhetorische Figur.“ (Evans 1998, S. 123). Evans 1998, S. 123). Da ist die Gürtellinie, unter die Evans zielt, schon nicht einmal mehr zu sehen. Evans stellt zudem seine eigene Inkompetenz zur Schau. Dazu genügen ihm acht Wörter: „die Fakten existieren vollkommen unabhängig von den Historikern“ (ebd., S. 79). ebd., S. 79). Das könnte einer nur behaupten, hätte er zuvor die Beobachtertheorie Luhmanns und anderer Konstruktivisten, die Interpretationsphilosophie eines Günter Abel und Hans Lenk sowie die Geschichtenphilosophie von Wilhelm Schapp widerlegt. Im Literaturverzeichnis tauchen bei Evans die Namen nicht einmal auf. Natürlich auch kein Nietzsche, kein Rorty, kein Goodman, kein Wittgenstein. VI. Und auch nicht Searle. Obwohl gerade der ihm nun als Kronzeuge hätte dienlich sein können, weil er nämlich, gleich Evans, vehement den Realismus verteidigt. Und folglich auch die Korrespondenztheorie der Wahrheit, die für die Konstruktivisten selbstredend obsolet ist. Das alles geschieht bei Searle auf hohem Niveau. Dazu gehört, dass er sich mit den Argumenten des Konstruktivismus ausführlich auseinandersetzt. Dass er gleichwohl nicht überzeugt, liegt letzten Endes daran, dass Searle sich selbst, ohne dies freilich zu bemerken, treffend widerlegt. Und zwar schon auf den ersten Seiten seines Buches über „Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ (Searle 1997). Zumal der Titel keines- Searle 1997). Zumal der Titel keines- Zumal der Titel keineswegs, wie man es aber bei einem Realisten wie Searle eigentlich erwarten sollte, ironisch gemeint ist. Doch dass ausgerechnet ein bekennender Realist den Konstruktivismus bestätigt, darf man schon eine schöne Ironie nennen, ohne es kursiv setzen zu müssen, eine Empfehlung, die jedenfalls für den Umgang mit Deutschen bekanntlich von dem „wienerischsten aller Wiener Schriftsteller“ 6 stammt, also von Karl Kraus. So erzählt denn Searle gleich eingangs von einem Cafébesuch, wobei er uns lauter Interpretationen des Geschehens, mithin Konstruktionen anbietet. Ich 6 So Arthur May, zit. n. Janek/ Toulmin (1984, S. 83). Walter Grasnick 156 habe das an anderer Stelle ausführlich wiedergegeben. 7 Searle (1997, S. 14) 1997, S. 14) selbst schließt die folgende Bemerkung an: „Wenn ich dann, nach Verlassen des Restaurants, einer Vorlesung zuhöre oder eine Party besuche, wächst die Größe der metaphysischen Last, die ich trage, nur immer weiter an; und man fragt sich manchmal, wie sie überhaupt jemand tragen kann.“ Freilich: Die „Ontologie sozialer Tatsachen“ und damit deren Metaphysik ist eben nur ein Problem für Realisten. Und daran mögen sie sich wohl verheben. Die Konstruktivisten dagegen plagen sich ja nicht länger mit einer falschen Ontologie, spüren mithin gar keine Last. Wohl aber die Dauerpräsenz der Realisten. Und das ist auch gut so. Regt es doch dazu an, die eigene Position zumindest von Zeit zu Zeit erneut zu überdenken. Wohl wissend, dass es ein Ende des Konstruktivismus/ Realismusstreits nie geben wird, weil nicht geben kann. Allenfalls so ähnlich wie in der ebenfalls Dauerdebatte um Determinismus und Indeterminismus. Popper wusste, warum. Und Richard Rorty wusste es auch. Er schreibt: „Es gibt keine neutrale, nichtzirkuläre Weise, die liberale Behauptung zu verteidigen, daß Grausamkeit das Schlimmste ist, was wir tun.“ (Rorty 1989, S. 319). Nichts (Rorty 1989, S. 319). Nichts Nichts anderes gilt für die genannten Ismen und alle anderen Glaubensartikel. Was bleibt, sind Deutungen. Also abermals Konstruktionen. Wir können damit versuchen, die eine gegen die andere auszuspielen. Popper hat so gegen den Determinismus das argumentum ad absurdum in Stellung gebracht (vgl. vgl. Grasnick 1987, S. 39f., 52ff.). Rortys „Strategie“ war der Versuch, „das Voka- Rortys „Strategie“ war der Versuch, „das Vokabular“ der Gegner „schlecht aussehen zu lassen“ (Rorty 1989, S. 84). Und das Rorty 1989, S. 84). Und das Und das gelingt Konstruktivisten weitaus besser als Realisten. Bezogen auf unser Thema besteht eine ausgezeichnete Möglichkeit, dies in concreto zu überprüfen, und zwar anhand des bereits genannten Merkur-Sonderheftes. Darin findet der Leser einen Beitrag von Paul Nolte, von dem man denken könnte, er sei eigens mit Blick auf uns geschrieben worden. Er heißt: „Die Macht der Abbilder“ (Nolte 2005). In der Tat, die hält uns alle in Bann. Der Berliner Zeitgeschichtler Nolte bahnt sich seine eigenen „Wege in die Realität“. So der Untertitel des Merkur. Es lohnt sich nachzulesen, was Nolte da schreibt: da schreibt: da schreibt: Er beklagt „eine Sekundarisierung der Geschichte“ mit folgenden bewegten Worten: „Die Überlieferung von Geschichte, ihre - zweifellos notwendige - Darstellung in der Gegenwart wird selber zur Geschichte oder mit dieser ver- 7 Vgl. Grasnick (2003); ferner: Grasnick (2001). Verwiesen sei auch auf Waldenfels (1998). Die Sprache der Konstruktivisten 157 wechselt“. Von der Sekundarisierung heißt es weiter, sie habe „die Geschichte in einen Irrealis versetzt [...]“. Soll sagen: Sie „hat die Realitäten ausgetrieben“ (Nolte 2005, S. 889-898). Realität gleich im Plural kommt heute meist bei Politikern vor. Der Zeitgeschichtler erweist sich aber auch im Übrigen auf der Höhe der Zeit, indem er trotzig fortfährt: „Insofern steht eine Wiedergewinnung der Realität auf der Agenda.“ (ebd., S. 890). ebd., S. 890). Aber muss man ihm denn nicht richtigerweise beispringen? Als Deutscher zumal, dessen nicht nachlassende Pflicht es in der Tat ist, sich stets erneut des unmenschlichen Elends und der grausamen Schrecken zu erinnern, die wir über die Welt gebracht haben. Besteht denn das zu Erinnernde aber nicht notwendig in der „Realität einer vergangenen Gegenwart“? (ebd., S. 895). Die Antwort „Ja“ erscheint auch diesmal hoch plausibel, geradezu zwingend. Und wäre doch seltsam nichtssagend. Denn unter Realität kann sich eben niemand etwas vorstellen. Wohl aber unter Auschwitz und Treblinka. Unter Gaskammern. VII. Doch wer diese Worte gebraucht, wer mithin spricht - und anders als sprechend funktioniert das, was wir Erinnerung nennen nun einmal nicht -, der redet in Bildern, in Sprachbildern. Und zum „Beschreiben des Holocaust“ verwenden alle, Opfer wie Täter, Juden und Antisemiten, zwangsläufig „die Metaphern des Holocaust“ (Young 1997, v.a. S. 137ff.). Young 1997, v.a. S. 137ff.). Wer sich jedoch ein Bild von der Vergangenheit machen will, erhält ein Bild ohne Urbild, von dem es ein Abbild sein könnte. Nolte - er steht hier stellvertretend für alle nicht grundlos so genannten naiven Realisten - will das alles aber partout nicht „wahrhaben“. Er fürchtet wohl, er widerspräche sich selbst, weil er doch andererseits feststellt: „So viel Erinnerung wie jetzt war nie.“ (Nolte 2005, S. 895). Das dürfte Nolte 2005, S. 895). Das dürfte Das dürfte sogar stimmen. Indessen kann Erinnern eben nicht bedeuten, sich ein zutreffendes Bild davon zu verschaffen, „wie es wirklich gewesen ist“. Von Rankes Traum ist ausgeträumt. Ein für allemal. Noltes Lamento läuft erneut leer, wenn er weiterhin klagt, „der Zugang zu Geschichte“ werde „versperrt“, wenn man „deren Abbildern mehr Authentizität verleiht als der vergangenen Wirklichkeit selbst“ (ebd.). Walter Grasnick 158 Es hilft alles nichts. Heinz von Foersters Devise, „daß man die Idee der Wahrheit zum Verschwinden bringen [...] sollte“ (Foerster/ Pörksen 1998, S. 33), Foerster/ Pörksen 1998, S. 33), , erstreckt sich notwendig auch auf die realitätsabbildenden Wahrheitsbilder. Genauso wie auf die schon fast sprichwörtliche „Rekonstruktion der Vergangenheit“. Sie taucht natürlich auch bei Nolte (2005, S. 897) auf. Indessen: Allein Konstruktion ist angesagt. 8 „Realitäten aufzuarbeiten“ (Nolte 2005, S. 898) - noch so ein gängiger Slogan Nolte 2005, S. 898) - noch so ein gängiger Slogan - noch so ein gängiger Slogan - kann deshalb ausschließlich darin bestehen, vermeintliche Realitäten zu erarbeiten. Indem wir uns Bilder machen. Sie herstellen. Wir befinden uns dabei in der Rolle desjenigen, der eine „Übersetzung“ anfertigt, „für die kein Original vorliegt“ Fuchs (1998, S. 35). Fuchs (1998, S. 35). 9 Mit Peter Fuchs und speziell für die, die es als Historiker und Richter bis heute nicht lassen können, „Reproduktion“ zu reklamieren, sei daran „erinnert“, wie man Freud lesen und mit ihm - und Fuchs - die Tätigkeit des Bewusstseins begreifen kann. Danach „kreiert [es] sich paradoxerweise als originale Reproduktion“, ohne dass es eine „irgendwie noch präsente Garantie aus der Vergangenheit mitführt“ (Fuchs 1998, S. 36). Fuchs 1998, S. 36). Wer Garantien möchte, sollte Kühlschränke oder Waschmaschinen kaufen. Historiker und Richter sind die falschen Adressaten. Die können bestenfalls für sich garantieren. Nicht für ihre Produkte. Mithin nicht für die Wahrheit des Falles, den sie entscheiden, die Wahrheit des historischen Ereignisses, das sie schildern. Sie haben, mit Wilhelm von Humboldt (1821 [1980]) (1821 [1980]) gesprochen, den Fall, das geschichtliche Ereignis, weder zunächst als faktisches „Geschehen“, noch hernach als dessen wahre „Darstellung“, sondern allemal den Sachverhalt nur als Konstrukt. Dass wir den Sachverhalt nur erzählen können, haben wir nicht erst von Hayden White gelernt. „Narrare necesse est.“ Dem entspricht das Muss der Inter- „Narrare necesse est.“ Dem entspricht das Muss der Inter- Dem entspricht das Muss der Interpretation und damit der Konstruktion, wie man nicht oft genug wiederholen kann. Man kann dasselbe noch einmal in folgenden Sätzen zusammenfassen: „Wir können nicht nicht erzählen.“ Dieser Satz könnte von Wilhelm Schapp stammen. „Wir können nicht nicht interpretieren.“ . „Wir können nicht nicht interpretieren.“ „Wir können nicht nicht interpretieren.“ 10 Diesen Satz hat Hans 8 Dazu eindrucksvoll Lorenz (1997). 9 Siehe ferner Derrida (1985, S. 323). Dort wird lapidar festgestellt: „ Alles fängt mit der Reproduktion an.“ Auf diese einschlägige Passage hat bereits Fuchs hingewiesen. 10 Vgl. Schapp (1976). Schapp (1976). Die Sprache der Konstruktivisten 159 Lenk (1993, S. 350) formuliert. „Wir können nicht nicht beobachten“. Dieser Satz drückt das Credo von Niklas Luhmann aus. 11 „Wir können nicht nicht konstruieren.“ Diesen Satz habe ich geschrieben. Doch er könnte, wie alle die anderen auch von jedem Konstruktivisten unterschrieben werden. Ein letztes Mal variiert: „Nirgends ist das Konservat zu entdecken, mit dem jene ‘originale Reproduktion’ vergleich- und abgleichbar wäre.“ (Fuchs 1998, Fuchs 1998, S. 36). VIII. So weit, so gut. Das „so schlecht“ der Gegner lassen wir nicht gelten. Einmal - hoffentlich nicht vollends kontrafaktisch unterstellt, Wahrheitssucher und Realitätsschützer seien bereit, sich wenigstens versuchsweise auf unsere Position einzulassen - kommt unweigerlich die Frage: Darf man denn aber den Bürgern, wie manche Uralteuropäer noch immer gern sagen: den Rechtsunterworfenen, die Einsicht überhaupt zumuten, dass von Wahrheit (in Wahrheit! ) nicht die Rede sein kann? Macht das die auf Wahrheit und Gerechtigkeit vertrauenden Staatsbürger nicht am Rechtsstaat irre? Was aber dann? Hier tut sich ein Problem auf, das, soweit ich zu blicken vermag, bislang kaum gesehen, geschweige denn gelöst worden ist. Wenn nämlich aufgeklärte Richter - einige wenige davon gibt es ja immerhin -, sofern also diese seltenen Schwalben eines noch fernen hellen und klaren rechtstheoretischen Sommers allen Mut zusammennähmen und sich aufrafften, den Bürgern reinen Wein einzuschenken, dann dürften sie es nicht einmal dabei bewenden lassen zu sagen: „Seht her, alle ontologischen Felle sind uns davongeschwommen. Und unsere Fälle gleich mit.“ Sie müssten vielmehr obendrein bekennen, was dann am Ende allein übrig bleibt. Der eingangs bereits genannte Niklas Luhmann hat dafür, lange vor seiner autopoietischen Wende, nämlich bereits 1969, die griffige Formel gefunden: „Legitimation durch Verfahren“ (Luhmann 1969). Luhmann 1969). Nach dem Tode aller Götter, dem Verfallen aller Punkte, seien sie kopernikanischer oder archimedischer Herkunft, sind wir alle unausweichlich für immer und ewig ganz und gar unter uns. Und damit allein auf uns angewiesen. 11 Vgl. statt vieler Referenztexte nur das umfängliche Kapitel „Beobachten“ in Luhmann (1990, S. 68-121). Walter Grasnick 160 Das heißt, im Gerichtsverfahren ausschließlich auf unsere Richter. „Legitimation durch Verfahren“, das meint den Verweis auf Verfahren, die hier und jetzt stattfinden. Ohne naturrechtliche Tröstungen. Und ohne die Hoffnung, was wahr sei, entscheide sich mit Blick, im Rückblick auf eine wie auch immer geartete Realität. Die doch, wenn überhaupt, dann immer jenseits ist. Unerreichbar. Unerfahrbar. Unaussprechbar. Im Diesseits der Konstruktionen bleibt die Aufgabe der Argumentationen. Unverzichtbar. Rorty, dem ich so viel mehr verdanke als das hier nur Angedeutete, Richard Rorty, der konsequente Konstruktivist lädt uns ein zu einem kleinen Gedankenexperiment: „Stellen Sie sich vor, dass Sie in ein paar Jahren ihr Exemplar der New York Times aufschlagen und lesen, die Philosophen hätten auf ihrer diesjährigen Hauptversammlung einstimmig beschlossen, Werte seien objektiv, die Wahrheit eine Sache der Übereinstimmung mit der Realität und so weiter [...].“ Rorty fährt fort: „Gewiß würde die öffentliche Reaktion auf den einstimmigen Philosophenbeschluß nicht ein ‘Gerettet! ’ sein, sondern vielmehr: Für wen zum Teufel halten die Philosophen sich? Daß genau dies unsere Reaktion sein würde, ist eines der besten Dinge, die man über das intellektuelle Leben sagen kann, das wir westlichen Liberalen führen.“ 12 Zu diesem Leben gehört der Konstruktivismus. Auch zum Leben des Richters. Das muss er offen bekennen. Auch in foro. Hier zeigt sich die ethische Dimension des Konstruktivismus. 13 Verlangt wird, die Konstruktionspläne offenzulegen. Mehr nicht. Aber das unbedingt. Literatur Derrida, Jacques (1985): Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. Evans, Richard J. (1998): Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis. Frankfurt a.M. Foerster, Heinz von (1993): KybernEthik. Berlin. Foerster, Heinz von/ Bröcker, Monika (2002): Teil der Welt. Heidelberg. Foerster, Heinz von/ Pörksen, Bernhard (1998): Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Heidelberg. 12 Rorty, zit. n. Reese-Schäfer (1991, S. 7). 13 Sie taucht bei von Foerster an vielen Stellen auf. Am schönsten in einem einzigen Wort, dem Titel eines seiner Bücher. Also: Foerster (1993): KybernEthik. Die Sprache der Konstruktivisten 161 Fuchs, Peter (1998): Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie. Frankfurt a.M. Glasersfeld, Ernst von (1996): Radikaler Konstruktivismus. Frankfurt a.M. Gössel, Karl Heinz (2000): Ermittlung oder Herstellung von Wahrheit im Strafprozeß? Berlin. Grasnick, Walter (1987): Schuld, Strafe und Sprache. Tübingen. Grasnick, Walter (2001): Luhmann ante portas. In: Eser, Albin/ Goydke, Jürgen/ Maatz, Kurt R. (Hg.): Strafverfahrensrecht in Theorie und Praxis. Festschrift für Lutz Meyer-Gossner. München, S. 207-235. Grasnick, Walter (2003): In Fallgeschichten verstrickt. Notizen zu einer narrativen Theorie des Rechts. In: Zeitschrift für Rechtsphilosophie 1, S. 192-198. Humboldt, Wilhelm von (1821 [1980]): Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers. In: Humboldt, Wilhelm von: Werke in fünf Bänden. I. Darmstadt, S. 585-606. Janek, Allan/ Toulmin, Stephen (1984): Wittgensteins Wien. München. Lenk, Hans (1993): Interpretationskonstrukte. Frankfurt a.M. Lorenz, Chris (1997): Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Köln. Luhmann, Niklas (1969): Legitimation durch Verfahren. Neuwied. Luhmann, Niklas (1990): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. Luhmann, Niklas (1993): Das Erkenntnisproblem des Konstruktivismus und die unbekannt bleibende Realität. In: Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven. 2. Aufl. Opladen, S.31-58. Musil, Robert (1978): Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek. Nolte, Paul (2005): Die Macht der Abbilder. Geschichte zwischen Repräsentation, Realität und Präsenz. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 9/ 10, S. 889-898. Pörksen, Bernhard (2002): Die Gewissheit der Ungewissheit. Gespräche zum Konstruktivismus. Heidelberg. Pörksen, Bernhard (2006): Die Beobachtung des Beobachters. Eine Erkenntnistheorie der Journalistik. Konstanz. Putnam, Hilary (1980): Vernunft, Wahrheit und Geschichte. Frankfurt a.M. Reese-Schäfer, Walter (1991): Richard Rorty. Frankfurt a.M. Rorty, Richard (1989): Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M. Schapp, Wilhelm (1976): In Geschichten verstrickt. Darmstadt. Searle, John R. (1997): Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen. Reinbek. Walter Grasnick 162 Schmidt, Siegfried J. (2003): Geschichten & Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus. Reinbek. Vesting, Thomas (2007): Rechtstheorie. München. Waldenfels, Bernhard (1998): Searles Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. In: Philosophische Rundschau 45, 2, S. 97-112. White, Hayden (1991): Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Stuttgart. Wittgenstein, Ludwig (1963): Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt a.M. Young, James, E. (1997): Beschreiben des Holocaust. Frankfurt a.M. Ekkehard Felder Linguistische Sprachkritik im Geiste linguistischer Aufklärung Vor dem Hintergrund sprachkritischer Zweifelsfragen mit gesellschaftspolitischem Impetus und dem Umstand, auf bestimmte, „vorbelastete“ Ausdrucksmuster in Kommunikationssituationen angemessen reagieren zu müssen, wird im folgenden Beitrag ein Vorschlag unterbreitet, welche Verfahren der sprachreflektierende Sprachbenutzer anwenden kann, um sich bewusst für bestimmte Formulierungsstrategien entscheiden zu können. Damit wird die inhaltliche Beurteilung dem Akteur überlassen, und die Linguistik expliziert ausschließlich mögliche Operationalisierungen im Paradigma des „Semantischen Kampfes“ mit dem Fokus auf Bezeichnungskonkurrenzen sowie auf Bedeutungs- und Sachverhaltsfixierungsversuchen. Das Procedere wird an umstrittenen Formulierungen zur sog. Sterbehilfe exemplifiziert. 1. Einleitung Ein Beweggrund zum Verfassen dieses Aufsatzes war die folgende Frage einer Studentin: „Darf ich die Wortverbindung ‘stolz sein auf’ verwenden - und zwar in Kontexten wie ‘stolz, eine Deutsche zu sein’? “ Sie habe entsprechende Wortverbindungen im Spanischen wiederholt gehört, ohne dass eine politische Einordnung des Sprechers dabei feststellbar gewesen wäre. Da solche Fragen stets einen gesellschaftspolitischen Impetus haben und im sprachlichen Handeln des zoon politikon häufig als Problem auftreten, wollte ich in erster Linie keine inhaltliche Antwort auf die spezielle Frage formulieren (und will dies auch hier nicht tun), sondern eine Vorgehensweise unterbreiten, die es ermöglicht, relativ selbstständig zu einer eigenen Beurteilung des Sachverhalts zu kommen. Im Folgenden möchte ich einen Weg aufzeigen, mit welcher Methode eine individuelle Strategie bei Zweifelsfragen sprachlichen Handelns aufzufinden ist. Damit befinden wir uns im Zentrum des sprachkritischen Problembereichs linguistisch begründbarer Methodenvorstellungen (Wimmer 2003, S. 423), wenn wir die Reflexion sprachlicher Handlungsoptionen (Sprachberatung i.w.S.) als einen Bestandteil linguistischer Sprachkritik auffassen. 2. Sprachkritik zwischen Systemzwang und Variantenfreiheit Sprachkritik kann in der Linguistik aus sprachsystematischer wie auch aus pragmatisch-kommunikativer Perspektive erfolgen (vgl. den Wörterbucharti- Ekkehard Felder 164 kel Felder 2009). Deskriptive, planerische oder normierende Sprachkritik in der Linguistik (siehe zu vergleichbaren Termini wie Spracharbeit Bär 2002) berücksichtigt einerseits systemlinguistische Fragestellungen und beschäftigt sich mit Perspektivierungsfragen (Köller 2004) von sprachimmanenten Ausdrucksmöglichkeiten wie z.B. Funktionsverbgefügen, Akkusativierung transitiver Verben, lexikalischen „Lücken“, Perspektivendominanz durch (De-) Agentivierung, sprachlichen Möglichkeiten zur Herstellung von Faktizität und Geltungsansprüchen mittels Modalität, Sachverhaltskonstitution im Spiegel von Modus, Genus verbi und Tempus. Diese Probleme betreffen stets auch Aspekte der kodifizierten Norm im Spannungsfeld von langue- und parole- Gesichtspunkten - also Fragen der Explizierung von Normen als sinnhaften, hermeneutisch zu rekonstruierenden Größen - ebenso wie Aspekte der Normentstehung und der Normenmodifikation (Polenz 1973; Gloy 1998). Coseriu (1970) sieht die Norm zwischen beiden Polen verankert und schlägt die Trias System - Norm - Gebrauch vor (vgl. zu Normfragen Wimmer 2003, S. 426). Weitaus bekannter und verbreiteter ist andererseits eine Sprachkritik innerhalb und außerhalb der Wissenschaft (Zimmer 2005), die sich mit pragmatisch-kommunikativen Aspekten des Sprachgebrauchs auseinandersetzt. Pragmatisch-kommunikativ orientierte Sprachkritik fokussiert den Sprachgebrauch in konkreten Situationen - differenziert nach Sprachvarietäten oder Lekten wie beispielsweise Sozio-, Gender-, Funktio- oder Diabzw. Regiolekten (Steger 1988). Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen dabei Sprachhandlungsgesichtspunkte im Hinblick auf Intentionen und kommunikative Effekte. Hierbei ist die jeweilige sprachliche Erscheinungsform im sprachlichen und außersprachlichen - auch historischen (Schiewe 1998; Polenz 2000) - Kontext unter grammatisch kodifizierten Richtigkeitsnormen und Gesichtspunkten stilistischer Angemessenheit zu diskutieren. Bei der oben angesprochenen Problemstellung des Ausdrucks stolz sein auf ist das pragmatisch-kommunikative Paradigma angesprochen, dessen vielleicht bekanntester Vertreter Rainer Wimmer mit seinem prominent gemachten Konzept der „linguistisch begründeten Sprachkritik“ ist. Sprachkritik im Sinne des programmatisch in der Sprachwissenschaft entwickelten Konzepts einer „linguistisch begründeten Sprachkritik“ (Wimmer 1982) formuliert einen reflektierten Sprachgebrauch als oberstes Ziel der Sprachkritik (Wimmer 1986) - zu spezifizieren unter lexikalischen und gram- Linguistische Sprachkritik im Geiste linguistischer Aufklärung 165 matischen Aspekten bei der Textanalyse wie bei der mündlichen und schriftlichen Textproduktion. Sprachkritik als einen Aspekt von Sprachbewusstheit zu verstehen bedeutet, die Regeln seines eigenen Sprachgebrauchs unter Berücksichtigung sozialer Einflussfaktoren zur Disposition zu stellen und damit einen umsichtigen, undogmatischen und toleranten Umgang mit Sprache zu kultivieren (Heringer (Hg.) 1982). Das bedeutet gleichzeitig: Fachexperten und Sprachnormverfechter (wie zum Beispiel die Protagonisten der Political- Correctness-Debatte in den 1990er Jahren gleich welcher Couleur - (Wimmer 1998)) stehen hinsichtlich ihres „Sprachgebarens“ unter Legitimationszwang, und das bringt unter Gesichtspunkten der Sprachbewusstheit den Vorteil mit sich, dass durch das Reden und Nachdenken über Sprache und ihre Verwendung ein Beitrag zum reflektierten Umgang mit dem sprachlichen Inventar und seinen Gebrauchsformen geleistet werden kann. Vor dem Hintergrund solcher Paradigmen wird im Folgenden ein Vorschlag zur bewussten Auswahl sprachlicher Strategien bei der „Beantwortung“ sprachkritischer Zweifelsfragen im Kontext konfliktträchtiger Sprachhandlungssituationen expliziert und exemplifiziert. Insofern dient der Vorschlag im Geiste der Aufklärung zwar nicht als „Ausgang des Menschen“ aus „selbst verschuldeter Unmündigkeit“, aber als ein möglicher Weg zum relativ selbstbestimmten Auswählen einer oder mehrerer sprachlicher Strategien mit dem Ziel, mit sprachlichen Zwängen (dem Umstand, bei Meinungsäußerungen sich bestimmter, „vorbelasteter“ Zeichen bedienen zu müssen) angemessen umgehen zu können. Die meisten wissenschaftlichen Sprachkritiken rücken (mit Recht) die Bewertungsproblematik in den Mittelpunkt. „Sprachkritische Themen reflektieren“ - wie Spitzmüller, Roth, Leweling und Frohning den status quo der Sprachkritik als angewandte Linguistik bilanzieren - „im besten Fall ihre Ansätze gleich kritisch mit und eröffnen auf diese Weise die Möglichkeit zum Gespräch.“ (Spitzmüller et al. 2002, S. 1). Und auch die Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur Aptum stellt in der programmatischen „Einführung der Herausgeber zum ersten Heft“ fest: „Die entscheidende Frage, die zur genaueren Bestimmung des Begriffs von Sprachkritik gestellt werden muss, ist die nach den Maßstäben der Bewertung.“ (Schiewe/ Wengeler 2005, S. 3). Doch ein praktikabler Methodenvorschlag für sprachlich Ratsuchende bleibt ein Desiderat. Dahingegen weist das sog. Bozner Manifest der Sprachkritik im Kapitel „Gegenwärtige Aufgaben“ die folgende Bringschuld zu: „Überlegungen zur Ver- Ekkehard Felder 166 mittlung von Sprachbewertungsgrundlagen in Schule und Universität sowie in der Öffentlichkeit (Medien).“ (Lanthaler et al. 2003, S. 334). Darüber hinaus stellt auch der 2007 von Feilke, Knobloch und Völzing herausgegebene Sammelband „Was heißt linguistische Aufklärung? “ mit dem vielsagenden Untertitel „Sprachauffassungen zwischen Systemvertrauen und Benutzerfürsorge“ einen umfangreichen Fragenkatalog in diesem Duktus vor, ohne sich jedoch zu einer klaren Antwort oder einer programmatischen Äußerung durchringen zu können: Den Anspruch, zur ‘Aufklärung’ beizutragen, kann linguistisches Spezial- und Expertenwissen nur dann geltend machen, wenn es zugleich mit dem Nutzen, den es für die Allgemeinheit stiftet, auch zur Herstellung ‘vernünftiger’ sprachlich-kommunikativer Verhältnisse beiträgt. (Feilke/ Knobloch/ Völzing 2007, S. 12) Eine solche Forderung rechtfertigt ebenfalls die Fokussierung sprachlicher Strategien zur Bewältigung schwieriger bzw. konfligierender Sprachhandlungssituationen. Die folgenden Ausführungen basieren hinsichtlich der Wirkung von Wörtern auf der grundlegenden Synopse, wie sie Peter v. Polenz schon 1963 formuliert hat: Nicht die Wörter selbst wirken [kontextlos, E.F.] moralisch oder unmoralisch, sondern allein ihr Gebrauch durch Sprecher in bestimmten Sprechsituationen. [...] Das böswillige Sprechen ist nicht eine Wirkung der Sprache, der die Sprachteilhaber unwissend und wehrlos ausgeliefert wären. (Polenz 1963, S. 401) Vor diesem Hintergrund und auf dieser Basis benötigt der Ratsuchende Hinweise für Handlungsoptionen beim sprachlichen Handeln im Kontext problematischer, so etwa ideologischer Ausdruckskomplexe (Dieckmann 1988). 3. Selbstverständnis des Ratgebers In einem Punkt musste ich die eingangs erwähnte Ratsuchende mit ihrer Frage „Darf ich die Wortverbindung ‘stolz darauf, eine Deutsche zu sein’ verwenden? “ umgehend enttäuschen. Selbstverständlich wollte ich keine schlichte Antwort formulieren - etwa in dem Sinne, sie dürfe sich so ausdrücken oder eine solche Formulierung sei nicht erlaubt. Versteht man Sprache im Sinne Humboldts als Indiz für Denk- und Mentalitätshaltungen, so ist der Sprachgebrauch als Indikator einer Denkungsart zu deuten. Linguistische Sprachkritik im Geiste linguistischer Aufklärung 167 Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens und des Wortes von einander leuchtet es klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst. Hierin ist der Grund, und der letzte Zweck aller Sprachuntersuchung enthalten. (Humboldt 1820 [1968], S. 27) Bei der Beantwortung des eingangs erwähnten sprachkritischen Zweifelsfalls gilt es, grundsätzlich unter Offenlegung der sprachlichen und außersprachlichen Wertekriterien eine Antwort zu formulieren, die jedoch von linguistischer Seite zugleich die Frage aufwirft, welche methodische Grundstruktur einer Antwort zugrunde liegen sollte. Solche Fragen Ratsuchender einzeln zu beantworten, scheint mir nur bedingt sinnvoll zu sein, weil eine solche Vorgehensweise ausschließlich das konkrete Problem in den Mittelpunkt stellt und die zugrunde gelegten Kriterien zwar exemplarisch zu explizieren vermag, aber die angewandten Kriterien in keinen generellen oder übergeordneten Katalog von Prüfungsaspekten einordnet. Ich plädiere dahingegen für die Explizierung eines Verfahrens, das den einzelnen Sprachbenutzer befähigt, relativ selbstständig zu einem Urteil über für ihn angemessenen Sprachgebrauch in bestimmten Situationen zu kommen - vorausgesetzt, der Ratsuchende ist daran interessiert. Im Folgenden stelle ich ein entsprechendes Vorgehen dar. Ziel des Vorschlages ist es, nicht nur einen einzelnen sprachlichen Problemfall zu erörtern, sondern an ihm die Operationalisierbarkeit und die Erklärungskraft eines den Einzelfall übergreifenden Prüfungsverfahrens zu analysieren. Die Beispiele dienen quasi nur der Überprüfung von Stärken und Schwächen des Procederes. 4. Grundstruktur der Ratgeberantwort Meines Erachtens muss die Struktur einer Antwort den Grundzug verwende/ vermeide das Ausdrucksmuster unter Berücksichtigung bestimmter Hinweise beinhalten, wenn man Linguistik mit aufklärerischem Impetus betreiben möchte. Das Entscheidende sind selbstverständlich die Hinweise. Das Grundmuster lässt sich wie folgt paraphrasieren: „Verwende das als ‘problembehaftet’ markierte Ausdrucksmuster und überprüfe, ob inhaltsseitig die gewünschte Wirkung erzielt wurde. Räume mögliche Irritationen beim Rezipienten durch explizite Hinweise dergestalt aus, dass dieses Ausdrucksmuster bekannterweise von bestimmten 1) Ekkehard Felder 168 Gruppierungen prototypisch oder in auffälliger Manier verwendet wird.“ Auf dieser Basis kann eine Sprecherin, ein Sprecher die eigene Haltung zu entsprechenden Gruppierungen kundtun und darlegen, sie wolle sich die Vielzahl der Ausdrucks- und Variationsmöglichkeiten nicht einschränken bzw. die Nicht-Verwendung einer Option nicht diktieren lassen. Wer sich so entscheidet, muss sich allerdings der Erinnerungs- und Zuschreibungsmacht fester Wortverbindungen bewusst sein, die nur bedingt von gegenwärtigen oder historischen in der Öffentlichkeit breit rezipierten Funktionsgruppen zu lösen ist. Manche Wörter haben Schibboleth-Wirkung, sie sind wie ein Erkennungszeichen für bestimmte Denkrichtungen oder Interessengruppen. Sich von einer solchen konventionalisierten Zuordnung abzusetzen, ist nicht einfach. „Vermeide das als ‘problembehaftet’ markierte Ausdrucksmuster und wähle eine alternative Formulierung. Achte darauf, dass diese Formulierung authentisch wirkt, also zum Sprecher passt - was nicht ganz trivial ist.“ Schließlich sind übliche und gängige Formulierungen als Ausdrucksmuster (vgl. „common sense-Kompetenz“ bei Feilke 1994) lexematisch oder syntagmatisch im Gemeinsprachgebrauch gespeichert, daher bedarf die bewusste Wahl einer relativ unbekannten Formulierung einer mit großer Sensibilität durchgeführten Überprüfung, ob der Rezipient vom gleichen Referenzobjekt bzw. Sachverhalt wie der Textproduzent ausgeht. Relativ neue Formulierungen bzw. Ausdruckskomplexe haben sich wegen der Seltenheit noch keine kognitiven Erkennungsbahnen im kollektiven Gedächtnis geebnet, was gegebenenfalls den Vorteil mit sich bringen kann, dass die Formulierung vom Rezipienten als individuell und mithin stilistisch positiv bewertet wird. Dessen ungeachtet kann - und sollte vielleicht - jeder Ratgeber auch noch seine persönliche Position kundtun, wenn sie gewünscht ist. Dabei ist allerdings darauf zu achten, dass der Ratsuchende sich bei der Meinungsfindung nicht voreilig an der Position des Ratgebers orientiert, weil es gegebenenfalls einfacher oder doch „sicherer“ (weil von einer Autorität vertreten) ist usw. Darüber hinaus kommen je nach Sprachexempel auch noch inhaltliche Gesichtspunkte hinzu - wie im Kontext des Lexems stolz beispielsweise die Frage, ob man auf etwas, was einem qua Geburt zufällt, stolz sein kann oder nur auf selbst Geleistetes. 1 Solche Überlegungen bzw. Streitfragen, inwiefern also 1 Vgl. die Ausführungen „Stolz darauf, ein (z.B.) Germanist zu sein“ von Hartmut Günther (2002) mit Bezug auf einen Beitrag von Ulrike Haß-Zumkehr im Sprachreport 2/ 2001 mit dem Titel „Die Grenzen des Stolzes der Deutschen“. Vgl. auch Kronauer (2001). 2) Linguistische Sprachkritik im Geiste linguistischer Aufklärung 169 bestimmte Bedeutungsaspekte zwingend zu einem Ausdruck gehören, helfen hier nur bedingt weiter, weil sie nicht intersubjektiv unumstritten lexikalisiert sind und im Rahmen von Korpusanalysen eine vielfältige Sprachgebrauchsumgebung (Kookkurrenz, Kollokation) zu Tage gefördert wird. Auch die Heranziehung von Wörterbüchern hilft diesbezüglich nur bedingt weiter, weil Wörterbücher in der Regel mit deskriptivem Anspruch kontextabstrahiert von ihnen als prototypisch eingeschätzte Verwendungsweisen aufführen und damit den entsprechenden Status zuweisen. Die oben genannte Grundstruktur der Antwort verwende/ vermeide das als problematisch vermutete Ausdrucksmuster unter Berücksichtigung bestimmter Hinweise lässt sich präzisieren. In einer Untersuchung (Felder 1995) zum Sprachgebrauch Theodor Heuss' und Konrad Adenauers in überwiegend epideiktischen Reden im Jahre 1919 und nach 1945 habe ich herausgearbeitet, welche sprachlichen Strategien der jeweilige Repräsentant liberaler bzw. konservativer Strömungen nach 1945 angewendet hat, um seine politischen Grundhaltungen nach der nationalsozialistischen Diktatur ausdrücken zu können. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die zeithistorische Forschung die politische Grundhaltung beider Politiker über die Jahrzehnte hinweg als konstant einschätzt (z.B. Möller 1990 über Theodor Heuss und Hans-Peter Schwarz 1986/ 1991 über Konrad Adenauer). Unter sprachstrategischen Gesichtspunkten ist nun auf der Basis dieser Voraussetzungen die Frage interessant, wie sich die beiden Repräsentanten - bei unterstellter Kontinuität ihrer politischen Grundhaltung - nach 1945 angesichts der nationalsozialistischen Katastrophe ausdrückten und mit sprachlichen infizierten Lexemen (z.B. „Macht“, „Masse“, „Führung“, „überfremdet“) und Syntagmen („deutsches Vaterland“ usw.) umgingen. Heuss und Adenauer wandten die folgenden Strategien an: Kontinuierliche Verwendung von Ausdruckskomplexen 1919 und nach 1945: Obgleich bestimmte Sprachformen durch den Nationalsozialismus (im Sinne der Politik und des Sprachgebrauchs der Funktionäre) als desavouiert betrachtet werden können, wurden diese weiterhin benutzt. Dieses Problem „infizierter“ Ausdruckskomplexe wurde dadurch zu relativieren versucht, dass eine Begriffsneubestimmung initiiert wurde, indem durch Attribuierungen und metasprachliche Kommentare einerseits eine Distanz zu den Begriffsprägungen im Nationalsozialismus und andererseits eine Wiederherstellung von Begriffsprägungen außerhalb des nationalsozialistischen Gedankenguts angestrebt wurde, wie Heuss und Adenauer sie 1) Ekkehard Felder 170 schon 1919 vornahmen. Das Lexem Macht wurde beispielsweise von beiden Politikern auch nach 1945 konstant weiterverwendet, allerdings stets mit kontextuellen Präzisierungsabsichten (Eigenzuschreibung) versehen, die eine Präzisierung des von den Rednern als unscharf eingeschätzten Begriffs zum Ziel hatten (Felder 1995, S. 134). Verwendung von zwei sinnverwandten Ausdrücken zwecks Begriffsabgrenzung und Begriffsaufspaltung: Zu dem Zweck, die als konstant positiv eingeschätzten Teilbedeutungen in einem Ausdruck weiter publik machen zu können (Eigenzuschreibung) und in einem anderen Ausdruck die im Begriffsumfeld als negativ eingeschätzten Teilbedeutungen ausdrücken zu können (Fremdzuschreibung), werden zwei Ausdrücke komplementär verwendet. Die pejorativ eingeschätzten Teilbedeutungen des anderen Ausdrucks werden anderen Gruppierungen zugeschrieben (Abwertung durch Fremdzuschreibung), um so Distanz zu dem Wort und dem damit referierten Sachverhalt zu markieren. Das Lexem Masse ist beispielsweise für Heuss 1919 rundum positiv besetzt und dient zum Verweis auf den Volkssouverän, welcher die neue politische Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg legitimiert. Nach 1945 wird das Lexem Masse stets kontextuell präzisiert, um diese Begriffskomponenten in den Vordergrund zu rücken. Die als durch den Nationalsozialismus desavouiert eingeschätzten Aspekte im Kontext des Wortgebrauchs Masse (etwa die Teilbedeutungen ‘lenkbar, unkritisch, unreflektiert, politisch verführbar’ usw.) überführt Heuss in das Lexem Vermassung, das nach 1945 zum Referieren auf diesen Sachverhalt benutzt wird (Felder 1995, S. 132). Beispielhaft in diesem Sinne ist weiterhin, dass für Heuss 1919 die Verwendung des Ausdrucks Führung von zentraler Bedeutung war (im Sinne einer für ihn positiv besetzten geistigen Vordenkerschaft, die vom zoon politikon nach kritischer Prüfung übernommen oder verworfen werden kann), er ihn nach 1945 jedoch beim Referieren auf diese Aspekte vermeidet. Da dieses Konzept in Heuss' politischem Denken weiterhin eine zentrale Rolle spielt, muss er diese Gesichtspunkte mithilfe eines anderen Ausdrucks vermitteln, und so verwendet er im Vergleich zu 1919 sehr häufig das Lexem Erziehung. In den untersuchten Reden werden Lexeme des Wortfelds Führung nur noch kontextuell mit distanzierendem Verweis auf den Nationalsozialismus gebraucht (Felder 1995, S. 130). Vermeidung eines Ausdrucks: In den Reden Theodor Heuss' im Jahre 1919 ist das Lexem Autorität von zentralem Stellenwert. Nach 1945 meidet Heuss das Wort (Felder 1995, S. 127). 2) 3) Linguistische Sprachkritik im Geiste linguistischer Aufklärung 171 Ein Blick auf diese Untersuchungsergebnisse vermag sprachliche Strategien zu präzisieren. Die Maxime verwende/ vermeide das als problematisch vermutete Ausdrucksmuster unter Berücksichtigung bestimmter Hinweise kann infolgedessen auf drei Sprachstrategien verdichtet werden: Kontinuierliche Verwendung von problematischen Ausdruckskomplexen bei gleichzeitiger Begriffspräzisierung durch Attribuierungen und metasprachliche Hinweise. Gebrauch von verschiedenen sinnverwandten Ausdrücken zwecks Begriffsabgrenzung und Begriffsaufspaltung zur Verlagerung positiv eingeschätzter Teilbedeutungen in einen Ausdruckskomplex und pejorativ bewerteter Teilbedeutungen in einen anderen Ausdruckskomplex. Vermeidung des als problematisch eingeschätzten Ausdruckskomplexes. 5. Der methodische Ansatz am Beispiel des „Sterbehilfe“-Diskurses Im letzten Jahrzehnt wurde in Deutschland - aber auch in anderen europäischen Ländern - die Diskussion entfacht, ob „Sterbehilfe“ legalisiert werden soll. 2 Zunächst muss metasprachlich die triviale, aber höchst problematische Feststellung in Erinnerung gerufen werden, dass auch jeder Sprachanalytiker bei der Erörterung sprachkritischer Themen in der Sprache „gefangen“ ist und nicht aus ihr „ausbrechen“ kann. Wenn ich im Folgenden den Terminus „Sterbehilfe“ verwende, dann nur deshalb, weil er als Erkennungszeichen dient. Mit der Verwendung des Ausdrucks behaupte ich nicht, dass er unumstritten intersubjektiv als angemessen akzeptiert wird. Dass dies nicht der Fall ist, werden Facetten der Diskussion noch zu Tage fördern, denn auch das Lexem Sterbehilfe wird kritisch in Frage gestellt. Um daher die Distanz zum Erkennungswort „Sterbehilfe“, mit dessen Hilfe ich auf die entsprechenden Referenzobjekte in der Welt und auf die Diskussion verweisen möchte, deutlich zu machen, verwende ich es durchgängig mit Distanzmarkern. In diesem Zusammenhang erweist sich das Konzept der Multiperspektivität als Substitut für das Desiderat der - vor allem außerhalb der Wissenschaft herbeigesehnten - Objektivität bzw. Neutralität als brauchbar. Bei der Frage 2 Eine öffentliche Diskussion über „Sterbehilfe“ (Euthanasie) steht in Deutschland oft im Kontext der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Herrschaft, als Menschen, die als „lebensunwert“ angesehen wurden, durch Ärzte getötet wurden. Die Lockerung der Vorschriften zur „Sterbehilfe“ in den Niederlanden und die Arbeit der deutschen Expertenkommission zur „Patientenautonomie am Lebensende“ haben die Diskussion belebt. 1) 2) 3) Ekkehard Felder 172 nach dem angemessenen Sprachgebrauch in Bezug auf einen (strittigen) Sachverhalt kann in verschiedenen Formulierungen eine je spezifische Perspektivität transparent gemacht werden (Referenzfixierungsversuch bei Wimmer 1979 und Sachverhaltsfixierungsversuch bei Felder (Hg.) 2006). Verdeutlicht man das Ringen um die Sache selbst (inhaltliche Auseinandersetzung) als auch um die angemessene sprachliche Formulierung im Paradigma des semantischen Kampfes (Felder (Hg.) 2006, S. 17), so ist die Perspektivität sprachlicher Zeichen (Köller 2004) von grundlegender Bedeutung. Unter „semantischem Kampf“ wird der Versuch verstanden, in einem Wissensbereich bestimmte sprachliche Formen als Ausdruck spezifischer, interessengeleiteter Handlungs- und Denkmuster durchzusetzen. Dies kann auf unterschiedliche Weise geschehen: mittels Benennungsfestlegungen oder Bedeutungs- und Sachverhaltsfixierungsakten. Dabei ist der semantische Kampf als impliziter oder expliziter Konflikt um die Angemessenheit von Versprachlichungsformen im Hinblick auf drei Betrachtungsweisen zu differenzieren: Ebene der Bezeichnungs- und Benennungstechniken: Mehrere Ausdrücke oder Ausdruckskomplexe lassen unterschiedliche Aspekte eines Sachverhalts vortreten (therapeutisches Klonen setzt den ‘Heilungsaspekt’ dominant, Forschungsklonen betont die Teilbedeutung, dass Forschung stets ‘ergebnisoffen’ ist (Zimmer 2006)). Ebene der Bedeutungen: Bei ein und demselben Ausdruck bzw. Ausdruckskomplex divergieren Akzentuierungen von Bedeutungsaspekten (Teilbedeutungen) (Globalisierung: Je nach politischer Ansicht des Sprechers werden je andere Bedeutungsnuancen im (Ko-)Text betont, so z.B. ‘Prozesse nicht lenkbar’ oder ‘chancenreich’ oder ‘risikoreich’). Vermeintlich identische oder tatsächlich identische Referenzobjekte werden unterschiedlich konstituiert - entweder bei gleichen Ausdrücken oder (vermeintlich) sinn- und sachverwandten Ausdrücken (Leitkultur und Metakultur konstituieren ähnliche, aber doch divergierende Sachverhalte). Mit Hilfe von Durchsetzungsversuchen von Benennungsfestlegungen als Handlungsmuster und/ oder im Dominant-Setzen bestimmter Teilbedeutungen bei Fachbegriffen und/ oder in der spezifischen idiomatisch geprägten Konstitution von Sachverhalten kann der semantische Kampf in einzelnen Wissenschaftsdisziplinen ausgetragen werden. Wer also den Ratsuchenden deutlich macht, dass mit jeder sprachlichen Zugriffsweise eine Zubereitung der so genannten Wirklichkeit einhergeht, der - - - Linguistische Sprachkritik im Geiste linguistischer Aufklärung 173 kann Diskurse als Versuche beschreiben, bestimmte Konzeptualisierungen in der Auseinandersetzung mit spezifischen sprachlichen Mitteln dominant zu setzen. Diese Konzeptausprägungen bezeichne ich als „handlungsleitende Konzepte“. 3 Eine erste und nicht flächendeckende Recherche in überregionalen Medien im Themenfeld „Sterbehilfe“ hat Ansätze von Sprachbewusstheit bei manchen Akteuren deutlich werden lassen. Der größte Teil der Diskutanten versucht allerdings implizit (auf jeden Fall ohne metasprachliche Hinweise), eigene Bezeichnungen oder Bedeutungs- und Sachverhaltsfixierungen durchzusetzen. Im Folgenden geht es mir nur um Textpassagen, in denen die Autoren den Sprachgebrauch metasprachlich thematisieren und eine Kontroverse führen (Sprachthematisierungen als Indikatoren reflexiven Sprachbewusstseins). Neben den inhaltlichen Argumenten versuchen demgemäß manche Protagonisten, die Ausdrucksweisen der Andersdenkenden zu problematisieren. Dies ist eine völlig legitime Vorgehensweise, welche die Perspektivierung der Weltausschnitte in Abhängigkeit der gewählten Ausdrucksweisen fokussiert und damit einen Beitrag zu mehr Sprachbewusstheit leistet (wie oben bereits dargelegt). Im Folgenden werde ich die sprachkritisch relevanten Diskursphänomene nach drei Kategorien getrennt vorstellen, welche die Autoren der Texte metasprachlich selbst problematisieren - also für erörterungsbedürftig erachten: Metasprachliche Hinweise zur Bezeichnungsproblematik. Metasprachliche Versuche, bestimmte Teilbedeutungen im Bedeutungskonzept zu fixieren. Metasprachliche Hinweise, bestimmte Lebenssachverhalte einzugrenzen. 5.1 Sprachkritische Anmerkungen auf der Bezeichnungsebene Der Streit um Benennungen lässt sich nachzeichnen, indem man die Lexeme, die von verschiedenen Lagern mit sprachreflexiven Hinweisen verwendet oder abgelehnt werden, auflistet. Dazu muss allerdings die folgende polare 3 Unter handlungsleitende Konzepte fasse ich - an Felder (1995) anknüpfend - die Konzepte bzw. Begriffe der sprachlichen Inhaltsseite, welche die Textproduzenten bei der Konstituierung und Vermittlung von Sachverhalten unbewusst verwenden oder bewusst versuchen durchzusetzen (Felder 1995, S. 3ff., 47ff.). In den spezifischen Konzept- und Begriffsausprägungen vermögen sich die referierten Sachverhalte zu unterscheiden. Solche Unterschiede können über Teilbedeutungen als Bedeutungsaspekte bzw. Akzentuierungen identifiziert werden. 1) 2) 3) Ekkehard Felder 174 Kategorisierung, die von allen Diskursteilnehmern in irgendeiner Weise aufgegriffen wird, in Erinnerung gerufen werden. Als gängige Definition von „aktiver Sterbehilfe“ (strafbar nach § 216 St GB „Tötung auf Verlangen“) gilt in der Regel „die gezielte oder zumindest wissentliche Verabreichung eines tödlichen Medikaments auf bzw. ohne ausdrückliches Verlangen des Patienten“ (Tag 2008). Unter „passiver Sterbehilfe“ versteht man im Unterschied dazu „die Nichtaufnahme oder Einstellung einer lebenserhaltenden ärztlichen Behandlung“, sie ist also durch ein Unterlassen gekennzeichnet (ebd.). Eine zu beobachtende Argumentationsstrategie ist die der sprachlichen Stigmatisierung, indem synonyme Versprachlichungsformen für „aktive Sterbehilfe“ aufgestellt werden. Die Argumentationslinie ist transparent: Der von der anderen Seite vorgeschlagene Sachverhalt lässt sich mit dem vom Autor vorgeschlagenen Lexem A oder Syntagma XYZ zutreffend beschreiben. Im Anschluss wird das Lexem oder Syntagma mit der Wortverbindung „aktive Sterbehilfe“ oder „Tötung auf Verlangen“ (St GB -Formulierung) gleichgesetzt. Mit dieser Festsetzung als Synonym gilt die Rechtswidrigkeit des Gedankens als nachgewiesen bzw. im umgekehrten Fall als widerlegt. Syntagmen und Lexeme, die in einer solchen Funktion in Presseartikeln verwendet wurden, lauten beispielsweise: „Hilfe zum Sterben“: Der Ausdruck „Hilfe zum Sterben“ wird unter anderem im Magazin Focus als beschönigende Redeweise für „aktive Sterbehilfe“ bezeichnet. „Das OLG nennt den Abbruch der Nahrungszufuhr ‘Hilfe zum Sterben’. Ein neuer Euphemismus für aktive Sterbehilfe, die bislang in Deutschland verboten war.“ (Focus, 27.7.1998, S. 34) „Aktive Beihilfe zur Selbsttötung“ (Die Zeit, 22.11.2007, S. 7), „Unterstützung beim Suizid“ (Die Zeit, 27.10.2005, S. 4), „verbrecherische Euthanasie/ Mord“ (Die Zeit , 8.12.2005, S. 17), „Suizidassistenz/ assistierter Suizid“ (General-Anzeiger 29.5.2007, S. 12): Was Minelli mit diesem Begriff [gemeint ist ‘Sterbebegleitung’, E.F.] bemänteln will, ist in Wirklichkeit eine aktive Beihilfe zur Selbsttötung: Dignitas besorgt das todbringende Gift, mit dem die zum Suizid Entschlossenen ihr Leben beenden können. (Die Zeit, 22.11.2007, S. 7) Hilfe beim Sterben ist streng zu unterscheiden von der Hilfe zum Sterben, also von der Unterstützung beim Suizid oder der aktiven Sterbehilfe. (Die Zeit, 27.10.2005, S. 4) - - Linguistische Sprachkritik im Geiste linguistischer Aufklärung 175 In den folgenden Beispielen wird die Gleichsetzung abgelehnt. Diese blöde Debatte, erbost sich Urban einmal. Unsere Geschichte, die Nazis, der millionenfache Judenmord, immer wieder die gleichen Totschlagsargumente, lächerlich sei das. Diese Menschen wurden bestialisch ermordet, ich treffe eine freie Entscheidung, ich habe doch ein Recht auf Selbstbestimmung, oder? Dass verbrecherische Euthanasie und humane Sterbehilfe in einem Atemzug genannt werden, empfindet er als Beleidigung. Allein schon das Wort ‘Mord’. Urban möchte kein Selbstmörder sein. Er wählt den Freitod, weil ihm die unheilbare Krankheit keinen Ausweg mehr lässt. Er hat gute Gründe, er hat die besten Gründe. (Die Zeit, 8.12.2005, S. 17f.) ‘Sterbehilfe verstehe ich ganz wörtlich als Hilfe für den Sterbenden, Hilfe im Sterben’, sagte Ostgathe, der sich klar von Sterbehilfe im Sinne von Beschleunigung des Todeseintritts auf ausdrückliches Verlangen des Patienten sowie assistiertem Suizid distanzierte. (General-Anzeiger, 29.5.2007, S. 12) Ein weiteres Lexem, nämlich Euthanasie, bedarf der genaueren Betrachtung. Es wird häufig in der Form eingesetzt, dass der Kontext der nationalsozialistischen Verwendungsweise (als der einzige bzw. dominante) impliziert wird und damit das Werturteil der Wortverwendung immanent ist („Euthanasie“ als durch den NS -Sprachgebrauch infiziertes Lexem, was ein Spezifikum der deutschen Debatte über Sterbehilfe darstellt). 4 Obgleich der [Gerichts-]Beschluß ‘nichts Neues gebracht hat’ (Schreiber), erregten sich die Gemüter. Eine ‘schleichende Aufweichung des Tötungsverbots’ sieht die grüne Bundestagsabgeordnete Monika Knoche, den ‘Dammbruch zur Euthanasie’ der Mainzer Bischof Karl Lehmann. (Spiegel, 31/ 1998, S. 178) Aber auch das Lexem Sterbehilfe wird sprachkritisch kommentiert und in der Kontroverse explizit in Frage gestellt. Das Problem, das Dignitas mit dem Etikett ‘Sterbebegleitung’ verdeckt, besteht darin, dass die Menschen, die den Verein in Anspruch nehmen, eben gerade nicht, noch nicht sterben würden, wenn Dignitas sie nicht ‘begleiten’ würde; deswegen ist selbst der Begriff ‘Sterbehilfe’ hier nicht wirklich angebracht. (Die Zeit, 22.11.2007, S. 7) Die Stuttgarter Nachrichten schreiben in diesem Sinne: Ihr war klar, dass sie auch über den letzten Gang selbst entscheiden, dass sie durchhalten will - zu Hause, bis zum Schluss. Heilen kann man Frau Stein auch dort nicht, aber man kann ihr Leid lindern, ihr zur Seite stehen. So wie sie 4 In diesem Zusammenhang ist auch die „Geschichte“ des Lexems Gnadentod zu berücksichtigen. Dieser Terminus wird als sinn- und sachverwandte Formulierung für „schöner, sanfter Tod“ (vgl. Euthanasie) verwendet. Der Ausdruck wurde jedoch ebenfalls in der NS -Propaganda missbraucht. Ekkehard Felder 176 es sich wünscht, so wie sie es aus ihren eigenen ehrenamtlichen Jahren in der Hospizbewegung kennt: mit Hilfe im Sterben statt mit Sterbehilfe. (Stuttgarter Nachrichten, 19.11.2005, S. 45) Eine weitere sprachliche Strategie ist die Verwendung der positiv konnotierten Ausdruckskomplexe, die als sinn- und sachverwandt zur Paraphrasierung herangezogen werden können. Beispiele für solche Ausdruckskomplexe sind „Hilfe beim Sterben“ (u.a. Die Zeit, 27.10.2005, S. 4; Süddeutsche Zeitung, 6.3.1995, S. 12; Focus, 19.9.1994, S. 26), „Hilfe im Sterben“ (u.a. taz, 25.5.1996, S. 14f.; Stuttgarter Nachrichten, 11.11.2005, S. 30; General-Anzeiger, 29.5.2007, S. 12) und „Sterbenlassen“ / „sterben zu lassen“ (Stuttgarter Nachrichten, 11.11.2005, S. 30; General-Anzeiger, 17.7.2006, S. 2). Diese Ausdrucksweisen verweisen begrifflich darauf bzw. modellieren den Sachverhalt dergestalt, dass der Sterbeprozess in irgendeiner Weise schon begonnen habe, und es sich nicht um Maßnahmen handele, die den Sterbeprozess erst einleiten (wie beim Syntagma „Hilfe zum Sterben“ konzeptualisiert). In dem folgenden, bereits zitierten Presseartikel wird der Organisation DIGNI- TAS - Menschenwürdig leben - Menschenwürdig sterben die Absicht zugeschrieben, das neue Lexem der Sterbebegleitung in den Diskurs einführen und zur Rechtfertigung der eigenen Auffassung durchsetzen zu wollen. Die Kontrahenten machen der Organisation schon das Wort streitig, um dadurch die Position und die Haltung selbst zurückzuweisen. Wie bei Minelli nicht selten, erschwert sein sprachliches Schwanken zwischen Beschönigung und Provokation dem unbefangenen Beobachter die Einordnung der Dinge. Natürlich ist eine ‘Sterbebegleitung’ nicht nur keinesfalls strafbar, sondern im Gegenteil sogar höchst erwünscht, wenn damit gemeint sein soll, einen Sterbenden auf seinem letzten Weg pflegerisch, persönlich und seelsorgerisch zu begleiten. Was Minelli mit diesem Begriff bemänteln will, ist in Wirklichkeit eine aktive Beihilfe zur Selbsttötung: Dignitas besorgt das todbringende Gift, mit dem die zum Suizid Entschlossenen ihr Leben beenden können. Damit ist noch kein Urteil gesprochen, aber beim Namen nennen sollte man die Dinge schon. Das Problem, das Dignitas mit dem Etikett ‘Sterbebegleitung’ verdeckt, besteht darin, dass die Menschen, die den Verein in Anspruch nehmen, eben gerade nicht, noch nicht sterben würden, wenn Dignitas sie nicht ‘begleiten’ würde; deswegen ist selbst der Begriff ‘Sterbehilfe’ hier nicht wirklich angebracht. (Die Zeit, 22.11.2007, S. 7) Auch die von vielen Protagonisten akzeptierte Ausdrucksweise der „passiven Sterbehilfe“ wird in einem Presseartikel kritisch kommentiert: Linguistische Sprachkritik im Geiste linguistischer Aufklärung 177 Wie der Ethikrat und Verrel kritisiert auch Kutzer die irreführende Terminologie. Es gehe nicht um ‘passive Sterbehilfe’, sondern darum, einen unheilbar kranken Menschen ‘sterben zu lassen’, wenn er das ausdrücklich wünscht. (General-Anzeiger, 17.7.2006, S. 2) Soweit die Darlegung der sprachlichen Strategien. Die Aufspaltung in verschiedene Ausdrücke geschieht also mittels polarer Wort- und Begriffsfelder: Jeder Diskutant versucht, die von ihm favorisierten Ausdruckskomplexe mit den entsprechenden positiv eingeschätzten Teilbedeutungen durchzusetzen (Eigenzuschreibung), die negativ eingeschätzten Bedeutungsnuancen werden in Versprachlichungsformen verpackt, die dem Andersdenkenden zugeschrieben werden (Fremdzuschreibung). Mit den soeben dargelegten Kriterien sind für Ratsuchende einige Orientierungspunkte benannt, anhand derer sie die zu ihrer Einstellung passenden Ausdrücke abwählen und Begriffspräzisierungen und Begriffsabgrenzungen vornehmen können. 5.2 Sprachkritische Anmerkungen auf der Begriffs- und der Bedeutungsebene Fragt man sich nun, wie ein Ratsuchender eine Begriffspräzisierung oder eine Begriffsabgrenzung vornehmen kann, so muss er sich der relevant gesetzten Teilbedeutungen bewusst sein (mit einfachen Anführungsstrichen markiert, z.B. ‘lenkbar’). In dem kleinen Diskursausschnitt, den ich bisher betrachtet habe, können die folgenden Teilbedeutungen des Konzeptes „Sterbehilfe“ zur Begriffsschärfung herangezogen werden. Gegner und Befürworter versuchen, bestimmte Teilbedeutungen von Konzepten dominant zu setzen, um für die eigene Position zu werben. Dabei wird das befürwortete Konzept mit positiv vermuteten Bedeutungsaspekten besetzt, während das Konzept der Gegenseite mit pejorativ eingeschätzten Bedeutungsnuancen in Verbindung gebracht wird. Die im Folgenden vorgestellten Teilbedeutungen können im Rahmen dieses Aufsatzes nicht ausgiebig mit Zitaten belegt werden. Dennoch ist die Relevanz der von mir als jeweils grundlegend etikettierten Teilbedeutung bei der Rezeption von Texten im „Sterbehilfe“-Diskurs ohne Schwierigkeiten überprüfbar. Dichotomisiert man den Diskurs zur Profilierung sprachlicher Auffälligkeiten in zwei Lager, so setzen die Anhänger einer sog. liberalen Regelung die in der Ekkehard Felder 178 linken Spalte aufgeführten Teilbedeutungen dominant, während die Befürworter sog. restriktiver Regelungen die Bedeutungsaspekte der rechten Spalte durchsetzen möchten (vgl. Tabelle 1). 5 ‘Selbstbestimmung des Individuums’ ‘Menschliche Selbstüberhöhung’ ‘Eigenverantwortlichkeit’,‘Entscheidungsfreiheit in Bezug auf den eigenen Tod’ ‘unzulässige menschliche Steuerung von eigentlich durch die Natur vorgegebenen Prozessen und Ereignissen’ ‘Mensch als Bestandteil der Natur darf selbstbestimmt steuern’ ‘Natur (ohne den Menschen gedacht) darf ausschließlich steuern (teleologisches Naturkonzept)’ ‘Bezug zum Nationalsozialismus unangemessen’ ‘Bezug zum Nationalsozialismus angemessen’ ‘unzulässige Fremdbestimmung im Deckmantel des Betroffenenwillens’, ‘Beschleunigung des Sterbeprozesses’ Tabelle 1: Diskurspositionen im Sterbehilfediskurs Dessen ungeachtet gibt es die folgenden Teilbedeutungen, die von beiden Seiten gleichermaßen für ihr jeweiliges Konzept - bei unterschiedlichen Meinungen - beansprucht werden: ‘Würde’, ‘Humanität’, ‘Menschlichkeit’ usw. 5.3 Sprachkritische Anmerkungen auf der Ebene der Sachverhaltskonstitution Um eine Position im Diskurs transparent machen zu können, müssen Sachverhalte in der Welt eingeschlossen und bestimmte Sachverhalte ausgeschlossen werden. Dieses Verfahren präzisierte Rainer Wimmer (1979) und nannte es „Referenzfixierungsversuche“. Mit ausdrücklichem Bezug darauf hat sich im Forschungsnetzwerk „Sprache und Wissen“ ( www.suw.uni-hd.de) die Redeweise von der „Sachverhaltsfixierung“ etabliert (besonders relevant etwa bei mit den menschlichen Sinnen nicht wahrnehmbaren Referenzobjekten wie sie z.B. dem Nanotechnologie-Diskurs zugrunde liegen (Zimmer demn.)). 5 Die neutrale Beschreibung beider Seiten ist so gut wie ausgeschlossen. Dennoch gilt charakteristischerweise für die sog. liberale Regelung, dass den Protagonisten und Betroffenen vielfältige Handlungsspielräume (Unterlassungshandlungen sind dabei mitgemeint) eröffnet werden sollen und dass die Patientenverfügungen, die lebensverlängernde Maßnahmen ausschließen, uneingeschränkt zu respektieren sind. Die Gegner einer solchen Haltung und damit Anhänger einer sog. restriktiveren Regelung treten für die Reichweitenbegrenzung von Patientenverfügungen ein. Linguistische Sprachkritik im Geiste linguistischer Aufklärung 179 Für den hier erörterten Zusammenhang sei zunächst das folgende Beispiel angeführt, in welchem der Autor ein Ereignis alltagsweltlich beschreibt und für den Rezipienten konstituiert, um im Anschluss festzustellen, dass der so konstituierte Sachverhalt nur unangemessen mit der rechtlich nicht sanktionierenden Bezeichnung „passive Sterbehilfe“ gefasst werden kann, sondern vielmehr mit der strafrechtlich einschlägigen (§ 216 StGB „Tötung auf Verlangen“) Bezeichnung „aktive Sterbehilfe“ versprachlicht werden müsste. Die Strategie ist klar nachvollziehbar. Nach alltagsweltlicher und alltagssprachlicher Einführung des Sachverhalts (in der sich selbstredend durch die Verwendung von Vokabeln wie „verhungern“ auch Einstellungen erkennen lassen) wird eine bestimmte Benennung als angemessen bezeichnet, aus der selbst die Ablehnung resultiert. Sollte sich der von ihm erkundete Willen der Kranken mit den Angaben ihrer Kinder decken, kann er die Entfernung der Magensonde genehmigen. Wochen bis Monate wird es dann noch dauern, so ist dem OLG -Urteil zu entnehmen, bis die 85-Jährige verhungert. Passive Sterbehilfe sei das nicht, sagt Rink, weil der Sterbeprozess noch nicht eingesetzt habe. Das OLG nennt den Abbruch der Nahrungszufuhr ‘Hilfe zum Sterben’. Ein neuer Euphemismus für aktive Sterbehilfe, die bislang in Deutschland verboten war. (Focus, 27.7.1998, S. 34f.) Bei der im Zitat vorgestellten Sachverhaltsfixierung interessiert vor allem die onomasiologische Herangehensweise, inwiefern also bestimmte Weltausschnitte (die vom Autor erst einmal paraphrasiert werden müssen) zur Extension von Bezeichnungsweisen zu zählen sind oder nicht. Dies geschieht in Ergänzung zu den oben beschriebenen semasiologischen Verfahren, in denen von der Benennung ausgehend über die Konzeptualisierung die Sachverhaltskonstitution reflektiert wird. In einem anderen Presseorgan findet sich das gleiche Muster. Es ist auch kein Zufall, dass es der Bundesgerichtshof war, der mit seinem 1994 gesprochenen Urteil im sogenannten ‘Kemptener Fall’ das ärztliche Standesrecht ignoriert und Rechtfertigungsgründe nicht nur für die Sterbehilfe (also die Hilfe im Sterben), sondern für die ‘Hilfe zum Sterben’ (also die Tötung eines Menschen, der sich nicht im Sterbeprozess befindet) anerkannt hat: Das Verhungernlassen einer Frau im Wachkoma, die auf künstliche Ernährung angewiesen ist, sollte demnach erlaubt sein, wenn die Frau ‘mutmaßlich’ in diesen Nahrungsmittelentzug eingewilligt hätte. (taz, 25.5.1996, S. 14f.) Der Autor dieses Artikels bemüht sich ebenfalls, mittels der Beschreibung eines Lebenssachverhalts (hier mit der pejorativen Bezeichnung „Verhungernlassen“ ausgedrückt) eine Dichotomie der Kategorisierung plausibel darzule- Ekkehard Felder 180 gen. Der umstrittene Sachverhalt in der Welt (gemeint ist das Einstellen der Ernährungsmaßnahmen - die lebenserhaltende ärztliche Behandlung darstellen) wird im semantischen Kampf entweder in der negativen etikettierten Kategorie „Hilfe zum Sterben“ (der Sterbeprozess hat bei dieser Bezeichnung noch nicht begonnen und wird durch Außenstehende initiiert) oder in der - vom Autor - positiv deklarierten Kategorie „Hilfe im Sterben“ ausgedrückt. Abschließend sei die sprachliche Strategie exemplifiziert, in der ein vom Verfasser befürworteter Sachverhalt in der Welt explizit nicht mit einer rechtlich sanktionierenden Bezeichnung (hier „aktive Sterbehilfe“) in Verbindung gebracht werden soll. Es ist nämlich weniger das Recht, es ist eher ihr Nichtwissen vom Recht, das den Ärzten zu schaffen macht; viele von ihnen glauben fälschlicherweise, es sei aktive Sterbehilfe, ein Gerät abzustellen. Deshalb missachten sie die Patientenverfügung. (Süddeutsche Zeitung 3.11.2007, S. 7) 6. Das Lexem Endlösung in sprachkritischem Kontext Geht es bei der Frage nach der Verwendbarkeit des Syntagmas stolz darauf, ein Deutscher zu sein im Kern darum, ob und wie sich ein Sprecher der Schibboleth-Wirkung dieser Zeichenkette als Muster-Syntagma für bestimmte politische Gruppierungen entziehen kann, so ist die Problematik in Bezug auf die Verwendung des Lexems Endlösung außerhalb der NS -Ideologie und NS -Politik eine andere. Die Frage lautet: Soll das Lexem Endlösung für ein singuläres Referenzobjekt bzw. einen einzigartigen Sachverhalt „reserviert“ bleiben? Oder „darf“ man mit diesem Lexem auch auf Sachverhalte in der Welt verweisen, die nichts mit den auf der Wannsee-Konferenz 1942 geplanten Maßnahmen zu tun haben? Und welche Auswirkungen hätte eine solche Verwendung außerhalb des historischen Kontextes für die Erinnerungskultur, die schließlich auf die zur Auswahl stehenden sprachlichen Mittel angewiesen ist? Im Folgenden möchte ich aufzeigen, dass diese Frage ein vielschichtiges Potenzial an Sprachreflexion in sich birgt. Ein sprachkritischer Vorwurf betrifft nämlich den gedankenlosen Umgang mit dem Lexem Endlösung, das im Nationalsozialismus in dem Euphemismus Endlösung der Judenfrage zu trauriger Berühmtheit gelangte. Der Klage zufolge ließen sich vor allem im mündlichen Sprachgebrauch immer wieder Beispiele für die Verwendung des Ausdrucks Endlösung ohne distanzierende Markierung finden (z.B. werde ein aus mehreren Teillösungen sich zusammensetzendes Ergebnis als „Endlösung“ bezeichnet). Eine Recherche ergibt, dass nicht nur Jugendliche (wie es vereinfachend Linguistische Sprachkritik im Geiste linguistischer Aufklärung 181 immer wieder heißt) dieses Lexem völlig unreflektiert in anderen Kontexten als dem nationalsozialistischen verwenden, sondern auch Redakteure in sog. seriösen Zeitungen (wenn auch selten). Wenige Beispiele mögen dies belegen. Die Amerikaner geben sich ungerührt. Alle anderen jammern. Derweil sieht ein deutscher Devisenhändler die Endlösung aller Dollar-Probleme schon fast gekommen - mit Hilfe der Bundesbank, die Hunderte von Dollarmillionen gekauft hat, um den Kurs zu stützen. (Die Zeit, 10.03.1978, S. 24 ) Ein Textbeleg im juristischen Kontext unterteilt gedanklich den Lösungsweg in Etappen, die sich in Teile und ein Endergebnis aufspalten: Innerhalb eines halben Jahres sollte die Erbfolgeplanung mit allen Komponenten (Güterrechtsvereinbarung, Gesellschaftsvertrag mit Zwischen- und Endlösung, Schenkungen in vorweggenommener Erbfolge, Pflichtteilsverzichte von Kindern, Ehegatten und Eltern, Eheverträge der Kinder und so weiter) stehen. (Welt am Sonntag, 13.5.2001, S. 60) Wenn das Lexem Endlösung unter Vernachlässigung des historischen Kontextes in den Gemein- und Alltagssprachgebrauch integriert würde, dann hätte dies Konsequenzen für die - sich in Sprachhandlungen vollziehende - Erinnerungskultur. Denn die Protagonisten des Erinnerns können sich in einem solchen Fall nicht mehr auf Lexeme mit singulärem Referenzbereich stützen, sondern müssten beim Referenz- und Sachverhaltsfixierungsakt die Lexeme je neu situieren. Eine ausführliche Diskussion muss an dieser Stelle leider unterbleiben. 7. Fazit und Schlussbemerkungen Das Fazit möchte ich unter das folgende Motto stellen: Jeder sprachkritische Fall mit einer Entscheidung für einen Ausdruckskomplex (bei mehreren Optionen) ist stets eine Stellungnahme im semantischen Kampf und kann unter Gesichtspunkten der „Phänomene der dritten Art“ gesehen werden (Keller 1990). Je mehr Sprachteilnehmer aus individuellen Motiven und Intentionen eine bestimmte Ausdrucksweise verwenden, desto eher kann sie in die kollektive Versprachlichungspraxis eingehen. Wer die mit den Benennungen einhergehenden Implikationen zurückweisen will, muss unter anderem die sprachliche Zugriffsweise - also die Zubereitungsfunktion der Sprache (Jeand'Heur 1989) beim Referieren auf die Welt - in die Kontroverse mit aufnehmen. Zu berücksichtigen ist bei jeder Meinungsbildung, dass sowohl semasiologische Verfahren als auch onomasiologische Verfahren eine Rolle spielen. Ekkehard Felder 182 In einem Diskurs werden wir mit der regelhaften Zeichenverwendung im Sinne Wittgensteins konfrontiert und erfahren die In-Bezug-Setzung von Zeichen zu Sachverhalten in der Welt als (kollektive) Praxen. Auf der anderen Seite erleben wir Sachverhalte außersprachlich und suchen in Kenntnis des Sprachrepertoires und seiner Gebrauchsoptionen nach adäquaten Formulierungen, die bisher in den Sprachpraxen unüblich waren oder die sich an bestehende Formulierungsmuster bestimmter Gruppierungen anlehnen. Grundlage der Fragen von Ratsuchenden gegenüber Sprachexperten ist normalerweise der Wunsch nach Orientierung in Form von Normen, die desto eher akzeptiert sind, als je weniger strittig sie wahrgenommen werden. In diesem Bedürfnis spiegelt sich der Wunsch nach Objektivität wider, dass nämlich bei aller Relativität der vielfältigen Wertefragen doch zumindest das Medium Sprache keine weiteren Spielräume eröffnen mag und nicht zu Entscheidungen zwischen Ausdrucksalternativen zwingen soll. Diesem Wunsch kann man als seriöser Sprachwissenschaftler nicht bzw. nur insofern gerecht werden, als man dem Sprachbenutzer Handlungsoptionen mit Kriterien anbietet, anhand derer er eigenverantwortlich eine Entscheidung treffen kann. In Bezug auf das Themengebiet „Sterbehilfe“ kann die Frage eines Ratsuchenden wie folgt aussehen: In welcher Form soll ich mich ausdrücken, wenn ich mich nicht von einer Seite vereinnahmen lassen möchte? Die Antworthinweise lauten unter Berücksichtigung der drei Sprachstrategien: Verwendung der Ausdruckskomplexe: Wenn als problematisch betrachtete Ausdrücke wie Sterbehilfe oder Sterbebegleitung verwendet werden, so empfiehlt es sich metasprachlich darauf hinzuweisen, die eigene Verwendungsweise des Ausdrucks (zustimmend oder abgrenzend) zu markieren im Hinblick auf die Verwendungsweise bekannter Interessengruppen im Diskurs. Gebrauch von verschiedenen sinnverwandten Ausdrücken zwecks Begriffsabgrenzung und Begriffsaufspaltung zur Verlagerung positiv eingeschätzter Teilbedeutungen in Ausdruckskomplex 1 und pejorativ bewerteter Teilbedeutungen in Ausdruckskomplex 2. Vermeidung der als problematisch eingeschätzten Ausdruckskomplexe: Bei der Entscheidung ausschließlich für diese sprachliche Strategie müsste der Sprachbenutzer mit Paraphrasierungen arbeiten. Die Gefahr, auf Grund der Verwendung bestimmter Erkennungswörter zu einer bestimmten Gruppierung gezählt zu werden, wäre dadurch zwar minimiert, allerdings wäre 1) 2) 3) Linguistische Sprachkritik im Geiste linguistischer Aufklärung 183 der Formulierungsaufwand erheblich höher und müsste hinsichtlich Präzision, Ökonomie und Verständlichkeit überdies in einer Form gelingen, die vom Rezipienten als authentisch für den Sprecher gewertet wird. Unabhängig davon, welcher einzelnen sprachlichen Strategie, bzw. welcher Kombination von Strategien der Sprecher den Vorrang gibt, entscheidend ist (wie bei jeder Sprachuntersuchung auch) die konsequente Trennung von Beschreibungsebene und Beurteilungsebene (Felder 1995, S. 52). In diesem Sinne sollte so gut wie möglich zwischen Werturteilen in der Sache und ihren Versprachlichungsformen unterschieden werden (Dieckmann 2006). Linguistisch reflektierte Sprachkritik sollte auch beim relativ selbstbestimmten Auffinden von Handlungsoptionen unterstützen und mögliche Wirkungen von Form-Funktions-Zusammenhängen aufzeigen. Somit stellt sie ein Hilfsangebot für Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer im Sinne einer linguistischen Aufklärung zur Verfügung. 8. Literatur Bär, Jochen (2002): Darf man als Sprachwissenschaftler die Sprache pflegen wollen? Anmerkungen zu Theorie und Praxis der Arbeit mit der Sprache, an der Sprache, für die Sprache. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 30, S. 222-251. Coseriu, Eugeniu (1970): Sprache, Strukturen und Funktionen. Tübingen. Dieckmann, Walter (1988): Aufklärung vom ideologischen Sprachgebrauch. In: Ammon, Ulrich/ Dittmar, Norbert/ Mattheier, Klaus J. (Hg.): Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. (Handbuch zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Bd. 3.2) Berlin/ New York, S. 1779-1789. 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Da aber dem Beiträger selbst über die Jahre hinweg und gelegentlich Vorüberlegungen seitens des Jubilars zu einem großen Projekt Lexikon der Sprachkritik zu Ohren gekommen sind, und da er weiß, dass zwar Ansätze und Notizen dazu vorhanden sind, aber mit dem Werk noch nicht begonnen wurde, übernimmt er die Aufgabe, eine vorbereitende grundlegende Konzeption für dieses Lexikon inklusive der Ausarbeitung von vier Lemmata als Prototypen vorzulegen. Dieser konzeptionelle Beitrag zur Festschrift für Rainer Wimmer möge den Jubilar ermutigen, das lange in Gedanken gehegte und gepflegte Projekt jetzt, nach seiner Emeritierung, zu verwirklichen. An Unterstützung soll es ihm dabei nicht mangeln. 2. Begründung Die germanistisch-linguistische Sprachkritik ist in keinem guten Zustand, weder theoretisch noch praktisch. (Wimmer 1982, S. 290) Leider hat sich an Rainer Wimmers negativem Urteil, das er vor einem Vierteljahrhundert apodiktisch verlauten ließ - sieht man von einer Hochphase der linguistischen Sprachkritik bis zum Ende der 1980er Jahre ab - bisher nicht viel geändert. Ein Lexikon der Sprachkritik, das ordnend und klärend in den kaum noch überschaubaren Bereich der Sprachkritik eingreift, um den Zustand zu verbessern, und das zugleich Grundlage für weitere Forschung sein wird, tut also not. Horst Schwinn 188 Geht man auf dem Weg der Sprachkritik vor Wimmer noch einige Jahrzehnte weiter zurück, gelangt man unweigerlich zu Fritz Mauthner, dem Begründer der modernen (philosophischen) Sprachkritik. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts legte dieser das voluminöse Fundament für die heute in verschiedenen Facetten schillernde Sprachkritik. Er formulierte allerdings auch verschiedentlich ein ähnlich frustrierendes, die Erkenntnisfähigkeit durch Sprachkritik betreffendes Statement: Wer Sprachkritik treiben will, ernsthaft und radikal, den führen seine Studien unerbittlich zum Nichtwissen. [...] Ein System also kann Sprachkritik nicht sein, ihrem Wesen nach nicht. (Mauthner 1923, Bd. 1, S. XIV f.) Denn Sprachkritik oder Denkkritik oder Erkenntniskritik wäre nicht Wissenschaft der Wissenschaften oder das Wissen vom Wissen, wenn sie die Resignation, die sie allen Wissenschaften auflegt, nicht von sich selbst verlangen würde. (Mauthner 1923/ 24, Bd. 1, S. XV ) Was für Mauthner vor fast 100 Jahren Gültigkeit hatte, gilt auch heute noch, sogar mit einer noch größeren Berechtigung. Mauthner gelang es nicht, das Feld der Sprachkritik in dem Sinne zu kultivieren, als dass uns alle Formen und Vorstellungen der Sprachkritik klar vor Augen lägen. Er hat nur seine besondere erkenntnistheoretische Form den schon bestehenden früheren Formen hinzugefügt und dafür gesorgt, dass die Sprachkritik populärer wurde. Was seitdem fast 100 Jahre unkontrolliert weiter wucherte, soll nun mit dem hier zu beschreibenden Werk zu einer wohlstrukturierten Kulturlandschaft geordnet werden. Die Strukturierung der Sprachkritik ist insofern ein schwieriges Unterfangen, als es viele verschiedene Strömungen innerhalb der Sprachkritik gibt bzw. gegeben hat. Das Lexikon der Sprachkritik wird die unterschiedlichen Formen der Sprachkritik nicht nach inhaltlichen Kriterien, sondern in alphabetischer Reihenfolge ordnen; die Querverweise ermöglichen es, die vielfältigen Bezüge zwischen den Formen, den dazugehörigen Autoren, den sprachkritischen „Produkten“ und den „Hilfsbegriffen“ im sprachkritischen Zusammenhang zu verstehen. Nicht die diversen Abgrenzungsversuche der einzelnen Formen der Sprachkritik gegeneinander sind relevant - relevant ist der Versuch, eine umfangreiche Beschreibung des sprachkritischen Feldes zu geben. Eine Einschränkung bei der Lemmaauswahl wird es nicht geben. Alle Formen der Sprachkritik und der damit verbundenen Aspekte sollen aufgenommen werden, dabei spielt es auch keine Rolle, ob die betrachteten Formen einen wissenschaftlichen Anspruch an sich selbst stellen oder auch nicht. Das hat zur Folge, dass auch populärwissenschaftliche Formen der Sprachkritik, die zur Zeit virulent sind, berücksichtigt werden. Der Grad der Wissenschaft- Das Lexikon der Sprachkritik 189 lichkeit der dargestellten Form der Sprachkritik wird sich womöglich in der Länge der jeweiligen Artikel niederschlagen. Der Anspruch des Lexikons der Sprachkritik allerdings ist in dem hohen Maße wissenschaftlich, wie innerhalb der Sprachwissenschaft der Maßstab der Wissenschaftlichkeit an ein lexikologisch-lexikografisches Projekt angelegt wird. Darüber hinaus wird sich das Lexikon der Sprachkritik in seiner vielseitigen Beschreibung sprachkritischer Phänomene nicht auf die jüngste Zeit beschränken, sondern sowohl synchron als diachron vorgehen, um alle unterschiedlichen Strömungen der Sprachkritik berücksichtigen zu können. Ganz besondere Aktualität erfährt das Vorhaben durch die in allerjüngster Zeit um das Thema Sprachkritik geführten Diskurse. Es handelt sich dabei einerseits um das neue Aufkommen einer journalistischen Sprachkritik, die Kritik von Fachwissenschaftlern und Zustimmung großer Rezipientengruppen erfährt. Kritik widerfährt dieser Form der Sprachkritik von Seiten der Wissenschaft, weil die besagte Form der Kritik zu wenig oder überhaupt nicht wissenschaftlich ist. Zustimmung erhält sie von einer breiten Öffentlichkeit, weil sie unterhaltend ist und die allgemeinen Auffassungen über die vermeintlich aus dem Ruder gelaufene Grammatik und Rechtschreibung nährt. Andererseits handelt es sich auch um neue Positionierungsversuche innerhalb der Sprachwissenschaft, die der Klärung dienen sollen, wie das Zusammenspiel von Sprachkritik und Sprachwissenschaft künftig aussehen sollte. Der darüber entstandene wissenschaftliche Diskurs hat um den Jahrtausendwechsel herum eingesetzt und ist bis heute noch nicht abgeschlossen. Eine Diskussion um die Positionierung von Sprachkritik inner- oder außerhalb der Sprachwissenschaft gab es schon einmal vor 40 Jahren, als mit dem Streit um die Sprachkritik das Fundament für eine linguistisch begründete Sprachkritik gelegt wurde. Für die linguistische Nachwelt ist dieser Streit um die Sprachkritik ab der dritten Auflage des „Wörterbuchs des Unmenschen“ 1 dokumentiert. Der Rezipientenkreis des Lexikons der Sprachkritik wird groß sein: Das Lexikon richtet sich an das wissenschaftliche Publikum, das sich mit Sprachkritik beschäftigt, an Lehrende und Lernende der Linguistik und Sprachphilosophie und auch an eine größere Öffentlichkeit, die sich für Sprachkritik im weitesten Sinne interessiert. 3. Vorarbeiten zu einem Lexikon der Sprachkritik Als Vorläufer des Lexikons kommt nur ein umfassendes Werk in Frage: das „Wörterbuch der Philosophie“ von Fritz Mauthner (1923/ 24). Das mag ver- 1 Siehe unten die exemplarische Lemmaausarbeitung Horst Schwinn 190 wundern, da der Titel eine andere Ausrichtung als die der Sprachkritik impliziert. Die Verwunderung wird relativiert, wenn man den Untertitel des Werkes berücksichtigt: „Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache“. 2 Tatsächlich ist das „Wörterbuch der Philosophie“ von Fritz Mauthner alphabetisch angelegt, die Auswahl der Lemmata ist aber subjektiv. Sie decken keinesfalls den klassischen Bereich der Philosophie ab. Dies ist Mauthner bewusst, es ist sogar von ihm gewollt: Persönlich ist die Auswahl der Wörter oder Begriffe geworden, deren Geschichte und Kritik ich vorlege. (Mauthner 1923/ 24, Bd. 1, S. XII ) Das „Wörterbuch der Philosophie“ ist eine Art Nachbereitung seines dreibändigen Werkes „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“, das er in den Jahren 1901/ 02 abgeschlossen hatte, und das auch seine erste Hinwendung zur Sprachphilosophie darstellte. Es ist einerseits eine Essenz aus seinen früheren und neueren Überlegungen zur Sprachkritik: [...] weil ich so in diesem Wörterbuche die Ideen meiner Kritik der Sprache weiter ausbaue, [...] (Mauthner 1923/ 24, Bd. 1, S. XII ), und es stellt andererseits getreu eines Grundpostulats seiner Sprachphilosophie: [...] die Geschichte ist die wahre Kritik jedes Wortes (Mauthner 1923/ 24, Bd. 1, S. XIII ) ein „begriffsgeschichtliches Lexikon“ 3 dar, das die „brauchbaren Begriffe“ von den „Scheinbegriffen“ scheiden will. 4 [...] und die Sprachkritik darf nicht müde werden, immer wieder die neuesten Scheinbegriffe zu bekämpfen, denen in er Wirklichkeitswelt nichts entspricht [...] (Mauthner 1923/ 24, Bd. 1, S. CXXX ) In die Begriffskritik eingewoben enthält das Wörterbuch fein verzweigte Exkurse in die Geschichte der Sprachphilosophie. 2 Landauer äußerte in der Anfangsphase des Wörterbuchs Bedenken gegen den Titel (Landauer an Mauthner (Briefwechsel, 6.6.1909)): „Den Titel habe ich mir durch den Kopf gehen lassen und glaube, er wird leichter gehen, wenn der Untertitel zum Obertitel wird; etwa so Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache in einem Wörterbuch.“ 3 Landauer an Mauthner (Briefwechsel, 5.10.1907) 4 Mauthner (1923/ 24, Bd. 1 , S. CXXVI ) vgl. auch Schwinn (2006) Das Lexikon der Sprachkritik 191 Nun soll aber das „Philosophische Wörterbuch“ Mauthners hier nicht Gegenstand der Betrachtung sein; diesem wird als einem sprachkritischen Produkt im Lexikon der Sprachkritik ein eigener Eintrag mit angemessener Aufmerksamkeit gewidmet werden. Das Lexikon der Sprachkritik als ein Wörterbuch der Sprachkritik sollte nicht verwechselt werden mit einem sprachkritischen Wörterbuch. Sprachkritische Wörterbücher gibt es im Bereich der feuilletonistischen Sprachkritik zuhauf. Diese Wörterbücher haben eigentümliche wie eingängige Titel, z.B.: „Lexikon der populären Sprachirrtümer“, „Wörterbuch der überflüssigen Anglizismen“, „Lexikon der bedrohten Wörter“, „Lexikon der Unwörter“, „Wörterbuch des Gutmenschen“. Ein berühmtes sprachkritisches Handbuch war Wustmanns „Allerhand Sprachdummheiten“, das bis 1966 mit belehrenden Worten über eine vermeintliche stilistische und sprachliche Richtigkeit die 14. Auflage erreichte. Auch das bekannteste sprachkritische Wörterbuch, das „Wörterbuch des Unmenschen“, ist ein sprachkritisches Wörterbuch, es fällt allerdings aus dem eben beschriebenen Rahmen, da es eine besondere Rolle in der Geschichte der Sprachkritik gespielt hat. 5 4. Konzeption und Lemmaauswahl Synchron und diachron gibt es keine Beschränkung des Explanandums. Alle Phänomene der Sprachkritik sollen im Wörterbuch der Sprachkritik beschrieben werden. Zu den Phänomenen gehören sämtliche Ausformungen und Theorien der Sprachkritik. Dazu zählen auch Personen oder Personengruppen, die sich wissenschaftlich oder populärwissenschaftlich mit Sprachkritik beschäftigt haben und Relevantes dazu zugänglich publiziert haben. Zu den Phänomen der Sprachkritik sind auch sprachkritische Produkte unterschiedlichster Form zu rechen. Hierzu können schriftliche Werke zur Sprachkritik gezählt werden, die von Einzelpersonen oder mehreren Personen produziert werden bzw. wurden. Wichtige Sammelbände und Periodika mit sprachkritischem Inhalt sind nennenswerte Produkte der Sprachkritik. Als letzte Kategorie wird das Heer der (linguistischen) Hilfsbegriffe aufgenommen, die die praktische Sprachkritik mit der Sprachwissenschaft verknüpfen. Es werden also für eine sinnvolle Beschreibung aller Phänomene der Sprachkritik vier unterschiedliche Artikeltypen angenommen. Die Artikeltypen sind inhaltlich begründet und klar von einander abgrenzbar. Es handelt sich um Darstellungen von: 5 Vgl. den exemplarischen Artikel des Wörterbuchs der Sprachkritik unten. Horst Schwinn 192 Theorien bzw. Formen der Sprachkritik (z.B. linguistisch begründete Sprachkritik, philosophische Sprachkritik, feuilletonistische Sprachkritik, erkenntniskritische Sprachkritik, ... ); Personen und Personengruppen, die als Sprachkritiker oder Sprachpfleger Bedeutung haben oder hatten, bzw. die mit Theorien und/ oder Formen der Sprachkritik als deren wichtige Vertreter in Verbindung gebracht werden (z.B. die Fruchtbringende Gesellschaft, Joachim Heinrich Campe, Gustav Wustmann, Fritz Mauthner, Peter von Polenz, Rainer Wimmer, Hans Jürgen Heringer, Walther Dieckmann, ... ); sprachkritischen Produkten der Vertreter der unterschiedlichen Formen der Sprachkritik, auch sprachkritische Periodika (z.B. „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“, „Die Fackel“, „Wörterbuch des Unmenschen“, „Plastikwörter“, Homepage der Mauthner-Gesellschaft, „Aptum - Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur“, ... ); sprachwissenschaftlichen Termini, die in der Diskussion um die Sprachkritik immer wieder auftreten bzw. für die sprachkritische Praxis relevant sind (z.B. Gebrauchstheorie, Sprechakttheorie, Textverlaufsanalyse, das Mitgemeinte, Diskurs, Gesprächsanalyse, ... ). Die Lemmaliste und die Länge der jeweiligen Artikel und alle weiteren konzeptuellen Aspekte werden von den künftigen Herausgebern des Lexikons festgelegt. 5. Literatur Briefwechsel (1890-1919 [1994]): Gustav Landauer - Fritz Mauthner, Briefwechsel 1890-1919. Bearbeitet von Hanna Delf. München. Mauthner, Fritz (1923): Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1-3. 2. Aufl. Leipzig. Mauthner, Fritz (1923/ 24): Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1-3. 2. Aufl. Leipzig. Schwinn, Horst (2006): Die adjektivische, die substantivische und die verbale Welt - Zur Drei-Welten-Theorie von Fritz Mauthner. In: Breindl, Eva/ Gunkel, Lutz/ Strecker, Bruno (Hg.): Grammatische Untersuchungen, Analysen und Reflexionen. Festschrift für Gisela Zifonun. Tübingen, S. 617-631. Wimmer, Rainer (1982): Überlegungen zu den Aufgaben und Methoden einer linguistisch begründeten Sprachkritik. In: Heringer, Hans Jürgen (Hg.): Holzfeuer im hölzernen Ofen. Tübingen, S. 290-313. 1) 2) 3) 4) Das Lexikon der Sprachkritik 193 Das Wörterbuch der Sprachkritik - exemplarische Ausarbeitung - linguistisch begründete Sprachkritik (Artikeltyp 1) Mauthner, Fritz (Artikeltyp 2) Wörterbuch des Unmenschen (Artikeltyp 3) Textverlaufsanalyse (Artikeltyp 4) l inguistisch begründete Sprachkritik Die Bezeichnung linguistisch begründete Sprachkritik geht auf einen der Hauptvertreter der wissenschaftlichen linguistischen Sprachkritik → Rainer Wimmer zurück. Rainer Wimmer und → Hans Jürgen Heringer, beides Schüler → Peter von Polenz', sorgten in den 1980er Jahren dafür, dass die Sprachkritik innerhalb der Sprachwissenschaft als eine neue Teildisziplin etabliert wurde. Linguistisch begründete Sprachkritik ist ein Teilbereich der Pragmatik, da sie tatsächlichen Sprachgebrauch im kommunikativen Zusammenhang untersucht. Dabei muss sie sich semantische Theorien zu Nutze machen, sie kann lexikologisch betrieben werden, wenn ihre Resultate als Begriffskritiken ( → kontroverse Begriffe) in Hand- oder Wörterbuchform erscheinen und bedient sich grammatischer Theorien, um der → „Kunst-des-zwischen-den-Zeilen-Lesens“ zu frönen, d.h. die sprachlichen Ausdrücke und die Syntax in Relation zum (Mit-)Gemeinten setzen zu können. In Abgrenzung zu anderen → Formen der Sprachkritik - wie z.B. → philosophische Sprachkritik, → feuilletonistische Sprachkritik, → Stilkritik - beruft sich die linguistisch begründete Sprachkritik auf sprachwissenschaftliche Theorien und Methoden. Die linguistisch begründete Sprachkritik ist die einzige → Form der Sprachkritik, deren Begründungsverhältnis sprachimmanent ist und eine linguistische Fundierung besitzt. Diachron betrachtet sind im Wesentlichen zwei Aspekte für das Entstehen der linguistisch begründeten Sprachkritik verantwortlich. Nach dem → Streit um die Sprachkritik Ende der 1960er Jahre im Zusammenhang mit dem → Wörterbuch des Unmenschen musste sich die Sprachkritik, die nicht → feuilletonistische Sprachkritik betreiben und sich auf linguistische Theoriebildung berufen wollte, zwischen den beiden Polen Journalismus und linguistischem Strukturalismus positionieren. Die linguistisch begründete Sprachkritik kann nur im Zusammenhang mit der Hinwendung der Sprachwissenschaft zu sprachpragmatischen Ansätzen ab den 1970er Jahren gesehen werden. Diese Hinwendung ermöglichte es der linguistisch begründeten Sprachkritik, zwischen linguistischer Strukturbetrachtung und gesellschaftspolitischem Anspruch zu vermitteln. In diesem Zusammenhang sind auch die wichtigen Einflüsse zu sehen, die sie durch die sprachanalytische Philosophie erfahren hat. Sprachhandlungstheorien und die → Gebrauchstheorie a) b) Horst Schwinn 194 → Wittgensteins, die → Sprechakttheorie Austins und Searles haben implizit und explizit in die meisten linguistischen sprachkritischen Überlegungen und Konzepte Einfluss gefunden. Die linguistisch begründete Sprachkritik benötigt einen Ausgangspunkt für ihr Wirken. Dieser Ausgangspunkt ist - laut von Polenz und Wimmer - der → Sprachnormenkonflikt in der kommunikativen Auseinandersetzung. Kommunikationskonflikte als Sprachnormenkonflikte entstehen, wenn Kommunikationsbeteiligte (Individuen oder Institutionen) versuchen, die Regeln ihres eigenen Sprachgebrauchs zur allein gültigen Norm zu erheben. Die Auseinandersetzung über konfliktäre Sprachnormsetzung ist Basis für das Eingreifen der linguistisch begründeten Sprachkritik. Sprachkritik wird zur Sprachnormenkritik. Normen des Sprachgebrauchs sind der zentrale Gegenstand der Sprachkritik. (Wimmer 2003, S. 420) Linguistisch begründete Sprachkritik will in ihrer praktischen Anwendung zur (sprachlichen) Aufklärung beitragen und geht dabei in folgenden Schritten vor: (i) Kennzeichnung der auftretenden bzw. zum Ausdruck kommenden Kommunikationsschwierigkeiten oder Kommunikationskonflikte; (ii) Bestimmung der Ziele und der Relevanz einer sprachkritischen Analyse; (iii) Kennzeichnung der im Hinblick auf (i) sprachlich wichtigen Punkte, die dementsprechend im Zentrum der linguistischen Analyse stehen müssen; (iv) linguistische, meist semantische bzw. praktisch-semantische Analyse der nach (iii) herausgehobenen sprachlichen Phänomene; (v) linguistisch-sprachkritische Bewertung der Kommunikationskonflikte bzw. Texte auf der Grundlage der nach (iv) gelieferten Analyse und im Hinblick auf die gemäß (i) kommunikativ relevanten Erscheinungen. (Wimmer 1982, S. 302f.) Oberstes Ziel der linguistisch begründeten Sprachkritik ist der reflektierte Sprachgebrauch: Jemandes Sprachgebrauch ist reflektiert, wenn dieser Jemand in der Lage und bereit ist, in relevanten Situationen die Regeln seines eigenen Sprachgebrauchs zur Diskussion zu stellen. (Wimmer 1982, S. 299) Zu Beginn der 1990er Jahre erfuhr die linguistisch begründete Sprachkritik eine Weiterentwicklung, indem sie als weiteres Ziel eine → kommunikative Ethik mit einschloss. Die kommunikative Ethik wird hierbei aus dem → griceschen Kooperationsprinzip und seinen → Maximen abgeleitet. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts treten wiederum in der Diskussion um die linguistisch begründete Sprachkritik Abgrenzungsversuche zu Tage, die die Dichotomie Deskription versus Bewertung zum Gegenstand haben. Diese Diskussion schlägt sich Das Lexikon der Sprachkritik 195 auch in unterschiedlichen → Referenzfixierungsakten nieder, indem einer deskriptiven „kritischen Linguistik“ eine bewertende „linguistisch fundierte Sprachkritik“ gegenübergestellt werden soll. Literatur Heringer, Hans Jürgen (Hg.) (1982): Holzfeuer im hölzernen Ofen. Tübingen. Heringer, Hans Jürgen (1982a): Sprachkritik - die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. In: Heringer (Hg.), S. 3-34. Polenz, Peter von (1982): Sprachkritik und Sprachnormenkritik. In: Heringer (Hg.), S. 70-93. Schwinn, Horst (1997): Linguistische Sprachkritik. Ihre Grenzen und Chancen. Heidelberg. Wimmer, Rainer (1982): Überlegungen zu den Aufgaben und Methoden einer linguistisch begründeten Sprachkritik. In: Heringer (Hg.), S. 290-313. Wimmer, Rainer (2003): Wie kann man Sprachkritik begründen? In: Linke, Angelika/ Ortner, Hanspeter/ Portmann-Tselikas, Paul R. (Hg.): Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis, S. 417-450. Mauthner, Fritz Fritz Mauthner (1849-1923) gilt als Begründer der modernen Sprachkritik. Auf mehreren Tausend Seiten expliziert Fritz Mauthner ab 1901 bis zu seinem Tod 1923 seine Vorstellung über Sprachkritik. Sein erstes sprachkritisches Werk → Beiträge zu einer Kritik der Sprache erscheint in drei Bänden 1901/ 02. 1910/ 11 schließt sich das in der zweiten Auflage ebenfalls dreibändige Werk (1923/ 24) → Wörterbuch der Philosophie - Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache an. In → Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande (1920-1923) führt Mauthner seine Kritik der Sprache in vier Bänden fort und verbindet sie mit einer umfassenden Religionskritik. Seine → Drei Bilder der Welt greifen seine grundlegende Kategorisierung in eine adjektivische Welt, eine substantivische Welt und eine verbale Welt, wie er sie schon in den ersten beiden Arbeiten pointiert dargelegt hatte, auf und führen sie als grundlegend für seine Form der Sprachkritik aus. Diese letzte Arbeit zu seinem sprachkritischen Schaffen erscheint posthum 1925. Eine erste Fassung der Beiträge zu einer Kritik der Sprache, die er noch vor dem Ende des 19. Jahrhunderts niedergeschrieben hatte, wurden laut Mauthner von ihm selbst als nicht hinreichend gewertet und verbrannt. Die neue Beschäftigung mit den Beiträgen zu einer Kritik der Sprache stellt im Leben Mauthners eine Zäsur dar. Vor der Auseinandersetzung mit Sprachkritik - mit Sprache überhaupt - war Mauthner Journalist, Literat und Theaterkritiker. Geboren wurde Fritz Mauthner am 22.11.1849 in Hořice in der Nähe von Königgrätz in Böhmen, er lebte in Prag, Berlin, Freiburg und Meersburg am Bodensee, gestorben ist Mauthner am 29.06.1923 in Meersburg. Mauthner entstammte einer bildungsbürgerlichen, assimilierten jüdischen Fabrikantenfamilie aus dem böhmischen Hořice. Die Tatsache, dass die Religionszugehörigkeit im Elternhaus keine Rolle spielte sowie die Konfrontation mit zwei Nationalsprachen, dem Deutschen und dem Tschechischen, mag den jungen Mauthner schon früh Horst Schwinn 196 für Religions- und Sprachkritik sensibilisiert haben. 1855 zog die Familie nach Prag. Dort studierte Mauthner nach seiner Schulzeit als Kompromiss aus eigenen und familiären Wünschen Jura, gab aber nach der ersten Staatsprüfung und einem Jahr Rechtsanwaltsarbeit nach dem Tod seines Vaters den Beruf auf, um sich der freien Schriftstellerei zu widmen. Während seines Studiums engagierte sich Mauthner als leidenschaftlicher Bismarckverehrer deutschnational gegen die Kleinstaaterei und gegen die Interessen der Tschechen, was sich auch in einigen seiner Romane niederschlägt (z.B. Vom armen Franischko. Kleine Abenteuer eines Kesselflickers (1876); Der letzte Deutsche von Blatna. Erzählungen aus Böhmen (1889); Die böhmische Handschrift (1895)). Neben Romanen erscheinen in der Prager Zeit Gedichte, Theaterstücke und Theaterkritiken sowie Zeitungsartikel. 1876 zieht Mauthner nach Berlin um. Dort arbeitet er für das Berliner Tageblatt und dessen Ableger, das Deutsche Montagsblatt, als Rezensent, Theaterkritiker und verfasst satirische und parodistische Studien, so z.B. Nach berühmten Mustern (zunächst anonym ab 3. Juni 1878), mit welchen er selbst eine gewisse Berühmtheit erfuhr. In Berlin verkehrt Mauthner in bürgerlichen Kreisen und literarischen Zirkeln und findet ein literarisch interessierteres Publikum als in Prag vor. In dieser Zeit entstehen zeitkritische, nationalistische und historische Romane, bis 1896, mit dem Tod seiner Frau Jenny Mauthner, der abrupte Wendepunkt von der literarischen Periode zur Hinwendung zu den sprachphilosophischen Arbeiten eintritt. Nach vier Jahren in Freiburg (1905-1909) zieht sich Mauthner mit seiner zweiten Frau, Hedwig Luitgardis Silles O'Cunningham, geb. Straub, welche selbst als Harriet Straub publiziert, in das außerhalb Meersburg in den Weinbergen gelegene Glaserhäusle - in welchem schon Annette von Droste-Hülshoff lebte - zurück. Dort veröffentlicht Mauthner noch einmal Prosa, die jedoch nicht an seine alte literarische Phase anknüpft, sondern im Zusammenhang einer Art Überwindung der Sprachkritik zu verstehen ist: 1913 erscheint → Der letzte Tod des Gautama Buddha. Mit dieser letzten Dichtung ist der Übergang von der Sprachkritik, die seiner Meinung nach letztendlich mit Sprache nicht über Sprache zu urteilen vermag, zur Mystik des Schweigens auf künstlerische Art vollzogen. Die → gottlose Mystik ist der Endpunkt des mauthnerschen sprach- und religionskritischen Schaffens. Zwischen diesem Endpunkt und dem Endpunkt des dichterischen Schaffens liegt die konzentrierte, teilweise ausschweifende, Mauthners Kräfte aufzehrende und in der Darstellung aphoristische Auseinandersetzung mit der „Sprachkritik, die das wichtigste Geschäft der Menschheit ist.“ (B1, S. 1). Die sprachkritische Phase Mauthners wird vom Anarchisten, Pazifisten und Philosophen → Gustav Landauer bis zu dessen Ermordung 1919 begleitet. Landauer redigiert im Gefängnis Tegel den ersten Band von Mauthners Beiträgen zu einer Kritik der Sprache und veröffentlicht unter dem Einfluss der mauthnerschen Sprachkritik selbst sprachphilosophische Arbeiten, z.B. 1903 → Skepsis und Mystik. Trotz schwerwiegender Differenzen über den Ersten Weltkrieg und dessen Zustandekommen hält die Freundschaft bis zum Tode Landauers an. Mauthner war als Sprachkritiker Philosoph, Erkenntniskritiker, sensualistischer Materialist, Empiriker, Nominalist und auch Atheist. Seine Sprachkritik ist eine radikale Vernunft- und Erkenntniskritik. Sie spricht der Sprache die Fähigkeit ab, Mittel zu wirklicher Erkenntnis sein zu können. Sprache besteht im Wesentlichen aus → Schein- Das Lexikon der Sprachkritik 197 begriffen, deren Begriffsinhalt rein metaphorisch ist. Wichtigste Prämisse seiner Sprachkritik ist die Gleichsetzung von Sprache und Denken und dass die Menschheit mittels Sprache nicht zur Erkenntnis im philosophischen Sinne gelangen kann: „Die Philosophie ist Erkenntnistheorie, Erkenntnistheorie ist Sprachkritik; Sprachkritik aber ist die Arbeit an dem befreienden Gedanken, daß die Menschen mit den Wörtern ihrer Sprache und mit den Worten ihrer Philosophen niemals über die bildliche Darstellung der Welt hinausgelangen können.“ (Wb1, S. XII). Sprachkritik ist insofern radikal, als sie immer selbstreflexiv Sprache mit Sprache analysiert ( → Holzfeuer im hölzernen Ofen) und das Analysandum Sprache in der Zeit, von Moment zu Moment, notwendigerweise variiert. Die erwähnte „bildliche Darstellung der Welt“ erfolgt sprachlich hauptsächlich über abstrakte Scheinbegriffe, die nichts weiter als → Metaphern sein können. Zu den Scheinbegriffen gehören die Wörter aus der → „substantivischen Welt“. Einzig die Begriffe der → „adjektivischen Welt“ vermögen uns einen sinnvollen (in der nicht-idiomatischen Bedeutung) Zugang zur wirklichen Welt zu eröffnen, weil sie über unsere Sinne, d.h. sensualistisch, Eingang zu unserem Ich gefunden haben (Das Feuer wärmt.). Die Attribute sind in unserem tatsächlichen sensualistischen Empfinden per se existent. Den substantivischen Wörtern aber, als (metaphorischen) Scheinbegriffen, „denen in der Wirklichkeitswelt nichts entspricht“ (B2, S. 259), die bestenfalls als metaphorische Konkreta, nämlich als „brauchbare Begriffe“, als „Bilder von Bildern von Bildern“ (B1, S. 115) existieren, gilt das hauptsächliche sprachkritische Interesse Mauthners. Die erkenntniskritische sprachkritische Auseinandersetzung mit den empirischen substantivischen abstrakten Ausdrücken führt Mauthner zur desillusionierenden Erkenntnis, dass Wörter nur Namen für Begriffe sein können. Mauthners atheistische Überzeugung ist eng an seine → Drei Bilder der Welt, nämlich die substantivische Welt, geknüpft. Da der „Gottesbegriff“ ein abstrakter substantivischer und damit metaphorischer (Schein-)Begriff ist, ist er prädestiniert für eine erkenntniskritische Exekution: „Ich halte diese Zurechnung ‘Gottes’ zu der substantivischen Welt für den stärksten unwiderleglichsten, weil sprachkritischen Beweis für das Nichtdasein Gottes.“ (A4, S. 440). Möglicherweise ist tatsächlich die Kritik des Gottesbegriffs Ausgangspunkt aller mauthnerschen Sprachkritik: „Der Ausgangspunkt war immer die sprachliche Kritik des Gottesbegriffs.“ (Selbst: 8) und „Ich besitze auch heute noch für die Analyse meiner Vorstellung kein besseres Übungsbeispiel als den Gottesbegriff.“ (Selbst: 19). Im → Wörterbuch der Philosophie konkretisiert Mauthner seine Sprachkritik zur Begriffsgeschichte, die den diachron ersten Gebrauch der mittlerweile zur Metapher gewordenen Bedeutung zu ergründen versucht. Der oben erwähnte „befreiende Gedanke“, als Synthese aus seiner Auseinandersetzung mit der Sprachkritik und dem Buddhismus entstanden und durch Hedwig Mauthner inspiriert, gestattet Mauthner den Übergang von der aggressiven Sprachkritik zum versöhnenden mystischen Schweigen bzw. zum souveränen Lachen über die (sprachlichen) Probleme der Welt. Literatur Quellen und Siglen Briefwechsel (1890-1919 [1994]): Gustav Landauer - Fritz Mauthner, Briefwechsel 1890-1919. Bearbeitet von Hanna Delf. München. Mauthner, Fritz (1918): Erinne- Horst Schwinn 198 rungen I - Prager Jugendjahre. München. Mauthner, Fritz (1922): Fritz Mauthner. In: Schmidt, Raymund (Hg.) (1922): Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Leipzig, S. 120-143. [Selbst]. Mauthner, Fritz (1923): Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1-3. 2. Aufl. Leipzig. [B1-3]. Mauthner, Fritz (1923/ 24): Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1-3. 2. Aufl. Leipzig. [Wb1-3]. Mauthner, Fritz (1925): Die drei Bilder der Welt. Ein sprachkritischer Versuch. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Monty Jacobs. Erlangen. Mauthner, Fritz (1963): Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Bd. 1-4. (= Nachdruck der 1. Aufl. 1920-23). Hildesheim. [A1-4]. Mauthner, Fritz (1993): Erinnerungen II. In: Allmende - Zeitschrift für Literatur, H. 36/ 37, S. 187-204. Sekundärliteratur Homepage der → Mauthner-Gesellschaft: http: / / euro.mein-serva.de/ mauthner2004 (Stand: 14.10.08). Kühn, Joachim (1975): Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk. Berlin/ New York [mit einer umfangreichen Bibliografie]. Leinfellner, Elisabeth (1992): Fritz Mauthner. In: Dascal, Marcelo et al. (Hg.): Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 7, 2). Berlin/ New York, S. 495-509. Leinfellner, Elisabeth/ Schleichert, Hubert (Hg.) (1995): Fritz Mauthner. Das Werk eines kritischen Denkers. Wien/ Köln/ Weimar. Wörterbuch des Unmenschen Das Wörterbuch des Unmenschen (eigentlich: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen) von → Sternberger, → Storz und → Süskind ist eine Sammlung lexikonartiger Erklärungen von sprachlichen Ausdrücken aus dem Sprachgebrauch der Zeit des Nationalsozialismus. Die Einzelworterklärungen erschienen in fortlaufender (nicht alphabetischer) Reihenfolge von 1945-1949 in der von Sternberger herausgegebenen Zeitschrift Die Wandlung, bevor sie zusammengefasst unter dem Titel Aus dem Wörterbuch des Unmenschen 1957 alphabetisch (als zweite Auflage bezeichnet) abgedruckt wurden. Die dritte Auflage erschien 1968 mit einem umfangreichen Anhang, der den → Streit um die Sprachkritik dokumentiert. 1986 erschien nochmals ein Nachdruck der unveränderten dritten Auflage. Intention der drei Autoren war, den Sprachgebrauch der Nationalsozialisten in Einzelbegriffen mahnend zu dokumentieren, in der Hoffnung, das Lesepublikum würde durch das Wörterbuch sensibilisiert, nie wieder zum Sprachgebrauch des Nationalsozialismus zurückkehren: „Es soll uns diese Sprache fremd machen ...“ (Vorbemerkung 1945). Mit der zweiten Auflage 1957 konstatierten die Autoren, dass das „Wörterbuch des Unmenschen [...] das Wörterbuch der geltenden deutschen Sprache geblieben“ sei und nun den Sprachgebrauch „der Organisatoren, der Werber und Verkäufer, der Funktionäre von Verbänden und Kollektiven aller Art“ dokumentiere (Vorbemerkung 1957). Obwohl nun nicht mehr direkt mit der nationalsozialistischen Zeit in Verbindung zu bringen, blieben die Autoren bei der Benennung Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, wodurch eigentlich Das Lexikon der Sprachkritik 199 unter soziologischem Aspekt das Explanandum einer neuen Definition bedurft hätte. Mit wenigen Veränderungen, Ergänzungen und auch einer Streichung (der Eintrag Mädel) enthielt die dritte Auflage 1968 folgende wortsemantische Beiträge: Anliegen, Auftrag, Ausrichtung, Betreuung, Charakterlich, Durchführen, Echt - Einmalig, Einsatz, Erarbeiten, Frauenarbeit, Gestaltung, Härte, Herausstellen, Intellektuell, Kontakte, Kulturschaffende, Lager, Leistungsmäßig, Menschen, Menschenbehandlung, Organisieren, Problem, Propaganda, Querschießen, Raum, Ressentiment, Schulung, Sektor, Tragbar, Untragbar, Vertreter, Verwendung, Wissen um …, Zeitgeschehen. Im 21. Jahrhundert scheinen alle diese Wörter unverfänglicher Bestandteil des heutigen Sprachgebrauchs zu sein. Zur Zeit ihrer Aufnahme in das Wörterbuch des Unmenschen bargen die Begriffe nach Sternberger selbst 1967 noch „zugleich das Gedächtnis ihrer ‘Schuld’“, das sie „wie ein Mal an sich tragen.“ (Vorbemerkung 1968). Die Tatsache, dass sie heute dem allgemeinen Sprachgebrauch zuzuordnen sind, geben im Nachhinein den Kritikern des Wörterbuchs des Unmenschen Recht, die im → Streit um die Sprachkritik die Position der Sprachwissenschaftler einnahmen und den sprachkritischen Autoren → feuilletonistische Sprachkritik vorwarfen, der es an einer linguistischen Theorie ermangele. Die sprachwissenschaftliche Kritik vermisste bei den sprachkritischen Darstellungen die Berücksichtigung der Erkenntnis, dass Sprachgebrauch nicht statisch und dem allgemeinen Sprachwandel unterworfen ist. Danach relativieren sich im sozialen Kontext synchron und vor allem diachron einzelwortspezifische Bedeutungszuweisung durch sich verändernde → Sprachgebrauchsregeln. Unterstützt wird diese sprachwissenschaftliche Auffassung durch die → Gebrauchstheorie der Bedeutung, die in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts Eingang in die sprachwissenschaftliche Pragmatik gefunden hat. Das Wörterbuch des Unmenschen hat einen wichtigen, ungewollten Beitrag zur Geschichte der Sprachkritik geleistet: Der Streit um die Sprachkritik, welcher damals von keiner der beiden Seiten gewonnen wurde, war insofern für die Seite der Sprachwissenschaftler fruchtbar, als er ihnen ermöglichte, darüber nachzudenken, welche → Formen der Sprachkritik innerhalb der sprachwissenschaftlichen Forschung überhaupt möglich sind. Literatur Quellen Die Wandlung. Eine Monatsschrift. 1945-1949. Sternberger, Dolf/ Storz Gerhard/ Süskind, Wilhelm Emanuel (1957): Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. 2. Aufl. Hamburg. Sternberger, Dolf/ Storz Gerhard/ Süskind, Wilhelm Emanuel (1968): Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Neue erweiterte Ausgabe mit Zeugnissen des Streites über die Sprachkritik. 3. Aufl. Düsseldorf. Sekundärliteratur Dodd, William J. (2007): Jedes Wort wandelt die Welt - Dolf Sternbergers politische Sprachkritik. Göttingen [mit einer umfangreichen Bibliografie]. Horst Schwinn 200 Textverlaufsanalyse Von → Peter von Polenz (1980) konzipiertes und später ((1985) → Deutsche Satzsemantik - Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens) weiter ausgebautes Textanalyseverfahren für das sprachkritische Vorgehen. Die Textverlaufsanalyse ist eine komplexe Methode der → Textanalyse, in welcher verschiedene disziplinübergreifende Perspektiven der Textbetrachtung kumuliert werden. Die Textverlaufsanalyse dokumentiert auf anschauliche Art und Weise das Bemühen der Sprachwissenschaft, den gesellschaftlichen Veränderungen der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gerecht zu werden. In ihr spiegelt sich das Bemühen der Sprachwissenschaft wider, strukturalistischen Sprachbetrachtungen (z.B. der → Valenztheorie) pragmatische Handlungstheorien und klassische Erkenntnisse aus der Argumentationsanalyse zur Seite zu stellen. Die Textverlaufsanalyse ist zunächst linguistische Hermeneutik, indem sie sich an klassischen semantisch-lexikologischen Verfahren orientiert und auf die Satzebene, bzw. Handlungsebene ausdehnt. Sie überschreitet allerdings die bis dahin klassische Textanalyse, wo sie z.B. Anleihen an einer allgemeinen → Handlungstheorie, einer speziellen → Sprachhandlungstheorie/ Sprechakttheorie, der → Argumentationsanalyse und an literaturwissenschaftlichen Erkenntnissen nimmt. Texte werden hierbei als komplexe Handlungsschemata betrachtet, die intentionsgeleitet sind. Die Intentionen der jeweiligen Handlungsbeteiligten werden sprechakttheoretisch aus den jeweiligen Sprachhandlungen deduziert, die Haupt- und Nebenhandlungen der Handlungsbeteiligten werden in ein argumentationstheoretisches Abhängigkeitsgeflecht geknüpft (z.B.: Handlungsbeteiligter 1 BEHAUPTET gegenüber Handlungsbeteiligtem 2 einen Sachverhalt, indem er 1 auf einen Gegenstand REFE- RIERT und diesem Gegenstand eine Eigenschaft ZUSCHREIBT , wobei er 1 eine bestimmte Einstellung zum Sachverhalt ANDEUTET (die Versalienschreibung benennt die jeweiligen Texthandlungen)). Die Methode der Textverlaufsanalyse eignet sich für die sprachkritische Analyse, da sie dazu beitragen kann, implizite → Sprachnormierungskonflikte zu schlichten. Literatur Polenz, Peter von (1980): Möglichkeiten satzsemantischer Textanalyse. In: ZGL 8, S. 133-153. Polenz, Peter von (1985): Deutsche Satzsemantik - Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. Berlin/ New York. Ludwig M. Eichinger Vom rechten Deutsch. Wer darf die Sprache kritisieren? „[...] daß man zwar, wo möglich, denken soll wie ein großer Geist, hingegen die selbe Sprache reden wie jeder andere“. (Schopenhauer, Parerga und Paralipomena § 283) Der öffentlichen Sprachkritik, wie sie gerne von Personen betrieben wird, die zwar professionelle Sprachnutzer aber mehr oder minder sprachwissenschaftliche Laien sind, wird von professionellen Sprachwissenschaftlern häufig Fehleinschätzungen nachgewiesen, die auf fehlendem Wissen über die sprachlichen Systemverhältnisse, die vorkommende Variation oder die Wege und Richtungen des Sprachwandels beruhen. Häufig wird darüber hinausgehend der Schluss gezogen, dieses Wissen zu haben sei zwar notwendig, die gewünschte normorientierte Interpretation könne aber von der Wissenschaft nicht geleistet werden. Unstrittig hat die Linguistik einen deskriptiven Kern. In dem vorliegenden Beitrag wird unter Bezug auf neuere Überlegungen zur Funktion verschiedener Sprachtypen - also etwa „Standardsprachen“ - und zum Verhältnis von Begründbarkeit von Aussagen und von Verlässlichkeit in der Interaktion dafür plädiert, dass eine vernünftige Einschätzung normativer Verhältnisse mit einer wissenschaftlichen Betrachtung der Sprache verträglich ist. 1. Eine unübersichtliche Lage Die Diskussion um den rechten Boden sprachkritischer Äußerungen dreht sich in gewisser Weise im Kreise. Zwar sollte Einigkeit darüber hergestellt werden können, dass man auf jeden Fall über die sprachlichen Sachverhalte, über die man urteilt, Bescheid wissen sollte, wenn und bevor man darüber urteilt. So gesehen kritisieren Sprachwissenschaftler, die sich mit dem Deutschen und dem historischen und gegenwärtigen Zustand unserer Sprache beschäftigen, zweifellos zu Recht, dass manche öffentliche Sprachkritiker sich um solche Befunde nicht hinreichend kümmern. Einen Anlass, diese Überlegungen in dieser Form aufzunehmen, bietet die Beobachtung einer Diskussion über den Status der aktuellen Aussagen zu dem derzeit erfolgreichsten sprachkritischen Autor, Bastian Sick. 1 Wir wollen hier 1 Die Diskussion fand in den Jahren 2007 und 2008 in der Zeitschrift Info DaF statt und umfasst zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Texts die Beiträge von Ágel, Hammer, König, Maitz/ Elspaß und Roggausch. Ludwig M. Eichinger 202 nicht diese Auseinandersetzung fortsetzen, sondern darüber nachdenken, was sie über die Stellung der Sprachwissenschaft zur Sprachkritik zu sagen weiß. Die Diskussion startete mit der eher naiven Empfehlung einer Rezensentin, Bastian Sicks Bücher in den Unterricht des Deutschen als Fremdsprache aufzunehmen - wobei insbesondere auch die von ihm gegebenen Ratschläge und Empfehlungen gutgeheißen werden. 2 Diese Rezension hatte insgesamt ein bemerkenswertes Echo. Eine erste Antwort - von zwei Sprachwissenschaftlern - wies diese Empfehlung entschieden zurück und führt dazu eine Reihe von Gründen an, unter denen an zentraler Stelle der einer inadäquaten linguistischen Beschreibung steht (Maitz/ Elspaß 2007). Dieser Tatbestand wird übrigens in der folgenden Diskussion, so weit ich sehe, von niemandem bestritten. Er wird vielmehr in verschiedener Weise in der bisher letzten Stellungnahme 3 in der ganzen Auseinandersetzung in einzelne Punkte zerlegt. Als argumentativer Zug funktioniert er in der Weise, dass die Stellungnahme von jemandem, der nicht in der Lage sei, gemachte propositionale Festlegungen inferenziell explizit zu machen, nicht als Wissen und daher auch nicht als Zug in dem argumentativen Berechnungsspiel gelten könne. 4 Für viele Sprachwissenschaftler handelt es sich bei dieser Feststellung aber eigentlich um ein überflüssiges Argument, denn sie halten sprachkritisch bewertende Äußerungen im sprachwissenschaftlichen Kontext überhaupt und grundsätzlich nicht für möglich. Auch das wird in der bereits erwähnten ausführlichen Entgegnung von Maitz und Elspaß dargelegt. Allerdings ist es nicht in allen Fällen so klar, ob sie die- 2 Dieser Ratschlag in Hammer (2007) steht nicht allein, er passt in ein größeres Bild, zu dem gehört, dass Bastian Sicks Buch in den saarländischen Schulen behandelt wird, oder dass das Goethe-Institut Bastian Sick z.B. Ende 2007 in die deutsche Botschaft in Den Haag zu einem Vortrag geladen hat und dazu schreibt: „[...] ist Bastian Sick zu Deutschlands bekanntestem Sprachpfleger avanciert. Mit Leidenschaft deckt er syntaktische Fallgruben auf, weist seinen Lesern den Weg um den orthographischen Treibsand herum und hilft über stilistisches Glatteis hinweg. Heißt es nun Pizzas oder Pizzen? Gewinkt oder gewunken? Warum ist der Rhein männlich und die Elbe weiblich? Ist Omas Konfitüre selbstgemacht oder selbst gemacht? Ist die Vergangenheit höflicher als die Gegenwart? Und hat der Genitiv noch eine Chance - trotz des Dativs und dem Dativ zum Trotz? “ ( www.goethe.de/ ins/ nl/ ams/ prj/ ver/ de2668439.htm , Stand: 30.09.08). 3 Vgl. Ágel (2008); dort wird vor allem dargelegt, dass die - bei Sick ja titelgebende - Kasusdifferenz kein relevantes Problem benennt und dass die einschlägigen Kasus- und Präpositionalprobleme meist nicht adäquat beschrieben würden. 4 Das ist hier terminologisch in Anlehnung an die „Explizitheits“-Theorie Robert B. Brandoms (2000) formuliert. Vom rechten Deutsch. Wer darf die Sprache kritisieren? 203 se Konsequenz ziehen würden. So weist Ágel in seinem Beitrag nach, dass die Aussagen von Sick auf einem unzureichenden und unvollständigen Tatsachenbezug beruhen, schließt aber nicht aus, dass bei einem angemessenen Einbezug vor allem der funktionalen Differenzierung innerhalb des Deutschen und bei Kenntnis zentraler Entwicklungsvorgänge und Mechanismen eine adäquatere Basis für solche Äußerungen gegeben wäre - was möglicherweise heißt, dass prinzipiell normleitende Äußerungen doch auch dem Wissenschaftler möglich seien. 5 Die angedeutete linguistische Abstinenz gegenüber bewertenden Äußerungen führt in dieser Diskussion andererseits zu einer geradezu empörten Reaktion aus eher sprachenpolitischer Sicht. 6 Hinter der relativ heftigen Zurückweisung der Alleingeltung dieses Neutralitätsanspruchs lässt sich als Argument erkennen, dass es sich bei der vorgetragenen linguistischen Sicht, innerhalb derer eine funktionale Differenzierung praktisch jede Kritik abfedere, um die unangemessen formale und funktionale Interpretation gegenüber einer statusfunktionalen Interpretation einer (kultur-)nationalen sprachlichen Repräsentationsform handele. Im Hinblick auf den damit intendierten Status der Argumentation sei das Beharren auf einem langdauernd wirkenden Konsens angemessen, die angemahnten linguistischen Einzelheiten seien daher kategorial falsch angebracht. 7 Noch schwieriger wird die Argumentationslage dadurch, dass die meisten dieser Linguisten selbst andererseits zugestehen würden, als Privatpersonen durchaus sprachliche Richtigkeits- und Angemessenheitsurteile zu fällen. Zudem wurde schon verschiedentlich festgestellt, dass natürlich die Behauptung, über die Beschreibung hinaus nichts weiteres sagen zu können, ebenfalls eine Art der Bewertung der sprachlichen Praxis darstellt. Dieser Vorwurf trifft al- 5 So wird vor der Zusammenfassung vier zentraler Monita gegenüber der Sick'schen Behandlung festgestellt, ihr zentraler Mangel bestehe in der „vollständigen Abweichung von dem in Abschnitt 2 entworfenen methodischen Szenario, das ich als das A und O für kompetente grammatische Ratschläge und Lösungsvorschläge erachte“ (Ágel 2008, S. 81). Vgl. auch Ausführungen bei Keller (2005), die unter Berufung auf eine angemessene Berücksichtigung genereller Beobachtungen zum Sprachwandel eine plausiblere Trendabschätzung zu leisten versprechen. 6 In Roggausch (2007); dort wird der linguistischen Diskussion Indifferenz bezüglich und Inkompetenz in der Wahrung sprachenpolitischer Interessen vorgeworfen. Die fachlichen Mängel der populären Sprachkritik des Sick'schen Typus werden demgegenüber als eher unerheblich betrachtet. 7 In gewissem Sinn könnte man die Ausführungen Ágels zur Architektur natürlicher Sprachen - sicherlich gegen die Intentionen des Autors - als Stützung dieses Argumentes lesen. Ludwig M. Eichinger 204 lerdings nur, wenn mit der Behauptung der grundsätzlichen Gleichwertigkeit von Sprachformen und Varietäten mehr verbunden ist als eine systemlinguistische Aussage über den Aufbau und die interne Funktionalität von Varietäten bzw. von sprachlicher Variation überhaupt. 8 In gewisser Weise ist es allerdings in dieser Hinsicht kritisch, wenn Maitz/ Elspaß in ihrer Verteidigung der linguistischen Position aus wissenschaftlicher Sicht eine veränderte Bewertung, und das heißt nicht oder zumindest nicht nur eine andere funktionale, sondern eine andere statusfunktionale 9 Bewertung bisher diskriminierter Sprachformen fordern. 10 An dieser Stelle ergibt sich auf Basis der bisherigen Ausführungen das argumentative Problem, auf welcher Grundlage eine solche offenbar auf Statusfunktion zielende Forderung inferenziell gestützt, d.h. durch propositionale Explikation nachvollziehbar gemacht werden kann, wenn anscheinend die jetzige funktionale Verteilung und beobachtbare Gebrauchspräferenzen eher in eine andere Richtung weisen. 11 Abgesehen von solchen leichten Inkonsistenzen wäre also somit für den die funktional differenzierten Systeme des Deutschen betrachtenden Linguisten eigentlich alles klar. 2. Nützliches sprachliches Wissen 2.1 System und Gebrauch Nun wird zusätzlich kaum jemand leugnen, dass eine lediglich systemorientierte Beschreibung des Deutschen die Bedingungen des Sprachgebrauchs gar nicht darstellen will, dass man ihre Darstellung aber andererseits durchaus als eine sprachwissenschaftliche Aufgabe ansehen kann. Davon sprechen nicht 8 Recht unklar sind in dieser Hinsicht die Ausführungen in König (2008) - etwa in den Punkten 6, 7 und 10. 9 Zum Konzept siehe Searle (2001, S. 137ff.). 10 In diese Richtung neigt das in Maitz/ Elspaß (2007, S. 525) vertretene Konzept der „sprachsozialen Sprachberatung“, die dem normativen und institutionellen Charakter von Standardsprachlichkeit keinen hohen Rang einräumt. 11 Dieser Argumentationstyp zeigt sich noch verstärkt in dem von Werner König eingebrachten Beitrag, in dem eine vergleichsweise eindeutige Gleichsetzung von „normativ richtig“ und „dem Verständigungszweck dienend“ vorgenommen wird, d.h. lediglich die Existenz von funktional fundierten „Gebrauchsnormen“ angesetzt wird (siehe König 2008, S. 61). Wie man sehen wird, ist es strittig, ob Interaktion in komplexen Gesellschaften ohne irgendeine Art des Konzepts von Institutionalisierung auskommt. In dieser Hinsicht wäre eine inhaltliche Explikation der „Unauffälligkeitsbedingung“ des Punkts 9 bei König interessant, sie kann ja wohl nicht ohne Bezüge auf normative Erwartungen formuliert werden. Vom rechten Deutsch. Wer darf die Sprache kritisieren? 205 nur die in linguistischen Arbeiten verschiedenster Provenienz geäußerten Akzeptabilitätsurteile, sondern auch terminologische Festlegungen wie der Coseriu'sche Normbegriff. 12 Gleichzeitig kompliziert sich auf dieser Ebene das Verhältnis zwischen der Einschätzung des Fachmanns und des Laien. Man kann wohl davon ausgehen, dass das aktive, explizit formulierbare und auf diese Weise in eine argumentative Verrechnung einzubringende Wissen über die systemlinguistischen Eigenschaften und Bedingungen des Sprachwandels im Deutschen unter Nicht- Sprachwissenschaftlern eher gering ist, die Differenz zwischen knowing-how und knowing-what ist auf dieser Ebene aus einfach einzusehenden Gründen groß. Dem eher handlungsimplizierten Blick des „normalen Sprechers“ ist die professionell distanzierte Haltung zu diesen Fragen fremd. 13 Eine entsprechende Differenz tut sich auch noch auf, wenn man das Wissen über die real vorkommende Variation betrachtet. Hier kommt zudem erschwerend eine Parallaxe dazu, die von der Relativität der eigenen Position zeugt. Es ist ein an den eigenen Handlungsinteressen orientierter Blick, der den Fokus der Aufmerksamkeit lenkt. So verwundert es nicht, dass es auf diesen beiden Ebenen nur eine sehr beschränkte Menge von Erscheinungen gibt, die in entsprechenden Laienäußerungen - und auch in der populären Sprachkritik - regelmäßig auftauchen. 14 Das sieht man an den Fragen, die durchwegs behandelt werden, und das sieht man unter anderem auch an den stereotypen Äußerungen bei der Bewertung von Dialekten, die sich in Umfragen zeigen, bzw. auch in der Tatsache, dass ohnehin in solchen Fällen normalerweise nur nach der regionalen Variation gefragt wird. 2.2 Gebrauchsweisen und Stile Die Lage verändert sich allerdings etwas, wenn man sich auf Fragen des Stils zu bewegt. Dabei wollen wir Stil als das formale Konstruktionsmittel eines sozialsymbolischen Wahlverhaltens verstehen - das zwischen opting out und opting in changiert. 15 Unter Bedingungen, in denen die traditionellen gesell- 12 Vgl. die entsprechenden Ausführungen bei Ágel (2008, S. 65), mit der eigentlich noch weiter zu klärenden Feststellung, wie denn die dort so genannten „bloßen“ Traditionen zustande kämen und zu bewerten seien. 13 Spitzmüller (2005, S. 255) verweist auf die „handlungsentlastete Perspektive“ der wissenschaftlichen Einschätzung und Bewertung. 14 Vgl. dazu die bei Langer (2007, S. 226f.) gegebenen kurzen Übersichten. 15 So wie andeutungsweise bei Linke (2003) ausgeführt. Ludwig M. Eichinger 206 schaftlichen Ligaturen das Handeln nicht mehr mehrheitlich steuern, und unter denen damit die Auswahl aus dem symbolischen Inventar nicht mehr automatisch im Sinne dieses traditionellen Wissens gelesen werden kann, ist eine erfolgreiche gesellschaftliche Positionierung vom Wissen über die Wirkung entsprechender symbolischer Wahlen geprägt. 16 Insofern Stil eine Folge prinzipiell intentionalen Handelns darstellt, ist das Verhältnis der Sprecher zu Erscheinungen dieses Typs prinzipiell anders. Selbst wenn ein Sprecher oder Schreiber nicht so genau Bescheid weiß über die Geltung bestimmter sprachlicher Formen oder auch über die zahlenmäßige Verteilung und angemessene systematische Verortung von Varietäten, so hat er doch eine zum Teil deutlich in die sprachliche Bewusstheit hereinreichende Vorstellung von der sozialen Wirkung der Wahl bestimmter Optionen. Der normal gebildete Sprecher weiß recht gut, in welche sprachliche Richtung er sich zu bewegen hat, wenn er sich in einer gewissen Weise positionieren will. Ein Beleg dafür ist die durchgehend zu beobachtende Orientierung an Sprachformen, die man derzeit gerne als intendierten Standard bezeichnet, eine sozial bedingte Sprachwahltendenz, die zu recht grundsätzlichen Veränderungen in den regiolektalen Verhältnissen des Deutschen geführt hat. 17 Diese Veränderung betrifft nicht nur die Geltung - und die sprachliche Distanz - der engräumigsten regionalen Varietäten, sondern auf der anderen Seite zweifellos auch die Frage, was noch als Standard zu betrachten ist. Wenn „normale“ Sprecher bei der Realisierung sprechsprachlicher Formen mit höchstem öffentlichen und sozialen Anspruch dennoch mit den Mustern von struktureller Mündlichkeit arbeiten, zeugt das von der Entwicklung einer postskripturalen Standardsprachlichkeit, die ihre Muster nicht zuletzt der Gewöhnung an entsprechende mediale Stile verdankt. 2.3 Standardbegriffe Wenn für die Beschreibung dieser sprachlichen Modernisierungsprozesse Termini wie ‘Destandardisierung’ gewählt werden, zeigt sich, dass hier einigermaßen unhinterfragt zwei nicht einfach kompatible Vorstellungen von Standard miteinander konkurrieren. Der eine Begriff des Standards stellt in gewisser Weise eine Maßeinheit für Linguisten dar, an der sie Sprachgebräuche nach ihren Abweichungsgraden von dieser ideal gesetzten Norm messen. Der Inhalt dieses Konzepts ist mehr oder minder an den Kodifizierungen - vor allem für die Aussprache - orientiert. Auf der anderen Seite wird als Standard die schriftsprachliche Norm betrachtet, als deren Ergebnis man die ernsthaften 16 Zu einer ausführlicheren und konkreteren Einordnung dieser Überlegungen siehe Eichinger (2006). 17 Vgl. dazu etwa Schmidt (2005) und die dort zitierten Studien. Vom rechten Deutsch. Wer darf die Sprache kritisieren? 207 Texte im redaktionellen Teil der Abonnementpresse ansehen kann - in gewisser Weise ungeachtet dessen, was sich darin an Variation findet. Was beide Vorstellungen eint, ist, dass daraus jeweils eine Idealnorm gezogen wird, mittels derer der sprachliche Alltag definitorisch nur als eine Verschmutzung dieser Norm angesehen werden kann. So führen normale sprechsprachliche Phänomene wie zum Beispiel die Vokalisierung des <r> in bestimmten Kontexten sofort zu etwas, was man Umgangslautung nennt. In gewisser Weise noch deutlicher ist dieses Phänomen, wenn man die Ebene des Wortschatzes betrachtet: Wörter, die mit dem Alltag zu tun haben, erscheinen anscheinend ohnehin schon kaum als standardfähig. Wie schwierig und vielfältig das aber in Wirklichkeit ist, vermag ein kurzer Blick in das Variantenwörterbuch des Deutschen zu zeigen, das normale Sprachbenutzer aus den verschiedensten Regionen nicht nur zum Nachdenken, sondern auch zum Zweifeln zu bringen vermag. 18 Wie auch immer, der Standard der Linguisten neigt dazu, als eine abstrakte Messgröße nicht das zu reflektieren, was sich in den realen sprachlichen Verhältnissen verändert hat, so dass auf jeden Fall auch von gebildeten Sprechern, die nicht professionelle Nachrichtensprecher in den Medien oder etwas dergleichen sind, diese Form gar nicht mehr intendiert ist, so dass zumindest für einen Teil der so bezeichneten Sprachformen die Benennung „intendierter Standard“ eine eher irreführende Benennung darstellt. Der Standard andererseits, auf den wir uns im Geschriebenen mehr oder minder geeinigt haben, sieht sich durch die Ausweitung des Gebrauchs entsprechender stilistisch neutraler Sprachformen mit dem Tatbestand konfrontiert, dass der Alltag in den besprochenen Dingen und Elementen natürlichen Sprechens neue Herausforderungen für die Abgrenzung bereithält. Dass auf der anderen Seite auch die Spannbreite hin zu so etwas wie dem alten Ortsdialekt statistisch gesehen eher eine Fiktion darstellt, lässt solch eine Größe unter den realen sprachlichen Verhältnissen zumindest in der Bundesrepublik Deutschland als eine wegen ihrer statistischen Marginalität nicht unproblematische Maßeinheit am anderen Ende eines angedeuteten Varietätenkontinuums erscheinen. 3. Mögliche Grundlagen der Verwirrung 3.1 Standardsprache und andere Varietäten Wenn man Idealnormen nicht für ein für allemal festgelegte ideale Konstrukte hält, so unterliegen auch sie Veränderungen. Sie werden ausgelöst von Verschiebungen in der kommunikativen Praxis, die von einem relevanten Teil der betroffenen Gemeinschaft mitgetragen oder gebilligt werden. Im Hinblick auf 18 Vgl. Ammon et al. (Hg.) (2004); auch Eichinger (2005). Ammon et al. (Hg.) (2004); auch Eichinger (2005). Ludwig M. Eichinger 208 die Auffüllung des Konzepts ‘Standardsprache’ für die heutige deutsche Sprachgemeinschaft gibt es nun tatsächlich eine Zunahme von Variation in der öffentlichen Interaktion, die zu einer Verschiebung der Bandbreite der Erwartungen führt, die mit Standardsprachlichkeit verbunden werden. Es gibt dabei prinzipiell zwei Möglichkeiten: Entweder man benimmt die Standardsprache ihres herausgehobenen normativen Charakters, schränkt ihre Geltung eng ein und beschreibt die neu aufkommenden Gebräuche ebenfalls als davon unabhängige Entitäten. 19 Oder man nimmt an, dass unter den Umständen der differenzierten sprachlichen Moderne, in der wir leben, Variation in gewissem Ausmaß auch zur Idealnorm einer Standardsprache gehört. Es ist nicht überraschend, dass sich in der soziolinguistischen Diskussion Überlegungen der ersten Art finden: Paradigmatisch dafür ist die terminologische Übereinkunft, die Standardsprache als standardsprachliche Varietät zu kennzeichnen, und so als eine Varietät unter anderen zu betrachten. 20 Auch in aktuellen Diskussionen über die Angemessenheit bestimmter sprachkritischer Beurteilungen wird denn durchaus auch so argumentiert, es sei ungerecht, dass andere Varietäten nicht als der Standardvarietät gleichberechtigt angesehen würden. In dem vorliegenden Beitrag wird die andere Linie der Argumentation verfolgt, die den Zusammenhang zwischen funktionaler und statusfunktionaler Charakteristik für das Konzept Standardsprache als zentral betrachtet. Unter Standardsprache ist dann nicht nur ein Set von sprachlichen Formen und auch nicht nur ein Set von solchen Formen mit Korrelationen zu den zugehörigen Situationen zu verstehen. „Standardsprache“ bezeichnet dann eine Bandbreite sprachlicher Realisierungsweisen und sprachlicher Formen. Die Bandbreite wird bestimmt von weithin geteilten Vorstellungen über die Erwartungen an die adäquate Meisterung bestimmter Situationen in einem konventionellen Rahmen. Weithin geteilt sind sie, wenn das Wissen über sie einigermaßen zugänglich ist. Als adäquat können gewählte Varianten gelten, wenn sie für die soziale Positionierung des Einzelnen als „gehobene“, aber normale Variante angesehen werden. Dabei gehört natürlich die Annahme einer Kompetenz in schrift- und sprechsprachlichen Mustern, die in etwa der Komplexität der kommunikativen Anforderungen in modernen Gesellschaften entspricht, zu den Voraussetzungen der Einschätzung dessen, was man als die Grenzen „nor- 19 Solch ein Konzept passt vermutlich z.B. zur sprachlichen Lage in der deutschsprachigen Schweiz, wo Sprachformen den Alltag bestimmen, deren (auch intendierte) Nicht-Standardsprachlichkeit offenkundig ist und auch die sozialen (statusfunktionalen) Erwartungen an ein gutes kommunikatives Leben prägen. 20 So etwa auch bei Ágel (2008) eingeführt. Vom rechten Deutsch. Wer darf die Sprache kritisieren? 209 malen“ Sprachgebrauchs ansehen kann. Dazu gehört denn auch der Bezug auf die Konventionalität. Die dabei zu nennenden sprachlichen Eigenheiten ergeben nicht eine Varietät als systemlinguistisch beschriebene Entität in der Wirklichkeit, sondern eröffnen die Breite der Optionen ebenso wie sie diese einschränken, sie beschreiben die prototypische Bandbreite gesellschaftlicher Akzeptanz. Solch eine Festlegung des Konzepts „Standardsprache“ ist nun recht nahe an dem, was auch gebildete Laien mit Standard, „Hochdeutsch“ und der Abgrenzung zu anderen Sprachformen 21 verbinden würden. „Standardsprache“, „Hochdeutsch“ und dergleichen Benennungen sind nicht hinreichend zu verstehen, wenn man sie nur auf einer systemorientierten und funktionalen Ebene - „ist doch ebenso gut“ - diskutiert. Sprachformen sind nicht nur jeweils nach ihrer funktionalen Brauchbarkeit sortierte Phänomene, sondern sind dadurch gekennzeichnet, dass sie in unterschiedlicher Weise Institutionalisierungsprozesse durchlaufen haben. 22 Was immer Sprache ist, ein Wort wie „Standardsprache“ spricht auf jeden Fall davon, dass eine Form, die mit diesem Wort bezeichnet wird, ein Element einer institutionellen Wirklichkeit darstellt, die ihre Geltung und Funktionszuschreibung nicht aufgrund einfacher Kausalität des nützlichen Gebrauchs hat, sondern aufgrund von Zuschreibungen, die durch kollektive Intentionalität innerhalb der Sprechergemeinschaft gesichert sind. Durch die Zuordnung einer Statusfunktion wird solch einer Entität eine Macht zugeschrieben, die sie als Element der nackten physikalischen Wirklichkeit nicht hat. Manches davon mag schon für das Konzept „Sprache“ selbst wahr sein, aber während man die Zuweisung einer Funktion „Verständigung“ noch ziemlich direkt aus den materialen Bedingungen von Sprachproduktion und -rezeption ableiten kann, ist mit der Zuweisung der Statusfunktion „Standardsprache“ die Zuweisung von Macht bzw. andererseits von bestimmten Sanktionen verbunden. Es ist nicht mehr aus einer funktionalen Interpretation der sprachlichen Differenzen zwischen Standardformen und Nonstandardformen herleitbar, was den Standardwert ausmacht. Untrennbar verbunden damit ist vielmehr die Interpretation bestimmter Formen als Einheiten mit einem entsprechenden institutionellen und sozialsymbolischen Wert, und zwar nicht nur punktuell und individuell. Warum das so sei, wird von Searle damit beantwortet, 21 Häufig steht den Laien kein anderer Terminus als Dialekt zur Verfügung, was die Kategorisierung zweifellos etwas holzschnittartig macht; zu den Folgen eines solchen terminologischen Realismus siehe Durrell (1999). 22 Was einerseits die Bandbreite und andererseits die Anerkennung als Element institutioneller Wirklichkeit angeht, vgl. Langer (2007, S. 235ff.). Ludwig M. Eichinger 210 dass die kollektive Zuweisung von Statusfunktionen und ganz besonders ihre kontinuierliche Akzeptanz und Anerkennung über lange Zeiträume hinweg eine Wirklichkeit [...] schaffen und erhalten kann, die genauso epistemisch objektiv wie die Geologie zu sein scheint und ein ebenso permanenter Teil unserer Landschaft wie Gesteinsformationen. (Searle 2001, S. 157) Wichtig ist allerdings auch der Nachsatz, dass mit dem Entzug der kollektiven Anerkennung solche Institutionen plötzlich zusammenbrechen könnten (ebd.). 3.2 Der normative Charakter des Standards Wenn man diese Überlegungen ernst nimmt, ist jede Beschreibung, die diese Zusammenhänge ausblendet, lediglich eine Beschreibung der Form der statusfunktional definierten Einheit genau ohne dieses Definiens. In dieser Sicht ist ihre entsprechende Realisierung nicht von anderen gebrauchten Varietäten zu unterschieden - die man, nebenher gesagt, von einer material-funktionalen Sicht her allein auch nicht hinreichend in den Griff bekommt. In anderer - wenn auch analoger - Weise verkürzen die üblichen Sprachkritiker den Blick auf die Standardsprache, wenn sie Eigenheiten der Standardsprache unmittelbar davon ableiten, dass sie zur Verständigung besser geeignet sei, was eigentlich nur im Hinblick auf die statusfunktionale Verstetigung funktionaler Elemente aus einer schriftsprachlichen Tradition stimmt. So gesehen könnte es sein, dass nun tatsächlich die beobachtbare Entwicklung von Formen mit ähnlichem Statusanspruch, aber auf gesprochener Grundlage, in gewissem Umfang der Aufkündigung der kollektiven Unterstützung dieser institutionellen Übereinkunft entspricht. Wenn man unter diesem Blickwinkel einen groben Blick auf die Standardisierungsgeschichte seit frühneuhochdeutscher Zeit wirft, kann man den Beginn als Schreib- und mehr noch als Drucksprache als eine kollektive Übereinkunft mit einer stark funktionalen Seite betrachten. Die funktionale Sicht ist die Entwicklung von Mitteln, die als dezidiert schriftliche Entsprechungen zu einer variablen Mündlichkeit Vereinheitlichungs- und systematisierende Verdeutlichungstendenzen stellt. Relativ bald gesellt sich dazu die Statusfunktion „Hochsprachlichkeit“, die für eine äquivalente nationalkulturelle Repräsentation ebenso bedeutsam war wie für Verständigung und Identitätsbildung in einer wachsenden Bildungselite. Man kann in dieser Phase noch immer, wenn man so will, eine Dominanz der funktionalen gegenüber einer statusfunktionalen Bestimmung dieser Form sehen, und so gibt es denn noch echte Ausgleiche zwischen letztlich geeigneteren und weniger geeigneten Formen. Man kann allerdings nicht verkennen, dass spätestens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Standardsprachlichkeit Vom rechten Deutsch. Wer darf die Sprache kritisieren? 211 von der kollektiven Intentionalität eines Bildungsbürgertums getragen wird, das die Interaktion in dieser Sprachform zum Ausweis kommunikativer Deutungshoheit erhebt. Die gesprochene Form erscheint in diesem Bild bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein als ein mehr oder minder daran orientiertes Epiphänomen. Es bedurfte einer längeren und grundlegenden Erfahrung einer erhöhten Gleichberechtigung von Auge und Ohr, von Schreiben/ Lesen und Sprechen/ Hören und einer Entwicklung einer öffentlichen überregionalen Gesprochenheit, um nicht nur funktional zu einer neuen kollektiven Einschätzung bestimmter Sprachformen zu kommen, sondern auf eine statusfunktionale Interpretation von Gesprochenheit zu drängen. In dieser kollektiven Verschiebung, die auf einen medial gespaltenen Standard zielt, lassen sich viele der derzeit diskutierten sprachlichen Problemfälle verorten. 23 4. Wer darf hier mitreden? - Die Agenturen der Standardsprache 4.1 Grundlagen sprachlicher Bewertung Wenn man die gerade angestellten Überlegungen etwas aus ihrem abstrakten Umfeld herausholt, scheinen sie den üblichen Bestimmungen, wie sich der Standard bestimme, doch recht nahe zu kommen. Dennoch haben unterschiedliche Gruppen, die keine Sprachwissenschaftler sind, aber ansonsten so weit mit den Komplexitäten sprachlichen Lebens verbunden sind, dass die Frage der Normalität und Normgerechtigkeit sprachlichen Handelns durchaus eine systematische Rolle in ihrer Lebenspraxis spielt, eine unterschiedliche Basis für die daraus folgenden Bewertungen. Die Kodizes, die Musterschreiber, die amtlichen Korrigierer, sie wären es, die das Über-Ich einer institutionalisierten kollektiven Intentionalität sichern. 24 Die offiziellen bis offiziösen Kodifizierer - und man will zumindest hoffen, auch die amtlichen Korrigierer - sollten einen mehr oder minder direkten Bezug auf die Beschreibungen und Untersuchungen der Linguisten haben und nehmen. Deutlich anders ist das zweifellos bei den Musterschreibern, die normalerweise eine gewisse Vorstellung von der Bandbreite der Erscheinungen haben, die man üblicherweise der Hochsprache zuordnen würde. Wie oben schon an- 23 Man mag es nicht für Zufall halten, dass nun nach einer Phase, in der Schriftlichkeit die zentrale Rolle gespielt hat, nicht nur gesprochene Sprache, sondern ihre Verankerung in der Körperlichkeit des Menschen, die Stimme, auch von neuem theoretischem Interesse ist; vgl. nicht zuletzt Dolar (2007). 24 Diese Aufzählung orientiert sich in lockerer Weise an den von Ammon (1995 u.ö.) gemachten Feststellungen; siehe Langer (2007, S. 224). Ludwig M. Eichinger 212 gedeutet, ist diese Vorstellung davon geprägt, dass die Verlässlichkeit dieser Formen nicht ausschließlich über verwendungsfunktionale Gebrauchsregeln gesichert werden kann, dass aber diese Gruppen von Sprechern und vor allem Schreibern ein Mitspracherecht in Fragen der Angemessenheit - und auch Richtigkeit - beanspruchen. Außer auf die Übung, die durch die eigene Praxis gewonnen wurde, stützt sich dieses Urteil auf die Sozialisierung in eine traditionell schriftsprachliche Welt hinein, wie sie der Erwerb eines höheren Bildungsgrades impliziert und zur Folge hat. Es ist offenkundig, dass man auf dieser Basis in der sprachlichen Moderne der Bundesrepublik Deutschland zu Urteilen kommt, die von den angedeuteten Verschiebungen der standardsprachlichen Praxis weithin absehen. Man weiß allerdings auch, dass die soziolinguistisch angeregte emanzipatorische Diskussion um eine alternative Konzeption eher darauf verzichtet hat, zu einer medial bedingten und in gesellschaftlicher Diversifikation gründenden Modifikation eines Bildes von Standardsprachlichkeit zu kommen. Vielmehr werden in emanzipatorischer Tendenz funktionale Uminterpretationen von eindeutig nicht standardsprachlich orientierten Sprachhandlungsweisen vorgeschlagen - was, wie gezeigt, kritisch ist im Hinblick auf den notwendig sozialen „gemeinschaftsbezogenen“ Charakter von Standardsprachlichkeit. 4.2 Idealtypisches im Wandel Eine Rekonstruktion von Standardvorstellungen, die mit den grundsätzlichen Veränderungen der Verhältnisse des Sprachgebrauchs ebenso kompatibel ist wie mit den Veränderungen der Regeln sozialsymbolischer Interaktion in einer traditionsentbundenen Moderne, hat die folgenden beiden sprachlichen Punkte zu beachten: Zum einen hat sich die Schriftsprachlichkeit in einem Ausmaß in Texttypen, Textarten und Textsorten ausdifferenziert, dass von einer in jeder Hinsicht eindeutigen Standardnorm nicht mehr ausgegangen werden kann. Damit hängt auch zusammen, dass man zweifellos heutzutage auch in höherem Ausmaß als früher mit medialer Schriftsprachlichkeit zu tun hat, die nicht als standardsprachlich einzuschätzen - und auch nicht als solche intendiert - ist. Wenn damit die Klassifikation als Standard über bestimmte grammatische Minimalanforderungen hinaus einen Sinn haben soll, müssen notwendigerweise die textsortenspezifischen Präferenzen auch einen Widerhall in den Vorstellungen vom Standard finden. Der Standard muss in der Folge an bestimmten Stellen Variation erlauben. Es ist offenkundig, dass die öffentlichen Sprachkritiker, Vom rechten Deutsch. Wer darf die Sprache kritisieren? 213 die normalerweise die eindeutige Lösung bevorzugen, eigentlich merkwürdig unzeitgemäß erscheinen, selbst wenn der einzelne Vorschlag, den sie machen, unter Umständen vernünftig ist. 25 Der zweite Punkt weist in dieselbe Richtung, hat aber vielleicht noch weiter reichende Konsequenzen. Von verschiedenen Seiten wurde beobachtet, dass sich in der letzten Zeit vermehrt sprachliche Formen dokumentieren ließen, die von der Entstehung eines sprechsprachlichen Standards zeugen, der in der Lage ist, strukturelle Merkmale von Oralität zu integrieren. Gleichzeitig - und das betrifft nicht zuletzt das standardsprachliche Lexikon - werden damit dieser Sprachform Diskursbereiche zugänglich, die den Alltag jedenfalls berühren. Und der Alltag schien bisher eindeutig die Domäne des terminologischen Chamäleons „Umgangssprache“ zu sein. Nicht umsonst taucht jedenfalls ein erheblicher Teil der Variation, den Jürgen Eichhoff in seinem „Wortatlas der deutschen Umgangssprachen“ (1977ff.) verzeichnet, jetzt in dem Variantenwörterbuch (Ammon et al. (Hg.) 2004) auf, das sich vornimmt, standardsprachlichen Wortschatz mit „nationaler“ Variation zu verzeichnen. Wenn man schon die oben angesprochenen Äußerungen ansieht, tendieren Linguisten dazu, die Vielfalt von funktional äquipollenten Systemen zu betonen und in diesem Sinn eine höhere Geltung für gesellschaftlich diskriminierte Varietäten zu fordern. Dass man sich mit Stellungnahmen wie der zuletzt apostrophierten im Bereich einer soziolinguistisch orientierten Sprachkritik befindet, ist offenkundig. Allerdings ist unklar, wie weit diese Urteile unmittelbar aus der linguistischen Kompetenz stammen. 4.3 Wissen in der Sache, Übereinkunft im Status 4.3.1 Wissen über Variation - und ihren sozialen Wert Unstrittig ist, dass das Wissen um existierende Variation eine bessere Basis für ein ausgewogenes Urteil über den gesellschaftlichen Ort sprachlicher Verhältnisse darstellt als die Unkenntnis oder zumindest traditionalistische Fehleinschätzung, wie sie sich häufig in der Sprachkritik der Laien findet. Andererseits kann dieses Wissen erst so recht wirksam werden, wenn es mit den beobachtbaren normativen und statusfunktionalen Vorstellungen verbunden wird, und wenn die Kontexte eines möglichen Wandels genau beschrieben sind. 26 25 So hält auch z.B. Ágel (2008, S. 74) die von Sick gegebenen Empfehlungen - bei allerdings unvollständiger Auflistung der jeweiligen Fälle - für akzeptabel und im statistischen Trend liegend. 26 Das wird in dem Beitrag von Ágel (2008) exemplarisch vorgeführt, in anderer Weise in Keller (2005). Ludwig M. Eichinger 214 Wenn so zum Beispiel in letzter Zeit an verschiedenen Stellen auf einen unbefangeneren Umgang mit Dialekten und regionalen Sprachformen hingewiesen, und das nicht zuletzt an Verwendungen in satirischen Kontexten und in Comics festgemacht wird, 27 so kann man das allenfalls in einem sehr oberflächlichen ersten Blick für die Wiederkehr traditioneller Sprachgebräuche halten. Es handelt sich vielmehr um einen bewusst gewählten Marker für Differenz, der - typischerweise in Textsorten, die das Symbolische dieses Tuns durch Unernst besonders deutlich machen - als ein opting-out aus einem mehr und mehr standardsprachlichen Alltag eine gewählte Zugehörigkeit indiziert, ohne das prinzipielle sprachliche Modell in Frage zu stellen. In analoger Weise lassen sich die eher linguistisch orientierten Stellungnahmen zur Verwendung von Anglizismen lesen. Auch hier handelt es sich um eine dem eigenen Milieu entsprechende sozialsymbolische Wahl, bei der normalerweise nicht der Anspruch erhoben wird, das „konservativere“ System zu ersetzen - und zwar eigentlich grundsätzlich: nur in dieser Differenz kann es den gewählten symbolischen Wert beibehalten. Für jugendsprachliche Diskurse ist ja das daraus folgende symbolische „Fluchtverhalten“, das eintritt, wenn die „normale“ Umgebung die gruppenspezifischen Kodierungsgewohnheiten aufnimmt, gut beschrieben. 28 Dieser Typ von Auseinandersetzung mit - von beiden Seiten - statusgefährdender Variation kann wohl mit dem Modell der „unsichtbaren Hand“ beschrieben werden, wobei die Möglichkeiten sozialer Wahl unter den geschilderten Gegebenheiten der Gegenwart größer sein dürften, als sie jemals waren. Etwas anders ist das sicher mit der allmählichen Annäherung an die Optionen eines gesprochenen Standards, der ja Oralität im Prinzip eher monozentrisch organisieren muss - während die sprachliche Welt des Gesprochenen eher plurizentrisch organisiert war. Konkret heißt das, dass aus den vorhandenen Optionen eine Auswahl getroffen wird, mittels derer aus dem vorhandenen plurizentrischen Angebot ein übergreifendes System von Regularitäten entwickelt wird, in dem der Grad an Variation kontrolliert gehalten wird. 29 27 Man kann es ironisch nennen, dass das auch Fälle für das genus humile der klassischen Rhetorik wären. . 28 Siehe dazu Eichinger (2001). 29 Soweit sind das Beobachtungen, die Gaugers (2006) Feststellung stützen: „Die Sprachwissenschaft hingegen ist hier hegelianisch: Alles, was (in der Sprache) ist, ist für sie vernünftig - sonst wäre es ja nicht.“ - - Vom rechten Deutsch. Wer darf die Sprache kritisieren? 215 4.3.2 Das Wissen des Linguisten und die Kenntnisse des Praktikers Unstrittig sollte auch sein, dass die Linguistik in der Lage ist, in einer prinzipiell handlungsentlasteten Haltung die Abläufe des Wandels, ihren systematischen Ort, ihre Einbettung in die Regularitäten sprachlicher Üblichkeit zu beschreiben. Dieses Wissen - darin liegt seine intersubjektivierbare Stärke - kann auch inferenziell expliziert werden. Ein solcherart gegründetes Wissen kann zu einer Abschätzung plausibler Entwicklungsoptionen genutzt werden. Und es ist gar nicht einzusehen, warum diese Wissensbasis dann nicht dazu genutzt werden können sollte, Bewertungen und Empfehlungen abzugeben. Allerdings ist es sicherlich schwierig, und wohl auch nicht mehr hinreichend handlungsentlastet, wenn bei diesen Empfehlungen die Statusfunktionalität bestimmter Gegebenheiten ignoriert wird. Diese Vernachlässigung eines zentralen Aspekts sozialer Stabilität kann sich allenfalls ein Privatmann - und damit auch der Linguist als Privatmann - leisten, der seinen Wünschen Ausdruck gibt. Das heißt aber auf der anderen Seite nicht, dass nur Wissen, das seine argumentative Rechtfertigung in einer Kette von erklärenden Explikationen entfalten kann, das Mitsprechen in Fragen sprachlicher Angemessenheit erlauben würde. Nicht umsonst stammen viele der Laien-Sprachkritiker aus einem beruflichen und alltäglichen Umfeld, in dem die Beherrschung der Standardsprache - und weiterer Varietäten - eine zentrale praktische Fähigkeit darstellt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich im Verlauf der Jahre eine Sicherheit der Einschätzung herausstellt, die wir als das Ergebnis einer verlässlichen Wahrnehmung betrachten können. Wir würden, wenn wir die Erfahrung gemacht haben, dass die aufgrund der Erfahrung gefällten Urteile den mit Gründen unterstützten in ihrer Verlässlichkeit entsprechen, durchaus behaupten, hier sei ein Wissen über die sprachlichen Sachverhalte, das in die Diskussion eingebracht werden kann. 30 Allerdings ist es erkennbar so, dass diese abduktive Beurteilung eher in den Bereichen zu vernünftigen, verlässlichen Urteilen führt, die der jeweils eigenen Handlungseinbindung entsprechen. So ist die sprachliche Kenntnis des Laien nützlich; für eine einigermaßen verlässliche Explikation ist jedoch die Professionalität des Sprachwissenschaftlers vonnöten. Der Sprachwissenschaft steht es gut an, etwas für die Verbreitung von guten Gründen zu tun, sie bilden nicht zuletzt auch die Folie, auf deren Hintergrund die Ausführungen der stärker an einzelnen Punkten interes- 30 Zu dieser Argumentationsfigur siehe Brandom (2001, S. 128), zu ihrem generellen Status (ebd., S. 231). Ludwig M. Eichinger 216 sierten Sprachkritik in einen systematischeren Zusammenhang gestellt werden können. 31 Diesen Wissensgrund in einer Weise zu vermitteln, dass er auch außerhalb der engeren Profession verstanden werden kann, würde sicher auch so manchem Sprachkritiker helfen. 5. Literatur Ágel, Vilmos (2008): Bastian Sick und die Grammatik. Ein ungleiches Duell. In: Info DaF 35, 1, S. 64-84. 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In: Info DaF 34, 2/ 3, S. 306-307. 31 Das IDS versucht dieser Anforderung in dem Modul „Grammatik in Fragen und Antworten“ ( www.ids-mannheim.de/ grammatikfragen , Stand: 13.08.08) nachzukommen. Vom rechten Deutsch. Wer darf die Sprache kritisieren? 217 Keller, Rudi (2005): Ist die deutsche Sprache vom Verfall bedroht? In: Aptum 3, S. 193-205. König, Werner (2008): Welche Normen? Wessen Normen? In: Info DaF 35, 1, S. 61-63. Langer, Nils (2007): Finding standard German - notes on linguistic codification. In: Fandrych, Christian/ Salverda, Reinier (Hg.): Standard, Variation und Sprachwandel in germanischen Sprachen. (= Studien zur Deutschen Sprache 41). Tübingen, S. 217-240. Linke, Angelika (2003): Begriffsgeschichte - Diskursgeschichte - Sprachgebrauchsgeschichte. In: Dutt, Carsten (Hg.): Herausforderungen der Begriffsgeschichte. Heidelberg, S. 39-49. Maitz, Péter/ Elspaß, Stephan (2007): Warum der „Zwiebelfisch“ nicht in den Deutschunterricht gehört. In: Info DaF 34, 5, S. 515-526. 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Meyers, welche Mittel die Rezensenten verwenden, um die ihnen in der Sache gebotene Kritik je nachdem entweder polemisch zu verschärfen oder zur Schonung des rezensierten Autors abzumildern. Insbesondere wird gefragt, ob besagte Mittel im Sinne der bekannten Unterscheidung eher „sachlich“ oder eher „persönlich“ sind. 1. R.M. Meyers Abhandlung „Die deutsche Litteratur des Neunzehnten Jahrhunderts“ in der Rezeption Anfang November 1899 erschien das 960 Seiten umfassende Werk „Die deutsche Litteratur des Neunzehnten Jahrhunderts“ von Richard M. Meyer, damals noch Privatdozent in Berlin, bevor er dort 1901 zum außerplanmäßigen Professor für Germanische Philologie ernannt wurde. Das Buch wurde als Band 3 eines von Paul Schlenther herausgegebenen, auf elf Bände angelegten Sammelwerks „Das Neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung“ (Berlin: Bondi-Verlag) veröffentlicht, das laut Verlagsankündigung „aus Anlaß des Jahrhundertwechsels die letzten hundert Jahre deutscher Entwicklung auf den wichtigsten Kulturgebieten historisch-kritisch behandeln“ sollte. Die erste Auflage der Literaturgeschichte war in wenigen Monaten vergriffen. Die Arbeit an der 2. Auflage (fünftes bis neuntes Tausend) schloss Meyer laut Vorwort am 22. März 1900 ab. Die ersten Ankündigungen und Rezensionen des Buches, das auf dem Titelblatt das Jahr 1900 als Veröffentlichungsdatum trägt, erschienen schon Ende 1899, zahlreiche weitere in den ersten Monaten des Jahres 1900. 1 Von ihnen wähle ich zehn aus, um beispielhaft die unterschiedlichen Strategien der Verfasser im Umgang mit dem Gebot, sich an die Sache zu halten und die Person in Frieden zu lassen, verdeutlichen zu können. Ergänzend ziehe ich zwei polemische Schriften von Bartels und Holz heran, die sich von den Rezensionen nicht nur durch ihre Länge (40 bzw. 51 Seiten) und durch die Veröffentlichung als Broschüre unterscheiden, sondern auch dadurch, dass sie den Namen des Autors in den Haupttitel setzen, während es zu den Gattungsmerkmalen der Rezension gehört, dass sie als unmittelbaren Gegenstand ein Werk und nicht den Autor hat. 1 Einen reichhaltigen Überblick erhält man in der ständigen Rubrik „Echo der Zeitungen und Zeitschriften“ der Berliner Halbmonatsschrift „Das litterarische Echo“ in den Bänden 2 (Okt. 1899 - Okt. 1900) und 3 (Okt. 1900 - Okt. 1901), wo zwischen 30 und 40 Rezensionen nachgewiesen und kurz charakterisiert werden. Walther Dieckmann 220 Unter den Verfassern (vgl. Literaturverzeichnis) befinden sich Literarhistoriker, die als Universitätsprofessoren im engeren oder weiteren Sinne Kollegen Meyers waren und ihre Rezensionen vornehmlich in den germanistischen Fachzeitschriften veröffentlichen. Daneben kommen Schriftsteller und Kulturjournalisten zu Wort, deren Texte in Periodika mit erweitertem Adressatenkreis erscheinen. Auch sie sind fast alle akademisch einschlägig vorgebildet, mit literarhistorischen oder literaturkritischen Veröffentlichungen ausgewiesen und also in besonderer Weise fachkundig. 2. Die konsensuelle Basis in der Einschätzung der meyerschen Literaturgeschichte Obwohl die zur Analyse herangezogenen Rezensionen und Streitschriften das ganze Spektrum der Bewertung von Lobpreis bis Verriss abdecken, 2 die Beurteilung von Qualität und Nützlichkeit des Buches also sehr unterschiedlich ausfällt, sind sich die Rezensenten über einige der Grundeigenschaften der Abhandlung weitgehend einig. Die Differenzen entfalten sich oberhalb dieser konsensuellen Basis, zum Teil, weil die Rezensenten das Gleiche unterschiedlich bewerten oder gewichten, zum Teil aber auch, weil die Einstellung, mit der sie das kritische Geschäft betreiben, differiert. Weitgehend einig in der Sache sind sie sich in den folgenden Punkten: Das Buch erfüllt nur bedingt/ kaum/ gar nicht die Erwartungen, die man normalerweise mit einer Darstellung der Geschichte der Literatur verbindet. Die Jahreszahlen 1800 und 1900 als Eckdaten, die gewählte Einteilung des Jahrhunderts in Jahrzehnte sowie die Zuordnung der einzelnen Dichter zu den Jahrzehnt-Kapiteln können die tatsächliche Entwicklung des Jahrhunderts nicht deutlich machen. Den einzelnen Jahrzehnten sind unterschiedlich umfängliche Kapitel gewidmet, insbesondere die Darstellung der ersten drei Jahrzehnte bis zu Goethes Tod ist mit insgesamt 143 Seiten sehr kurz geraten. Gemessen an den Intentionen des Autors besteht die Möglichkeit, wenn nicht sogar das Erfordernis, das Buch Meyers nicht (nur) als Literaturgeschichte, sondern (auch/ vor allem) als Sammlung von Essays über deutsche Dichter im 19. Jahrhundert („Porträtgalerie“) zu betrachten und zu beurteilen. 2 Am positiven Endpunkt der Skala steht die fast nur lobende Rezension von Klee, am anderen Ende stehen die entschieden negativen Beurteilungen von Arnold, Bartels, Holz und Landsberg. Dazwischen gruppieren sich Autoren, die Lob und Tadel in unterschiedlicher Gewichtung verteilen: mit vornehmlich positivem Gesamturteil (Harnack, Jantzen, Köster und Sauer) oder vornehmlich negativem (Bölsche, l., v. Weilen). 1) 2) 3) 4) Sachliche Kritik und persönlicher Angriff in Rezensionen 221 Der Autor zeigt sich sehr wertungsfreudig, besonders hat er die Neigung, die behandelten Dichter und ihre Werke auch negativ zu bewerten. Das bringt nach Meinung einiger Rezensenten einen Ton in die Darstellung, der eher zu einem Literaturkritiker oder einem Rezensenten als zu einem Historiker passt. Das Buch trägt deutliche Züge einer subjektiven bzw. gruppenspezifischen Sichtweise und ist in Auswahl, Gewichtung, Charakterisierung und Bewertung der behandelten Gegenstände nicht „objektiv“. Es gibt auch ein fast allgemein genanntes positives Merkmal: die Belesenheit des Autors und die aus dem Werk geschlossene Gewissheit, dass der Autor all die Bücher, über die er spricht, tatsächlich auch gelesen hat. 3. Der Ton macht die Musik. Das Spektrum der Bewertung von Lobpreis bis Verriss Trotz der in Kapitel 2 benannten Merkmale der meyerschen Literaturgeschichte, über die als solche unter den Rezensenten mehr oder weniger Konsens besteht, nehmen die untersuchten Rezensionen auf der Skala zwischen Lobpreis und Verriss ganz unterschiedliche Plätze ein, und es erhebt sich die Frage, welche Faktoren denn die extrem unterschiedlichen Positionierungen bestimmt haben. Eine naheliegende Vermutung ist, dass es gravierende Unterschiede in der Einschätzung des rezensierten Werks neben den erwähnten Konsenspunkten gegeben hat, die die Differenzen in der Gesamtbeurteilung trotz der skizzierten konsensuellen Basis zu erklären imstande sind. In der Tat besteht ein deutlicher Dissens in der Beurteilung der Dichter- und Werkbeschreibungen in den einzelnen Kapiteln. Einige Rezensenten schätzen sie sehr positiv ein und kommen ihretwegen auch zu einer positiven Gesamtbeurteilung des Werkes. Andere formulieren ein negatives Gesamturteil, weil sie entweder nicht bereit sind, die Qualitäten einer Porträtgalerie gegen die nicht erfüllte Erwartung einer literaturgeschichtlichen Darstellung aufzurechnen, oder weil sie auch die Dichter-Essays nicht überzeugend finden. Ein zweiter Faktor besteht darin, dass der Konsens über das Vorliegen eines Merkmals nicht zugleich auch einen Konsens über seine Bewertung und/ oder seine Gewichtung bedeutet. Die Feststellung, das Werk sei eigentlich keine Literaturgeschichte, kann von einem ohne weitere Umstände als Kritik formuliert werden. Wer aber an das Buch ohne die Erwartung herangeht, es wolle, solle oder müsse den Charakter einer Literaturgeschichte haben, wird die gleiche, für den Leser informa- 5) 6) 7) Walther Dieckmann 222 tive Feststellung treffen, ohne mit ihr Kritik zu verbinden. In gleicher Weise können die Punkte 2-7 als Kritik vorgebracht werden, können aber auch ins Positive gewendet werden: 1800 und 1900 als die Eckdaten der Darstellung verlieren die Vorwerfbarkeit, wenn sie als konzeptueller Bestandteil der Reihe der Verantwortung des Autors entzogen werden; die kurze Behandlung der ersten Jahrzehnte kann mit dem Argument, dass es für die klassische Periode genügend gute Darstellungen gebe, entschuldigt, wenn nicht sogar belobigt werden; die Subjektivität büßt ihr kritisches Potential ein, wenn sie als unvermeidbar betrachtet wird. Auf der anderen Seite verliert die große Belesenheit viel an positiv wertender Substanz, wenn der Rezensent deutlich macht, dass der Autor mit dem Gelesenen nicht sinnvoll umzugehen weiß, seine Arbeit also „fruchtlos“ war (Arnold 1901, S. 258). Diese und andere die Positionierung einer Rezension auf der Bewertungsskala beeinflussenden Faktoren haben ihren Grund, zusammengefasst, in der unterschiedlichen Einschätzung des rezensierten Buches hinsichtlich der für eine Rezension relevanten Bewertungsdimensionen (theoretische Fundierung, methodische Sorgfalt, empirische Zuverlässigkeit, durchsichtige Gliederung, verständliche Darstellung, Neuigkeit der Ergebnisse, Gebrauchswert des Buches etc.). In den weiteren Abschnitten möchte ich das Augenmerk darauf lenken, dass die Positionierung nicht nur von der Einschätzung des rezensierten Werks abhängt, sondern auch von der Einstellung des Rezensenten zu seinem kritischen Geschäft, wobei Einstellung ähnlich wie Einschätzung als Sammelbegriff für eine Mehrzahl von Sachverhalten verwendet wird: Auffassung über die Funktionen von Rezensionen, Verständnis kommunikativer Normen, Art der Beziehung zwischen Rezensent und Autor (persönliche Bekanntschaft, Schulenzugehörigkeit), polemisches Temperament u.a. Mit wechselnden Einstellungen verändert sich der Ton der Rezension auch bei im Prinzip gleicher Einschätzung von Qualität und Nützlichkeit des Werks, und der Ton macht, wie jeder weiß, die Musik. In den folgenden Kapiteln werden Strategien benannt, die geeignet sind, den Grad der Schärfe der Kritik entweder zu erhöhen (Kapitel 4) oder zu mildern (Kapitel 5), wobei der (gedachte) Vergleichspunkt die sich aus der Einschätzung des Werks ergebende Positionierung ist, die je nach Einstellung des Rezensenten in die eine oder die andere Richtung verschoben wird. Ich beschränke mich auf Strategien, die in den untersuchten Rezensionen eine bemerkenswerte Rolle spielen, ohne den Anspruch zu haben, solche Strategien damit vollständig zu erfassen. Sachliche Kritik und persönlicher Angriff in Rezensionen 223 4. Verschärfung der Kritik 4.1 Persönlichwerden Eine bekannte Strategie der Verschärfung der Kritik ist das Persönlichwerden, ja eine Wendung wie „scharfe persönliche Kritik“ mutet beinahe tautologisch an, weil persönlich und scharf sich gegenseitig zu implizieren scheinen. 3 Es besteht allerdings weder in der wissenschaftlichen noch in der öffentlichen Diskussion Einigkeit darüber, ob wirklich alle Äußerungen, in denen ein negativ wertender Bezug auf den Kontrahenten, hier: den Verfasser des rezensierten Werks, bzw. auf einzelne Eigenschaften oder Verhaltensweisen der Person hergestellt wird, die negative Bewertung verdienen, die eine Äußerung konventionalisiert erfährt, wenn sie als Persönlichwerden gekennzeichnet wird. Den inneren Kern dessen, was als vorwerfbarer Bezug auf Personen gilt, bilden Äußerungen, die das Privatleben betreffen, unterschieden von Bezügen auf Eigenschaften der Person, derentwegen diese als Politiker, Schriftsteller, Wissenschaftler, Filmschauspieler oder auch als Sexualstraftäter von öffentlichem Interesse sind. Die Grenze verläuft somit nicht zwischen Sache und Person, sondern wird in die Person hinein verlegt. Die Durchsicht der Texte zeigt, dass sich keiner der Rezensenten die Freiheit nimmt, die Grenze zum Privaten zu überschreiten. Alle Aussagen über Meyer beziehen sich auf den Wissenschaftler, den akademischen Forscher und Lehrer, auch wenn in diesem Rahmen behauptete Eigenschaften Meyers, z.B. mangelnde Intelligenz, thematisiert werden, die von der Natur der Sache her nicht auf die öffentliche Person beschränkt sein können. Nur Bartels' Rezension scheint mit seiner wiederkehrenden Thematisierung des „Juden“ Meyer ein klarer Fall von Nutzung sachfremder privater Aspekte der Person zur Diskreditierung des Gegners. Doch ist das, aus der Perspektive der bartelsschen Spielart des Antisemitismus betrachtet, zweifelhaft. Für Bartels ist die Tatsache, dass Meyer Jude ist, keine Eigenschaft allein der privaten Person, sondern etwas, was auch die wissenschaftliche Persönlichkeit bestimmt. Dies ist sogar seine zentrale These. Über die Benennung privater Aspekte hinaus werden Äußerungen als Akte des Persönlichwerdens kritisierbar, wenn man mit Lessing als prominentem Gewährsmann (vgl. Dieckmann 2005, S. 73) zur Regel macht, dass man in der öffentlichen Auseinandersetzung nur Informationen verwenden dürfe, die man aus den Werken des Kritisierten oder sogar nur aus dem einen, dem rezensierten Werk gewonnen hat. 3 Genaueres zu Begriff und Sache enthält das Kapitel 3.3 in Dieckmann (2005). Walther Dieckmann 224 Der Blick auf die untersuchten Rezensionen zeigt, dass die Rezensenten auch den von der weicheren Formulierung eröffneten Spielraum kaum in Anspruch nehmen. Soweit sie überhaupt Kenntnisse nutzen, die sie nicht aus der rezensierten Literaturgeschichte haben und haben können, geht es um vereinzelte Details. Außerdem sind die lobenden Charakterisierungen häufiger als die kritisierenden, so wenn etwa Arnold (1901) sich angesichts der Schwächen in der Gesamtanlage der Literaturgeschichte zu trösten versucht „mit der am einzelnen bewährten darstellungskunst eines autors, von dem gerade auf dem gebiet feinen unterscheidens, lebendiger individualisierung, klaren ausdrucks für complicierte stimmungen das beste erhofft werden kann“ (S. 253) - eine Erwartung, die sich nicht in der Lektüre des rezensierten Werkes gebildet haben kann, von diesem sogar enttäuscht wird. 4 Ausnahme ist in dieser Hinsicht Bartels (1900), der sowohl eine „Charakteristik des Werks“ als auch eine „Charakteristik des Autors“ (S. 30) geben will. Auf den ersten 30 Seiten macht er das rezensierte Werk und die Fehler und Schwächen des Autors, die in diesem Werk deutlich werden, zum Gegenstand („beweisen, daß und warum es nichts taugt“, S. 33), während er im Schlussteil die Forscherpersönlichkeit Meyers insgesamt als „Typus des Schererianers und des jüdischen Litteraturhistorikers“ (ebd.) beleuchten will. Wenn Holz (1900) andererseits in seinem Schlusssatz schreibt: „Unter der deutschen Professorenschaft von Ihrer Sorte auch nur ein halbes Dutzend, und wir sind das Gelächter Europas“ (S. 51), so könnte das vernichtende Urteil allgemeiner nicht sein; doch glaubt er, seine These der mangelnden Intelligenz Meyers und seiner ehrabschneidenden Machenschaften allein durch Analyse des rezensierten Werkes bewiesen zu haben. Eine andere Grenzziehung läuft über das Kriterium, ob der Bezug auf die Person geeignet ist, die festgestellten Defizite des jeweils behandelten Werks zu erklären, und in dieser Absicht vollzogen wird. Bedingung für normgerechtes Verhalten ist in diesem Fall also, dass die personenbezogenen Äußerungen in der Klärung der in Frage stehenden Sache argumentativen Wert haben, unterschieden von Äußerungen, so Kienpointner (1983, S. 153) mit Berufung auf Perelman u.a., „die allein dem Zweck der Diffamierung des Gegners dienen“. 5 Die positive Beurteilung solcher erklärender Bezüge auf die Person hängt von mindestens zwei nicht selbstverständlichen Vorentscheidungen ab: 4 Vergleichbar die gleichfalls lobenden Charakterisierungen Bölsches (1900) („ein geist- und kenntnisreicher Mann“, S. 153), Harnacks (1899/ 1900) („ein wissenschaftlich längst bewährter Verfasser“, S. 617) und Jantzens (1900) („die bekannte stilistische Gewandtheit“, S. 379). 5 Zum möglichen sachbezogenen „Untergrund“ personenbezogener Argumente und Angriffe siehe auch Gloning (2002b, S. 67) und Gloning/ Lüsing (2002, S. 111). Sachliche Kritik und persönlicher Angriff in Rezensionen 225 (a) einer Funktionsbestimmung für den Texttyp Rezension, nach der nicht nur der Nachweis der Schwächen des Werks, sondern auch deren Erklärung zu den Aufgaben des Rezensenten gehört; (b) einer Hierarchisierung der Werte, in der die Funktionalität den ersten Platz einnimmt und zu ihren Gunsten Abstriche am ethisch (und rechtlich) begründeten Schutz der „äußeren Ehre“ in Kauf genommen werden können. Die Analyse der Rezensionen zeigt eindeutig, dass die Möglichkeit, mit erklärendem Anspruch Eigenschaften der Person zu thematisieren, faktisch das größte Einfallstor für Bezugnahmen auf den Autor ist: Bei Holz sind die Erklärungen (der „Grund“) für die Schwächen des Werks, als zweiteilige These an den Anfang der Schrift gesetzt und auf den letzten Seiten bestätigt, für die gesamte Schrift strukturbildend. 6 Auch in der Schrift von Bartels findet man eine quasi systematische Rückführung der dargestellten Defizite auf die Persönlichkeit des Autors. Früher oder später wird allerdings klar, dass die von Bartels behaupteten Eigentümlichkeiten und Unfähigkeiten („Unfähigkeit zur Geschichtsschreibung“, „ästhetisch-kritische Unfähigkeit“, „angeborene Neigung zur Geistreichigkeit“, „Preziosentum und Geziertheit“, „Opportunismus“ und „Zünftlerwesen“) nicht im Individuum Meyer ihre Wurzeln haben, sondern Charakteristikum der Gruppen oder Kollektive sind, denen Meyer angehört; und zwar in erster Linie des Judentums. Da die Schererschule bzw. der politische Liberalismus ihrerseits als jüdisch bzw. jüdisch beeinflusst gelten, spielen sie nur eine Vermittlerrolle. Seine Hauptenergie setzt Bartels ein, um an den Schwächen des Werks den Nachweis zu führen, dass Meyer als Jude unfähig ist, die deutsche Literatur angemessen aufzunehmen und darzustellen. 7 Über die begrenzte Möglichkeit des Verstehens hinaus 6 „Der Grund hiervon ist ein zweifacher: ein entschuldbarer und ein unentschuldbarer. Der entschuldbare ist Herrn Meyers Intellekt, der der Aufgabe, die Herr Meyer sich gestellt hatte, nicht gewachsen war, und der unentschuldbare seine Parteilichkeit. [...] Da es meine unangenehme Eigenthümlichkeit ist, Behauptungen, die ich aufstelle, auch mit Beweisen zu verzieren, lasse ich im Nachstehenden diese Beweise folgen, und zwar gepflückt aus meinem ‘Fall’. Ihre Zusammenfassung wird dann ergeben, was ich diesen Blättern aufs Titelblatt setzte: Richard M. Meyer, ein litterarischer Ehrabschneider“ (Holz 1900, S. 7-8). 7 Das betrifft u.a. das grundlegende Defizit des Werks, keine Literaturgeschichte zu sein: „Ein Jude kann in der That nur eine Kritik, keine Geschichte der deutschen Litteratur liefern, denn er weiß ja nicht, was uns notwendig war und ist, er kann die Sprödigkeit und Widerspenstigkeit des ihm von Natur fremden Stoffes immer nur bis zu einem gewissen Grade überwinden [...]“ (Bartels 1900, S. 38). - Schwächen in Teilkomplexen: „Wie die meisten Juden versteht R.M. Meyer überhaupt nichts von deutscher Lyrik [...]“ (ebd., S. 13). - „Raabe wird als ‘Epigone’ einfach abgethan - nun man kann von einem Juden nicht verlangen, daß er Raabe gerecht werde“ (ebd., S. 30). Siehe ferner S. 14, 27, 39 u.ö. Walther Dieckmann 226 nimmt Bartels an anderen Stellen auch ein (vorwerfbares) opportunistisches Interesse an einer bestimmten Deutung an, z.B. an der „Entlastung seiner beiden Rassegenossen“ Börne und Heine von der Verantwortung für den „Feuilletonstil“ (Bartels 1900, S. 18). Arnold und Landsberg unterscheiden sich in der negativen Einschätzung der meyerschen Literaturgeschichte im Grunde wenig von Holz und Bartels, weil sie wie diese sowohl in der Beurteilung des Buches als Literaturgeschichte als auch in der Beurteilung der einzelnen Dichterprofile zu einem entschieden negativen Urteil kommen. 8 Im Ton aber unterscheiden sie sich stark, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie sich der Möglichkeit, die Defizite mit Eigenschaften des Verfassers zu erklären, nur höchst zurückhaltend bedienen. Besonders Arnold listet die Irrtümer und Fehlgriffe detailliert auf, ohne nach den möglichen Gründen in der Persönlichkeit des Autors zu fragen. Bezüge auf die Person haben bei ihm eher entlastende oder entschuldigende Funktion und gehören deshalb in das Kapitel „Abschwächung der Kritik“. Das Gleiche gilt im Wesentlichen für alle anderen Rezensionen. Entweder verzichten sie auf personenbezogene Äußerungen überhaupt (l. 1900; Jantzen 1900), oder sie nutzen den Personenbezug bei positiven Aspekten des Werks überwiegend lobend (Klee 1899; Köster 1900) und bei negativen entlastend und entschuldigend (Bölsche 1900; Köster 1900). 4.2 Das Diskreditierungspotential der sachbezogenen Kritik Die erklärenden Rückbezüge auf den Autor sind die Form des Persönlichwerdens, die in den Rezensionen die relativ größte Rolle spielt und überdies ein hohes Diskreditierungspotential besitzt, weil bei solchen Rückschlüssen oft ein mehr oder weniger häufig beobachtetes Verhalten auf eine Charaktereigenschaft (Dummheit, Eitelkeit, Opportunismus, Unmoral) zurückgeführt wird. Jedoch ist zu betonen, dass die Schärfe der Kritik keineswegs notwendig von der Beimischung persönlicher Kritik abhängt, sondern allein von der 8 Landsberg (1900): „Schon die Anlage des Werkes ist total verfehlt“ (S. 114). „So erhalten wir eine für mein Gefühl völlig zusammenhanglose litterarhistorische Plauderei über deutsche Dichtung und ihre Dichter, aber keine Litteraturgeschichte“ (S. 115). „Aber auch in der Darstellung der einzelnen Dichterprofile trifft Meyer nur selten den Kern der Persönlichkeit“ (ebd.). - Arnold (1901): „die angeführten, leicht zu vermehrenden beispiele tun zur genüge dar, in wie geringem maße das vorliegende werk den normalen anforderungen an pragmatische geschichtschreibung gerecht wird“ (S. 250-251). „gerne möchten wir uns, dem rate anderer referenten folgend, wenigstens mit den einzelheiten trösten, mit den einzelnen treffenden werturteilen, mit den einzelnen abgerundeten dichterporträts, mit der am einzelnen bewährten darstellungskunst [...]. reizte nur nicht eben auch das detail fort und fort zum widerspruch! “ (S. 253). Sachliche Kritik und persönlicher Angriff in Rezensionen 227 sachlichen Kritik bestimmt sein kann. Diese schützt zwar den Rezensenten vor Vorwürfen, kann jedoch in ihrer faktischen Wirkung genauso verletzend und diskreditierend sein wie ein persönlicher Angriff, weil „jede BEWERTUNG im Bereich ‘Sprechen’ [...] immer zugleich eine BEWERTUNG der Person des Sprechers“ ist (Zillig 1982a, S. 122). So kann man Gloning (2002b, S. 81) nur zustimmen, wenn er die „kritische Aktivität“ insgesamt zur „Familie der face threatening acts“ zählt. 9 Sogar eine vernichtende Kritik kann auf der Handlungsebene ohne persönliche Angriffe allein durch die Auflistung von Defiziten des Werks realisiert werden. Die Kritik verschärft sich, je mehr Dimensionen des Werks von ihr erfasst sind (große Reichweite der Kritik), je detaillierter die Kritik vorgetragen wird (Verschärfung durch Häufung), je stärker die Beschränkung auf negativ wertende Äußerungen ist (Fehlen beschreibender oder lobender Passagen), je entschiedener die Kritik jeweils ausgedrückt wird (total verfehlt vs. gewisse Einseitigkeiten), je weniger der Rezensent die Möglichkeiten der Abschwächung nutzt, die im folgenden Abschnitt benannt werden. 5. Abschwächung der Kritik Die Abschwächung der Kritik kann darin bestehen, dass sie von vornherein milder geäußert wird, als es angesichts der Schwächen des Werks in der Einschätzung des Betrachters möglich oder geboten wäre; zum anderen kann die ausgesprochene Kritik sekundär gemildert werden. 10 Der Druck, solche abschwächenden Mittel einzusetzen, erhöht sich mit der Stärke der geäußerten Kritik. Wer nichts zu kritisieren hat, braucht auch nichts abzuschwächen. Funktion der Abschwächung ist die Vermeidung oder Verminderung der möglichen Verletzung des Autors bzw. seiner Diskreditierung in den Augen 9 Nicht erst „Angriffszüge gegen die Person des Gegners“ (Gloning 2002b, S. 65-69), z.B. der Vorwurf mangelnder Kompetenz oder der Vorwurf der Lüge, sondern auch „Angriffszüge gegen Positionen“, z.B. die dem Text zugeschriebene Unklarheit der Zielsetzung, Widersprüchlichkeit in der Beweisführung, Trivialität der Ergebnisse, diskreditieren den Autor. Desgleichen spricht Gloning vom „inherent face threatening potential of argumentative moves“ (2002a, S. 25), z.B. des Widersprechens, was ja zweifellos jenseits aller Intentionen, den Gegner zu verletzen, eine wichtige Sprechhandlung jeder argumentativen Sachauseinandersetzung ist. 10 Zu den einzelnen Mitteln siehe Zillig (1982b), Glüer/ Fritz (2001), Fritz (2005). - - - - - Walther Dieckmann 228 des Publikums, eventuell auch nur die Entschärfung der Folgen der Kritik für die soziale Beziehung zwischen Autor und Rezensent. Daneben können Abschwächungen auch die Funktion haben, den Lesern Unvoreingenommenheit und Normtreue des Rezensenten zu suggerieren. 5.1 Komplementierung der Kritik durch Lob Ein sehr wirkungsvolles Mittel der Abschwächung geäußerter Kritik ist ihre Flankierung und Relativierung durch partielle Zustimmung. Da man an einem Buch, wenn man will, immer etwas loben kann, und sei es etwas Nebensächliches, ist das Ausmaß von Lob und Tadel im Sinne der oben getroffenen Unterscheidung nicht nur determiniert von den Qualitäten des Werkes in der Einschätzung des Betrachters, sondern auch von seiner Einstellung. Daneben gibt es viele Möglichkeiten, Lob und Tadel mit abschwächender Wirkung miteinander zu verbinden (vgl. dazu besonders Zillig 1982a, S. 140-151). Fast völliger Verzicht auf lobende oder auch nur neutral beschreibende Äußerungen kennzeichnet die Schriften von Holz und Bartels. Die Streitschrift von Holz enthält, bezogen auf die Gesamtanlage wie auf Details der meyerschen Literaturgeschichte, ausschließlich negative Urteile, während Bartels (1900) hin und wieder die Gelegenheit nutzt, in Details auch Zustimmendes zu sagen. An einer Stelle (S. 35) klingt es sogar so, als ständen Löbliches und Tadelnswertes in der Literaturgeschichte ungefähr in einem ausgewogenen Verhältnis. 11 Diese Bemerkung hat aber wohl primär die Funktion, dem Publikum die Unvoreingenommenheit des Rezensenten zu beweisen. Das Zugeständnis kommt gegen die Kritik schon deshalb nicht an, weil die misslungenen Aspekte auf 40 Seiten ausgebreitet werden, die gleiche Zahl gelungener aber nur auf zwei Zeilen als existent behauptet werden. Um einen merklichen Abschwächungseffekt zu bewirken, darf das Lob nicht nur offensichtliche Nebensächlichkeiten betreffen und es darf gewisse Quantitäten nicht unterschreiten. Andernfalls gerät es in Verdacht, nur Pflichtübung zu sein, wenn es nicht gar als unernst-ironisches Lob die Kritik verschärft. Bei der Verteilung von Lob und Tadel ist allerdings zu beachten, dass auch bei einem eigentlich ausgewogenen Verhältnis der Tadel, rein quantitativ betrachtet, meist den größeren Raum einnimmt, weil der Begründungs- und Belegzwang bei negativ wertenden Äußerungen größer ist als bei positiven. Dieser Umstand erklärt aber allenfalls das quantitative Übergewicht des Tadels bei 11 „Man könnte natürlich den von mir angeführten Ausführungen gelungene in gleicher Zahl gegenüber stellen - aber was würde damit bewiesen? “ (Bartels 1900, S. 35). Sachliche Kritik und persönlicher Angriff in Rezensionen 229 Jantzen, der das Buch überwiegend positiv einschätzt, 12 während bei Arnold, Landsberg, 1. und Bölsche das Überwiegen des Tadels zunächst einmal Ausdruck ihrer vorwiegend negativen Einschätzung der Literaturgeschichte ist. Das Lob betrifft deshalb Randphänomene und reduziert sich gerne auf eine kurze Bemerkung in den letzten Zeilen. Die Möglichkeiten, die die erwähnte Verbindung von Lob und Tadel als Instrument der Abschwächung der Kritik bietet, lässt sich am besten an der Rezension von Harnack illustrieren, 13 der jede Kritik möglichst im gleichen Satz durch Lobendes auszubalancieren, mindestens aber zu entschärfen sucht, indem er z.B. in seine Kritik an den Anfangs- und Enddaten der Jahrhundertdarstellung und an der Einteilung nach Jahrzehnten positiv bewertbare Ausdrücke einmischt. 14 In anderen Fällen bringt Harnack die Kritik von vornherein indirekt vor, indem er Meyer wenigstens die gute Absicht zubilligt, Kritikwürdiges, z.B. die parteiliche Sichtweise in der Darstellung der literaturpolitischen Auseinandersetzungen der Zeit, zu vermeiden (Harnack 1899/ 1900, S. 617). 5.2 Weitere Formen der Abschwächung Andere Möglichkeiten der Abschwächung der Kritik benenne ich an dieser Stelle nur, soweit sie in den untersuchten Rezensionen vorkommen. 12 Er spricht das Missverhältnis im letzten Absatz selbst an: „Doch ehe wir schließen, ist es noch unsere Pflicht, nach diesen fast allzu reichlich ausgefallenen Ausstellungen - um nicht eine falsche Vorstellung von dem wirklichen Werte des Buches zu erwecken - seine unleugbaren, zahlreichen und hervorragenden Vorzüge zwar kürzer, aber um so nachdrücklicher hervorzuheben; denn diese überwiegen die hier angefügten, außer der Anordnung doch meist nur Kleinigkeiten und Einzelheiten betreffenden Mängel entschieden und bedeutend“ (Jantzen 1900, S. 381). 13 Man könnte meinen, der eigentliche Gegenpol zu Bartels und Holz sei Klee, weil er mit dem Lob zweifellos am freigiebigsten umgeht. Da er aber kaum etwas zu kritisieren hat, wären seine lobenden Äußerungen als Abschwächungen fehlinterpretiert. Ähnliches gilt für Köster und Sauer. 14 „Wir brauchen dem wissenschaftlich längst bewährten Verfasser nicht darzulegen, daß das Einteilungsprinzip nach den Anfangsjahren des Jahrhunderts keine wissenschaftliche Berechtigung hat.“ - „Und wenn der Verfasser so resolut sich seiner Aufgabe bemächtigt hat, daß er seine Jahrhundertbetrachtung nun ganz konsequent nach Jahrzehnten einteilt und regelt, so liegt auch dem die gleiche Absicht praktischer Übersichtlichkeit zugrunde.“ (Harnack 1899/ 1900, S. 617, Hervorhebungen von mir). Vgl. auch Sauer, der seine Kritik an Meyers Darstellung der österreichischen Autoren in eine Bekundung von Dankbarkeit verpackt: „Wenn nun die wenigen Wünsche und Ergänzungen, die ich zum Schlusse vorbringen will, um für die mir gebotene reiche Anregung einigermaßen meine Dankbarkeit zu bekunden, grade Dichter meiner engeren Heimat betreffen, so mag mir das nicht bloß als Überschätzung der heimatlichen, von Jugend auf vertrauten Litteratur ausgelegt werden, die ich hier ganz anders bewertet und beurteilt finde, als ich dies zu thun gewohnt bin“ (Sauer 1900, S. 381). Walther Dieckmann 230 Einschränkung der Geltungskraft der Kritik, indem man sie mit geeigneten Mitteln als Ausdruck der persönlichen Meinung kategorisiert (Subjektivierung) und damit die Möglichkeit anderer Auffassungen offenhält oder indem man den Sicherheitsgrad der eigenen Behauptungen herabstuft oder indem man das Gewicht der geäußerten Kritik für die Gesamtbeurteilung einschränkt. Reduktion der Vorwerfbarkeit der kritisierten Sachverhalte, indem man dem Verfasser mildernde Umstände zubilligt oder indem man ihm gute Absichten/ guten Willen (bei schlechter Ausführung) zubilligt oder indem man das Kritisierte auf nicht willentlich beeinflussbare Faktoren zurückführt. Äußerung indirekter Kritik, indem man eingeschränkt lobt oder indem man positiv zu bewertende Alternativen benennt oder indem man die Kritik Dritter referiert, eventuell den Autor sogar verteidigt. Unterstellung der Zustimmung des kritisierten Autors, indem man ihn selbst für die Kritik in Anspruch nimmt („Er weiß es selbst“). Bestätigung der Kompetenz des Verfassers („gerade er kann es besser“). Gemeinsam ist diesen argumentativen Zügen, dass sie - als sekundäre Abschwächung - den Autor des rezensierten Werks in dieser oder jener Weise entlasten und somit schonen, ohne dass der Rezensent auf seine, gegebenenfalls auch entschieden kritische Darstellung der Mängel des Werks verzichten müsste. Ich illustriere diesen Effekt an den Strategien 4 und 5, die in den Rezensionen mit am auffälligsten sind. Mit der Strategie 4 wird die Kritik als etwas präsentiert, was dem kritisierten Autor selbst schon klar ist, wenn nicht sogar seine Zustimmung findet: „wir sagen damit dem vf. [...] nichts neues“ (Arnold 1901, S. 253); „Wir brauchen dem wissenschaftlich längst bewährten Verfasser nicht darzulegen, daß [...]“ (Harnack 1899/ 1900, S. 617; siehe auch Bölsche 1900, S. 158; Köster 1900, S. 613), wobei die Abschwächung darin besteht, dass eine Kritik, für die der Autor selbst in Anspruch genommen werden kann, gar nicht als gegen ihn gerichtete aufgefasst werden kann. Auch bei der Strategie 5, die im Material besonders als Hoffnung auf eine zukünftige, von Meyer verbesserte Darstellung realisiert wird, bleibt die Kritik am vorgelegten Werk bestehen, dem Autor wird aber ausdrücklich die Kompetenz zur Erfüllung der Aufgabe zugesprochen. Arnold (1901, S. 259), Bölsche (1900, S. 158) und Köster (1900, S. 615) verzichten damit nicht nur auf die von Holz und Bartels praktizierte Verschärfung durch Persönlichwerden, sondern ver- 1) 2) 3) 4) 5) Sachliche Kritik und persönlicher Angriff in Rezensionen 231 wenden personenbezogene Äußerungen gerade umgekehrt, um den Autor vor diskreditierenden Rückschlüssen aus den Mängeln des Werks, die die Leser auch von sich aus ziehen könnten, möglichst zu schützen. Mit dieser Zielrichtung ist u.a. Köster bemüht, jede Kritik am Werk mit einer möglichst wohlwollenden Deutung für den Autor zu verbinden: Den kritischen Durchgang durch das Werk mit Lob und Tadel auf den verschiedenen Ebenen bricht er mit dem Satz ab: „Und so wäre wohl noch manche Einzelheit zu rühmen“ (Köster 1900, S. 615), wo er nach dem Vorangegangenen auch „zu kritisieren / zu monieren“ hätte sagen können. Die Kritik an der Gliederung des Stoffes drückt er in relativierender Form aus: „Befremdend wirkt auf den ersten Blick die Gliederung“ (ebd., S. 613), obwohl auch der zweite Blick nichts Entscheidendes verändert. Die Hauptkritik in der Rezeption, das Werk sei eigentlich keine Literaturgeschichte, wird bei ihm weitgehend entschärft durch die Orientierung an den Intentionen des Autors, dem die Mannigfaltigkeit der Individuen wichtiger gewesen sei als Darstellung der großen Linien (ebd.). Zum Schluss (S. 615) drückt auch er die Hoffnung auf „verbesserte Auflagen“ aus, womit Meyers Kompetenz für die zunächst nicht gelungene Erfüllung der Aufgabe bestätigt wird. Noch deutlicher begründen die zuletzt behandelten Mittel der Abschwächung die Differenz zu den Verrissen von Holz und Bartels in der Rezension Bölsches, der mit dem Lob höchst sparsam umgeht: Reduzierung der Verantwortung des Autors („ein ungünstiger Stern“), Zubilligung mildernder Umstände („Pionierarbeit“, „eilig geschrieben“), Inanspruchnahme des Autors für die geäußerte Kritik (das Werk begriffen als „Vorarbeit“) und ausdrückliche Bestätigung der Kompetenz Meyers, aus der Vorarbeit künftig noch „den reifen Schmetterling“ zu ziehen (Bölsche 1900, S. 158). Sucht man eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage, was denn vor allem die unterschiedliche Positionierung der Rezensionen auf der Schärfeskala der Kritik bestimmt, die mit der differierenden Einschätzung der positiven und negativen Aspekte der Literaturgeschichte nur zum Teil erklärt werden kann, so liegt es nahe, die Rezensionen herauszugreifen, die keinen Zweifel daran lassen, dass sie die Gesamtkonzeption des Buches für verfehlt halten. In dieser Hinsicht sind sich Holz, Bartels, Arnold, Landsberg, nicht weit entfernt auch Bölsche und der anonyme „l.“ aus dem Literarischen Centralblatt, weitgehend einig. Relative Unterschiede bestehen in der Anerkennung von Teilaspekten und Einzelheiten. Der Eindruck, dass die Rezensionen von Holz und Bartels die größte Schärfe aufweisen, ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass sie die wahrgenommenen Schwächen des Werks systematisch auf negativ zu bewertende und damit diskreditierende Eigenschaften Walther Dieckmann 232 des Verfassers zurückführen und diese zusammenfassend auch benennen: begrenztes intellektuelles Vermögen und böswillige ehrabschneidende Machenschaften (Holz) bzw. fachliche Inkompetenz, Opportunismus und rassisch bedingte Unfähigkeit des Juden (Bartels). Als zweiter Faktor ist die fast vollständige Abwesenheit lobender oder zustimmender Äußerungen zu nennen, während diese von Anonymus, Arnold, Bölsche und Landsberg aktiv zur Abschwächung verwendet werden. Das Lob hat aber bei diesen vier Autoren nur begrenzt abschwächende Wirkung, weil es in der Regel Nebenschauplätze betrifft und quantitativ nicht mit den kritischen Passagen konkurrieren kann. Deshalb bietet sich die Verwendung weiterer Strategien der Abschwächung als unterstützende Maßnahme an. Abschließend sei auf einen Sachverhalt hingewiesen, den die Rezeption der meyerschen Literaturgeschichte nahelegt, auch wenn er sicherlich - wie alle dargelegten Überlegungen - der Überprüfung an größeren Textmengen bedarf: Wenn man in Rezensionen wie auch in anderen öffentlichen Auseinandersetzungen auf Akte des Persönlichwerdens verzichtet, ist man vor dem Vorwurf, unsachliche Mittel der Auseinandersetzung zu verwenden, zwar weitgehend gefeit. Dieser Verzicht schließt aber wegen des generellen Diskreditierungspotentials auch der sachlichen Kritik die faktische Diskreditierung des Autors des rezensierten Werkes nicht aus, es sei denn, der Rezensent verwendet aktiv Mittel, die den Autor schonen. Solche Mittel sind also nicht bloß freundliche Zugaben. Schon der Verzicht auf sie produziert auch bei rein sachlicher Kritik, wenn sie ein gewisses Maß überschreitet, die Gefahr der Diskreditierung des Autors. 6. Literatur Rezensionen Arnold, Robert Franz (1901): [Rez.]. In: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Litteratur. Hrsg. von Edward Schröder und Gustav Roethe. H. 27, S. 249-259. Bartels, Adolf (1900): Ein Berliner Litteraturhistoriker. Dr. Richard M. Meyer und seine „deutsche Litteratur“. (= Flugschriften der Heimat 1). Leipzig/ Berlin. Bölsche, Wilhelm (1900): Meyer's Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. In: Deutsche Rundschau. Hrsg. von Julius Rodenberg. H. 105, S. 150-158. Harnack, Otto (1899/ 1900): Eine moderne deutsche Literaturgeschichte. In: Das litterarische Echo. Halbmonatsschrift für Litteraturfreunde. Hrsg. von Josef Ettlinger. H. 2, S. 616-618. Holz, Arno (1900): Dr. Richard M. Meyer. Privatdozent an der Universität Berlin. Ein litterarischer Ehrabschneider. Mit einem Anhang. Berlin. Sachliche Kritik und persönlicher Angriff in Rezensionen 233 Jantzen, H. (1900): [Rez.]. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen. Hrsg. von Alois Brandl und Adolf Tobler. H. 54 / Neue Serie 5, S. 376-381. Klee, Gotthold (1899): [Rez.]. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht. Hrsg. von Otto Lyon. H. 13, S. 852-854. Köster, Albert (1900): [Rez.]. In: Deutsche Litteraturzeitung. Hrsg. von Paul Hinneberg. H. 21, S. 612-616. l. (1900): [Rez.]. In: Literarisches Centralblatt für Deutschland. Hrsg. von Eduard Zarncke. H. 51, S. 207-209. Landsberg, Hans (1900): Eine Litteraturgeschichte des 19. Jahrhunderts. In: Die Gesellschaft. Halbmonatschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik. Hrsg.von Michael G. Conrad. H. 16, Bd. I, S. 114-116. Sauer, August (1900): [Rez.]. In: Euphorion. Zeitschrift für Litteraturgeschichte. Hrsg. von August Sauer. H. 7, S. 374-382. Weilen, Alexander v. (1900): [Rez.]. In: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien. H. 51, S. 1010-1015. Weitere Rezensionen sind nachgewiesen in: Das litterarische Echo. Halbmonatsschrift für Litteraturfreunde (Rubrik: Echo der Zeitungen und Zeitschriften) 2 (1899-1900), S. 410, 488, 556, 702, 779, 780, 781, 847, 852, 854, 924, 931, 998, 1140, 1350, 1426, 1510, 1637, 1646, 1647; 3 (1900- 1901), S. 187, 257, 258, 631, 1547, 1703. Sekundärliteratur Dascal, Marcelo et al. (Hg.) (2002): Controversies in the République des Lettres. Technical Report 3: Scientific Controversies and Theories of Controversy. Gießen. Dascal, Marcelo et al. (Hg.) (2001): Controversies in the République des Lettres. Technical Report 4: Theological Controversies. Gießen. Dieckmann, Walther (2005): Streiten über das Streiten. Normative Grundlagen polemischer Metakommunikation. Tübingen. Fritz, Gerd (2005): On answering accusations in controversies. In: Studies in Communication Sciences. Special Issue: Argumentation in Dialogic Interaction, S. 151-162. 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Das sollte weder empören noch überraschen, denn bevor es zu einer solchen Regelung kommen könnte, wäre zu klären, was überhaupt Gegenstand der Regelung sein kann, ob eine solche wirklich erforderlich wäre, ob sich in Anbetracht der Substanz der erkannten Schwierigkeiten der immense Aufwand lohnt, ob sie überhaupt auf eine Weise zu realisieren wäre, die mehr Probleme lösen könnte, als sie aufgrund überbordender Komplexität erzeugen müsste. Auch wenn man in Anbetracht solcher Fragen auf eine amtliche Regelung verzichtet, bedeutet das nicht, dass keine begründeten Aussagen dazu möglich wären, was hier und heute als Standard im Deutschen betrachtet werden kann, an dem man sich orientieren kann. Korpuslinguistische Untersuchungen erlauben, ohne ungebührliche Anmaßung statistisch zu erheben, was beste Chancen hat, akzeptiert zu werden. Deutsch von Amts wegen? Auf der Suche nach der richtigen grammatikalischen Verwendung der Präposition „wegen“ bezüglich des folgenden Kasus, bin ich auf Ihr Online-Lexikon „Grammis“ gestoßen. Mich würde interessieren, inwieweit die dortigen Eintragungen verbindlich, also amtlich sind, und wo die entsprechenden Normen dokumentiert sind. Im gefundenen Eintrag wurde die Kombination mit Dativ als umgangssprachlich bezeichnet. Was heißt das allgemein? Sind solche Formen im strengen unzulässig oder damit abgesicherter Bestandteil der deutschen Sprache? 1 Diese Anfrage von Herrn P. aus B. bringt in bemerkenswerter Klarheit auf den Punkt, was wohl den meisten der zahllosen Anfragen zugrunde liegt, die bei Institutionen und Projekten eingehen, die Sprachberatung anbieten: Man erwartet zum einen eine Auskunft, die Unklarheiten eindeutig beseitigt, und möchte zum andern wissen, wie es um die Verbindlichkeit dieser Auskunft bestellt ist. Vor dem Hintergrund des Aufhebens, das in den letzten Jahren um die Reform der deutschen Rechtschreibung gemacht wurde, ist diese Erwartung durchaus verständlich, wenngleich festzustellen ist, dass sie selbst in Fragen der Rechtschreibung die Tragweite rechtlicher Regelungen überschätzt. 1 E-Mail an die Projektgruppe Grammatisches Informationssystem (grammis) im Institut für Deutsche Sprache, Mannheim. - - - - Bruno Strecker 236 Geregelt wird einzig und allein, was für die Schulen und Behörden zu gelten hat. Dass sich auch nicht-staatliche Einrichtungen diese Regelungen zu eigen machen und selbst der private Schriftverkehr sich zumindest dem Anspruch nach an sie zu halten sucht, kann freilich in Anbetracht allgemeiner Schulpflicht kaum überraschen. Nicht nur Herrn P. aus B. dürfte allerdings überraschen, was ihm als Antwort auf seine Anfrage mitzuteilen war: dass nämlich für den Bereich der Grammatik keinerlei amtliche Regelungen existieren, auch wenn Schulen und selbsternannte Sprachberater von Wustmann bis Sick durch selbstsicheres Auftreten diesen Eindruck zu vermitteln suchen. Was richtiges Deutsch sei und was nicht, ist zwar immer wieder Gegenstand lebhafter Diskussionen, aber zu verbindlichen Entscheidungen ist es bis heute nicht gekommen. Doch bevor man als ordentlicher Bürger hier ein sträfliches Versagen verantwortlicher Stellen anmahnt, lohnt es sich, der Frage nachzugehen, worauf das Fehlen amtlicher Regelungen im Bereich der Grammatik zurückzuführen sein könnte. Die Antwort auf diese Frage wird freilich nur noch sprachwissenschaftliche Laien überraschen: Es gibt solche Regelungen vor allem deshalb nicht, weil die Ausgangslage hier ganz anders geartet ist als bei der Schreibung: Die Schreibung setzt etwas um, das unabhängig von ihr gegeben ist und in das sie in keiner Weise eingreift. Die Zuordnung grafischer Ausdruckseinheiten zu lautlichen Ausdruckseinheiten ist zunächst völlig willkürlich. So könnte etwa, was hierzulande üblicherweise als a geschrieben wird, grundsätzlich ebenso mittels @, §, oder α ausgedrückt werden. Von Richtigkeit kann dabei nur im Hinblick darauf die Rede sein, ob die einzelnen Regelungen zusammen ein gut handhabbares System ergeben oder miteinander in Konflikt geraten. Regelungen im Bereich der Grammatik hingegen treffen auf etwas, dem sie gerecht werden sollten, wenn sie die Sprache, für die sie gelten sollen, nicht einfach selbst erfinden wollen. Dass so weit keine rechtsverbindlichen Regelungen gegeben sind, bedeutet deshalb keineswegs, dass hier ein Spielraum für beliebige Regelung gegeben wäre. Wer etwa in Sachen deutscher Grammatik Vorschriften erlassen will, muss bereit sein, diese im Hinblick auf das zu rechtfertigen, was als Deutsch vorzufinden ist, und dies ist vorderhand keinesfalls so klar, wie das selbstverständliche Reden von der deutschen Sprache vermuten lassen könnte. Das zeigt sich nicht zuletzt dann, wenn etwas wie im oben angesprochenen Fall von wegen zum Problem wird. - - Richtiges Deutsch? 237 Bevor man ernstlich daran denken könnte, verbindliche Regeln im Bereich der Grammatik des Deutschen zu erlassen, wäre zu klären, wer hier wem mit welchem Recht Vorschriften machen darf, wie eine verbindliche und vor allem umfassende Grammatik der deutschen Sprache überhaupt abzufassen wäre, was überhaupt unter Deutsch verstanden werden soll. Auf den ersten Blick mögen die ersten beiden Fragen brisanter erscheinen als die dritte, doch wirklich problematisch ist allein diese. Zwar ist vorab alles andere als klar, wer befugt sein könnte oder sollte, darüber zu befinden, was als korrektes Deutsch gelten darf, doch hierfür sollte sich - zumal in einer demokratischen Gesellschaft - ebenso eine Lösung finden lassen wie in anderen Rechtsangelegenheiten. Schließlich muss ein Staatswesen nicht im juristischen Sinn im Besitz einer Sprache sein, um sich diese als Staatssprache verordnen zu können und dann darüber frei zu verfügen. Wenn sich Deutschland - eventuell in Absprache mit Österreich und der Schweiz - Deutsch als Staatssprache verordnen sollte, bedeutete dies zwar nicht, dass das Land damit das Deutsche in seinen Besitz gebracht hätte, aber es könnte prinzipiell - ganz wie im Fall der Orthografie - Vorschriften für den Sprachgebrauch in allen öffentlichen Einrichtungen erlassen und - selbst hierfür gibt es historische Beispiele 2 - sogar den ausschließlichen Gebrauch dieser Sprache in der Öffentlichkeit vorschreiben. Wäre die rechtliche Seite erst einmal geregelt, dürfte es auch keine grundsätzlichen Schwierigkeiten mehr bereiten, eine Kommission von Experten einzurichten, die eine kanonische Form für die Schreibung der Grammatik dieses „Staatsdeutschen“ zu erarbeiten hätte. 3 Doch noch bevor eine solche Kommission ihre Arbeit aufnehmen könnte, hätte sie zu klären, was denn überhaupt der Gegenstand ihrer Beratungen sein sollte, denn schließlich hätte sie nicht ein von Grund auf neues Deutsch zu erfinden, sondern bei dem anzusetzen, was an Deutsch vorzufinden ist, und was dies denn sein soll, liegt, wie bereits festgehalten, alles andere als offen zutage. Mit Festlegungen wie: 2 So war etwa in Frankreich und Spanien bis vor wenigen Jahrzehnten der Gebrauch des Katalanischen und Baskischen selbst auf dem Schulhof und auf der Straße bei Strafe untersagt. 3 Den fraglos zu erwartenden Streit darüber, wer denn nun zum Experten zu berufen sei, hätten die für Kultur zuständigen staatlichen Instanzen zu entscheiden, was diese sicher in gewohnter Qualität bewältigen dürften. 1) 2) 3) Bruno Strecker 238 das Deutsche ist die Sprache der Deutschen, das Deutsche ist das gängige Kommunikationsmittel hierzulande, das Deutsche ist das, was seine Sprecher dafür halten, ist hier wenig erreicht. Sie sind teilweise sogar regelrecht falsch. Dies gilt insbesondere auch für die scheinbar triviale Feststellung (c), denn in Sachen Sprache kann sich durchaus eine merkliche Diskrepanz zeigen zwischen dem, was Sprecher tun, und dem, was sie zu tun glauben. Hier zwei typische Beispiele: Das habe ich noch nie gehört gehabt! Sie war mit ihrem Vater seinem Auto unterwegs. Zahllose Bürger dieses Landes, denen jedermann zugestehen wird, sie sprächen Deutsch, 4 verwenden häufig solch doppelte Vergangenheitsformen und pränominale possessive Dativattribute, oft ohne sich dessen bewusst zu sein, weshalb sie sich auf Nachfrage auch dagegen verwahren, dergleichen könne ihnen je über die Lippen kommen. Wer jetzt darauf beharrt, Formen dieser Art könnten dennoch nicht als richtiges Deutsch gelten, muss sich die Frage gefallen lassen, woher er dies denn wisse und wie er das nachzuweisen gedenke. Der Hinweis, so stünde dies in der Grammatik, führt auf direktem Weg in einen Zirkel. Wer Recht und Ordnung in Sachen Sprache für unbedingt geboten hält, wird sich so leicht nicht geschlagen geben: „Bloß, weil viele kein richtiges Deutsch beherrschen, muss man nicht jeden Unsinn (doppelte Vergangenheit! ! ) zulassen. Wenn bislang tatsächlich versäumt wurde, dergleichen verbindlich zu regeln, dann heißt dies keineswegs, dass man dies nicht regeln kann.“ Das ist zweifellos zutreffend, fragt sich nur, wer dabei mit man gemeint sein soll, und vor allem, ob er oder sie dies deshalb auch regeln sollte. Was spricht, was spräche jenseits blinder Regelungswut ernstlich dafür, hier regelnd einzugreifen, wenn man - for the sake of the argument - einmal unterstellt, die Frage der Berechtigung dazu sei geklärt? Ein Argument - meines Erachtens das einzige überhaupt - könnte sein, man habe zu verhindern, dass die eine deutsche Sprache, die von Flensburg bis Klagenfurt, von Emden bis Passau problemlose Verständigung zu ermöglichen habe, nach und nach auseinanderfalle. Auf den ersten Blick scheint dies recht plausibel, doch ist ernstlich davon auszugehen, dass es zu einer solchen Entwicklung käme, wenn nicht endlich regelnd eingegriffen werde? Dreierlei spricht gegen solchen Kulturpessimismus: 4 Die Großschreibung ist hier mit Bedacht gewählt, denn Deutsch zu sprechen heißt keinesfalls, auf deutsche Weise zu sprechen, sondern sich des Deutschen zu bedienen bzw. bedienen zu können. a) b) c) Richtiges Deutsch? 239 die Sprachentwicklung in den letzten hundert Jahren, die zentripetale Wirkung der Massenmedien und der allgemeinen Schulbildung - auch ohne dabei die ohnehin marginalen Effekte des Grammatikunterrichts in Rechnung zu stellen, die Anzahl und Art der Schwierigkeiten, die in diesem Zusammenhang wieder und wieder genannt werden. Zu Punkt (a) ist festzustellen, dass sich etwa Schleswiger und Oberbayern hier und heute gewiss nicht schlechter, sondern eher weit besser verständigen können als vor einem Jahrhundert, wenngleich bis heute keine verbindliche Regelung der Grammatik existiert. Punkt (b) verweist auf die Kräfte, die tatsächlich, ohne ernstlich durch explizite Regelung gestützt zu werden, die Sprachgemeinschaft zusammenhalten: Schule, Presse, Funk und vor allem Fernsehen setzen faktisch Standards, deren normative Kraft alles bei weitem übersteigt, was durch Regelung zu erreichen wäre. 5 Sprachkritische Mahner nehmen sich dagegen, um eine Charakterisierung Rainer Wimmers aufzugreifen, aus wie Speckläufer. 6 Punkt (c) richtet den Blick auf die tatsächlich gegebene Substanz der Probleme, bei welchen normbewusste Sprachbenutzer Klärungsbedarf sehen. Bevor man sich ernstlich vornimmt, eine amtliche Regelung der deutschen Grammatik zu erarbeiten, sollte man sich - jenseits aller grundsätzlichen Bedenken - darüber im Klaren sein, worauf man sich damit einließe, denn eine amtliche Grammatik, die selbstverständlich umfassend zu sein hätte, wäre unausweichlich von einer Komplexität neben der sich das Bürgerliche Gesetzbuch wie ein Buch für Vorschulkinder ausnähme. Einen kleine Eindruck davon, was man zu erwarten hätte, mag die folgende Passage aus einem Aufsatz von Eva Breindl vermitteln, die sich mit einem Aspekt der syntaktischen Struktur koordinierter Sätze befasst. Man muss sich dazu lediglich noch die Aussagen in Normen transponiert denken: Es ist sinnvoll, zwei Strukturstellen für Konnektoren vor dem Vorfeld eines Verbzweitsatzes zu unterscheiden: eine „Koordinatorstelle“ und eine „Nullstelle“. Erstere ist eine nur für Konjunktoren reservierte Position, sie ist an koordinative Verknüpfung gekoppelt (also auch an die Zulässigkeit von Koordinationsreduktionen) und Bestandteil der Satzstruktur. Ihre syntaktische Modellierung ist stark 5 Auch die normative Kraft der Schulen beruht nur zu einem geringen Teil auf explizit gelehrter Regelung. Weit wirksamer als der ohnedies knapp bemessene Grammatikunterricht ist hier das stete Beispiel. 6 Siehe Wimmer (1981). Wimmer (1981). a) b) c) Bruno Strecker 240 theorieabhängig [...]. In die desintegrierte Nullstelle kann Material verschiedenster Klassen treten, einschließlich der Konjunktoren selbst. Sie ist nicht Teil des nachfolgenden Satzes. Die Verknüpfung ist nicht koordinierend, sondern nur parataktisch und Kohärenz wird nur semantisch ohne oberflächliche Kohäsionsverfahren hergestellt. (Breindl 2009, S. 281) Als problematisch gesehen wird keineswegs das Gros der stabilen grammatischen Konventionen, die normalerweise gar nicht als Regeln wahrgenommen werden, weil sie sich, ohne Gegenstand expliziter Vereinbarung oder Verordnung gewesen zu sein, 7 in der Folge gelungenen kommunikativen Handelns ausgebildet haben und schon deshalb nie ernstlich in Frage gestellt werden, weil dies gleichbedeutend wäre mit einen totalen Zusammenbruch des gesellschaftlichen Lebens. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, wie mit Fehlern umgegangen wird, die selbst kompetenten Sprachteilhabern im Bereich fundamentaler Konventionen beim Reden oder Schreiben unterlaufen. Es entsteht kein Streit darüber, dass hier Fehler vorliegen. Sie werden als simple Versehen erkannt und möglichst stillschweigend korrigiert. Streit entsteht im Allgemeinen nur, wenn Varianten ins Spiel kommen, die aus normativer Sicht nicht gleichermaßen akzeptabel erscheinen. Betroffen von sprachpflegerischer Regelungswut sind in aller Regel auch nicht jene Schwierigkeiten, die manche Sprecher und Schreiber damit haben, ihre Gedanken mit den Mitteln ihrer Sprache sachlich korrekt und klar auszudrücken. 8 Als problematisch wahrgenommen wird überwiegend eine recht überschaubare Menge eher marginaler Erscheinungen, die zu einem guten Teil dem Umstand geschuldet sind, dass sich das Deutsche erst über die Schreibung als weitgehend einheitliche Sprache konstituiert hat. Hier einige typische Beispiele. 9 Sollte man sagen: am Montag, dem 15. Mai oder am Montag, den 15. Mai? ein Zentner Kartoffel oder ein Zentner Kartoffeln? 7 Wer an die Autogenese menschlicher Sprachen nicht recht glauben mag, sei hingewiesen auf die Arbeiten von Thomas C. Schelling zur Konflikttheorie - vor allem Schelling (1960), auf David Lewis (1969) - dort insbesondere auch auf das Vorwort von Willard Van Orman Quine - sowie auf Edna Ullmann-Margalit (1977). 8 Ein typisches Beispiel aus der Stuttgarter Zeitung vom 16.04.08, S. 1: „Nun aber hat der Staatsanwalt ein Problem: Ein Telefongespräch, das die Mafiaverbindung belegen sollte, enthält einen groben Übersetzungsfehler.“ (Hervorhebung B.St.) Weitere Beispiele dieser Art finden sich in Eisenberg (2009.). 9 Für weitere Beispiele siehe http: / / hypermedia.ids-mannheim.de/ pls/ public/ fragen.ansicht? v_kat=0 ( Stand: 16.05.08). - - Richtiges Deutsch? 241 der Einzige oder der Einzigste? Alles verstehen heißt alles verzeihen oder Alles zu verstehen heißt alles zu verzeihen? im See baden gehen oder in den See baden gehen? wir haben kommen müssen oder kommen gemusst, ich habe früh lesen können oder lesen gekonnt? Walthers von der Vogelweide oder Walther von der Vogelweides? sendete/ wendete oder sandte/ wandte? ich bin gesessen/ gestanden oder ich habe gesessen/ gestanden? les oder lies, geb oder gib, ess oder iss? Ein Glas Wein oder ein Glas Weines? Die Sprachgemeinschaft lebt seit langem mit solchen Zweifelsfällen, 10 ohne dass dies je zu ernsthaften Verständigungsproblemen geführt hätte. Selbst die Vermutung, zumindest die Effizienz der Kommunikation leide unter der Koexistenz solcher alternativen Ausdrucksformen, bestätigt sich nicht. Wer etwa ernsthaft behaupten wollte, er habe nicht verstanden, dass man ihn mit Jetzt ess doch was auffordern wollte, etwas zu essen, ist entweder des Deutschen nicht mächtig oder er hat ein wirklich ernstes Problem, das dann allerdings nicht mit Grammatik zu kurieren ist. Vom Umgang mit Zweifelsfällen Unbedingt erforderlich sind verbindliche Regelungen für die „klassischen“ Zweifelsfälle und „Fallstricke“ der deutschen Sprache nicht, wenn man die Aufrechterhaltung der Verständigung im gesamten Sprachraum zum entscheidenden Kriterium macht. Doch sollte man hier nicht dennoch zu klaren Regelungen kommen, und sei es letztlich willkürlich und nur „der Ord- 10 In manchen Fällen - so etwa bei den hier aufgeführten Imperativformen - existieren die Varianten bereits seit Jahrhunderten: „ Des morgens da der tag anbrach, die mutter begundt zu ruffen, steh auff, steh auff du gedingter knecht, und geb dem roß das futer.“ (Das Ambraser Liederbuch vom Jahre 1582, zit nach: Digitale Bibliothek, Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, S. 1374). Für Maßkonstruktionen vom Typ ein Glas Wein/ Weines finden sich bereits anfangs des 14. Jahrhunderts alternative Formen: „swelch unser burgere me bruwit zu eyme iare den zwenzik vudir birs, der gibt vier marke dem rate“ [Datierung: 1300, Fundstelle: NMittThürSächs. 3, 1 (1836) 69] und „giltet fur den zins 5 fuder win Boznere maze“ [Datierung: 1288. Fundstelle: UrbMeinh. 108] - - - - - - - - - Bruno Strecker 242 nung halber“? 11 Vielleicht könnten dadurch immerhin Vereinfachungen für den Sprachunterricht erreicht werden, und dies käme Lehrern wie Schülern zugute. Hinzu kommt, dass damit ja kaum schwerwiegende Eingriffe in die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprachteilhaber verbunden wären: Wenn die Existenz der Varianten nicht zu ernsthaften Schwierigkeiten führt, dürfte auch die Beschränkung auf normierte Formen keine gravierenden Einschränkungen mit sich bringen. Könnte man hoffen, der pharisäerhaften Rechthaberei in Sachen richtiges Deutsch dadurch ein Ende zu bereiten, dass man sich in Zweifelsfällen den Entscheidungen selbsternannter Autoritäten unterwirft, wäre dies durchaus eine Überlegung wert. Der Punkt ist nur, dass damit eine Eliminierung der Zweifelsfälle so wenig gelingen dürfte, wie sie bis heute je gelang, denn die Normierung könnte nicht beseitigen, was immer aufs Neue zur Entstehung solcher Zweifelsfälle führt, nämlich konfligierende Analogien. Sprachliche Konventionen - und mithin auch alle diese fixierenden Normen - beruhen darauf, dass Ausdrücke und Ausdruckssequenzen als analog betrachtet werden, denn, wenn etwas von der gleichen Art zu sein scheint wie das, was man schon kennt, liegt es nahe, es ebenso zu behandeln. Kennt man etwa bereits die Formen schlagen, schlug, geschlagen und tragen, trug, getragen kann man durchaus darauf kommen fragen analog zu flektieren und schon mal zu sagen oder zu schreiben: „Ich frug sie, wo sie denn wohne.“ Wenn man dies tut, setzt man sich empörter Kritik normbewusster Sprachpfleger aus, aber man steht dabei nicht allein. Abertausende Zeitgenossen - Recherchen im Internet belegen dies - haben es einem gleichgetan. Sie haben dieselbe Analogie gesehen und sind dabei einem Prinzip gefolgt, das die gesamte Phylogenese der Sprache bestimmt hat. Sie haben lediglich einen anderen Zusammenhang gesehen als andere, und diese waren und sind nicht nur in der Mehrheit, sondern wissen sich auch im Einklang mit dem, was von Sprachkritikern und Schule zur Norm erklärt wurde. Was im Fall von frug vs. fragte oder von diesen Jahres vs. dieses Jahres zu beobachten ist, gleicht in gewisser Weise dem Umgang mit so genannten Kippbildern, die ebenso zu verschiedenen Wahrnehmungen führen können. Zwar gelingt es den meisten Menschen nach einiger Zeit beide Bilder zu sehen, doch bis sie dahin gekommen sind, kann es durchaus sein, dass sie miteinander in Streit darüber geraten, was zu sehen ist. Hier ein bereits klassisches Beispiel: 11 Die Vermutung, an solchen Festlegungen, und seien sie auch letztlich willkürlich, bestehe ein öffentliches Interesse, wird immer wieder geäußert, so etwa auch in Rahmen der und im Anschluss an die Podiumsdiskussion bei der Jahrestagung 2008 des Instituts für Deutsche Sprache. Ein statistisch signifikanter Nachweis hierfür wurde freilich nie geführt. Richtiges Deutsch? 243 Ist hier das Gesicht einer jungen Frau abgebildet oder ein lustiger Saxophonist? Die Frage ist unangemessen, denn keine Festlegung könnte dem Bild gerecht werden. Bei „grammatischen Kippbildern“ freilich fordern Puristen eine Festlegung auf eine der Möglichkeiten, denn sie sind bereits vor jeder kritischen Prüfung der sprachlichen Verhältnisse davon überzeugt, dass immer nur eines gelten darf. So wird man vielleicht für kurze Zeit Einheitlichkeit erzwingen können, doch keinesfalls nachhaltig verhindern, dass Nachgeborene wieder und wieder andere Analogien sehen. Wer auf strenger Normierung beharrt, scheint uns - und damit natürlich immer auch sich selbst - als Sprachteilhabern nicht zuzutrauen, mit Varianten, mit einer nicht völlig homogenen Sprache zu leben. Doch was spricht wirklich dagegen, solang Varianten problemlos als solche erkannt werden? Und dass sie erkannt werden, bezeugen nicht zuletzt die Normierer selbst, indem die monierten Ausdrucksformen als Fehlformen der als korrekt bewerteten Formen betrachtet werden. Tatsächlich leben wir auch und gerade in Sachen Sprache ständig mit Varianten, die uns allemal ebenso viel Flexibilität bei der Interpretation abverlangen wie grammatische Varianten. So können sich mündliche Mitteilungen aufgrund verschiedener dialektaler Färbungen, aufgrund unterschiedlicher Stimmen der Sprecher und aufgrund der Omipräsenz von Hintergrundgeräuschen bei gleichem Inhalt als akustische Ereignisse stark unterscheiden. Selbst schriftliche Mitteilungen, bei denen prinzipiell ein höheres Maß an Standardisierung möglich wäre, begegnen uns in verschiedenster grafischer Gestaltung, ohne ernsthafte Verstehensprobleme auszulösen. Nur zur Illustration: 12 12 Wer die gleiche Interpretation der verschiedenen Schriftbilder für selbstverständlich hält, kennt offenbar nicht die enormen Schwierigkeiten, die Entwickler von Texterkennungsprogrammen zu bewältigen haben. Bruno Strecker 244 Der Hinweis darauf, dass wir im Alltag ganz gut mit Varianten umgehen können, wird um die deutsche Sprache besorgte Zeitgenossen freilich kaum davon abhalten, weiterhin normierende Eingriffe anzumahnen, denn es könnte doch sein, dass allzu viel Toleranz nach und nach zu einer Erosion des Deutschen führt. Diese Befürchtung ist so wenig neu wie überzeugend. Zwar trifft es zu, dass - eben aufgrund des flexiblen Umgangs mit Sprachkonventionen - Sprachen nie so ganz bleiben, wie sie waren, und nach und nach einen Zustand erreichen, von dem aus frühere Zustände nur noch Sprachforschern zugänglich bleiben, doch zu keiner Zeit droht dabei der Verlust effizienter Verständigung unter Zeitgenossen. 13 Das hat einen ebenso einfachen wie wirkungsvollen Grund: Wer nicht darauf verzichten kann und will, von seinen Mitmenschen verstanden zu werden, wird seine Mitteilungen auf eine Weise formulieren, die Erfolg verspricht, und Erfolg verspricht vor allem das, was sich bereits als erfolgreich erwiesen hat. 14 Schiboleth 15 Die Angst, das Deutsche könnte zugrunde gehen, wenn man es nicht sorgsam pflegt und dem Wildwuchs durch eindeutige Normen entgegenwirkt, ist etwa so rational wie die Angst vor bösen Geistern und wohl deshalb auch mit 13 Wobei Zeitgenossen durchaus großräumig zu verstehen ist, also allemal für fünf Generationen und mehr stehen kann. 14 Rudi Keller (Keller 2003, S. 132) spricht in diesem Zusammenhang von der Humboldtmaxime: „Es darf also Niemand auf andere Weise zum Andren reden, als dieser, unter gleichen Umständen, zu ihm gesprochen haben würde.“ (Humboldt 1907, S. 47). 15 Richter 12, 5-6. Richtiges Deutsch? 245 den besten Argumenten niemals auszuräumen. Doch es ist keineswegs diese durchaus wohlgemeinte Angst einiger Sprachfreunde vor Sprachverfall, die Sprachnormen zu einem ernstzunehmenden Faktor im Leben einer Sprachgemeinschaft macht. Ihre Bedeutung erwächst den Sprachnormen aus ihrer Rolle als soziales Distinktionsmerkmal: Wer unsere Normen beherrscht, eventuell auch spielerisch mit ihnen umgehen kann, ist einer von uns. Wer Schwierigkeiten hat, sich normgerecht zu artikulieren, gilt nur eingeschränkt als gesellschaftsfähig. Erst ihre Rolle als soziales Schiboleth verleiht den Sprachnormen, die sich auch ohne amtlichen Segen etablieren konnten, eine Brisanz, die über fachliche Dispute hinausreicht. Normgerecht sprechen zu können, ist faktisch in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens eine der wichtigsten Zugangsvoraussetzungen. Und weil dies so ist, geht es nicht an, sich mit dem sachlich durchaus zutreffenden Hinweis, die Sprache bedürfe keiner Pflege, aus der Diskussion um Normen herauszuhalten. Wer wissen möchte, ob man denn nun sagen sollte „nach Aldi gehen“ oder „zu Aldi gehen“, sorgt sich möglicherweise nicht im Geringsten um die Reinheit der deutschen Sprache, wohl aber darum, wie er vor bestimmten Leuten dasteht, wenn er die falsche Form wählt. Vor allem die Schule darf die Virulenz sprachlicher Normen nicht ignorieren, wenn sie verhindern will, dass ihre Absolventen blind für die Wirkungen ihres Sprachgebrauchs ins soziale Abseits geraten. Dies bedeutet keineswegs, dass sie, unbeeindruckt von jeder Kritik, Sprachunterricht als Vermittlung von Normen und Einübung normgerechten Sprachverhaltens begreifen sollte. Man kann hier sehr wohl das eine tun, ohne das andere zu lassen: standardkonformen Sprachgebrauch lehren und praktizieren, ohne diesen für sakrosankt zu erklären. Um die Schüler nicht gleich zu überfordern, wird man sie nicht ohne Not auf alles aufmerksam machen, was zwar weniger normgerecht, aber doch im Alltag nicht unüblich, eventuell sogar üblich ist. Wenn allerdings Zweifelsfälle auftreten - und solche sind vor dem Hintergrund alltagssprachlicher, oft dialektgeprägter Kommunikation allemal zu erwarten - dann sollte darauf nicht einfach mit dem Hinweis auf Normen reagiert werden, sondern auch deren Status und Rolle im gesellschaftlichen Leben erläutert werden. Anders als für die Schule, die sich nolens volens auf Sprachnormen einzulassen hat, besteht jedoch für die Sprachwissenschaft kein Grund, ihre strikt deskriptive Haltung aufzugeben, um sich mit der Formulierung und Propa- Bruno Strecker 246 gierung solcher Normen zum Büttel jener Kreise zu machen, die ein Interesse an sozialer Distinktion haben. Sie sollte sich die Auffassung zu eigen machen, dass ein deskriptiver Grammatiker im Prinzip in der Lage des Physikers ist: Er formuliert Hypothesen, die sich an der sprachlichen Wirklichkeit messen lassen müssen. Konstitutiv für diese Wirklichkeit ist das nur in dem Sinn, in dem es jede wissenschaftliche Beschreibung ist, indem nämlich ein bestimmtes Bild von der sprachlichen Wirklichkeit entsteht, das andere dann annehmen oder ablehnen können. Eingriffe in die sprachliche Wirklichkeit (etwa um Wildwuchs zu beseitigen) sind für deskriptive Grammatiker undenkbar. Sie kämen einer Datenfälschung gleich. 16 Norm, Konvention und Standard Normen müssen als Vorschriften, die sie sind, stets explizit formuliert sein, und der mit ihnen verbundene Anspruch auf Geltung muss - jedenfalls in einer freiheitlichen Gesellschaft - auf rechtlich einwandfreie Weise zustande gekommen sein. Für Konventionen gilt dies zumindest prima facie nicht, denn sie ergeben sich - ganz im Sinn des Wortes - als ausdrückliche oder als stillschweigende Übereinkunft der Beteiligten. So oder so ergibt sich mithin ihre Rechtfertigung bereits durch die Art und Weise ihres Zustandekommens. Ausdrückliche Übereinkunft ist dabei im Fall der Sprache eher die seltene Ausnahme. Die meisten Sprachkonventionen haben sich eingestellt, ohne dass jemand die Absicht gehabt hätte, sie einzuführen, und sie werden eben deshalb im Alltag gar nicht als solche wahrgenommen. Erst beim Versuch, Fremde, die nicht mit ihnen oder in ihnen aufgewachsen sind, an diese Konventionen heranzuführen, geraten diese so richtig in den Blick, und dabei zeigt sich einerseits bald, wie bestimmend sie für das sprachliche Handeln sind, andererseits aber auch, wie schwer es fällt, sie zu erfassen. Die Schwierigkeiten beginnen bereits mit der Bestimmung des Gegenstands. Was da als Sprache auf einen Begriff gebracht scheint, liegt keineswegs als ein klar fassbares System vor, sondern erst einmal in Form einer unüberschaubar großen Menge mündlicher und schriftlicher Äußerungen, die grob der zu erfassenden Sprache zuzuordnen sind. Wenn es so etwas gibt wie richtiges Deutsch oder einen Standard, dann muss dieses bzw. dieser in dieser Menge aufzufinden sein, denn jenseits dieser Daten findet sich nichts, an das man sich halten könnte. Die Lage des Forschers gleicht insofern ein wenig 16 So Joachim Jacobs in einem Schreiben an den Verfasser (März 2008). Richtiges Deutsch? 247 der eines Bildhauers im Besitz eines Marmorblocks: In gewissem Sinn liegt alles bereits vor, man muss nur wissen, was man hervor holen möchte und wie man dabei vorzugehen hat. Wie aber weiß man, was als Standard herauszuarbeiten wäre, wenn man nicht länger tradierte Normen als Kriterium von Richtigkeit nutzen will? Man kann es bestimmen, indem man sich an das hält, was gängig, was üblich ist und schon deshalb als akzeptabel - sprich: richtig - gelten wird. Die Daten allein werden einem dabei nicht jede Entscheidung abnehmen, insbesondere nicht bei der Zusammenstellung der Datenbasis, denn es gibt keine rein statistischen Kriterien dafür, aus welchen Bereichen Daten aufgenommen werden sollen und in welchem Verhältnis die Datenmengen aus diesen Bereichen zueinander stehen sollen. Für einen Augenblick könnte man annehmen, man stehe am Ende nicht besser da als jene, die, was richtiges Deutsch ist, ex cathedra verordnet wissen wollen. Doch die korpusbasierte Bestimmung eines Standards unterscheidet sich in einer Reihe wesentlicher Punkte vom Errichten einer Norm und kann so vermeiden, sich denselben kritischen Fragen auszusetzen: Die Auswahl der Datenbasis ist zwar nicht völlig frei von Willkür, doch was gewählt wurde, liegt offen zutage, kann Gegenstand von Auseinandersetzung sein und, so gewünscht, letztlich auch Gegenstand einer amtlichen Festlegung. Für das, was auf dieser Basis als Standard zu bestimmen ist, wird per se kein Anspruch auf absolute Richtigkeit gestellt, sondern immer nur dahingehend, dass es im Rahmen des gewählten Korpus Standard ist. Was dabei als Standard gelten kann und was nicht, ist statistisch zu erheben. Ob etwa auf einen Komparativ standardmäßig als oder wie folgt, muss über Frequenzbestimmungen gefunden werden. Mit der Bestimmung einer Form als standardgemäß ist nicht automatisch der Anspruch verbunden, nur sie sei akzeptabel. Zugleich kann sie jedoch - eine nicht extrem ungewöhnliche Korpuszusammenstellung vorausgesetzt 17 - als eine Form gelten, die auch den Ansprüchen streng normativer Hörer oder Leser gerecht werden wird. Die Bestimmung des Standards erfolgt mit der Auswahl der Datenbasis. Was in ihr anzutreffen ist, darf - vielleicht abgesehen von statistisch klar 17 Als extrem ungewöhnlich könnte etwa ein Korpus betrachtet werden, dass nur Texte aus Internetchats oder aus Comicheften enthielte. Als eher gewöhnlich dürfte hingegen ein Korpus aus Zeitungs- und Zeitschriftentexten gelten. 1) 2) 3) 4) 5) Bruno Strecker 248 fassbaren Ausreißern - nicht mehr in Frage gestellt werden, denn damit hätte das gesamte Verfahren jeden Sinn verloren. Das heißt auch, dass bei diesem Vorgehen sehr wohl Entdeckungen und Überraschungen möglich sind, weil sich etwas als Standard oder standardnah erweisen kann, das man im Lichte der normativen Tradition nicht erwartet hätte. Die Auswahl einer Datenbasis ist kein einmaliges Ereignis, und zwar weder in dem Sinn, dass sie ein für alle Mal auszuführen wäre, noch in dem Sinn, dass nur eine Auswahl getroffen werden darf. Um auch den Besonderheiten verschiedener Textsorten und Verwendungskontexte gerecht zu werden, können sehr wohl spezifische Korpora angelegt werden, auf deren Basis dann auch spezifische Standards bestimmt werden könnten. Literatur Breindl, Eva (2009): Fehler mit System und Fehler im System. Topologische Varianten bei Konnektoren. In: Konopka/ Strecker (Hg.), S. 274-306. Eisenberg, Peter (2009): Richtig gutes und richtig schlechtes Deutsch. In: Konopka/ Strecker (Hg.), S. 53-69. Humboldt, Wilhelm von (1907): Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 7. Berlin. Keller, Rudi (2003): Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache. 3. Aufl. Tübingen. Konopka, Marek/ Strecker, Bruno (Hg.) (2009): Deutsche Grammatik. Regeln, Normen Sprachgebrauch. Jahrbuch 2008 des Instituts für Deutsche Sprache. Berlin/ New York. Lewis, David (1969): Convention. Cambridge, MA . Schelling, Thomas C. (1960): The strategy of conflict. Cambridge, MA . Ullmann-Margalit, Edna (1977): The emergence of norms. Oxford. Wimmer, Rainer (1981): Sind Sprachkritiker nur Speckläufer des sprachkulturellen Wandels? In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 10, S. 335-340. 6) Anja Lobenstein-Reichmann Stigma - Semiotik der Diskriminierung Im Artikel „Stigma - Semiotik der Diskriminierung“ geht es um einen systematischen Überblick über die sprachlichen Formen der Stigmatisierung von Menschen in einer Gesellschaft. Ausgehend von der semiotischen Prämisse, dass das symbolische Zeichensystem Sprache alle anderen Zeichensysteme mitkonstituiert, werden der Prozess der Semiose und die Stigmatisierungspraxis seit frühneuhochdeutscher Zeit bis zu den Nationalsozialisten auf der visuellen, der auditiven und der olfaktorischen Ebene am Beispiel des antijüdischen bzw. antisemitischen Diskurses dargestellt. Im Vordergrund stehen dabei die sprachlichen Mittel der Stigmatisierungspraxis, vor allem die Stigmatisierung durch Wortbildungen, durch ideologische Polysemierung und durch Stigmatisierungsmetaphorik. Stigmatisierung ist eine kommunikative Praxis, die von Menschen ausgeübt wird, um andere Menschen oder Gruppen zu exkludieren. Zu ihren Opfern zählen aber nicht nur die direkt Betroffenen, sondern auch diejenigen, die sich mit ihnen solidarisieren oder solche Menschen, bei denen ein irgendwie geartetes tertium comparationis vorliegt, so dass man sie durch Übertragung der Stigmatisierungspraxis ebenfalls angreifen kann. Diese Art der Sekundärstigmatisierung und ihre Folgen für die Primärstigmatisierten ist ein bislang unterschätzter Untersuchungsgegenstand. 1. Einführende Bemerkungen zu Stigmatisierung und Semiose In Kröners „Wörterbuch der Soziologie“ (1982, S. 734) heißt es unter dem Stichwort Stigma: Stigma, (lat.) ‘Brand-, Schandmal’, physisches, psychisches oder soziales Merkmal, durch das eine Person sich von allen übrigen Mitgliedern einer Gruppe (oder einer Gesellschaft) negativ unterscheidet u. aufgrund dessen ihr soziale Deklassierung, Isolation oder sogar allg. Verachtung droht (Stigmatisierung). Diese Erklärung wirkt auf den ersten Blick ebenso objektiv und informativ wie überzeugend, sie unterschlägt aber entscheidende Aspekte: Zum einen wird durch das Verb sich unterscheiden, gebraucht im Präsens Aktiv und mit persönlichem Subjekt, die Existenz eines bestimmten negativen Kennzeichens sowohl als gegeben präsupponiert als auch in der damit verbundenen negativen Bewertung akzeptiert. Eine als existierend vorausgesetzte Eigenschaft, z.B. des „Zigeunerseins“, wäre somit das negative Merkmal, durch das sich die Minderheit der Sinti und Roma gleichsam objektiv von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet. Man sieht hier, dass der zitierte Lexikoneintrag selbst stigmatisierend ist, da er den konstruktivistischen Handlungsaspekt der Stigmatisierung nicht einmal andeutet. Anja Lobenstein-Reichmann 250 Zum anderen - und dies ist die notwendige Konsequenz aus dem bereits Beschriebenen - verweigert der Autor Aufklärung darüber, wer die negativierende Unterscheidung vornimmt, wer also soziale Merkmale zu Schand- oder Brandmalen macht bzw. was ein solches zur Diskriminierung Anlass gebendes Merkmal überhaupt ist. Im eingeführten Beispielfall zeigt sich, dass Mitglieder der betroffenen Gruppe bemüht sind, die stigmatisierende Fremdbezeichnung Zigeuner durch eine neutrale Selbstbezeichnung, eben Sinti und Roma, zu ersetzen. Ein solcher Namenswechsel stellt einen Versuch dar, der mit der Bezeichnung Zigeuner verbundenen Stigmatisierung zu entgehen, sich gleichsam selbst zu entstigmatisieren. 1 Stigmatisierungen sind semiotische Akte, die einen Einzelmenschen oder eine Gruppe diskriminieren. Das Stigma - im Sinne Goffmans (2002, S. 11) - macht die Situation von Individuen oder ganzen Gruppen offensichtlich, die aufgrund gezielter Fremdzuschreibungen von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen sind (im Zustandspassiv) als auch (im Handlungspassiv) ausgeschlossen werden. Das Wort Stigma führt zurück in die soziale Welt der Antike. [Die] Griechen schufen den Begriff ‘Stigma’ als Verweis auf körperliche Zeichen, die dazu bestimmt waren, etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes über den moralischen Zustand des Zeichenträgers zu offenbaren. Die Zeichen wurden in den Körper geschnitten oder gebrannt und taten öffentlich kund, daß der Träger ein Sklave, ein Verbrecher oder ein Verräter war - eine gebrandmarkte, rituell für unrein erklärte Person, die gemieden werden sollte. (Goffmann 2002, S. 9) Nach Goffman (ebd., S. 12f.) gibt es drei verschiedene Stigmatypen: solche, die aufgrund sichtbarer physischer Deformationen möglich werden. Dieser Typus betrifft vor allem körperlich Behinderte, aber auch Menschen, die z.B. nach einem Unfall entstellt sind. 1 Ob der Versuch der Entstigmatisierung allein durch Namenswechsel gelingen kann, ist allerdings fraglich. Zigeuner ist sowohl ein identifizierender Ausdruck für eine bestimmte Gruppe von Menschen als auch ein Appellativum, mit dem man eine bedeutungshaltige Aussage über diese Gruppe macht. Der Sprecher ruft mit dem Wort alle diejenigen Informationen und Zuschreibungen auf, die innerhalb einer Sprachgemeinschaft im Laufe der Gebrauchsgeschichte üblich geworden sind. Mit dem Namenswechsel kann man zwar zunächst den appellativen „Ballast“ abwerfen, so dass der neue Name dann auf den ersten Blick nur noch der neutralen Identifizierung dient. Doch der Kreislauf, das heißt konkret der Prozess der Semiose, beginnt wieder von neuem. Erfolgreiche Entstigmatisierungen sind letztlich von der kommunikativen Bereitschaft der Sprecher abhängig, durch konsequente Vermeidung negativer Prädizierungen der angestrebten Neutralisierung zuzustimmen. - Stigma - Semiotik der Diskriminierung 251 Der 2. Typus basiert auf dem etwas vagen Kriterium eines unterstellten „individuellen Charakterfehlers“, der z.B. als Willensschwäche, als unnatürliche Leidenschaft oder Unehrenhaftigkeit wahrgenommen wird: Betroffen sind davon Menschen mit Geistesverwirrung, Suchtproblemen, Homosexuelle, Vorbestrafte oder auch Arbeitslose. Der 3. Typus diskriminiert pauschal und nicht individuell. Phylogenetische Stigmata werden in der Regel von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben und basieren auf der Zugehörigkeit zu Größen wie Rasse, Nation oder Religion. Stigmatisierungen erfolgen aufgrund semiotischer Prozesse. Sie brauchen 1. jemanden, der etwas als Zeichen setzt, 2. ein wahrnehmbares und interpretierbares Zeichen, 3. jemanden, der das von jemandem gesetzte Zeichen interpretiert, und vor allem 4. einen Gezeichneten. Stigmatisierungen funktionieren außerdem nur innerhalb eines Zeichensystems, das selbst wiederum Teil von anderen Zeichensystemen ist. Als Zeichen Als Zeichen definiert Charles Sanders Peirce (1931ff., S. 228): [...] something which stands to somebody for something in some respect or capacity. Die entscheidende Weiterung im Unterschied zur gängigen Jahrtausenddefinition aliquid stāt pro aliquō besteht in der Nennung des Zeicheninterpreten, des Zwecks und der Perspektive. Und genau um diesen Kreis der Semiose soll es im Folgenden gehen, um, so Umberto Eco (1977, S. 24), das „Leben der Kommunikation und die Verwendung und Interpretation der Zeichen. Da ist die Gesellschaft, die die Zeichen benutzt um zu kommunizieren, zu informieren, zu lügen, zu täuschen, zu beherrschen und zu befreien“. Relevant ist daher die Frage, welche Typen von Zeichen des Gesamtsystems zu welchen Zwecken benutzt werden und von wem. 2 Damit ist die Semiotik nicht nur die Disziplin, die die Zusammenhänge zwischen dem Code und der Botschaft und zwischen Zeichen und Diskurs untersucht (ebd., S. 23), sondern wird zur „wissenschaftliche[n] Form der Kulturanthropologie“ (ebd., S. 186). Man unterscheidet in minimalistischer Form drei Zeichentypen (Peirce 1931, zit. n. Eco 1977, S. 60f.): 2 Nicht nur unter zeichentheoretischen Gesichtspunkten ist es relevant, ob ich mit dem Finger auf jemanden zeige und ihn auslache oder ob ich jemanden in aller Öffentlichkeit als Zigeuner beschimpfe. - - Anja Lobenstein-Reichmann 252 Indices, auch Symptome genannt. Sie werden durch eine real bzw. kausal ableitbare physische Kontiguitätsbeziehung (Sachbeziehung) definiert. Das klassische Beispiel für diesen Typ ist der Rauch, der in der Regel Feuer indiziert. 3 Ikone bestehen dagegen nicht auf einem Kausalverhältnis, sondern auf einer Art Ähnlichkeitsverhältnis zwischen dem Zeichen und dem bezeichneten Gegenstand. Sie sind trotz der angenommenen Abbildlichkeit kulturabhängig und konventionalisiert. Ikone betreffen nicht nur das Gehmännchen in der Ampelanlage, dem man eine gewisse Ähnlichkeit mit einem sich zu Fuß fortbewegenden Menschen nicht absprechen kann, sie betreffen auch „Abbilder“, die nur deshalb als solche wahrgenommen werden, weil sie kulturell so festgelegt sind, dass niemand ihre Abbildlichkeit in Frage stellt. Der wichtigste Zeichentyp sind die Symbole. 4 Bei ihnen handelt es sich um Zeichen , deren Beziehung zum Gegenstand rein arbiträr ist und ausschließlich auf Konvention beruht. Das wichtigste symbolische Zeichensystem ist die Sprache. Alle drei Zeichentypen setzen beim Rezipienten eine kulturspezifische Sozialisation voraus. Um sie verstehen zu können, muss der Sprecher die Funktionen bzw. Bedeutungen, die ihnen im System zukommen bzw. immer wieder neu zugewiesen werden, erst einmal erlernen. Das sprachliche System gehört damit zum wichtigsten Teilsystem innerhalb des komplexen Systems von Zeichensystemen, das wir Gesellschaft nennen. Mit ihm lernen wir nicht nur, die anderen Systeme zu begreifen und uns in ihnen zurechtzufinden, wir konstituieren damit auch unsere Sichtweise auf die Welt. Es ist eben die Sprache, vorkommend in den Texten jeweiliger sozialer Sinnwelten, in der dem Heranwachsenden Gliederungen vorgegeben, Differenzierungen, Unterscheidungen, vor allem auch Wertungen vermittelt werden, in der - zusammen- 3 Der Zeichencharakter der Symptome wird in der Literatur immer wieder problematisiert. Vgl. dazu Keller (1995, S. 118f.). 4 Die in der Sprachwissenschaft geläufige Vorstellung von Symbol unterscheidet sich erheblich von derjenigen der Psychoanalyse. Zum Vergleich dazu Jung (2003, S. 55): „Ein Zeichen ist immer weniger gehaltvoll als der Begriff, für den es steht, während ein Symbol mehr enthält, als man auf den ersten Blick erkennen kann. Symbole sind außerdem natürliche und spontane Erscheinungen, man erfindet sie nicht. Niemand kann einem mehr oder weniger vernünftigen Gedanken, den er durch logische Überlegung gewonnen hat, anschließend eine symbolische Form geben. Wie phantasievoll man eine derartige Idee auch ausschmücken mag, sie ist immer nur ein mit dem bewussten Gedanken verbundenes Zeichen, kein Symbol, das auf etwas noch Unbekanntes hinweist. In Träumen hingegen treten Symbole spontan auf, denn Träume geschehen, sie werden nicht erfunden.“ - - - Stigma - Semiotik der Diskriminierung 253 gefasst - die Sinngebung vollzogen wird, die für das Leben notwendig ist. Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang die Aussage, dass das symbolische Wesen ‘Mensch’ bereits mit der Annahme einfachster Unterscheidungen vorhandene Wertungen, und damit auch Diskriminierungen übernehmen, und somit zum kommunikativen Kollaborateur sprachlicher Stigmatisierung werden kann. Er ist aber dadurch, dass er aktiv an der stetigen Veränderung des Wertungsinventars seiner Sozialisationseinheiten teilnimmt, auch in der Lage, sowohl stigmaverstärkend als auch entstigmatisierend zu wirken. Im letzteren Fall läuft er allerdings Gefahr, selbst zum Stigmatisierungsopfer zu werden. Der Mensch als das symbolische Wesen, das kommunikativ und das heißt niemals wert- und interessefrei Zeichen austauscht, ist gleichzeitig Objekt und Motor des Wandels. Peirce 5 bringt diese Wechselwirkung auf den Punkt: In Wirklichkeit aber erziehen Menschen und Wörter sich gegenseitig; jede Bereicherung des menschlichen Informationsbestandes führt zu einer Bereicherung im Informationsbestand des Wortes - und umgekehrt. Im Folgenden sollen zwei Aspekte dieses Zeichenaustauschs beleuchtet werden, zum einen die Semiose der Stigmatisierung und zum anderen die Stigmatisierungspraxis. 2. Die Semiose der Stigmatisierung Die stigmatisierende Semiose erfolgt aufgrund dreier semiotischer Prämissen: Man kann alle drei Zeichentypen zur Stigmatisierung heranziehen. Alle Zeichentypen ergänzen und stützen sich wechselseitig. Den Sinnzusammenhang spendet die Sprache mit ihren Textwelten. Wenn Indices auf einer physischen Kontiguitätsbeziehung beruhen, so kann man Falten im Gesicht als Anzeichen für Alter beschreiben und die Hautfarbe als Symptom für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Menschengruppe. 6 Beide Anzeichen könnten einen Arbeitgeber daran hindern, einen Arbeitsu- 5 Hier zitiert nach Eco (1977, S. 164). 6 Gesellschaftlich funktionalisierte Indizes suggerieren durch das Kriterium der unterstellten Kausalitätsbeziehung eine natürliche, empirische Wahrheit, verschweigen dabei aber, dass auch diese in der Sozialisation gefundene Wahrheit erst das Produkt einer ansozialisierten Interpretation ist. Trotz aller berechtigten Kritik, ob Indizes tatsächlich als Zeichen zu verstehen sind, sie existieren auch außerhalb von Interpretation, zeigt sich an diesen Beispielen, wie fließend die Übergänge zwischen den drei Typen sein können. Es wird auch die Berechtigung unterstrichen, sie trotz aller zeichentheoretischer Bedenken als dritten Zeichentypus anzusetzen. Denn jede Einbindung in die Sozialität ist semiotisch. 1) 2) 3) Anja Lobenstein-Reichmann 254 chenden einzustellen. Diese äußerlichen Symptome sind zwar für jedermann offensichtlich, sie werden aber erst in der bewertenden Interpretation durch den Benutzer zu stigmatisierenden Zeichen. Besonders ausgeprägt ist diese angedeutete Benutzerabhängigkeit bei der so genannten Hakennase. In antisemitischen Kreisen wurde eine bestimmte Nasenform zum naturgegebenen Anzeichen einer unterstellten jüdischen Rasse konstituiert. Man behauptete: Wenn ein Mensch eine solche Nase hat, ist er ein Jude. Dieser Schluss wurde aufgrund eines gezielt von Antisemiten hergestellten Kontiguitätszusammenhangs in Form einer ebenfalls immer wieder formulierten rassenbiologischen Begründung als genau so wahr empfunden wie die Aussage: Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Eine solche Art der Indexikalisierung ist die bewusst eingesetzte Glaubwürdigmachung rassistischer Stigmatisierung und führte dazu, dass selbst heute noch Menschen aufgrund ihrer Nasenform „erkannt“ werden. Wenn solche oder ähnliche Kontiguitäten einmal in einer Gesellschaft eingerichtet sind, können sie auch ikonographisch genutzt werden. Natürlich kann die indexikalische Installation mit der ikonographischen parallel gehen, was Filmplakate wie die zum „Ewigen Juden“ und zu „Jud Süß“ andeuten. Das auf dem Plakat abgedruckte Foto von Jud Süß verweist zwar auf den Schauspieler Ferdinand Marian, stellt aber in erster Linie das Bild eines typischen Juden dar, wie es durch antisemitische Texte vorab konstituiert worden ist. Manche Betrachter lernen erst über solche Bilder und vor allem durch solche Filme, was die gesellschaftlich wirksamen Indices für Juden sind. Diese Bilder leben geradezu von der Überzeichnung dieser Typisierung, was sie deutlich in die Nähe der Karikatur kommen lässt. Aber nicht nur diese beiden Filme leben von der semiotischen Verzerrung. Man braucht sich nur Julius Streichers nationalsozialistisches Schmähblatt „Der Stürmer“ anzusehen, das nicht nur auf dem Titelblatt mit antisemitischen Karikaturen gespickt ist. Diese „Zerr-Bilder“ sind alle sprachlich eingebunden und vernetzt, was vor allem durch den Einsatz von Krankheits- und Tiermetaphorik geschieht, die wiederum Bilder evozieren. Metaphern stellen bereits eine Art Brücke dar zwischen Ikonen und Symbolen. Symbolische Zeichen können sowohl sprachlicher als auch nichtsprachlicher Natur sein. Zur sprachlichen Stigmatisierung können außerdem Namen genutzt werden (Sara, Isidor oder das Beispiel Zigeuner), 7 bestimmte Wortbildungen, besonders ausdifferenzierte onomasiologische Felder, Sprichwörter, 7 Vgl. dazu Bering (1987, 1992). Stigma - Semiotik der Diskriminierung 255 Phraseme und Kollokationen u.v.m. Nichtsprachliche stigmatisierende Symbole können sein: Kleidungsstücke wie eine Zwangsjacke, eine Gefängnisuniform oder ein Judenstern. Alle drei beschriebenen Zeichentypen erfüllen je eine besondere Funktion in der Stigmatisierung: Indices suggerieren Kausalbeziehungen und schaffen damit den Eindruck objektiver, da natürlich vorgegebener Existenzen. Ikone liefern einprägsame Perspektiven und Verzerrungen. Aber erst das symbolische Zeichensystem Sprache, immer gedacht als in bestimmten sozial üblichen Textwelten existierend, schafft die grundlegende Inhalts- und Bewertungssozialisation, ohne die weder Indices, Ikone noch nonverbale Symbole verstanden oder kommunikativ eingesetzt werden können. Nur die Sprache ermöglicht darüber hinaus die Gesamtvernetzung der Systeme, die gegenseitige Erkennbarkeit und Identifizierbarkeit, vor allem die positive wie negative Bewertung. Zusammen schaffen die Zeichentypen nicht nur Normen, sondern sie legen auch fest, was oder wer dieser Norm nicht entspricht. Diese Art der Normativität kann bis hin zu Absprechung von Menschlichkeit führen: „Von der Definition her glauben wir natürlich, daß eine Person mit einem Stigma nicht ganz menschlich ist.“ (Goffman 2002, S. 13). nicht ganz menschlich ist.“ (Goffman 2002, S. 13). ist.“ (Goffman 2002, S. 13). 3. Stigmatisierungspraxis 8 Bisher wurde von Zeichen und Zeichentypen gesprochen. Jetzt sollen die Zeichenkanäle (Eco 1977, S. 51) als Ort sprachlich-textlicher Stigmatisierung in den Mittelpunkt gerückt werden, vor allem das Riechen, das Sehen und das Hören. 9 Schon im 14. Jahrhundert schreibt Heinrich von Hesler 10 in seiner Bibeldichtung „Nikodemus“: H. v. Hesler. Nicodemus 5171 (14. Jh.): do von sie stinken die jüden, also die asblasenden rüden. Dieser Topos vom stinkenden Juden zieht sich durch die Geschichte der antijüdischen Stereotype. 8 „Adversus - Judaeos Tradition“. 9 Es gibt dabei drei Perspektiven, die des Zeichenausströmenden, die des Wahrnehmenden und die des darüber Berichtenden. 10 Zitiert nach FWB , Bd. 8, 1, s.v. Jude. Zu den Quellenangaben der einzelnen Zitate vgl. FWB. - - - Anja Lobenstein-Reichmann 256 Der Odem stinckt inen nach der Heiden Gold und Silber, Denn kein Volck unter der Sonnen geitziger, denn sie sind. (Luther Luther WA 53, S. 477) Luthers Gegenspieler Johannes Eck zitiert in seiner Schrift „Eines Judenbüchleins Verlegung“ aus dem Jahre 1541 einen gewissen Vbertin von Bressa, der gesagt haben soll, sie brauchens wider d ) n stanck / wie da ] sie vo ] natur stinckend. (Eck 1541, R r) Die Ursache dieses Gestanks ist für Eck ebenso klar, wie das Heilmittel dagegen. Er behauptet, die Juden seien deswegen an einer Unzahl unreiner Krankheiten, wie Blutfluss oder Durchfall, erkrankt, weil sie das Blut Christi an ihren Händen hätten. Doch diese Blutschuld könne man nicht einfach abwaschen, wie Henisch in seinem Wörterbuch deutlich macht. Henisch 170 (Augsb. 1616): Die schuld muß endlich das bad außtragen. Es hilfft kein bad an einem Juden oder Rappen. 11 Einziges Heilmittel gegen den stigmatisierenden Geruch sei, sich einmal im Jahr in Christenblut zu waschen. 12 Die wichtigsten Stereotype des Mittelalters gegen die Juden sind damit angesprochen: der Vorwurf des Christenmordes, 13 vorzugsweise der rituelle Kindermord und der Gottesmord, wobei dieser doppelt wörtlich zu verstehen ist, einmal im Hinblick auf die Kreuzigung und das andere Mal bezogen auf die Hostienschändung. 14 Das Verb stinken, jedenfalls in der Bedeutung 1. ›übel riechen, stinken‹, ist im Frühneuhochdeutschen, ich zitiere hier das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch, 15 einmal auf Gegenstände bezogen, „die einen für die menschliche Wahrnehmung üblen Geruch ausströmen“; zugleich bezieht es sich, dicht belegt, „auf den Menschen […] als eine durch Unreinheit, Sündenverfallenheit, Krankheit, Vergänglichkeit, Tod bestimmte Kreatur […]“; im Orientierungsfeld von stinken sind mehrfach Ausdrücke wie faulen, verderben belegt; das partizipiale Adj. stinkend findet sich im Umfeld von: beschissen, faul, hellisch, schäbig, schelmig, übelriechend, unrein. Was ist hier geschehen? Unter dem logischen Aspekt des Lexikographen liegt eine Bedeutungserweiterung vor, indem die Bezeichnung eines rein sensorisch 11 Zitiert nach FWB , Bd. 2, 4, s.v. bad 4. 12 Luther hatte dies in seiner Schrift von 1523 noch als Unsinn zurückgewiesen. 13 „Der Jud stellt sein synne nacht vnd tag Wie er den cristen verderben mag“: Titel eines anonymen Flugblattes des 15. Jhs. 14 Vgl. zu den Stigmatisierungstraditionen u.a. Benz (2004); Schoeps/ Schlör (Hg.) (1999). 15 FWB , Bd. 11, 1, s.v. stinken. Stigma - Semiotik der Diskriminierung 257 erfahrbaren Geruchs durch Inhalte eines kaum trennbaren Konglomerates wie ‘natürliche Defizienz, moralischer Mangel, Sündhaftigkeit’ aufgeladen wurde. In kommunikationsgeschichtlicher Perspektive liegt eine üblich gewordene, aber hinsichtlich ihres tertium comparationis leicht durchschaubare metaphorische Verwendung innerhalb bestimmter religiöser Textsorten und Textzusammenhänge vor: Übler Geruch und Krankheit, Unmoral und Sündhaftigkeit sind zwar logisch unterscheidbar, aber in den Belegen ist das eine immer wieder mit dem anderen verbunden, so dass wir nicht das eine und das andere haben, sondern einen Komplex aufs Engste miteinander verwobener Sinnzusammenhänge. In dem Maße, in dem die in Betracht kommenden Texte Prestige haben (und das hatten sie), gewährleisten sie die Glaubwürdigkeit der Stigmatisierung. Die mit dem Lemma stinken installierte ideologische Aufladung bzw. Besetzung verselbstständigte sich so weit, dass sie später auch außerhalb der traditionellen Textsorten ihr „Gschmäckle“ beibehalten konnte. So schreibt Hitler in „Mein Kampf“: Mir wurde bei dem Geruche dieser Kaftanträger später manchmal übel. […]. Dies alles konnte schon nicht sehr anziehend wirken; abgestoßen mußte man aber werden, wenn man über die körperliche Unsauberkeit hinaus plötzlich die moralischen Schmutzflecken des auserwählten Volkes entdeckte. (Hitler 1939, S. 61) Das Hören ist ebenfalls ein beliebter Stigmatisierungsort. Hier wird nicht nur das sprachlich Stigmatisierte wahrgenommen, das Gehör kann auch zum Differenzierungsorgan werden für moralische oder allgemeinmenschliche Defizienz. Schillernd lässt sich dies bei Richard Wagner nachweisen, der 1850 in seiner Initialschrift vom „Judentum in der Musik“ behauptet: Hören wir einen Juden sprechen, so verletzt uns unbewußt aller Mangel rein menschlichen Ausdruckes in seiner Rede: die kalte Gleichgiltigkeit des eigenthümlichen »Gelabbers« in ihr steigert sich bei keiner Veranlassung zur Erregtheit höherer, herzdurchglüheter Leidenschaft. (Wagner 1911, Bd. 5, S. 71f.) Für den Dichterkomponisten mindestens genau so wichtig wie die Sprache war natürlich die Musik, und so schreibt er über jüdische Synagogenmusik: Wer ist nicht von der widerwärtigsten Empfindung, gemischt von Grauenhaftigkeit und Lächerlichkeit, ergriffen worden beim Anhören jenes Sinn und Geist verwirrenden Gegurgels, Gejodels und Geplappers, das keine absichtliche Karrikatur widerlicher zu entstellen vermag, als es sich hier mit vollem naiven Ernste darbietet? (Wagner 1911, Bd. 5, S. 76) Anja Lobenstein-Reichmann 258 Die Stigmatisierung durch die Schmähwörter Gelabber, Gegurgel, Gejodel und Geplapper macht deutlich, dass wir also nicht nur riechen müssten, wer ein Jude ist, sondern es auch an seiner Sprache und an seiner Musik hören könnten. Ein weiteres Beispiel aus dem Wagnerkreis entstammt der Feder seines Schwiegersohns, Houston Stewart Chamberlain. Die Sanskritsprache kennt nur sechs echte „Gutturales“, die hebräische zehn; am auffallendsten ist jedoch der Unterschied bei dem gutturalen Hauchlaut, dem h, für welches die indogermanischen Sprachen seit jeher nur einen einzigen Laut gekannt haben, die semitischen dagegen fünf verschiedene. Dagegen findet man im Sanskrit sieben verschiedene Zungenlaute, im Hebräischen nur zwei. Wie ungeheuer schwer es ist, solche vererbte sprachliche Rassenmerkmale ganz zu verwischen, ist uns Allen durch das Beispiel der unter uns lebenden Juden gut bekannt; die vollkommen fehlerlose Beherrschung unserer Zungenlaute ist ihnen ebenso unmöglich, wie uns die Meisterschaft der Kehllaute. (Chamberlain 1899, S. 235, Anm. 1) 16 Dass wir darüber hinaus natürlich auch sofort sehen müssten, wer ein Jude ist, wurde bereits mit dem Beispiel der angeblichen Judennase angedeutet. Doch was ist, wenn alle Stigmatisierungskanäle „versagen“, was sie natürlich tun, da die Juden vor allem zu Ecks Zeiten wohl die einzigen waren, die aufgrund ihrer Reinheitsgebote nicht gestunken haben und da man weder Mendelssohn-Bartholdys Werke noch die Synagogenmusik als Gegurgel bezeichnen kann. Man muss an dieser Stelle Sartre zitieren, der vieles des bisher Zusammengetragenen auf den Punkt bringt, wenn er schreibt: Wir haben nun gesehen, daß entgegen einer weitverbreiteten Ansicht nicht der Charakter des Juden den Antisemitismus, sondern daß im Gegenteil der Antisemit den Juden schafft. (Sartre 1948, S. 126) Mit dieser Aussage wird deutlich, dass der Antisemitismus zwar etwas über den Antisemiten, jedoch nichts über den Juden aussagt. Unter semiotischem Aspekt heißt dies übrigens: Zeichen sagen in der Regel etwas über ihre Benutzer (womit Sprecher und Interpret gleichermaßen gemeint sind) aus, aber nicht immer auch etwas über den von ihnen bezeichneten Gegenstand. Gerade weil man Juden nicht erkennen kann und weil es ihn als „den“ Juden im kollektiven Singular ohnehin nicht gibt, führt man das klassische Stigma zur Kennzeichnung des Stigmatisierten ein. Denn erst mit diesem Schandmal und mit den dazugehörigen Textinszenierungen (er)schafft man ihn. 3. Sie sollen auch sunst stets ain vnderschidlichs zaichen haben / Dardurch sie von Christen vnnd andern erkennt werden. […] Dann also wurden sie sich mer 16 Vgl. dazu Lobenstein-Reichmann (demn. a). Stigma - Semiotik der Diskriminierung 259 schemen / auch wurd vermitten das Christen […] weßten sie baß z G vermeid). Daruon […], gar manigfaltig würd anzaigt / was vnraths darauß entstanden sein Wa] sie kain zaichen haben / so schleichen sie hin vnd her / von ainem land z G dem andern / vnd richten morderei der kind / gotslesterei des Sacraments […] an / vnd ander büeberey / […] Wa ain Jud sein gwonlich zaich) nit trieg / […] / der solt vogelfrey / vnnd jederman erlaubt vnnd breyß sein. (Eck 1541, xivv) Es ist bekannt, dass die mittelalterliche und frühneuzeitliche Kennzeichnungspflicht durch einen Judenhut oder einen Judenring, wie im 17. Jh. auch von Harsdörffer (1653) beschrieben, von den Nationalsozialisten im berüchtigten Judenstern wieder aufgenommen wurde. Harsdoerffer. Trichter 3, 282, 15 (Nürnb. 1653): Jud / Juden. Der Ebräer / das weiland Gotes Volk / die Weltverachte Rott / der frevle Wuchermann / deß Kleid ein gelber Ring von Christen unterscheidet. 17 Es würde unter gesamtsemiotischen Gesichtspunkten dann auch wohl niemanden verwundern, wenn mittelalterliche Christen, nachdem sie ihre jüdischen Mitbewohner an den Judenhüten als Juden vor sich sahen, nicht nur deren moralische Defizienz bestätigt fanden, sondern auch noch deren „Blutschuld rochen“. Das äußere Stigma diente dem Stigmatisierten zur Schmähung und gesellschaftlichen Ausgrenzung, der nicht betroffenen Mehrheitsgesellschaft dagegen zur Identifizierung und zur Warnung vor dem religiösen (vorwiegend bis ins 19. Jh.) bzw. dem rassischen Feind (ab dem 19. Jh.). Mit dem in Texten konstituierten Feindbild wurden vor allem die Sinne Hören, Sehen und Riechen angesprochen. Der Feind wurde dabei als Bedrohung für Leib und Seele inszeniert. Er wurde kriminalisiert und dehumanisiert. 4. Sprachliche Mittel der Stigmatisierungspraxis Es wurde behauptet, dass die Stigmatisierung nicht nur in Sprache, sondern vor allem durch Sprache geschieht. Folgende Auswahl an Beispielen soll zeigen, wie dies sprachlich vollzogen werden kann. 4.1 Stigmatisierung durch Wortbildungen Bei den abgeleiteten Verben judeln und judenzen (ähnlich auch: jüdischen) ist die Negativwertung bereits semantisch konstitutiv, was die Artikelauszüge aus dem FWB zeigen. 17 Zitiert nach FWB , Bd. 8, 1, s.v. Jude. Anja Lobenstein-Reichmann 260 judenzen ›sich so verhalten, wie man es einem Juden zuschreibt‹; abwertend gebraucht. - Synt.: judenzende chiliasten / tausendjärler / papisten. jüdischen ›sich nach jüdischem Brauch verhalten; etw. (einen Text) nach jüdischer Art, nach jüdischem Glauben auslegen, einrichten‹. - Synt.: jüdischende ketzer. - zu Dohna u.a., Staupitz/ Scheurl 241 (Nürnb. 1517): wie du von Petro lisest, das er die heiden hat getrungen zu judischen. Kurrelmeyer, Dt. Bibel 2, 146, 2 (Straßb. 1466): Ob das du bist ein iude du lebst heidenlich vnd nit iudischlich: in welcherweys zwingest du die heiden zeiudischen? Ebd. 7, 143, 23: ist das ewangelium ihesu cristi auffgenomen sein die auslegung vnd die tulmetzschung des iuden aquila vnd symachus [...] die do geiudischt haben das ist das sy den iuden nachgeuolget haben in fleisiglicher nachuolgung. Das Verb judeln bedeutet: ›sich so verhalten, wie man es üblicherweise einem Juden zuschreibt; wuchern‹. Im Fremdwörterbuch Rots aus dem Jahre 1571 heißt es: Rot 322 (Augsb. 1571): Iudlen, Sich nach der Jüdischen art halten. Jtem Jüdlen nennen wir auch Wůchern / darumb das der Juden sonderlicher brauch ist / das sie sich des wuchers betragen […]. Nun habens die Christen auch von jnen gelernet / vnd kuennens etlich so wol als die Juden selbs oder baß / wie sie den Juden spieß sollen brauchen. 18 Mit jüdeln sind zwei Vorwürfe verbunden, zum einen der des Wuchers. Er macht deutlich, dass der frühneuzeitliche Judenhass stark ökonomisch motiviert war. Zum anderen kommt besonders in der Reformationszeit, in der religiöse Dogmen in Frage gestellt, geradezu sprachlich neu verhandelt werden, das bewusste Rücken einer Gruppe oder eines Predigers in die Nähe des Judentums einem Ketzerurteil gleich (ein Aspekt, der im Verlauf des Artikels noch einmal aufgenommen werden soll). So bot alttestamentarisches Gedankengut, zum Beispiel die altjüdische Gesetzlichkeit, 19 vor allem Luther immer wieder Anlass zur agitierenden Gegenwehr gegen die Papisten oder die Sektierer, wie er sie nannte. Mit diesem Vorwurf agitiert er vor allem gegen die „Schwärmer“ Karlstadt, Michael Servet, auch Wolfgang Capito und gegen den Gründer des Münsteraner Täuferreiches Bernd Rothmann. Neben Adjektivbildungen, wie judainfrei bei Paul de Lagarde, 20 sind vor allem viele substantivische Wortbildungen stigmatisierend, so z.B. das seit 1325 be- 18 Zitiert nach FWB , Bd. 8, 1, s.v. judeln. 19 Z.B. Luther WA 51, S. 381. 20 Lagarde (1887 [1924], Bd. 1, S. 446). Stigma - Semiotik der Diskriminierung 261 legte und von Goebbels wie schon Chamberlain gern benutzte Judenknecht 21 oder das negativierende Judengott 22 , des Weiteren: Judenfinanz 23 , Judenpresse, Judenschule, Zeitungsjude oder Verjudung (Hitler). Im hier aufgeführten Zusammenhang relevant sind Judengeruch und Judenduft 24 : Wenn manche übrigens den erdlichen specifischen Judengeruch für Vorurtheil oder Erdichtung ausgeben, so ist es ein Beweis, dass sie entweder Judengenossen oder auch mit ihren Nasen zerfallen sind. Dieser widerliche Geruch hat seine natürliche […] Ursache [. .]. Die Juden hatten durch ihre abscheulichen und widernatürlichen Laster […] sich den Aussatz […], nach Andern die Elephantiasis zugezogen […] Mit dieser Krankheit war der widerliche, verpestende Geruch verbunden […] Daß Abrahams Saame noch eben mit jenem pestilenzinlischen Erbübel unheilbar behaftet ist, wird Niemand bezweifeln, der nur einmal Juden gesehen und - gerochen hat. (Hundt-Radowsky 1819, S. 54) Spezereien […], womit Esther ein ganzes Jahr zuvor gesalbt worden, um ihren Judenduft zu verlieren. (ebd., S. 53) Ich sehe in solchen Nutzungen von Wortbildungen, vor allem in den seit der Reformationszeitzeit gehäuft auftretenden Determinativkomposita, Verfestigungen der Parole zur Norm (im Sinne von Coseriu 1974, Pavlov 1995 und Solms 1999) und in der Verlängerung dieses Vorgangs Veränderungen im System. Die Bildung mit Jude dient zur Negativkennzeichnung aller möglichen, oft auch nichtjüdischer Gegenstände und Sachverhalte und hat damit Schlagwortcharakter. Ein modernes Beispiel für die Aufnahme eines solchen Kompositums ins Inventar bildet die bekanntberüchtigte Judenfrage. 25 Es handelt sich hierbei um ein Verbalabstraktum, dessen Grundwort nicht mehr die obligatorische Wertigkeit seiner Basis, nämlich des Verbs fragen aufweist. Es wird nicht deutlich, wer hier fragt bzw. für wen überhaupt eine Frage vorliegt. Außerdem hat Frage hier eine Polysemierung in Richtung auf ein ›Problem, eine zu klärende Sache‹ (Duden 1999, S. 1297) erfahren. Damit wird das Wort in Judenfrage lexikalisch-semantisch mit Problem identisch. Und unter textlinguistischem 21 Chamberlain (1899 [1912], S. 20): verkrüppelte[n] Judenknecht. 22 Judengott häufig bei Chamberlain (z.B. in „Mensch und Gott“, 1916, S. 30), aber auch bei Wagner: „daß der Judengott das fette Lammopfer Abel's schmackhafter fand als das Feldfruchtopfer Kain's.“ (Wagner 1911, Bd. 10, S. 241). 23 Neubildungen aus dem 19. Jh. Vgl. dazu Hortzitz (1996, S. 107-129). 24 Hundt-Radowsky (1819). 25 Chamberlain (1899 [1912], S. 382) benutzt dieses Kompositum regelhaft; auch als Kapitelüberschrift); vgl. auch Lagarde (1887 [1924], Bd. 1, S. 368, 370). Anja Lobenstein-Reichmann 262 Aspekt kommt hinzu, dass Substantive durch ihre bloße Verwendung schon eine Existenzpräsupposition darstellen. Judenfrage besagt also schon insofern: Es gibt ein Problem, und dieses Problem hat etwas mit den Juden zu tun. Die genaue Beziehung, die zwischen dem präsupponierten Problem und den Juden besteht, wird in Determinativkomposita nicht explizit zum Ausdruck gebracht. Es kann sich von den grammatischen Möglichkeiten her um ein gruppeninternes Problem von Juden (Genitivus subjectivus) handeln (und wäre dann für Angehörige anderer Gruppen höchstens akademisch interessant); es kann sich um ein Problem handeln, das die Juden gleichsam objektiv für die Gesellschaft darstellen, und es kann sich um ein Problem handeln, das bestimmte Individuen oder Gruppen der Gesellschaft aufgrund einer besonderen Ideologie oder irgendwelcher sozialpsychologischer Neurotiken mit den Juden haben. In Betracht kommt natürlich auch noch die Möglichkeit einer irgendwie gearteten Verbindung der drei Verständnismöglichkeiten. Da das Kompositum Judenfrage aber in der Regel von bestimmten Nichtjuden bewusst zum Zweck der Exklusion gebraucht wird, gehört es zu den Schibboleths bzw. Erkennungswörtern einer sich durch antisemitische Grundhaltung auszeichnenden Gesellschaft bzw. Gesellschaftsgruppe und ist insofern das diese kennzeichnende Fahnenwort. 26 4.2 Stigmatisierung durch ideologische Polysemierung Die schon bei den Verben diskutierten stigmatisierenden Semantisierungen können auch auf der Bedeutungsebene des Simplex Jude selbst nachgezeichnet werden. Durch die regelmäßig benutzte Übertragung des Stigmas ‘Wucher’ von Juden auf Nichtjuden hatte sich dieses so weit verselbstständigt, dass es zur Lexikalisierung folgender Bedeutungserweiterung kam. Jude wird dann zweitens zu ›Pfandleiher, Geldleiher (auch nicht-jüdischer Herkunft)‹. Der neutrale Referenzbezug auf eine religiöse Gruppe wird verdrängt durch einen immer dominanter werdenden Gebrauch als Schimpf- und Scheltwort, dessen Referenzbezug, losgelöst vom ursprünglichen identifizierenden Namensgebrauch, nun für beliebige Bezugspersonen hergestellt werden kann. Dabei findet nicht nur ein pragmatischer Gebrauchswechsel von Identifikation zur Appellation statt, sondern man könnte diesen Vorgang auch als stigmatisierendes Besetzen von Begriffen betrachten. Dieser Stigmatisierungsakt wird häufig durch den bewussten Einsatz konnotativer Anreicherungen vermittels bedeutungsverwandter Wörter vollzogen. Zur appellativen zweiten Bedeutung von Jude führen als bedeutungsverwandt gebrauchte Ausdrücke wie: hantierer, lombarde, mono polier, wucherer. 26 Vgl. dazu Hermanns (1994, S. 16). Stigma - Semiotik der Diskriminierung 263 4.3 Stigmatisierung durch onomasiologische Vernetzung Mit der ideologischen Polysemierung wurde ein Vorgang angedeutet, der als mehrstufig gedacht werden muss, nämlich die Stigmatisierung durch eine bewusst eingesetzte onomasiologische Vernetzung. Einmal verändert sich die Einzelbedeutung selbst, damit zweitens das Bedeutungsfeld innerhalb der Lexemgrenze, zum dritten wandeln sich mit der Polysemierung auch die jeweils zugehörigen onomasiologischen Felder; viertens ändern sich über letztere schließlich sogar feldübergreifende Wortschatzbereiche. Die Setzung von Bedeutungsverwandtschaften dient nicht nur der stilistischen Variabilität oder der Anreicherung mit bestimmten Konnotationen, sondern sie ist in fundamentaler Weise die Gleichsetzung einer Größe mit einer anderen. So wird in frnhd. Texten Jude nicht nur mit Wucherer gleichgesetzt, sondern auch mit Ketzer, Türke oder Ungläubiger und in manchen Belegen in deutlich kriminalisierender Absicht auch mit herrenlosem gesindel, für das es wiederum weitere negativ bewertende Ausdrücke gibt. Steirische und kärntnische Taidinge 442, 24 (17. Jh): soll auch sonsten kein gerichtsman […] in Straßfriderischen gericht ledigmassige persohnen und herrenloß gesindl so wenig juden, schotten, sofeyer [27] , unbekant petler, zigeiner, landsknecht und andere landfahrer [...] beherbigen. 28 Solche Gleichsetzungen beziehen sich dann nicht mehr nur auf das Ausgangslexem Jude, sondern rufen insgesamt das Wortfeld im Sinnbezirk des „Verbrechens“, des „Vagabundierens“, des „Ketzertums“ und des „äußeren Feindes“ auf. 4.4 Stigmatisierungsmetaphorik Stigmatisierende Vernetzungen sind häufig metaphorischer Natur. Dies hat zwei Gründe, einen strukturellen und einen pragmatischen. Die Sprachstruktur bietet infinite Möglichkeiten, jeden Gegenstand mit jedem anderen in Beziehung zu setzen. Pragmatisch betrachtet wird diese Möglichkeit gerne ideologisch funktionalisiert. Besonders die Tier- und Krankheitsmetaphorik wird immer wieder zur Stigmatisierung herangezogen, so auch schon bei Luther. 29 Es stimmet aber alles mit dem urteil Christi, das sie [Juden] gifftige, bittere, rachgirige, hemische Schlangen, meuchel moerder und Teufels Kinder sind, 27 Bürger von Savoyen. Arme Landschaft, weswegen die hungernden Bewohner zu Fahrenden oder Reisläufern wurden. 28 Zitiert nach FWB , Bd. 9, 2, s.v. ledig 7. 29 Vgl. dazu Polenz (1999, S. 542). Anja Lobenstein-Reichmann 264 die heimlich stechen und schaden thun, weil sie es oeffentlich nicht vermoegen. […] Das ists, das ich droben gesagt habe, das ein Christ, nehest dem Teufel, keinen gifftigern, bittern feind habe, denn einen Jueden, So wir doch niemand so viel guts thun, noch so viel von jemand leiden, als eben von solchen boesen Teufels Kindern und Schlangen gezichte. 30 (Luther WA 53, S. 530f.). Während sie in frühneuhochdeutscher Zeit zumeist im Rahmen der religiösen, durch die Bibel vorgegebenen Metapherntradition auftritt, erfährt die ideologische Metaphorisierung im 19. Jahrhundert durch die Vernaturwissenschaftlichung respektive die Biologisierung der Welt einen Dehumanisierungsschub. Vorreiter dieses speziellen Metapherngebrauchs war Paul de Lagarde, ein viel gelesener und bewunderter Göttinger Orientalist, der als einer der ersten das Wort Rasse im Deutschen systematisch mit Juden kontextualisiert hat. 31 Lagarde schreibt in seinen kulturpessimistischen und dabei kulturpädagogisch angelegten Schriften u.a. 32 Es gehört ein Herz von der Härte einer Krokodilhaut dazu, um mit den armen, ausgesogenen Deutschen nicht Mitleid zu empfinden, und - was dasselbe ist - um die Juden nicht zu hassen, um diejenigen nicht zu hassen und zu verachten, die - aus Humanität! - diesen Juden das Wort reden, oder die zu feige sind, dies wuchernde Ungeziefer zu zertreten. Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichine und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet. (Lagarde 1887 [1924], Bd. 2, S. 209) Lagarde 33 dehumanisierte die Juden immer wieder vermittels einer besonders drastischen Metaphorik, so bezeichnete er sie als Homunculi 34 oder als Träger der Verwesung 35 . Ganz in dieser Metapherntradition agiert auch Adolf Hitler: Gab es denn da einen Unrat, eine Schamlosigkeit in irgendeiner Form, vor allem des kulturellen Lebens, an der nicht wenigstens ein Jude beteiligt gewesen wäre? Sowie man nur vorsichtig in eine solche Geschwulst hineinschnitt, fand man, wie die Made im faulenden Leibe, oft ganz geblendet vom plötzlichen Lichte, ein Jüdlein. (Hitler 1939, S. 61) 30 Vgl. auch: Luther Luther WA 53, S. 587f. 53, S. 587f. 31 Z.B. Lagarde (1887 [1924], Bd. 1, S. 296); vgl. dazu Polenz (1999, S. 543). 32 „Die Juden sind als Juden in jedem europäischem Staate Fremde, und als Fremde nichts anderes als Träger der Verwesung.“ Lagarde (1887 [1924], Bd. 1, S. 295). 33 Vgl. dazu Sieg (2007, S. 60f.). 34 Lagarde (1887 [1924], Bd. 1, S. 371) . 35 Lagarde (1887 [1924], Bd. 1, S. 30). Stigma - Semiotik der Diskriminierung 265 5. Sekundärstigmatisierung Die Beispielliste sprachlicher Stigmatisierungsmittel soll hier abgebrochen werden, um einen weiteren Aspekt der Stigmatisierung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken zu können. Es geht nun um diejenigen, „die aus Humanität diesen Juden das Wort reden“ (so Paul de Lagarde im vorletzten Zitat) und insofern unter einer Sekundärstigmatisierung leiden müssen. Goebbels nennt solche Humanisten Judenknechte 36 und er hat klare Vorstellungen, wie man mit ihnen zu verfahren hätte. In den ersten Tagen nach Einführung des Judensterns ging der Berliner Zeitungsverkauf rapide in die Höhe. Jeder Jude, der über die Straße musste, erstand sich eine Zeitung, um schamhaft sein Kainsmal damit zu verdecken. Als das verboten wurde, sah man hier und da Juden auf den Straßen des Berliner Westens in Begleitung von nichtjüdischen Ausländern herumparadieren. Diese Judenknechte hätten eigentlich auch Anspruch auf einen Judenstern. (Goebbels 1941, S. 1f.) Sekundärstigmatisierungen sind Übertragungen gesellschaftlich akzeptierter Stigmatisierungen von einer Gruppe auf eine andere. Man schreibt nun auch ihnen die bereits bekannten Prädizierungen zu, oft sogar ohne sie explizit nennen zu müssen, der Vergleich mit der stigmatisierten Gruppe genügt, um beim Rezipienten das ganze bekannte Feld stigmatisierender Einheiten und stigmatisierender Aussagen zu evozieren. Es ist dabei auch kaum noch von Belang, welche Kriterien zur Stigmatisierung der ersten Gruppe geführt haben oder ob tatsächlich eine positive Wahrnehmung der stigmatisierten Gruppe stattfindet. Im folgenden Beispiel trifft diese jedoch zu. Johannes Ecks schon zitiertes Judenbüchlein (1541) ist die katholische Antwort auf das kurz zuvor publizierte positive Judengutachten (vor 1541) des Protestanten Osiander. 37 Man hatte ihn gebeten, zu einer Blutbeschuldigung Stellung zu beziehen, was er in einem Privatbrief, der später ohne seine Einwilligung publiziert wurde, auch tat. 1540 war in der Nähe Eichstätts ein Junge zu Tode gekommen und die ansässigen Juden wurden des Ritualmordes beschuldigt. In seinem Schutzbrief, der als privater Antwortbrief formuliert war, betont Osiander zum einen, dass den Juden Unrecht geschehe (Osiander 1988, S. 225) und zum anderen legt er schonungslos die Hetzpraxis gegen die Juden offen. Er geht dabei sogar soweit, dass er den katholischen Klerus als Verursacher und Profiteur anklagt: 36 U.a. bei Lagarde auch Judenfreund (1887 [1924], Bd. 1, S. 370), Judengenosse (1887 [1924], Bd. 1, S. 406). 37 Vgl. dazu Keyser in Osiander (1988, S. 217ff.). Anja Lobenstein-Reichmann 266 So bewegt mich hart, das seind der geburt Christi bißhere zu keiner zeyt an keinem ort von disen kindermord nichts geh = rt noch ye gedacht ist worden biß in diese letzten zwey- oder dreyhundert jar, in denen münch und pfaffen allerley buebery und betrug mit walfarten und andern falschen wunderwercken angericht haben […]. (Osiander 1988, S. 233) Im Unterschied zum Gutachten des Humanisten Osiander trägt Johannes Eck in seinem Pamphlet (Eck 1541) nahezu alle damals gängigen antijüdischen Stereotype systematisch zusammen, verschriftlicht sie und schreibt sie mit der Publikation in neuartiger Weise fest. Er ist einer der ersten, der den Topos von der angeblichen jüdischen Weltverschwörung (z.B. ebd., J ijr) bedient, ihn vielleicht sogar erfindet. Bei aller deutlich werdenden Judenfeindschaft des katholischen Theologen ist unter dem hier diskutierten Aspekt eines auffällig: Eck schlägt zwar die Juden, meint aber auch die Lutheraner. 38 Mehr noch: Er schreibt immer wieder vom Juden verteidigenden Judenvater und greift damit so ganz nebenbei nicht nur Osiander an, sondern auch Luther, dessen letzte und schlimmste Judenschrift („Von den Juden und ihren Lügen“ von 1543) zu dieser Zeit noch nicht geschrieben war. 39 Luther hatte zwanzig Jahre zuvor („Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“, 1523) dazu aufgerufen, die Juden wie Brüder zu behandeln. Eck reagiert nunmehr auf diese freundliche protestantische Sichtweise und polemisiert deutlich gegen seinen konfessionellen Gegner, vor allem wenn er schreibt: 40 J iir: das die juden seind m G twillig / hertneckig / vnlustig / tückisch: vnzüchtig / vntrew / falsch / mainaidig / diebisch / schalckhaftig / verbittert / neidisch / 38 Es ist bekannt, dass Luthers erste Judenschrift „daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“ aus dem Jahre 1523 eine der wenigen Schriften war, die für die Juden und gegen die in der Regel mündlich tradierten Vorurteile ihnen gegenüber eintritt. Luther fordert darin auf, die Juden brüderlich zu behandeln und freundlich mit ihnen menschliche Gemeinschaft zu haben. Es ist außerdem bekannt, dass er später seine Meinung ändert und 1543 in „Von den Juden und ihren Lügen“ in einer radikalen Kehrtwendung dazu auffordert, Synagogen und jüdische Schriften zu verbrennen. Man soll sie „wie die tollen hunde aus jagen, damit wir nicht, jrer greulichen lesterung und aller laster teilhafftig, mit jnen Gottes zorn verdienen und verdampt werden“ (Luther WA 53, S. 521). Auch er verschriftlicht nun alle bekannten Topoi, zum Beispiel das vom teufelbesessenen Juden (ebd., S. 511), vom Gotteslästerer (ebd., S. 436), vom Wucherer usw. Auch bei Luther fällt die Sekundärstigmatisierung auf, da er die Juden gerne mit den Papisten parallelisiert und sie ungelerte grobe esel (ebd., S. 479) nennt. 39 Luthers positive Schrift von 1523 „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“ war weit verbreitet worden. Noch im Jahr 1523 kam es zu neun Auflagen. 1524 fertigten Justus Jonas in Wittenberg und 1525 Johann Lonicer in Straßburg lateinische Übersetzungen an. Vgl. Deppermann (1981, S. 119). 40 Es geht auch wieder um den Vorwurf, dass die Lutheraner den Bauernkrieg verursacht haben und nun „eine newe frucht aus ihrer Ketzerei kommt“ (Eck 1541, N ivr). Stigma - Semiotik der Diskriminierung 267 ain vnuolck / rachselig / bl G t gierig / verreterisch / manschlechtig / m = rderisch / gotslesterlich uolck wie auß vor erzelten / vnnd nachuolgenden stucken vnd thaten h ( l vnd klar beibracht / vnd der sie lobt in jhr morderischen thatten / ist nit besser. [Hervorhebung von ALR ] D ijr: Blintheit des judenuaters / der mit judischem gold also verblent. D iv: wz jamers der abtrinnig auß ge[a? ]uffen münch Martin Luther in teütschland gestiftet hat. N ivr: kumt auch da ain newe frucht her fur ains luterischen: der sch = n mach ) will der juden kindermord / v ] ander b = ßwicht stuck. O iijr: die luterischen vnd Zuinglischen seind b = ser da ] juden v ] Türcken. O iijr: Aber noch ain faißter luge th G t der schender der Christenhait / So er den verblenten z G legt / sie verstanden die gschrifft / des gsetz basser da ] münch v ] pfaffen: du vns ( liger Christ / wie darfst du diß der Christenhait z G schanden schreiben / Habens münch vnd pfaffen nit baß verstanden da ] juden / so habens die layen vil weniger verstanden. (Eck 1541) Für Eck sind nicht nur alle Juden Lügner, Schänder der Christenheit und Ketzer, sondern auch alle Lutheraner. Weder Juden noch Lutheraner besäßen theologische Kompetenzen, was eine scharfe Kritik an der auf das Hebräische zurückgreifenden Übersetzungspraxis der Lutheraner einleitet. 41 Kurzum: Wenn die Juden Mörder, Gotteslästerer, Ketzer sind, dann sind es diejenigen, die sich für sie einsetzen, ebenfalls. Dann ist es nur konsequent, wenn Ecks Spontanbildung Judenuater Osiander und sein Werk religiös und moralisch mit allen semiotischen Konsequenzen als ketzerisch denunziert: P ijv: „Es hat […] das b F chlin nach dir gestuncken mit vnnützem w ( sch ) / sp = tlichen vnschließlich ) argumenten …“. Insgesamt bekommt man den Eindruck, als habe es in dieser wie in vielen anderen reformatorischen Schriften einen zweiten Kriegsschauplatz gegeben. Auch Luther hat mit umgekehrten Vorzeichen die Täufer und die Papisten immer wieder mit den Juden gleichgesetzt. 42 Das Bindeglied gerade im konfessionellen Ringen der Reformationszeit ist die längst lexikalisierte, damit in das Inventar der Sprachnorm und sogar der Langue eingegangene ideologische Konnotation des Judentums als eines vom Teufel besessenen Ketzertums. Wie schon angemerkt, wenn man die eine Gruppe mit der anderen vergleicht, über- 41 Doch Eck ärgerte wohl weniger das Hebräische als die Tatsache, dass Luthers deutsche Bibelübersetzung die Laien theologisch ernst nahm, und vor allem, dass sie erfolgreicher war als sein eigener Nachahmungsversuch. 42 Besonders deutlich werden die Parallelisierungen in Luthers grausamster Schrift, die gegen alle drei Feindbilder seines Lebens vorgeht, gegen die Juden, die Täufer und die Papisten: „Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet.“ (Luther Luther WA 54, S. 206-299). 206-299). Anja Lobenstein-Reichmann 268 trägt man auch alle dazugehörigen Stigmatisierungen. Und gerade weil man mit der antijüdischen Sekundärstigmatisierung die Frage nach der Rechtgläubigkeit des konfessionellen Gegners besonders wirksam inszenieren konnte, war sie so beliebt. Im vorliegenden Fall hat dieser Stellvertreterkrieg zur prestigeträchtigen Verschriftlichung und damit zur allgemeinen Verbreitung und Festschreibung aller antijüdischen Stereotype beigetragen. Die ganze Bündelung sprachlicher Versatzstücke wurde einer neu entstandenen Öffentlichkeit zugeführt sowie über Jahrhunderte und über semiotische Primärgrenzen hinweg mit prestigeträchtiger schriftbasierter Legitimierung weitertradiert. Der Handlungswert der stigmatisierenden Aussagen betraf aber eben nicht nur die primär stigmatisierte Gruppe, sondern umfasste vor allem auch den Aspekt der Sekundärstigmatisierung. Primär- und Sekundärstigmatisierung bedingen sich wechselseitig. Die funktionale Bedeutung der Sekundärstigmatisierung für den Primärgebrauch besteht in der systematischen Möglichkeit, negative Stigmatisierungen losgelöst von ihrer Ausgangsgröße auf die unterschiedlichsten Bezugsgrößen anzuwenden, womit sie durch beständiges Ins-Gedächtnis-Rufen und damit Wachhalten der typischen Prädizierungen rückwirkend auch deren Festigkeit für den Primärbereich stützen. Dies alles vollzieht sich jedoch nicht als Automatismus, sondern wird von aktiv am Sprachgebrauch teilnehmenden Menschen getragen. Nicht die Sprache stigmatisiert, sondern die Menschen, die in Sprache handeln. Sprachliches Stigmatisierungshandeln dient der Herstellung und Konsolidierung von Macht, Herrschaft und Unterordnung. Im Moment der iterativen Performation wird die Machtposition des Sprechers ebenso wie die Ohnmacht des Betroffenen gesellschaftlich eingeführt, aufgerufen, konsolidiert und weitertradiert. Lexikonartikel der eingangs vorgestellten Art sind daher inhaltlich wie fachsprachlich inadäquat. In ihnen werden die Handlungsqualität der Semiose, die damit verbundene sprachliche Gewalt und die sprachliche Konsolidierung von Macht verschleiert. Stigmatisierungen sind von Sprechern vorgenommene sprachliche Zuschreibungen, nicht mehr und auch nicht weniger. Sie interpretieren und prägen den kultursemiotischen Alltagszusammenhang aller drei Zeichentypen, damit die Gesellschaftsordnung und das gesellschaftliche Mit- und Gegeneinander von Menschen. Notwendiges Forschungsprogramm wäre daher erstens eine pragmatisch orientierte und vor allem sprachkritische Betrachtung aller Zeichensysteme in ihrem Zusammenspiel und zweitens, unter programmatischem Aspekt, die von Eco u.a. geforderte Geschichte der Zeichenpraktiken als Teil der Sprach- und Kulturgeschichte. 43 43 Vgl. dazu Nöth (Hg.) (2000, S. 56). Stigma - Semiotik der Diskriminierung 269 6. Literatur Benz, Wolfgang (2004): Was ist Antisemitismus? München. Benz, Wolfgang/ Bergmann, Werner (Hg.) (1997): Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus. Bonn. Bering, Dietz (1987): Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812 bis 1933. Stuttgart. Bering, Dietz (1992): Kampf um Namen. Bernhard Weiß gegen Joseph Goebbels. 2. Aufl. Stuttgart. Chamberlain, Houston Stewart (1899 [1912]): Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts. 2 Bde. 10. Aufl. München. Chamberlain, Houston Stewart (1916): Mensch und Gott. München. Coseriu, Eugenio (1974): Synchronie, Diachronie und Geschichte. Das Problem des Sprachwandels. Übersetzt von H. Sohre. München. Deppermann, Klaus (1981): Judenhaß und Judenfreundschaft im frühen Protestantismus. In: Martin, Bernd/ Schulin, Ernst (Hg.): Die Juden als Minderheit in der Geschichte. München, S. 110-130. Duden (1999): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. 3., völlig neu bearb. u. erw. Aufl., Bd. 3. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. Eck, Johannes (1541): Eines Judenbüchleins Verlegung 1541: Ains Juden Büechlins Verlegung darin ain Christ, gantzer Christenhait zuo Schmach, will es geschehe den Juden Unrecht in Bezichtigung der Christen Kinder Mordt. hierin findst auch vil Histori, was Übels und Büeberey die Juden in allem teütschen Land, und andern Künigreichen gestift haben. Ingolstadt. Weissenhorn. 96 Bl. [Mikroreprod. ( UB Heidelberg)]. Eco, Umberto (1977): Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt a.M. Eco, Umberto (2000): Kant und das Schnabeltier. München/ Wien. Eco, Umberto (2002): Einführung in die Semiotik. 9. Aufl. München. FWB = Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (1986ff.). Hrsg. v. Robert R. Anderson [für Bd. 1], Ulrich Goebel, Anja Lobenstein-Reichmann [Einzelbde.] und Oskar Reichmann [Bde. 3, 7 und 12 in Verbindung mit dem Institut für Deutsche Sprache]. Bd. 8, 1 bearb. v. Vibeke Winge; Bd. 11, 1 v. Oskar Reichmann. Berlin. Gardt, Andreas/ Mattheier, Klaus J./ Reichmann, Oskar (Hg.) (1995): Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien. Tübingen. Goebbels, Josef (1941): Die Juden sind schuld. In: Das Reich, Nr. 46. 16. November. Berlin, S. 1-2. Goffman, Erving (2002): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. 16. Aufl. Frankfurt a.M. Anja Lobenstein-Reichmann 270 Hermanns, Fritz (1994): Schlüssel-, Schlag- und Fahnenwörter: Zu Begrifflichkeit und Theorie der lexikalischen „politischen Semantik“. (= Arbeiten aus dem Sonderforschungsbereich 245 „Sprache und Situation“ Heidelberg/ Mannheim 81). Mannheim. Hitler, Adolf (1939): Mein Kampf [Teil I 1925, Teil II 1927]. [Lt. Titelblatt: 312.-316. Auflage München 1938./ 428. Aufl.]. München. Hortzitz, Nicoline (1996): Die Wortbildung im Dienst der Meinungssprache. Am Beispiel von Substantivkomposita mit Jude in antijüdischen Texten. In: König, Werner/ Ortner, Lorelies (Hg.): Sprachgeschichtliche Untersuchungen zum älteren und neueren Deutsch. Festschrift für Hans Wellmann zum 60. Geburtstag. Heidelberg, S. 107-129. Hundt-Radowsky, Hartwig (1819): Judenspiegel. Ein Schand- und Sittengemälde alter und neuer Zeit. Würzburg. Jung, Carl G. (2003): Zugang zum Unbewussten. In: Franz, Marie-Louise von/ Henderson, Joseph L./ Jacobi, Jolande/ Jaffé, Aniela (Hg.) (2003): Der Mensch und seine Symbole. 16. Aufl. Düsseldorf/ Zürich, S. 55. Keller, Rudi (1995): Zeichentheorie. Zu einer Theorie semiotischen Wissens. Tübingen/ Basel. Lagarde, Paul de (1887 [1924]): Schriften für das deutsche Volk. 2 Bde. 1. Band: Deutsche Schriften; 2. Bd: Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Paul Fischer. München. Lobenstein-Reichmann, Anja (demn. a): Houston Stewart Chamberlain - Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung. Berlin u.a. Lobenstein-Reichmann, Anja (demn. b): Die Macht der Zeichen. 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Sartre, Jean Paul (1948): Betrachtungen zur Judenfrage. Psychoanalyse des Antisemitismus. Zürich. Stigma - Semiotik der Diskriminierung 271 Schoeps, Julius/ Schlör, Joachim (Hg.) (1999): Bilder der Judenfeindschaft: Antisemitismus - Vorurteile und Mythen. Augsburg. Sieg, Ulrich (2007): Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus. München. Solms, Hans-Joachim (1998): Historische Wortbildung. In: Besch, Werner/ Betten, Anne/ Reichmann, Oskar/ Sonderegger, Stefan (Hg.) (1998-2004): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 4 Teilbde. 2., vollst. neu bearb. u. erw. Auflage (= Handbücher zur Sprach und Kommunikationswissenschaft 1). Bd. 1. Berlin/ New York, S. 596-610. Solms, Hans-Joachim (1999): Der Gebrauch uneigentlicher Substantivkomposita im Mittel- und Frühneuhochdeutschen als Indikator kultureller Veränderung. In: Gardt, Andreas/ Haß-Zumkehr, Ulrike/ Roelcke, Thorsten (Hg.): Sprachgeschichte als Kulturgeschichte. Berlin/ New York, S. 225-246. Wagner, Richard (o.J. [1911]): Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe. Bde. 1-12 u. 16. Leipzig. Wagner, Richard (2004): Werke, Schriften und Briefe. Hrsg. v. Sven Friedrich. Berlin. Wörterbuch der Soziologie (1982): Wörterbuch der Soziologie. Begr. v. Günter Hartfiel. Bearb. von Karl Heinz Hillmann. 3. Aufl. Stuttgart. Barbara Sandig Das getilgte Ich und sein Stil In seinen Erinnerungsbänden schreibt Peter Wapnewski, er wolle sein Ich „tilgen“. Er tut dies auch auf verschiedenste Weise. Aber durch seinen Stil stellt er sich indirekt auch als ganz besonderes Ich dar. 1. Einleitung Seine Memoiren „Mit dem anderen Auge“ beginnt Peter Wapnewski folgendermaßen: Das „Ich“, weil schreibend nicht zu vermeiden, ist nicht der eigentliche Gegenstand dieser Seiten, sondern nur eine Stilfigur. Die Absicht des Schreibenden ist in umso höherem Maße erfüllt, als es ihm gelingt, sein Ich zu tilgen. (I, 12) Und: Nicht das „Interessante“ an meinem Ich wollte ich spiegeln, sondern das, was diesem Ich als interessant erschien. Zum Leitfaden wurde das asketische Wort des großen Ranke: ‘Ich möchte mein Ich auslöschen’. (I, 14) Im Folgenden werde ich zunächst der Frage nachgehen, wie der Autor diese Aufgabe bewältigt. Zum einen reflektiert er über das Verdecken von Persönlichem gelegentlich (so II, 98; II, 164; andere Personen betreffend: II, 124). Zum anderen verwendet er unterschiedliche sprachliche Verfahren. 2. Verfahren des Verdeckens des Ich In einer Autobiografie kann das ich im linguistischen Sinne keine Stilfigur sein, der Ausdruck Stilfigur ist hier (wie öfter auch linguistische Termini in literaturwissenschaftlichen Arbeiten) lediglich metaphorisch gemeint. Es gibt jedoch - neben dem häufigen Gebrauch von ich - einige Verfahren, um die Referenz auf das schreibende Ich zu vermeiden. Zunächst: das Experiens, das Vorgänge oder Zustände an sich erfährt (Beispiel 1), oder das handelnde Subjekt, der Agens, erscheint grammatisch nicht, ist ausgespart (vgl. Polenz 1988, S. 170ff., 186ff. „Subjektschub“, Beispiel 2); in diesem Falle stehen die gewählten Ausdrücke öfter in metonymischer Relation zur ausgesparten handelnden Person: Barbara Sandig 274 (1) Hier will [...] ein mannigfach zerstückeltes, unausgewogenes und in unkontrollierten Schüben sich fortlebendes Leben Zeugnis ablegen von der Zeit, die seine Zeit war und die mit ihm umgegangen ist nach einem sehr willkürlich scheinenden Belieben. (I, 12) (2) Es meldet sich die gespenstische Vorstellung von einer deutschen Kontinuität […] (I, 191) Verbalsubstantive sind dafür besonders geeignet, ebenso Reflexivkonstruktionen wie ereignete sich, so schon in (2). Und es gibt auch den Fall, dass das Ich zum syntaktischen Objekt, zum Patiens verschoben wird, obwohl es von der Semantik her ein Benefaktiv wäre: Auch mich traf diese Auszeichnung […] (I, 210), oder auch das mich wird ausgespart: Von hier aus luden Gastprofessuren ein in die USA , nach Neuseeland […] (II, 13). Zu Verschiebungen siehe Polenz (1988, S. 181ff.). Das zweite wichtige Verfahren zur Verdeckung des Ich ist Referieren auf sich selbst in der 3. Person, wie es bereits das eingangs verwendete Zitat zeigt: Die Absicht des Schreibenden ist in umso höherem Maße erfüllt, als es ihm gelingt, sein Ich zu tilgen. Wir finden dieses Verfahren auch häufig in Heirats- (Sandig 2006a, S. 518) oder Partnerschaftsanzeigen: die Perspektive auf das Ich von Anderen aus. Hier sind zwei Funktionen zu unterscheiden. Zum einen: (3) […] Ein D-Zug geistert durch die Nacht, fast menschenleer. Die Fahrt geht nach Osten. Darin der 18-jährige Abiturient P.W. (I, 65) (4) […] was ich bisher nie für berichtenswert hielt: Dass der Soldat P.W., in voller Uniform „mit Orden und Ehrenzeichen“, in dem dicht besetzten Kellergewölbe unmittelbar neben dem anderen saß, dessen Ehrenzeichen der gelbe Stern war. (I, 128) Auch der Knabe, der Pennäler. Die Perspektive gilt hier der Rückschau auf eine vergangene Existenz des Ich. Eine andere Funktion des Referierens auf die eigene Person finden wir in Beispiel (5): (5) Und der Vizepräsident des DAAD und des Goethe-Instituts hatte die Chance, auf mannigfachen Wegen in Orient und Okzident Universitäten und Kulturinstitute beratend und lehrend zu visitieren. Der Mediävist lernte im Kreis der Gruppe 47 um Hans Werner Richter die Literatur der Zeit und ihre Autoren kennen […]. Schließlich aber fand er wieder zurück in seine Schicksalsstadt Berlin […]. (II, 13) Die determinierende Artikelform und das Personalpronomen sind Hinweise für die Leser, die Ausdrücke als ‘im Kontext bekannt’ zu lesen. Hier wird Das getilgte Ich und sein Stil 275 das Verfahren der Selbstreferenz mittels 3. Person im Zusammenhang von Funktionen und Ämtern verwendet, die der Autor inne gehabt hat. Zugleich werden diese prädiziert (Bračič 2003, S. 26). Besonders häufig erscheint diese Funktion bei der Thematisierung des Amtes des Gründungsrektors des Wissenschaftskollegs zu Berlin (II, 145-178). Dadurch - so die Wirkung auf mich - nimmt der Autor eine Außenperspektive ein; er betrachtet sich so, wie wir Lesende ihn sehen und stellt sich angesichts des sozialen Wertes der Ämter quasi selbst auf einen Sockel. Die Vermeidung des sprachlichen Ausdrucks ich dient hier also gerade einem besonderen Hervorheben des Ich. Wie bereits in (3) und in (4) findet sich als weiteres Verfahren die Abkürzung des eigenen Namens mit P.W. Dies ist ein ikonisches Sich-klein-Machen. Bei den Bildern im Anhang von Bd. II, die den Autor mit Prominenten zeigen, tritt es zweimal als Bildunterschrift auf. Sonst wird die Ellipse bevorzugt bei Formen wie Mit Romy und Vico von Bülow ... aber es gibt auch nominale Ausdrücke mit Pronomen + Nennung des Anlasses oder auch nominale Formen ohne Präposition: Gespräch mit Alexander Mitscherlich ... Einmal erscheint P.W. auch als Mittel der Ausdrucksvariation bei der Selbst-Referenz: (6) Was die uns ebenfalls verbindende Dreiecksbeziehung Richard Wagner - Richard von Weizsäcker und P.W. angeht, so hat Weizsäcker sie einem eleganten Sprüchlein anvertraut, mit dessen Hilfe er auf sehr unterschiedliche Weise allen dreien gerecht zu sein versucht: „Durch Wapnewski wird Wagner erst erträglich.“ […] (II, 168) Was zunächst so aussieht, als wolle sich der Autor im Kontext der berühmten Namen klein machen, erweist sich als bloße Ausdrucksvariation. (7) Die [betont] Tortur der Stunden im Luftschutzkeller. (I, 125) Nur diese einzige Äußerung ist mir aufgefallen, mit der der Autor ein Gefühl ausdrückt und damit erlebbar macht (Fiehler 1990, S. 99ff.). Die Deixis Die weist auf ein Ausdrücken von Gefühl - aber hier gemildert gegenüber Diese, das deutlicher den nominalen Exklamativsatz anzeigen würde. Sonst werden Gefühle thematisiert, d.h. auf den Begriff gebracht, wie hoffte und Hoffnung (I, 125). Die Art des Einstellungsausdrucks EMOTIONALISIEREN ist also hier abgedämpft. Ein weiteres Verfahren des Verdeckens des Ich ist natürlich das Verschweigen (I, 14), Vermeiden der Thematisierung. Dies betrifft vor allem das Verhältnis des Autors zu Frauen. Barbara Sandig 276 3. Guter Stil Auf dem Schutzumschlag von Band I ist Fritz J. Raddatz zitiert mit „ein Stilist von Gnaden“. Dies erlaubt die linguistische Frage nach dem Stil, soweit er über das in Kapitel 2 Beschriebene hinausgeht, und nach seinen Funktionen für die Autobiografie. Denn Stil ist das Mittel der indirekten positiven Selbstdarstellung. Hierbei sind für die vorliegenden Bücher zwei Facetten zu unterscheiden: „guter Stil“; und dieser Stil bildet die Basis für einen besonderen Individualstil: Aus dem „guten Stil“ als dem weniger Auffälligen heben sich individuelle Besonderheiten hervor. „Guter Stil“ verbreitete sich im Bildungsbürgertum des 19. Jh. auf der Basis der Literatur der Klassik und im Zusammenhang mit dem Sprachnationalismus (Polenz 1999). Er hat im 20. Jh. folgende Eigenschaften (Law 2007, S. 239): […] das literarische Kriterium in den Vorbildern für Sprache und Stil (wobei die Vorbildrolle nicht nur sprachlich, sondern auch politisch motiviert ist), das ästhetische Kriterium in den auf Schönheit basierenden Geschmacksurteilen der Stilautoren und ein abgewandeltes Klassenkriterium: nicht der Sprachgebrauch der aristokratischen Klasse ist maßgeblich, sondern der Sprachgebrauch der gebildeten Schicht, also der ‘geistigen’ Oberklasse sozusagen. Mit seiner konservativen Tendenz ist dieser Stil dem Konservativen der Themenabhandlung des Autors angemessen, z.B. die Ausführungen zur Ordinarienuniversität. Die Schreibung jedoch ist überwiegend der aktuell gültigen Orthografie angepasst, also nicht ‘konservativ’ und somit nicht dem traditionellen „guten Stil“ verpflichtet. Im Bereich der Morphologie findet sich das Dativ-e als überneutrale Variante (Beispiel 17), der Konjunktiv Präsens (z.B. I, 190 und Beispiel 32) wird verwendet, und der Genitiv ist relativ häufig: voll des Witzes und jenes Humors (II, 99), auch als vorangestelltes Genitiv-Attribut: des Körpers Bresthaftigkeit (II, 198). Im Bereich der Lexik werden oft überneutrale Ausdrücke den neutralen vorgezogen, klüglich (I, 69) oder schrittweis (II, 99), Gebaren (II, 153), Bresthaftigkeit (II, 198). Überneutrale Formen werden auch verwendet als lexikalische Möglichkeit der Variatio (I, 190): denken an und gedenken oder (I, 127): Feuerbrand und Lohe. Es finden sich Ausdrücke, die anderen Sprachen entlehnt sind: intellektuelle Insuffizienz (II, 156), und sich kolloquial miteinander vertraut machen (II, 144), auch lateinische Wörter: der Cursus meiner eigenen Geschichtserzählung (II, 148). - Umschreibungen werden verwendet Das getilgte Ich und sein Stil 277 (I, 69): ist es mir ein frohes Bewusstsein, dass gegenüber ich bin froh/ freue mich darüber, dass. Es werden Sprachbilder geschaffen und Metaphern: (8) Freiburg war lieblich, war (noch) unzerstört, hatte Weinlaub im Haar [...] (I, 138) (9) Drei Jahrgänge, die nicht mehr sind und nicht weniger als ein Schatz- und Beinhaus ihrer Zeit, sagen wir getrost: ihrer Epoche. (I, 194) Ausdrücke werden gesetzt und gleich darauf revidiert um der Sprachgeste des PRÄZISIERENS willen: am Ende von Beispiel (9). Weiter gibt es das geistreiche Spiel mit Wörtern (10), und mit Antonymen wird wortspielend KONTRASTIERT (11): (10) [...] durchaus nicht im beharrlich-behaglichen Konsens mit ihnen [ausdrucksseitig ähnlicher Wortlaut], und nicht die durchaus willkommene Unruhe der Kritik war es, die schließlich zur Resignation zwang, sondern schlimmer: die Ruhe [Wortbildung und Basiswort in Relation] der Gleichgültigkeit. (I, 193f.) (11) [...] und ich redete, wohl ebenso befangen wie unbefangen über das, wovon das Herz voll war. (I, 150f.) Es gibt Anspielungen wie hier an Wes das Herz voll ist, des läuft der Mund über. Elemente einer Wortfamilie (wie in Beispiel 11) dienen dem ÄSTHE- TISIERENDEN Spiel mit der Sprache: aus Neugier und Wissbegier (II, 145), aber es gibt auch nur lautliche Ähnlichkeiten zwischen Ausdrücken: (12) Eine den Dingen innewohnende Würde teilt sich auch den mit ihnen Umgehenden, von ihnen Umgebenen mit. (II, 145) Neben der ÄSTHETISIERENDEN Wortvariation findet sich auch Wortwiederholung (Besch 1989) zum Zweck des INTENSIVIERENS : (13) Walther Rehm las über die Geschichte der Tragödie, und in das verzweiflungsvolle Pathos seiner Darstellung ging manches ein von der verzweiflungsvoll empfundenen Gegenwart, auch wenn er von Antigone sprach und von Woyzeck, und viele verstanden das. Heidegger las über die Anfänge des Denkens und dunkel über Heraklit. In dieser absurden Atmosphäre von Mangel und Sommerwind [...] ereignete sich etwas Merkwürdiges [...] Und einige verstanden es. (I, 138f.) Man sieht hier, wie über Anaphern und Analogien der Textausschnitt sorgfältig komponiert ist. Auch wird KONKRETISIERT über die Titel von literarischen Werken, den Namen Heraklit und durch die Verwendung sehr spezifischer Ausdrücke wie Sommerwind, die einen ganzen Wissensrahmen eröffnen - wie in der Poesie. Barbara Sandig 278 Die Syntax weist dem „guten Stil“ gemäß wohl ausgearbeitete Satzperioden auf (Beispiel 13), oft mit Parenthese. Um der Dynamik willen gibt es kürzere Sätze, wie die Beispiele (3) und (7) zeigen. - Es werden reichlich Stilfiguren verwendet, z.B. semantische Verschiebungen von Attribut und Bezugssubstantiv: unter einem befreundeten Dach in Blankenese (I, 161). Daneben sind Epitheta, die dem KONKRETISIERENDEN Ausschmücken, dem bildlichen Anreichern der Schreibe dienen, häufig, ebenso Adverbiale mit gleicher Funktion: (14) Die Stadt [Heidelberg, B.S.], ihre Häuser und Straßen wären schön, hätte Mélac sie nicht 1689 mitleidlos zerstört in seines Königs Ludwig landgefräßigem Dienst. So blieb nur Weniges vom würdigen Alten, und was hinzukam, macht kein würdig Neues [Wortwiederholung, hier negiert]. Aber die Alte Brücke in ihrem anmutigen Bogen, dazu ihr Turm [...] sind liebevollen Angedenkens wert. (I, 209) Auch das Verwenden von Zitaten charakterisiert den „guten Stil“. So ein Bibelzitat (15) und literarische Anspielungen (16): (15) Eine solche Überlegung macht deutlich, warum auch die ehrlichste Gedenkrede zu veräußerlichen droht wie ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. (II, 161) (16) Am 15. Mai 1949 in der Früh kam ich in Heidelberg an. Alt Heidelberg du feine ... [Studentenlied, B.S.] Über die Stadt - der Vaterlandsstädte ländlich schönste - hier kein Wort - oder nur so viel: Hölderlin hat übertrieben. Aber wahr ist, dass der Ort sich aufs Schönste in eine teils liebliche, teils herbe Landschaft einschmiegt, umringt von den Bergen des Odenwalds und geadelt vom Neckar [Prädikat und Partizipien als ‘besondere’ Wörter] (I, 209, ohne Absatzgliederung). Und Zitate aus anderen Sprachen. Diese Verfahren, ZITIEREN und ANSPIE- LEN , sind neben dem VERWENDEN von Ausdrücken anderer Sprachen wie Französisch oder Latein der deutlichste Ausweis von „gutem Stil“ als traditionelle Redeweise der (besonders) Gebildeten. 4. Individualstil Aus dem „guten Stil“ nun heben sich weitere Merkmale heraus, die individuellerer Art sind: Lexik, Syntax und andere Eigenheiten. Im Rahmen der Lexik führen die Ausdrücke aus anderen Sprachen teilweise zu einer Art Privatsprache, was allerdings durch den jeweiligen Kontext gemildert wird, so avancieren (I, 242): (17) Der [Assistent, B.S.] war ihm [dem Ordinarius, B.S.] attachiert, arbeitete ihm zu, unterstützte seine Forschungstätigkeit, war ihm aber vor allem nützlich und notwendig auf dem Felde der Lehre. (I, 212) Das getilgte Ich und sein Stil 279 (18) [...] die gesellschaftliche und gesellige Kommunikation mied, ja perhorreszierte die grübelnde Innerlichkeit des gedankenbeschwerten Diskurses. (I, 232) Besondere Wortverwendungen finden sich immer wieder: (19) Mein vor allem dem Äußeren zugewandter Augenblick [hier in wörtlicher Bedeutung] beobachtete unter diesen Patienten staunend eine täglich zweimal aufwallende Woge der Esslust [...]. (II, 199) (20) Wir hantierten nicht nur das Gewehr, sondern auch den Spaten. (I, 69) (20) zeigt eine eigentümliche Verbvalenz. Es gibt auch reichlich ungewöhnliche Wortbildungen wie samuraistolz (Beispiel 23), das fern-nahe Land (I, 170): (21) Schweigsamkeit [...] hat für die Plauderfrohen etwas Irritierendes (II, 201) (22) [...] die alte Friedrichstraße in ihrem derzeitigen Zustand bietet sich allenfalls dar als eine wolkengreifende Anspruchsgebärde aus wechselnden Kränen und Baugerüsten [...] (II, 209) Relativsätze beginnen öfter mit darin anstelle des erwartbaren in der/ dem (z.B. I, 183). Ein auffallendes individualstilistisches Merkmal ist das Aufbrechen von Satzperioden mittels Interpunktion, meist mit Punkt, aber auch mit anderen Satzzeichen: (23) Wohl ein Dutzend Mal konnte ich dieser noblen Institution nützlich sein durch die Übernahme der Laudatio des jeweiligen Preisträgers. Zu denen auch ich einmal gehörte, als man mir den Sigmund-Freud-Preis für Wissenschaftliche Prosa verlieh, - da war es Adolf Muschg, der das Loben übernahm. Dem ich lang schon vor der Zeit seines Fellow-Jahres und seiner Berliner Akademie-Präsidentschaft in Freundschaft verbunden war. Ihm und seiner samuraistolzen japanischen Frau Atsuko; und oft haben wir beim Fendant oder Riesling uns klug geredet, wenn wir über das Deutsche im Helvetischen oder das Helvetische im Deutschen grübelten. Und über Dichter, die uns nahe standen. (II, 192f.) Hier wird, alten Interpunktionslehren gemäß (Bredel 2005, S. 185ff.), innegehalten, bevor eine neue Sinneinheit beginnt. Es ist eine leserbezogene Auffassung von Interpunktion. Vor dem Hintergrund unserer syntaxbezogenen Zeichensetzung wirkt dieses Vorgehen individuell. Angesichts der Theorien des 15.-17. Jh. (ebd.) zeigt sich der gelehrte Untergrund dieses Verfahrens. Dadurch entstehen auch prosodische Einheiten, wie sie im 18. Jh. wesentlich waren (ebd.). Besonders häufig ist dieses Verfahren bei gereihten Relativsätzen, etwa dreifach in Beispiel (34). Barbara Sandig 280 Einige weitere Verfahren des Satzgestaltung sind ebenfalls auf der Basis der (fachlichen) Gelehrsamkeit zu deuten: Art der Wortstellung und Häufigkeit des Partizip Präsens kennzeichnen den individuellen Stil - als Anklang ans Latein: (24) [Von August Everding ist die Rede.] Ein Mann des Theaters ganz und gar, - und ein Glückskind des Daseins, das Leben so liebend wie von ihm geliebt. Die Dinge allemal ernster nehmend als sich selbst, voll des Witzes und jenes Humors, der das Mittel ist, die Unzulänglichkeit dieser Welt zu erkennen, - und sie zu ertragen. Auch anderen zum Ertragen verhelfend. Im Innersten - nicht anders als seine Frau, die Ärztin Gustava, und seine Kinder - von tiefem religiös verankertem Ernst geprägt. (II, 99) Auch andere Einflüsse des Latein sind zu finden, so die freie Wortstellung: (25) Solches in Erinnerung rufend, denken wir an das widerwärtige Schauspiel der reichsweiten Bücherverbrennung der Nationalsozialisten am 10. Mai 1933. (I, 190) (26) Folgt der Versuch einer Erklärung. (I, 236) Hier wäre an erster Stelle im Satz ein expletives es erwartbar, aber es steht nicht, dagegen aber - mit preziöser Wirkung - an anderer Stelle: (27) Es gibt in Berlin keine Gesellschaft. Es mag uns dieser Begriff preziös klingen und wie ein Lied aus alten Tagen. (II, 203) (28) [...] es wuchs mir diese Stadt nahezu ans Herz. (I, 242) Es gibt weiter Rätselhaftes (29) und komplexe Sprachbilder (30) und Poetisches (31): (29) Er [Everding, B.S.] beherrschte, genussfroh und daseinsfreudig, die größte aller Lebenskünste: die das Leben überwindende. (II, 99) (30) [die Opernaufführungen des August Everding] [...] in der berühmten Unmöglichkeit dieser Kunstform schuf er das Mögliche: die Kaskaden der üppig sprudelnden Spiel-Lust auffangend im Becken des Maßes und der Ordnung. (II, 98) (31) Und sind darüber zwei alte Herren geworden, ich älter noch als er, und beide von den Tatzen der Altersgebresten nicht eben gnädig geschlagen. (II, 120f.) Dass der Autor mit Dichtern in Kontakt stand, wird hier glaubhaft gemacht. Außerdem zeigt das letzte Beispiel sehr gut, dass auch auf diese Weise das Persönliche verdeckt werden kann. Das getilgte Ich und sein Stil 281 5. Stilistische Handlungsmuster Die mittlere Ebene einer stilistischen Analyse (Sandig 2006b) beschäftigt sich mit stilistischen Handlungsmustern, in denen sehr verschiedene Stileigenschaften zu einer komplexen Bedeutung zusammenwirken. Hier einige Andeutungen dazu. GELEHRSAMKEIT ZEIGEN : Man vergleiche hierzu bereits in Kapitel 3 die Verwendung lateinischer Wörter und Zitate, in Kapitel 4 die Einflüsse des Latein auf die Syntax. (32) Das Delectare [lateinische Ausdrücke immer in Kursive, B.S.] darf nicht gelten als Vehikel der bildenden Belehrung, sondern bleibe, wo überhaupt zugelassen, dessen schüchterne Magd. (II, 125) (33) Man konnte von ihm [Everding, B.S.] lernen, was eine schwarze Gattung mittelalterlicher Literatur lehrte: die Ars moriendi. (II, 99) Die Gruppe 47, deren Mitglied der Autor war, wird, als Ausweis der mediävistischen Gelehrsamkeit, folgendermaßen PORTRÄTIERT : (34) [...] Ich versuche, eine Analogie der „Gruppe“ und ihres Zentrums zu der Tafelrunde des Königs Artus zu entdecken: Ein Kreis begünstigter Persönlichkeiten, die ausgezeichnet sind und gezeichnet [Wortspiel] durch Leistung und Mut. Ein Kreis [Anapher], der fest ist, aber wechselnd, und dessen Namen sich ändern. Der keine fixierte Verfassung hat und keinen nach Paragrafen und Satzung regierenden Monarchen. Der sich reguliert [Spiel mit Sprache] in der festen und leisen Choreografie ungeschriebener und präzis befolgter Gesetze. Der [Dreierfigur] seine Struktur und Dignität bezieht aus der Anheimgabe [überneutral] aller an den einen. An dieser Table Ronde sind alle pares, doch einer ist der Erste, ist Nabe des Rades, Mitte aller Bezüge und Festigungspunkt aller Streben. Wollte man einen Namen finden, der diese Energie und ihre ritualisierende, ordnende, gliedernde und stimulierende Kraft bezeichnet, so gibt es dafür den Begriff der auctoritas. [...] (II, 114f., ohne Absätze) Ebenso werden in der Folge Gruppenmitglieder PORTRÄTIERT und viele andere bedeutende Zeitgenossen. Exemplarisch mögen hier die Ausschnitte aus dem Porträt von August Everding stehen (Beispiele 24, 29, 30, 33). „[…] von mir rede ich, wenn ich von den Freunden rede“ (II, 217). Dies ist zu lesen als eine Form der DISTANZIERENDEN Selbstdarstellung: ‘Seht her, welche bedeutenden Freunde ich habe’. Das Ich ist bei diesen Porträts getilgt, aber zugleich in einer besonderen Weise thematisch aufgewertet. Damit ist das TIL- GEN des Ich komplexer, als in Kapitel 2 dargestellt: Es gibt einfachere und komplexere Verfahren. Barbara Sandig 282 Vom PERSPEKTIVIEREN war in Kapitel 2 bereits die Rede. Hier ist nun zu ergänzen, dass der Autor Äußerungen Anderer über ihn selbst, d.h. die Fremdperspektive zu Wort kommen lässt, vgl. schon Beispiel (6). So zitiert er auf zwei Seiten einen humoristischen Brief von Uwe Johnson über ihn (II, 117ff.). In anderen Fällen zitiert er (wissenschaftlich), wo Andere über ihn geschrieben haben, z.B. (II, 140) Peter Glotz. Diese Selbstdarstellung aus der Fremdperspektive wirkt wie eine Selbstbespiegelung, zumal wenn die Schreiber bekannte Persönlichkeiten sind. Weiter finden wir das ERZÄHLEN , u.a. von Anekdoten, aber auch das REFLE- XIONEN ANSTELLEN und das ARGUMENTIEREN , so über die Stadt Berlin. 6. Bilder Aufschlussreich sind die Bilder, die dem 2. Band beigegeben sind: Vier Bilder zeigen den Autor in Aktion auf der „Lehrkanzel“ in der im Kaiserreich ausgeschmückten imposanten Alten Aula der Heidelberger Universität - allerdings ist das Publikum, die Studierenden, nicht zu sehen. Anders bei einem Bild vom Fackelzug, mit dem Studierende ihn 1962 nach einem Ruf an eine andere Universität zum Bleiben aufforderten. In beiden Büchern ist von Studierenden und von der Lehre nur höchst am Rande die Rede, z.B. wenn ehemalige Studenten bekannt wurden (I, 227ff.). Das ich war auch Lehrer und wollte Lehrer sein (I, 238) klingt da nicht recht glaubhaft. Im 2. Band finden wir 20 Fotos mit bekannten Personen der Zeitgeschichte, nur zwei davon zeigen den Autor nicht. D.h., hier ist das Ich mitnichten „getilgt“; die Bilder werten es auf. 7. Globale Stilfunktionen Zentral sind in diesen Bänden die allgemeinen Stilfunktionstypen Art der Selbstdarstellung, Art der Themengestaltung und Art der Einstellung zur Sprache (vgl. generell dazu Sandig 2006a, Kapitel 1.5). Stil dient in beiden Bänden dem SICH DISTANZIEREN vom persönlichen Privaten als Art der Themengestaltung - einerseits, wie in Kapitel 2 dargestellt, mit speziellen Verfahren des DISTANZIERENS , andererseits über die Arten der Thematisierung: VERSCHWEIGEN , PORTRÄTIEREN Anderer, ERZÄHLEN von Anekdoten und ERZÄHLEN wiederkehrender Ereignisse als zeittypisch, DARSTELLEN von Ämtern und Funktionen, REFLEKTIEREN und MEINUNG ÄUSSERN zu Themen der jeweiligen Zeit (z.B. Krieg, Universität). Weiter Das getilgte Ich und sein Stil 283 dient der Stil der Art des Einstellungsausdrucks: Eine ÄSTHETISIERENDE (Hoffmann 2003), konservative Art der Einstellung zum Sprachgebrauch mit überneutralen Ausdrücken, „gutem Stil“ und ausgeprägten individuellen Eigenschaften. Dadurch werden thematisierte Inhalte ästhetisch überformt, auch dies ein Mittel des DISTANZIERENS , was besonders deutlich wird bei den Schilderungen der Geschehnisse im 2. Weltkrieg. Drittens bewirkt der Stil mit dem ÄSTHETISIEREN und dem GELEHRSAMKEIT und LITERATUR- KENNTNIS ZEIGEN eine gesteigerte Form der Selbstdarstellung als besonderes Individuum mit einer besonders ausgeprägten, heute sehr seltenen Art der Belesenheit und Gelehrsamkeit und einer besonderen an früherer Literatur geschulten Sprachästhetik. Dies passt zu, ist angemessen seinem Fach Mediävistik und allgemein der Literaturwissenschaft, den herausgehobenen gesellschaftlichen Rollen und seinen gesellschaftlich herausragenden Freundschaften als zentrale Thematik. Also ist die Selbstdarstellung des „getilgten“ Ich über den Stil (im Vergleich mit anderen autobiografischen Texten) umso ausgeprägter, was auch die meisten Formen des PERSPEKTIVIERENS zeigen, aber als Selbstdarstellung über den Stil eben auch vermittelt, implizit und so auch wieder distanziert. Es entstand eine „Lebensdarstellung als literarische(r) Gattung“ (Klappentext Bd. I). 8. Literatur Barz, Irmhild/ Lerchner, Gotthard/ Schröder, Marianne (Hg.) (2003): Sprachstil - Zugänge und Anwendungen. Ulla Fix zum 60. Geburtstag. Heidelberg. Besch, Elmar (1989): Wiederholung und Variation. Untersuchung ihrer stilistischen Funktionen in der deutschen Gegenwartssprache. Frankfurt a.M. u.a. Bračič, Stojan (2003): Zur Motiviertheit der stilistischen Variation von thematischen Satzkomponenten im Text. Gibt es im Text (auch) eine rhematische Progression? In: Barz/ Lerchner/ Schröder (Hg.), S. 23-30. Bredel, Ursula (2005): Zur Geschichte der Interpunktionskonzeptionen des Deutschen - dargestellt an der Kodifizierung des Punktes. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 33, S. 179-211. Fiehler, Reinhard (1990): Kommunikation und Emotion. Theoretische und empirische Untersuchungen zur Rolle von Emotionen in der verbalen Interaktion. Berlin/ New York. Hoffmann, Michael (2003): Stil und stilistischer Sinn im Bezugsfeld pragmatischer und ästhetischer Kommunikationshandlungen. In: Barz/ Lerchner/ Schröder (Hg.), S. 107-121. Barbara Sandig 284 Law, Claudia (2007): Sprachratgeber und Stillehren in Deutschland (1923-1967). Ein Vergleich der Sprach- und Stilauffassungen in vier politischen Systemen. Berlin/ New York. Polenz, Peter von (1988): Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den- Zeilen-Lesens, 2. durchges. Aufl. Berlin/ New York. Polenz, Peter von (1999): Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 3: 19. und 20. Jh. Berlin/ New York. Sandig, Barbara (2006a): Textstilistik des Deutschen. Berlin/ New York. Berlin/ New York. Sandig, Barbara (2006b): Stilistische Ebenen-Analyse. In: Deutsche Sprache 34, S. 77-88. 9. Quelle Wapnewski, Peter ( 2 2005; 2006): Mit dem anderen Auge. Erinnerungen I/ II. 2 Bde. Berlin. (Zitierformel: Band, Seite). Ulrich Püschel Referenzfixierungs-Spiele in Goethes „West-östlichem Divan“ Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive wird die Erscheinung der „Personenwechselung“, das heißt der unterschiedlichen Referenz auf ein und dieselbe Person, in Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Hegire“ und seiner Einleitung zu den „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans“ untersucht. Die Variation in der Selbstreferenz soll in Form der Textverlaufsanalyse beschrieben werden im Hinblick auf die benutzten Referenzmittel und ihre Funktion sowie auf die Fragen nach der Referenzfixierung. Dabei wird auch die unterschiedliche Textsortenzugehörigkeit der beiden Beispiele berücksichtigt. 1. Zur Fragestellung Es braucht niemand ein Spezialist für Fragen der Referenzfixierung zu sein, um in der Einleitung von Goethes „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans“ über den Gebrauch der Referenzausdrücke, die der Selbstbezeichnung dienen, zu stolpern. Jeder einigermaßen aufmerksame Leser wird wahrnehmen, was Hendrik Birus „das Spiel wiederholter Personenwechsel des Verfassers“ (Birus 1994, S. 1407) nennt. Auch wenn es den Leser für einen Augenblick verwirren mag, Goethe hat hier ein bewusstes Spiel mit der Selbstreferenz getrieben. Er hat sich offensichtlich Gedanken darüber gemacht, wie Dichter - und damit er selbst - von sich sprechen, und er hat sich dazu eine dezidierte Meinung gebildet: „Die Dichter sprechen von sich in der dritten Person“ (Goethe 1994, S. 691) - aber eben nicht nur. Zur Frage, wie der Dichter von sich spricht, darf auch „Hegire“ - das Eröffnungsgedicht des „West-östlichen Divans“ - herangezogen werden. Hier wird ebenfalls ein Spiel mit dem „Personenwechsel“ getrieben, was der Leser auf Anhieb aber kaum erkennt, jedoch sich von den Kommentatoren erklären lassen kann: „Der Dichter spricht hier [= Vers 3] von sich in der zweiten Person, V. 8ff. in der ersten, V. 35ff. in der dritten“ (Richter et al. 1998, S. 433f.). Weiterhin findet sich in Kommentaren der Hinweis (Birus 1994, S. 884; Richter et al. 1998, S. 434), Goethe folge bei diesem ungewöhnlichen Wechsel in der Selbstreferenz einer Praxis orientalischer Poesie, die Joseph von Hammer- Purgstall in der Vorrede zu seiner Hafis-Übersetzung als „Personenwechselung“ bezeichnet (vgl. Hammer-Purgstall 1805, S. I, VII ). Ulrich Püschel 286 Doch ganz so einfach, wie die Rede von der „Personenwechselung“ klingt, liegen die Verhältnisse nicht, wie eine eingehendere Untersuchung des Umgangs mit den Ausdrücken zur Selbstreferenz zeigen kann. Vor allem scheint sich hinter diesem Schlagwort keineswegs ein einheitlicher Befund zu verbergen. Deshalb soll einmal genauer nachgefragt werden: Wie sehen die Mittel, mit denen auf die eigene Person referiert wird, aus? Wie wird die Referenzfixierung geleistet? Welche Funktionen sind an die unterschiedlichen Weisen des Referierens geknüpft? Methodisch gesehen sollen diese Fragen mit Hilfe der interpretativen Stilistik angegangen werden (vgl. Püschel 2007), in der in Form der Textverlaufsanalyse (Polenz 1985, S. 328ff.) systematisch Schritt für Schritt ein ausgewählter Aspekt - nämlich die Selbstreferenz - bearbeitet wird. Was die zu erwartenden Ergebnisse angeht, so wird dem eingangs skizzierten Befund nichts Wesentliches hinzuzufügen sein. Allerdings wird der genaue Blick zeigen, wie komplex und kompliziert der Sachverhalt ist, was der literaturwissenschaftliche Verweis auf die „Personenwechselung“ und das orientalische Vorbild eher verstellt. Vor allem wird deutlich werden, dass in der Frage der Selbstbezeichnung das Gedicht „Hegire“ und die Sachprosa der „Noten und Abhandlungen“ nicht über einen Kamm geschoren werden dürfen. Das versteht sich eigentlich von selbst, dennoch ist der Hinweis nicht überflüssig. Deshalb verbindet sich mit der Untersuchung der Formen des Referierens die weitergehende Absicht zu zeigen, dass und wie die Sprachwissenschaft ihren Anteil zur Textanalyse beizutragen vermag. Sie tritt damit keineswegs in ein Konkurrenzverhältnis zur Literaturwissenschaft, bietet aber ein Gegengewicht zu dem, was Wolfgang Lentz (1958, S. 33) kritisch zur Erforschung des „West-östlichen Divans“ angemerkt hat: „The amount of ‘projecting’ done by commentators is astonishing.“ 2. Das literarische Spiel: Selbstreferenz in „Hegire“ In seinem Kommentar zum „West-östlichen Divan“ bemerkt Erich Trunz (1962, S. 148), dass diese Gedichtsammlung bei ihrem Erscheinen 1819 wenig Beachtung und Verständnis gefunden habe, ja dass das ganze 19. Jahrhundert wenig Sinn für seine „Geistigkeit“ und „Stilform“ gehabt habe. Ob dieses Urteil in seiner ganzen Schärfe auch auf das Eröffnungsgedicht „Hegire“ zutrifft, 1 muss offen bleiben, denn alles in allem bietet es durchaus handfeste Lektüremöglichkeiten. Das gilt, obwohl die Überschrift Hegire dem Unkundigen völlig unverständlich bleibt, es ist für den Unkundigen nicht einmal entscheidbar, um was für eine Art von Ausdruck es sich handelt, ob Eigenname 1 Text siehe Dokument (1) im Anhang. Referenzfixierungs-Spiele in Goethes „West-östlichem Divan“ 287 oder Appellativum. Teilverständlich ist dagegen Chisers Quell in der ersten Strophe, da die Gebrauchsregel für Quell allgemein bekannt ist, es aber unklar ist, um welchen Quell es sich genau handelt, da - vorausgesetzt bei Chiser handelt es sich um einen Eigennamen - unbekannt ist, wer der Träger dieses Namens ist. Was schließlich den Ausdruck Hafis angeht, bietet die fünfte Strophe genügend Hinweise, um ihn als Namen eines Sängers oder Dichters erkennen zu können. Was nun die „Stilform“ betrifft, so haben wir es auf den ersten Blick mit einem Rollengedicht zu tun. In der ersten Strophe werden die deiktischen Ausdrücke du und dich gebraucht, in der zweiten bis vierten Strophe die Ausdrücke ich und mich, in der fünften Strophe findet sich ein ‘elliptisches ich’. Entsprechend den Gebrauchsregeln für die Personalpronomina in der ersten und zweiten Person und der Verteilung der deiktischen Ausdrücke liegt der Schluss nahe, dass es sich um einen Gesprächsausschnitt handelt, der zwei Gesprächsschritte umfasst; ein Sprecher 1 redet einen Hörer an, der als Sprecher 2 erwidert. Allerdings bereitet die sechste Strophe gewisse Schwierigkeiten, da hier mehrere Deutungen möglich sind: Sie kann dem Sprecher 2 zugeordnet werden, der am Ende seines Gesprächsschritts mehrere Zuhörer anspricht (ihr in Vers 37); es kann aber auch ein Sprecherwechsel angenommen werden, indem sie dem Sprecher 1 in den Mund gelegt wird, der dann ebenfalls mehrere Zuhörer anspricht, oder indem ein Sprecher 3 das Wort nimmt und sich an Sprecher 1 und 2, möglicherweise auch noch an weitere Zuhörer wendet. 2 Der erste Gesprächsschritt umfasst die erste Strophe, in der Sprecher 1 einer anderen Person den Rat erteilt zu flüchten (Vers 3) und ihr Verjüngung durch Chisers Quell wünscht (Verse 5 und 6). Der zweite Gesprächsschritt umfasst auf jeden Fall die zweite bis fünfte Strophe. Sprecher 2 will offenbar dem Rat des Sprechers 1 folgen und entwirft Pläne, was er alles an seinem Fluchtort zu tun beabsichtigt. Entsprechend den unterschiedlichen Zuordnungsmöglichkeiten der sechsten Strophe fordert dann Sprecher 1, 2 oder 3 dazu auf, den in Vers 35 eingeführten Dichter nicht um seine Liebesabenteuer zu beneiden. Über die sprechenden Personen erfährt der Leser zuerst einmal wenig, da aufgrund der fehlenden situationellen Einbettung kein Bezug auf konkrete Personen möglich ist. Auf Sprecher 2 wird mit du/ dich und ich/ mich referiert, woraus sich nur entnehmen lässt, dass es sich um eine einzelne Person handelt und diese aus der Rolle des angesprochenen Hörers in die des Sprechers wechselt. Der mögliche Sprecher 3 erscheint überhaupt nicht explizit im Text, sonst 2 Bei der Annahme eines Sprechers 3 kann der Sprecherwechsel auch früher angesetzt werden, so dass die Verse 35 und 36 Sprecher 3 zugeschlagen werden. Ulrich Püschel 288 hätten wir ja die Sicherheit, dass er existiert. Anders verhält es sich mit Sprecher 1. Geht man davon aus, dass es sich bei dem Gesprächssausschnitt um ein Zwiegespräch handelt, liegt der Schluss nahe, dass mit dem Eigennamen Hafis (Vers 26) und dessen mit einem nicht restriktiven Zusatz versehenen Wiederholung Heil'ger Hafis (Vers 32) auf Sprecher 1 referiert wird. Dieser Schluss wird durch die Anrede signalisierenden Formulierungen deine Lieder (Vers 26) und dein gedenken (Vers 32) gestützt. Natürlich ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass sich Sprecher 2 an einen weiteren Gesprächsteilnehmer, vielleicht sogar an Sprecher 3 wendet. Es findet sich noch eine weitere Stelle im Text, an der die Frage nach der Referenz Probleme bereitet, da in der fünften Strophe die Verse 35 und 36 einen Stolperstein bieten. Das Syntagma des Dichters Liebesflüstern ist eine Kennzeichnung, das heißt eine Nominalgruppe bestehend aus substantivischem Kern und Attribut (vgl. Wimmer 1977, S. 111), die es erlaubt, auf Eigenschaften des gemeinten Gegenstands zu schließen, nämlich dass „der Dichter Liebe flüstert“. Dieser Kennzeichnung kann der Charakter einer sprachlichen Setzung (ebd., S. 118) zugeschrieben werden. Durch eine Setzung ist ein Gegenstand kommunikativ hinreichend bestimmt, sofern sich den an der Kommunikation Beteiligten keine die Kommunikation beeinträchtigenden Fragen mehr stellen (ebd., S. 119). Das mag für die Sprecher im Gedicht zutreffen, dem Leser stellt sich aber durchaus noch eine Frage, die jedoch nicht auf die Bestimmtheit des Liebesflüsterns zielt, sondern auf die des Dichters: Wer genau ist diese Person? Wie die etwas schiefe Paraphrase zeigt, ist das Attribut des Dichters ein Referenzausdruck, der eine Bezugs- oder Referenzstelle in einer Prädikation besetzt (Polenz 1985, S. 258). Leider fehlt ihm ein zur Referenzfixierung beitragendes Attribut, so dass sich der Leser anders behelfen muss. Zum einen kann er aufgrund seines Sprachwissens des Dichters als typisierenden Singular verstehen, womit sich die Frage nach der Person erübrigt, da kein bestimmter Dichter gemeint ist. Doch auch die Annahme eines bestimmten Dichters führt zu einer Lösung. Auf der Basis seines Laufwissens, das sich der Leser im Fortgang der Lektüre erwirbt, kann er einen koreferenziellen Zusammenhang mit dem in Vers 26 genannten Hafis herstellen. Eine Zusammenschau der behandelten Ausdrücke zur Personenreferenz ergibt ein uneinheitliches Bild: Die Deiktika du und ich in ihrer spezifischen Verteilung erlauben es, zwei Sprecher zu identifizieren. Es ist aber über die Feststellung ihrer Existenz hinaus nicht möglich, Abschließendes über ihre Identität auszusagen. Immerhin besteht nach dem Prinzip der nächstliegenden Deutung die Möglichkeit, dass mit Hafis (Vers 26 und 31) Sprecher 1 angesprochen Referenzfixierungs-Spiele in Goethes „West-östlichem Divan“ 289 wird. Ferner liegt dagegen die Annahme, dass es bei Hafis um Sprecher 3 gehen könnte oder gar um einen weiteren anwesenden Gesprächsbeteiligten. Ob es einen Sprecher 3 und weitere Anwesende gibt, ließe sich nur entscheiden, wenn mehr über den situationellen Kontext bekannt wäre. Bei dieser Sachlage ist es leicht vorstellbar, dass ein zeitgenössischer, aber auch ein heutiger „normaler“ Leser mit „Hegire“ so seine Schwierigkeiten hat. Um dahinter zu kommen, mit welchen Personen er es in diesem Gedicht zu tun hat, bedarf er weiterer Informationen. Eine erste Quelle bildet eine Selbstauskunft Goethes, die er mit der Ankündigung des „West-östlichen Divans“ im „Morgenblatt für gebildete Stände“ 1816 gegeben hat. Goethe weist dort dem Gedicht „Hegire“ einen hohen Stellenwert zu, da sich in ihm „Sinn und Absicht des Ganzen“ zeige. Er zitiert die erste Strophe und erklärt im unmittelbaren Anschluss an das Zitat: „Der Dichter betrachtet sich als einen Reisenden. Schon ist er im Orient angelangt.“ (Goethe 1962b, S. 268). In der zitierten Strophe erscheint aber keine Person, die sich als reisender Dichter zu erkennen gibt oder gar im Orient angelangt ist, so dass diese Erläuterung auf einen Leser des „Morgenblatts“ eher verwirrend gewirkt haben wird. 3 Erst bei Kenntnis des ganzen Gedichtes wird aus Goethes Hinweis ersichtlich, dass die in der ersten Strophe mit du angesprochene Person, die in den weiteren Strophen mit ich auf sich referiert, ein Dichter ist. Damit wäre geklärt, um wen es sich bei dem Sprecher 2 handelt. In der Frage nach dem Sprecher 1 und einem möglichen Sprecher 3 hilft Goethes Auskunft jedoch nicht weiter. Um doch noch eine Antwort auf diese Frage zu finden, bedarf es des Expertenwissens, das Kenner der literarischen Traditionen - also vor allem Literaturwissenschaftler - beisteuern. Dies führt zum bisher gar nicht angesprochenen Aspekt der „Stilform“ zurück, zu der Trunz ja bemerkt hatte, dass sie für die Leser schwer durchschaubar sei. Die überraschende Lösung der Sprecherfrage besteht in einem literarischen Verfahren, das Goethe in seiner Beschäftigung mit orientalischer Dichtung kennen gelernt hat (vgl. Bahr 1969). In der Vorrede zu seiner Übersetzung des „Diwan von Mohammed Schemaeddin Hafis“ nennt Joseph von Hammer-Purgstall es „die beständige Personenwechselung“ (Hammer-Purgstall 1812, S. VII ). Damit ist gemeint, dass in der Lyrik des Hafis auf eine Person in den verschiedensten Formen Bezug genommen wird. Dass auf eine Person in unterschiedlicher Weise referiert wird, ist 3 Burdach (1905, S. 323) übergeht dieses Problem, indem er diese und die sich anschließenden Bemerkungen als Beschreibung des Inhalts des ersten Buchs (= „Buch des Sängers“) betrachtet. Ulrich Püschel 290 allerdings noch nichts Besonderes. Zum Kunstgriff wird dieses Verfahren erst dadurch, dass die Referenzidentität nicht auf Anhieb durchschaubar ist. Dies gilt ganz besonders für die Fälle, in denen ein Sprecher mit unterschiedlichen Mitteln auf sich selbst referiert. Für die „Personenwechselung“ lassen sich zwei Grundverfahren beobachten. Das erste Verfahren besteht in dem so genannten Gestaltwandel, bei dem nach Ehrhard Bahr (1969, S. 123) ein Mensch sich verwandelt und doch gleich bleibt. Mit unterschiedlichen Kennzeichnungen wird also auf die gleiche Person Bezug genommen. Das zweite Verfahren ist die so genannte „grammatische Personenwechselung“ (ebd.). Damit ist der Wechsel zwischen der ersten, zweiten und dritten Person gemeint, also zwischen ich, du und er, wobei - wie gesagt - der Sprecher mit den drei unterschiedlichen Deiktika immer auf sich selbst referiert. In der dritten Person kann der Sprecher statt des Deiktikums auch eine Kennzeichnung benutzen. Während Hafis sich offenbar wiederholt der „Personenwechselung“ bedient, scheint in Goethes „West-östlichem Divan“ die Zahl der Beispiele beschränkt (vgl. Bahr 1969, S. 122). „Hegire“ kann unter diesen als das deutlichste gelten. Geht man nun davon aus, dass die diskutierten Referenzausdrücke in „Hegire“ nach dem Schema des „grammatischen Personenwechsels“ zu verstehen sind, so finden sich in diesem Gedicht weder zwei noch gar drei unterschiedliche Sprecher, sondern es handelt sich immer um das gleiche sprechende lyrische Ich, das in unterschiedlicher Weise auf sich Bezug nimmt (vgl. Birus 1994, S. 884f.; Richter et al. 1998, S. 433f.). In der ersten Strophe spricht sich das lyrische Ich mit du selbst an und fordert sich auf, sich in den Orient zu flüchten. In den Strophen zwei bis sechs (mit Ausnahme der Verse 35 und 36) spricht das lyrische Ich in der Ich-Form und bekundet, wie es seinen Orientaufenthalt zu gestalten beabsichtigt. In den Versen 35 und 36 spricht es schließlich in der dritten Person von sich, allerdings verwendet es nicht das Personalpronomen er, sondern den Ausdruck des Dichters, der wiederum nicht primärer Referenzausdruck ist, sondern als Attribut zu Liebesflüstern Teil einer Kennzeichnung. Damit gibt das lyrische Ich endlich seine Identität als Dichter preis. 4 Zugleich stellt es sich als Liebhaber dar, dessen dichterische Gaben ihn als Mann offenbar unwiderstehlich machen. In diesem Zusammenhang verdankt sich der Wechsel in die dritte Person möglicherweise nicht nur dem literarischen Spiel, sondern auch dem Wunsch, ein prahlerisches Ich - also mein 4 Zu weitergehenden Deutungen der Dichterpersönlichkeit vgl. Hillmann (1965, S. 108): „Der Sänger dieses Buches [= „Buch des Sängers“] ist stets zugleich der eine konkrete westliche Dichter, der zur Hegire in die Welt des Ostens aufbricht, und der Sänger, der Dichter überhaupt, der in der verfließenden Zeit einen Raum der Dauer sucht und ihn sich im Liede selbst erschafft.“ Referenzfixierungs-Spiele in Goethes „West-östlichem Divan“ 291 Liebesflüstern - zu vermeiden und sich hinter einer Kennzeichnung mit ihrer prädizierenden Kraft zu verbergen. Zugleich wird damit der Weg frei gemacht zu einer Verallgemeinerung, denn in Vers 39 geht es nicht mehr um die Worte eines bestimmten Dichters, sondern um Dichterworte generell. Dazu passt auch die Redewiedergabe in den Versen 35 und 36 (mache), derzufolge sich die Aussage über die Wirkung des Liebesflüsterns nicht als ein Selbst-, sondern als ein Fremdurteil nach dem Motto „so sagt man (von mir)“ oder „so hört man“ verstehen ließe. 3. Zwischenspiel: Selbstreferenz im sprachlichen Alltag Im sprachlichen Alltag ist der deiktische Ausdruck ich das normale Mittel, mit dem ein Sprecher auf sich selbst referiert. Wie jeder kompetente Sprecher weiß, finden sich daneben aber auch alternative Ausdrucksformen der Selbstbezeichnung, denen als markierte Formen spezifische Funktionen zukommen. Laut der „Grammatik der deutschen Sprache“ (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 938ff.) dienen die markierten Formen vor allem dazu, sich in besonderer Weise selbst darzustellen. Funktionen der Selbstbezeichnung in der dritten Person sind beispielsweise die Ausblendung der Sprecherrolle oder das Signalisieren von Verallgemeinerung von Meinungen, Intentionen oder Urteilen, oft verbunden mit einem Heischen um Zustimmung (ebd., S. 939). Die gezielte Analyse solcher markierten Selbstreferenzen wird gewiss zeigen können, wie vielfältig und flexibel sich mit ihnen Selbstdarstellung betreiben lässt. Ein schönes Beispiel bietet Uwe Johnson, der in seiner Antrittsrede, die er anlässlich seiner Aufnahme in die Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt im Jahre 1977 gehalten hat, zum ersten Mal im Satz [7] mit ich auf sich referiert (Johnson 1978, S. 154). 5 Bis dahin vermeidet er es, die Sprecherrolle zu signalisieren. Zuerst versucht er, von der eigenen Person abzulenken, indem er sich mit dem Gebrauch der dritten Person in eine Gruppe von Menschen einreiht, die alle mit einem gleichen Problem konfrontiert sind. Wenn er dann nicht umhinkommt, von sich selbst als Einzelnem zu sprechen, referiert er auf distanzierende Weise auf sich mit Ihr neues Mitglied, indem er seinen Status als Redner und den Redeanlass herausstellt und Gemeinsamkeit mit dem Publikum hervorhebt. Auch der Sprecher in „Hegire“ betreibt Selbstdarstellung, wenn er mit des Dichters Liebesflüstern in der dritten Person spricht. Charakteristisch ist für diese Formen der Selbstreferenz die „Übernahme der Hörerperspektive“ (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 938), was besonders deutlich wird, wenn ein Sprecher mit einer Verwandtschaftsbezeichnung oder 5 Das Beispiel verdanke ich Peter von Polenz, der es in seiner „Deutschen Satzsemantik“ verwendet hat (Polenz 1985, S. 21). - Text siehe Dokument (2) im Anhang. Ulrich Püschel 292 seinem Namen auf sich referiert, also so wie er von anderen, die jetzt Hörer sind, angesprochen wird. Dies gilt aber auch für die Selbstreferenz mit man und du. In allerdings abgewandelter Weise findet sich die „Übernahme der Hörerperspektive“ auch in der ersten Strophe von „Hegire“, in der sich der Sprecher selbst anredet. Diese Strophe wirkt wie ein Ausschnitt aus einem Selbstgespräch, in dem sich der Sprechende in der Sprecher- und Hörerrolle zugleich wahrnimmt. Bezieht man jedoch die letzte Strophe mit ein, in der ein Zuhörer- oder Leserkreis mit ihr (Vers 37) angesprochen wird, verliert die erste Strophe ihren selbstgesprächshaften Charakter. Ob die Selbstreferenz mit du stattdessen auf die Zustimmung der Adressaten ausgerichtet ist (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 939), mag dahingestellt bleiben. Wie gezeigt, ist der „grammatische Personenwechsel“ in „Hegire“ nicht nur ein literarisches Verfahren, das Goethe dem orientalischen Vorbild nachgeahmt hat, sondern die markierte Referenz eines Sprechers oder Schreibers auf sich selbst gehört zur sprachlichen Alltagspraxis. Doch obwohl solche Alternativen des Referierens zum alltäglichen Sprachwissen gehören und damit prinzipiell die Voraussetzung für das Verstehen solcher markierten Referenzgebräuche gegeben ist, ist in „Hegire“ der Wechsel der Referenzausdrücke bei gleich bleibendem Referenzobjekt kaum zu verstehen. Ob ein Leser selbst mit Hilfe eines kühnen Grice'schen Räsonnements diese Zusammenhänge entschlüsseln könnte, ohne dass er auf das Expertenwissen zurückgreifen kann, bleibt zumindest fraglich, zumal sich ein um Klarheit bemühter Leser durchaus mit der naheliegenden Lesart als Dialogausschnitt zufrieden geben kann und das trotz der verbleibenden Unklarheiten. Neben der „grammatischen Personenwechselung“ lässt sich in „Hegire“ noch der „Gestaltwandel“ beobachten. Laut Bahr (1969, S. 125) erscheint das lyrische Ich nicht nur in der ersten, zweiten und dritten Person, sondern durchläuft auch einen „raschen Rollenwechsel“, oder genauer gesagt, es sieht sich in den unterschiedlichsten Rollen. Denn wenn es auch in der Ankündigung des „West-östlichen Divans“ im „Morgenblatt“ (Goethe 1962b, S. 268) heißt „Schon ist er [= der Reisende] im Orient angelangt“, so gibt das lyrische Ich doch nur Absichtserklärungen oder entwickelt Wunschvorstellungen, wie das Modalverb will in den Versen 8, 15, 19 und 31 anzeigt. Im Übrigen werde diese Rollen keineswegs explizit eingeführt, sondern allenfalls angedeutet. 6 Sie müssen mittels eines Grice'schen Räsonnements erschlossen werden. Aber dieses wird wohl nur funktionieren, wenn das entsprechende Expertenwissen 6 Am deutlichsten sind in dieser Hinsicht die Verse 21 und 22, in denen sich das lyrische Ich als Kaufmann imaginiert, indem es kaufmännische Tätigkeiten beschreibt. Referenzfixierungs-Spiele in Goethes „West-östlichem Divan“ 293 über die „Stilform“ gegeben ist, dass nämlich zu ihr das Spiel mit dem „Gestaltwandel“ gehört. Sonst bleibt es bei Interpretationen, nach denen - dem Wortlaut gemäß (will) - das sprechende Ich ein Szenario entwirft, wie es seine Zeit im „reinen Osten“ zu verbringen beabsichtigt, 7 oder - ohne Bezug auf das sprechende Ich - die vierte bis sechste Strophe „die Einzelheiten des orientalischen Lebens und damit die poetischen Situationen und Motive des Divans“ zeigen (Burdach 1905, S. 324). 4. Alltagspraxis oder literarisches Spiel: Selbstreferenz in den „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans“ In der Einleitung zu seinen Noten und Abhandlungen zum „West-östlichen Divan“ scheint Goethe das Verfahren der „Personenwechselung“ von der Lyrik auf die Sachprosa übertragen zu haben. 8 So lässt sich zumindest die Kommentierung von Hendrik Birus verstehen, der zu der Kennzeichnung der Dichter ([2]) bemerkt: „Mit dieser distanzierten Selbstbezeichnung beginnt das Spiel wiederholter Personenwechsel des Verfassers“ (Birus 1994, S. 1407). Um den Fortgang des Wechsels zu illustrieren, zählt Birus die Ausdrücke der Dichter ([2]), der Verfasser ([11]), ein Reisender und er ([11]), eines Handelsmanns ([14]), unser Dichter ([15]), man ([17]) und wir ([21]) auf. Außer Acht gelassen hat Birus die Deiktika ich und mich sowie die der Refenzfixierung dienenden Personalpronomina meiner, meinen und meine in den Sätzen [4] bis [10]. 9 Ähnlich wie in „Hegire“ lassen sich nach der Unterscheidung von Ehrhard Bahr „grammatische Personenwechselung“ und „Gestaltwandel“ beobachten. Doch anders als in „Hegire“ lässt sich dieses Spiel ohne Expertenwissen und lediglich mit der Ausrüstung an alltäglichem Sprachwissen durchschauen. Das gilt für die „grammatische Personenwechselung“ und noch mehr für den „Gestaltwandel“, der im Unterschied zu „Hegire“ durch explizite Kennzeichnung deutlich gemacht wird. Natürlich lässt sich nicht ausschließen, dass Goethe bei der Wahl der Referenzausdrücke an das literarische Verfahren der „Personenwechselung“ gedacht hat, es ist aber auch offensichtlich, 7 Bahr (1969, S. 123) zählt auf: Hirte, Kaufmann, Krieger, Liebhaber, Dichter. Eine systematische Lektüre, wie sie die interpretative Stilistik in Form der Textverlaufs- oder Sequenzanalyse vorschlägt (vgl. Püschel 2007), würde zu weiteren „Gestalten“ führen wie beispielsweise der Flüchtling oder Pilger (1. Strophe), der Forscher (2. Strophe) oder der Lebemann (6. Strophe). 8 Text siehe Dokument (3) im Anhang. 9 Eine systematischere Liste findet sich schon bei Lentz (1958, S. 71). Ulrich Püschel 294 dass er sich am alltagssprachlichen Gebrauch orientiert hat. Jedenfalls ist die Affinität zur sprachlichen Praxis, wie sie in Uwe Johnsons Rede begegnet, größer als zu der in „Hegire“. Dies wird die weitere Diskussion zeigen. In den „Noten und Abhandlungen“ bedient sich Goethe der normalen Form der Selbstreferenz mittels ich wie der markierten mittels der dritten Person. Dazu passt auch die schon einmal zitierte Bemerkung in den Notizen (Goethe 1994, S. 691): „Die Dichter sprechen von sich in dritter Person.“ Damit wird die Sprecherrolle in den Hintergrund geschoben und die Eigenschaft der sprechenden Person, Dichter zu sein, in den Vordergrund gerückt. 10 Des Weiteren präsentiert sich Goethe explizit als Verfasser der Gedichte (der Verfasser [11]), der sich metaphorisch verkleidet, indem er sich als einen Reisenden einführt (ein Reisender [11]). Dies macht er, indem er in einem Referenzfixierungsakt dem Verfasser die Eigenschaft prädiziert, ein Reisender zu sein (der Verfasser [wünschte] als ein Reisender angesehen zu werden [11]). So eingeführt kann Goethe mit einer ganzen Kette von Proformen auf sich als Reisenden referieren (dem - er - ihn - ihm - er in [11] und [12]). Schließlich wird dem Reisenden noch die Eigenschaft des Fremdlings zugeschrieben (als Fremdling kenntlich [12]), was aber ein blinder Referenzfixierungsakt bleibt, da auf den so eingeführten Fremdling im weiteren Textverlauf nicht Bezug genommen wird. Wie die Zuschreibung, ein Reisender zu sein, in ihrer Explizitheit ausweist, schlüpft das Ich gerade nicht von einer Rolle in die nächste, sondern die Rollenzuschreibung wird deutlich nachvollziehbar vorgenommen, so dass die Identität der Person, von der die Rede ist, ausdrücklich gewahrt bleibt. Es bleibt dem Leser sogar überlassen, ob er der Rollenzuschreibung überhaupt folgen möchte, da sie als Wunsch an den Leser herangetragen wird (wünschte [11]). Dieses Spiel wiederholt sich noch einmal, wenn Goethe in Satz [14] zuerst mit der Reisende auf sich referiert und dann eine erneute Rollenzuschreibung vornimmt, indem er von dem Reisenden aussagt, er übernimmt die Rolle eines Handelsmanns. Auch das bildet einen Referenzfixierungsakt, denn mit ihm kann auf den so eingeführten Handelsmann Bezug genommen werden (Ende [14]). Die bisherige Beschreibung der Personenreferenz, soweit sie den Autor Goethe betrifft, hat deutlich gemacht, dass hier primär kein literarisches Spiel mit der „Personenwechselung“ betrieben wird. Oberflächlich betrachtet ließe sich sagen, dass nach dem Prinzip „variatio delectat“ verfahren wird - dazu passen auch die noch zu behandelnden Referenzausdrücke man und wir. Der genauere Blick zeigt aber, dass Goethe zum einen mit der Dichter und der Ver- 10 Die damit betriebene Selbstdarstellung soll nicht weiter berücksichtigt werden. Referenzfixierungs-Spiele in Goethes „West-östlichem Divan“ 295 fasser herausstellt, in welcher Eigenschaft er seinen Lesern entgegentritt, und dass er zum andern mit den Bildern vom Reisenden und Handelsmann veranschaulicht, wie er sein dichterisches Schaffen versteht und von den Lesern verstanden haben möchte. Dabei hat er alles andere als ein Vexierspiel im Sinn, sondern sorgt auf unterschiedliche Weise für Klarheit in den Fällen, in denen er in der dritten Person von sich spricht, dass er tatsächlich sich meint: Er verwendet in Satz [11] mit der Verfasser vorstehender Gedichte eine Kennzeichnung, die die Bestimmtheit des gemeinten Gegenstands sichert, und vollzieht in Satz [10] und [14] Referenzfixierungsakte. Etwas anders verhält es sich mit dem Referenzausdruck der Dichter ([2]). Er könnte als kollektiver Singular verstanden werden, zumal Satz [2] eine Erläuterung zu der einleitenden Sentenz in [1] bietet; doch er ist eine Setzung, deren Bezug auf die Person Goethes in mehrfacher Weise gesichert ist. Die Deutung als kollektiver Singular wird ausgeschlossen durch das Deiktikum diesmal, das eine konkrete Situation signalisiert, in der ein Individuum handelt. Sein Laufwissen erlaubt es dem Leser, den Zusammenhang zwischen dem handelnden Individuum und Goethe als dem Dichter des „West-östlichen Divans“ und als Verfasser der „Noten und Abhandlungen“ herzustellen. Auch wenn hier die Meinung vertreten wird, Goethe treibe mit den wechselnden Referenzausdrücken nicht eigentlich ein Vexierspiel, findet sich eine Stelle, die für Verwirrung sorgt. Mit den Bildern vom Reisenden und Handelsmann veranschaulicht er auf lebendige Weise, wie er als Dichter des „Westöstlichen Divans“ vorgegangen ist. Mit Satz [15] konkretisiert er das bis dahin metaphorisch Ausgeführte, indem er seine künstlerischen Absichten darlegt. In diesen Satz hat er aber einen Stolperstein eingebaut, indem er auf offensichtlich unmotivierte Weise mit unser Dichter ([15]) referiert. 11 Der Zusatz unser vermittelt nämlich den Eindruck, als ob schon die ganze Zeit über von einer dritten Person die Rede gewesen wäre, über die sich der Autor mit seinen Lesern gewissermaßen im Einverständnis weiß. Auf eine solche Person gab es im Text jedoch bislang keinen Hinweis. Die Alternative, Goethe referiere in dieser ungewöhnlichen Form auf sich selbst, ist wenig plausibel, zumindest merkwürdig. Zu welchem Zweck sollte er von sich selbst als unser Dichter sprechen? Auflösen lässt sich diese Merkwürdigkeit, indem einerseits davon ausgegangen wird, dass hier tatsächlich eine andere Person gemeint ist, und andererseits angenommen wird, dass diese Person und der Autor Goethe zwar nicht identisch sind, aber in einer engen Beziehung zueinander stehen. Goethe 11 Lentz (1958, S. 71) wie Birus (1994, S. 1407; 1992, S. 128) registrieren das Personalpronomen unser ohne weiteren Kommentar. Ulrich Püschel 296 scheint hier nun tatsächlich ein Vexierspiel zu treiben, aber doch von anderer Art als der „Personenwechselung“ oder dem „Gestaltwandel“. Auf spielerische Weise wird die Grenze zwischen Autor und lyrischem Ich verwischt, indem Goethe als der reale Dichter des „West-östlichen Divans“ wie als der fiktive Dichter aus den Gedichten auftritt. Bei dieser Sicht gewinnt die Kennzeichnung der Verfasser vorstehender Gedichte ([11]) noch einmal einen anderen Stellenwert. Sie dient nicht nur der Referenzsicherung auf den Gedichtteil der „Divan“-Ausgabe von 1819 (vgl. Birus 1994, S. 1408), sondern mit ihr referiert Goethe ausdrücklich auf sich als realen Dichter. Zugleich wird mit ihr der Punkt markiert, an dem die Grenzverwischung zwischen den Identitäten einsetzt. Mit unser Dichter zeigt Goethe an, dass es jetzt um den fiktiven Dichter geht. Zugleich ist damit der Endpunkt der Grenzverwischung erreicht. Im Zwischenbereich ist vom Reisenden und Handelsmann die Rede, was sowohl auf Goethe als auch den Dichter im „West-östlichen Divan“ bezogen werden kann. Mit der zurückhaltenden Redeweise von der Grenzverwischung soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es eine Grenze gibt, nämlich zum einen zwischen Goethe als dem Autor der „Noten und Abhandlungen“ und dem Dichter, der in „Hegire“ spricht, und zum andern zwischen dem Gedicht als literarischem Text und den Erläuterungen zum „Divan“ als Gebrauchstext. Vor diesem Hintergrund erscheint die in der Literatur vertretene Meinung problematisch, zumindest aber ungenau, in den „Noten und Abhandlungen“ finde sich eine Wiederaufnahme der Fiktion einer geistigen Reise, wie sie in „Hegire“ angelegt sei (Richter et al. 1998, S. 744). Bei „Hegire“ handelt es sich um einen fiktionalen Text, bei den „Noten und Abhandlungen“ dagegen um einen nicht fiktionalen. In dem einen Text imaginiert das lyrische Ich, das als Dichter identifiziert werden kann, eine Reise durch eine fiktive orientalische Welt. In dem anderen legt der reale Autor Goethe dar, welche Absichten er mit den „Noten und Abhandlungen“ verfolgt. Was nun die Fiktion einer geistigen Reise angeht, so begegnet sie in „Hegire“ (und in anderen Gedichten des „Divans“), nicht aber in den „Noten und Abhandlungen“. Denn wie schon ausgeführt, tritt der Autor Goethe eben nicht in der Rolle eines Reisenden oder Handelsmanns auf, sondern er vergleicht zum Zwecke der Veranschaulichung sein Tun mit deren Tätigkeiten. Diese eher nüchterne Einschätzung bedeutet natürlich nicht, dass in diesen Vergleichen nicht auch Goethes Selbstverständnis von seiner Rolle als Dichter des „Divans“ zum Ausdruck käme. Wie die noch zu behandelnden Selbstreferenzen mit man und wir ausweisen, sieht er sich aber Referenzfixierungs-Spiele in Goethes „West-östlichem Divan“ 297 auch anders. 12 Die hier praktizierte strikte Gegenüberstellung einer fiktiven Welt der Dichtung und einer realen Welt der Sachprosa ist zu interpretativen Zwecken vorgenommen worden. Daraus folgt jedoch nicht, dass die beiden Welten nichts miteinander zu tun hätten, im Gegenteil bestehen zwischen den verschiedenen „Weltansichten“ sehr wohl Zusammenhänge (Wimmer 1977, S. 107), die sich in der geläufigen Frage kristallisieren, was denn an einem literarischen Text fiktiv und was real-biografisch sei. 13 So ist auch die Bemerkung von Birus (1992, S. 125) zu verstehen: „Wenn Goethe dabei [...] in der Ankündigung des ‘West-östlichen Divans’ im ‘Morgenblatt’ über diesen Dichter - also über sich selbst! - schreibt: [...].“ Die zweideutige Referenz mit unser Dichter wird in Satz [17] abgelöst durch das Indefinitpronomen man, mit dem Goethe dann wieder eindeutig auf sich selbst referiert. Gestützt wird diese Lesart durch den Kontext. Mit der Anapher diese wird auf das zurückverwiesen, was in den Sätzen [15] und [16] als das Erklärungsbedürftige benannt wurde. Mit dem Gebrauch von man signalisiert Goethe eine Verallgemeinerung, nach der die Aufgabe, dem Leser Hilfestellung zu geben, nicht mehr in das Belieben eines Einzelnen gestellt ist, sondern von jedem, der in eine solche Situation kommt, zu übernehmen ist (Pflicht). Außerdem wird die unbezweifelbare Notwendigkeit dieser Aufgabe unterstrichen. Schließlich kann der Gebrauch dieses Deiktikums als Heischen um Zustimmung des Lesers verstanden werden (vgl. Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 939). Abschließend rückt sich Goethe mit wir in Satz [21] einschließlich des Possessivpronomens unseres in Satz [20] wieder als Person in den Vordergrund. Er benutzt den Pluralis auctoris, der - wie die Selbstreferenz in der dritten Person - eine markierte Form ist. Auch das ließe sich als ein Heischen um Zustimmung verstehen, vielleicht aber auch als Ausdruck eines unterstellten Einverständnisses mit dem Leser. Auch diese Lesarten lassen sich durch den Kontext stützen. 5. Schlussbemerkung Im Hinblick auf die Selbstreferenzen in den „Noten und Abhandlungen“ urteilt Hendrik Birus wie folgt: Allein schon wenn man in der „Einleitung“ zu den „Noten und Abhandlungen“ auf den [...] Wechsel der Sprecherbezeichnungen von „man“ über „ich“ und 12 Es trifft also allenfalls nur zum Teil zu, wenn Anke Bosse (1996, S. 325f.) postuliert: „In ihr [= der Einleitung zu „Noten und Abhandlungen“] stilisiert sich G. [...] zum ‘Reisenden’ (vgl. bereits Hegire; [...]).“ 13 Natürlich lässt sich auch umgekehrt bei einem nicht literarischen Text die Frage nach fiktiven Anteilen stellen. Ulrich Püschel 298 „er“ zum „wir“ und der Autorstilisierungen von „der Dichter“/ „der Verfasser“ über „ein Reisender“/ „ein Handelsmann“ bis zu „unser Dichter“ achtet, kann man einen ersten Eindruck von Goethes spielerisch-reflektiertem Umgang mit seiner eigenen, zwischen Exteriorität und Empathie oszillierenden west-östlichen Position gegenüber der Welt des Orients gewinnen [...]. (Birus 1992, S. 128) Dieses Zitat bietet das Fazit einer ausführlichen Diskussion, ohne deren Einbeziehung seine Aussage schwer nachvollziehbar ist. Dennoch sei die Anmerkung erlaubt, dass sich der behauptete erste Eindruck aus den aufgezählten Ausdrücken nicht gewinnen lässt. Irritierend wirkt auch die willkürliche Veränderung ihrer Reihenfolge. Sie missachtet die Tatsache, dass die unterschiedlichen Mittel der Selbstreferenz nicht beliebig gewählt sind, sondern in ihrer Abfolge dem jeweiligen Textzusammenhang entsprechen. Dies ist bei der Betrachtung der einzelnen Referenzmittel schon angeklungen und ließe sich durch eine umfassende Textanalyse im Detail nachweisen. 6. Literatur Bahr, Ehrhard (1969): „Personenwechslung“ in Goethes „West-östlichem Divan“. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 73, S. 117-125. Birus, Hendrik (1992): Goethes imaginativer Orientalismus. In: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts 1992. Tübingen, S. 106-128. Birus, Hendrik (1994): Kommentar II. In: Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Bd. 1.3.2. Hrsg. von Hendrik Birus. Frankfurt a.M., S. 873-1969. Bosse, Anke (1996): Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des Westöstlichen Divans. In: Goethe Handbuch Bd. 1. Gedichte. Hrsg. von Regine Otto u. Bernd Witte. Stuttgart/ Weimar, S. 323-334. Burdach, Konrad (1905): Anmerkungen. In: Goethes sämtliche Werke. Jubiläums- Ausgabe. 5. Bd. West-östlicher Divan. Stuttgart/ Berlin, S. 317-432. Goethe, Johann Wolfgang von (1962a): West-östlicher Divan. In: Goethes Werke. Bd. II. Hrsg. v. Erich Trunz. 6. Aufl. Hamburg, S. 7-120. Goethe, Johann Wolfgang von (1962b): Goethes Ankündigung des West-östlichen Divans im „Morgenblatt“ 1816. In: Goethes Werke. Bd. II. Hrsg. von Erich Trunz. 6. Aufl. Hamburg, S. 268-270. Referenzfixierungs-Spiele in Goethes „West-östlichem Divan“ 299 Goethe, Johann Wolfgang von (1962c): Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans. In: Goethes Werke. Bd. II. Hrsg. von Erich Trunz. 6. Aufl. Hamburg, S. 126-267. Goethe, Johann Wolfgang von (1994): Nachlass-Stücke. In: Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke. Bd. 1.3.1. Hrsg. von Hendrik Birus. Frankfurt a.M., S. 583-722. Hammer-Purgstall, Joseph von (1812): Vorrede. In: Der Diwan des Mohammed Schemsed-Din Hafis. Stuttgart/ Tübingen. [Microfiche-Ausgabe München 1994]. Hillmann, Ingeborg (1965): Dichtung als Gegenstand der Dichtung. Zum Problem der Einheit des „West-östlichen Divan“. Bonn. Johnson, Uwe (1978): Rede anlässlich der Aufnahme in die deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt. Jahrbuch 1977. Heidelberg, S. 154-159. Lentz, Wolfgang (1958): Goethes Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan. Hamburg. Polenz, Peter von (1985): Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den- Zeilen-Lesens. Berlin/ New York. Püschel, Ulrich (2007): Ein Frühstücksgespräch bei Theodor Fontane. Die handlungssemantische Textanalyse als interpretative Stilistik. In: Hermanns, Fritz/ Holly, Werner (Hg.): Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens. Tübingen, S. 282-299. Richter, Karl et al. (1998): Kommentar. In: Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 11.1.2. Hrsg. von Karl Richter et al. München, S. 428-870. Trunz, Erich (1962): Anmerkungen des Herausgebers: West-östlicher Divan. In: Goethes Werke. Bd. II. Hrsg. von Erich Trunz. 6. Aufl. Hamburg, S. 537-604. Wimmer, Rainer (1977): Referieren. In: Heringer, Hans Jürgen et al.: Einführung in die Praktische Semantik. Heidelberg, S. 106-125. Wimmer, Rainer (1979): Referenzsemantik. Untersuchungen zur Festlegung von Bezeichnungsfunktionen sprachlicher Ausdrücke am Beispiel des Deutschen. Tübingen. Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. Bd. 1. Berlin/ New York. Ulrich Püschel 300 7. Anhang (1) Johann Wolfgang von Goethe, Hegire; zitiert nach Goethe (1962a, S. 7f.) Hegire Nord und West und Süd zersplittern, Throne bersten, Reiche zittern, Flüchte du, im reinen Osten Patriarchenluft zu kosten, 5 Unter Lieben, Trinken, Singen Soll dich Chisers Quell verjüngen. Dort, im Reinen und im Rechten, Will ich menschlichen Geschlechten In des Ursprungs Tiefe dringen, 10 Wo sie noch von Gott empfingen Himmelslehr' in Erdesprachen Und sich nicht den Kopf zerbrachen. Wo sie Väter hoch verehrten, Jeden fremden Dienst verwehrten; 15 Will mich freun der Jugendschranke: Glaube weit, eng der Gedanke, Wie das Wort so wichtig dort war, Weil es ein gesprochen Wort war. Will mich unter Hirten mischen, 20 An Oasen mich erfrischen, Wenn mit Karawanen wandle, Schal, Kaffee und Moschus handle; Jeden Pfad will ich betreten Von der Wüste zu den Städten. 25 Bösen Felsweg auf und nieder Trösten, Hafis, deine Lieder, Wenn der Führer mit Entzücken Von des Maultiers hohem Rücken Singt, die Sterne zu erwecken 30 Und die Räuber zu erschrecken. Referenzfixierungs-Spiele in Goethes „West-östlichem Divan“ 301 Will in Bädern und in Schenken, Heil’ger Hafis, dein gedenken, Wenn den Schleier Liebchen lüftet, Schüttelnd Ambralocken düftet. 35 Ja, des Dichters Liebeflüstern Mache selbst die Huris lüstern. Wolltet ihr ihm dies beneiden Oder etwa gar verleiden, Wisset nur, daß Dichterworte 40 Um des Paradieses Pforte Immer leise klopfend schweben, Sich erbittend ew’ges Leben. (2) Uwe Johnson: Rede anlässlich der Aufnahme in die deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt (Ausschnitt); zitiert nach Johnson (1978, S. 154); Nummerierung der Sätze U.P. [1] Herr Präsident, meine Damen und Herren: [2] Wer in eine Akademie gewählt wird, soll Pflichten erwarten. [3] Dennoch, wenn man in Darmstadt als erste von ihm eine „Selbstdarstellung“ verlangt, kann er überrascht sein von der Härte, ja, Grausamkeit der Aufgabe und, in meiner Angelegenheit, versucht sein, ihr auf einem Umweg zu genügen, nämlich einer Vorstellung der Ansichten, die ihn bisher beschreiben sollten. [4] Zum ersten, Ihr neues Mitglied wird des öfteren, grundsätzlich, ein „Pommer“ genannt, als sei das eine erschöpfende Auskunft. [5] Daran ist richtig, daß er eine Bauerntochter aus Pommern zur Mutter hatte, jedoch nicht aus jenem hinteren Landesteil, von dem es lateinisch heißt, er singe nicht, sondern aus dem Gebiet westlich der Oder, 1648 schwedisch und 1720 preußisch geworden, was einem 1934 Geborenen als Obrigkeit den Preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring einträgt. [6] Für die ersten zehn Jahre aufgewachsen im Vorpommern eines Reichskanzlers Hitler, [7] bin ich zu wenig ausgewiesen als ein Pommer, wie er in den Büchern steht. Ulrich Püschel 302 (3) Johann Wolfgang von Goethe: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans (Ausschnitt); zitiert nach Goethe (1962c, S. 126-128); Nummerierung der Sätze U.P. Einleitung [1] Alles hat seine Zeit! - [2] Ein Spruch, dessen Bedeutung man bei längerem Leben immer mehr anerkennen lernt; diesem nach gibt es eine Zeit zu schweigen, eine andere zu sprechen, und zum letzten entschließt sich diesmal der Dichter. [3] Denn wenn dem früheren Alter Tun und Wirken gebührt, so ziemt dem späteren Betrachtung und Mitteilung. [4] Ich habe die Schriften meiner ersten Jahre ohne Vorwort In die Welt gesandt, ohne auch nur im mindesten anzudeuten, wie es damit gemeint sei; dies geschah im Glauben an die Nation, daß sie früher oder später das Vorgelegte benutzen werde. [5] Und so gelang mehreren meiner Arbeiten augenblickliche Wirkung, andere, nicht ebenso faßlich und eindringend, bedurften, um anerkannt zu werden, mehrerer Jahre. [6] Inzwischen gingen auch diese vorüber, und ein zweites, drittes nachwachsendes Geschlecht entschädigt mich doppelt und dreifach für die Unbilden, die ich von meinen früheren Zeitgenossen zu erdulden hatte. [7] Nun wünscht’ ich aber, daß nichts den ersten guten Eindruck des gegenwärtigen Büchleins hindern möge. [8] Ich entschließe mich daher zu erläutern, zu erklären, nachzuweisen, und zwar bloß in der Absicht, daß ein unmittelbares Verständnis Lesern daraus erwachse, die mit dem Osten wenig oder nicht bekannt sind. [9] Dagegen bedarf derjenige dieses Nachtrags nicht, der sich um Geschichte und Literatur einer so höchst merkwürdigen Weltregion näher umgetan hat. [10] Er wird vielmehr die Quellen und Bäche leicht bezeichnen, deren erquickliches Naß ich auf meine Blumenbeete geleitet. [11] Am liebsten aber wünschte der Verfasser vorstehender Gedichte als ein Reisender angesehen zu werden, dem es zum Lobe gereicht, wenn er sich der fremden Landesart mit Neigung bequemt, deren Sprachgebrauch sich anzueignen trachtet, Gesinnungen zu teilen, Sitten aufzunehmen versteht. [12] Man entschuldigt ihn, wenn es ihm auch nur bis auf einen gewissen Grad gelingt, wenn er immer noch an einem eignen Akzent, an einer unbezwinglichen Unbiegsamkeit seiner Landsmannschaft als Fremdling kenntlich bleibt. [13] In diesem Sinne möge nun Verzeihung dem Büchlein gewährt sein! Kenner vergeben mit Einsicht, Liebhaber, weniger gestört durch solche Mängel, nehmen das Dargebotne unbefangen auf. [14] Damit aber alles, was der Reisende zurückbringt, den Seinigen schneller behage, übernimmt er die Rolle eines Handelsmanns, der seine Waren gefällig auslegt und sie auf mancherlei Weise angenehm zu machen sucht; ankündigende, beschreibende, ja lobpreisende Redensarten wird man ihm nicht verargen. Referenzfixierungs-Spiele in Goethes „West-östlichem Divan“ 303 [15] Zuvörderst also darf unser Dichter wohl aussprechen, daß er sich im Sittlichen und Ästhetischen Verständlichkeit zur ersten Pflicht gemacht, daher er sich denn auch der schlichtesten Sprache, in dem leichtesten, faßlichsten Silbenmaße seiner Mundart, befleißigt und nur von weitem auf dasjenige hindeutet, wo der Orientale durch Künstlichkeit und Künstelei zu gefallen strebt. [16] Das Verständnis jedoch wird durch manche nicht zu vermeidende fremde Worte gehindert, die deshalb dunkel sind, weil sie sich auf bestimmte Gegenstände beziehen, auf Glauben, Meinungen, Herkommen, Fabeln und Sitten. [17] Diese zu erklären, hielt man für die nächste Pflicht und hat dabei das Bedürfnis berücksichtigt, das aus Fragen und Einwendungen deutscher Hörender und Lesender hervorging. [18] Ein angefügtes Register bezeichnet die Seite, wo dunkle Stellen vorkommen und auch wo sie erklärt werden. [19] Dieses Erklären aber geschieht in einem gewissen Zusammenhange, damit nicht abgerissene Noten, sondern ein selbstständiger Text erscheine, der, obgleich nur flüchtig behandelt und lose verknüpft, dem Lesenden jedoch Übersicht und Erläuterung gewähre. [20] Möge das Bestreben unseres diesmaligen Berufes angenehm sein! [21] Wir dürfen es hoffen: denn in einer Zeit, wo so vieles aus dem Orient unserer Sprache treulich angeeignet wird, mag es verdienstlich erscheinen, wenn auch wir von unserer Seite die Aufmerksamkeit dorthin zu lenken suchen, woher so manches Große, Schöne und Gute seit Jahrtausenden zu uns gelangte, woher täglich mehr zu hoffen ist. Werner Holly Sprachkritik als sozialer Stil Johannes Gross als Sprachkritiker „von oben herab“ Sprachkritik hat vielerlei Motive und entsprechend unterschiedliche Aufgaben. Hier wird gezeigt, wie ein bestimmter Typus Sprachkritik im Dienste sozialer Stilisierung betrieben wird, und zwar anhand von Texten des Publizisten Johannes Gross, der von 1981-1999 im „Magazin“, einer Beilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, so genannte „Notizen“ verfasst hat, die später auch in Buchform veröffentlicht wurden. Es geht bei solcher Sprachkritik darum, sich die Zugehörigkeit zu einer Distinktionsklasse im Sinne Bourdieus zu sichern und seinen Lesern eine entsprechende Identität zu verheißen. Dabei steht die unreflektiert abbildtheoretische Grundlegung von Sprache im Widerspruch zu der gleichzeitig entfalteten Sensibilität für ihre soziale Geprägtheit, angesichts des beträchtlichen intellektuellen Niveaus des Autors nur erklärbar durch den Hang zur ungehemmt elitären Selbstdarstellung. 1. Publizistische Sprachkritik: die Notizen von Johannes Gross Kritik ist meistens unangenehm, auch Sprachkritik. „Jede Kritik stößt auf empfindliche Adressaten, besonders wenn es um die Sprache geht; denn die Sprache ist den Menschen wie eine zweite Haut.“ (Wimmer 2003, S. 418). Wie die erste haben wir sie uns nicht ausgesucht, sondern mitbekommen; wir tragen sie am Leib, ohne allzu viel über sie nachzudenken, jedenfalls tun wir es nicht im Alltag, solange die sprachliche Verständigung klappt und wir die Sprachhaut nicht im Spiegel sehen müssen. Der Sprachkritiker hält aber den Spiegel vor und er mäkelt herum, er urteilt, er tadelt und er belehrt. Das mag der Grund dafür sein, dass Sprachkritiker leicht in den Verdacht geraten, besserwisserisch, pedantisch, ja arrogant zu sein, und sehr oft sind sie es auch. Andererseits tun sie gut daran, ihre Kritik nicht allzu selbstsicher vorzutragen, denn sie sitzen im Glashaus. Für sie ist Dünnhäutigkeit nicht angebracht, eher allerlei Imprägnierung und Immunisierung der eigenen Schwächen. Der Sprachkritiker spricht und exponiert sich dabei und kann bei den Sünden erwischt werden, die er aburteilt, oder bei noch anderen: Sprachkritik ist „Holzfeuer in einem hölzernen Ofen“, so die schöne Formel von Fritz Mauthner; sie lieferte in den frühen 80ern den Titel für eine Aufsatzsammlung (Heringer (Hg.) 1982), in der Rainer Wimmer erste „Überlegungen zu den Aufgaben und Methoden einer linguistisch begründeten Sprachkritik“ darge- Werner Holly 306 legt hat (Wimmer 1982). Dabei ging es ihm aber nicht darum, der Linguistik einen Alleinvertretungsanspruch zu sichern oder gar einen Obergutachterstatus über andere Formen der Sprachkritik: Das sprachkritische Geschäft, so wie es tagtäglich in den Medien, in der Politik, im Schulunterricht, in den Wissenschaften und in vielen anderen öffentlichen und auch privaten Lebensbereichen betrieben wird, ist [...] natürlich nicht angewiesen auf ein Engagement der Sprachwissenschaftler. [...] es wird mehr oder weniger gekonnt und mit mehr oder weniger Erfolg von den Sprechern betrieben aufgrund ihrer sprachreflexiven Kompetenz, die Teil der normalen Sprachkompetenz ist. Eine wichtige Aufgabe der wissenschaftlichen Sprachkritik liegt darin, diesen Kompetenzbereich zu erforschen und zu zeigen, welche Rolle die sprachkritische Kompetenz für die Bewältigung alltäglicher kommunikativer Aufgaben spielt. (Wimmer 1982, S. 290f.) Natürlich ist die publizistische, die feuilletonistische Sprachkritik nicht auf fachspezifisches Wissen und schon gar nicht auf fachliche Belehrung aus und sie ist - wie auch neuere Beispiele belegen - offensichtlich unersetzlich. Die Sprache gehört schließlich allen, genauso die Sprachkritik. „Und es bleibt dabei: Sprachkritik ist für alle da und nicht nur eine Sache für Experten.“ (Wimmer 2003, S. 425). Wenn ich mich hier mit einem solchen publizistischen Sprachkritiker beschäftige, noch dazu mit einem viel gerühmten, mit Johannes Gross, dann nicht, um ihn in diesem oder jenem Punkt zu bestätigen oder zu widerlegen, sondern um - im Sinne von Wimmers Aufgabenbestimmung - nach der „Rolle“ seiner „sprachkritischen Kompetenz für die Bewältigung alltäglicher kommunikativer Aufgaben“ zu fragen. Wie und wozu dient solcherlei Sprachkritik? Um einen ersten Eindruck ihrer Kunst zu geben, zitiere ich drei kurze Beispiele, aus dem letzten der insgesamt vier Bände, die der Autor im Lauf der Jahre mit „Notizen“ aus dem Zeitraum von 1980 bis 1999 herausgebracht hat; es handelt sich dabei um kurze und kürzeste Textstückchen, die ursprünglich im „Magazin“, einer Beilage der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, erschienen waren: 1 (1) Eine geheime Offenbarung ist keine, sondern ein Scherz mit dem Leser. (II, 142) (2) „Bildende“ Kunst. Ein deutsches Sonderwort, kein gutes. (II, 87) (3) Ein alter Freund trägt Grüße an „deine Gattin“ auf, die Wendung kommt mir liebenswürdig-altmodisch vor. Redet ein Fremder von „Ihrer Gattin“, deklassiert er sich. (II, 32) 1 Zitierformel: I (= Gross 1990) bzw. II (= Gross 1999), Ziffer des Textstücks. Sprachkritik als sozialer Stil 307 Die drei Beispiele mögen die These illustrieren, die ich hier verfolge, dass Johannes Gross Sprachkritik im Dienste sozialer Stilisierung betreibt, und zwar im Sinne eines deutlich markierten „gehobenen“ Stils, der auf der Basis beträchtlicher sprachlicher Fähigkeiten auch sprachliche Kritik dazu benutzt, sich die Zugehörigkeit zu einer Distinktionsklasse im Sinne von Bourdieu (1982) zu sichern und um damit zugleich seinen Lesern, die sich mit ihm identifizieren, eine entsprechende elitäre Identität zu verheißen. In einer früheren Arbeit (Holly 2001b) habe ich den generellen Typus dieser Notizbuchtexte entsprechend beschrieben; hier soll es nun speziell um die sprachkritischen Anmerkungen gehen, die bisher ausgespart worden waren, speziell um ihre (sozio-)stilistischen Implikationen. Dabei beziehe ich mich ausschließlich auf Beispiele aus dem 2. und dem 4. Band (Gross 1990, 1999). Immunisierend wirkt in diesen Textstückchen vor allem die leichte Hand, mit der sie gestaltet sind, der ironische und pointenreiche, manchmal auch selbstkritische Ton des Aphoristischen, der um des Witzes willen überzeichnen und radikalisieren darf, selbst auf die Gefahr hin, widersprüchlich zu sein, - auch die demonstrativ unangestrengte Entfaltung von Geist und Bildung. Und doch, bei aller scheinbaren Beiläufigkeit und Beliebigkeit von Themen und Anlässen, ist da eine Linie in der sprachkritischen Ausrichtung erkennbar, die es lohnend macht, dass man ihr folgt, denn sie zeigt typische Züge einer bei „Gebildeten“ gelegentlich anzutreffenden Einstellung zu Sprache, die ihrerseits kritikwürdig ist: die unreflektiert abbildtheoretische Grundlegung, die immer in Widerspruch gerät zu der gleichzeitig praktizierten Sensibilität für die soziale Geprägtheit von Sprache, und schließlich die durchgängige Funktionalisierung von Sprachkritik für die nahezu hemmungslose elitäre Selbstdarstellung und Distinktionsarbeit. 2. Von „richtigen“ und „falschen“ Wörtern Den eher vorsichtigen, meist deskriptiv ausgerichteten Sprachwissenschaftler verblüfft vor allem die Chuzpe und Nonchalance, mit der ein Sprachkritiker wie Gross bei Bewertungen vorgeht. Wie schon oben im Beispiel (2) wird scharf und manchmal sogar mit heftiger Emotion geurteilt: „ein [...] Sonderwort, kein gutes“. Wörter sind „ungeschickt gewählt“ oder werden bestimmten Aspekten des bezeichneten Sachverhalts „nicht gerecht“ (I, 277), sind „unerlaubt“ (I, 290) oder „auf unverständliche Weise“ (I, 354) gebildet, „durch pedantisches Agglutinieren deutscher Wörter oder, am übelsten, als schlichte Übernahme englischer Akronyme“ (I, 354), sind „verdächtig“ (I, 458), „unoriginell, unspezifisch“ (I, 492), oder ganz einfach „dumm“ (I, 173). Es gibt Werner Holly 308 ein „altes, doch widerliches, schleimüberzogenes“ Wort (Seelsorger, II, 297), das außerdem „nicht nur dubios, sondern abstoßend“ ist (II, 386); eines „geht [...] dem Deutschen schwerer von der Zunge“ (Fernsprechhäuschen, II, 392). Eine Wendung ist „keine geglückte“ (vorübergehend geschlossen, II, 64), eine „klingt recht, ist es aber nicht“ (Den Armen Gerechtigkeit! , II, 599), am schlimmsten sicherlich „eine Erfindung von dummen Linken“ (real existierender Sozialismus, I, 290). Im positiven Fall wird mit Wörtern oder Wendungen „richtig benannt“ (I, 183), „trefflich bezeichnet“ (I, 186), Begriffe sind „deutlich“ (I, 131), „nicht übel, zutreffender“ (I, 227), „glücklich“ (I, 344), „frisch“ (I, 528), „heimelig“ (II, 392); positive Wertungen sind „ehrlich“, „gefällig“, „angemessen“ (II, 368). Es ist unschwer zu erkennen, dass hier die zeichentheoretisch alte repräsentationistische Konzeption der Trennung von Sachen und Zeichen vorherrscht: „Aliquid stat pro aliquo.“ - Das Zeichen soll stehen für etwas, von dem man auch vorsprachlich zu wissen scheint, wie es wirklich ist. Das mag für einfache Gegenstände noch angehen, die man sinnlich wahrnehmen, sehen, hören, riechen, schmecken, ertasten kann, wenn auch notwendig perspektivisch und ausschnitthaft, wird aber rasch absurd bei allen abstrakteren Dingen und Sachverhalten, bei denen unstrittig sein sollte, dass sie kognitiv nur abgeleitet, konstruiert und mehr oder weniger anschaulich in metaphorischen Modellen erfasst werden können. Die so geübte Kritik an Wörtern und Wendungen greift ohnehin nur bei solchen, denen man irgendeine Art von Motivation unterstellen kann. Trotz dieses Sachverhalts konstruiert die aristotelische semiotische Tradition - so Jäger (2004, S. 29) - in der Trias von Dingen, Erkenntnisinhalten und Worten eine doppelte Repräsentation: „Einmal bilden die (für alle identischen) Erkenntnisinhalte die (für alle identischen) Dinge ab, um ihrerseits durch die Worte in verschiedenen Sprachen verschieden abgebildet zu werden.“ Sprachkritik auf abbildtheoretischer Basis kennt dementsprechend zwei Ansatzpunkte (Heringer 1982a, S. 16): Entweder sollen schon die Erkenntnisinhalte (die Begriffe, die Ideen) falsch sein, und die Wörter, die diese Begriffe immerhin angemessen ausdrücken, verraten dies; oder: Die Erkenntnisinhalte hält man zwar für richtig, sie seien aber von den Wörtern falsch ausgedrückt. Lässt man einmal die entscheidende Frage beiseite, wie diese Irrtümer eigentlich konsensuell festgestellt werden können, wenn man doch damit rechnen muss, dass empirische Überprüfungen kaum möglich sind und andere andere Meinungen dazu haben, dann wird beim Geschäft derartiger Sprachkritik nicht immer ganz klar, wo jeweils das Problem genau lokalisiert wird. Sprachkritik als sozialer Stil 309 Auch Johannes Gross scheint sich nicht ganz sicher zu sein, wo er das Problem festmachen soll. Nicht zufällig kommt dies zum Vorschein im Zusammenhang mit dem - bei sprachtheoretisch arglosen Kritikern beliebten - Zitat, das Konfuzius zugeschrieben wird (Konfuzius 1998, XIII , 3, S. 79) und das falsche Begriffe und/ oder falsche Worte für allerlei Schieflagen im Staate verantwortlich macht (siehe auch Heringer 1982a, S. 24). Gross hatte es zunächst zu einer klugen und durchaus kritischen Bemerkung darüber genutzt, dass diese Diagnose die Herrschaftsinteressen einer bestimmten Gruppe befördert habe, und argumentiert deshalb - immer bereit zu einem unabhängigen Standpunkt - mit einem „Bildungsflitter“-Verweis auf Hegel dagegen: (4) Der berühmte chinesische Satz „Zuerst müssen die Begriffe stimmen“ entspricht sehr genau dem Interesse einer Mandarinsherrschaft, die auf diese Weise ihre Unentbehrlichkeit demonstriert. Es sind vorzüglich funktionierende Staaten in der Geschichte vorgekommen, die niemals zu deutlichen Begriffen ihrer selbst gekommen sind. Im Gegenteil; wie Hegel sagt, tritt die Eule der Minerva ihren Flug erst in der Dämmerung an, die deutliche Herausbildung der Begrifflichkeit eines politischen Systems gehört eher der Phase seiner Dekadenz an. (I, 131) Dann aber, wenig später, greift er in leicht verfremdendem scherzhaft-spöttischem Ton eine Korrektur auf, die ihm offensichtlich zugegangen war, dass nämlich nicht die Begriffe, sondern die „Namen“ oder „Bezeichnungen“ bei Konfuzius gemeint seien: (5) Meine Bemerkung, des Konfuzius Erinnerung, die Begriffe müßten stimmen, passe den politischen Mandarinen als Legitimation gut ins Geschäft, hat den Weisen Wi auf den Plan gerufen. Ohne auf die Verwertung des Konfuzius durch die Mahner und Warner einzugehen, macht er darauf aufmerksam, daß Meister Kung nicht recht verstanden werde. In dem Text der Confucian Analects ist nicht von „Begriffen“ die Rede, sondern von Namen oder Bezeichnungen; es ist nicht gefordert, daß Intellektuelle die Politik durchdringen, sie begrifflich aufladen - Dinge, Personen, Funktionen müssen richtig benannt sein, dem Namen gerecht werden, dann ist gute Regierung möglich. „Der Fürst soll Fürst, der Minister Minister, der Vater Vater und der Sohn Sohn sein.“ Was Konfuzius meinte, steht bei Thukydides III , 82. (I, 159) Hier scheint es nun nicht mehr nur um Sprachkritik zu gehen („richtig benannt sein“), sondern außerdem um angemessenes Verhalten von Personen, die „dem Namen gerecht“ werden müssten, mit Bezug auf ein anderes ebenso berühmtes Zitat (Konfuzius 1998, XII , 11, S. 74). Aber auch die Forderung nach „richtigen Benennungen“ bleibt natürlich leer, weil es dafür kaum plausible Kriterien geben kann, es sei denn man meint damit ‘motivierte’ Bezeich- Werner Holly 310 nungen, also etwa Wortbildungen, die durch die usuellen Bedeutungen ihrer Teile Hinweise auf die Gesamtbedeutungen enthalten, vor allem solche heimischen Bezeichnungen, die sich dem Muttersprachler leicht erschließen. Aus dem „Wörtlich-Nehmen“ wird dann auch die Methode der Kritik, denn so lässt sich ermitteln, ob das Wort die Sache - wie es die implizite Theorie vorsieht - angemessen abbildet. Hier zwei Beispiele: Aussitzen, womit man gerne Kanzler Kohls Krisenbewältigungsstil charakterisierte, wird getadelt, weil sitzen nicht aktiv genug klingt, Falschfahrer als bürokratischer Ausdruck wird getadelt, weil es unspezifischer als das Volksmundwort Geisterfahrer sei: (6) Das Wörtlein „aussitzen“ ist ziemlich alt. [...] Als politische Vokabel ist es erst in dieser Legislaturperiode zu Ansehen gekommen. Man meint, daß der Kanzler, der doch im Faust sagt „Entschlüsse sind nicht zu vermeiden“, einen Streit, eine Krise sich hinschleppen lasse, untätig bleibe, bis die Malaise am allgemeinen Überdruß erstorben sei; statt ein sogenanntes Machtwort (eine andere Eigentümlichkeit unserer politischen Sprache) zu sprechen. Das Wort ist ungeschickt gewählt und wird der dem Aussitzen innewohnenden politischen Leistung nicht gerecht. Statt dessen empfehle ich den samischen Begriff „ausreiten“. [...] (I, 277) (7) In amtlichen Verlautbarungen wird der vom Volksmund geprägte „Geisterfahrer“ gemieden. Im Deutsch der Rundfunkanstalten und Behörden heißt er „Falschfahrer“. Der Ausdruck ist unoriginell und unspezifisch, falschfahren kann man auf mancherlei Weise, wahrt aber die Prärogative der Obrigkeit: Sie sagt dem Volk, wie es sich auszudrücken hat. - Immerhin, nach vielen Jahrzehnten, hat die Post vor der Entscheidung ihrer Kunden halbwegs kapituliert, die lieber vom Telefon als vom Fernsprecher reden. (I, 492) Das Typische an dieser Art von Sprachkritik ist die Überzeugung, die eigene Position im Falle von Bedeutungs- oder hier Bezeichnungskonkurrenzen (dazu Klein 1989) sei besser legitimiert, wenn sie als Argumente scheinbar sprachinhärente Kriterien wie Sachangemessenheit oder Spezifik anführt, die aber nur unter der falschen Voraussetzung der Abbildtheorie funktionieren. Natürlich ist die Bewertung des Kohlschen Verhaltens als „politische Leistung“ oder eben als politisches Versagen keine Frage der Sprache und nicht auf dem Wege der Sprachkritik zu klären. Selbst wenn man mit Gross der Meinung wäre, es handle sich um eine Leistung, gibt es keinen Grund, diese nicht im Sitzen zu vermuten. Natürlich ist auch der Ausdruck Geisterfahrer nicht spezifischer als Falschfahrer, allenfalls anschaulicher, denn auch Geister könnten beim Fahren durchaus alles Mögliche falsch machen, nicht nur die falsche Autobahnseite benutzen. Was diese Wörter bedeuten, entnehmen wir nicht nur ihren Komponenten, sondern den Kontexten ihres Gebrauchs und Sprachkritik als sozialer Stil 311 ihren Relationen zu andere Zeichen. Dass mit aussitzen gerade durch die paradigmatische Relation zu sitzen eine kritische Haltung gegenüber der Untätigkeit des Kanzlers, mit Falschfahrer im paradigmatischen Kontrast zu Geisterfahrer eine behördliche Stilisierung einer Verkehrsmeldung als seriöse und ernstzunehmende Information zum Ausdruck gebracht werden soll, beeinträchtigt keineswegs das Verstehen der Verwender, sondern stützt es. Das Typische an dieser Art Sprachkritik ist auch, dass sie sich gegen Bevormundung anderer, hier z.B. der „Obrigkeit“, verwahrt, sich selbst aber ständig die Rolle des Vormunds anmaßt. In Variation des Titels eines Aufsatzes von Heringer (1982b) könnte man diese Haltung überschreiben mit: „Normen? Nein - außer meinen! “. Zweifel an der Brauchbarkeit des „Wörtlichkeitsprinzips“ kommen allenfalls auf, wenn andere es bemühen: (8) Ein Leser rügt, daß ich vor kurzem die Wendung „sie tauschten sich aus“ gebraucht habe. Gewiß: niemand tauscht sich wirklich aus. Aber auch „Meinungen austauschen“ trifft's nicht. Sie werden nicht ausgetauscht, sondern nur vorgezeigt. (I, 930) Dass die Argumente eines derart normresoluten Kritikers auch ins andere Extrem führen können, zeigt ein plötzliches Plädoyer für Neuschöpfungen mit noch unbesetzten Lautfolgen. Angesichts von Neologismen, die er für unverständlich hält, ist er sogar offen für konsequente Arbitrarität: (9) Ständig werden Neologismen gebildet, auf höchst unverständliche Weise. Entweder im Rekurs auf die alten Sprachen und damit nur für einen von zweihundert Deutschen verständlich, oder durch pedantisches Agglutinieren deutscher Wörter oder, am übelsten, als schlichte Übernahme englischer Akronyme ( AIDS ). Angesichts der allgemeinen Funktionalisierung der Sprache wäre es doch unbedenklich und viel menschenfreundlicher, bislang im Deutschen nicht mit Sinn belegte Lautkombinationen als Neubegriffe einzuführen; schon die Zahl der einsilbigen Lautverbindungen, die noch bedeutungsfrei sind, bildet ein fast unerschöpfliches Reservoir - git, lub, som, tink, piel, prust, fohl - ont su on. (I, 354) Was die Ausdrücke bedeuten und wie sie angemessen lauten müssen, ergibt sich also nicht aus ihrer mehr oder weniger „treffenden“ Beziehung zu Sachen oder Sachverhalten, die letztlich nur symbolisch erschließbar sind, sondern aus ihrem Gebrauch und ihrer Position im System in Relation zu anderen Ausdrücken, die uns außerdem Hinweise auf die jeweilige Perspektivierung der Sache oder des Sachverhalts geben. Ein zuverlässigeres Fundament der Bedeutungsgenerierung ist demnach die Systemhaftigkeit von Zeichen, die schon bei de Saussure die Idee einer autonomen Zeichen-Welt-Beziehung ersetzt, wenn er feststellt, „dass die sprachlichen/ linguistischen Symbole keine Werner Holly 312 Beziehung zu dem haben, was sie bezeichnen sollen“; vielmehr „haben sie ihren Wert allein in ihrer gegenseitigen Differenz“ (so in der posthum veröffentlichten Note 10, abgedruckt in: de Saussure 1997, S. 323f.). Wie eine nicht-repräsentationistische Zeichentheorie, die auch medientheoretische Implikationen reflektiert, Bedeutungsgenerierung modellieren könnte, entwirft Ludwig Jäger in seiner Theorie der „Transkriptivität“, die Bedeutungen auf zeicheninterne „Bezugnahmepraktiken“ zurückführt: Ehe es also Medienakteuren möglich ist, mit Zeichen auf die Welt zu referieren, muss das Spiel der Bezugnahme von Zeichen auf Zeichen möglich sein, müssen die Bedeutungen von Zeichen in dem Sinne verfügbar sein, dass ihre Vernetzung mit anderen Zeichen im System einer Sprache oder eines nichtsprachlichen Mediensystems aufgerufen, also das semantische Netzwissen bei Bedarf transkriptiv in Bezugnahmehandlungen aktiviert werden kann. (Jäger 2007, S. 4) Für Sprachkritik im Stil von Johannes Gross gilt nun aber: Auch wenn sie sprachtheoretisch auf tönernen Füßen steht, - im „Spiel der Bezugnahme von Zeichen auf Zeichen“ zeigt sie durchaus Beachtliches. Denn für „Differenzen“, für die Markierung der „feinen Unterschiede“ ist bei Gross das sprachliche Sensorium ausgeprägt; nicht zuletzt seinem sprachlichen Vermögen verdankt er die gelungene Selbstpositionierung in den oberen Rängen der Publizistik, aus der auch die selbstsichere Sprachkritik ihre Legitimation bezieht. In vielen der Texte zeigt er ein besonders feines Gespür für die „Ausdrucksbildung“, für die „soziale Geprägtheit“, für die „soziale Gestalt“ von Sprache, wie sie Feilke (1996) sehr überzeugend in der Typik idiomatischer Ausdrücke einer Sprache gefunden und sprachtheoretisch auf den Begriff gebracht hat; es verwundert deshalb nicht, dass ein Großteil der Sprachkritik von Gross der Betrachtung der sozialen Implikationen von Wortbildungen und Phraseologismen gilt. 3. Soziokulturelle Feinheiten der Ausdrucksbildung Wenn die Kritik an Ausdrücken vom Typ vorübergehend geschlossen (II, 64), geheime Offenbarung (II, 142), feiger Mord (II, 156) oder entartete Kunst (II, 200) mit nur logisch schiefen, widersprüchlichen, heute nicht mehr zutreffenden oder ungewollt doch anerkennenden (auch „entartete Kunst“ ist Kunst) Prädikaten zu tun hat - sie sind immerhin Belege für den aufmerksamen Sprachbenutzer -, geht es in den folgenden Stückchen doch um noch anderes, nämlich um sozial- und kultur-sensitive Interpretationen aus der Perspektive eines „honetten Menschen“, eines Individualisten, der sich weder moralisch gängeln noch von Euphemismen blenden lässt: Sprachkritik als sozialer Stil 313 (10) Früher würde man gesagt haben „das lohnt sich nicht“. Heute heißt es, „das rechnet sich nicht“. In dem alten Ausdruck steckt ein Element des Subjektiven, ein Stück persönlichen Urteils. Die neue Wendung, der Intention nach dasselbe wie die alte, statuiert objektive Unmöglichkeit. (I, 616) (11) Über seinen Schatten springen kann niemand. Wem es dennoch angeraten oder abverlangt wird, soll etwas tun, das seinem Charakter oder seinem Interesse zuwider läuft. (II, 171) (12) „Der legt sich ins gemachte Bett“, sagt ein anderer vorwurfsvoll - als ob ein honetter Mensch sich nur in ein ungemachtes legen dürfte. (II, 553) (13) Eine der dümmsten Wendungen der öffentlichen Sprache ist die von den „unschuldigen Opfern“. Bedenklich auch die Redeweise „unverschuldet in Not geraten“. Dahinter steckt das unstillbare Bedürfnis, erst einmal zu moralisieren, bevor man an Hilfe denkt. Der Heiland hat, wie die Evangelien erzählen, nicht moralisiert; aber darin sind ihm die Christen nicht gefolgt. (I, 741) (14) „Er war ein Mann der ersten Stunde.“ Das ist eine arme Lobpreisung, der kein Verdienst innewohnt; meist ist gemeint, daß einer der erste Vorgänger seiner Nachfolger gewesen. (II, 440) (15) Ein Mann mit Ecken und Kanten ist ein Flegel, den man nicht beleidigen will, kann oder darf. Mann der ersten Stunde heißt doch meistens: der folgenden nicht mehr, der heutigen bestimmt nicht. Der Mann von altem Schrot und Korn ist auch der vom alten Eisen. (II, 546) Hier wird von Ausdrücken auf bestimmte soziale Handlungsweisen geschlossen: das Vorschieben von Notwendigkeit, die Zumutung, gegen eigene Interessen zu handeln, der falsche Vorwurf von Bequemlichkeit, falsches Moralisieren oder Loben, - aus solchen Anmerkungen, so verschieden auch die Gegenstände sein mögen, mit denen sie sich beschäftigen, spricht doch die Überzeugung, dass Sprachliches Ausdruck von sozialen Verhaltensweisen, von gesellschaftlichen Verhältnissen, von Kultur ist. Man gewinnt den Eindruck, dass es Gross eigentlich um Gesellschafts- und Kulturkritik geht, für die ihm solche Ausdrucksbildungen willkommene Anlässe sind. Nicht selten zielt er explizit auf die deutschen Sprachverhältnisse, 2 die er mit denen anderer Länder mit anderen Sprachen vergleicht. Was spätestens seit Humboldt - gegen verbreitete universalistische Vorstellungen - als Einsicht in die folgenreichen „Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues“ (1827- 1829) Eingang in die Sprachtheorie gefunden hat und neuerdings wieder unter 2 Siehe die Stücke I, 58, 110, 319, 321, 354, 414, 492, 566, 575, 581; II, 87, 113, 149, 156, 351, 360, 369, 385, 392, 443, 456, 506, 513, 515, 526, 550, 585, 600, 602, 625, 655, 707, 708, 725, 728. Werner Holly 314 dem Begriff der „sprachlichen Relativität“ (Werlen 2002) diskutiert wird, dass nämlich die sprachlichen Verschiedenheiten zugleich Verschiedenheiten von „Weltansichten“ sind (Humboldt 1820 [1968], S. 27), ist bei Gross zunächst sehr simpel und lakonisch unter „Geist der Sprachen“ gefasst und wird am Phänomen der „false friends“ festgemacht, wo die „Anmutung eines Wortes“ in die Irre führt, eigentlich ein Lehrstück in Sachen Arbitrarität und Beleg für die Vergeblichkeit der Suche nach dem „angemessenen Ausdruck“, in seinen Ohren allerdings nur die Disqualifikation für mögliche Entlehnung: (16) Geist der Sprachen. Penible Empfindung, profunder Enttäuschung nicht unähnlich, wenn sich die Anmutung eines Wortes aus einer verwandten Sprache als ganz irreführend erweist. Das amerikanische feisty glaubt man zu verstehen, doch bedeutet es im Gegenteil lebhaft, überschäumend, aufdringlich; tacky klingt wie Peitschenknall, man meint, durchaus positiv, Anspornendes, Forderndes herauszuhören, und erfährt, daß es soviel wie armselig, schäbig oder geschmacklos sagt. Solche Vokabeln werden im eigenen Sprachschatz nicht heimisch. (I, 108) So hartnäckig wirkt die Idee fort, dass es auch in Fremdsprachen zuverlässige Laut-Bedeutungsentsprechungen geben müsse oder doch andere Formen der Motiviertheit, auch wenn ihm Beispiele für das extreme Auseinanderklaffen von Gebrauchsweisen (bei ihm so genannte Janus-Wörter wie to oversee oder sanktionieren; II, 456, 515) bekannt sind und sogar das Schulbeispiel für die Grenzen des onomatopoetischen Motiviertheits-Prinzips: (17) Das herzliche deutsch-französische Einvernehmen, das auch durch europäische Einigungsvorgänge kaum noch zu erschüttern ist, bleibt beim Betrachten der Unterschiedlichkeit der Nationen noch immer mirakulös. Nicht nur, daß die Tiere anders Laut geben, von der Katze bis zum Hahn, der auf deutsch Kikeriki ruft, aber auf französisch cocorico, [...] (II, 585) Hier stehen die sprachlichen Beispiele (neben hier weggelassenen Sprach- Bild-Motiven), um die „Unterschiedlichkeit der Nationen“ zu illustrieren. So werden immer wieder sprachliche Belege für soziale und kulturelle Differenzen betrachtet, auch unter Heranziehung der Etymologie, die den Kontrast zwischen den Einzelsprachen noch verdeutlicht: (18) Das englische Wort sad, das unglücklich oder traurig bedeutet (früher einmal auch faul), hat den gleichen Ursprung wie unser Wort satt, nämlich das lateinische satur. Der Bedeutungswandel zeigt an, wo Leute schon früher genug hatten und sich der Überdruß aufs Gemüt legte - und wo die erste Bedeutung in Geltung blieb, weil der Küchenmeister Schmalhans hieß. Hungry kann im Englischen auch einer genannt werden, der sich durch Sprachkritik als sozialer Stil 315 Fleiß, Energie und Ehrgeiz hervortut; erst ganz gelegentlich, und nur für die jungen Aufstreber, findet dieses Wörtlein (hungrig) Eingang ins Reden der Wirtschaftspersonen. (II, 269) (19) Zeitvertreib. Den gibt es in anderen Sprachen nicht, jedenfalls nicht in denen, die ich kenne. Da heißt es pastime, passe-temps, passa-tempo oder pasatiempo - die Zeit wird verbracht, nicht vertrieben. Ein Zeitvertreib, der einer ist, macht die Zeit vergessen; es wird gar nicht bemerkt, daß sie verrinnt, vergeht. (II, 330) Der kritische Gestus ist hier nicht mehr so sehr normierend, entlarvend, was sich zuvor in Formulierungen niederschlug wie „dahinter steckt“ (13), „ist gemeint“ (14), „heißt doch“ (15), sondern eher kritisch im Sinne von unterscheidend, Aufmerksamkeit weckend, belehrend-aufklärerisch. Ganz nebenbei wird natürlich auch umfassende Bildung, gepaart mit sprachlicher Weltläufigkeit, demonstriert. Aber das eigentliche Feld des sprachlichen Gespürs von Johannes Gross ist der alltägliche Umgang in den „gesellschaftlichen“ Begegnungen, diese machen seine Welt aus. Den meisten Enthusiasmus im Entlarven entwickelt er typischerweise in der Abrechnung mit den Routineformeln aus dem Sprachschatz der bürgerlichen Höflichkeiten in der Konversation, wo man sich - wie Goffman in seinen Arbeiten zur „rituellen Ordnung“ gezeigt hat (Goffman 1967, dazu Holly 2001a) - immer auf einem schmalen Grat zwischen pflichtgemäßen Aufmerksamkeiten und potenziellem Kleinkrieg um Platzvorteile bewegt. Die Herstellung, Aufrechterhaltung und Beendigung von Gesprächsbegegnungen ist ein heikles Terrain, das mit gutem Grund zu einem Teil in standardisierten Phraseologismen abläuft. Hier findet Gross mit seiner Methode des subtilen Perspektivwechsels reiche Betätigungsmöglichkeiten, immer im Dienste der Abgrenzung „nach unten“, wo vor allem die „einfachen zutraulichen Leute“, die „Kleinbürger“ störende Nachbarn sind; das betrifft zunächst sowohl Routinen der Eröffnung und Begrüßung als auch der Beendigung: (20) Kenne ich Sie nicht von irgendwo? Kennen wir uns nicht von irgendwoher? Das zweite ist die manierlichere Variante, doch gehören diese Sätze zu den lümmelhaften Freundlichkeiten, an denen das Deutsche so reich ist. Das scheinbekannte Gegenüber wird zum Wühlen in der Erinnerung gezwungen, gar zur Preisgabe der Personalien. Ähnliche Wendungen kommen auch in anderen Sprachen vor, im Amerikanischen beispielsweise, sind aber eher Sache der einfachen, zutraulichen Leute, von denen gesellschaftliche Behendigkeit nicht erwartet wird. (II, 550) (21) Hätten Sie mal ne Minute Zeit? Vorsicht! Da will einer lästig sein, und nicht nur eine Minute. (II, 288) Werner Holly 316 (22) „How do you do? “ ist keine Frage, sondern eine Vorstellungsformel, die ebenso sinnlos beantwortet wird. Auf die Frage „How are you? “ ist nur die Zusicherung zulässig, daß es gut gehe. „Comment ça va? “ wird unter guten Bekannten gefragt und kann mit „ça va“ beschieden werden. Die lieben Deutschen geben auf die Frage nach dem Wohlbefinden ernsthafte Auskünfte und provozieren den Ausbruch jener fürchterlichen Neugierde, die sich als Teilnahme tarnt. (II, 655) (23) Zu den Grußformeln im Deutschen findet sich bei Ernst Jünger („Siebzig verweht V“) folgender Beitrag: „Lakonische Begrüßung: ‘Wie gehts? ’ ‘Muß! ’“ Leser Hüter trägt die wichtige Frankfurter Variante bei: Ei, gude, wie? In der eiligen Fassung: Ei, wie? Bei mehrfacher Begegnung gleichen Tags genügt auch: Ei? , worauf der Begrüßte antwortet: Ei, gud. Die Kürzestform einer Frankfurter Begrüßung heißt immer: Ei? Die Frankfurter Fassung unterscheidet sich wohlgefällig von der kleinbürgerlichen Normalfrage nach dem Befinden dadurch, daß keine Auskunft als Antwort erwartet wird; ähnlich diskret ist die oft zu hörende Antwort auf die niederrheinische Frage „Wie is et? “, aus der Gegenfrage bestehend: „Wie soll et sein? “ (II, 725) (24) Können Sie mich einen Augenblick entbehren? So darf doch nur einer fragen, der sich unentbehrlich vorkommt oder dessen Abwesenheit schmerzlich ist. (II, 670) Hier geht es zum einen darum, dass für ihn bestimmte Floskeln nur sehr eingeschränkt oder nur dem äußeren Anschein nach „manierlich“ sind, in Wirklichkeit aber „lümmelhafte Freundlichkeiten“: Sie betreffen meist das schwer zu bestimmende rechte Maß von Nähe und Distanz, das immer Gegenstand von diffizilen Aushandlungsprozessen ist und von allen Beteiligten balancierendes Geschick erfordert (20, 21). Im anderen Fall schlägt sich dies in unterschiedlichen kulturellen Gewohnheiten nieder, wie weit der bestätigende Austausch zur Beziehungskonstitution am Beginn einer Begegnung das aktuelle Befinden explorieren sollte. Der für Gross angemessene Stil scheint sich nicht in „kleinbürgerlichen“ deutschen Normalgewohnheiten zu finden, eher in angelsächsischen und französischen, aber auch in bestimmten regionalen Sitten. Es erstaunt nicht, dass die Differenzierung mit der Abgrenzung „nach unten“ in seinen Augen mehr Distanz verlangt, als er vorfindet (22, 23). Die zweite immer geforderte Balance ist die zwischen Selbstrespekt und Selbstüberschätzung, die er beim Anschein selbst zugeschriebener Unentbehrlichkeit vermutet (24). Ein weiteres Kritik-Feld ist das Rederecht und als besonders schwierig gilt erwartungsgemäß der Umgang mit Meinungsverschiedenheiten oder gar Streitigkeiten: Sprachkritik als sozialer Stil 317 (25) „Lassen Sie mich bitte ausreden! “ Das ist ein Ausruf, der selten Gutes verheißt. Da will einer selber bestimmen, wie lang er reden dürfe und die andern schweigen müssen, oder stellt sich ein Gespräch als Abfolge von Monologen vor. Das Leben selber läßt niemanden ‘ausreden’; in andern Sprachen ist gar kein Wort für das maßlose Verlangen vorrätig, nur die oft begreifliche Bitte möglich, einen Gedanken zum Ende bringen zu können. (II, 215) (26) Empört höre ich jemand sagen: Widersprechen Sie mir doch nicht immer! Dabei hatte der andere seinen Widerstand noch gar nicht kundgetan. Die Zurückweisung des antizipierten Widerspruchs ist eine beliebte Redefigur, besonders bei den Eingeübten des öffentlichen und privaten Streits. (II, 678) (27) Ich bin mir nicht sicher, daß dies die richtige Antwort ist. Wer so redet, will sagen, er sei sich ganz sicher, daß es die falsche sei, doch will er es höflich tun und sich auch einen unauffälligen Rückweg offenhalten, im Fall unerwarteter Sinnesänderung. (II, 141) (28) Ich meine es doch nur gut mit Ihnen! gehört zu den Bösartigkeiten, die sich die guten Gewissen erlauben. (II, 698) Das Einklagen von Normbeachtung riskiert immer, dass die Normen selbst angegriffen werden; das gilt sogar für das weithin geteilte „Ausrederecht“ (25). Aber wer entscheidet über das Maß der Zuteilung? Zum Selbstbild des überlegenen Gesprächsteilnehmers gehört offensichtlich nicht die prinzipielle Akzeptanz irgendwelcher Ansprüche, seien sie auch noch so geläufig formuliert, erst recht nicht, wenn sie als Tricks verwendet werden (26). Die gesichtsschonenden indirekten Formulierungen können auch taktisch motiviert sein (27) und offen beteuerte Wohlgesonnenheit ist ohnehin verdächtig (28). Schließlich findet sich ein Stück, in dem verschiedene Arten von Höflichkeiten behandelt werden: rituelle Korrektive (Entschuldigungen), eine unsinnige Dankesfloskel, eine verlogene Selbstverpflichtung von Vorgesetzten: (29) Auf den Antwortkarten zu Einladungen steht oft als eine der Möglichkeiten anzukreuzen „ich kann leider nicht kommen“. Auf dem Vertrag einer Rundfunkanstalt, den ich als Mitwirkender unterschreiben sollte, war vor der Zeile für die quittierende Unterschrift eingedruckt „Betrag dankend erhalten“. Sehr geläufig ist die Wendung, wenn jemandem das Gespräch zu lange gedauert hat - „bitte entschuldigen Sie mich, ich habe noch einen wichtigen Termin“. Das ist alles freundlich und höflich gemeint, aber mißlungen; am ungeschicktesten, dem Gegenüber zu versichern, es gebe Wichtigeres als ihn. - Wenn der Hochgestellte dem Nachgeordneten im Brustton versichert, „ich übernehme die volle Verantwortung“, ist freilich weder Freundlichkeit noch Höflichkeit gemeint, sondern bloß die Bekräftigung eines Befehls, mit dem der Angewiesene, wenn es denn schiefgeht, allein gelassen wird. (II, 534) Werner Holly 318 Alle diese Stücke zeigen wenig Vertrauen in die Aufrichtigkeit von bürgerlicher Wohlanständigkeit, die aber auch gar nicht gefordert ist, dafür umso mehr Einblick in die Anforderungen an deren gelungener Inszenierung. Goffman (1959) hat deshalb für die Beziehungskommunikation des Alltags den Vergleich zum Theater gezogen und darauf hingewiesen, dass es nur auf die Vermeidung allzu grober Inszenierungsbrüche ankommt (Goffman 1971, S. 104). Was Gross hier betreibt, ist gewissermaßen der Versuch, durch Hinweise auf kleine Risse das Geschäft, die Fassaden möglichst elegant zu glätten, noch ein bisschen weiter zu perfektionieren, vor allem um sich selbst als weltläufigen Meister geselligen Umgangs, „gesellschaftlicher Behendigkeit“ (20) zu präsentieren. In einem Konfliktfall, der Proust zitierend die Frage aufwirft, ob man aus Takt die sachkundige Darlegung eigener Themen zurückhalten solle, wird wahre Überlegenheit entfaltet in der ambivalenten Empfehlung, als Deutscher den Takt der Entfaltung von Seriosität zu opfern - Kritik an der französischen unseriösen oder umgekehrt ironisches Belächeln der deutschen „bierernsten“ Haltung: (30) Marcel Proust hat einen Mangel an Takt bei Personen festgestellt, die in ihrer Konversation nicht andern gefällig sein, ihnen ein Vergnügen geben wollen, sondern egoistisch Sachverhalte explizieren, die sie selber interessieren. Die Konversation verlange aber eine gewisse Abdankung des Selbst aus Zartgefühl gegen die Partner; alle müssen sich ein wenig anpassen, nicht ihre Eigentümlichkeit herausstreichen. Ein Deutscher, der auf Seriosität abstellt, ist gut beraten, wenn er die Proustsche Regel nicht achtet. (II, 602) 4. Soziale Stilisierung „von oben herab“ „Regeln nicht zu achten“ gehört zu den durch Exzellenz erworbenen Privilegien von Eliten. Wer von oben den Überblick hat, kann die Gültigkeit von Normen relativieren; dem Privilegierten ist manches erlaubt, was dem Gewöhnlichen versagt bleiben muss: Quod licet Iovi, non licet bovi. Deshalb wird nicht nur gegen die Bevormundung durch die Obrigkeit aufbegehrt (s.o. 7), die sich auch zu Unrecht „eine rechtliche Kompetenz für die Orthographie“ anmaßt, übrigens in der schlechten Tradition des Reichkanzlers Hitler und seines Propagandaministeriums (II, 481), sondern auch gegen die Zumutungen der „political correctness“, der „Asymmetrie“ (II, 369) und „massive Unbildung“ (II, 691) vorgeworfen wird, sowie gegen die feministische Bewegung, die mit der Durchsetzung von „Doppelkennzeichnungen“ nur einen „flauen Sieg“ errungen habe, weil zu nicht-movierten, „selbständigen Vokabeln“ „die Erfindungskraft nicht gereicht“ habe (II, 532). So will er auch in Zukunft nicht auf das „schöne Wort Zigeuner“ verzichten: Sprachkritik als sozialer Stil 319 (31) […] Die deutschen Zigeuner nennen sich Sinti und Roma und hätten's am liebsten, wenn das Wort Zigeuner verschwinde, auf französisch heißen sie immer noch tzigane. Sie meinen, Zigeuner sei unverwendbar geworden, weil ihr sympathisches Volk von den Nazis unter diesem Namen grausam verfolgt wurde. Die Juden sind nicht auf den Gedanken gekommen, sie müßten Hitler die Ehre erweisen, den eigenen Namen preiszugeben, weil er Judenhetze und Judenausrottung betrieben hat. Mir ist das schöne Wort Zigeuner, früh vertraut aus Lyrik und Musik, lieb geblieben; und ich will, da ich die Sinti auch nicht von den Roma unterscheiden kann, dabei bleiben. (II, 113) Solche Eigenwilligkeiten kann sich der ausgewiesene arbiter elegantiarum der Sprache erlauben, der sich - im Gegensatz zu den gewöhnlichen Gebildeten - für die Sprache interessiert und deshalb Amerika bewundert, „wo die Suche nach dem eleganten Ausdruck, der entlegenen rhetorischen Figur zu den gesellschaftlichen Spielen gehört“ und wo man witzige Oxymora findet (Military budget, Ethics Committee, Great Britain) (I, 321). Zur Selbstlokalisierung im konservativen Sektor gehört auch der Verweis auf wiederkehrendes „Entzücken“ über Klassikerzitate (II, 239) und die erhoffte „Rekonvaleszenz“ von Wörtern wie Backfisch, die plötzlich wieder als „frisch“ gelten könnten (I, 528). In dieser Welt gibt es promovierte „Vinologen“ und man bemüht sich um die Bereicherung des „Weinvokabulars“: (32) Dem Vinologen Dr. Reichmut verdanke ich eine Degustationsliste, die mein Weinvokabular sehr bereichert: Vanilleton; zeigt Frucht, Holz und Klasse; süßlich-opulente Fülle; hat Fleisch und Würze; männlich, gradlinig, gute Härte; Aromen lauern im Hintergrund; muskulös, robust, druckvoll; facettenreich, Tannin stützt gut. Vor Jahren fand ich einen Mosel trefflich bezeichnet; er war elektrisch trocken. (I, 183) Abgrenzen muss man sich allerdings gegen alle Versuche, Ungleichheiten kompensieren zu wollen, sei es durch die Forderung nach verständlicher Sprache in der Medizin oder auch durch euphemistische Wortbildungen, die nur „scheinbar erhebend“, in Wirklichkeit „herabsetzend“ sind, überhaupt von „Mitmenschen-, Mitbürgerprosa“: (33) Ich hatte es immer für selbstverständlich gehalten, meinen Krankenbericht lesen zu dürfen. Nun hat ein hochrichterliches Urteil den Anspruch des Patienten bekräftigt und hinzugefügt, er müsse in einem Laien verständlichen Deutsch abgefaßt sein. Das ist freilich Unsinn. Wer medizinische Prosa nicht verstehen oder sich erläutern lassen kann, könnte auch ein hochrichterliches Urteil nicht richtig auffassen. (II, 660) Werner Holly 320 (34) Die scheinbar erhebende, herabsetzende Verwendung der Vorsilbe „mit“. Der Mitarbeiter ist der untergebene, der Mitbürger der unmündige, der Mitmensch der hilfsbedürftige; vgl. auch Mitbruder, Mitläufer, Mitautor, Mitstreiter, Mitbestimmung, Miteinander. (II, 195) (35) Dem zurückgetretenen Verteidigungsminister Heseltine ist der Nachweis geglückt, daß sich nicht nur deutsche Politiker auf klebrige Wortbildungen verstehen, auf die Mitmenschen-, die Mitbürgerprosa. Heseltine erfand den „caring capitalism“, den in Krokodilstränen aufgeweichten Kapitalismus. (I, 186) Hier dürfte sich Gross sogar mit linken Kritikern treffen, die in solchen Ausdrücken wohl propagandistische Augenwischerei vermuten würden. Bei ihm entspringt die Abneigung aber eher einem Generalverdacht gegen alles „Soziale“, das bestenfalls hingenommen werden musste, um die Marktwirtschaft zu immunisieren: (36) Die Leute, die von „sozialer Gerechtigkeit“ reden, verraten damit, obwohl sie es damit verbergen wollen, daß ihnen Gerechtigkeit nicht genügt. Vergleichbare Mißempfindung hatte vor vielen Jahren Friedrich August von Hayek überfallen, als Ludwig Erhard die „soziale“ Marktwirtschaft populär machte, die als Konzept nicht vorzeigbar war. Aber sie ist nützlich gewesen, um katholische Soziallehre als Konterbande einzuführen; und es hat das Wort „sozial“ die Marktwirtschaft unangreifbar gemacht, ihren Gegnern die Sprache verschlagen. - Das Wörtlein sozial hat im politischen Denken, im politischen Fühlen der Deutschen einen Rang wie sonst nirgends; bei den meisten Wortbildungen verursacht es Unübersetzbarkeit. (II, 708) So wird der Slogan Den Armen Gerechtigkeit verurteilt, weil Gerechtigkeit auch den Reichen zustehe (II, 599); Gross gefällt, dass in einem Science-fiction- Film der Diktator Fürsorger heißt, wie er im selben Zusammenhang auch heftig gegen den Ausdruck Seelsorger polemisiert (II, 297; 368); ähnlich geht es ihm mit allen Einrichtungen, „deren Namen auf -schutz endet“ (II, 577). In allen diesen Fällen wittert er „Anmaßung“ und „Bevormundung“, scheinbar im Sinne des Widerstands seines sprachkritischen Vorbilds Dolf Sternberger, der auch explizit erwähnt wird, gegen die „Welt der Betreuung“ (siehe dazu Dodd 2007, S. 229f., 278f., 255f.). Wenn aber bei Sternberger das Unbehagen entsteht, weil „sprachlich ein menschliches Miteinander zwischen Gleichwertigen durch ein instrumentalisierendes Verhalten ersetzt“ wird (Dodd 2007, S. 229), dann ist es bei Gross eher der Verdacht gegen jede Haltung, die den Individualisten irgendwelchen Zudringlichkeiten aussetzen und in gefährliche Nähe zu eben nicht Gleichwertigen bringen könnte. Allergisch reagiert er nicht nur auf jede Anmutung, Sprachkritik als sozialer Stil 321 die von Ausdrücken auszugehen scheint, die auch nur entfernt nach Sozialem, Gleichmacherischem, Fürsorge, Verantwortung für andere, Abbau von sozialer Distanz klingen. Das geht sogar bis zu einer nicht näher erläuterten Abneigung gegen „Ganzheitliches“, das vermutlich in der Nähe von Totalitärem und damit als Bedrohung gesehen wird: (37) Wenn ich das Wort „ganzheitlich“ höre, schlägt im Hinterkopf eine kleine Alarmglocke an. (II, 511) Der eigentliche Antrieb dieser Art von Empfindlichkeit ist das Bedürfnis nach Abstand vom „Volk“, von den „kleinen Leuten“, die sich in falschen Sprichwörtern auf etwas nur „Dienliches“ einigen; zum Zweck solcher Distinktionsarbeit dient auch der Nase rümpfende Entwurf eines Kontrastbildes vom vulgären, „grobianischen“ Parteipolitiker: (38) In der Jugendzeit gab es eine Spruchweisheit - Pfarrers Kinder, Müllers Vieh gedeihen selten oder nie. Von Müllers Vieh weiß ich nichts, von Pfarrers Kindern weiß ich, daß sie von Lichtenberg bis Gottfried Benn die Glorie Deutschlands stellten. So ist es mit den Sprichwörtern; wenn sich das Volk auf eine Beobachtung, eine Erfahrung geeinigt hatte, mußte sie nicht richtig, sondern dienlich sein, den Tugenden, den Klugheiten der kleinen Leute und ihrem bescheidenen Selbstbewußtsein. (II, 149) (39) Der grobianische Strunk in der Bundestagsfraktion muß einen Kostümverleih haben, weil er aussehen kann wie ein Schauermann um 1900. Wenn es ihm stinkt, redet er von Scheiße, wenn andre sich noch mit „manipuliertem Budget“ begnügen, spricht er von Schweinerei. Er allein erzeugt mehr Stallgeruch, als die ganze Partei braucht und ihre Wählerschaft erst recht. (II, 144) In dieser Haltung sind auch abgrenzende Maßnahmen der Nichtbeachtung von anderen legitim; das geht sogar - wenn auch vielleicht nicht ganz ernst gemeint - gegen Leute, die der neuen Rechtschreibung folgen. Zugleich wappnet Gross sich gegen den Vorwurf der Arroganz, die in Wirklichkeit - da stimmt er einem Freund und Nachbarn, dem Schriftsteller und Kabarettisten Bartsch, zu - ein verkanntes Merkmal von Intelligenz sei: (40) Es gibt eine neue Entlastung vom Korrespondenzdruck. Wer die reformierte Orthographie schreibt, soll nicht auf Antwort hoffen. (II, 370) (41) Der Freund und Nachbar Kaspereit (unter dem Pseudonym Rudolf Jürgen Bartsch den Eingeweihten geläufig) hat in einem ironiegetränkten, noch geheimen Handorakel seine Lust- und Lebensweisheit festgehalten. Ich kann daraus ein paar Begriffsbestimmungen mitteilen. [...] „Arrogant. Sagen die Dummen, wenn sie intelligent meinen.“ (I, 469) Werner Holly 322 „Eingeweihte“ gegen „Dumme“: Besonders die letztere ist bei Gross eine zentrale und häufig verwendete Distinktionskategorie (Holly 2001b, S. 434). Dass man Unterschiede markieren und sich entsprechend abgrenzen muss, ist ein wesentlicher Zug aller Gruppenbildungen; selten wird dies aber so ungehemmt „von oben herab“ praktiziert wie in diesen elitären Selbststilisierungen. Dabei bedarf es eigentlich keiner allzu expliziten Begründung gegenüber der eigenen Gruppe, die ja zu den „Eingeweihten“ zählt. Die Zugehörigkeit zur Distinktionsklasse ist eben keine Sache diskursiver Aushandlung im argumentativen Modus, sondern eine Frage des Habitus; man hat ihn oder hat ihn nicht. Die schon Wissenden brauchen keine Erläuterung und so genügen dieser Art von Sprachkritik im Grunde bloße Andeutungen: (42) Anfang einer Sammlung dummer Wörter. Anwendungen, Zweckverband, Sehbeteiligung, Freiräume. (I, 173) Die Lakonie ist hier nicht nur Stilmerkmal der aphoristischen Textsorte, sondern auch Indiz für die hermetische Grundhaltung der Exklusivität, die sich nicht erklären muss. Mit der geistreich-eleganten Knappheit entsteht allerdings auch eine Mehrdeutigkeit, die im Sinne der anfangs konstatierten reflexiven Risiken manchmal Bumerang-Lesarten nicht ausschließt: (43) Glückliche Prägung: Wertmüll. Paßt auf vieles. (I, 344) 5. Literatur Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. Dodd, William J. (2007): Jedes Wort wandelt die Welt. Dolf Sternbergers politische Sprachkritik. Göttingen. Feilke, Helmuth (1996): Sprache als soziale Gestalt. Ausdruck, Prägung und die Ordnung der sprachlichen Typik. Frankfurt a.M. Frankfurt a.M. Goffman, Erving (1959): The presentation of self in everyday life. New York. Goffman, Erving (1967): Interaction ritual. Essays on face-to-face-behavior. Garden City, NY. Goffman, Erving (1971): Relations in public: Microstudies of the public order. New York. Gross, Johannes (1990): Das neue Notizbuch 1985-1990. Stuttgart. Gross, Johannes (1999): Nachrichten aus der Berliner Republik. Notizen aus dem in- Nachrichten aus der Berliner Republik. Notizen aus dem inneren und äußeren Leben 1995-1999. Berlin. Heringer, Hans Jürgen (1982a): Sprachkritik - die Fortsetzung der Politik mit besseren Mitteln. In: Heringer (Hg.), S. 3-34. Sprachkritik als sozialer Stil 323 Heringer, Hans Jürgen (1982b): Normen? Ja - aber meine! In: Heringer (Hg.), S. 94-105. Heringer, Hans Jürgen (Hg.) (1982): Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprachkritik. Tübingen. Holly, Werner (2001a): Beziehungsmanagement und Imagearbeit. In: Brinker, Klaus/ Antos, Gerd/ Heinemann, Wolfgang (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Bd. 2. Berlin/ New York, S. 1382-1393. Holly, Werner (2001b): „Gehobener Stil“ als sozialer Stil. „Das neue Notizbuch“ von Johannes Gross als Textbeispiel. In: Jakobs, Eva-Maria/ Rothkegel, Annely (Hg.): Perspektiven auf Stil. (= Reihe Germanistische Linguistik 226). Tübingen, S. 423-441. Humboldt, Wilhelm von (1820 [1968]): Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung. In: Humboldt, Wilhelm von: Gesammelte Schriften. 4. Bd. Hrsg. v. Albert Leitzmann. Berlin 1905, S. 1-34. [Nachdruck Berlin 1968]. Jäger, Ludwig (2004): Wieviel Sprache braucht der Geist? Mediale Konstitutionsbedingungen des Mentalen. In: Jäger, Ludwig/ Linz, Erika (Hg.): Medialität und Mentalität. Theoretische und empirische Studien zum Verhältnis von Sprache, Subjektivität und Kognition. München, S. 15-42. Jäger, Ludwig (2007): Bezugnahmepraktiken. Skizze zur operativen Logik der Mediensemantik. In: Transkriptionen 8, S. 2-6. Klein, Josef (1989): Wortschatz, Wortkampf, Wortfelder in der Politik. In: Klein, Josef (Hg.): Politische Semantik. Beiträge zur politischen Sprachverwendung. Opladen, S. 3-50. Konfuzius (1998): Gespräche (Lun-yu). Hrsg. v. Ralf Moritz. Stuttgart. Hrsg. v. Ralf Moritz. Stuttgart. Saussure, Ferdinand de (1997): Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlaß. Texte, Briefe und Dokumente. Frankfurt a.M. Werlen, Iwar (2002): Sprachliche Relativität. Eine problemorientierte Einführung. Tübingen/ Basel. Wimmer, Rainer (1982): Überlegungen zu den Aufgaben und Methoden einer linguistisch begründeten Sprachkritik. In: Heringer (Hg.), S. 290-313. Wimmer, Rainer (2003): Wie kann man Sprachkritik begründen? In: Linke, Angelika/ Ortner, Hanspeter/ Portmann-Tselikas, Paul R. (Hg.): Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis. (= Reihe Germanistische Linguistik 245). Tübingen, S. 417-450. Wolf-Andreas Liebert Metapher und Stil - zwei ineinanderwirkende Momente der Identitätsbildung Sprachkritik ist im Denken Rainer Wimmers essenziell mit Sprachreflexion verbunden, dabei ist betont: Reflexion des eigenen Sprachgebrauchs. Die Kritik der Sprache anderer wird ergänzt um den Schritt der Selbstreflexion. Ein zweiter Gedanke Rainer Wimmers lautet, dass alles, was wir in der Sprache mitteilten, letztlich immer eine Hypostasierung darstelle. Dieses nominalistische Bekenntnis hat er in radikaler Form allerdings nur während verschiedener Vorträge geleistet, ebenso wie seine These, dass Sprache selbst eine Fiktion sei, dass es vielmehr nur Individualsprachen gebe. Dadurch gewinnt der Stilbegriff eine eminente Bedeutung in der Sprachbetrachtung. Im vorliegenden Aufsatz soll gezeigt werden, wie der kritische Stilbegriff durch das Einbeziehen von identitätsstiftenden Metaphern und durch die Sprachreflexion des eigenen Stils erweitert werden kann. 1. Stil 1.1 Traditioneller und moderner Stilbegriff Traditionelle Stillehren von Ludwig Reiners bis Wolf Schneider formulieren Normen, die sich durch die Autorität des Autors legitimieren. In den letzten Jahren können wir eine starke Zunahme dieser traditionellen Stillehren beobachten. Die Ursachen hierfür sind nicht einfach auszumachen. Wir können jedoch vermuten, dass dies zum einen mit der von Jürgen Habermas diagnostizierten „neuen Unübersichtlichkeit“ (1985) und der konservativen Wende Mitte der 80er Jahre zusammenhängt, zum anderen mit der von der Soziologin Tilla Siegel (2003) postulierten Hegemonialisierung eines bis in die frühe Industrialisierung hineinreichenden kollektiven Denkmusters der Rationalisierung. Unter dem Begriff Denkmuster der Rationalisierung versteht sie einen größtenteils unbewussten kollektiven Denkprozess, der dazu führt, dass die Angehörigen der westlichen Zivilisation unhinterfragt denken, sie müssten ihr Leben und ihre soziale und natürliche Umwelt vernünftig und effektiv gestalten. Dieses Denkmuster ist nach Siegel so fest verwurzelt, dass seine Thematisierung und Infragestellung auf Unwilligkeit und Abwehr stößt. Bleibt man allerdings einen Moment bei dieser These, dann können bestimmte Phänomene, auch das Phänomen des erhöhten Bedarfs an (Sprach-)Normen, plausibilisiert werden: Innerhalb dieses Prozesses werden nach Siegel nämlich Sachentscheidungen zunehmend an Experten delegiert, die - mehr oder weniger Wolf-Andreas Liebert 326 wissenschaftlich fundiert - als Ratgeber zunehmend Eingriffsmöglichkeiten in die Alltagsbewältigung erhalten und uns nun Ratschläge erteilen, wie das Leben in immer subtiler differenzierten Bereichen effektiv - etwa mit dem größtmöglichen Maß an Gesundheit, Glück, Erfolg und Zufriedenheit - geführt werden soll. Beispiele sind einfach zu finden, das folgende ist einer Tageszeitung entnommen: Heute: Das richtige Hemd Kann ich zum Anzug karierte Hemden tragen? Sie können das natürlich, aber passend ist das selten. Außerdem hängt es davon ab, ob Sie sich für „halb-offizielle“ oder „offizielle“ Business-Kleidung entscheiden (müssen). Bei der Kombination, dem „kleinen Bieranzug“, und einfachen Anzügen handelt es sich um die halb-offizielle Variante. Dazu können Sie ohne weiteres karierte Hemden wählen. Das typische Holzfäller-Hemd mit buntem Karo - oft aus Flanell - passt allerdings nicht. Dagegen kommt für die „offizielle“ Businesskleidung auch kein dezent kariertes Hemd in Frage. Offizielle Kleidung wird in den obersten Etagen von Konzernen, großen Firmen und Banken getragen: Zum dreiteiligen dunkelgrauen (oder -blauen) Anzug ist hier ein schlicht weißes mit Doppelmanschetten und Manschettenknöpfen die optimale Wahl. Und noch etwas: Da das Hemd die unterste sichtbare „Lage“ ist, sollte kein Unterziehhemd getragen werden. Ihre Salka Schwarz, Repräsentationstrainerin für moderne Umgangsformen www.stil-kunde.com Haben auch Sie Fragen zu Stil und Etikette? Mailen Sie uns: familie@volksfreund.de (Kolumne „Benimm Dich! Die TV-Stilkunde mit Salka Schwarz“. Aus: Trierischer Volksfreund, 29.04.2005: http: / / www.volksfreund.de/ totallokal/ trier/ familie/ familie; art902,703931 , Stand: 04.11.08). Die Norm lautet hier: Wenn du zur „Businesswelt“ gehören willst, musst du deinen persönlichen Stil dem sozialen Business-Stil anpassen: Trage also einen dreiteiligen grauen oder blauen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte, aber kein Unterhemd. Dieses Beispiel macht noch einmal deutlich, dass Stilkunde im traditionellen Sinn das Aufzeigen von Normen bedeutet, die nach Meinung des Autors von einer Person erfüllt werden müssen, um Angehöriger einer bestimmten sozialen Gruppe zu sein. Stilberatung ist damit Hilfe beim Anpassen an einen sozialen Stil, der vom Stilberater mehr oder weniger unhinterfragt vorausgesetzt wird. Eine solche Stilberatung ist nicht in jedem Fall zu verdammen; sie Metapher und Stil - zwei ineinanderwirkende Momente der Identitätsbildung 327 ist dann nützlich, wenn ein Kunde zum einen klar den „Handel“ erkennt, der da lautet: Anpassungsleistung für ein mögliches Reüssieren in einer sozialen Gruppe, und zum anderen wenn der Stilberater oder die Stilberaterin den sozialen Stil der angestrebten Ingroup auch tatsächlich zuverlässig diagnostizieren kann. In den 80er Jahren hat sich insbesondere in der Literaturwissenschaft und in der Linguistik ein anderer Stilbegriff formiert. Es handelt sich um einen Stilbegriff, der nicht normieren, sondern vor allem beschreiben will. Diese verschiedenen Strömungen und Entwicklungen sind bei Ulrich Püschel (1995, 2000) sehr gut dargestellt, sodass ich hier lediglich auf den zentralen Fokus abzielen will: Der moderne linguistische Stilbegriff ist handlungsorientiert und auf die Beschreibung und Interpretation von Kommunikation ausgerichtet, nicht auf deren Normierung. Handlungsorientiert bedeutet, dass Stilmerkmale das Ergebnis von Handlungen sind. Für die Erzeugung eines Stils wird ein spezifisches Handlungsmuster als maßgeblich angesehen: das Handlungsmuster des Fortführens, das die Untermuster Wiederholung, Variation und Abweichung einschließt. In dieser Sichtweise muss eine Person oder Gruppe also etwas fortführen, damit es zu so etwas wie Stil kommt. Und diese Fortführung kann eine Wiederholung, eine Abweichung oder eine Variation sein. Beispielsweise entsteht Stil in dieser Auffassung erst dann, wenn jemand nicht nur einmal, sondern fortgeführt ohne Krawatte - oder sogar im Holzfällerhemd - im Businessleben auftritt. Was diese Sichtweise allerdings nicht einbezieht, ist ein wichtiges Handlungsmuster, das notwendig ist, da Stil immer aus einem Fächer möglicher Handlungsalternativen heraus realisiert wird. Stil bedeutet nämlich immer auch eine Art Selektion. Ich kann mich entscheiden, den grauen Dreiteiler zu tragen und den sozialen Stil, die soziale Norm stabilisieren, oder ich kann mich entscheiden, ohne Krawatte aufzutreten und damit einen individuellen Stil pflegen und den sozialen Stil möglicherweise erweitern. Stil beinhaltet deshalb immer die Bevorzugung einer Handlung vor anderen ebenfalls möglichen Handlungen. 1) 2) 3) Wolf-Andreas Liebert 328 1.2 Erweiterung des modernen Stilbegriffs: Stil - die fortgeführte Bevorzugung Meiner Ansicht nach kann man deshalb das Wesen des Stils besser erfassen, wenn man von dem Handlungsmuster des Bevorzugens als konstitutivem Muster ausgeht, also als dem Handlungsmuster, das dem Stil wesentlich zugrunde liegt. Dennoch stellt das Muster des Fortführens natürlich weiterhin eine wesentliche Komponente dar, die integriert werden muss, denn die Bevorzugung eines Handlungsmusters wird erst dann zum Stil, wenn es fortgeführt bevorzugt wird. Stil ist damit die wiederkehrend bevorzugte Wahl von Handlungsmustern eines Individuums, das dadurch seine Identität als Individuum und/ oder als Mitglied einer Gruppe oder eines weiteren gesellschaftlichen Zusammenhangs ausdrückt. Diese Definition macht deutlich, dass zur Feststellung eines Stils entweder mehrere Handlungssequenzen über eine bestimmte Zeit beobachtet werden müssen oder dass das bevorzugte Handlungsmuster in Kontrast zu den Handlungsmustern gesetzt wird, die im Moment der Selektion zur Auswahl standen oder eventuell sogar sozial gefordert waren. Das tatsächlich realisierte Handlungsmuster ist das Ergebnis einer Selektion im Subjekt. Diese Selektion wird beeinflusst von einer Reihe externer Faktoren. Dazu zählen: die Situation bzw. Situationseinschätzung und Situationsdefinition; der bisher gepflegte persönliche Stil; der Gruppenstil bzw. soziale Stil / die soziale Herkunftsgruppe bzw. soziale Zielgruppe; die Text- und Gesprächsformen, in denen kommuniziert wird; die Adressaten bzw. Interaktanten; grundlegende Definitionen und Vorstellungen über Verhältnisse in der Welt (Basismetaphern). Auch wenn diese und andere Faktoren auf das Individuum teilweise durchaus mit Macht einwirken, so bleibt die konkrete Wahl eines Stilzugs in der aktuellen Situation und den aktuellen Gegebenheiten unvorhersagbar. Stil ist der Weg, den sich ein Individuum durch die sozialen Zwänge zwischen sozialer Anpassung und authentischer Verwirklichung bahnt. - - - - - - Metapher und Stil - zwei ineinanderwirkende Momente der Identitätsbildung 329 Mit der Definition der fortgeführten Bevorzugung werden Individual- und Gruppenstile zu zentralen Momenten der Identitätsbildung. Im Stil unterscheidet sich eine Person von der anderen Person, eine Gruppe von der anderen Gruppe, eine Organisation von der anderen Organisation. Diese Auffassung steht der Stil-Definition des Surrealisten Louis Aragon („Abhandlung über den Stil. Surrealistisches Traktat“, 1987, S. 133) nahe: Stil nenne ich den Akzent, den die Flut des Ozeans der Symbole, der die Erde weltweit durch die Metapher unterhöhlt, annimmt, wenn sie von einem gegegegebenen Menschen zurückprallt. Die Idee, dass Stil Identität ausmache, findet sich bereits bei Buffon in seiner häufig zitierten Antrittsrede „Discours sur le style“ vor der Académie Françai- Académie Française im Jahr 1753, in der er den berühmten Satz ausspricht: „Le style est l'homme im Jahr 1753, in der er den berühmten Satz ausspricht: „Le style est l'homme même.“ (Buffon 1753 [1924], S. 22) Der Stil eines Menschen ist das Ergebnis seiner fortgesetzten Bevorzugung bestimmter Handlungsalternativen im Spannungsfeld sozialer und persönlicher Anforderungen und ist damit in unmittelbarer Weise sowohl Ausdruck als auch Konsolidierung seiner - prozessual verstandenen - Identität. Einfach gesprochen: Unser Stil ist unser Fingerabdruck im Universum. 2. Stilreflexion und Intervention Während der normative Stilbegriff eine Anpassung des Individuums an die Gruppe einfordert, sei es durch Sanktionen oder wie oben ausgeführt, durch ein Versprechen auf ein Reüssieren in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen, so ergeben sich auch aus dem deskriptiv-interpretatorischen Stilbegriff Möglichkeiten, den eigenen Stil zu ändern, allerdings nicht nur im Sinne einer Anpassung - die ist auch möglich -, sondern im Sinne einer Reflexion der eigenen kommunikativen Muster, mit dem Ziel der Bewusstmachung und der Schaffung von Möglichkeiten einer spontanen, selbstorganisierten Neuformierung des eigenen Stils. Dies ist insbesondere für die Kommunikation und Intervention in Settings der Konfliktlösung, der Therapie und der Beratung relevant. Wenn Stil die Bevorzugung bestimmter Mittel vor anderen Alternativen ist, dann lässt sich daraus ein Interventionsbegriff ableiten, der zum einen eine Reflexion der eigenen Bevorzugung / des eigenen Stils und zum anderen eine Vergrößerung der Zahl der Alternativen enthält. Interventionen dieser Art ermöglichen damit eine subtilere, für unterschiedlichere Situationen angepasstere Wahl. Wenn Personen in einem Beratungs-, Mediations- oder Therapiekontext in Bezug auf den Stil des Klienten intervenieren wollen, sollten sie also Wolf-Andreas Liebert 330 sowohl das Bewusstmachen, dass Stil eine Bevorzugung war/ ist, als auch eine Erweiterung des Spektrums der Handlungsmöglichkeiten des Klienten anstreben. 3. Basis-Metaphern und Stil - die beiden zentralen Momente der Identitätsbildung Ich komme nun zum zweiten Bereich, Metaphern und Identität, und werde einige allgemeine Überlegungen anstellen, in welchen Kontext Fragen der Identitätsbildung eingeordnet werden können. Ich gehe davon aus, dass Individuen, Gruppen und auch Organisationen existenziellen Grundfragen ausgesetzt sind, die sie auf je eigene Weise mehr oder weniger explizit beantwortet haben oder nach Antworten suchen. Die Frage nach der eigenen Identität („Wer bin ich? “) wird in sehr vielen Kulturen gestellt, die Frage nach der eigenen Geschichte und der Zukunft, woher wir kommen und wohin wir gehen bzw. was auf uns zukommt, ist vor allem in Kulturen mit einer Progressionsmetaphorik relevant (vgl. etwa Norbert Elias „Über den Prozeß der Zivilisation“ (Elias 1939) und die Kritik von Duerr (1988ff.)). Den temporären Antworten auf diese Fragen können verwickelte, lang dauernde philosophische Diskurse mit einem großen Maß an Elaboration und Präzision vorangehen, im Alltag stellen sie jedoch meist einfache Vorstellungskomplexe dar, die mit einer spezifischen Bildlichkeit einhergehen (vgl. Geideck/ Liebert 2003). Ein solcher bildlich geprägter Vorstellungskomplex soll Basismetapher genannt werden. Genauer kann also gefasst werden: Als Basismetaphern sollen diejenigen Metaphern gelten, die Antworten auf grundsätzliche Lebensfragen eines Individuums oder einer Gemeinschaft darstellen und seine Identität oder die spezifische Situation betreffen können, in der sich das Individuum oder die Gruppe befindet. Steven Pepper hat dafür den Ausdruck der Wurzelmetapher eingeführt: A man desiring to understand the world looks about for a clue to its comprehension. He pitches upon some area of commonsense fact and tries if he cannot understand other areas in terms of this one. This original area becomes then his basic analogy or root metaphor. (Pepper 1966, S. 91) (Pepper 1966, S. 91) Mary Catherine Bateson radikalisiert diese Sichtweise, indem sie behauptet, dass jede Person eine eigne Basis-Metapher darstelle: „Each person is his own central metaphor“ (Bateson 1972, S. 285). Sie spricht zunächst auf der Ebene Metapher und Stil - zwei ineinanderwirkende Momente der Identitätsbildung 331 des Wahrnehmens und Begreifens davon, dass unser kognitives und sprachliches System prinzipiell unterbestimmt gegenüber der komplexen Wirklichkeit sei und beim Individuum deshalb zwangsläufig Metaphernbeziehungen bei der Weltaneignung entstehen würden. Wie hängen nun die Basismetaphern und der Stil zusammen? Basismetaphern und Stil sollen im Wesentlichen die Identität eines Individuums, einer Gruppe oder einer Organisation ausmachen. Man kann Stil und Basismetaphern in einfacher Weise zueinander in Beziehung setzen, wenn man folgende wechselseitige Bedingtheit annimmt: Das Weltmodell eines Akteurs, die Antworten auf seine existenziellen Fragen, die ihm Gewissheit geben, wie das Leben und die Welt aufgebaut sind, welchen Sinn alles hat, wer er ist, wohin er gehört etc., bedingt, welche Handlungen er verbal oder nichtverbal bevorzugt, d.h. welchen Stil er entwickelt, und seine Bevorzugungen und Vermeidungen bestätigen wiederum sein Weltmodell. 4. Konsequenzen für die Beratungspraxis Es wurde oben ausgeführt, dass im Werk Rainer Wimmers der Reflexion der eigenen sprachlichen Muster eine eminente Bedeutung zukommt. Abschließend soll daher am Beispiel von psychologischen Beratungsgesprächen überlegt werden, wie der hier entwickelte Stilbegriff zusammen mit einer Sprachreflexion zu einem Interventionsverfahren führen kann, das auch in der Praxis, etwa in der Beratung, angewandt werden kann. Beratungssituationen sind zumeist Beratungsgespräche. Ich möchte deshalb zunächst auf die Rolle von Metaphern in Gesprächen eingehen und dann konkrete Verfahrensvorschläge für die Beratungspraxis machen. Zu Metaphern im Gespräch hat es in den letzten Jahren einige Untersuchungen gegeben. Für den vorliegenden Kontext ist diese wissenschaftliche Diskussion im Moment nur vom Ergebnis her wichtig, d.h. wie bringen Akteure Metaphern ins Gespräch ein und was stellen sie dort mit ihnen an. Im Prinzip kann man von vier grundlegenden Handlungsmustern ausgehen (nach Liebert 1997): Einführen einer Metapher; Wiedereinführen einer („liegen gebliebenen“) Metapher; - - Wolf-Andreas Liebert 332 Ignorieren oder Aufgreifen einer Metapher (Akzeptieren oder Zurückweisen); Ausdehnen oder Begrenzen einer Metapher. Einer ergreift im Gespräch die Initiative und führt eine Metapher ein, der andere kann sie nun ignorieren oder aufgreifen. Greift er sie auf, dann kann er sie entweder in irgendeiner Form ausdehnen, neue Einzelteile hinzufügen, sie irgendwie erweitern, oder er kann sie in irgendeiner Form begrenzen. Im nächsten Gesprächsschritt kann natürlich ein beliebiger Kommunikationspartner eine neue Metapher einführen oder bereits behandelte Metaphern zurückweisen, erweitern, begrenzen; es kann also ein munteres Metaphernspielchen beginnen, das für alle Beteiligten nicht nur unterhaltsam ist, sondern auch eine Verständigung über grundlegende Überzeugungen erlaubt. Das Interventionsmodell im Rahmen einer interpretativen Semantik sieht im Berater zunächst einen Mitspieler im „munteren Metaphernspiel“, der sich aber zugleich in die Rolle des Beobachters begibt. Aus linguistischer Sicht sind Analyse und Beschreibung der bestehenden Stilmuster (Diagnose) vor der Intervention und natürlich vor einer Anwendung auf den lebenspraktischen Anlass für das Beratungsgespräch zu leisten: 1 Diagnose: Erfühlen Sie den Stil des Gegenübers. Welche Metaphern führt Ihr Gegenüber ein? Welche Metaphern werden wiederholt bevorzugt? Gibt es bestimmte Metaphern, die Ihnen ungewöhnlich erscheinen? Diese Metaphern sind Hinweise auf den persönlichen Stil oder den Gruppenbzw. Organisationsstil. Welche Metaphern vernachlässigt der Klient? Prüfen Sie, ob Ihr Gegenüber ganz bestimmte Metaphern vernachlässigt, sie also vermeidet. Thematisieren Sie sie vorsichtig (Arbeit am Widerstand). Intervention: Greifen Sie eine der von Ihrem Gegenüber eingeführten Metaphern auf. Machen Sie Ihrem Gegenüber ein Kooperationsangebot, indem Sie die Metapher ausdehnen oder auf ihre Grenzen befragen. Spüren Sie, was Ihrem Gegenüber angemessen erscheint. 1 Diese Schritte haben sich in Workshops und Alltagssituationen als hilfreich erwiesen. Sie sind bislang nicht in experimentellen Settings erprobt worden. - - I) a) b) II) Metapher und Stil - zwei ineinanderwirkende Momente der Identitätsbildung 333 Intervention: Metaphern selbst einführen Sie können Metaphern auch selbst einführen. Dies sollte aber erst nach einer Phase des Erspürens des Metaphernstils des Gegenübers geschehen. Welche Metaphern sollte der Berater einführen? Seien Sie offen dafür, dass manche Äußerungen Ihres Gegenübers in Ihnen ein oder mehrere Bilder auslösen werden. Prüfen Sie diese Bilder, ob sie geeignet sind für Ihr Gegenüber und bringen Sie sie ggf. explizit für eine neue Runde des kooperativen Experimentierens ein. Auf welche Bilder springt der Klient an? Im Gespräch entwickelte Metaphern auf die Lebenssituation des Klienten anwenden Fragen Sie nach einer oder mehreren Phasen des Experimentierens im Als-ob-Raum: Wie hängen die Metaphern mit dem konkret geäußerten Problem/ der konkret geäußerten Frage zusammen? Wie können die entwickelten Metaphern auf die Ausgangsfragen im Sinne einer Problemlösung oder einer Perspektivenerweiterung angewandt werden? In der Beratungspraxis interessieren Metaphern insofern, als sie Bestandteil von Weltmodellen und -perspektiven sind, d.h. Antworten auf grundlegende Sinnfragen des Klienten darstellen. Diese Basismetaphern als Bestandteile von Weltmodellen erscheinen „auf der Oberfläche“, im Offensichtlichen als Stil, d.h. als das, was der Klient wiederkehrend bevorzugt; auf der Ebene der Sprache, welche Metaphern er bevorzugt. Wir hatten zwei Hauptziele einer Stilintervention ausgemacht: die Bewusstmachung, dass bestimmte Handlungsmuster bevorzugt werden und die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten. Beim kooperativen Experimentieren mit Metaphern im Gespräch kann beides verbunden werden: das Bewusstmachen und die Erweiterung durch das Erfinden und Ausprobieren neuer Metaphern. 5. Literatur Aragon, Louis (1987): Abhandlung über den Stil. Surrealistisches Traktat. Berlin. [Frz. Orig.: Traité du style. Paris, 1928]. Bateson, Mary Catherine (1972): Our own metaphor. A personal account of a conference on the effects of conscious purpose on human adaptation. New York. Buffon, Georges Louis Le Clerc de (1753 [1924]): Discours sur le style. Paris. Duerr, Hans Peter (1988-2002): Der Mythos vom Zivilisationsprozess. 5 Bde. Frankfurt a.M. III) IV) Wolf-Andreas Liebert 334 Elias, Norbert (1939): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt a.M. Geideck, Susan/ Liebert, Wolf-Andreas (2003): Sinnformeln. Eine soziologisch-linguistische Skizze. In: Geideck/ Liebert (Hg.), S. 3-14. Geideck, Susan/ Liebert, Wolf-Andreas (Hg.) (2003): Sinnformeln: Linguistische und soziologische Analysen von Leitbildern, Metaphern und anderen kollektiven Orientierungsmustern. Berlin/ New York. Habermas, Jürgen (1985): Die Neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a.M. Liebert, Wolf-Andreas (1997): Interaktion und Kognition. Die Herausbildung metaphorischer Denkmodelle in Gesprächen zwischen Wissenschaftlern und Wissenschaftsjournalisten. In: Biere, Bernd Ulrich/ Liebert, Wolf-Andreas (Hg): Metaphern, Medien, Wissenschaft. Opladen, S. 180-209. Pepper, Steven (1966): World hypotheses. A study in evidence. Berkeley. A study in evidence. Berkeley. Püschel, Ulrich (1995): Stilpragmatik - Vom praktischen Umgang mit Stil. In: Stickel, Gerhard (Hg.): Stilfragen. Jahrbuch 1994 des Instituts für Deutsche Sprache. Berlin/ New York, S. 303-328. Püschel, Ulrich (2000): Text und Stil. In: Brinker, Klaus et al. (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 16). Berlin/ New York, S. 473-489. Siegel, Tilla (2003): Denkmuster der Rationalisierung. Ein soziologischer Blick auf Selbstverständlichkeiten. In: Geideck/ Liebert (Hg.), S. 17-36. Hans Bickes Perspektiven der Mehrsprachigkeit 1 Forschungstraditionen zur Mehrsprachigkeit sind stark geprägt durch kognitions- und neuerdings neurowissenschaftliche Fragestellungen. Diese nehmen vorrangig „bilingual brains“ in den Blick, doch rückt seit geraumer Zeit das Interesse an den „bilingual lives“ mehrsprachiger Menschen in den Vordergrund. In dieser Perspektive wird rasch deutlich, dass in einer unaufhaltsam durch Migration geprägten Gesellschaft nicht „Bilingualismus“ das Problem ist, sondern der vorherrschende Habitus der Monokulturalität und Monolingualität. Aspekte dieses in Geschichte und sozioökonomischen Rahmenbedingungen tief verwurzelten Habitus werden aufgegriffen. Im Zuge der Transformation unserer Gesellschaft zu einem multikulturellen Einwanderungsland entsteht eine paradox anmutende Spannung zwischen dem Erwerb der Zweitsprache und dem Erhalt der Erstsprache bei Mehrsprachigen. Gleichwohl schließt der Beitrag mit einem Plädoyer nicht nur für eine intensive Förderung der Zweit- und Verkehrssprache Deutsch, sondern auch der Herkunftssprachen. Sie bereichern Kommunikation und Bildung um traditionsreiche Perspektiven und sind kostbare Ressourcen in einer künftigen multikulturellen Gesellschaft. 0. Monolingualität als Problem In seinem Buch „The Symbolic Species“ hat Terrence Deacon (1997) dargelegt, dass sich menschliche Symbolsysteme und menschliche Gehirne phylogenetisch in enger Koevolution entwickelt haben und dass dies die Leichtigkeit erklärt, mit der Kleinkinder komplexe Sprachstrukturen erwerben können. Das Gehirn des menschlichen Neugeborenen ist angesichts seiner ungeheuren Vernetzungskapazität grundsätzlich darauf vorbereitet, jede beliebige der ca. 5000 menschlichen Sprachen aufzunehmen. Auch weist das neuronale System hinreichend Plastizität auf, um mühelos mehrere Sprachen gleichzeitig zu erwerben (vgl. Edwards 2006, S. 10; Baker 2001, S. 164). Dafür, dass die Natur in dieser Hinsicht den Säugling großzügig und flexibel ausgestattet hat, legen zahlreiche Regionen der Erde beredtes Zeugnis ab. Denn weit über zwei Drittel der Erdbevölkerung können als mehrsprachig gelten, wobei z.B. in Indien und Afrika das Verfügen über 1 Ute Pauli, Stephan Kornmesser und Christine Bickes danke ich für wertvolle Hinweise und Anregungen. Hans Bickes 336 mehr als zwei Sprachen sogar die Regel ist. - Weltweit ist individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit der Normalfall. 2 Wenn aber Mehrsprachigkeit der Normalfall ist, stellt sich die Frage, mit welchen Strategien und aus welchen Motiven heraus es gelingt, sie bei dem anderen Drittel der Weltbevölkerung erfolgreich zu verhindern. Die Tatsache, dass in Nationalstaaten mit großem wirtschaftlichem Potenzial und einem historisch gewachsenen monolingualen Habitus der Anschein entsteht, dass Mehrsprachigkeit ein Problem sei, das bildungspolitisch gelöst werden müsse, verstellt den Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse. Das eigentliche gesellschaftliche Problem - auch und gerade in der Bundesrepublik Deutschland - ist das der Einsprachigkeit. Die Frage, die uns immer dringlicher berühren sollte, ist - um einen Aufsatztitel von Hans-Jürgen Krumm zu paraphrasieren - ob Einsprachigkeit „heilbar ist“ (Krumm 2000). Selbstverständlich betrifft das Problem der Einsprachigkeit nur einen Aspekt des allgemeinen Problems, nämlich inwieweit ein dezidierter Habitus der Monokulturalität heilbar ist. 3 In der Vergangenheit gab es sehr heterogene Annäherungen an das Phänomen der Mehrsprachigkeit. Prominent geworden sind im Anschluss an die bahn- 2 Vgl. Reich/ Roth (2002, S. 49). Aus dieser Studie stammen auch die weiter unten aufgeführten Zahlen zur Sprachenvielfalt in Den Haag und im Großraum London. In der Mehrsprachigkeitsforschung ist es häufig etwas verkürzend üblich, vom Erwerb einer oder mehrerer Sprachen zu sprechen. Ein bilinguales Kind z.B. erwirbt zunächst eine erste Sprache, danach oder zum Teil gleichzeitig eine zweite Sprache. Die Rede davon, dass das Kind dann über eine oder mehrere Sprachen verfügt, verkürzt natürlich die Komplexität der tatsächlichen Verhältnisse und legt nahe, dass SprachteilnehmerInnen in Sprachgemeinschaften eine homogene Sprache sprechen. Dies ist bekanntlich nicht der Fall. Selbst monolinguale Kinder sind natürlich von der inneren Mehrsprachigkeit ihrer Muttersprache, die vielfältig funktional gegliedert ist, betroffen. Entsprechend müssen Mehrsprachige der Differenziertheit der sprachlichen Verhältnisse aus mehreren Sprachen Rechnung tragen. Ethnolekte, Phänomene wie code-switching oder code-mixing sind viel diskutierte Belege dafür, dass sie dazu auch tatsächlich in der Lage sind. Wenn also in der Folge von Sprache(n) die Rede ist, dann hat dies allein abkürzenden Charakter. 3 Aktuelle Vorkommnisse und Diskussionen - und wir müssen dabei nicht auf die Feuernächte in den Banlieus unseres Nachbarlandes schielen - heben immer wieder ins öffentliche Bewusstsein, dass eine gewisse Dringlichkeit bei diesem „Heilungsprozess“ geboten sein könnte. Dies zeigt die zum Jahreswechsel 2007/ 2008 vom hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch ( CDU ) in schamloser Manier entfachte Debatte um den Anteil von jugendlichen Migranten an Gewaltdelikten. In seiner markigen Rhetorik blendet Koch die hausgemachte Geschichte der tieferen Ursachen der Kriminalität unter ausländischen Jugendlichen völlig aus, eine Geschichte, die auf über 60 Jahre versäumter bzw. politisch vor allem von den Christdemokraten verhinderter Einwanderungspolitik zurückblickt. Perspektiven der Mehrsprachigkeit 337 brechende Arbeit von Weinreich (1953) etwa Fragen danach, ob Mehrsprachige über ein einziges oder mehrere mentale Lexika verfügen, ob sich die Gedächtnisorganisation mehrsprachiger von der einsprachiger Personen unterscheidet, wie sich die neuronalen Korrelate zu verschiedenen sprachlichen Aufgaben bei Mehrsprachigen von denen Einsprachiger abheben, oder ob mit Mehrsprachigkeit kognitive Vorteile, Nachteile oder gar Beeinträchtigungen einhergehen. Kennzeichnend für diese Arbeiten ist, dass in der Regel zwar das kognitive und neuronale System mehrsprachiger Personen in den Blick genommen wird, hingegen deren tatsächliches Leben in der Mehrsprachigkeit mit seinen täglichen Spannungen und Problemen außer Acht gelassen wird. Es verwundert daher nicht, wenn die bekannte australisch-polnische Sprachwissenschaftlerin Anna Wierzbicka - selbst mehrsprachig sozialisiert - eine Wende der Perspektive weg von „bilingual brains“ hin zu „bilingual lives“ anmahnt (Wierzbicka 2004, S. 103) und diese Wende mit einer Analyse der Organisation von Emotionen bei Mehrsprachigen in Abhängigkeit von Sprachen und Kulturzugehörigkeit bekräftigt. Damit werden sowohl der soziokulturelle wie auch der affektiv-emotionale Faktor wieder in den Blick gerückt, beides Faktoren, die prägend für das Selbstverständnis und Selbstbild mehrsprachiger Personen sind. 1. Mehrsprachigkeit und Gehirn Die Forschungen zur kognitiven und neuronalen Repräsentation und Verarbeitung von mehreren Sprachen lassen gegenwärtig noch zahlreiche Fragen offen, und wir sind noch weit davon entfernt, ein vollständiges Bild des Erstund/ oder Zweitspracherwerbsprozesses zu zeichnen. Einige für den frühen L2-Erwerb wichtige Resultate seien jedoch kurz skizziert; für einen ausführlichen Überblick sei auf jüngere Darstellungen, etwa die von Paradis (2004) verwiesen. Immer wieder beschäftigen sich Arbeiten zum Erwerb einer oder mehrerer Sprachen mit der bereits 1967 von Lenneberg formulierten Hypothese, dass es infolge von Reifungsprozessen im Gehirn eine kritische Periode für einen muttersprachenähnlichen L2-Spracherwerb 4 gibt. Häufig wurde dabei die Pubertät als Scheidepunkt angesetzt. Es gibt indes Indizien, dass es schon bei einem L2-Erwerb nach dem 6. bis 7. Lebensjahr, also vor dem Eintritt in die 4 „L2“ kann hier und im Folgenden sehr allgemein sowohl eine simultan zur L1 erworbene und/ oder eine später erworbene weitere Sprache meinen. In Abhängigkeit vom Zeitpunkt (primärer vs. sekundärer Bilingualismus) und den Bedingungen des Erwerbs (Sprache in der Umgebung/ ungesteuert vs. gesteuert etc.) spricht man auch von Zweitspracherwerb oder von Fremdspracherwerb. Hans Bickes 338 Pubertät, zu unvollkommener Beherrschung sowohl der Grammatik als auch der Lexik kommt (Harley/ Wang 1997; Johnson/ Newport 1989, 1991). Damit ergäbe sich bereits das sechste bis siebente Lebensjahr, also das typische Schuleintrittsalter, als der Endpunkt sogenannter früher Bilingualität (Perani et al. 2003; Fabbro 1999). Aber auch im Zeitraum vor der Einschulung, also in den ersten 6 Jahren, sind je nach früherem oder etwas späterem Erwerbsalter erheblich differierende neuronale Korrelate des Spracherwerbs zu beobachten. Insgesamt deutet vieles darauf hin, dass aus neurowissenschaftlicher Sicht das dritte Lebensjahr einen ganz besonderen Wendepunkt in der neuronalen Organisation des Erwerbs markiert (Paradis 2004). Untersuchungen und Darstellungen von Paradis (2004); Perani et al. (2003) und Wartenburger et al. (2003) lassen zusammen mit früheren Befunden von Kim et al. (1997); Perani/ Cappa (1998); Perani et al. (1996); Abutalebi/ Cappa/ Perani (2001) und Abutalebi/ Miozzo/ Cappa (2000) ungefähr folgendes Bild von den Makrostrukturen und Makroprozessen entstehen, die mit dem Erwerb mehrerer Sprachen einhergehen: Werden Kinder sehr früh (im Alter von bis zu drei Jahren) und intensiv zwei Sprachen ausgesetzt, erfolgt die Verarbeitung beider Sprachen in einem einzigen neuronalen Netz. Auch alle weiteren Sprachen, die danach erworben werden, werden in dieses Netz integriert. Beim späteren Erwerb (nach dem dritten Lebensjahr) einer L2 hingegen bilden sich im Hirn zwei unterschiedliche neuronale Netze, die sich zum Teil überlappen, zum Teil jedoch unterschiedliche Areale nutzen (vor allem im Bereich des Brocazentrums, aber auch im seitlichen frontalen Kortex). Für alle weiteren Sprachen muss jeweils ein (teilweise) eigenständiges Netz angelegt werden. Beim Prozessieren der nach dem dritten Lebensjahr erworbenen L2 werden höhere Hirnaktivitäten sichtbar als bei der L1, was aus verschiedenen Gründen als Indiz für unterschiedliche Automatisierungsgrade interpretiert werden kann. Nach Hirnläsionen scheinen jene Sprachen im Hirn schneller restrukturiert zu werden, deren Automatisierungsgrad sehr hoch ist; bei einem Automatisierungsgrad unterhalb einer bestimmten Schwelle kann es daher zu fortdauerndem Ausfall einer der beiden Sprachen bei gleichzeitiger Wiederherstellung der anderen kommen, was wiederum auf einen Zusammenhang zwischen Automatisierungsgrad und Gedächtnisleistung schließen lässt. Grundsätzlich ergibt sich als bildungspolitische Forderung aus all diesen Untersuchungen, den Zeitpunkt für den Zweit-/ Fremdsprachenerwerb und für alle damit verbundenen Fördermaßnahmen so früh wie möglich zu legen, da nur dann das Gehirn eine ganz besondere Öffnung für den Erwerb interak- Perspektiven der Mehrsprachigkeit 339 tiver, kommunikativer und sprachlicher Muster zu bieten scheint. Es ist jedoch bekannt, dass wir noch weit von diesem Ziel entfernt sind. Es lohnt daher ein Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen Mehrsprachigkeit in der Bundesrepublik steht. 2. Mehrsprachigkeit und Migration In „The Handbook of Bilingualism“ (Bhatia/ Ritchie (Hg.) 2006), einem beeindruckenden, knapp 900 Seiten starken Kompendium heutigen Wissens über die unterschiedlichsten Aspekte der Mehrsprachigkeit, formuliert Tabouret-Keller (2006, S. 668) in dem Beitrag „Bilingualism in Europe“ zur Sprachensituation in der Bundesrepublik Deutschland knapp und lapidar: For centuries, membership of the German „people“ (Volk) was defined by blood kinship as well as, but not only, by the use of the language. Social bilingualism was therefore seen as a threat to purity and to the German spirit (Volksgeist). Hence the crucial importance of the law adopted recently (March 2002) in the Federal Republic of Germany on „the orientation and the limitations of the immigration flux.“ - ein Gesetz, das, wie der Verfasser im Fortgang feststellt, erregt vorgetragenen Anfeindungen ausgesetzt war. Erst in stark veränderter Fassung sei es nach sechsstündiger Bundesratsdebatte am 22. März 2002 (mit umstrittener Mehrheit von nur einer einzigen Stimme) verabschiedet worden. Bundespräsident Johannes Rau unterzeichnete das bereits seit dem Jahr 2000 öffentlich diskutierte Gesetz am 20. Juni 2002 und sparte nicht an harscher Kritik an allen Parteien, die durch ihren erbittert ausgetragenen Streit das Ansehen der Bundesrepublik schwer beschädigt hätten. Die nun folgende traurige ‘Karriere’ dieses Gesetzes konnten weder Andrée Tabouret-Keller noch der Bundespräsident zum damaligen Zeitpunkt absehen: Nach einem Stopp des Gesetzgebungsverfahrens durch das Bundesverfassungsgericht wurde die politische Debatte erneut entfacht und das Gesetz wurde im Juni 2003 nochmals dem Bundesrat vorgelegt, der es dieses Mal mit der Mehrheit der unionsregierten Länder ablehnte. Nach Einschalten des Vermittlungsausschusses dauerte es weitere zwei Jahre, bis nach zahlreichen Veränderungen schließlich 2005 das heutige „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern“ in Kraft treten konnte. Deutschland hat sich demnach seit dem Beginn der in den 50er Jahren durch wirtschaftlichen Bedarf ausgelösten Migrationsbewegungen von Millionen von Menschen mehr als ein halbes Jahrhundert Zeit gelassen, Einwanderung Hans Bickes 340 durch ein umfassendes Gesetz zu regeln, geschweige denn zu gestalten. Die wenigen Vorstöße in dieser Zeitspanne wurden nicht nachhaltig verfolgt - wie etwa das Kühn-Memorandum aus dem Jahr 1979. Vorsichtig kommentiert Gogolin (2006, S. 36): Ein Charakteristikum der deutschen Reaktionen auf Migration ist, dass von Beginn an - in Reaktion auf politische Strömungen oder wirtschaftliche Umstände - mit Ad hoc-Maßnahmen versucht wird, Zuwanderung zu steuern bzw. zu kontrollieren. Eine kontinuierliche Integrationspolitik wurde hingegen nicht etabliert. [...] Der Vergleich von Grundzügen der Migrationspolitiken in Großbritannien und Deutschland zeigt: In Großbritannien hat sich eine Politik der öffentlichen Anerkennung von kultureller und sprachlicher Heterogenität im Lande entwickelt. Es herrscht ein Klima der relativen Gelassenheit gegenüber den Erscheinungsformen von Vielfalt - und zugleich: der Unduldsamkeit gegenüber rassistischen Ausschreitungen. Demgegenüber scheint eine übergreifende, gelassene und konstruktive Debatte über Konzepte der gesellschaftlichen Gestaltung der Herausforderungen durch Migration in der Bundesrepublik Deutschland nicht geführt werden zu können [...]. Darin steckt mehr Gefährdung der gesellschaftlichen Kohäsion in Deutschland als in der Zuwanderung selbst. Wie Gogolin (2006, S. 37f.) gleichfalls bemerkt, geht es der deutschen Politik gegenüber Migration vor allem um die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Ordnung in der Bundesrepublik. Eine Einwanderungspolitik, die diesen Namen verdient, hat es nie gegeben und gibt es auch nach dem neuen Gesetz nicht. Obwohl die demografische Entwicklung und ein zunehmender Mangel an qualifizierten Arbeitskräften auch künftig Einwanderung unverzichtbar machen wird, sind keine verlässlichen Leitlinien für eine gestaltende Einwanderungspolitik erkennbar; das jetzige Gesetzeswerk ist dominiert von Prinzipien der Kontrolle, Steuerung und möglicher Abwehr von Einwanderung. Zwar wird Unterstützung bei ‘erwünschter’ Einwanderung angeboten, etwa in Form von verpflichtenden Integrationskursen mit Sprachangebot, doch zugleich drohen denen Sanktionen, die diese Programme nicht mit Gewinn nutzen. Da, wo Einwanderung faktisch stattfindet, handelt es sich häufig um Familienzusammenführung oder Asylgewährung, also um Fälle, die ohnehin aufgrund von überstaatlichen Konventionen, Gerichtsentscheidungen, grund- und menschenrechtlichen Normen nicht zu verhindern sind. Hinsichtlich der im Gesetz verankerten Integrationskurse gibt es mehr als berechtigte Zweifel daran, dass eine wirkliche Qualitätssicherung dieser Angebote, insbesondere der von heute auf morgen eingeführten Sprachangebote, gewährleistet ist. Denn über Jahrzehnte sind dem Fach Deutsch als Zweitsprache viel zu wenig Aufmerksamkeit und entschieden zu wenig Ressourcen im deutschen Hoch- Perspektiven der Mehrsprachigkeit 341 schulsystem zugekommen. 5 Dadurch stehen qualifizierte Lehrkräfte weder für die Integrationskurse noch für die Förderangebote in Kindergärten und Schulen in ausreichender Zahl zur Verfügung. Die Situation in deutschen Schulen ist bekannt und wird uns mit steter Regelmäßigkeit in internationalen Vergleichen vorAugen geführt: Die Partizipationschancen von Kindern und Jugendlichen ‘mit Migrationshintergrund’ am deutschen Bildungssystem sind schlechter als in anderen Staaten, und es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und Einkommen einerseits und Bildungserfolg andererseits auch und gerade in dieser Gruppe. Selbst nach mehreren bildungspolitisch viel diskutierten internationalen Evaluationen unseres Bildungssystems - unter besonderer Akzentuierung der Migrationsproblematik - ist es in der Bundesrepublik Deutschland (im Jahr 2007) noch immer nicht möglich, Zahlen darüber zu erhalten, wie viele Menschen in unserem Land wie viele Sprachen sprechen. Zwar wissen wir, dass hier ungefähr 15,3 Millionen Menschen (19% der Gesamtbevölkerung) leben, die im weiteren Sinn einen Migrationshintergrund aufweisen, und dass ungefähr die Hälfte davon ausländische Bürger/ innen im Sinne des Grundgesetzes (7,3 Millionen; 9% der Gesamtbevölkerung) sind. Auch ist mittlerweile bekannt, dass ungefähr jedes dritte Kind der heute Sechsjährigen zuhause mit mehr als einer Sprache aufwächst. 6 Aber es gibt keine verlässliche und flächendeckende Erhebung darüber, wie sich verschiedene Sprachen auf die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland verteilen, wie viele als mehrsprachig zu gelten haben und wie die Nutzung und die Vitalität der gesprochenen Sprachen einzuschätzen ist. Immerhin gibt es - so eine Studie der Freien Hansestadt Hamburg 7 - ungefähre Schätzungen dahingehend, dass mehr als 10 Millionen der hier lebenden Einwanderer auch an ihrer Herkunftssprache als Kommunikationsmittel festhalten und als zweisprachig gelten können. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass mit einem Weiterbestand der Zweisprachigkeit in zahlreichen Sprachpaaren und - daraus folgend - mit gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit in Deutschland auf absehbare Zeit zu rechnen ist. Die Funktion der deutschen Sprache als allgemeine Verkehrssprache wird dabei nicht in Frage gestellt. (Reich/ Roth 2002, S. 10). 5 Gewiss gibt es einzelne universitäre Standorte, die das Thema früh profiliert haben, doch mangelt es an einer breiten, geschweige denn lückenlosen, Verankerung verpflichtender interkultureller und auf Zwei- oder Mehrsprachigkeit zielender Angebote in der Fläche, etwa bei der Lehrerbildung. 6 Statistisches Bundesamt (Hg.) (2006). 7 Reich/ Roth (2002), S. 7. Hans Bickes 342 In Ländern, die ihren Status als Einwanderungsländer akzeptiert haben, etwa die Niederlande oder Großbritannien, ist es möglich, differenziertere Zahlen zu erhalten. So weiß man, dass das Aufkommen an Mehrsprachigkeit in Ballungsgebieten wie Den Haag zur Folge hat, dass in den dortigen Schulen unter Schülern ca. 110 unterschiedliche Sprachen gesprochen werden, und für den Großraum London geht man von insgesamt 300 verschiedenen Sprachen in den Schulen aus. Es ist anzunehmen, dass deutsche Großstädte mit ähnlichen Zahlen aufwarten können. Für viele Schulen wird in wenigen Jahren der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund bei über 50% liegen. Wenn Deutsch als Verkehrssprache, insbesondere auch in den Schulen, die dominante Sprache bleiben wird und gleichzeitig die Bildungschancen mehrsprachiger Kinder verbessert werden sollen, müssen die Fördermaßnahmen im Bereich Deutsch als Zweitsprache um ein Vielfaches gesteigert werden. Doch welche Rolle soll dann den Herkunftssprachen zukommen? 3. Ist kompetente Mehrsprachigkeit möglich? Im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen 8 wird Mehrsprachigkeit an mehreren Textstellen sowohl als Bürgerrecht wie auch als Bildungsziel für alle europäischen Mitgliedsstaaten verankert. Angesichts dieses überstaatlichen Bekenntnisses zur Mehrsprachigkeit ist es unverständlich, dass die großen Einwanderungssprachen im hiesigen Bildungssystem kaum eine Rolle spielen. Das gilt im bundesweiten Maßstab für das Italienische, Spanische, Serbokroatische, Polnische und Russische ebenso wie für Türkisch. Einige wenige Schulen in den Bundesländern haben differenzierte Wahlangebote im Programm, doch kommt diesen Schulen allenfalls Modellcharakter und ein Ausnahmestatus zu. Das Bildungssystem verspielt so ein riesiges Potenzial an vorhandenen Ressourcen und an Chancen der Aufwertung und Anerkennung von Migrationsidentitäten. Der Blick richtet sich allein auf deren Kompetenz in der Zweitsprache Deutsch; selbst positive Charakteristika ihrer Mehrsprachigkeit 9 werden gesellschaftlich oft noch immer unter Schlagwörtern wie ‘doppelte Halbsprachigkeit’ rubriziert und als Hindernisse für die kognitive Entwicklung wahrgenommen. Darin lebt eine Tradition von Vorurteilen fort, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in monokulturellen Gesellschaften vorherrschend war, nämlich dass Bilingualismus eine zu ver- 8 Siehe http: / / www.goethe.de/ z/ 50/ commeuro/ 101.htm (Stand: 22.08.08) . 9 Solche Charakteristika sind z.B. auffällige Mechanismen wie code-switching und codemixing, die selbst in der wissenschaftlichen Literatur erst in jüngerer Zeit als funktionale Kommunikationsstrategien gewürdigt werden; aber auch die Herausbildung spezifischer Varietäten, von Ethnolekten etc. (vgl. Müller et al. 2006; Cantone 2007; auch Reich/ Roth 2002, S. 31f.). Perspektiven der Mehrsprachigkeit 343 meidende Form menschlichen Sprachverhaltens sei und dass die Gehirnkapazität durch das Prozessieren zweier Sprachen überlastet werde. Bilinguale Kinder seien mental überfordert und sprachliche und kognitive Entwicklungsstörungen seien zu befürchten (vgl. die Darstellungen in Baker 2001, S. 136; Bialystok (Hg.) 1991, S. 1ff.). Diese generelle Annahme subtraktiver Wirkung von Mehrsprachigkeit ist mittlerweile wissenschaftlich durch sorgfältige Studien entkräftet (vgl. Belliveau 2002; Baker 2001; Bialystok 2006; Romaine 1989, 1999; Bhatia/ Ritchie (Hg.) 2006; Edwards 2006), doch leben zahlreiche Vorurteile im gesellschaftlichen und bildungspolitischen Diskurs fort. Demgegenüber gibt es gute Belege dafür, dass Bilinguale in einigen Feldern kognitive Vorteile gegenüber Monolingualen aufweisen (vgl. Bialystok 2006; Belliveau 2002; Baker 2001; Edwards 2006). Etwa weisen (kompetent) bilinguale Kinder im Vergleich zu ihren monolingualen Altersgenossen ein größeres Spektrum an kreativem und divergentem Denken auf, sie haben ein höheres Sprachbewusstsein und insbesondere ein Bewusstsein von der Arbitrarität menschlicher Sprachen, sie sind zu größerer selektiver Aufmerksamkeit in der Lage. - Kompliziert ist das Verhältnis zwischen Herkunftssprachenerhalt und Zweitsprachenerwerb, da sich, wie weiter unten noch ausgeführt wird, Maßnahmen zum Spracherhalt gegenläufig zu Maßnahmen zur Zweitsprachförderung verhalten können. Grundsätzlich ist es allerdings eine eigentümlich verzerrte Perspektive, den Grad der bilingualen Sprachbeherrschung als primäre Ursache für kognitive Vorteile einerseits oder für kognitive Verzögerungen oder Bildungsdefizite andererseits zu erwägen. In erster Linie werden die kognitive und die sprachliche Entwicklung durch das sozioökonomische Umfeld, die Bildungssysteme und die Wertschätzung der kulturellen Traditionen und Identitäten von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gefördert oder behindert. 10 Kompetent bilinguale Kinder wachsen z.B. meist in einer sehr reichhaltigen Umgebung mit zwei gelebten Kulturen auf (vgl. Pauli 2007, S. 60) und werden unter Umständen von Eltern gefördert, die hohen Wert auf die sprachliche Entwicklung ihrer Kinder legen (vgl. Baker 2001, S. 146ff.). Die verschiedenen Geschichten, Analogien, Metaphern und soziopsychologischen Erklärungsansätze der beiden Kulturen erweitern dabei Intellekt und Bildung des Kindes (vgl. Tomasello 2002, S. 186, 213, 221). Die kompetente Bilingualität tritt hierzulande allerdings vergleichsweise selten auf. Angesichts der Bekenntnisse zur Mehrsprachigkeit im Europäischen Referenzrahmen verwundert, dass immer wieder die Frage diskutiert wird, ob und 10 Eine differenzierte Untersuchung für türkisch-deutsche Kinder liegt mit Preibusch (1992) vor. Hans Bickes 344 inwieweit eine Förderung der Herkunftssprache bei Kindern mit Migrationshintergrund sinnvoll ist. Für eine Vernachlässigung der Herkunftssprachenförderung zugunsten der Zweitsprache Deutsch gibt es allerdings durchaus gute Argumente, wenn man vor allem die Chancen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt im Blick hat. So zeigt der Soziologe Hartmut Esser in seinen Arbeiten, dass bisherige Studien den unmittelbaren positiven Effekt der Erstsprache auf die Bildungskarriere überbewerten (Esser 2006a). Der Bildungserfolg korreliert hingegen stark mit dem Grad der Zweitsprachbeherrschung. Vor allem aber spielen sozioökonomische Faktoren (aus der Heimat ‘mitgebrachte’ ebenso wie die in der Aufnahmegesellschaft wirksamen) eine, wenn nicht die gewichtige Rolle beim Entstehen gesellschaftlicher Benachteiligung von Bevölkerungsgruppen mit hohem Migrationsanteil. Dies räumt auch die Kultusministerkonferenz ein: Dabei sind neben der Aufenthaltsdauer der Familie in Deutschland insbesondere die soziale Lage der Familie und ihre berufliche, gesellschaftliche und kulturelle Integration maßgeblich für die sprachliche Sozialisation und Entwicklung der in der Regel zweisprachig aufwachsenden Kinder und Jugendlichen. Der Schulerfolg steht demzufolge auch im Zusammenhang mit den materiellen und kulturellen Ressourcen der Familien zur Unterstützung des schulischen Lernens. 11 Die in Deutschland geborenen Migrantenkinder der zweiten und dritten Generation wachsen oft unter ungünstigen Bedingungen bilingual auf (vgl. Pauli 2007). 12 Wenig Bildung (häufig verbunden mit Analphabetismus) und geringer Zweitspracherwerb der Eltern - schon in der Türkei meist Mitglieder der ländlichen Arbeiterschicht (vgl. Backus 2006, S. 687; Özcan 2004, S. 12, 47) - wirken negativ auf die Sprachkenntnisse vor allem jüngerer Kinder. Alle weiteren Faktoren, die sich auf die soziale Position und Bildungsnähe der Eltern beziehen, haben zusätzlich Einfluss auf die sprachlichen Schulleistungen. 13 Das Aufwachsen in ethnisch konzentrierten Wohngegenden - wiederum stark abhängig vom Einkommen und damit auch von der Bildung der Eltern (vgl. Özcan 2004, S. 35) - wirkt nicht nur als Verstärker anderer nachteiliger Umstände; es führt auch zur Beschulung in entsprechend ethnisch konzentrierten Schulklassen. Verbunden mit einer hohen ethno-linguistischen Konzentration ist dabei in der Regel die Konzentration statusniedriger Kinder. 11 Ständige Konferenz (2002, S. 2f.). 12 Die Zweitsprache Deutsch kommt meist ab dem Alter von vier Jahren hinzu (vgl. Backus 2006, S. 696). Damit sind, wie in Abschnitt 1. oben gezeigt, bereits zusätzliche Hirnaktivität und komplexere Vernetzungsstrukturen beim Erwerb wahrscheinlich. 13 Esser nennt hier u.a. den beruflichen Status und das über die Anzahl von Büchern im Haushalt operationalisierte kulturelle Kapital (vgl. Esser 2006a, S. 67). Perspektiven der Mehrsprachigkeit 345 Hinzu kommt die hochgradige soziale Selektivität des deutschen Schulsystems: Wie die PISA -Studie zeigt, ist in keinem anderen Land der Erfolg im Bildungssystem stärker abhängig von sozialer Herkunft als in Deutschland (Gogolin/ Neumann/ Roth 2003, S. 13). Dies verschärft die Situation der Jugendlichen mit Migrationshintergrund abermals. Esser (2006a, S. 68) lässt keinen Zweifel daran, dass diese Konzentrationsprozesse von sozioökonomisch statusniedrigen Elternhäusern mit ihrer beeinträchtigenden Auswirkung auf schulische Leistungen ab einem bestimmten Ballungsgrad automatisch auch die Chancen von Familien mindern, für die von ihrem individuellen sozioökonomischen Status her bessere Bildungschancen zu erwarten wären. Je geringer die Chancen auf Teilhabe an den erhofften wirtschaftlichen Segnungen ausfallen, desto ausgeprägter entsteht Distanz zur Kultur des Aufnahmelandes. Folge sind weitere ethnische Konzentration, die Herausbildung ethnischer Netzwerke und das Entstehen von Parallelgesellschaften. In diesem Klima bildet sich kein Beherrschungsgrad der Zweitsprache Deutsch heraus, der den Anforderungen des vorherrschenden monolingualen Bildungssystems genügt. Damit geraten die Betroffenen erst recht ins soziale Abseits. Esser (2006a, 2006b) zieht die Konsequenz, dass dieser Teufelskreis im monolingualen Bildungssystem der Bundesrepublik nur durch eine gezielte und nachhaltige Förderung der Zweitsprache durchbrochen werden kann. Die Bedingungen für einen gelungenen Zweitspracherwerb sind empirisch gut untersucht. Im Idealfall wird ein umfassender Zweitspracherwerb nach Esser (2006a; vgl. hier und im Folgenden auch Pauli 2007, S. 50ff.) u.a. begünstigt durch freiwillige, langfristig geplante Migration, lange Aufenthaltsdauer, niedriges Einreisealter und gute Bildung (auch der Eltern); ferner durch einen niedrigen Q-Value (Verkehrswert/ Prestige) der Herkunftssprache (auch im Vergleich mit dem Q-Value der Zweitsprache), Zugang zur Zweitsprache bereits im Herkunftsland und durch insgesamt niedrige linguistische, soziale und kulturelle Distanzen. Günstig wirken somit interethnische Kontakte und Sprachkurse, eine stark auf monolinguale Assimilation ausgerichtete Politik bei gleichzeitigem multikulturellem, tolerantem öffentlichem Klima, geringe ethnische Konzentration, geringe Größe der Sprachgruppe, exogame Ehen, ein reduzierter Zugang zu erstsprachlichen Medien. Dabei stehen diese Bedingungen in Interaktion, können sich teilweise gegenseitig aufheben oder verstärken. Mit diesen Größen lassen sich nahezu alle signifikanten Unterschiede in den Sprachkompetenzen zwischen Migranten unterschiedlicher Herkunftsländer erklären (vgl. Esser 2006a, S. 39) ebenso der Sprachwechsel in der dritten Generation (vgl. ebd., S. 38). Hans Bickes 346 4. Verhältnis zwischen Zweitsprache und Herkunftssprache Einige der in dieser Aufzählung genannten, für den Zweitspracherwerb förderlichen Bedingungen wirken sich nun allerdings ausgesprochen negativ auf den Erhalt der Herkunftssprache aus. Grundsätzlich ist mit einem Erhalt der Erstsprache dann zu rechnen, wenn sie hinreichend zugänglich bleibt und dieser Zugang eher mit Erträgen als mit Kosten verbunden ist. Bedingungen, die den Zugang und die kommunikative Verwertbarkeit der Erstsprache steigern und somit deren Erhalt sichern können, z.B. ethnische Konzentration und/ oder leichter Zugang zu herkunftssprachlichen Medien, bewirken unter nicht idealen, monokulturell geprägten Umgebungsbedingungen jedoch eine geringere Wahrscheinlichkeit gelungenen Zweitspracherwerbs. Neutralisiert wird diese unerwünschte Wechselwirkung allenfalls durch den Faktor Intelligenz, der sich bei beiden Sprachen fördernd bemerkbar macht, und durch den (verwandten) Faktor Bildung. Beide haben zudem eine positive Auswirkung auf den Spracherhalt. Auch bei bildungsfernen Schichten tritt Spracherhalt auf, doch geht dies meist zu Lasten ihrer Zweitsprachkompetenz (vgl. Esser 2006a, S. 49). Auch eine geringe soziale Distanz zwischen Aufnahme- und Ausgangskultur fördert nicht nur den Zweitspracherwerb, sondern auch den Erstspracherhalt. Wenn die Erwerbsumgebung eine positive Identität bezüglich beider Kulturen und Wertesysteme gestattet und unterstützt, kann additiver Bilingualismus und somit auch kompetenter Bilingualismus durchaus erreicht werden (vgl. Butler/ Hakuta 2006, S. 132). Insofern ist eine multikulturell eingestellte Gesellschaft ein günstiges Umfeld für kompetenten Bilingualismus, während eine auf monolinguale Assimilation ausgerichtete Politik sich nur auf den Zweitspracherwerb, nicht aber auf den Spracherhalt fördernd auswirkt. Baker nennt drei mögliche (gesellschaftliche und politische) Sichtweisen auf Sprache: Sprache kann als Problem, als Recht oder als Ressource gesehen werden (vgl. Baker 2001, S. 368ff.). Monokulturelle Gesellschaften betonen den Problemcharakter der Mehrsprachigkeit und schätzen deren Ressourcencharakter ebenso gering wie das Recht der Betroffenen, durch Erhalt der Herkunftssprache die eigenkulturelle Perspektiven zu bewahren. In der bundesdeutschen, d.h. vorwiegend monokulturell gestalteten Umgebung sind - wie bereits erwähnt - einige wichtige Faktoren, die den Erhalt der Erstsprache begünstigen, solche, die den Zweitspracherwerb behindern. Weil dadurch auch der Bildungszugang einschneidend behindert wird, plädiert Esser (2006a, S. 20) für einen Verzicht auf Maßnahmen, deren Wirksamkeit für die strukturelle Integration trotz langjähriger Bemühungen und zahlreicher Untersuchungen nicht nachzuweisen ist. Da dies zum Beispiel für die mancherorts verstärkten Bemühungen Perspektiven der Mehrsprachigkeit 347 zugunsten eines bilingualen Unterrichts zutrifft, sollten dafür keine Mittel ausgegeben werden, die wirksameren Maßnahmen [...] dann nicht mehr zur Verfügung stehen. Diese Forderung blieb erwartungsgemäß nicht ohne Protest. Vielen Sprachwissenschaftler/ innen scheint es kurzschlüssig, Programme zur Förderung von Herkunftssprachen zugunsten der Förderung der Zweitsprache Deutsch zu kürzen. In der deutschen Gesellschaft ist seit geraumer Zeit eine besondere Aufmerksamkeit für Fragen der eigenen Sprache zu beobachten. Populärwissenschaftliche sprachpflegerische Bücher haben Hochkonjunktur, Anglizistenschelte ist verbreitet und eine überfällige Rechtschreibreform löste eine Art intellektuellen Bürgerkrieg aus; in Medien war u.a. von einer „Vertreibung aus dem Haus der deutschen Sprache“ die Rede. Dabei ging es gar nicht um Sprache, sondern nur um maßvolle Änderungen ihrer Schreibweise. Vor diesem Hintergrund muss die in der Esser'schen Forderung anklingende Geringschätzung des Rechts von Migrantinnen und Migranten auf Erhalt und Förderung ihrer Herkunftssprachen als merkwürdige Anmutung empfunden werden. In der Folge sollen einige Überlegungen vorgetragen werden, die für Maßnahmen zum Erhalt von Herkunftssprachen sprechen, auch wenn dafür zusätzliche Mittel aufzuwenden sind. Unbestreitbar schreitet die Entwicklung der Bundesrepublik zu einer multikulturellen und mehrsprachigen Gesellschaft (mit Deutsch als einer gemeinsamen Verkehrssprache) unaufhaltsam voran. Die Konsequenz sollte sein, die Bemühungen zur Transformation der gesellschaftlichen Bedingungen von einem monokulturellen in einen mehrkulturellen Modus zu steigern. Spracherwerb und Spracherhalt können nach Abschluss dieser Entwicklung theoretisch mit Gewinn für die Betroffenen und für die Aufnahmegesellschaft gemeinsam auftreten. Sprachenvielfalt ist in einer am Ende des Prozesses der Transformation stehenden künftigen Gesellschaft, die viele Kulturen unter einem Dach vereint, gleichzeitig aber international vielfältige Verflechtungen eingeht, eine bedeutsame Ressource, die nicht durch kurzfristige Teilziele auf diesem Weg verspielt werden sollte. 14 14 Wollte man die für die Bundesrepublik vorgetragen Argumente Essers zum Verhältnis von Sprachen untereinander sprachenpolitisch auf ein durch zunehmende Mobilität geprägtes Europa übertragen, würde dies nahelegen, eine einzige Lingua Franca grenzüberschreitend als Bildungssprache zu etablieren und dabei zwangsläufig in Kauf zu nehmen, dass der Erhalt der Regionalsprachen gefährdet wird. Bei Diskussionen um die sprachenpolitische Zukunft Europas hat man sich jedoch immer wieder für das Modell europäischer Mehrsprachigkeit mit ausgeprägtem Stellenwert regionaler Einzelsprachen entschieden, da sprachlicher Vielfalt und kultureller Identität ein hoher Eigenwert eingeräumt wurde. Hans Bickes 348 Es gilt in der Diskussion um die Förderung der Herkunftssprache daher, deren Eigenwert und schließlich auch den aus Mehrsprachigkeit resultierenden Mehrwert zu belegen. So kann z.B. argumentiert werden, dass der Erhalt der Herkunftssprache auf einer sehr grundsätzlichen Ebene zur Integration heterogener gesellschaftlicher Systeme beiträgt, wie sie in durch Migration geprägten Gesellschaften vorliegen. Der Soziologe Roland Eckert (2006, S. 24f.) schreibt: Eine Gesellschaft, in der durch interne Ausdifferenzierung unterschiedlicher kultureller Milieus und durch fortschreitende Wanderungsbewegungen die kulturelle und ethnische Heterogenität ständig zunimmt, in der viele Menschen sich bereits durch die Konfrontation mit fremdartigen Lebensweisen im Erscheinungsbild der großen Städte und in den Medien irritiert fühlen und sich auf Traditionen zurückbesinnen, die andere häufig ausschließen - eine solche Gesellschaft muss die Erfahrung einer empathischen (mitfühlenden) Perspektivenübernahme als Schlüsselqualifikation einer interkulturellen politischen Bildung vermitteln. Wer die Welt einmal aus den Augen des anderen gesehen hat, wer sich spielerisch mit ihm identifiziert hat und zwar nicht nur strategisch, wird dessen Recht eher achten [...]. [Hervorheb. i. Orig.] Genau diese „Schlüsselqualifikation“ der „mitfühlenden Perspektivenübernahme“ begleitet indes als konstitutives Element den gesamten Prozess des Erstspracherwerbs und differenziert sich mit zunehmender Sprachentwicklung immer weiter aus. Wie Michael Tomasello in mehreren Arbeiten darlegt, wird mit dem Erwerb der Erstsprache, aber auch jeder weiteren Sprache jeweils eine spezifisch ausgeprägte Form von kulturell geprägter Kognition erworben, die sich durch ein besonderes Perspektivierungspotenzial auszeichnet. Im fortschreitenden Erwerb einer Sprache wird das Perspektivierungsvermögen des Kindes erweitert und simultan eine differenzierte Fähigkeit zu sozialer Kognition aufgebaut. Sprachliche Kognition ermöglicht repräsentationale Neubeschreibung, Reflexionsprozesse und die Konstruktion einer Selbstrepräsentation (Karmiloff-Smith 1995; Tomasello 2002; Bickes 1988, 1993). All diese Prozesse sind aufs Engste mit dem Erstspracherwerb verknüpft, auch wenn sie durch den Erwerb einer weiteren Sprache zusätzlich bereichert werden können. Beim Erwerb zweier Sprachen verbinden sich aus zwei Kulturlinien stammende Perspektivierungstraditionen in der Kognition des Individuums zu einer flexiblen Einheit. Der Herkunftssprache kommt in diesem Prozess in der sehr frühen Phase eine besondere Bedeutung zu. Dies soll im letzten Abschnitt gezeigt werden. Perspektiven der Mehrsprachigkeit 349 5. Spracherwerb als Erwerb von kulturell geprägter Kognition und Perspektivität Folgt man einer Reihe von jüngeren Ansätzen (vgl. Barrett (Hg.) 1999; Karmiloff/ Karmiloff-Smith 2001; Tomasello (Hg.) 1998) zur Erklärung von frühem L1-Spracherwerb, konstruieren Kleinkinder sprachliche Muster (auf allen Ebenen) ebenso wie Intentionalität und Bedeutungshaftigkeit nach und nach in komplexen, affektiv hoch geladenen Interaktionen mit ihren Bezugspersonen. Im Zentrum dieser Interaktionen liegt grundsätzlich das Bedürfnis nach Nähe, nach Austausch und nach Geborgenheit. In einem Aufsatz von Reddy (1999) wird der frühe Erwerb über die Metapher einer Jazz-Band veranschaulicht: Weder gibt es nur einen einzigen Musiker, der hier das Stück erzeugt, noch kann das im Prinzip offene Ergebnis des Spiels von dem fein aufeinander abgestimmten, von ständiger gegenseitiger Inspiration lebenden Prozess des Hervorbringens getrennt werden. Hinter dem frühen Erstspracherwerb sind - so der Evolutionsbiologe Locke (1996, 1997, 1999; vgl. auch Bickes 2004) - eine Reihe von so genannten guidance mechanisms am Werk, die das Kind überhaupt zum Sprechen bringen. am Werk, die das Kind überhaupt zum Sprechen bringen. Diese Mechanismen sind nicht primär dazu da, den Spracherwerb zu ermöglichen, sondern stehen zunächst in einem viel weiteren Sinn im Dienste allgemeiner Überlebensstrategien. Etwa ist das Kind zur Überlebenssicherung mit einem enormen „Appetit“ nach sozialer Stimulation ausgestattet, kann die Stimme seiner nächsten Bezugsperson von der anderer Personen unterscheiden, ebenso die Affektqualität von Äußerungen, vermag prosodische Einheiten zu erinnern und erkennt frühzeitig menschliche Gesichter. Locke spricht in diesem Zusammenhang von der Wirksamkeit eines social cognition network, das in primärer Funktion eine soziale Einbindung des hilflosen Kleinkindes und Fürsorge durch die engsten Bezugspersonen sichert. Sekundär entwickelt das Kind verfeinerte Fähigkeiten, Laute und Stimmführungen zu differenzieren, prosodische Einheiten, darunter auch Wörter und formelhafte Sprachausschnitte, zu speichern und erste Vokalisationen vorzunehmen - von Locke precursors of language genannt. Mit zunehmender Datenmenge und gleichzeitiger kognitiver Differenzierung beginnt eine Rekategorisierung und Reanalyse des gespeicherten Materials und die Entstehung früher grammatischer Kompetenz. Diese Prozesse auf höherer Stufe fasst Locke unter der Bezeichnung grammatical network zusammen; erst hier entsteht Sprache und Sprechen im eigentzusammen; erst hier entsteht Sprache und Sprechen im eigentlichen Sinn. Mit anderen Worten: Bevor das Kind ‘richtig’ sprechen lernt, ist es außerordentlich rege im Knüpfen sozialer Beziehungen; die bei sozial gerichteter Aktivität erworbenen Teilfertigkeiten und Fähigkeiten führen schließlich Hans Bickes 350 zur Herausbildung von Sprache. Grundsätzlich gehen kognitive und sprachliche Entwicklung Hand in Hand, wobei ein besonderer Stellenwert der Entwicklung sozialer Kognition zukommt, worauf insbesondere Tomasello immer wieder hingewiesen hat. Besonders einschneidend ist die von Tomasello so genannte Neunmonatsrevolution, nämlich der Zeitpunkt, zu dem das Kind beginnt, andere als intentionale Wesen wahrzunehmen. Anknüpfend an Meltzoff/ Gopnik (1993) und Arbeiten zur Säuglingsforschung von Stern (1979, 1992) sowie Trevarthen (1980) hat Klann-Delius (1999, S. 158ff.) recht genau zusammengefasst, wie sich dieser Prozess der Herausbildung von sozialer Kognition aus entwicklungspsychologischer Sicht darstellt. Die frühen Körpererfahrungen des Säuglings, seine Wahrnehmungen der eigenen Vokalisationen und die daraus resultierenden Intentionalitätszuschreibungen durch die Bezugspersonen, sowie die frühen körperlichen und kommunikativen Interaktionsrituale mit der Bezugsperson lassen beim Säugling ein Gefühl davon entstehen, dass andere sich in ihrem Körper ähnlich fühlen, wie er selbst. Klann-Delius zitiert Meltzoff/ Gopnik (1993, S. 340): Klann-Delius zitiert Meltzoff/ Gopnik (1993, S. 340): [...] it may be our body that leads us to the knowledge of the mind [...] knowing that we inhabit similar bodies to others, and assuming that they share our internal bodily states, might be an important precursor to assuming that they share more abstract mental states as well. Stern (1992; vgl. Klann-Delius 1999, S. 159) sieht im frühen Alter von acht Wochen Anzeichen für Empfindungen eines auftauchenden Selbst und dafür, dass Säuglinge gleichzeitig eine Art Bezogenheit auf etwas entwickeln, was sie nicht als Teil ihrer selbst sehen. Bereits in diesem Alter ist festzustellen, dass Kleinkinder ihr Erleben der Welt und der Geschehnisse im Umfeld nach bestimmten Kategorien zu ordnen beginnen, dass sie Affektqualitäten unterscheiden, dass sie die Vitalität der Handlungen, die in der Umgebung ausgeführt werden, wahrnehmen und ordnen. Damit differenziert sich die Welt aber auch in invariante Konstellationen des Selbst und des Anderen, es entwickelt sich ein im eigenen Erleben körperlich fundiertes Selbstgefühl. Nach und nach wird dieses aufkeimende Selbstgefühl stärker profiliert, vor allem durch rhythmische, rekurrent auftretende Interaktionen mit der Bezugsperson. Das Gefühl der Erwartbarkeit und Verlässlichkeit von Erlebensqualitäten formen ein kohärentes Selbstempfinden in der Zeit, aber auch das Empfinden, selbst Auslöser, Urheber bestimmter Handlungen zu sein, etwa von Bewegungen, die beliebig wiederholt werden können. Der Säugling empfindet den Unterschied zwischen wiederkehrenden Handlungen sowie von Vokalisationen, die seinem eigenen Willen gehorchen, und solchen der Bezugsperson, die zwar wie- Perspektiven der Mehrsprachigkeit 351 derkehren, aber offensichtlich nicht seiner Willenssteuerung unterliegen. Verschiedentlich wird dies als die Entwicklung eines ökologischen Selbst bezeichnet. Damit ist eine Grundunterscheidung zwischen dem Kern-Selbst und dem Kern-Anderen angelegt. Das Kern-Selbst, das künftig auch die Origo sein wird, aus der heraus weiteres Erleben perspektiviert wird, ist nicht flüchtig, sondern es ist als Repräsentation im Gedächtnis des Säuglings gespeichert, und zwar in Form von sogenannten generalisierten Repräsentationen von Interaktionen ( RIG s). Sie können als abstrahierte Schemata real erlebter Interaktionsepisoden angesehen werden, wodurch die enorm wichtige Rolle der frühen Interaktionserfahrungen unterstrichen wird. Da diese Repräsentationen von Interaktionen „generalisierte Schemata real erlebter Interaktionsepisoden sind, enthält jede Evokation bereits gemachter Erfahrungen auch die Erfahrung des Selbst in Beziehung zu dem Anderen. Sobald eine RIG aktiviert wird, wird auch ein „Gefährte“ evoziert“ (Klann-Delius 1999, S. 161). Es entsteht so eine internalisierte Verbindung zwischen dem Selbst und dem Anderen, mithin eine grundsätzliche Bezogenheit des Kindes auf andere. Damit ist der Grundstein gelegt für jenes Charakteristikum in der frühen kindlichen Entwicklung, auf das - wie bereits erwähnt - in jüngsten Arbeiten Tomasello immer wieder nachdrücklich hingewiesen hat. Was den entscheidenden Unterschied zwischen den kognitiven Fähigkeiten nicht menschlicher Primaten und denen des Menschen markiert, sei die Fähigkeit des Menschen, sich in andere hineinzuversetzen. Kleine Kinder beginnen ab dem neunten Monat, andere als sich selbst ähnlich zu verstehen. Durchaus können nicht menschliche Hominide als planvoll agierende Wesen mit einem Sinn für kausale Zusammenhänge beschrieben werden. Was ihnen jedoch gegenüber dem Homo sapiens fehlt, ist das Vermögen, die intentionalen und geistigen Zustände ihrer Artgenossen als beeinflussbar zu verstehen, bzw. Intentionalität und Kausalität in deren Verhaltensweisen zu begreifen. Ab dem neunten Lebensmonat beginnt das Kind, in so genannten Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit ein triadisches Verhältnis zwischen Bezugspersonen, Gegenständen der Welt und sich selbst herzustellen. In einem gewissen Sinn erlebt das Kind jetzt eine zweite Geburt, indem es in diesen Interaktionen zum Mitglied einer symbolic species (Deacon 1997) wird. Das Kind beginnt, ein Verständnis davon zu entwickeln, dass eigene Handlungen Folgen haben, dass Handlungsweisen anderer gleichfalls mit ganz bestimmten Folgen einher gehen, dass man sich mit Gesten und Wortgebrauch gegenseitig beeinflussen und die Aufmerksamkeit wechselseitig auf Gegenstände und Ereignisse in der Umwelt lenken kann, dass man gemeinsame Aufmerksamkeit bezogen auf ein Drittes teilen kann, dass man andere in Hans Bickes 352 ihren Handlungsweisen steuern kann. Der Prozess der Kommunikation erfordert dabei, dass Kinder sich in die Situation der anderen hineinversetzen, um sie überhaupt verstehen zu können (vgl. Tomasello 2002, S. 206). All dies erfordert, dass das Kind in der Lage ist, die Perspektive anderer einzunehmen. Ohne ein mächtiges Symbolsystem wäre seine Fähigkeit, diese Grundanlage zur Perspektivenübernahme zu elaborieren, jedoch außerordentlich eingeschränkt. Es ist die menschliche Sprache als eine besondere Form der Kognition, die dem Kind Mittel an die Hand gibt, seinen Erlebnisraum höchst nuanciert zu gliedern und zu perspektivieren und die Perspektiven anderer zu simulieren. Die vorgefundenen Sprachspiele in der Umgebung des Kindes bilden ein Kaleidoskop voller Perspektiven auf die Kultur, innerhalb derer sich das Kind nach und nach durch übernommene oder eigene Perspektivierungen als Selbst positioniert. Tomasello äußert sich wie folgt: Der zentrale theoretische Punkt ist, daß sprachliche Symbole die unzähligen Weisen der intersubjektiven Auslegung der Welt verkörpern, die in einer Kultur über einen historischen Zeitraum hinweg akkumuliert werden; und der Erwerb des konventionellen Gebrauchs dieser symbolischen Artefakte, und damit die Verinnerlichung dieser Auslegung, verwandelt die Eigenart der kognitiven Repräsentation von Kindern grundlegend. (Tomasello 2002, S. 116) Und später: Was sprachliche Symbole vom Standpunkt der Kognition als einzigartig erscheinen läßt, ist die Tatsache, daß jedes Symbol eine besondere Perspektive auf einen Gegenstand oder ein Ereignis verkörpert: Dieser Gegenstand ist zugleich eine Rose, eine Blume und ein Geschenk. Die perspektivische Eigenart sprachlicher Symbole vervielfacht auf unbegrenzte Weise die Spezifizität, mit der sie eingesetzt werden können, um die Aufmerksamkeit der anderen zu steuern. (ebd. S. 129) Bestandteil des überkommenen Symbolbestandes sind diverse sprachliche Verfahren und Prozeduren, die es gestatten, Perspektivität zu realisieren. Sie spannen sozusagen einen möglichen Perspektivitätsraum auf, der sich durch menschlicher Sprache inhärente Charakteristika wie Konventionalität, Arbitrarität, Metaphorizität u.a. nahezu unbegrenzt erweitern lässt. Diese Verfahren sind zum Teil sprachübergreifend, zum Teil jedoch in ihrer grammatikalisierten Form einzelsprachenspezifisch ausgeprägt. Etwa wird Perspektivenübernahme und das Erkennen von Intentionen gesichert durch die Gültigkeit bestimmter Maximen der Kommunikation, wie sie nach Grice allen Prozessen des Meinens und Verstehens zugrunde liegen. Hinzu treten alle Verfahren, die es dem Sprecher ermöglichen, sich in Beziehung zu anderen zu setzen bzw. Diffe- Perspektiven der Mehrsprachigkeit 353 renzen im Kommunikationsraum zwischen sich und anderen aufzuspannen, Szenen zu gliedern (z.B. personale Deixis, Kasus, Pronominalsystem), die Bezogenheit und Verortung des Sprechers in Raum und Zeit ermöglichen (z.B. lokale und temporale Deixis, generell Kategorien wie Tempus, Aspekt), es ihm gestatten, sich gegenüber Sachverhalten und der Welt zu positionieren, Einschätzungen abzugeben und Vergleiche zu ziehen (z.B. Modalität/ Evidentialität, Genus Verbi, Negation, Komparation), um nur einige zu nennen. Durch den Erwerb der Schriftsprache werden neue Dimensionen erschlossen und insgesamt das Bewusstsein für zuvor eher unbewusst ablaufende Prozesse geschärft. Aber auch Prozeduren und Muster, die Textproduktion und Textverstehen, Gespräch und Narration sichern, dienen der Perspektivierung, ebenso Phraseologismen, Idiome und Metaphern. Im tradierten sprachlichen Angebot der Umgebung bilden diese Verfahren für das Kind einen großen Vorrat für eigene Selbstentwürfe und sind voller Verheißungen; bis sie später vielleicht im fortgeschrittenen Spracherwerb als einengend erlebt werden. Als Jugendliche/ r wird sie/ er alleine oder in einer Gruppe beginnen, vorhandene Vokabularien zu modifizieren, ihnen eine eigenständige Prägung zu verleihen oder gar eigene Vokabularien zu schaffen, um sich eine authentische Selbstbeschreibung und damit seine unverwechselbare Zukunft zu sichern (vgl. Rorty 1992). Denn mit dem Erwerb des sprachlichen Symbolsystems erhält das Kind die Fähigkeit, in iterierbaren Prozessen repräsentationelle Neubeschreibungen auf höheren Ebenen vorzunehmen (Karmiloff-Smith 1995; Tomasello 2002) und damit auch die Fähigkeit, das Vermögen zur Reflexion zu erweitern. Insofern sich sein Vermögen, die Perspektiven anderer einzunehmen, im Erwerb immer komplexerer Gesprächsfertigkeiten ausdifferenziert, führt dies zu nuancierten Neubeschreibungen seiner selbst aus der Perspektive der Anderen, zum Erwerb moralischer Kategorien und zum Aufbau einer komplexen und differenzierten, dynamischen Selbstrepräsentation. Im Erstspracherwerb, der keineswegs mit dem sechsten Lebensjahr abgeschlossen ist, sondern lebenslang andauert, erwirbt das Kind somit nicht nur kommunikative Fähigkeiten, sondern eine besondere Form der Kognition, wie Tomasello (2002) dies ausdrückt. Über die Aneignung des Symbolsystems einer Sprache lernt das Kind, wie Generationen vor ihm perspektiviert haben, wie sie Aufmerksamkeit gelenkt haben: In den künstlerischen und literarischen Erzeugnissen einer Kultur können neue Verfahren der Neubeschreibung, der Perspektivierung und Konstruktion von Wirklichkeit und des Selbst erschlossen werden. Es liegt im Wesen von Migration, dass ein Teil dieser in der Erstsprache kodierten Traditionen und Perspektivierungen aus unterschiedlichen Gründen verblassen und durch Perspektiven aus der Zweitsprache, der Sprache der Hans Bickes 354 Aufnahmekultur, abgelöst werden kann. Es ist jedoch aus Studien in typischen Einwanderungskulturen dokumentiert, dass sich die in frühester Kindheit - in aller Regel in der Interaktion mit der Mutter - erworbene erstsprachliche Kognition tief in den Körper eingeschrieben hat. Eine enge Verbindung von Sprache und Körper ist auch durch Arbeiten der kognitiven Linguistik zu metaphorischen Prozessen im Sprachgebrauch belegt (Lakoff 1987; Lakoff/ Johnson 1980, 1999; vgl. Bickes/ Bickes 2000). Altarriba/ Morier (2006) zeigen eindrucksvoll an Fallstudien mehrsprachiger Personen, wie emotionale Erfahrungen, traumatische oder besonders anrührende Episoden, allgemein jedwede autobiografische Erinnerung verschiedener Lebensabschnitte, in unterschiedlich intensiver Ausprägung mit den jeweils beherrschten Sprachen verbunden sind. Die bevorzugte Sprache zum Ausdruck von Emotion bei Mehrsprachigen muss nicht immer gleichzeitig die Sprache der Kognition sein (Wierzbicka 1994, 2004); code-switching in der Selbstbeschreibung zeugt in beeindruckender Weise davon, wie Sprachwechsel als Wechsel von Perspektiven, als Mittel der Distanzierung oder der Intensivierung im autobiografischen Erleben eingesetzt wird (Altarriba/ Morier 2006); oft stehen Erst- und Zweitsprache zudem im Spannungsfeld von oraler und literaler Tradition. Es wäre riskant, diese ohnehin komplexen Verhältnisse durch eine Geringschätzung der Rolle der Erstsprache zu belasten und anzunehmen, dass die vermutlich lebenslangen Prozesse der Ausdifferenzierung muttersprachlicher Kognition plötzlich abgebrochen werden können. Zutiefst sind diese Prozesse mit der Identität der Betroffenen, mit ihren autobiografischen Selbstbeschreibungen verwoben. 15 Insofern jede erworbene Sprache eine spezifische Ausprägung von kommunikativ gerichteter Kognition mit sich führt, ist Mehrsprachigkeit per se mit kognitiver Bereicherung verbunden. Beim frühen Erwerb zweier Sprachen schreiben sich beide Sprachen mit ihren je spezifischen Perspektivierungsverfahren in Körper, Geist und Identität der Kinder ein, wobei sie sich alsbald zu einer komplexen, letztlich unteilbaren Einheit verschränken; kompetente Bilinguale wissen die in Sprache kodierten kognitiven Ressourcen geschickt zu nutzen. Im durch code-mixing und code-switching geprägten Gebrauch beider Sprachen entfaltet sich eine neue, empathiegeleitete, perspektivenreiche kommuni- 15 In der Psychologie wird seit geraumer Zeit das Selbst aus dem Blickwinkel von Dialogizität und Polyphonie diskutiert (Bamberg/ Zielke 2007). Es liegt auf der Hand, dass es sich bei Mehrsprachigkeit um eine besondere Ausprägung der Polyphonie handelt. Zum Verhältnis zwischen Sprache, Mehrsprachigkeit und Identität siehe auch Kresic (2006, 2004); Keupp (2002). Perspektiven der Mehrsprachigkeit 355 kative Kompetenz, die mehr ist, als nur die Summe zweier getrennter Kompetenzen. In ihr eröffnen sich Deutungsmuster für mehr als nur eine Kultur, neue Muster der Selbstbeschreibung und eine erweiterte Grundkompetenz für gegenseitiges Verstehen in einer von Heterogenität geprägten Gesellschaft. 6. Literatur Abutalebi, Jubin/ Cappa, Stefano F./ Perani, Daniela (2001): The bilingual brain as revealed by functional neuroimaging. 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Bei der Gruppe der älteren Sprecher konnten keine gravierenden Veränderungen im Alltagssprachgebrauch festgestellt werden: Die Hauptvarietät im Alltag ist nach wie vor der russlanddeutsche Dialekt und es sind minimale Übernahmen aus dem Hochdeutschen zu verzeichnen. In der Gruppe mittleren Alters konnten dagegen interessante Veränderungen in Bezug auf die Herkunftsvarietät Russisch festgestellt werden. Bei diesen Sprechern hat sich zwar insgesamt kein Varietätenwechsel eingestellt: Das Russische ist im Alltag nach wie vor eine wichtige Sprache. Es kam jedoch deutlich zum Ausdruck, dass ein intensiver Sprachmischungsprozess in Richtung des Deutschen stattfindet und dass sich bei diesen Sprechern ein „verdeutschtes“ Russisch entwickelt. Der Prozess der Verdeutschung, der bereits kurz nach der Einreise nach Deutschland eingesetzt hatte, hat sich somit intensiv fortgesetzt und veranschaulicht die Verhältnisse des fortgeschrittenen Zweisprachigkeitsstadiums bei dieser Sprechergruppe. 1. Zur Einführung Im vorliegenden Beitrag geht es um Sprachwandel, der mit Migration und Mehrsprachigkeit zu tun hat und der am Beispiel von migrationsbasierten Varietäten der Aussiedler dargestellt wird. Konkret geht es um russlanddeutsche Dialekte und um das Russische, also um solche Varietäten, die bis 1990 in der ehemaligen Sowjetunion in Sprachinselgemeinschaften noch eine wichtige (bzw. die wichtigste) Kommunikationsfunktion erfüllten und die nach 1990 - nach der Umsiedlung nach Deutschland - unter dem Einfluss des Standarddeutschen verschiedenen Formen des Sprachwandels unterliegen und sich zu Varietäten entwickeln, die als eine Art „russlanddeutsche Migrantensprachen“ aufgefasst werden können. Die folgende Darstellung basiert auf Beobachtungen, die ich im Anschluss an das IDS -Forschungsprojekt „Sprachliche Integration von Aussiedlern“ gesammelt habe. 1 Nach der Einführung wird im Kap.2 die sprachlich-soziolinguistische Situation der untersuchten Sprache der Aussiedler nach Altersstufen (ältere und mittlere Generation) skizziert. Im letzten Teil wird an einigen Beispielen der Sprachgebrauch illustriert und einige Innovationen werden dargestellt. 1 Ich danke Rainer Wimmer, der mich insbesondere während seiner Tätigkeit als Direktor des Instituts für Deutsche Sprache sehr unterstützt hat. Nina Berend 362 In der Abschlusspublikation zum genannten Projekt (Berend 1998) werden kurzfristige Veränderungen untersucht, die in der Sprache der Russlanddeutschen unmittelbar nach der Übersiedlung stattgefunden haben. Diese Veränderungen vollzogen sich in einer für die Betroffenen turbulenten „Sprachzeit“ unter starkem Einfluss der neuen Sprachumgebung. Vor allem war es die deutsche Standardsprache, die durch Medien, insbesondere das Fernsehen, in teilweise exotischen Versatzstücken schon bald Eingang in das Sprachrepertoire der Russlanddeutschen gefunden hat. Aber auch die anderen Varietäten des Deutschen, insbesondere ausgeprägte Regionalsprachen, die im bundesdeutschen Sprachalltag eine wichtige Rolle spielen, waren Quellen für Neuschöpfungen und intensive Veränderungen in der Sprachpraxis der Aussiedler in der ersten Zeit nach der Übersiedlung. Durch die Umverteilung der Sprachdomänen, den Rollenausbzw. -umtausch der zugrundeliegenden Sprachvarietäten und die Neuerwerbung von Sprachkompetenzen hat in der Sprache der Aussiedler ein gewisser Modernisierungsschub stattgefunden, der teilweise sehr intensiv verlief. Es hat sich gezeigt, dass bei Russlanddeutschen die neue Umwelt Mentalitätsumbrüche bewirkt hat; vor allem aber war die Bewältigung der sprachlichen Herausforderungen die wichtigste Aufgabe der ersten Jahre. Wie gestaltet sich nun die sprachliche Wirklichkeit der Aussiedler nach den „Eingewöhnungsjahren“ in der Bundesrepublik? Hat sich der Anpassungsprozess der ersten Jahre fortgesetzt, und wenn ja, in welche Richtung? Welche Rolle spielen die verschiedenen Sprachvarietäten in der sprachlichen Kommunikation dieser Einwanderergruppe? Welche Auswirkungen hat die Aufenthaltsdauer auf die durch Migration hervorgerufene typische Mehrsprachigkeitsstruktur? Und schließlich: Welche Tendenzen zeigen sich in der sprachlichen Entwicklung der jugendlichen Aussiedler, d.h., welche Sprachprobleme der Integration sind in der zweiten Generation zu erwarten? Diese Reihe von Fragen könnte fortgesetzt werden, Fragen, die bisher in der Forschung noch kaum Beachtung gefunden haben, da die Problematik der sprachlichen Integration von Aussiedlern bisher leider kaum in den Blick der Wissenschaft geraten war. Als mehr oder weniger einziges Forschungsprojekt in diesem Bereich ist das bereits oben erwähnte von 1994 bis 1997 am Institut für Deutsche Sprache durchgeführte Aussiedlerprojekt zu nennen, das sich mit verschiedenen Fragen der sprachlichen Integration der russlanddeutschen Aussiedler beschäftigte (vgl. Berend 1998; Meng 2001; Reitemeier 2006). Abgesehen von einzelnen weiteren vor allem Sammelveröffentlichungen zum Russlanddeutschen gibt es im Bereich der Sprache gegenwärtig keine Forschungsprojekte und insgesamt wenig Forschungsaktivitäten von Seiten der linguistischen Wissenschaft Vom Sprachinseldialekt zur Migrantensprache 363 in Bezug auf die spezifische Sprachproblematik der Aussiedler, wie sie z.B. für andere Einwanderergruppen vorliegen (vgl. z.B. Kallmeyer/ Keim 2003; Keim 2007a und b; Keim/ Knöbl 2007 u.a.). In Bezug auf Aussiedler hat man bisher auch insbesondere der Alltagssprache noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn überhaupt, dann hat man sich bisher schwerpunktmäßig mit den Besonderheiten der deutschen Sprache der Aussiedler beschäftigt, die in der Kommunikation mit einheimischen Deutschen verwendet wird. Auch in Berend (1998) ging es vor allem um den sprachlichen Anpassungsprozess an die neue deutsche Sprachgesellschaft, um den gezielten Erwerb des Hochdeutschen in und außerhalb von Sprachkursen und darum, welche Sprachbesonderheiten das Hochdeutsche der Aussiedler aufweist. Im folgenden Beitrag möchte ich die sprachliche Situation im Alltag der russlanddeutschen Aussiedler untersuchen, also den Sprachgebrauch in der ingroup-Situation, im Familien- und Bekanntenkreis, wenn Aussiedler unter sich sind. Untersucht werden zwei Sprechergruppen: Sprecher der älteren Generation (im Alter zwischen 65 und 75 Jahren) und Sprecher der mittleren Generation (im Alter zwischen 45 und 55 Jahren). Bei den Sprechern der mittleren Generation, die im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen, handelt es sich um Probanden aus der IDS -Studie (Berend 1998), die Anfang der 1990er Jahre in die Bundesrepublik umgesiedelt sind und nun seit ca. 15 Jahren in Deutschland leben. Sie stammen ursprünglich aus Sprachinseln des Deutschen in Sibirien und haben bei der Einwanderung über gute Kenntnisse eines russlanddeutschen Dialekts verfügt. Ihre Sozialisation verlief in den 1960er Jahren in den noch intakten deutschen Sprachinseln in Sibirien. Das Russische wurde als Zweitsprache in der Schule erlernt. Bei der Übersiedlung waren die Sprecher zweisprachig, wobei die Zweisprachigkeit sich durch typische Charakteristika der russlanddeutschen Minderheit in der ehemaligen Sowjetunion auszeichnete (Diglossie und subordinativer Bilinguismus, vgl. Boni 1983; Kirschner 1989). Bei der Untersuchung der sprachlichen Integration der Aussiedler (Berend 1998) konnte gezeigt werden, dass eingewanderte Russlanddeutsche mit gewissen mitgebrachten Dialektkenntnissen des Deutschen anfänglich bestimmte, z.T. beträchtliche sprachliche Probleme hatten. Diese Probleme hingen vor allem mit den für sie neuartigen Sprachgebrauchsregeln und Praktiken zusammen, aber auch mit Sprachdefiziten im modernen bundesdeutschen gesprochenen Deutsch, die durch Kenntnisse des Russlanddeutschen nicht überwunden werden konnten (z.B. small talk, Anglizismen, Internationalismen, Regionalismen usw.). Bei der Übersiedlung nach Deutschland haben Nina Berend 364 die Sprecher einerseits direkten Kontakt mit dem Hochdeutschen bekommen, wie es in den Medien repräsentiert ist. Andererseits wurden sie mit der regionalen Variante der gesprochenen Standardsprache konfrontiert, die den lokalen Kommunikationsalltag prägt. Diese Varietätenkonstellation, die sich kurz nach der Übersiedlung ergab, hatte bei den Sprechern eine gewisse Ratlosigkeit hervorgerufen. Vor allem die Präsenz der Regionalsprachlichkeit im Alltag war überraschend, denn bisher haben Aussiedler ihren Dialekt immer nur mit familiärem Gebrauch verbunden. Es hat sich in dieser Studie gezeigt, dass die untersuchten russlanddeutschen Aussiedler ihren Sprachgebrauch in der ersten Phase des Aufenthalts in Deutschland nicht den „neuen“ regionalen Formen, sondern fast ausschließlich der deutschen Standardsprache angepasst haben. Aber nicht nur im öffentlich-formellen Sprachgebrauch haben sich sprachliche Anpassungstendenzen gezeigt wie z.B. die Vermeidung des Russischen in der Öffentlichkeit (z.B. das „Flüstersyndrom“, vgl. Berend 1998). Sie sind bei manchen Aussiedlern auch im privaten Sprachgebrauch zum Ausdruck gekommen, z.B. in dem Bestreben mancher russlanddeutscher Eltern der strikten Einführung des Hochdeutschen als Familiensprache und ebenso strikter Meidung des Russischen in der Familienkommunikation, mit dem Ziel der Verbesserung der Deutschkenntnisse der Kinder (vgl. Diener 2003). Es stellt sich nun die Frage, ob sich diese anfänglichen Tendenzen in den folgenden Jahren fortgesetzt haben und wie sich generell insbesondere der Alltagssprachgebrauch der russlanddeutschen Aussiedler gestaltet. Diese Frage ist - wie bereits oben erwähnt - in der Forschung bisher auf wenig Interesse gestoßen. Ich möchte mich in der folgenden Darstellung dieser Frage widmen und an einigen Beispielen verdeutlichen, in welche Richtung sich die anfänglichen Anpassungstendenzen fortgesetzt haben. 2. Zur soziolinguistischen Situation nach 15 Jahren Nach 15 Jahren Aufenthalt in Deutschland stellt sich die soziolinguistische Situation der untersuchten Gruppe bezüglich des Alltagssprachgebrauchs grundsätzlich anders dar. Allgemein kann eine gewisse Stabilisierung beobachtet werden. In welcher Richtung auch immer sich die Gruppe entwickelt hat, es herrscht nicht mehr die sprachliche Unsicherheit, Ungewissheit und der „Sprachschock“, der am Anfang sehr präsent war (Berend 1991). Es entsteht der Eindruck, dass die Sprecher in sprachlicher Hinsicht in der Bundesrepublik längst angekommen sind, man kennt sich sprachlich aus, zumindest kennt man genau seine sprachlichen Defizite und auch sprachliche Grenzen, die man zwar nicht überschreiten kann, innerhalb derer man sich jedoch relativ sicher bewegt. Vom Sprachinseldialekt zur Migrantensprache 365 Auffällig ist, dass für die verschiedenen Generationen der Russlanddeutschen nach anderthalb Jahrzehnten eine völlig unterschiedliche soziolinguistische Situation und auch ein jeweils anderes Varietätenbild charakteristisch ist. Die Differenzen scheinen vor allem durch die typischen Erfahrungen bedingt zu sein, die die jeweilige Generation im Laufe ihres Aufenthalts in Deutschland gemacht hat, aber auch durch die verschiedenen Anforderungen, die an die jeweilige Generation in der neuen sprachlichen Umgebung gestellt werden. So ist auch nicht überraschend, dass die Vertreter der älteren Generation (der Generation der Großeltern) ihre Alltagssprachgewohnheiten im Wesentlichen beibehalten haben. Durch das Fehlen der Anforderung der sprachlichen Anpassung für die Berufsausübung haben Sprachveränderungen im Alltagssprachgebrauch dieser Generation nur in einem sehr begrenzten Umfang stattgefunden. Dazu beigetragen hat auch die Tatsache, dass die gewohnte familiäre Umgebung (dieselben Teilnehmer in der familiären Kommunikation, wie Ehepartner, Kinder und Enkelkinder) die Fortsetzung der gewohnten Alltagssprachpraxis begünstigte. Hinzu kommt auch, dass die Vertreter der älteren Generation intensiven Kontakt mit der früheren Kommunikationsgemeinschaft pflegen. Vor allem frühere nachbarschaftliche Beziehungen und Kontakte zu Freunden werden fortgesetzt, auch wenn dies nur durch Telefongespräche und seltene gegenseitige Besuche (z.B. aus Anlässen wie Hochzeiten oder Beerdigungen) möglich ist. Auch wenn die frühere Sprachgemeinschaft (eine deutsche Sprachinsel in Sibirien) nun in der ganzen Bundesrepublik zerstreut ist, wird eifrig und regelmäßig telefoniert, und es finden ausgedehnte Unterhaltungen und Besprechungen der gegenwärtigen Situation statt. Dabei ist der russlanddeutsche Dialekt nach wie vor das Hauptmittel der Kommunikation, und zwar in seiner jeweils typischen russlanddeutschen Regionalausprägung, die auch für die frühere Kommunikation in der Sprachinsel typisch war (hessische, pfälzische und südfränkische Dialektbasis). Gravierende Veränderungen in der soziolinguistischen Situation und im Alltagssprachgebrauch der russlanddeutschen Sprecher der älteren Generation lassen sich nicht beobachten. Einige Innovationen, die für den Alltagssprachgebrauch dieser Generation typisch sind, werden unten besprochen (vgl. 3.1). Diese Innovationen sind vor allem auf den umfangreichen Fernsehkonsum zurückzuführen und betreffen vor allem die lexikalische Ebene des Dialekts und den Wortschatz. Interessant ist, dass auch für die Kommunikation mit der neuen Sprachgemeinschaft die Vertreter der älteren Generation der Russlanddeutschen in der Regel mit ihrer mitgebrachten dialektalen Kompetenz Nina Berend 366 durchaus erfolgreich sind. Insbesondere in der Alltagskommunikation mit gleichaltrigen deutschen Nachbarn und neu geknüpften Freundschaften reicht die dialektale Kompetenz meist aus, um Alltagsgespräche zu führen. Interessant ist auch die Tatsache, dass russische Sprachelemente beibehalten werden, die den Sprechern selbst nicht als russische Sprachformen bewusst sind und die natürlich auch von deutschen Gesprächspartnern nicht verstanden werden. Dazu gehören verschiedene lexikalische Entlehnungen aus dem Russischen, die so fest integriert sind, dass sie als indigener Wortschatz betrachtet werden können, vor allem aber russische Diskurspartikeln, ein fester Bestandteil der russlanddeutschen Dialekte. Das Russische selbst wird auch nach fünfzehn Jahren Aufenthalt in Deutschland von den Vertretern der älteren Generation der russlanddeutschen Dialektsprecher im Alltagssprachgebrauch genauso wie ehemals in Russland nur sporadisch und der jeweiligen Kompetenz der Interaktionspartner entsprechend eingesetzt. Der häufigste Anlass ist der adressatenspezifische Gebrauch, vor allem wenn z.B. angeheiratete Familienmitglieder russischsprachig sind und über keine deutsche Dialektkompetenz verfügen (z.B. Schwiegertöchter bzw. Schwiegersöhne). Genauso verhält es sich im Übrigen in Bezug auf den gegenwärtigen Gebrauch des Hochdeutschen im Alltag, wenn neue, hochdeutsch sprechende Familienmitglieder hineinkommen (neue „deutsche“ Ehepartner bzw. neue „deutsche“ Freunde der Generation der Enkelkinder). Auch hier wird von der älteren Generation nicht russlanddeutsch-dialektal gesprochen, sondern es wird - adressatenspezifisch - soweit wie möglich das „russlanddeutsche Hochdeutsch“ verwendet (zur Verhochdeutschung des Russlanddeutschen vgl. Berend 1998). Ein ganz anders geprägtes Varietätenbild und eine andere soziolinguistische Situation sind für die mittlere Generation der Russlanddeutschen typisch, die Anfang der 1990er Jahre als junge Eltern eingewandert sind. Diese Sprecher wurden in Russland in ihrer deutschen Sprachinsel zwar primär dialektal sozialisiert, verfügen aber - im Unterschied zur älteren Generation - über gute Kenntnisse der russischen Sprache. Außerdem haben die Sprecher im regulären Deutschunterricht in russischen Schulen auch Hochdeutsch als Fremdsprache gelernt. Nach der Übersiedlung haben diese Sprecher ihre Hochdeutschkenntnisse in Sprachkursen noch intensiv verbessert und haben eine Verhochdeutschungs- und Anpassungswelle durchgemacht, die sich z.B. darin äußerte, dass sowohl der russlanddeutsche Dialekt als auch das Russische in öffentlichen Situationen möglichst nicht verwendet werden sollten. Manche Eltern haben - wie bereits erwähnt - sogar den Versuch unternommen, Hochdeutsch in kürzester Zeit auch als Familiensprache zu etablieren (Diener 2003). Die Vom Sprachinseldialekt zur Migrantensprache 367 Einstellungsstrukturen und Sprachgebrauchsregeln dieser Generation haben sich im Vergleich zu der Anfangsphase grundsätzlich verändert. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten haben sie reichlich Spracherfahrungen mit Hochdeutsch gesammelt und haben sich diese Sprachform soweit angeeignet, dass bei der Ausübung des Berufs in der Regel wenig Sprachprobleme auftreten. Sprachschwierigkeiten, Sprachbarrieren oder gar Sprachschocks (Berend 1991) gehören der Vergangenheit an. Durch die hochdeutsche Sprachpraxis im Berufsalltag, durch Kommunikation mit deutschsprachigen Bekannten, Nachbarn und Freunden haben sich typische Hochdeutsch-Varietäten geformt, die als „russlanddeutsches Hochdeutsch“ (Berend 1998) beschrieben wurden. Diese Varietäten sind einerseits durch russlanddeutsch-dialektale und andererseits durch russische Merkmale markiert und sie sind je nach individueller Spracherfahrung und Sprachkompetenz auch individuell unterschiedlich ausgeprägt: d.h. entweder mehr dialektal gefärbt oder stärker markiert durch russische Interferenzen. Wie auch immer der individuelle Sprachgebrauch des Hochdeutschen jedes Einzelnen beschaffen ist, die Beobachtungen zeigen, dass diese Sprecher - im Unterschied zur Großelterngeneration - über eine sichere Sprachkompetenz im Hochdeutschen verfügen und dass das Hochdeutsche - sowohl in schriftlicher Form als auch als gesprochene Standardsprache - die wichtigste Rolle im Sprachgebrauch dieser Sprecher spielt. Allerdings nur im öffentlichen Bereich, nicht im familiären Alltagssprachgebrauch: Für den Alltag spielt die russische Sprache nach wie vor eine sehr wichtige Rolle. Das Russische, das die untersuchten Sprecher der mittleren Generation nach 15 Jahren in Deutschland im Alltag sprechen, ist jedoch kein „richtiges“ Russisch mehr, sondern es ist eine stark durch das Deutsche beeinflusste Varietät des Russischen. Gerade darin besteht der wichtigste Unterschied zwischen der älteren und mittleren Generation: Während die Älteren auf das Russische so gut wie nicht mehr zurückgreifen (bzw. nur wenn es unbedingt nötig ist), etablierte sich bei der mittleren Generation die russisch-hochdeutsche Mischsprache als dominante Alltagspraxis, als ingroup-Sprechweise, die nach außen zwar auffällt, nicht aber nach innen, da die gesamte Kommunikationsgemeinschaft der Russlanddeutschen in Deutschland zweisprachig ist. Diese aktuelle deutsch-russische Zweisprachigkeit ist typisch für alle Regionen in Deutschland, unabhängig vom Bundesland, überall wird diese russisch-deutsche Sprachmischungspraxis angewendet. Den Aussiedlern selbst fällt diese Sprechweise nicht besonders auf, da sie die „neutrale“ bzw. „gewöhnliche“ Sprachverwendung im Alltag ist. Nur in der Kommunikation mit den russischsprachigen Verwandten im Nina Berend 368 Herkunftsland (z.B. bei Telefongesprächen oder bei Besuchen in Russland) werden sie darauf aufmerksam, dass ihr Russisch eine Mischvarietät bzw. eine stark durch das Deutsche beeinflusste Russischvarietät ist. Bevor im nächsten Abschnitt die Sprachbeispiele vorgestellt werden, sollen an dieser Stelle noch einige Anmerkungen zum Sprachgebrauch der jungen Generation gemacht werden. Der Alltagssprachgebrauch der jungen Generation bzw. der jungen Erwachsenen, die Anfang der 1990er Jahre als Kinder in die Bundesrepublik eingewandert sind, ist differenziert und ebenfalls von der deutsch-russischen Zweisprachigkeit geprägt. Ob diese Sprecher Deutsch oder Russisch im familiären Alltag verwenden, hängt im Wesentlichen von den konkreten soziolinguistischen Bedingungen in der nächsten Umgebung ab. Einen russlanddeutschen Dialekt beherrschen sie in der Regel nicht, da sie früh mit dem Hochdeutschen in der deutschen Schule in Deutschland konfrontiert wurden. Aber in der Regel verstehen sie den russlanddeutschen Dialekt, da er in der Familie präsent ist und von Großeltern und Eltern noch gesprochen wird. Für die Sprachwahl im Alltag ist bei der jungen Generation entscheidend, wie eng der Kontakt zur neuen Gesellschaft ist. Wenn z.B. neue familiäre Bedingungen vorliegen (z.B. deutscher Ehepartner bzw. deutscher Freund), dann ist der gesamte Sprachgebrauch der oder des Jugendlichen auf deutsche Einsprachigkeit ausgerichtet, was auch im Allgemeinen zum vermehrten Gebrauch des Deutschen im größeren Familienumfeld führt. Insgesamt ist auffällig, dass die russlanddeutschen Jugendlichen aus diesen Familien, die als Kinder nach Deutschland kamen, in erster Linie einsprachig hochdeutsch oder regionaldeutsch orientiert sind, und nicht russisch. Das Russische wurde in den Familien (und Institutionen) nicht gefördert. Man hat es sich nur passiv als gesprochensprachliche Varietät angeeignet. Schriftliche Kompetenz und Lesekompetenz im Russischen liegen bei diesen Jugendlichen nicht vor. So haben Mütter z.B. darauf zu achten, dass Einkaufszettel bzw. Merkzettel keine russischen „Einsprengsel“ enthalten, da Jugendliche hier auf Verständnisschwierigkeiten stoßen. 3. Sprachinnovationen: einige Beispiele 3.1 Konstanz und Wandel der Sprachinseldialekte Angesichts der oben geschilderten unterschiedlichen soziolinguistischen Situation sind die Innovationen im Alltagssprachgebrauch nach anderthalb Jahrzehnten Aufenthalts in Deutschland unterschiedlich. Bei der älteren Generation ist die Stabilität des herkömmlichen dialektalen Sprachgebrauchs auffällig und es gibt eine gewisse Kontinuität im Alltagssprachgebrauch. Der russlanddeut- Vom Sprachinseldialekt zur Migrantensprache 369 sche Herkunftsdialekt hat sich weder durch das Hochdeutsche noch durch die neue Regionalsprache der Umgebung „verdrängen“ lassen, sondern ist nach wie vor Hauptkommunikationsmittel. Allerdings ist der mitgebrachte russlanddeutsche Dialekt der älteren Sprecher ja bereits in gewisser Weise eine Art „Migrantensprache“, denn er enthält viele Merkmale, die in den entsprechenden herkömmlichen Dialekten nicht vorhanden sind, und zwar bewirkt durch die Migration in Russland und der ehemaligen Sowjetunion und den Einfluss der Umgebungssprache in den Sprachinseln, in diesem Falle des Russischen (vgl. Jedig 1986). Es ist auffällig, dass die russischen Bestandteile des Sprachinseldialekts bei der älteren Generation - wie oben bereits erwähnt - im Alltag erhalten bleiben. Der Grund dafür ist offensichtlich: In der internen Alltagskommunikation und in der Kommunikation mit den Freunden aus der früheren Kommunikationsgemeinschaft gibt es keinen Druck, diese Bestandteile aufzugeben. Alle Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft beherrschen den Dialekt und verfügen über Russischkompetenz. In vielen Fällen ist den älteren Sprechern der russische Bestandteil auch gar nicht bewusst, z.B. wenn es sich um die „vererbten“ Russizismen handelt, d.h. um russische Wörter, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts in den russlanddeutschen Dialekt bereits integriert waren (Dinges 1917; Schiller 1929). Einen wichtigen Teil der Russizismen bilden die russischen Diskurspartikeln, die auch von der älteren Generation zum Teil sehr oft verwendet werden wie z.B. vot „so“, tak schto „ so“, kak budto „als ob“ u.a. Schon im Herkunftsland verwenden ältere Sprecher in der Kommunikation mit Hochdeutschsprechern sehr häufig russische Diskurspartikeln (interessante Beispiele hierfür liefert Blankenhorn 2003). Außerdem ist für die ältere Generation typisch, dass sie oft russische Lexeme (Realien aus dem Alltagsleben in Russland) gebraucht. Im Beispiel (1) werden von den Sprechern zwei russische Wörter gebraucht: wratsch (russ: врач „Arzt“) und de gripp (russ.: грипп (mask.) „Grippe“) (1) ich hun mei врач do neive dran, wa me de грипп hat [ich habe meinen Arzt da neben dran wenn man den Grippe hat] „Ich habe meinen Arzt da neben dran, wenn man die Grippe hat“ Russische Lexeme werden in Deutschland nach wie vor von der älteren Generation in der Sprachkommunikation im Alltag eingesetzt. Insgesamt kann jedoch beobachtet werden, dass im familiären Rahmen der Gebrauch der russischen Lexeme für Realien (wie z.B. cholodil’nik „Kühlschrank“, televizor „Fernseher“) besonders in der Kommunikation mit Kindern, die kein Russisch Nina Berend 370 verstehen, eingeschränkt wird. Es bereitet diesen erfahrenen Dialektsprechern des Russlanddeutschen keine Schwierigkeiten, auf russische Realien bei Bedarf zu verzichten. Da die ältere Generation nur wenig Kontakte zu Deutschsprechern hat, vollzieht sich die Annäherung an das Hochdeutsche fast ausschließlich über das Fernsehen. Aus dem Fernsehen werden auch die verschiedenen lexikalischen Neuerungen als hochdeutsche Ersatzwörter für die russlanddeutschen Dialektlexeme übernommen und in den Sprachgebrauch integriert. So wird z.B. statt des russlanddeutschen Lexems Prips jetzt das deutsche Lexem Kaffee verwendet. Diese Ersatzstrategie kann als die wichtigste Innovationstendenz im Alltagssprachgebrauch dieser älteren Sprechergruppe betrachtet werden. Außerdem werden vereinzelt neue Ausdrücke aus dem Standdarddeutschen in den eigenen Dialekt übernommen, indem sie z.B. einfach hinzugefügt werden. Das hochdeutsche fit sein wird mit dem russlanddeutschen noch gut auf den Füßen stehen kombiniert und es entsteht auf diese Weise eine neue Misch-Redewendung, die bei mehreren Sprechern der älteren Generation belegt wurde: sie is noch fit uf de Fiis (dt. „sie ist noch fit“). 3.2 Russisch-deutsche Sprachmischungen bei der mittleren Generation Ganz anders stellt sich die Situation bei der mittleren Generation dar, d.h. bei den Russlanddeutschen, die zur Zeit der Übersiedlung zwischen 25 und 40 Jahren alt waren. Hier hat ein starker Sprachwandel stattgefunden, der zu Veränderungen im Alltagssprachgebrauch führte. Diese Generation konnte zwar bei der Übersiedlung den russlanddeutschen Dialekt sprechen und gebrauchte ihn teilweise auch aktiv in der Kommunikation (vor allem mit älteren Russlanddeutschen), als Hauptmittel der Alltagskommunikation setzte sie ihn jedoch nicht ein. Der Dialekt spielte bei dieser Generation als Basis der Deutschkenntnisse eine wichtige Rolle am Anfang des Aufenthalts in Deutschland, als Grundlage für den Aufbau der Deutschkompetenz während der Sprachkurse und zu Beginn der beruflichen Tätigkeit. Seit ihrer Übersiedlung Anfang der 1990er Jahre sind sie beruflich tätig und verfügen nun über ausreichende Kenntnisse des gesprochenen Deutsch, das sie bei der Kommunikation mit den Angehörigen der neuen Gesellschaft benutzen. Auch mit den in deutschen Schulen sozialisierten Kindern und Enkelkindern wird Standarddeutsch gesprochen. Der größte Teil der Alltagskommunikation vollzieht sich jedoch immer noch auf Russisch. Allerdings hat sich die russische Sprache grundsätzlich verändert - wie bereits oben dargestellt wurde. Das Russische, Vom Sprachinseldialekt zur Migrantensprache 371 das jetzt im Alltag gesprochen wird, ist stark vom Deutschen beeinflusst, und es findet eine intensive russisch-deutsche Sprachmischung statt. Nach über 15 Jahren kontinuierlichen Sprachkontakts scheinen sich bei den Sprechern dieser Altersgruppe bestimmte Wechselstrategien zwischen Russisch und Deutsch herausgebildet zu haben, die ihren Alltagssprachgebrauch prägen. 3.2.1 Typen des Sprachwechsels vom Russischen zum Deutschen Zieht man die von Muysken (1997) angeführten Kriterien zur Interpretation von strukturellen Mustern des Sprachwechsels heran, so stellt man fest, dass alle drei von ihm postulierten Wechseltypen (alternation, congruent lexicalization und insertion) vorkommen. Als Alternation kann das Beispiel (2) klassifiziert werden: (2) ja im nje objazana Rechenschaft ablegen [ich ihnen nicht verpflichtet Rechenschaft ablegen] „ich bin nicht verpflichtet, Rechenschaft abzulegen“ Hier handelt es sich um einen echten Wechsel vom Russischen ins Deutsche, sowohl in grammatischer als auch in lexikalischer Hinsicht. Der erste Teil (ja im nje objazana) hat eine russische Struktur und russische Lexik (mit dem russischen Pronomen im „ihnen“, das im Deutschen fehlen würde); im zweiten Teil (Rechenschaft ablegen) wird zur deutschen Lexik und Syntax gewechselt (abgesehen von der fehlenden Partikel zu, die jedoch auch im gesprochenen Standarddeutsch oft unterlassen wird). Es liegt hier - wie für das alternierende Wechseln typisch - auch keine Einbettung des Deutschen in das Russische vor. Als congruent lexicalization kann das Beispiel (3) klassifiziert werden. Beide Sprachen sind mit ihrer Grammatik beteiligt (russ.: ja budu; deutsch: hin und her rennen). Die Satzstruktur könnte mit lexikalischen Mitteln aus beiden Sprachen gefüllt werden und der Wechsel könnte an jeder Stelle des Satzes vorgenommen werden. 2 (3) ja budu hin un her rennen [ich werde hin und her rennen] „ich werde hin und her rennen“ Im Beispiel (4) handelt es sich um eine Insertion. Das deutsche Verb missen ist syntaktisch (und morphologisch) in die Matrixsprache (Myers-Scotton 1993) 2 Vgl. dazu Muysken (1997, S. 362): „The term congruent lexicalization refers to a situation where the two languages share a grammatical structure which can be filled lexically with elements from either language.“ Nina Berend 372 Russisch integriert. In diesem Sinn ist die Insertion der spontanen Entlehnung („borrowing“) sehr ähnlich (Muysken 1997, S. 361). Die russische Struktur des Satzes ist deutlich an der Syntax, der Wortstellung und dem Gebrauch der Partikel by (russ. Konjunktiv) zu erkennen. Auch die morphologische Integration ist hier deutlich: Der Stamm des deutschen Verbs missist in die Struktur des Russischen eingebettet und erhält die russische Morphemflexion -owatj. Es entsteht der Struktur nach eine bilinguale russisch-deutsche Verbform mit einem deutschen Stamm und einer russischen Flexion (zur morphologischen Integration vgl. weitere Beispiele in 3.2.2): (4) ja by ne chotela missowatj swoj dom sejtčas [ich .... nicht wollte missen sein Haus jetzt] „ich würde jetzt mein Haus nicht missen wollen“ Als eine Unterart von Insertionen sind zweisprachige Phraseologismen, Idiome bzw. Kollokationen festzustellen. Als besonders typisch ist die Strategie anzusehen, wenn bei Phraseologismen oder Kollokationen die Basis (Substantiv) in der einen und der Kollokator (Verb) in der anderen Sprache gebraucht werden (zu Kollokationen vgl. Hausmann 2004). Für die Bezeichnung der Basis wird in der Regel ins Deutsche gewechselt, für den Kollokator dagegen wird die russische Äquivalenz des entsprechenden Verbs gebraucht. Diesen Typ stellen die Beispiele (5) bis (9) dar. (5) ja dumaju nu schto ja budu sebe Gedanken djelatj [ich denke nun was ich werde sich Gedanken machen] „ich denke, nun, warum soll ich mir Gedanken machen“ (6) ja sebja mit niks unter Druck sažaju [ich mich mit nichts unter Druck setze] „ich setze mich mit nichts unter Druck“ (7) u menja jestj nemnoschko Luft, tri nedeli jetscho jestj Luft [bei mir ist bisschen Luft drei Wochen noch ist Luft] „ich habe noch ein bisschen Luft, drei Wochen gibt es noch Luft“ (8) nado swobodnyi Kopf imetj [man muss freier Kopf haben] „man muss einen freien Kopf haben“ Vom Sprachinseldialekt zur Migrantensprache 373 (9) ja Fest otkryla, njemnoschko ljudej begrüßovala [ich Fest eröffnete bisschen Menschen begrüßte] „ich habe das Fest eröffnet, habe die Menschen ein bisschen begrüßt“ In (5) ist der deutsche Ausdruck sich Gedanken machen in den russischen Satz insertiert. Dabei wird nur beim nominalen Element Gedanken (Basis) ins Deutsche gewechselt, beim zweiten Teil (dem Kollokator machen) wird dagegen nicht gewechselt. Dieser Fall des Sprachwechsels ist bei Muysken (1997) nicht berücksichtigt. Der Kollokator wird im Redeprozess ins Russische übersetzt. Ähnlicher zweisprachiger russisch-deutscher Gebrauch liegt in den Beispielen (6) bis (9) vor: Die Kollokationen werden von den Sprechern spontan aus dem Deutschen ins Russische übertragen und dann teilweise wieder zurück ins Deutsche, so dass eine gemischtsprachige Kollokation entsteht. Das Spannende ist dabei, dass die dargestellten Kollokationen im Russischen nicht exisitieren (außer im Satz 9: für Fest otkryla existiert im Russischen eine (wörtlich) ähnliche Kollokation prazdnik otkrytj „Fest eröffnen“; für die anderen Beispiele gibt es keine Entsprechungen). Von den drei beschriebenen Typen ist die Alternation die am wenigsten verwendete Mischstrategie. Besonders häufig kommt die Insertion vor, und etwas weniger häufig der Wechseltyp congruent lexicalization. Es wäre interessant, die verschiedenen Typen des russisch-deutschen Sprachwechsels genauer zu untersuchen. Es fehlen noch nähere Analysen und umfangreichere Daten, um eine strukturelle Klassifizierung vorzunehmen und festzustellen, ob es bei der russisch-deutschen bzw. deutsch-russischen Sprachmischung der russlanddeutschen Aussiedler neue, in der Literatur noch noch nicht beschriebene Wechseltypen gibt. 3.2.2 Morphologische Integration bzw. Anpassung Bei der Insertion von deutschen Elementen in die russische Satzstruktur und bei der congruent lexicalization werden die Elemente des Deutschen auch morphologisch der russischen Form angepasst. Diese Integration vollzieht sich durch die Kombination von russischen und deutschen Elementen. Der bevorzugte Typ der Integration bei den untersuchten Sprechern ist die Kombination von deutschen Verbstämmen und russischen Suffixen. Die unten angeführten Beispiele zeigen, dass das gesamte Verbalparadigma durch gemischtsprachige Verben vertreten ist (vgl. Beispiele 10 bis 15; vgl. auch das oben interpretierte Beispiel (4); die zweisprachigen Verben sind in den angeführten Sätzen fett markiert und segmentiert): Nina Berend 374 (10) my s nim stol’ko unternehm-ovali [wir mit ihm so viel unternahmen] „wir (er und ich) haben so viel gemeinsam unternommen“ (11) znaješ’ skol’ko my pfleg-ajem etu kvartiru? [weißt [weißt wie viel wir pflegen diese Wohnung? ] „weißt du wie viel wir diese Wohnung pflegen? “ (12) tam saplotim, oni vam liefer-ajut [dort bezahlen (wir) sie euch liefern] „wir bezahlen dort, sie werden es euch liefern“ (13) Kieler Woche? Schtoby menja tam zerquetsch-evali? [……….. Dass mich dort zerquetschten? ] „Kieler Woche? Dass ich dort zerquetscht würde? “ (14) ono ž potom ne schmeck-ajet [es aber dann nicht schmeckt] „es schmeckt ja aber dann nicht“ (15) ja sebja überwind-ovala [ich sich überwind-ete] „ich habe mich überwunden“ Es handelt sich hierbei um das word-internal switching (Muysken 2000), wenn Stämme einer Sprache mit Suffix- und Präfixmorphemen und Flexionsmorphemen einer anderen Sprache kombiniert werden. Das bedeutet, dass innerhalb eines Wortes gewechselt wird, was in unserem Fall zum Ergebnis führt, dass zweisprachige russisch-deutsche Formen entstehen. Besonders oft werden Verben des Deutschen mit russischen Suffixen und Flexionsmorphemen kombiniert, es sind aber auch zahlreiche zweisprachige Substantive belegt (vgl. unten). Dabei korrespondieren die deutschen Verb- und Substantivstämme genau mit den potenziell russischen Stämmen an der entsprechenden Stelle. Häufig liegt auch der Fall vor, dass der gleiche Verbalstamm mit verschiedenen russischen Flexionsmorphemen verbunden wird, wie die Beispiele (16) und (17) veranschaulichen. In (16) ist der deutsche Stamm feiermit den rus- Vom Sprachinseldialekt zur Migrantensprache 375 sischen Flexionsmorphemen -(o)wa und dem Infinitivsuffix -tj kombiniert: feier-owa-tj „feiern“, und in (17) mit dem gleichen russischen Flexionsmorphem -(o)wa und dem Präteritumsuffix -li: feier-owa-li „feierten“: (16) my dumali oni budut feierowatj = feier + owa + tj [wir dachten sie werden feiern] dt. Stamm russ. russ. „wir dachten, sie werden feiern“ Suffix Inf. Flexion (17) oni nikogda nje feierowali tak groß = feier + owa + li [sie niemals nicht feierten so groß] dt. Stamm russ. russ. „sie haben nie so groß gefeiert“ Suffix 3. P. Pl. Prät. Auch grammatische Kategorien des Russischen werden auf das Deutsche angewendet. In Beispiel (18) wird das deutsche Verb an die grammatische Kategorie des Aspekts angepasst. Dazu wird das russische Präfix smit dem deutschen Stamm kombiniert, indem es vor den deutschen Stamm schaffgestellt wird: s-schaff-ajem: (Gleichzeitig ist hier auch das russische Suffixmorphem -ajem (1. P. Pl.) mit dem deutschen Stamm schaffkombiniert. So liegt hier eine Doppellintegration vor: die Kombination des deutschen Stamms mit dem Präfixmorphem des russischen Aspekts und dem Suffixmorphem und Personalendung des russischen Verbs.) (18) my s-schaffajem! [wir schaffen] „wir werden es schaffen! “ Durch diesen Mischungsprozess wird ein „aspektuelles Verbalpaar“ (Rozental (Hg.) 1976, S. 282) gebildet, das aus zwei semantisch identischen Verben besteht, die sich nur nach ihrem Aspekt unterscheiden. Aus dem einfachen Verb des imperfektiven Aspekts schaffen wird im Beispiel (18) durch Anfügung des Präfixes sdas lexikalisch identische Verb des perfektiven Aspekts gebildet: s-schaffajem. Das russische Präfix sverleiht dem deutschen imperfektiven Verb schaffen die aspektuale Bedeutung der Abgeschlossenheit und s + schaff + a + jem russ. dt. Stamm russ. russ. Aspekt Suff. 1. P. Pl. Fut. s + schaff + a + jem russ. dt. Stamm russ. russ. Aspekt Suff. 1. P. Pl. Fut. Nina Berend 376 es entsteht ein perfektives Verb mit identischer Semantik - wie das für das Russische sehr häufig der Fall ist (die Bildung solcher aspektualer Verbalpaare ist ein sehr produktiver Formbildungstyp in der russischen Grammatik, vgl. Rozental (Hg.) 1976, S. 282). Nicht nur Verben, sondern auch Substantive des Deutschen werden an die russische Struktur angepasst, indem Kasus-, Numerus- und Genusmorpheme des Russischen mit deutschen Stämmen kombiniert werden. Im Beispiel (19) werden der Eigenname „Otto“ und das Substantiv „Geburtstag“ mit russischen Flexionsmorphemen verbunden (Ott-inym, Geburtstag-om, russ. Instrumentalis Sg. Mask.). Im Beispiel (20) bekommt das deutsche Substantiv die russische Genitivflexion (Gen. Pl.): (19) po mojemu s Ott-inym Geburtstag-om schto-to bylo svjazano [nach mir mit Ottos Geburtstag irgendwas war verbunden] „ich denke, irgendetwas war mit Ottos Geburtstag verbunden“ (20) bylo takich Beispiel-ov očenj mnogo [war solcher Beispiele sehr viel] „Solcher Beispiele gab es sehr viel“ Beim Wechsel ins Deutsche werden die grammatischen Regeln des Russischen und Deutschen verschieden stark einbezogen. So kann z.B. die Reflexivität einmal entsprechend den russischen Regeln und das andere Mal entsprechend den deutschen Regeln markiert werden. So wird im Satz (21) beim Wechsel zum deutschen Verb sich zurückmelden die Reflexivität nicht nach den Erfordernissen der deutschen Syntax gebildet, sondern nach den Regeln des Russischen: Das Reflexiv-Morphem -sj wird an das deutsche Verb angehängt wie in zurückmeldovalasj. In (22) dagegen wird die Reflexivpartikel sich (russ. „sebja“) nach deutschem Muster verwendet (sich + melden): Im Beispiel (22) ist die Satzstruktur nicht nur nach russischen, sondern gleichzeitig auch nach Regeln der deutschen Grammatik gebildet. (21) ona ječo nje zurückmeldovalasj [sie noch nicht zurückmeldete-sich] „sie hat sich noch nicht zurückgemeldet“ (22) što-to ona sebja nje meldovala [ …. sie sich nicht meldete] „sie hat sich aber nicht gemeldet“ Vom Sprachinseldialekt zur Migrantensprache 377 Dasselbe betrifft auch die Partikelverben. So wird das Partikelverb aufbacken im Beispiel (23) nach den Regeln der russischen Grammatik gebraucht: auf + backaju. (In diesem Beispiel besteht das deutsch-russische Verb bakaju aus dem deutschen Stamm back- und dem russischen Morphemsuffix -aju (1. P. Sg. Ind.).) In (24) jedoch wird das trennbare Präfix vor gemäß den Regeln der deutschen Grammatik nachgestellt (haben + vor): (23) sejčas ja ych aufbackaju [gleich ich sie aufbacke] „gleich backe ich sie auf“ [die Brötchen] (24) u nas nitschewo njet vor [bei uns nichts nicht vor] „wir haben nichts vor“ Auf der Grundlage der dargestellten Beispiele zeigt sich, dass die Sprecher der mittleren Generation im Alltagssprachgebrauch oft vom Russischen ins Deutsche wechseln. Die meisten Wechseltypen sind als insertion und congruent lexicalization zu klassifizieren. Die deutschen Elemente werden meistens den morphologischen Regeln des Russischen angepasst. Es liegen aber auch bereits Fälle der Beteiligung der deutschen Grammatik an der Struktur der Basissätze und die Verwendung nach deutschen Regeln vor. 3.2.3 Fazit Die angeführten Beispiele der Sprachmischung veranschaulichen deutlich die Unterschiede im Sprachgebrauch der mittleren Generation im Vergleich zum Sprachgebrauch der älteren Generation. Während der Sprachgebrauch der älteren Sprecher im Alltag sich kaum verändert hat, so sieht das bei der mittleren Generation anders aus. Die ältere Generation hat ihren Sprachinseldialekt in der Regel im Alltag beibehalten und lediglich leichte Anpassungen ans Hochdeutsche vorgenommen. Die mittlere Generation hat dagegen den Sprachmodus (Grosjean 1995) verändert und statt „Russisch“ auf den Modus „Russisch-Deutsch“ gewechselt. Durch die Anwendung der Mischstrategien entsteht eine russisch-deutsche Mischsprache, die weder von echten Russischsprechern im Herkunftsland noch von Deutschsprechern in Deutschland verstanden wird. Es handelt sich hier um eine Art „russlanddeutsche Migrantensprache“, die nur in der ingroup-Situation der zweisprachigen Aussiedler gebräuchlich ist. Der Gebrauch einer solchen Mischsprache ist an sich keine Überraschung, sondern eine im Grunde häufig vorkommende, relativ übliche Nina Berend 378 Sprachgebrauchsstrategie, die für viele Migrantenpopulationen in verschiedenen Teilen der Welt typisch ist (es existiert eine umfangreiche Forschungsliteratur zu dieser Problematik). Allerdings weist der hier vorgestellte Fall der Sprachmischung bei Aussiedlern einige Besonderheiten auf. Erstens fällt auf, dass die Aneignung der typischen Strategie der Sprachmischung in extrem kurzer Zeit stattgefunden hat. Es handelt sich ja bei den vorgestellten Sprechern um die Einwanderungsgeneration, und nicht um die zweite oder gar dritte Generation von Migranten, bei denen ähnliche Sprachmischungsprozesse beschrieben wurden. Die Ähnlichkeiten mit den Mischungsstrategien der Migranten der zweiten und dritten Generation in Deutschland liegen auf der Hand (Kallmeyer/ Keim 2003). Es kann angenommen werden, dass die Sprecher dieser Gruppe dank ihrer spezifischen Sprachkompetenzen und der eigenartigen soziolinguistischen Situation eine bzw. zwei migrantenspezifische Sprachphasen „übersprungen“ haben. Diese Annahme sollte an weiteren unfangreicheren Daten überprüft werden. Zweitens handelt es sich im Falle der untersuchten Sprache der russlanddeutschen Aussiedler um eine ganz besondere „Sprachumkehrung“, die für andere Migrantengruppen nicht typisch ist. Bereits im Herkunftsland haben sich die Sprecher die Strategien des Sprachwechsels angeeignet. Gerade die Sprecher der untersuchten Gruppe mittlerer Generation haben vor der Ausreise eine intensive Sprachmischung praktiziert, allerdings in der umgekehrten Richtung. Aus dem Deutschen wurde ins Russische gewechselt, wobei es sich bei „Deutsch“ um einen russlanddeutschen Dialekt handelte. Dabei wurden russische Wörter verdeutscht bzw. phonomorphologisch und syntaktisch ins Deutsche integriert und es fand deutsch-russisches code-switching statt (Boni 1983; Kirschner 1989, vgl. auch Anders 1993; Blankenhorn 2003). Eine genau umgekehrte Situation liegt jetzt in Deutschland vor. Die Sprecher wenden ähnliche Strategien und Muster des Sprachwechsels an, aber in umgekehrter Richtung: Deutsche Lexeme werden ins Russische integriert, und es findet ein Sprachwechsel aus dem Russischen ins Deutsche statt, wie die oben dargestellten Beispiele zeigen. Angesichts dieser Bedingungen stellt sich die Frage nach der Rolle und Funktion der Sprachmischung bei den russlanddeutschen Sprechern in Deutschland. Man hat in Bezug auf verschiedene Migrantenpopulationen die Funktionen des Sprachwechsels bzw. der Sprachmischung bereits untersucht und festgestellt, dass bestimmte Strategien eine wichtige Funktion erfüllen, z.B. bei der Herstellung von sozialen Identitäten (vgl. Kallmeyer/ Keim 2003; Keim/ Vom Sprachinseldialekt zur Migrantensprache 379 Tracy 2007). Es wäre besonders spannend herauszufinden, welche Funktion die Sprachmischung bei den Russlanddeutschen ausübt. Gibt es besondere - auf die russlanddeutsche Sprachsituation zugeschnittene - Funktionen des Sprachwechsels und der Sprachmischung, oder „entwickelt sich diese Fähigkeit als natürlicher Nebeneffekt der Koexistenz und Kookurrenz sprachlicher Alternativen im Kopf? “ (Tracy 2006). Spielt die Sprachmischung bei den Russlanddeutschen eine spezifische Rolle bei der Konstruktion des sozialen Stils der Kommunikation und der sozialen Identität, und wenn ja, welche? Diese Fragen sollten in Bezug auf die Russlanddeutschen in den Mittelpunkt künftiger Untersuchungen gestellt werden. 5. Literatur Anders, Kerstin (1993): Einflüsse der russischen Sprache bei deutschsprachigen Aussiedlern. (= Arbeiten zur Mehrsprachigkeit 44). Hamburg. Hamburg. 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Gerhard Stickel Unvorgreifliche Erwägungen zum heutigen und zum künftigen Deutsch Anders als linguistische Laien scheuen Sprachwissenschaftler aus prinzipiellen theoretischen Gründen davor zurück, eine Sprache zu bewerten, und erst recht, über ihre künftige Entwicklung zu spekulieren. Trotz theoretischer und methodischer Skrupel werden in diesem Essay wertende Bemerkungen zur heutigen deutschen Sprache gemacht und Spekulationen über deren weitere Entwicklung angestellt. Dazu werden drei Szenarien zum möglichen Zustand des Deutschen nach drei bis vier Generationen skizziert und vergleichend erörtert. Es werden auch künftig in erster Linie die Sprecher des Deutschen sein, die ihre Sprache bewahren und/ oder verändern. Angesichts des sich derzeit abzeichnenden partiellen Domänenverlustes des Deutschen wird diskutiert, wie seine weitere Entwicklung im Kontext des vielsprachigen Europas positiv beeinflusst werden kann. Auch diese Diskussion stützt sich durchweg auf Plausibilitätserwägungen. 1. Sprachbewertungen und Sprachprognosen „Die deutsche Sprache ist gut in Schuss“, meinte vor etlichen Jahren mein früherer Kodirektor Rainer Wimmer bei einer Pressekonferenz zu Journalisten, die sich wie andere vor ihnen wieder einmal besorgt nach dem Zustand des Deutschen erkundigt hatten. Die Bemerkung sollte die lästigen Fragen der Zeitungsleute abwehren, die vermutlich nach Anregungen für Sprachglossen oder sprachkritische Essays suchten. Der Abwehrversuch blieb nicht folgenlos, denn in mehreren Zeitungen erschienen in den folgenden Tagen Artikel, in denen schon die Art der Äußerung meines Kollegen und Freundes als Symptom für den Niedergang der deutschen Sprache gewertet wurde. Beim Institut trafen zudem über Wochen hin Briefe ähnlichen Inhalts ein. Kritisiert wurden sowohl die optimistische Einschätzung des heutigen Deutsch als auch ihre umgangssprachliche Formulierung. Eine Kritik aus linguistischer Sicht schrieb Ulrich Ammon (1990), in der er unter anderem auf die schlechte internationale Stellung des Deutschen im Vergleich zu der des Englischen hinwies. Theorie- und methodenstrenge Linguisten vermeiden wertende Pauschalaussagen über eine Sprache und deren Entwicklung. Dies nicht nur, um nicht von Fachkollegen haltloser unwissenschaftlicher Spekulationen geziehen zu werden, sondern auch aus Scheu vor der kaum zu bewältigenden Komplexität der hierfür zu bearbeitenden Aufgaben. Bewerten ist stets Vergleichen und Gerhard Stickel 382 erfordert Bewertungskriterien. Beim Bewerten einer Sprache wird entweder ihr beobachtbarer Zustand mit einem früheren oder einem idealen Zustand verglichen oder mit dem einer anderen Sprache, und zwar im Hinblick auf bestimmte Qualitäten oder Größen. Generelle Eigenschaften der Gegenwartssprache und ihrer laufenden Entwicklung festzustellen, ist ungemein schwierig, schwieriger vielleicht noch als die Erfassung anderer komplexer Zustände und Prozesse, etwa der Entwicklung der gesamten Volkswirtschaft eines modernen Staates. Im Unterschied zu den monetären Einheiten, mit denen sich Wirtschaftsprozesse vergleichen und bewerten lassen, gibt es für eine Sprache und ihre Entwicklung keine standardisierten Messgrößen. Größen wie durchschnittliche Satzlänge in Texten, Wortschatzumfang, Sprecheranzahl und ähnliche kann man zwar ermitteln. Daraus lässt sich aber nicht so etwas wie ein sprachliches Bruttosozialprodukt oder Wachstum ermitteln. 1 Hinzu kommt, dass auch Germanisten in der sprachlichen Gegenwart leben und nur mit Mühe eine Beobachterdistanz zu ihrer Objektsprache finden. Aber auch der Sprachwandel in der Vergangenheit, zu dem die erforderliche Beobachterdistanz besteht, ist zwar im Großen und Ganzen beschrieben, konnte bisher aber nur zum Teil erklärt werden. Änderungen des Wortschatzes, der morphologischen und syntaktischen Regularitäten, von Stilformen und Textkonventionen sind erfasst und analysiert worden. Erklärungen gibt es aber nur ansatzweise und in Form konkurrierender Hypothesen. Als gesellschaftlicher Prozess ist Sprachwandel von so vielen Faktoren abhängig, dass er sich zumindest in einem naturwissenschaftlichen Sinn nicht streng kausal aus bekannten oder vermuteten Bedingungen ableiten lässt. 2 Noch entschiedener vermeiden Linguisten Aussagen zur künftigen Entwicklung einer Sprache, weil es keine belastbaren linguistischen Theorien und Methoden gibt, die Prognosen zur weiteren Entwicklung einer Sprache absichern könnten. Nach allem, was wir aus der Sprachgeschichte wissen, sind die Gründe für Sprachveränderungen nur zum geringen Teil in der Sprache selbst zu finden, also in Wörtern und Sätzen, den Regularitäten ihres Baus und ihren Bedeutungen, sondern vor allem bei den Menschen, die sprechen, hören, schreiben und lesen, die miteinander sprachlich umgehen, die ihre sozialen Umgangsformen und individuellen Bedürfnisse ändern und zudem neuartige Kommunikationsmedien erfinden und nutzen. Was aus der deutschen Sprache wird, hängt also in erster Linie davon ab, was die deutschsprachigen Menschen 1 Zum Versuch einer ökonomischen Bewertung der deutschen Sprache siehe Coulmas (1993). 2 Zu einer plausiblen Deutung von Sprachwandel als Prozess der ‘unsichtbaren Hand’ vgl. Keller (1990). Unvorgreifliche Erwägungen zum heutigen und zum künftigen Deutsch 383 damit tun wollen oder tun müssen, d.h. unter welchen künftigen sozialen und materiellen Bedingungen sie die Sprache zu welchen Zwecken gebrauchen. Die Linguistik kann dazu mit den Mitteln der synchronischen Sprachbeschreibung kaum etwas sagen. Sie kann allenfalls unter vergleichendem Rückgriff auf sprachgeschichtliche Entwicklungen die eine oder andere Extrapolation aus Vergangenheit und Gegenwart in die Zukunft versuchen. Tatsache bleibt jedoch, dass viele Menschen das Bedürfnis haben, das heutige Deutsch insgesamt zu bewerten und etwas über seine Zukunft zu erfahren. Dabei wird meist nicht zwischen den Eigenschaften des konkreten Sprachgebrauchs und den zugrunde liegenden Regularitäten und Strukturen unterschieden. Vermutungen und Fragen zum Zustand der Sprache, speziell der eigenen Sprache, nach ihrer wahrscheinlichen künftigen Entwicklung werden immer wieder geäußert, von sprachinteressierten Laien, Lehrern, Sprachpflegern, einzelnen Politikern und eben auch Journalisten, die das verbreitete Interesse an sprachlichen Themen zu bedienen suchen und von Linguisten zumeist eine Bestätigung der eigenen Meinung oder Einstellung erwarten. Zukunftsorientiert sind besonders auch die Sorgen mancher Zeitgenossen, die Veränderungen unserer Sprache zum Schlechten konstatieren oder befürchten, falls nicht Maßnahmen zu ihrer Bewahrung oder gar Verbesserung ergriffen werden. Bekanntlich nehmen diese Sorgen mit dem Lebensalter zu, oft wohl motiviert durch die Befürchtung, dass angesichts zunehmender Sprachveränderungen die eigene Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigt werden könnte. Es besteht also offensichtlich ein Bedarf an Einschätzungen der Gegenwartssprache und an plausiblen Prognosen zu ihrer weiteren Entwicklung, die man nicht schon durch Hinweis auf methodische Schwierigkeiten abtun sollte. Und so riskieren es auch einzelne Linguisten hin und wieder, Spekulationen über die Zukunft einer Sprache zu entwickeln und auch zu veröffentlichen. Ein lesenswertes Beispiel bieten die Überlegungen von Harald Weinrich (1985) über „Die Zukunft der deutschen Sprache“. Auch ich schiebe für meine Erwägungen zur Gegenwart und Zukunft des Deutschen die nahe liegenden methodischen Skrupel etwas beiseite. Zunächst einige Bemerkungen zur sprachlichen Gegenwart. 2. Zum heutigen Deutsch Was ist unter dem derzeitigen Zustand der deutschen Sprache zu verstehen? Wie ist er zu beschreiben? Eine vollständige Zustandsbeschreibung bestünde in der Erfassung aller phonischen, grafischen, morphologisch-syntaktischen Regularitäten und lexikalischen Einheiten der Varietäten des Deutschen, die Gerhard Stickel 384 heutzutage geäußert und/ oder rezipiert 3 werden, und der Zwecke und Situationen des aktualen Sprachgebrauchs. Eine solche totale Zustandsbeschreibung kann auch mit vereinten linguistischen Kräften schwerlich geleistet werden und wird auch von niemandem erwartet. Erwartet und diskutiert werden unter Bewertungsaspekten in erste Linie Beschreibungen von Veränderungen des derzeitigen Sprachgebrauchs im Vergleich zu früheren Sprachgebräuchen und deren Regularitäten. Auch linguistische Laien stellen Beobachtungen oder Vermutungen zum laufenden Sprachwandel an, bemerken und bewerten den Gebrauch neuer Wörter, tatsächliche oder vermeintliche grammatische Neuerungen oder auch Änderungen von Text- und Dialogkonventionen. Immer wieder gern diskutiert werden: Anglizismen und andere Neuwörter, die Wortstellung nach weil, das (vermeintliche) Verschwinden von Genitiv und Konjunktiv, Änderungen von Briefkonventionen und Grußformeln oder die geänderten Gebrauchsbedingungen für Titel und Anredepronomina. Bemängelt werden solche Änderungen mit der expliziten oder unausgesprochenen Sorge, dass so die Sprache schlechter werde. Dies kann nur als Befürchtung verstanden werden, dass die veränderten sprachlichen Mittel bestimmten kommunikativen Zwecken nicht mehr genügen, also eine Verständigung in dem tatsächlich oder vermeintlich veränderten Deutsch künftig erschwert werde. Dafür, dass die deutsche Sprache als langue, als Ensemble der verfügbaren lexikalischen und grammatischen Mittel, sich gegenüber früheren Sprachzuständen verschlechtert habe, genauer gesagt: von ihren Sprechern verschlechtert worden sei, gibt es keine markanten Anzeichen. Da eine Sprache nur in ihrem Gebrauch beobachtbar ist, können auch Veränderungen des Deutschen nur an konkreten mündlichen und schriftlichen Äußerungen festgestellt werden. In einigen seiner strukturellen Komponenten ist das heutige Deutsch zweifellos anders als noch zu Beginn oder auch Mitte des 20. Jahrhunderts, besonders in seiner Lexik. Andererseits bietet es anscheinend in seinen Varietäten weiterhin schier unbegrenzte Ausdrucksmöglichkeiten, die von der fein geschliffenen Prosa mancher zeitgenössischer Autoren bis zu den wortkargen, oft hermetischen Dialogen in jugendsprachlichen Milieus reichen. Zeitgenössische Schriftsteller schreiben zweifellos anders als Theodor Fontane oder Thomas Mann; die Jugendsprachen von heute unterscheiden sich erheblich von der Sprache der Jugendbewegung oder gar der Sprache der Hitlerjugend. Die Verständigung innerhalb der literatursprachlichen und der jugendsprachlichen Domänen scheint jedoch nicht beeinträchtigt zu sein; zwischen beiden war sie schon immer schwierig. Der aktuale Sprachgebrauch in den Medien 3 Rezipiert, d.h. gelesen oder gehört und gesehen werden können in der Gegenwart auch ältere ‘Äußerungen’, z.B. Literatur aus der Vergangenheit oder alte Filme. Unvorgreifliche Erwägungen zum heutigen und zum künftigen Deutsch 385 und in der Politik wird von manchen Menschen kritisch beobachtet. Sprachschnitzer und irreführende Euphemismen werden nicht kritiklos hingenommen. Auch scheint die praktische Kritik des Sprachgebrauchs im Alltag der Familien und Schulen weitgehend zu funktionieren. Hierzu gehören auch die immer wiederkehrenden Klagen über schlechte sprachliche Leistungen von Schülern und Studenten. Auch solche Klagen zeugen von funktionierender Sprachkritik. Im gesamten Sprachgebiet hat sich die deutsche Standardsprache (‘Hochdeutsch’) im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts soweit verbreitet und stabilisiert, dass sie nun von den allermeisten Menschen zwischen Bern und Greifswald, zwischen Flensburg und Klagenfurt verstanden, wenn auch nicht in allen Situationen und für alle Zwecke aktiv gebraucht wird. Noch nie konnten so viele Menschen deutsch lesen und schreiben. 4 Dies ist eine Folge der allgemeinen Schulpflicht und - besonders in Deutschland - auch der Umsiedlung und Umschichtung großer Bevölkerungsanteile in der Kriegs- und Nachkriegszeit, der verbreiteten Nutzung alter und neuer Massenmedien und der zunehmenden beruflichen Mobilität. Zugenommen hat aber nicht nur die Verbreitung des Gebrauchs der Standardsprache, sondern auch die Anzahl und Intensität der Kontakte mit anderen Sprachen, und zwar sowohl innerhalb des dominant deutschsprachigen Gebiets als auch Sprachgrenzen überschreitend. Von diesen Kontakten sind größere Anteile der deutschsprachigen Bevölkerung betroffen als je zuvor. Mit der Entwicklung der Verkehrswege und -mittel, der weitgehenden Öffnung der Grenzen in Europa und mit den modernen Kommunikationsmedien sind Begegnungen mit anderssprachigen Menschen und Texten längst nicht mehr auf Boten, Diplomaten, Kaufleute, fahrende Scholaren, Handwerksburschen und Soldaten beschränkt. Jeder kann nahezu mühelos in ein anderssprachiges Gebiet reisen, und sei es als Tourist. Jeder kann, auch ohne zu reisen, fremdsprachige Zeitungen und Bücher lesen und Radio- und Fernsehsendungen in anderen Sprachen empfangen. Hinzu kommen die Sprachkontakte, die im Fremdsprachenunterricht gezielt vermittelt werden, und das nicht nur an Kinder ‘aus gutem Hause’, sondern an nahezu alle Kinder und Heranwachsende. Zu beachten sind auch die Kontakte zu den Migrantensprachen im Sprachinland, die auf jedem Wochenmarkt, an vielen Arbeitsplätzen, in Kaufhäusern, 4 Leider gibt es bisher keine genauen Angaben darüber, wie viele von den rund 82 Millionen Einwohnern von Deutschland tatsächlich Deutsch als Erst- oder Zweitsprache verwenden, weil es hierzulande anders als in mehreren anderen europäischen Ländern bis heute keinen Sprachenzensus gegeben hat und in absehbarer Zeit auch nicht geben wird. Auch zu den anderssprachigen Bevölkerungsgruppen fehlen genauere quantitative Daten. Gerhard Stickel 386 Zeitungsständen und anderswo geboten werden. Die erhebliche Zunahme an Sprachkontakten führt auch zu vermehrten Entlehnungen. Die Übernahme von Wörtern und Wendungen aus den unmittelbaren Kontaktsprachen benachbarter Länder und im Inland ist jedoch relativ gering im Vergleich zu den Entlehnungen aus dem Englischen. Während die territoriale und soziale Verbreitung des Standarddeutschen und die Anzahl seiner Sprecher größer geworden sind, verringert sich andererseits jedoch sein Gebrauch in einigen Domänen, d.h. in einzelnen kommunikativen Sach- und Lebensbereichen. Die domänenspezifischen Gebrauchsmöglichkeiten des Deutschen gehen schon seit einiger Zeit zurück. Bekanntlich publizieren die meisten deutschen Naturwissenschaftler und Mediziner, viele Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler überwiegend oder nur noch auf Englisch. Nachdem Deutsch bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in vielen Fächern eine herausragende Stellung auch in der internationalen wissenschaftlichen Kommunikation hatte, hat seine Verwendung in dieser Funktion seit dem Ende des 2. Weltkrieges weiter abgenommen. 5 Einen ähnlichen Domänenverlust weisen inzwischen auch andere europäische Sprachen auf mit Ausnahme des Englischen, das zunehmend die Stellung einer globalen wissenschaftlichen Verkehrssprache 6 eingenommen hat. Verschärft wird das Problem für das Deutsche dadurch, dass deutschsprachige Wissenschaftler der genannten Fächer Englisch nicht nur für die internationale Verständigung nutzen - wogegen wenig einzuwenden ist -, sondern auch für die innerdeutsche Fachkommunikation. Wenn deutschsprachige Naturwissenschaftler ihre Arbeiten zunehmend auf Englisch publizieren, auf Englisch vortragen und diskutieren - selbst auf Tagungen im Sprachinland - , dann ist zu befürchten, dass deutsche Physiker, Chemiker und Biologen sich schon in einigen Jahren zu Themen aus ihrem Fach auf Deutsch gar nicht mehr äußern können. Erst recht nicht gegenüber interessierten Laien. Das geschieht dann nicht nur aus mangelnder Gewöhnung, sondern weil die deutsche Sprache mit ihren reichen wissenschaftlichen Terminologien nicht mehr entsprechend dem Fortschritt der Forschung weiterentwickelt und damit als Fachsprache für immer mehr Disziplinen unbrauchbar wird. Zudem nimmt auch der Gebrauch von Deutsch als Unterrichtssprache in einigen Hochschulen und Disziplinen ab. An mehreren Privathochschulen und in einzelnen Fächern auch an staatlichen Hochschulen wird Englisch zunehmend zur dominierenden Sprache der Lehre. 5 Hierzu ausführlich Ammon (1998). 6 Ich vermeide hier die derzeit gebräuchliche Bezeichnung lingua franca. Die historische lingua franca, mit der das heutige Englisch oft fälschlicherweise verglichen wird, hatte nie eine Funktion in Wissenschaft, Politik oder Kultur im weitesten Sinn. Sie war lediglich eine rudimentäre Hilfssprache, ein Pidgin für Kaufleute und Schauerleute an den Mittelmeerküsten. Unvorgreifliche Erwägungen zum heutigen und zum künftigen Deutsch 387 Eine ähnliche Entwicklung ist in der Wirtschaft zu beobachten: Mehrere große multinationale Konzerne mit Sitz in Deutschland (u.a. Daimler, Siemens und Bertelsmann) haben selbst an ihren hiesigen Standorten in bestimmten Firmenbereichen Englisch als Konzernsprache auch für die deutschsprachigen Mitarbeiter eingeführt. Ein sich ausbreitender, anhaltender Domänenverlust wäre tatsächlich eine Verschlechterung der deutschen Sprache, da sie dann für eine zunehmende Anzahl von Zwecken nicht mehr verwendbar wäre. In diese Richtung deuten auch aktuellen Tendenzen im schulischen Sprachenunterricht. An den meisten deutschen Schulen wird - oft auf Druck der Eltern - Englisch als erste oder gar einzige Fremdsprache unterrichtet. Diese Entwicklung geht nicht nur zum Nachteil anderer Fremdsprachen, sondern mittelbar auch zu Lasten des Deutschen. In der Schweiz wird seit einigen Jahren sogar die Einführung von Englisch als allgemeine Verkehrssprache, d.h. auch für die deutschsprachigen Kantone, diskutiert (vgl. Watts/ Murray 2001). In Schulen und Hochschulen anderssprachiger europäischer Länder wird Deutsch als Fremdsprache insgesamt etwa so häufig wie Französisch gelehrt und gelernt. Sein Anteil (wie der des Französischen) am Fremdsprachenunterricht ist aber besonders in den westlichen und nordeuropäischen Ländern zugunsten des Englischen stark zurückgegangen. In Mittel- und Osteuropa ist ebenfalls Englisch zur ersten Fremdsprache geworden (vgl. Europäische Kommission 2006). 3. Mögliche Zukünfte des Deutschen Ein stark vereinfachender Blick auf das heutige Deutsch ergibt also ein gemischtes Gesamtbild. Wie geht es mit der deutschen Sprache weiter? Wohin könnte oder sollte sie sich entwickeln? Sofern man keine prophetische Gabe für sich in Anspruch nimmt und eine unbedingte Prognosen riskiert, lassen sich zur Zukunft des Deutschen nur bedingte Voraussagen machen, also Annahmen als begründete Vermutungen darüber, was aus der deutschen Sprache künftig wird, wenn bestimmte Bedingungen gegeben sind oder geschaffen werden. Anders freilich als eine ökonomische Prognose, die z.B. das wahrscheinliche Wirtschaftswachstum eines Landes aus quantitativen Daten ermittelt, können linguistische Prognosen allenfalls Plausibilitätsbetrachtungen zur sprachlichen Zukunft anstellen, die meist zu Vergleichen mit Prozessen des Sprachwandels in der Vergangenheit greifen. Ein wichtiger Unterschied besteht auch darin, dass ökonomische Prognosen meist nur für wenige Jahre erwartet und gestellt werden, während Vermutungen und Befürchtungen zur Entwicklung einer Sprache weiter in die Zukunft ausgreifen. Für den Unter- Gerhard Stickel 388 nehmer oder Wirtschaftspolitiker kann die Prognose eines Wachstums von 1,7% im folgenden Jahr (statt 2,5% im laufenden) entscheidungsrelevant sein. Sprachwandel ist dagegen nicht so kurzatmig wie ökonomische Prozesse. Dem sprachlich interessierten Mitbürger kann man getrost sagen, dass sich an der deutschen Sprache in den nächsten Jahren nur wenig ändern wird, sofern keine europäische oder globale Katastrophe eintritt. Was die Entwicklung des Deutschen in den kommenden zehn Jahren angeht, so lässt sich - wie die neuere Sprachgeschichte lehrt - als sehr wahrscheinlich vermuten, dass sich der Wortschatz in Teilen weiter verändern wird, nicht in seinem Kernbestand, aber besonders in den lexikalischen Feldern zu Domänen, in denen Neues geschieht. Die phonologischen, morphologischen und syntaktischen Strukturen werden aber im Wesentlichen stabil bleiben. Zu (weiteren) Änderungen kann es in ein, zwei Jahrzehnten in den Textkonventionen für schriftliche Nachrichten kommen, so wie sich dies jetzt schon in der E-Mail- und SMS -Kommunikation abzeichnet. Sollte die akustische Spracherkennung, d.h. die gesprochene Eingabe in Computer und andere steuerbare Geräte, erheblich weiterentwickelt werden und sich ihre Nutzung verbreiten, geht möglicherweise die Nutzung der Schrift zurück, zumindest als Eingabemedium. Dies könnte schon aus technischen Gründen auch zu einer artikulatorischen Präzisierung und weiteren Standardisierung der gesprochenen Sprache führen. Auf das Lesen komplexer Nachrichten und fiktionaler Literatur wird man aber auch künftig nicht so leicht verzichten. Nachhören ist mühsamer als Nachlesen. Diese Entwicklung würde nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch andere Sprachen in den technologisch entwickelten Ländern und Regionen betreffen. Anzunehmen ist, dass sich der Domänenverlust, der erwähnte Rückgang des Deutschen zugunsten des Englischen, in einigen Sach- und Lebensbereichen für einige Jahre noch fortsetzen wird, wenn sich bei den Akteuren in diesen Domänen kein Interesse für eine andere Entwicklung gewinnen lässt. Hierzu mehr weiter unten. Versuchen wir, noch etwas weiter in die Zukunft hineinzuspekulieren! Hierzu muss wie bei der Einschätzung der Einflüsse auf die Gegenwartssprache auch die künftige Entwicklung des Deutschen im Kontext der anderen europäischen Sprachen und darüber hinaus gesehen werden. Sofern die derzeitigen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen für Deutschland und die anderen deutschsprachigen Staaten im Großen und Ganzen fortbestehen, sind für die Zukunft der deutschen Sprache gegen Ende dieses Jahrhunderts, also nach drei bis vier Generationen, mehrere Möglichkeiten vorstellbar. Ich stelle drei Szenarien zur Diskussion: Unvorgreifliche Erwägungen zum heutigen und zum künftigen Deutsch 389 Deutsch wird um die nächste Jahrhundertwende im gesamten bisherigen Sprachgebiet in allen Domänen für alle Zwecke verwendet. Der Wortschatz ist im Kernbereich kaum verändert, hat sich aber in einigen domänenspezifischen Feldern durch eine Vielzahl von Neologismen und Wegfall älterer Ausdrücke gewandelt; die lautlichen und grammatischen Strukturen haben sich nur in wenigen Details verändert. So ist die Suffixmarkierung der Dativ- und Akkusativformen von Substantiven zum Teil entfallen ( ? dem Präsident). Dies gilt auch für den Genitiv, der nicht mehr als Objektkasus fungiert, sondern nur noch als Attributs- und Präpositionskasus (*Rede des Minister, *bezüglich deines Vorschlag). Vielleicht sind auch weitere ‘starke’ Verben in das regelmäßige Paradigma übergegangen (laden, *ladete, *geladet). Die allermeisten Deutschen, Österreicher und Deutschschweizer sind mittlerweile dreisprachig. Neben Deutsch beherrschen sie die inzwischen internationalisierte Varietät des Englischen (Internationalish) und können sich auch in einer weiteren europäischen Sprache gut ausdrücken, etwa auf Französisch, Spanisch, Italienisch oder Russisch, in Grenzgebieten auch auf Niederländisch, Dänisch, Polnisch oder einer anderen Nachbarsprache. Außerdem verfügen viele deutschsprachige Menschen zusätzlich zu ihren aktiven Sprachkenntnissen über eine rezeptive Kompetenz in weiteren Sprachen, die sie leidlich verstehen ohne sie sprechen oder schreiben zu können. Wissenschaftler haben sich längst angewöhnt, ihre gewichtigeren Publikationen zweisprachig abzufassen, tragen aber in Vorlesungen und auch bei internationalen Veranstaltungen im Inland durchweg auf Deutsch vor. Seminardiskussionen und Laborgespräche werden dagegen je nach den Teilnehmern oft auch mehrsprachig geführt. In vielen Gegenden des deutschsprachigen Gebiets werden noch die alten Dialekte als Familien- und Feierabendsprachen gepflegt. Dies gilt auch für die Herkunftssprachen der Nachkommen von Migranten. Ähnliche sprachliche Verhältnisse bestehen in den anderen europäischen Ländern, die schon mehrere Jahrzehnte zuvor ebenfalls Bundesstaaten der Europäischen Union geworden sind. Eine Ausnahme ist noch die Vereinigte Britische Republik (das frühere Vereinigte Königreich): Die meisten Schotten und Waliser sind zwar zwei- oder dreisprachig. Die Engländer dagegen wehren sich immer noch gegen die Vorherrschaft von Internationalish, das die britische Varietät des Englischen zu einem regionalen Feierabenddialekt zu machen droht. Viele Engländer haben aber auch schon begonnen, eine oder zwei andere europäische Sprachen zu lernen. A) Gerhard Stickel 390 Die deutsche Sprache ist nicht aus dem deutschen Sprachgebiet verschwunden. Sie hat sich jedoch stark verändert. Vier Generationen ihrer Sprecher haben sie nach und nach in eine ausgebaute Kreolsprache umgeformt: Über ein Substrat alter deutscher, morphologisch vereinfachter grammatischer Funktionswörter und Stellungsmuster legen sich lexikalische Einheiten, die zumeist aus dem Englischen übernommen sind. Im Hochschulbereich könnte ein Satz in diesem „Denglisch“ etwa lauten: De odder students moven in de false direction (in heutigem Deutsch: ‘Die anderen Studenten gehen in die falsche Richtung.’). Dieses Neudeutsch ist auf das deutsche Sprachgebiet beschränkt, hat sich aber in fast allen öffentlichen und privaten Domänen durchgesetzt. Vor allem jüngere Menschen lesen kaum noch Texte vom Beginn des 21. Jahrhunderts oder gar aus dem 20. oder 19. Jahrhundert, weil sie diese nur mit Mühe verstehen. Kreolformen haben sich unter dem Einfluss des Englischen auch aus anderen europäischen Sprachen entwickelt, unter anderem zu franglais und spanglish. Die englischen Anteile sind nicht in allen dieser neuen Sprachformen gleich. Deutsch, Niederländisch und die nordischen Sprachen sind stärker englisch überformt als die (ehemals) romanischen, slawischen und finno-ugrischen Sprachen in Europa. Neben ihren regional beschränkten verschiedenen Mischsprachen verwenden die Deutschen und die anderen Europäer im internationalen Verkehr Englisch als Verkehrssprache, deren Morphologie und Syntax sich nur wenig verändert hat. Außer Englisch werden in den kontinentaleuropäischen Ländern keine Fremdsprachen gelehrt und gelernt. Im Zuge der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung sowie der zunehmenden innereuropäischen Verflechtung haben die vorher deutschsprachigen Menschen die Standardsprache ihrer Vorfahren nahezu ganz aufgegeben und gebrauchen stattdessen eine amerikanisch geprägte internationale Varietät des Englischen in allen wichtigen Lebensbereichen, also in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Bildungswesen, generell im Berufsleben und auch in den Massenmedien. Die hochsprachliche Varietät des Deutschen existiert nur noch in alten Büchern, Ton- und Bilddokumenten, die auf elektronischen Datenträgern verfügbar sind. Das Fach Deutsch ist schon mehrere Jahre zuvor aus den Lehrplänen der Schulen gestrichen worden, wird aber noch als Teilgebiet in den geschichtswissenschaftlichen Departments einiger Universitäten betrieben. In manchen ländlichen Gegenden und in alten Stadtvierteln werden noch Reste vormaliger deutscher Mundarten und Umgangssprachen in der Familie, unter B) C) Unvorgreifliche Erwägungen zum heutigen und zum künftigen Deutsch 391 Freunden und bei Folkloreveranstaltungen gebraucht. Stärker ausgeprägt ist dies in Tirol sowie im ehemals deutschsprachigen Teil der Schweiz, wo ansonsten die früheren Landessprachen längst durch Englisch ersetzt worden sind. Ähnlich ist es den meisten anderen europäischen Hochsprachen ergangen mit Ausnahme vielleicht des Baskischen, Estnischen und Lettischen. Französisch wird nur noch in einigen außereuropäischen Gegenden (in Quèbec und Teilen von Afrika) gebraucht, in Frankreich sonst nur als Ritualsprache bei bestimmten öffentlichen Anlässen. Italienisch ist in Italien bis auf dialektale Reste verschwunden, hat aber neben Englisch das alte Kirchenlatein als offizielle Sprache des nun zweisprachigen Vatikans abgelöst. Spanisch und Portugiesisch werden auf der iberischen Halbinsel als Zweitsprachen neben Englisch verwendet, als Erstsprachen nur noch in größeren Gegenden Mittel- und Südamerikas. Katalonien ist englisch-katalanisch zweisprachig geworden. Auf den Britischen Inseln wird wie auch sonst in Europa ein ‘globalisiertes’ Englisch gesprochen. Die britischen Varietäten des Englischen werden wie die alten keltischen Minderheitssprachen lediglich noch in einigen ländlichen Regionen als Familiensprachen verwendet. In Florenz, Mannheim, Upsala und Krakau sind Dokumentationsstellen „for the former European languages“ eingerichtet worden, die aber nur von wenigen Sprachgelehrten und Historikern genutzt werden. Weitere Szenarien sind denkbar, so etwa dass die deutsche Sprache wegen künftiger hervorragender Leistungen deutschsprachiger Wissenschaftler, Ingenieure, Schriftsteller, Sportler und der deutschen Wirtschaft für Sprecher anderer Erstsprachen zunehmend attraktiver als Fremd- oder Zweitsprache wird und so neben oder statt Englisch auch eine Funktion als Verkehrssprache in Europa und darüber hinaus gewinnt. Andererseits könnte als Folge größerer globaler Veränderungen Chinesisch als Verkehrssprache auch in Europa wichtiger werden als Englisch, oder es könnten Arabisch oder Suaheli als Fremdsprachen für Deutsche interessanter werden als Französisch oder Spanisch. All dies hätte Auswirkungen auf die Zukunft des Deutschen. Aus heutiger Sicht und unter den derzeitigen Bedingungen sind jedoch solche Entwicklungen und ihre Folgen für die deutsche Sprache nur schwer zu projizieren. Ich beschränke mich deshalb auf die drei skizzierten Zukunftsbilder. Für weniger wahrscheinlich als die beiden anderen halte ich das Szenarium B, die Kreolisierung des Deutschen. Es nimmt Befürchtungen auf, wie sie unter anderem von Vertretern des Vereins Deutsche Sprache ( VDS ) geäußert Gerhard Stickel 392 werden, etwa in den Internet-Veröffentlichungen des Vereins ( www.vds-ev.de , Stand: 18.06.08), in denen wiederholt von einem „deutsch-englischen Kauderwelsch“ oder einer „Mischmaschsprache“ die Rede ist, die schon heute mancherorts zu konstatieren sei und wozu sich die deutsche Sprache insgesamt entwickeln könne. Der Gebrauch von Anglizismen hat zweifellos in einigen Domänen (u.a. in der Werbung, der Unterhaltungsindustrie und einzelnen Fachsprachen) erheblich zugenommen. In manchen Kontexten und Szenen werden hin und wieder auch englische Wendungen oder ganze englische Sätze in einen Werbetext oder Gesprächsbeitrag eingefügt. Dass sich aber aus der Zunahme des Gebrauchs solcher Entlehnungen eines Tages eine umfassend verwendbare, leidlich stabile Mischsprache entwickeln könnte, ist wenig wahrscheinlich. Die existierenden Kreolsprachen, etwa in der Karibik und in Guayana, haben sich durchweg durch Ausbau und Stabilisierung früherer Pidgins 7 entwickelt, d.h. aus extrem vereinfachten Hilfssprachen für die Verständigung verschiedensprachiger Menschen zu eingeschränkten Zwecken. Der Gebrauch von Anglizismen im Deutschen ist jedoch keine Vereinfachung und dient nicht etwa der Verständigung mit britischen oder amerikanischen Partnern, sondern entspringt durchweg dem Bemühen um Ausdrucksdifferenzierung gegenüber deutschsprachigen Adressaten, um diese zu beeindrucken, sich bei ihnen anzubiedern oder aus ähnlichen Motiven. Pidginartig ist allenfalls das ‘Gastarbeiterpidgin’, das manche hilflose Deutsche anderssprachigen Migranten anbieten und das von denen, oft auch ironisch, reproduziert wird. Ein Ausbau dieses Nominativ-Infinitiv-Pidgins (Du kommen hier schnell) wäre aber keine Kreolsprache, sondern wiederum Deutsch. Abgesehen von ihrer unwahrscheinlichen Genese aus einem Pidgin hätte eine deutsch-englische Kreolsprache auch nur geringen kommunikativen Nutzen. Sie wäre auf das deutsche Sprachgebiet beschränkt, könnte für Kommunikation mit anderen Europäern, auch mit Briten, nicht verwendet werden und würde also den (ehemals) deutschsprachigen Menschen nicht ersparen, Englisch oder andere europäische Sprachen zu lernen. Für nicht ausgeschlossen halte ich eine Entwicklung, wie sie im Szenarium C skizziert wird, also das weitgehende Verschwinden des Deutschen, besonders seiner hochsprachlichen Varietät. Die schon erwähnte Aufgabe des Deutschen zugunsten des Englischen in einzelnen Domänen könnte sich ausweiten. Dies wäre ein Rückbau der deutschen Sprache durch Domänenverlust. Eine ‘ganze’ 7 Zu ‘Ausbausprache’ Kloss (1978), zu Pidgin- und Kreolsprachen Bauer (1987) und Migge (2004). Unvorgreifliche Erwägungen zum heutigen und zum künftigen Deutsch 393 Sprache, d.h. eine Sprache, in der sich alles sagen und fragen lässt, was man weiß oder wissen möchte, ist Deutsch ohnehin erst etwa seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Es hat bis dahin Jahrhunderte gedauert und Schriftsteller und fortschrittliche Wissenschaftler einige Mühe gekostet, die deutsche Sprache vom Lateinischen und später auch dem Französischen zu emanzipieren und unter anderem für die wissenschaftliche Kommunikation auszubauen. Heutzutage sind es gerade die professionellen Akteure in mehreren wissenschaftlichen Disziplinen, die ohne Bedenken oder sogar entschieden ihre eigene Sprache zugunsten des Englischen als neuer internationaler ‘Einheitssprache’ aufgeben. Auch in anderen Domänen könnte dies durch eine weitere Zunahme der internationalen Kontakte in Wirtschaft, Politik und Tourismus befördert werden. Auf den sich abzeichnenden Funktionsverlust europäischer Hochsprachen insbesondere in den Domänen von Wissenschaft und Wirtschaft wird seit Jahren immer wieder hingewiesen. 8 Wenn diese Entwicklung sich verstärkt und ausweitet, könnte sich in den kontinental-europäischen Ländern nach und nach eine Diglossie entwickeln, d.h. eine funktionale Zweisprachigkeit aus der jeweils herkömmlichen Sprache und Englisch. Dabei würden wichtige Angelegenheiten in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zunehmend auf Englisch verhandelt, und der Gebrauch der anderen Sprachen beschränkte sich eines schlechten Tages nur noch auf die F-Domänen: Familie, Freunde, Freizeit und Folklore. Deutsch und andere europäische Sprachen könnten so längerfristig zu sozial und funktional beschränkten Regionalsprachen unterhalb von Englisch als europäischer Einheitssprache werden. Die Hochsprachen würden hierbei wiederum in Konflikt mit ihren Dialekten und den Minderheitssprachen geraten, die ja von vielen Menschen schon immer für die F-Domänen bevorzugt werden. Für die lokal oder sozial begrenzte Kommunikation über Themen der Familie, der Freunde, der Freizeit ist eine Hochsprache weniger geeignet als die lokale Mundart oder Minderheitssprache. Ihr Gebrauch lohnt sich in diesen Domänen nicht, würde eher stören. Es könnte sich so eine Entwicklung ergeben, bei der die deutsche und andere europäische Hochsprachen zwischen einerseits das sich über immer mehr Domänen ausbreitende globale Englisch und andererseits die lokal und sozial begrenzten Dialekte und Minderheitssprachen geraten und wegen abnehmender Verwendbarkeit nach und nach verkümmern. 9 Schließlich gäbe es neben Englisch als europäischer Einheitssprache Reste von einigen Spra- 8 Unter anderem von Phillipson (2003) und in den Beiträgen zu Ehlich/ Ossner/ Stammerjohann (Hg.) (2001). 9 Weiter ausgeführt in Stickel (2008). Gerhard Stickel 394 chen mit außereuropäischer Verbreitung und neben einzelnen ‘störrischen’ Sprachen wie Baskisch 10 lediglich noch regional und funktional beschränkte Dialektreste der heutigen kontinentaleuropäischen Sprachen. 4. Für eine wünschenswerte Zukunft des Deutschen Offenkundig ist, dass ich das sprachliche Szenarium A den beiden anderen vorziehe, wenngleich ich das Eintreffen keiner dieser Zukunftsvermutungen noch selbst erleben kann. Während die Szenarien B und C eher Befürchtungen für die sprachliche Zukunft bündeln, hat die Prognose A erwünschte Züge. Fraglich ist aber, ob sie auch die wahrscheinlichste von den dreien ist. Die Wahrscheinlichkeit hängt neben anderen Faktoren davon ab, ob die derzeitigen deutschsprachigen Menschen und ihre Nachkommen eine Entwicklung ihrer Sprache in Richtung auf eine Zukunft, wie sie in der ersten Skizze angedeutet ist, für erstrebenswert halten oder ihnen dies als erstrebenswert vermittelt werden kann. Inwieweit hat eine Sprache für ihre Sprecher überhaupt einen Wert, den es zu bewahren gilt? Als nahezu selbstverständlich sei vor allem an folgende Argumente für den Wert der eigenen Sprache erinnert: 11 In und mit der eigenen Sprache erfährt und strukturiert der einzelne Mensch wesentliche Aspekte seiner Welt. Über die eigene Sprache verfügt er sicherer als über andere Sprachen. Er kann in ihr besser verstehen, agieren und reagieren. Die eigene Sprache schafft und erhält Gesellschaft als Kommunikationsgemeinschaft. In ihr erfährt sich der Einzelne als soziales Wesen. In der eigenen Sprache sind Geschichte und Kultur, einschließlich der Literatur, der eigenen Gesellschaft aufgehoben und werden in ihr vermittelt. Sie schafft historische Kontinuität sozialer Gruppen und Staaten, soweit diese sich auch über eine gemeinsame Sprache definieren. Wert und Nutzen der eigenen Sprache für das Individuum sind nur eingeschränkt Gründe für ihre Bewahrung über die Generationen hinaus, weil der einzelne Mensch diesen Wert im Laufe des kindlichen Spracherwerbs auch in 10 Baskisch ist ein Beispiel dafür, dass die Entwicklung einer Sprache nicht nur wirtschaftlich beeinflusst wird. Es gibt keine ökonomischen Gründe dafür, dass die Basken noch Baskisch sprechen oder wieder mehr sprechen, als ihnen zur Francozeit erlaubt war. Der entscheidende Grund scheint zu sein, dass sie es wollen. Als sprachpolitisches Vorbild möchte ich die Basken mit ihren oft gewalttätigen Aktionen selbstverständlich nicht vorschlagen. 11 Mehr zum Thema „eigene Sprache“ in Stickel (2002). - - - - Unvorgreifliche Erwägungen zum heutigen und zum künftigen Deutsch 395 einer geänderten oder einer anderen Sprache finden könnte. Mehrsprachig aufwachsende Kinder gewinnen sogar den Wert von zwei oder mehr Sprachen und Kulturen. Wichtig ist der Fortbestand einer jeden Sprache aber für die soziale und kulturelle Kontinuität einer Gesellschaft, auch einer multiligualen Gesellschaft, und damit auch für die Sozialisation der Individuen, die ihr angehören. So wie der Einzelne den größten Teil seines Weltwissens nicht aus eigenen Erfahrungen, sondern aus Äußerungen und Texten anderer Menschen gewinnt, wird die Kontinuität sozialer Gruppen, von Familien über Vereine, Religionsgemeinschaften und Berufsstände bis hin zu Nationen, sprachlich vermittelt, und zwar nicht nur durch mündliche Äußerungen und Texte der jeweiligen Gegenwart und nahen Vergangenheit, einschließlich der Erzählungen von Eltern und Großeltern, sondern auch durch wesentlich ältere Texte wie Rechtskodizes, ‘klassische’ Literatur, historische, philosophische und religiöse Schriften. Erhebliche Änderungen des eigenen Sprachgebrauchs, die partielle oder völlige Aufgabe der eigenen Sprache verringern oder tilgen aber nicht nur den Wert der Sprache für die Gegenwart und deren Bezug zur Vergangenheit, sondern erschweren auch künftigen Generationen den Zugang zu ihrer Geschichte. Dies gilt selbstverständlich nicht nur für die deutsche Sprache und ihre Zukunft, sondern auch für andere europäische Sprachen, in deren Kontext sich das Deutsche weiterhin entwickelt: Sprachen, die ihren Sprechern ebenso wertvoll und nützlich sind wie uns die deutsche. In europäischer Perspektive hat die deutsche Sprache noch einen zusätzlichen Wert. Mit den anderen Sprachen ist sie Teil der sprachlichen Vielfalt des Kontinents, die konstitutiv ist für die soziale und kulturelle Vielfalt Europas. Dieses Argument ist zwar mittlerweile schon zu einem Topos des Europadiskurses geworden; aber wahr ist schließlich auch eine Binsenwahrheit. 12 Europa, speziell die Europäische Union, ist nicht sonderlich reich an natürlichen Ressourcen. Sein eigentlicher Reichtum ist seine sprachlich basierte kulturelle Vielfalt. Die Aufgabe der europäischen Sprachen, besonders ihrer hochsprachlichen Varietäten, zugunsten einer europäischen oder sogar globalen Einheitssprache ginge mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer kulturellen ‘McDonaldisierung’ einher, die sich freilich schon jetzt in einigen Bereichen alltäglicher Trivialkultur andeutet. 12 In der Erklärung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juli 2000 heißt es: „Alle Sprachen Europas in mündlicher wie schriftlicher Form haben den gleichen kulturellen Wert und die gleiche kulturelle Würde und sind ein Bestandteil der europäischen Kultur und Zivilisation.“ (Europäische Gemeinschaften 2000) Gerhard Stickel 396 Wenn man das erste Szenarium, das bei einer Weiterentwicklung des Deutschen die Bewahrung seines grammatischen und lexikalischen Kerns annimmt, für erstrebenswert hält (was ich tue), dann ist zu fragen, inwieweit eine solche Entwicklung schon heute aktiv gefördert werden kann. Linguisten, die sich auf die Beschreibung und Analyse der sprachlichen Gegenwart und Geschichte konzentrieren, aber auf die Sprachentwicklung nicht einzuwirken suchen entsprechend dem aus dem Strukturalismus stammenden Motto Leave your language alone, liegt diese Frage fern. Sprachen, besonders die europäischen Hochsprachen, sind jedoch nur selten ‘allein gelassen’ worden. Spätestens seit dem Beginn der Neuzeit, die nach und nach auch zur Emanzipation der europäischen ‘Volkssprachen’ vom elitären Latein zu den heutigen Standardsprachen geführt hat, gibt es Sprachpolitik, das heißt, Einwirkungen bestimmter sozialer Gruppen, Institutionen und des Staates auf die jeweilige regionale oder nationale Sprache. Angesichts der Vielzahl und Vielfalt der sprachpolitischen Konzepte und Initiativen, die derzeit in europäischen Zusammenhängen vorgeschlagen und diskutiert werden, 13 will ich nur noch wenige Bemerkungen zu einer zukunftsorientierten Sprachpolitik für das Deutsche machen. Was die deutsche Sprache der Gegenwart angeht, so wirkt sich schon die relativ große Anzahl ihrer Sprecher sprachkonservativ aus. Die laufende Sprachentwicklung ist nicht nur dem Einfluss globaler wirtschaftlicher Interessen und verbreiteter Vorteilserwägungen zukunftsvergessener Individuen ausgesetzt. Die Kommunikation zwischen den Generationen wirkt - trotz aller vorübergehenden jugendsprachlichen Besonderheiten - einem raschen Sprachwandel entgegen. Mit knapp 100 Millionen Sprechern in Europa droht dem Deutschen nicht so bald das Schicksal kleiner nord- und südamerikanischer Indianersprachen, die ‘ausgestorben’ sind, weil die jeweils jüngeren Generationen sie zugunsten des Englischen bzw. Spanischen aufgegeben haben. Die Vorteile der überregionalen Geltung der deutschen Standardsprache wirken sich stabilisierend auf diese aus, wozu auch ihre Funktion als Amtssprache in mehreren Staaten und Regionen beiträgt. Ich lasse dahingestellt, ob dies noch verstärkt werden könnte, wenn im deutschen Grundgesetz analog zur ös- 13 Unter anderem sind die Bemühungen der Europäischen Kommission zu nennen, der seit kurzem auch ein Kommissar für Mehrsprachigkeit angehört. Siehe die laufenden Internetveröffentlichungen, deutsch unter: http: / / europa.eu/ languages/ de/ home (Stand: 18.06.08). Sprachpolitisch zu wirken sucht neben anderen internationalen Sprachgesellschaften auch die Europäische Föderation nationaler Sprachinstitutionen ( EFNIL ), zu der sich die Sprachakademien und zentralen Sprachinstitute der EU -Länder zusammengeschlossen haben (siehe www.efnil.org (Stand: 18.06.08)). Unvorgreifliche Erwägungen zum heutigen und zum künftigen Deutsch 397 terreichischen und schweizerischen Verfassung ausdrücklich festgehalten würde, dass Deutsch die offizielle Sprache der Bundesrepublik Deutschland ist. 14 Die Abstimmung der Sprachenpolitik zwischen den deutschsprachigen Staaten und Regionen ist noch entwicklungsfähig und entwicklungsbedürftig. Bisher beschränkt sie sich auf den eher marginalen Bereich der Rechtschreibung. Eine verstärkte Zusammenarbeit wäre nicht nur sprach-innenpolitisch, also für das gesamte deutsche Sprachgebiet, sinnvoll, sondern auch mit Bezug auf die Sprachenpolitik der anderssprachigen europäischen Staaten, dies besonders auch im Zusammenhang mit der Sprachenpolitik der EU . Die künftige Entwicklung des Deutschen vollzieht sich - aus heutiger Sicht unausweichlich - im Kontext der anderen europäischen Sprachen und dieser Kontext wird umso bedeutsamer, je enger die Staaten der Union politisch und wirtschaftlich zusammenwachsen. Wirksame Sprachpolitik ist vor allem Bildungspolitik; denn die nachhaltigste Wirkung auf die allgemeine Sprachentwicklung haben zweifellos die Bildungseinrichtungen. Neben dem Einfluss von Familie, Straße und Fernsehen auf den kindlichen Spracherwerb werden Sprachvermögen und Sprachgebrauch der Menschen in ihrem auch sprachlich besonders lernfähigen Alter am stärksten durch Kindergarten, Schule und weitere Bildungseinrichtungen geprägt. Sprachunterricht ist zukunftsorientiert. Er dient der Entwicklung der Sprachfähigkeit von Kindern und Jugendlichen nicht nur für den jeweils aktuellen Bedarf, sondern auch ‘für das Leben’, also für den künftigen Gebrauch. Im Hinblick auf den europäischen Sprachenkontext sollte der Deutschunterricht stets im Zusammenhang mit dem Fremdsprachenunterricht geplant und durchgeführt werden. Um der erwähnten Gefahr einer deutsch-englischen Diglossie zu begegnen und um die europäische Sprachenvielfalt zu fördern, darf der Fremdsprachenunterricht aber keinesfalls auf Englisch beschränkt werden. Es sollte wenigstens eine weitere europäische Sprache hinzukommen, diese vielleicht sogar als erste Fremdsprache. Hierfür muss freilich auch in den deutschsprachigen Ländern noch geworben werden. 15 Außerdem sollten 14 Sofern daraus keine Sprachschutz- oder gar Sprachreinigungsbestimmungen abgeleitet werden, würde eine solche Klarstellung in der Verfassung auch nicht schaden. 15 Über das so genannte Barcelona-Prinzip 1+2 Sprachen (Erstsprache plus zwei weitere Sprachen), das als Lernziel möglichst aller Europäer 2003 in Barcelona von den Staats- und Regierungschefs der EU verabredet worden ist, besteht nach meinem Eindruck Konsens unter allen europabewussten Bildungspolitikern. An der Umsetzung in Lehrpläne und Unterrichtspraxis mangelt es aber bisher vor allem in den Ländern mit relativ ‘großen’ Sprachen wie Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien und erst recht in Großbritannien. Aber auch in anderen europäischen Ländern gibt es leider eine Tendenz zum Unterricht in nur 1+1 Sprachen (Muttersprache plus Englisch). Gerhard Stickel 398 Erforschung und praktische Erprobung der ‘Interkomprehension’ verstärkt werden, das heißt der Verständigung zwischen Menschen, welche die Sprache der jeweils anderen verstehen, wenn auch nicht aktiv beherrschen. 16 Auch dies kann zur Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit deutschsprachiger Menschen und mittelbar zur Erhaltung und Weiterentwicklung der deutschen Sprache beitragen. Verstärkt werden sollte auch der Austausch deutschsprachiger Schüler, Studierender, Auszubildender, Praktikanten und Lehrer mit denen aus anderssprachigen Ländern. Um dem Domänenverlust des Deutschen zu begegnen, ist die Kooperation mit Vertretern der Wissenschaft und der Wirtschaft zu suchen. Die praktischen Vorteile des Englischen als internationaler Publikationssprache besonders für die so genannten ‘harten’ Wissenschaften, die auch über außersprachliche Zeichensysteme (Formeln, Grafiken etc.) verfügen, brauchen nicht aufgegeben zu werden. Um jedoch den weiteren Ausbau des Deutschen und anderer europäischer Hochsprachen entsprechend dem wissenschaftlichen Fortschritt zu sichern, sollten Naturwissenschaftler für ihre heimischen Adressaten und die interessierte Laienöffentlichkeit auch in ihrer Muttersprache publizieren und vortragen, zumal die eigene Sprache bekanntlich auch die Forschungskreativität eher fördert als behindert. Eine praktizierte Mehrsprachigkeit kann sich auch für die Wirtschaft als vorteilhaft erweisen. Für die internationale Kooperation werden Industrie und Kommerz auf längere Sicht Englisch benötigen; für den erfolgreichen Handel in anderssprachigen Ländern und Regionen ist oft aber auch der Gebrauch weiterer Sprachen erforderlich oder vorteilhaft. Den Firmen, die ihre Produktionsstätten in den deutschsprachigen Ländern haben, ermöglicht der Gebrauch der Mehrheitssprache der Mitarbeiter eine effizientere Kommunikation und Produktion und erleichtert zudem den Absatz im Sprachinland. Um das Bewusstsein für die eigene wie für andere Sprachen bei möglichst vielen Menschen in den deutschsprachigen Ländern und Regionen auch künftig wachzuhalten und bei manchen Mitbürgern auch erst zu wecken, sind weiterhin die Arbeit von Sprachgesellschaften und -vereinen sowie intensive Sprachforschung erforderlich. Sprachunterricht, Sprachberatung und Sprachkritik müssen sich auch künftig auf sorgfältige Sprachdokumentation, Sprachbeschreibung und Sprachanalyse stützen können. Der weiteren Kultivierung der deutschen Sprache und damit der Zukunft des Deutschen wird zweifellos auch das beharrliche Bemühen um einen „reflektierten Sprachgebrauch“ dienen, der von Rainer Wimmer wiederholt als vornehmstes Ziel der Sprachkritik herausgestellt worden ist (u.a. in Wimmer 1983). 16 Siehe hierzu www.eurocomcenter.com (Stand: 18.06.08). Unvorgreifliche Erwägungen zum heutigen und zum künftigen Deutsch 399 5. Postskript Zugegeben - die Spekulationen und Empfehlungen zur künftigen Entwicklung der deutschen Sprache sind für den Spekulanten ohne Risiko, weil die meisten von ihnen so weit in die Zukunft reichen, dass ihr Eintreffen während seiner Lebenszeit gar nicht mehr geprüft werden könnte. Vielleicht regen sie aber mittelbar dazu an, bei der synchronischen Erforschung der deutschen Gegenwartssprache auch deren mögliche Zukunft zu bedenken. Genau genommen impliziert die synchronische Linguistik auch bisher schon bewusst oder unbewusst die Annahme, dass die untersuchten Einheiten und Strukturen und deren Beschreibung noch für einige Zeit Bestand haben werden. 6. Literatur Ammon Ulrich (1990): Deutsch unter dem Druck der englischen Sprache. In: Sprachreport 2/ 90, S. 6-8. Ammon, Ulrich (1998): Ist Deutsch noch internationale Wissenschaftssprache? Berlin/ Berlin/ New York.. Bauer, Anton (1987): Pidgin- und Kreolsprachen. In: Ammon, Ulrich/ Dittmar, Nor- In: Ammon, Ulrich/ Dittmar, Norbert/ Mattheier, Klaus J. (Hg.): Sociolinguistics / Soziolinguistik. An international handbook of the science of language and society / Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 3.1). Berlin/ New York, S. 344-352. Coulmas, Florian (1993): Was ist die deutsche Sprache wert? In: Born, Joachim/ Stickel, Gerhard (Hg.): Deutsch als Verkehrssprache in Europa. Jahrbuch 1992 des Institus für deutsche Sprache. Berlin/ New York, S. 9-25. Ehlich, Konrad/ Ossner, Jakob/ Stammerjohann, Harro (Hg.) (2001): Hochsprachen in Europa. Entstehung, Geltung, Zukunft. Freiburg i.Br. Europäische Gemeinschaften (2000): Beschluss zum Europäischen Jahr der Sprachen 2001 Nr. 1934/ 2000/ EG vom 17. Juni 2000, Art. 4. Europäische Kommission (2006): Die Europäer und ihre Sprachen. 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Elisabeth Kals / Ursula Kals Entwicklung, Ausdruck und Regulierung kindlicher Gefühle In diesem Text wird Individualsprache auf Gefühle und Emotionen bezogen. Dabei ist „Sprache“ im wörtlichen und übertragenen Sinne gemeint. Mit Fokus auf die moralbezogenen Gefühle und Emotionen bei Kindern werden folgende Fragen analysiert: Was machen diese Emotionen aus? In welchem Alter entwickeln sie sich? Wie lernen Kinder, ihre Emotionen wahrzunehmen, sie sprachlich zu benennen und dafür zu sorgen, dass sie ihren Emotionen nicht hilflos ausgeliefert sind? Bei der Beantwortung dieser Fragen wird ein kognitives Emotionsmodell zugrunde gelegt, das Vorteile für den bewussten Umgang mit Emotionen birgt. Forschungsbefunde belegen, dass moralbezogene Emotionen bereits ab dem Vorschulalter eine Rolle spielen. Exemplarisch wird gezeigt, dass sich so auch komplexe Emotionen sowie Bereitschaften, sich für den Artenschutz einzusetzen bereits bei Grundschulkindern abbilden und fördern lassen. Fragen des sprachlichen Ausdrucks, des Umgangs mit Emotionen sowie ihre Auswirkungen auf Verhalten werden im Konzept der emotionalen Intelligenz aufgegriffen. Diese wird als Schlüsselkompetenz diskutiert, die entscheidenden Einfluss auf den Schul- und Lebenserfolg von Kindern hat. Da sich emotionale Kompetenzen fördern lassen, werden Wege vorgestellt, wie dies bei Kindern geschehen kann, bevor ein kurzer Ausblick auf die Gründe für die Prominenz des Konzepts der emotionalen Intelligenz gegeben wird. 1. Was sind moralbezogene Emotionen? Betrachten wir zunächst folgende Beispiele: In der Vorschulgruppe des Kindergartens schürft sich ein Kind das Knie auf. Der Freund kommt herbeigerannt, hat Mitgefühl und tröstet. Ein 8-jähriger Junge erhält bei den Bundesjugendspielen unverdienterweise eine Ehrenurkunde. Er hat statt der erlaubten drei Weitsprünge, von denen der beste Sprung gewertet wird, unbemerkt einen vierten und zugleich besten Sprung gemacht. Bei der Siegerehrung kämpft er mit Schamgefühlen. Ein 10-jähriges Mädchen beobachtet, wie der Nachbarjunge zu Unrecht für ein verwüstetes Beet zur Rechenschaft gezogen wird. Das Mädchen empfindet das Unrecht und verteidigt den Jungen gegenüber den Erwachsenen. In der Grundschule lernen die Kinder die Grundbegriffe des Umweltschutzes. Die Zwillinge haben normalerweise viel Freude am ausgedehnten Baden. Doch an diesem Abend fühlen sie sich in der Wanne unwohl. Wie viel Wasser rauscht da später in den Abfluss? Sie haben beim Baden Schuldgefühle gegenüber der Umwelt. - - - - Elisabeth Kals / Ursula Kals 402 In all diesen Beispielen spielen verschiedene moralbezogene Emotionen eine Rolle. Doch was genau sind Emotionen, was sind Gefühle? Wie lassen sich diese beschreiben? Eine schwierige Aufgabe, denn der Emotionsbegriff gehört innerhalb der Psychologie zu den schillerndsten Begriffen. Kleinginna/ Kleinginna (1981) differenzieren 11 verschiedene Emotionsdefinitionen: 1) Affektive Definitionen: Betont werden Gefühle der Erregung bzw. der Lust und Unlust. 2) Kognitive Definitionen: Betont werden Wahrnehmungs- und Denkaspekte, insbesondere die Bewertungs- und Klassifikationsaspekte. 3) Situative Definitionen: Betont werden Reize als äußere Auslöser von Emotionen. 4) Psychophysiologische Definitionen: Betont wird die Abhängigkeit der Emotionen von physiologischen Mechanismen. 5) Expressive Definitionen: Betont werden die emotionalen Ausdrucksreaktionen. 6) Disruptive Definitionen: Betont wird die desorganisierende oder dysfunktionale Wirkung von Emotionen. 7) Adaptive Definitionen: Betont wird die Bedürfnis sichernde oder funktionale Wirkung von Emotionen. 8) Syndromische Definitionen: Betont wird, dass Emotionen aus mehreren, miteinander verknüpften Komponenten bestehen, z.B. physiologische, kognitive, behavioral-expressive oder gefühlsmäßige Komponenten. 9) Respektive Definitionen: Betont wird die Abgrenzung des Emotionskonzepts von anderen psychischen Prozessen oder Erscheinungsformen. 10) Motivationale Definitionen: Betont wird die Beziehung zwischen Emotion und Motivation. 11) Skeptische Aussagen: Betont wird die Infragestellung des Wertes eines Emotionskonzepts insgesamt. Am häufigsten findet sich das Komponentenmodell der Emotionen, das Kleinginna/ Kleinginna (1981) auch als „syndromisch“ bezeichnen. Hierbei werden verschiedene Komponenten von Emotionen unterschieden. Diese sind im Allgemeinen: Entwicklung, Ausdruck und Regulierung kindlicher Gefühle 403 die kognitive Bewertung von Reizgegebenheiten und Situationen, eine physiologische Aktivierungsbzw. Erregungskomponente, eine motorische Komponente, eine motivationale Komponente und der subjektive Gefühlszustand. Das Reizvolle an diesem Modell: Es macht deutlich, dass sich Emotionen nicht auf den subjektiven Gefühlszustand reduzieren lassen, sondern dass alle Komponenten zu berücksichtigen sind, um Emotionen zu verstehen. Dennoch können je nach Kontext und Fragestellung andere Komponenten aus dieser Definition herausgegriffen werden, ohne die Existenz der anderen zu negieren (vgl. Schmidt-Atzert 1996). In diesem Text sind es vor allem drei Komponenten, die betont werden: die kognitiven Elemente (also die Bewertungen und Urteile), die motivationale bzw. handlungsorientierte Komponente (also was folgt aus der Emotion, welche Handlungstendenz beispielsweise) und die subjektive Erlebenskomponente, die zumeist auch den Gefühlsbegriff umfasst (Meyer/ Schützwohl/ Reisenzein 1993). Daher wird auch in diesem Text von Gefühlen gesprochen, wenn die subjektive Erlebenskomponente im Vordergrund steht. Was ist speziell mit moralbezogenen Emotionen gemeint? Als moralbezogene Emotionen sind jene Emotionen gemeint, bei denen internalisierte Normen und Werte aktiviert werden und die somit hohe motivationale Funktion im Sinne von Handlungstendenzen haben. Man sieht sich oder andere in der Verantwortung zu handeln, etwa eine Ungerechtigkeit oder Leid zu mildern, oder sich für gesellschaftliche Ziele wie den Umweltschutz einzusetzen (Kals/ Platz/ Wimmer (Hg.) 2000). Weitere Beispiele sind Empörung über die Verletzung von Regeln und Ärger über das Übergehen eigener Rechte. Neid, wenn ein Verdienst, auf den man selbst Anspruch erhebt, jemand anderem zugesprochen wird, Scham über unterlassenes Handeln oder Stolz auf Hilfeleistungen (vgl. Tangney/ Fischer (Hg.) 1995). Moralbezogene Emotionen gehören somit zu den komplexen, sekundären Emotionen. Die Basisemotionen - auch primäre Emotionen genannt - bleiben in diesem Text außen vor (Epstein 1984). In diesem Text geht es vor allem um die Frage, wie moralbezogene Emotionen bei Kindern zustande kommen (Abschnitt 2) und wann und wie sich diese entwickeln (Abschnitt 3). Die Entwicklung und der Umgang mit Emotionen sind zentrale Aspekte des Konzepts der emotionalen Intelligenz, weshalb diesem ein eigener Abschnitt (4) gewidmet ist, bevor Konsequenzen für die Förderung emotionaler Kompetenzen bei Kindern abgeleitet werden (Abschnitt 5). - - - - - Elisabeth Kals / Ursula Kals 404 2. Wie kommen Emotionen zustande? Die Emotionspsychologie beschäftigt sich als psychologische Teildisziplin mit der Frage, „was Emotionen sind, wie sie zustande kommen und welche Rolle sie im Gesamtzusammenhang des Erlebens und Verhaltens spielen“ (Meyer/ Schützwohl/ Reisenzein 1993, S. 34). So unterschiedlich, wie die Emotionsdefinitionen sind, so verschieden sind auch die Theorien, die sich mehr oder weniger überzeugend bemühen, Emotionen und ihr Zustandekommen zu erklären (Power/ Dalgleish 2008). Dem vorliegenden Text liegt ein kognitives Emotionsmodell zugrunde (Kals 2002), das sich mit zunehmender Entwicklung kognitiver Fähigkeiten von Kindern auch auf das Zustandekommen von Emotionen bei Kindern übertragen lässt. Entsprechend der Theory of Mind (vgl. Allen/ Fonagy 2006; Astington/ Harris/ Olsen 1988) sehen Kinder sich schon frühzeitig durch innere Prozesse geleitet, die das eigene Handeln bestimmen, doch verändert sich die naive Theorie über Bewusstseinszustände im Vorschulalter, so dass eigene Überzeugungen und mentale Repräsentationen in Frage gestellt werden können (Silbereisen/ Ahnert 2002). Etwa zur gleichen Zeit entwickelt sich auch das Über- Ich, in dem Normen, Werte und Regeln langsam internalisiert werden. Damit sind in diesem Alter die kognitiven Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der kognitiven Emotionstheorie auf moralbezogene Emotionen geschaffen. Diese betont die Bedeutsamkeit der kognitiven Bewertung von Situationen und Reizen und geht davon aus, dass diesen Bewertungen verschiedene Emotionen folgen. Ein Beispiel: Ein 10-jähriger Schüler empört sich, weil er von der Lehrerin übergangen wird und seine Leistung im Unterricht nicht ausreichend wertgeschätzt wird. Wie kommt diese Empörung aus Sicht einer kognitiven Emotionstheorie zustande? Die Empörung entsteht vor allem dann, wenn der Schüler - vermittelt über die Wertebildung seiner Eltern - die Bewertung von Leistung als wichtige moralische Norm bewertet, wenn er der Überzeugung ist, dass eine ungerechtfertigte Nichtbeachtung seiner Leistung eine Verletzung dieser moralischen Norm ist, wenn er wahrnimmt, dass die Situation auf eine mangelnde Anerkennung und ein mangelndes Engagement seines Lehrers zurückzuführen ist, wenn er erkennt, dass der Lehrer Wahlfreiheit in seinem Handeln hat und ihm somit Verantwortung für sein unterlassenes Handeln zuschreibt und wenn er zugleich mögliche Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe ablehnt (z.B. dass der Lehrer nicht ausreichend Kenntnis über die Leistung hat oder nicht spezifisch loben kann). - - - - - Entwicklung, Ausdruck und Regulierung kindlicher Gefühle 405 In dieser Emotionstheorie werden Emotionen somit als Folge kognitiver Analysen und Prozesse verstanden. Nicht die Ereignisse per se bestimmen die Emotionen, sondern die Interpretation der Ereignisse (Montada 1992, 1993). Daher kann der Theorietradition Montadas folgend das gleiche Ereignis bei derselben Person entsprechend ihrer jeweiligen Kognitionen zu anderen Emotionen führen: Die Empörung des Schülers wäre schlagartig verraucht und würde Stolz weichen, wenn er Folgendes glaubt: Er wird nur deshalb nicht gelobt, weil der Lehrer diese Leistung für unter den Möglichkeiten des Schülers hält, zumal er von einem noch nicht zurückgegebenen Test weiß, zu welch weitaus höherer Leistung der Schüler fähig ist. Möglicherweise würde sich Erleichterung als Gefühl einstellen, wenn Mitschüler ihm mitteilten, dass der Lehrer im Moment nur jenen Schülern Rückmeldung gibt, bei denen es unklar ist, ob sie am Ende des Jahres in die nächste Klasse versetzt werden oder nicht. Wenn er dann noch erfährt und sich bewusst macht, dass einer seiner besten Freunde im Moment spezifische Rückmeldungen erhält und somit zu den „Wackelkandidaten“ gehört, so wäre Mitgefühl die Folge. Mitgefühl wäre möglicherweise auch die Folge, wenn er durch eine Indiskretion erfahren würde, dass das mangelnde Engagement seines Lehrers an aktuellen gesundheitlichen Problemen in der Familie liegt mit der Konsequenz, dass der Lehrer sich nun weitaus weniger als sonst auf seinen Schüler konzentrieren kann. Die kognitive Emotionstheorie kann somit erklären, warum bei dem gleichen Ereignis verschiedene Personen unterschiedliche Emotionen entwickeln (denn entsprechend unterschiedlich sind ihre Bewertungen und Kognitionen). Sie kann aber auch erklären, warum die gleiche Person bei dem gleichen Ereignis andere Emotionen erleben kann (je nachdem, wie ihre jeweilige Interpretation der Situation aussieht) (vgl. Montada 1993). Was sind die Vorteile der kognitiven Emotionstheorie? Ein Vorteil ist zunächst ihre große Erklärungsmöglichkeit, warum in bestimmten Situationen unterschiedliche Emotionen entstehen. Damit ermöglicht die Theorie ein tiefes Verständnis dafür, warum man auf bestimmte Art und Weise in einer Situation emotional reagiert, z.B. unbekannten Situationen mit Angst oder aber mit Neugier begegnet. Diese Erklärung kann z.B. die physiologisch-psychologische Emotionstheorie in dieser Form nicht leisten. Weitere Vorteile sind, dass sie - - - - Elisabeth Kals / Ursula Kals 406 eine genaue heuristische Emotionsanalyse ermöglicht. Mit Hilfe der kognitiven Emotionstheorie können zudem konkrete Interventionsempfehlungen abgeleitet werden. Der Ansatz sind jeweils die Kognitionen, die es zu verändern gilt, wie aus therapeutischen Kontexten wohlbekannt ist (vgl. z.B. Ellis 1979). So spielen bei der emotionalen Selbst-Regulation die Kognitionen eine zentrale Rolle, um eigene Ziele zu erreichen, indem eigenes Verhalten eingeleitet oder verändert wird (Siegler/ DeLoache/ Eisenberg 2005). Die Theorie bietet darüber hinaus Vorteile für die Erstellung von Prognosen. Schließlich ist das Emotionssubjekt nicht erleidendes Subjekt, sondern wird durch die Theorie zu einem Gestalter und Steuermann seiner emotionalen Welt (Montada 1993). Wendet man dieses kognitive Emotionsmodell auf moralbezogene Emotionen an, so zeigt sich, dass das Modell in diesem Fall ganz besondere Gültigkeit hat. Denn bei diesen sekundären Emotionen (vgl. Abschnitt 1) sind die zugrunde liegenden Kognitionen von vornherein vielfältiger und komplexer (vgl. auch Tischer 1993), wie das Beispiel zur Entstehung von Empörung des Schülers über das vermeintliche Fehlverhalten seines Lehrers zeigte. Daten bestätigen, dass die Infragestellung der Bewertungen zur Veränderung bzw. zum Abbau von Empörung führt (vgl. Bernhardt 2000; Boll 1998). Es gibt eine längere kontroverse Diskussion darüber, ob Emotionen tatsächlich den Kognitionen folgen (Montada 1989, 1993) oder ob die Emotionen nicht präkognitiv sind (Zajonc 1980). Diese Diskussion lässt sich zumindest teilweise durch die Tatsache auflösen, dass Emotionen letztlich komplexe „Syndrome“ sind (vgl. Abschnitt 1) und es Wechselwirkungen zwischen Emotionen und Kognitionen gibt (Power/ Dalgleish 2008). Eine Integration beider Systeme ist nicht nur notwendig, sondern auch möglich, wie das Person-Umwelt-Transaktionsmodell von Lantermann (1983) illustriert: Lantermann unterscheidet ein kognitives und ein emotionales Kontrollsystem. Das kognitive System verhilft der handelnden Person zur Entwicklung von Handlungsplänen und zur Überwachung aktuell ablaufender Handlungen. Das emotionale Kontrollsystem führt zu einer Selektion von Komponenten einer wahrgenommenen Person-Umwelt-Transaktion. Die Kontrollsysteme beeinflussen sich gegenseitig, indem das kognitive Kontrollsystem die Erregung und die Inhalte des emotionalen Kontrollsystems beeinflusst, und das emotionale Kontrollsystem hingegen in Abhängigkeit vom Erregungsgrad in unterschiedlich starkem Ausmaß die Richtung und die Art kognitiver Kontrollsysteme bestimmt. Die enge Verbindung von Kognitionen und Emotionen drückt sich darüber hinaus in der Einführung des Konzepts der emotionalen Schemata aus (vgl. Ulich/ Mayring 1992). In ihm werden die Grundideen kognitiver Schemata auf Entwicklung, Ausdruck und Regulierung kindlicher Gefühle 407 Emotionen übertragen. Das kognitive Schema ist eine Strategie, die sich darauf anwenden lässt, jede Aufgabe aus einer Klasse von Problemstellungen zu lösen (Siegler/ DeLoache/ Eisenberg 2005). Bezogen auf das emotionale Schema wird angenommen, dass sich Individuen bereits frühzeitig in ihrer ontogenetischen Entwicklung darin unterscheiden, wie sie ihre Emotionen konzeptualisieren, d.h. welche Emotionen sie erleben und welche Reaktion sie darauf zeigen. Sie haben somit unterschiedliche Schemata über Emotionen. Den kognitiven Emotionsmodellen wird entgegengehalten, dass andere Komponenten von Emotionen außer den Kognitionen zu wenig berücksichtigt werden, zum Beispiel die subjektiv erlebnismäßige, die physiologische oder die motivationale. Diese Komponenten werden in dem Modell aber nicht übersehen, sondern stehen lediglich nicht im Vordergrund. 3. Entwicklung moralbezogener Emotionen bei Kindern Es gibt eine umfangreiche Forschung und Literatur zur emotionalen Entwicklung bei Kindern (Siegler/ DeLoache/ Eisenberg 2005). Die Literatur umfasst detaillierte Studien zum Emotionsausdruck und zur Entwicklung des Emotionsausdrucks bei Säuglingen, zum ontogenetischen Verlauf, zur Ausdrucksfähigkeit unterschiedlicher Emotionen, zur emotionalen Entwicklung und Sozialisation, zum Verständnis eigener und fremder Gefühle, zur Emotionsregulierung etc. (vgl. zum Überblick Campos/ Frankel/ Camras 2004; Denham 1998; Garner/ Epstep 2001; Gross/ Ballif 1991; Holodynski/ Oerter 2002; Saarni 1999). Vor allem in den letzten Jahrzehnten ist das Wissen über die Ausdrucksfähigkeit von Gefühlen von Kindern, über die Bedeutung von Gefühlen für die Entwicklung von Kindern und auch über das eigene Verständnis ihrer Gefühle gestiegen (vgl. Campos/ Frankel/ Camras 2004; Denham 1998; Salisch 2001). Innerhalb dieser Diskussion herrscht Konsens, dass ein wesentlicher Entwicklungssprung zwischen dem Kleinkind- und Vorschulalter stattfindet. Mit etwa zwei Jahren beginnt der Erwerb des Emotionslexikons bei Kindern (Hascher 1994). Zunächst verbalisieren Kinder ihre eigenen Emotionen, ab etwa drei Jahren dann auch die Emotionen anderer (ebd.). Bis zum Vorschulalter werden persönliche Stile des Emotionsausdrucks etabliert und die Kinder gewinnen Sicherheit in der Art und Weise, ihre Basisemotionen strategisch einzusetzen und zu zeigen. Darüber hinaus findet eine Bewusstheit über die eigenen Emotionen und eine Entwicklung sozialer Emotionen statt, wie etwa Empathie, Schuld, Scham oder auch Peinlichkeitsgefühle (Denham 1998). Elisabeth Kals / Ursula Kals 408 Betrachtet man jene Emotionen, die mit Normen und Werten zu tun haben, so wird deutlich, dass diese Gefühle und Emotionen sich erst entwickeln können, wenn die moralischen Normen internalisiert wurden. Zu diesem Thema gibt es ebenfalls ausgedehnte Literatur (vgl. zum Überblick Montada 2002). Internalisierung meint hierbei, dass die Kinder vorgegebene Normen als ihre eigenen Normen akzeptieren und sich diesen verpflichtet sehen. Nach der Verinnerlichung ist die Norm also Teil ihrer selbst, der Identität der Kinder geworden. Die bislang in der Psychologie wohl wichtigsten Theorien zur Moralentwicklung sind diejenigen von Piaget (1983) und Kohlberg (Kohlberg/ Candee 1984). Piaget war der Meinung, dass Kinder im Vorschulalter vorgegebene Normen nicht in Frage stellen, sondern dass sie stattdessen akzeptieren, was Eltern oder ältere Autoritäten sagen (vgl. Montada 2002). Erst mit Eintritt in das Stadium der Heteronomie, das etwa im vierten bzw. fünften Lebensjahr stattfindet, nehmen Kinder Normen als verpflichtend auf. Es ist jenes Stadium, in dem die Regeln durch Autoritäten gesetzt werden. Diese Autoritäten sind zugleich berechtigt, Abweichungen zu sanktionieren. Dem Stadium der Heteronomie folgt jenes der Autonomie. In diesem Stadium sind die Heranwachsenden selbst fähig zu entscheiden, was gut und richtig ist, indem sie Gebote und Verbote vereinbaren und auch ihre eigenen Urteile darüber bilden, was eine angemessene Strafe wäre. Dieses Urteil bilden sie, indem sie auf Maßstäbe der Gerechtigkeit zurückgreifen. Piaget ging davon aus, dass das Stadium der Autonomie mit den Grundschuljahren anfängt. Zahlreiche Forschungsbefunde haben jedoch bestätigt, dass schon viele 4bis 5-jährige Kinder zwischen unmoralischem und moralischem Handeln unterscheiden können (Montada 2002). Eine der zentralen Befundlinien ist, dass unmoralisches Handeln als schlecht angesehen wird, auch dann, wenn es nicht sanktioniert würde, wenn Autoritäten es erlaubten und andere es für richtig hielten. Dies zeigt, dass die Kinder letztendlich schon sehr früh differenzieren und dass die Altersangaben, die ursprünglich von Piaget festgelegt wurden, zu spät liegen: Bereits vor Beginn des Schulalters kann die Moralentwicklung den zentralen Sprung von der Heteronomie zur Autonomie gemacht haben, mit der Konsequenz, dass sich auch schon vor Schulbeginn moralbezogene Emotionen bei Kindern entwickeln können. Damit geht es schon im Vorschulalter nicht mehr nur um die Frage, ob Regeln eingehalten werden können oder nicht, sondern auch um den Sinn und die Begründung von Normen. Legitimität und die Gerechtigkeit von Vorschriften und Strafen werden dann hinterfragt, und die Autorität der Eltern wird nicht mehr uneingeschränkt anerkannt (ebd.). Entwicklung, Ausdruck und Regulierung kindlicher Gefühle 409 Entsprechend konnte Nunner-Winkler (1993; vgl. auch Montada 2002) zeigen, dass es ab dem vierten bis fünften Lebensjahr keine Entwicklung mehr bezogen auf grundlegende moralische Regeln gibt, weil diese Regeln weitgehend allen Kindern bekannt sind. Was entwickelt sich stattdessen weiter? Es ist die moralische Motivation. Im Gegensatz zu Kohlberg (Kohlberg/ Candee 1984), der moralische Dilemmata vorgestellt hat, um die Moralentwicklung zu überprüfen, stellte Nunner-Winkler verschiedene Bildgeschichten vor. In diesen Bildgeschichten verletzt ein Protagonist moralische Pflichten, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen bzw. erfüllt diese Pflichten, indem er bzw. sie auf die Befriedigung eigener Bedürfnisse verzichtet. Bei einer dieser Bildgeschichten leisten zwei Kinder gleich viel, unfairerweise erhält allerdings nur ein Kind in einem Wettbewerb den ausgesetzten Preis. Die Frage ist nun, ob es den Preis teilt oder lieber selbst behält. In diesen Studien überprüft Nunner-Winkler (1993) zunächst die Kenntnisse über Gebote und Verbote, das Normverständnis und die Normbegründung. Die moralische Motivation wurde indirekt erfasst, indem Nunner-Winkler nachfragte, wie die Kinder sich in diesen hypothetischen Geschichten fühlen, wenn sie eine Norm übertreten beziehungsweise wenn sie normentsprechend handeln. Ist die Norm internalisiert und liegt eine moralische Motivation vor, so sollten bei Übertritt der Norm Schuldgefühle entstehen, bei Normeinhaltung hingegen Stolz und Befriedigung. Es wurden über 200 Kinder über einen längeren Zeitraum mehrfach befragt. Die Befunde zeigten Folgendes: Etwa 60 Prozent der 4bis 5-jährigen und etwa 50 Prozent der 6bis 7-jährigen Kinder glauben, dass sich das unmoralisch handelnde Kind gut fühlt, weil es die eigenen Bedürfnisse befriedigt hat. Hingegen vermuten dies bei den 8bis 9-Jährigen weniger als 30 Prozent. Umgekehrt verhält sich hingegen das Wachstum der Zuschreibung von Schuldgefühlen. Etwa ein Viertel der 4bis 5-Jährigen, aber die Hälfte der 6bis 7-Jährigen und über 60 Prozent der 8bis 9-Jährigen glauben, dass das Kind, das Normen verletzt, moralische Emotionen entwickelt. Wenn man die Kinder fragt, wie sie sich selbst gefühlt hätten, so sagten auch auch die deutliche Mehrzahl der Kinder, dass sie sich schlecht fühlen würden. Die Zuschreibung moralischer Emotionen ist somit in diesen Experimenten Indikator der moralischen Motivation. Auf dieser Basis ist in diesen Studien gezeigt worden, dass ein Teil der Kinder bereits im Vorschulalter eine moralische Motivation aufgebaut hat, und der Anteil der Kinder mit einer moralischen Motivation mit dem Alter steigt. Auch eigene Forschungsbefunde bestätigen, dass moralbezogene Emotionen schon frühzeitig bei Kindern entwickelt sind (vgl. Kals/ Becker/ Rieder 1999). Elisabeth Kals / Ursula Kals 410 Ziel der Studien war es, zu überprüfen, inwiefern sich das eigene Umweltschutzmodell auf umwelt- und naturschützende Bereitschaften von Kindern und Jugendlichen übertragen ließ. Im Zentrum des Modells standen Bereitschaften für den Schutz der Umwelt, die durch Verantwortlichkeitsmotive vorhergesagt werden sollten, die als Kognitionen aber auch als emotionale Bewertung abgefragt wurden. Ihre Bedeutsamkeit wurde mit selbstbezogenen Emotionen kontrastiert. Die Studie umfasste insgesamt vier Stichproben mit mindestens 100 Probanden aus der Primarstufe, der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II. Es zeigte sich, dass sich das Modell bereits in der Primarstufe (175 Schüler; Durchschnittsalter 9 Jahre) bestätigt. Diese Befunde seien, da die Kinder hier am jüngsten sind, exemplarisch herausgegriffen. Der Schutz der Umwelt wurde als Fledermausschutz gefasst. Dazu wurden die Modellvariablen, sowohl die Verantwortung als auch die emotionalen Variablen, auf den Schutz von Fledermäusen übertragen. Zunächst zeigte sich, dass schon in der ersten Grundschulklasse differenzierte Verantwortungsurteile über den Schutz der Fledermäuse gefällt wurden, und dass das Interesse an diesem Schutz sehr hoch ausgeprägt war. In der Primarstufe können die Verantwortungsurteile zusammen mit den Emotionen gut vorhersagen, inwieweit die Kinder bereit sind, sich für den Schutz der Fledermäuse einzusetzen (zwischen 35 und 42 Prozent Varianzaufklärung). Darüber hinaus bestätigt sich auch die Vorhersage der Emotionen bezogen auf Fledermäuse durch spezifische Kognitionen über sie. In einer Folgelängsschnittstudie wurden den Kindern darüber hinaus die Fledermäuse in einem Projektunterricht nähergebracht, und es zeigte sich, dass sich die Verantwortlichkeitsurteile durch diese Erfahrung steigern ließen, ebenso die Freude an Fledermäusen, während der Ekel signifikant abnahm. Auch moralbezogene Gefühle, wie Ärger darüber, dass andere zu wenig für den Schutz der Fledermäuse tun, verstärkten sich signifikant mit der außerschulischen Beschäftigung mit dem Thema. Insgesamt sprechen die Daten dafür, dass bei vielen Kindern schon im Vorschulalter eine hohe moralische Motivation, die mit einer entsprechenden Emotionsbildung einhergeht, stattfindet (Nunner-Winkler 1993). Dies steht in Einklang mit den Altersaussagen der Theory of Mind und damit einhergehender Fähigkeit zur Perspektivenübernahme (vgl. Abschnitt 2). Zur Bedeutung moralischer Emotionen im Schulalter gibt es vielfältige Forschungen. Exemplarisch wurde am Beispiel des Artenschutzes gezeigt, dass sich bereits im Grundschulalter das kognitive Emotionsmodell auf die Entstehung moralbezogener Emotionen anwenden lässt und sich die moralbezogenen Kognitionen und Emotionen gezielt fördern lassen (Kals/ Becker/ Rieder 1999). Entwicklung, Ausdruck und Regulierung kindlicher Gefühle 411 Die Entwicklung und Förderung moralbezogener Emotionen ist Teil des Konzepts der emotionalen Intelligenz, das jedoch noch breitere Zielsetzungen verfolgt, wie der nächste Abschnitt zeigt. 4. Emotionale Intelligenz Emotionale Intelligenz ist eines der prominentesten alternativen Konzepte zur kognitiven Intelligenz. Es steht in Ergänzung zu anderen Formen wie etwa der sozialen Intelligenz, der kooperativen Intelligenz, der kreativen Intelligenz, der sinnlichen oder perspektivischen Intelligenz (vgl. Göppel 1999). Gemeinsam ist diesen neuen Konzepten, dass sie den traditionellen Schwerpunkten der verbalen und der mathematisch-logischen Fähigkeiten weitere Intelligenzfacetten hinzufügen. Seit dem Bestseller „Emotional Intelligence why it can matter more than IQ “ von Daniel Goleman (1995 im Original und ein Jahr später bereits auch im Deutschen erschienen (Goleman 1996)) hat der Begriff der emotionalen Intelligenz seinen Siegeszug angetreten. Der Wissenschaftsjournalist Daniel Goleman greift in seinem Buch auf die Annahmen von Salovay und Mayer sowie auf das Intelligenzmodell von Gardner zurück (vgl. Goleman 1996). Entsprechend dem Modell von Mayer und Salovay propagiert Goleman, dass emotionale Intelligenz aus fünf Dimensionen besteht: Selbstbewusstheit (self-awareness). Sie bedeutet, dass wir wissen, was wir in den Momenten fühlen, dass wir die Fähigkeit besitzen, Gefühlsambivalenzen zu erkennen und diese aber auch auszuhalten, sowie die Fähigkeit, die Wirkung eigener Stimmungen und Gefühle auf andere einzuschätzen; Selbststeuerung (self-regulation). Diese Selbststeuerung beinhaltet vor allem eine Impulskontrolle als Fähigkeit, zum Beispiel jähzornige Impulse zu kontrollieren, dass man mit emotionalem Disstress umgehen kann, sich nach Situationen heftiger emotionaler Erregung wieder beruhigen kann und sich nicht von ängstlichen oder gereizten oder schwermütigen Stimmungen übermannen zu lassen; Selbstmotivation (motivation). Damit ist die Fähigkeit gemeint, Gefühle auf die Erreichung realistischer Ziele zu mobilisieren, wie zum Beispiel Gefühle des Engagements oder bei der Begeisterung, aber auch die Fähigkeit, selbst gesteckte Ziele mit Ausdauer zu verfolgen, Rückschläge auszuhalten und sich nicht von hemmenden Gefühlen wie zum Beispiel Unentschlossenheit behindern zu lassen; 1) 2) 3) Elisabeth Kals / Ursula Kals 412 Empathie (empathy). Sie umfasst die Kompetenz, sich in andere Menschen einfühlen zu können, sie zu verstehen, und auch zu verstehen, wie die Welt und die Wahrnehmung dieser aus der Perspektive anderer Menschen aussieht; Soziale Kompetenz (social skills). Sie meint die Befähigung, Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen zu können und auch zu pflegen, Nähe und Distanz wahrzunehmen und regulieren zu können, eigene berechtigte Ansprüche durchsetzen zu können, ohne jedoch die Ansprüche anderer zu ignorieren oder zu verletzen und ein Gefühl zu haben für Situations- und Prozessdynamiken (vgl. auch Göppel 1999). Mittlerweile existieren auch deutschsprachige Instrumente zur Erfassung der wahrgenommenen emotionalen Intelligenz (vgl. Otto et al. 2001). Dabei werden zumeist, so auch bei Otto und Kollegen, einige Aspekte der emotionalen Intelligenz fokussiert wie Aufmerksamkeit auf Emotionen, Klarheit und Beeinflussbarkeit der Emotionen (ebd.). Von den verschiedenen Facetten der emotionalen Intelligenz werden die Bedeutsamkeit der Emotionsregulation (Selbstbeherrschung, Selbstdisziplin und Fähigkeit zur Stimmungsaufhellung) sowie die Empathie betont. Seine Annahmen begründet Goleman (1995, 1996) auch mit neueren neurowissenschaftlichen Erkenntnissen. Goleman vermittelt folgende Botschaften: Emotionale Intelligenz wird nicht nur von der Anlage bzw. der Persönlichkeitsstruktur bestimmt, sondern sie lässt sich entwickeln und fördern. Zentrale Instanzen sind hier die Familie, die Schule und die umgebende Gesellschaft. Bezogen auf die Familie ist es vor allem der Erziehungsstil, der Einfluss auf die Entwicklung des Kindes hat. Besonders ungeeignet sind ein Ignorieren der Gefühle des Kindes oder eine überzogene Toleranz oder eine Verächtlichkeit gegenüber den Empfindungen des Kindes. Wichtig - vor allem für die soziomoralische Entwicklung eines Kindes - sind hingegen elterliche Wärme, Hinwendung und soziale Eingebundenheit. Dies steht in Einklang mit der Forschung zu Erziehungsstilen und ihren Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder (vgl. Siegler/ DeLoache/ Eisenberg 2005). Bezogen auf die Schule fordert Goleman, dass die Schulung emotional sozialer Kompetenzen in den Lehrplänen genauso großen Raum einnimmt wie die reine Wissensvermittlung. Bezogen auf die umgebende Gesellschaft fordert Goleman, dass die emotional soziale Erziehung von Kindern als eine übergeordnete und zentrale Gesellschaftsaufgabe verstanden wird. 4) 5) Entwicklung, Ausdruck und Regulierung kindlicher Gefühle 413 Eine weitere Botschaft von Goleman (1995, 1996) ist, dass der kompetente Umgang mit Emotionen in sozialen Situationen hohe Relevanz für den Schul- und Lebenserfolg eines Kindes hat. Beispielsweise lassen sich mit Hilfe des Beliebtheitsgrades eines Kindes in der Grundschule seine etwaigen psychischen Probleme im frühen Erwachsenenalter vorhersagen (vgl. Goleman 1996). Dabei ist die Vorhersagekraft der Beliebtheit durch die Mitschüler noch höher als die Prognosekraft der Einschätzung von Lehrern und Psychologen. Dies wird gedeutet, dass Gleichaltrige ein feines Gespür für emotionale Kompetenzen ihrer Mitschüler haben und in diesem Sinne sehr gute Diagnostiker sind (ebd.). Insgesamt zeigen die Überlegungen, dass die Steuerung moralbezogener Emotionen einen zentralen Stellenwert im Konzept der emotionalen Intelligenz einnimmt, zumal Gefühle der Empathie eine der Basiskomponenten der emotionalen Intelligenz nach Coleman ausmachen. 5. Die Förderung emotionaler Intelligenz bei Kindern Ein kompetenter Umgang mit Emotionen, wie er sich im Konzept der emotionalen Intelligenz (Goleman 1996) ausdrückt, bedeutet u.a., Emotionen zu erkennen, sie zu benennen und mit ihnen konstruktiv umzugehen. Dabei hilft die Theory of Mind (vgl. Allen/ Fonagy 2006; Astington/ Harris/ Olsen 1988 sowie Abschnitt 2). Im Zentrum dieser Theorie steht der Begriff der Mentalisierung. Er meint die Fähigkeit, die psychologische Perspektive einer anderen Person abzubilden. Kinder sehen zwar das Verhalten anderer Personen, doch mentale Zustände, wie das emotionale Erleben, müssen erschlossen werden. Dies tun die Kinder zunächst am Anderen und später auch bei sich selbst (vgl. Fonagy/ Gergeley/ Jurist/ Target 2004). Dabei werden nicht nur die seelischen Zustände hinter Verhalten erschlossen, sondern die mentalen Zustände sind im Sinne von Metakognitionen auch wieder Gegenstand des Nachdenkens. Das Kind erschließt somit bestimmte emotionale Zustände bei Anderen, zunächst vor allem bei seinen Eltern, und denkt dann über den emotionalen Zustand nach, z.B. darüber, dass die Mutter empört ist, weil sich das Kind unsozial gegenüber anderen Kindern verhalten hat. Fonagy und Mitautoren (ebd.) vertreten die Auffassung, dass diese Mentalisierung kein Reifungsprozess ist, sondern dass sie von der Affektregulierung des Kindes durch seine primären Bezugspersonen und somit von der interaktiven Qualität der familiären Beziehungen abhängig ist. Dies steht in Einklang mit zahlreichen Forschungsbefunden, die zeigen, dass die emotionale Entwicklung von Kindern durch die Qualität ihrer frühen sozialen Beziehungen beeinflusst wird (Siegler/ De- Loache/ Eisenberg 2005). Elisabeth Kals / Ursula Kals 414 Damit das Kind die Fähigkeit zur Mentalisierung entwickeln kann, muss es erfahren haben, dass seine primären Bezugspersonen, hier vor allem die Mutter, diese Fähigkeit an sich selbst anwendet (Fonagy et al. 2004). Dazu müssen bereits die Affekte des Säuglings gespiegelt bzw. „markiert“ werden. Dies bedeutet, dass die Eltern die Affekte des Säuglings zurückgeben und auf sie reagieren, indem sie z.B. ein Lächeln des Kindes spiegeln oder einen Wutausbruch des Kindes markieren, ohne selbst in echte Wut zu verfallen. So lernt das Kind durch den Spiegel der Eltern, dass dies seine eigenen Emotionen sind. Durch die externe Darstellung seiner eigenen Zustände entsteht langsam eine Selbstrepräsentanz (Dornes 2004). Dieser markierte Umgang mit dem kindlichen Affekt hilft dem Kind, Kontrolle über den Affekt zu gewinnen. Später geht es darum, Emotionen und Affekte zu benennen. Es ist nicht selbstverständlich, dass die Eltern und andere Bezugspersonen hierzu in ausreichend differenzierter Weise fähig sind, denn eine präzise Bezeichnung des jeweiligen emotionalen Zustandes erfordert auch für Erwachsene sprachliche Arbeit und Reflexion, zumal die deutsche Sprache insgesamt eher wenige Emotionsbegriffe kennt (vgl. Mees 1985). Darüber hinaus unterscheiden viele moralbezogene Emotionsbegriffe wie Ärger, Schuld, Stolz, Empörung nicht zwischen verschiedenen Emotionsfacetten, die sich hinter diesen singulären Emotionskategorien verbergen. Sie kommen in der Alltagssprache kaum in Pluralform vor und lassen sich nur durch sprachliche Erweiterungen an das Stammwort spezifizieren: Stolz darüber, trotz eigener Nachteile dem schwächeren Schulkameraden beim Schultest geholfen zu haben, ist etwas anderes als Stolz darüber, dass der eigene Bruder mit viel Anstrengung den Sprung in die weiterführende Klasse geschafft hat, oder Stolz auf das Bildungsministerium, dem es gelingt, die Förderung emotionaler Intelligenz in die Lehrpläne zu verankern. Ein hilfreiches Instrument zur sprachlich präzisen Erfassung von Emotionen ist das Modell von Neppl/ Boll (1991) zur Analyse der Bedeutungsstrukturen alltagssprachlicher Emotionswörter. Dieses Prozessmodell geht von einem zentralen Emotionswort aus. Im zweiten Schritt wählt man verwandte Emotionen und Nichtemotionswörter aus; im dritten werden Beispielgeschichten gesammelt. Diese werden hinterfragt: Sind sie ausreichend detailliert? Sind die Beschreibungen richtig gewählt? Sind sie repräsentativ für den Gesamtbereich? Werden diese drei Fragen positiv beantwortet, wird eine Struktur formuliert, die aus abstrakten gemeinsamen Elementen besteht. Diese Struktur wird abermals hinterfragt: Ist diese Struktur hinreichend spezifisch formuliert? Und sind die notwendigen Elemente enthalten? Bei positiver Beantwortung beider Fragen werden die Elemente der Struktur erläutert und die Entwicklung, Ausdruck und Regulierung kindlicher Gefühle 415 Erläuterung reflektiert: Sind die Elemente klar erläutert, und treten keine zirkulären Erklärungen auf? Erst wenn auch diese beiden letzten Fragen positiv beantwortet werden, kann die vorläufige Struktur nach diesem Prozessmodell beibehalten werden. Das Modell zielt somit darauf ab, die konstitutiven Bedeutungselemente von Emotionswörtern auszumachen und sie konstitutiven Bedeutungselementen verwandter Emotionen gegenüberzustellen. Dieses Modell zeigt, dass die konstitutiven Elemente verwandter Emotionen sehr genau zu analysieren sind, um verschiedene Emotionskategorien gegeneinander abzugrenzen. Es dient vor allem sprachanalytischen Zwecken. Und dennoch bestätigt die Forschung, dass die emotionale Entwicklung von Kindern befördert wird, wenn die Eltern sprachliche Kompetenzen bezogen auf die Benennung von Emotionen besitzen, und wenn sie Emotionen mit ihren Kindern besprechen (Siegler/ DeLoache/ Eisenberg 2005). Und dieses Besprechen setzt Erkennen voraus. Bezogen auf die emotionale Intelligenz und die Steuerung moralbezogener Emotionen zeigen die Überlegungen zur Mentalisierung zunächst, wie wichtig es ist, bereits bei Kindern von einer syndromischen Definition bzw. einem Komponentenmodell von Emotionen auszugehen, das kognitive, gefühlsmäßige, physiologische, motorische und motivationale Komponenten unterscheidet (vgl. Abschnitt 1). Denn all diese Komponenten können Gegenstand des Mentalisierungsprozesses sein. Darüber hinaus bestätigen sich einmal mehr die besonderen Vorzüge des kognitiven Emotionsmodells (vgl. Abschnitt 2). Ein Kind wird vor allem dann erfolgreich die emotionalen Zustände eines Anderen erschließen können, wenn es die spezifischen Umstände berücksichtigt und überlegt, wie wohl der Andere diese bewerten und beurteilen mag. Geht es später um das Erschließen des eigenen emotionalen Zustandes, so ist es abermals hilfreich, wenn das Kind dabei eigene Urteile und Bewertungen einschließt. Diese Urteile können in Frage gestellt werden, wodurch sich die moralbezogene Emotion, z.B. Empörung, ebenfalls verändert (Bernhardt 2000). Beim eingangs genannten Beispiel löst sich das Gefühl der Schuld durch das ungerechtfertigte Erlangen der Ehrenurkunde auf, wenn der Schüler erfährt, dass alle Schüler an diesem Tag einen vierten Versuch (statt der üblichen drei Versuche) bekommen haben. In diesem Moment stellt sich Stolz ein. Andere Verhaltenskonsequenzen (z.B. Jubeln) resultieren aus dem Stolz. Damit sollte eine konkrete Reflexion der moralbezogenen Emotionen, aber auch eine Reflexion und Förderung der dahinterliegenden Kognitionen auch bereits bei Kindern dazu führen, dass sich die Emotion und die Handlungstendenzen verändern (vgl. Salovey/ Sluyter (Hg.) 1997). Elisabeth Kals / Ursula Kals 416 Die Benennung und Entwicklung speziell der Klasse der moralbezogenen Emotionen kann für viele Kinder bereits im Vorschulalter beginnen (vgl. Abschnitt 3). Zunächst sind auch hier abermals die primären Bezugspersonen gefragt, um die emotionale Intelligenz und das moralische Selbst der Kinder zu fördern, aber auch die Mitarbeiter(innen) in Krippen, Kindergärten und anderen frühen Einrichtungen sollten sich diesen Zielen verpflichten. Später kommen weitere Bildungseinrichtungen dazu wie Schulen, Hochschulen etc., die ihren Beitrag zur Förderung der emotionalen Intelligenz und hier auch der moralbezogenen Emotionen übernehmen sollten. Zwar herrscht keine Einigkeit darüber, was Bildung bedeutet, doch findet man in den meisten Definitionen direkte oder indirekte Bezüge zu emotionalen Aspekten; etwa wenn Idealgestalten der gebildeten Persönlichkeit ausgemalt werden, bei denen es immer auch um Verantwortung für die eigenen Gefühle geht (vgl. Göppel 1999). Geht es speziell um die Verantwortung für moralbezogene Gefühle, so hilft eine Norm- und Wertevermittlung. Diesbezügliche Programme gehen zumeist auf die Traditionen von Piaget und Kohlberg zurück (vgl. Abschnitt 3) und sind für Kinder unterschiedlichen Alters sowie für Erwachsene gleichermaßen konzipiert worden. Prominent ist jenes von Georg Lind (Lind 2003), das der Förderung moralischer Urteils- und Diskursfähigkeit dient und mit den klassischen Dilemmasituationen arbeitet. Das Programm ist u.a. darauf ausgerichtet, in einem fächerübergreifenden, ethik-integrativen Unterricht ab der 5. Jahrgangsstufe eingesetzt zu werden. Es lässt sich aber auch in der Erwachsenenbildung anwenden. Es finden sich viele weitere Übungen und Methoden zur Schulung grundlegender emotionaler Kompetenzen in der Schule (vgl. zum Überblick Fichten 1998; Hennemann 2002). Im Amerikanischen ist dabei im Unterricht beispielsweise vom Fach „self-science“ die Rede. In der deutschen Grundschule ist es selbstverständlich geworden, über Gefühle zu reden, den Gebrauch von Stimmungsbarometern nahezulegen oder „Ich-Hefte“ anzulegen. Wirksamkeit und Effizienz vieler Schulprogramme zur Förderung der sozioemotionalen Intelligenz werden bestätigt (Hennemann 2002), in dem Sinne, dass bei gut konzipierten Programmen und Interventionsbausteinen die emotionalen Kompetenzen der Kinder gefördert werden. „Gut konzipiert“ bedeutet dabei u.a., dass die Maßnahme frühzeitig und präventiv beginnt, längerfristig angelegt ist und die Eltern einschließt, dass emotionale Kompetenzen in ihrer Breite erfasst und gefördert werden, dass das Training gleichberechtigt mit anderen Unterrichtselementen ist und auf Freiwilligkeit beruht (ebd.). Entwicklung, Ausdruck und Regulierung kindlicher Gefühle 417 Doch wie kann Freiwilligkeit, etwa im Kontext schulischer Programme, zur Förderung emotionaler Intelligenz gewährleistet werden? Letztendlich soll die Schule ausgleichen, was die Familie bei der Sozialisation der Kinder versäumt hat (Goleman 1996). Es wird diskutiert, ob sich die Schule damit unzulässig in die Privatsphäre der Schüler und auch in den therapeutischen Kontext einmischt. Dem sind jedoch folgende Argumente entgegenzuhalten: Eine Arbeit an Sachthemen ist überhaupt nicht möglich, solange starke Emotionen im Raum stehen. Diese sind zu bearbeiten, um am Sachthema weiterarbeiten zu können. Darüber hinaus geht es letztlich nicht um eine fast schon therapeutische Selbstoffenbarung, sondern auch Schüler sind durchaus in der Lage zu entscheiden und zu verantworten, wie viele ihrer Gefühle sie äußern wollen und wie viele nicht. Ein Beispiel: Bei Elementen des Blitzlichts ihres Stimmungsbarometers lässt sich fast immer die Möglichkeit einbauen - und so geschieht es meist auch in der Praxis -, dass Kinder sich zu einzelnen Themen nicht äußern wollen. Das heißt, die Freiwilligkeit lässt sich auch hier aufrechterhalten, so lange eine Atmosphäre herrscht, in der der Gruppendruck nicht überhand nimmt. Darüber hinaus könnte argumentiert werden, dass letztlich auch die Kognitionen psychisches Eigentum der Kinder sind, doch hier wird diese Frage überhaupt nicht gestellt (vgl. Göppel 1999). Und schließlich zeigen etwa die Emotionsseminare an Universitäten, dass eine Diskussion und eine Schulung von Emotionen durchaus auch auf einem theoretischen, abstrakten Niveau möglich sind. Eine Reflexion über moralisches Handeln impliziert hingegen oftmals mehr Aspekte der Selbstoffenbarung. So herrscht letztlich Konsens, dass die Schule eine sozialerzieherische Aufgabe hat, die sich auch auf den intelligenten Umgang mit Emotionen bezieht, und die sich auch in Lehrplänen niederschlagen sollte. Und es herrscht Konsens, dass es eine Unterscheidung gibt zwischen der sachbezogenen Sprache über Gefühle und der Äußerung der eigenen individuellen Gefühle der Schüler, die sie verschweigen dürfen. 6. Gründe für die Prominenz des Konzepts der emotionalen Intelligenz Emotionale Intelligenz ist letztlich „alter Wein in neuen Schläuchen“, denn schon lange vor Einführung dieses Begriffes wurde die emotionale Entwicklung von Kindern untersucht (vgl. Siegler/ DeLoache/ Eisenberg 2005) und erforscht, wie sich Emotionen regulieren lassen (vgl. Campos/ Frankel/ Camras 2004). Dennoch ist Goleman (1995, 1996) ein Siegeszug dieses Konzepts geglückt. Warum ist dies so? Elisabeth Kals / Ursula Kals 418 Das Konzept der emotionalen Intelligenz betont die Bedeutung von Emotionen und des „intelligenten“ Umgangs mit ihnen. Dies gibt Orientierung, da unser gesellschaftlicher Umgang mit Emotionen durchaus ambivalent ist. Zwar wird die Kraft von Emotionen in vielen Kontexten instrumentalisiert, etwa dann, wenn es um die Werbung von Produkten in den Massenmedien geht, doch gibt es ebenfalls gesellschaftliche Tendenzen, Emotionen zu tabuisieren. So herrscht beispielsweise die Norm vor, dass persönliche Emotionen im Arbeitskontext so weit wie möglich beherrscht und verschwiegen werden. Jungen werden oftmals noch dahin erzogen, keine Tränen zu zeigen („Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“). Menschen, die öffentlich weinen, lösen häufig Unmut, Unsicherheit oder Betroffenheit bei jenen aus, die Zeugen dieses emotionalen Ausbruchs werden. Es scheint „unpassend“, diese Emotionen in der Öffentlichkeit zu zeigen. Doch die Verdrängung oder das Abtöten nicht erwünschter Gefühle sind häufig die Quelle neurotischer Störungen und auffälliger beziehungsweise überwertiger Gefühlsreaktionen, mit denen man sich z.B. in Beziehungsarbeit immer wieder konfrontiert sieht (vgl. Arnold 2003). Als ein wesentliches Charakteristikum von Lebewesen wird ihre Gerichtetheit diskutiert „hin zu positiven, die Lebenslage verbessernden Situationen und Sachverhalten, und weg von negativen Situationen und Sachverhalten, die den Status des Lebewesens verschlechtern“ (Schneider 1990, S. 407). Diese Aussage zur Gerichtetheit gilt auch für Emotionen, da jede Emotion grundsätzlich positive Funktionen birgt. Daher ist die Unterscheidung „positiver“ und „negativer“ Emotionen nicht nur undifferenziert, sondern sogar falsch. Entsprechend wird über alle emotionspsychologischen Theorien hinweg postuliert, dass Emotionen eine eigenständige, verhaltenssteuernde und aktivierende Funktion haben (Schneider 1983, 1990). Entsprechend sind Emotionen und Gefühle an sich weder positiv noch negativ, sondern „genau genommen sind sie ein Urquell menschlicher Energie und Motivation und intuitiver, kreativer Weisheit“ (Cooper/ Sawaf 1999, S. 13). Sie haben adaptive und funktionale Wirkungen, wie in einigen Emotionsdefinitionen explizit betont wird (vgl. Abschnitt 1). Emotionale Intelligenz vermittelt damit ein Menschenbild, in dem bereits durch die Begriffspaarbildung von „Emotion“ und „Intelligenz“ Emotionen aufgewertet werden. Dieses Menschenbild wird durch die aktuelle Diskussion gefördert, bei der das konkurrierende Bild eines homo oeconomicus in Frage gestellt wird. Immerhin wurde 2002 Daniel Kahnemann und Vernon Smith der Nobelpreis für ihre Arbeiten vergeben, in denen sie die Vorstellung des Entwicklung, Ausdruck und Regulierung kindlicher Gefühle 419 Menschen als eines zweckrationalen Entscheiders kritisieren. Zwar tun sie dies nicht mit Blick auf die Bedeutung von Emotionen, doch wurde durch die Vergabe der Nobelpreise die kritische Diskussion über den homo oeconomicus verschärft und dadurch letztlich Raum gegeben für die Akzeptanz anderer Menschenbilder. Das Bild des homo oeconomicus geht davon aus, dass der Mensch ein rationaler Egoist ist, „der in sozialen Interaktionen seinen subjektiven Nutzen maximieren möchte und sich dabei zweckrational verhält“ (Miller 1994, S. 6). Entsprechend der Grundannahme der klassischen ökonomischen Theorie verhält sich der Mensch zweckrational, indem er gemäß der eigenen Präferenzen in einer Entscheidungssituation jene Entscheidung bevorzugt, bei der er davon ausgeht, dass seine individuellen Präferenzen maximal befriedigt werden. Innerhalb der klassischen Tradition des Rational-Choice-Modells haben Emotionen keinen Platz. Emotionen sind nach Aussagen dieses Modells nicht an der Erklärung und dem Zustandekommen von Handlungen beteiligt, sondern Handlungen beruhen auf Kognitionen und zweckrationalen Überlegungen (vgl. Kals 1999). Empirische Daten zeigen jedoch, dass Emotionen in starkem Maße Handeln beeinflussen. Nehmen wir als Beispiel verantwortliches Handeln zum Schutz der Umwelt. Dieses Handeln basiert nicht nur auf Kognitionen wie der Wahrnehmung effizienter eigener Einflussmöglichkeiten, der Wahrnehmung der Bedrohung durch Umweltschäden oder der Übernahme von Verantwortlichkeiten, sondern es basiert auch in entscheidendem Maße auf Gefühlen wie Empörung über zu wenig Umweltschutz oder Schuldgefühlen über eigenen unterlassenen Umweltschutz als wichtige moralbezogene Emotionen. Darüber hinaus spielen auch Emotionen wie Bindung an die Natur oder auch Freude am Umweltschutz eine entscheidende Rolle. Handeln zum Schutz der Umwelt basiert somit in großem Maße nicht nur auf Kognitionen, sondern auf Emotionen (vgl. z.B. Homburg/ Matthies 1998). Dies gilt bereits für Kinder (vgl. Abschnitt 3 sowie zum Überblick Bolscho 2000; De Haan 1999; Homburg/ Matthies 1998; Kals 2002; Schahn/ Giesinger 1993). Auch in vielen anderen Kontexten bestätigt sich, dass Emotionen Handeln in starkem Maße beeinflussen und zugleich von hohem diagnostischem Wert sind. So etwa bei sozialen Konflikten (vgl. Montada/ Kals 2007). Diese lassen sich nur dann nachhaltig lösen, wenn auch die Emotionen der beteiligten Konfliktparteien differenziert wahrgenommen, geklärt und letztlich die dysfunktionalen Emotionen verändert worden sind. Will man den Konfliktkern verste- Elisabeth Kals / Ursula Kals 420 hen, so ist es überaus hilfreich, die Emotionen der beteiligten Konfliktpartner zu analysieren. Gleiches gilt in vielen anderen sozialen Kontexten. Über die Bedeutsamkeit von Emotionen, ihre Steuerung und ihren diagnostischen Wert lässt sich einiges aus dem beraterisch-therapeutischen Kontext übertragen und vieles daraus lernen (vgl. z.B. die rational-emotive Therapie von Ellis 1979 oder auch die psychotherapeutischen Ansätze, die auf dem Konzept der Mentalisierung beruhen, vgl. Allen/ Fonagy 2006). Auf diese Daten- und Erfahrungsvielfalt, aber auch auf umfangreiche Forschungstraditionen zur Emotionsentwicklung und -regulierung kann der Siegeszug des Konzepts der emotionalen Intelligenz zurückgreifen. Dieser Siegeszug hat mittlerweile auch die Arbeitswelt erreicht. Gerade in diesem Feld hat der Begriff der emotionalen Intelligenz starke Konjunktur und fördert seine Prominenz. Das Konzept der emotionalen Intelligenz wird vor allem im Sektor des Managementtrainings, der Personalentwicklung bzw. -schulung immer häufiger verwandt. Es wird in Aussicht gestellt, dass mit einer Schulung emotionaler Intelligenz eigener Erfolg und eigene Effektivität gesteigert werden (vgl. Göppel 1999). In einer Studie zeigte sich zum Beispiel, dass sich die emotionale Intelligenz bei Managern vor allen Dingen darin ausdrückt, dass sie fähig sind, ihren Mitarbeitern häufige kleine emotionale Unterstützungen zu geben (emotional uplifts) und dadurch deren Gefühle zu steuern, wodurch Erfolg gefördert wird. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Manager die Emotionen wahrnehmen und verstehen. Auf dieser Basis lassen sich Strategien anwenden, um die Emotionen zu regulieren (Dasborough/ Ashkanasy 2003). Andere Daten bestätigen die positive Wirksamkeit emotionaler Intelligenz für die Reduzierung von Stress, für die Förderung von Gesundheit und ihr positiver Einfluss auf Arbeitsverhalten (vgl. z.B. Slaski/ Cartwright 2003). „Die Achtsamkeit, eigene Gefühle offen und differenziert wahrzunehmen, die Gabe, sich dennoch nicht zum Sklaven seiner Stimmungen und Launen zu machen, sowie die Fähigkeit, die emotionale Befindlichkeit seiner Mitmenschen empathisch zu erfassen und ein Gespür für die Dynamik sozialer Situationen zu entwickeln“ (Göppel 1999, S. 575) sind die Quintessenz der emotionalen Intelligenz. Ein intelligenter Umgang mit moralbezogenen Emotionen wird nicht darum herumkommen, sich diesen Zielen bereits im Umgang mit Kindern im frühesten Alter zu verpflichten. Entwicklung, Ausdruck und Regulierung kindlicher Gefühle 421 7. Literatur Allen, Jon/ Fonagy, Peter (2006): The handbook of mentalization-based treatment. The handbook of mentalization-based treatment. New York. Arnold, Rolf (2003): Emotionale Kompetenz und emotionales Lernen in der Erwach- (2003): Emotionale Kompetenz und emotionales Lernen in der Erwachsenenbildung. Kaiserslautern. Astington, Janet/ Harris, Paul L./ Olsen, David R. (1988): Developing theories of mind. New York. Bernhardt, Kerstin (2000): Steuerung der Emotion Empörung durch Umwandlung assertorischer Urteile in hypothetische Urteile und Fragen: Ein Trainingsprogramm. Univ. Diss. Trier. Boll, Thomas (1998): Analyse kognitiver und motivationaler Aspekte spezifischer Emotionen am Beispiel von Schuldgefühlen und Empörung nach Führerscheinentzug. Hamburg. Bolscho, Dietmar (2000): Umweltbildung. (Kurseinheit der Fernuniversität Hagen). Hagen. Campos, Joseph/ Frankel, Carl/ Camras, Linda (2004): On the nature of emotion regulation. In: Child Development 75, S. 377-394. Cooper, Robert K./ Sawaf, Ayman (1999): EQ . Emotionale Intelligenz für Manager. München. Dasborough, Marie T./ Ashkanasy, Neal M. (2003): Is emotional intelligence training for leaders justified? In: Australian Journal of Psychology 55 (Suppl.), S. 120-121. Australian Journal of Psychology 55 (Suppl.), S. 120-121. De Haan, Gerhard (1999): Zu den Grundlagen der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ in der Schule. In: Unterrichtswissenschaft 27/ 3, S. 252-280. Denham, Susanne A. (1998): Emotional development in young children. New York. Emotional development in young children. New York. Dornes, Martin (2004): Der kompetente Säugling. Frankfurt a.M. (2004): Der kompetente Säugling. Frankfurt a.M. Edelstein, Wolfgang/ Nunner-Winkler, Gertrud/ Noam,