Der Chor in den Tragödien des Aischylos
Affekt und Reaktion
0218
2009
978-3-8233-7484-8
978-3-8233-6484-9
Gunter Narr Verlag
Markus A. Gruber
In der ersten Monographie zum Chor in allen sechs erhaltenen Tragödien des Aischylos (525-456 v.Chr.), des "Vaters der Tragödie", steht die Frage im Mittelpunkt, welche Funktion der Chor für den Zuschauer hat. Nach einem methodischen Teil, der auch eine Darstellung des frühgriechischen Chores insgesamt enthält und in dem ein rezeptionsästhetisches Interpretationsparadigma aufgestellt wird, orientieren sich die ausführlichen Einzelinterpretationen an zwei Überlegungen: Die Darbietung von Affekten aufseiten des Chores zielt auf eine sympathetische Involvierung des Rezipienten in die tragische Handlung ab. Der Chor zeigt aber stets auch aktive Reaktionen auf die Krise, die ihn im Zusammenhang mit einer Polis betrifft: Ratschläge an die Figuren, Reflexionen und Formen des Rituals dienen ebenfalls der Lenkung des Zuschauers. Stets ist beim Chor das Bestreben zu erkennen, die Ordnung der Gemeinschaft aufrecht zu erhalten und zu einer ,Heilung' des Konfliktes zu gelangen - dies kann sich aber auch zu einer weiteren Zuspitzung auswachsen.
<?page no="0"?> Markus A. Gruber Der Chor in den Tragödien des Aischylos Affekt und Reaktion Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="1"?> Der Chor in den Tragödien des Aischylos <?page no="2"?> DRAMA Neue Serie · Band 7 Studien zum antiken Drama und zu seiner Rezeption Herausgegeben von Bernhard Zimmermann in Zusammenarbeit mit Juan Antonio López Férez (Madrid), Giuseppe Mastromarco (Bari), Bernd Seidensticker (Berlin), N.W. Slater (Atlanta), Alan H. Sommerstein (Nottingham), Pascal Thiercy (Brest). <?page no="3"?> Markus A. Gruber Der Chor in den Tragödien des Aischylos Affekt und Reaktion Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Veröffentlichung als Regensburger Dissertation © 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 1862-7005 ISBN 978-3-8233-6484-9 <?page no="5"?> Meinen Eltern <?page no="7"?> Vorwort Vorliegendes Buch stellt den Versuch einer Gesamtdeutung des Chores in den sechs nachweislich echten Tragödien des Aischylos dar. Die Dissertation wurde im Wintersemester 2007/ 08 von der Philosophischen Fakultät IV (Sprach- und Literaturwissenschaften) der Universität Regensburg angenommen. Tag der Disputation war der 09.05.2008. Mein größter Dank gilt Herrn Prof.Dr. Georg Rechenauer (Regensburg), der die Arbeit seit ihren Anfängen (zugrunde lag eine entsprechende Magister- und Staatsexamensarbeit) betreut, stets mit Rat und Interesse begleitet und in vielfältiger Weise gefördert und unterstützt hat, so dass mir während der Doktoranden- und Assistentenzeit am Lehrstuhl ein ideales Arbeitsumfeld für eigenständige Forschung und produktive Lehre ermöglicht wurde. Herrn Prof.Dr. Martin Hose (München) danke ich recht herzlich für die bereitwillige Übernahme des Zweitgutachtens und für einige Hinweise vor allem zum Methodenkapitel, die ich gerne berücksichtigt habe. Prof.Dr. Markus Janka (München) hat das Drittgutachten beigesteuert. Ein besonderer Dank gilt Frau Professor Patricia Easterling für anregende Diskussionen während eines Forschungsaufenthaltes in Cambridge im Sommer 2005, aus denen nicht wenige meiner Interpretationsvorschläge hervorgegangen sind. Für die Grundlagen und Erträge eines philologischen Studiums über die Grenzen des Promotionsfaches hinaus danke ich auch den Herren Professoren Hans Joachim Kreutzer, Hans Gärtner und Jan Beck. Aus dem Kreis der Freunde und Kollegen, die durch Korrekturen, Hinweise und Hilfe meine Promotion in verschiedenen Phasen unterstützt haben, möchte ich insbesondere Björn Freter (Berlin), Matthias Märkl und Susanne Mitterer (beide Regensburg) dankend erwähnen. Der Studienstiftung des deutschen Volkes und meinem Vertrauensdozenten Herrn Prof.Dr. Hans Rott weiß ich mich für ein Promotionsstipendium ebenso zu bleibendem Dank verpflichtet wie für die langjährige, vertrauensvolle Förderung schon meines Studiums in Regensburg und Tübingen. Herrn Prof.Dr. Bernhard Zimmermann (Freiburg) möchte ich recht herzlich für die rasche Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe ‚DRAMA - Neue Serie’ danken, dem Gunter Narr Verlag Tübingen für die angenehme und unkomplizierte Zusammenarbeit. Regensburg und Waldmünchen, im Dezember 2008 Markus Anton Alexander Gruber <?page no="9"?> ix Inhalt ERSTER TEIL: METHODE I. Der Chor des Aischylos in der Forschung 1. Walther Kranz und die „Dreinatur“ des Chores .................................................... 1 2. Der Chor als Sprachrohr des Dichters: Die Separierung von Chorlied und Handlung ............................................................................................................. 2 3. Der Chor als dramatis persona: Ãqoj und Charakter ................................................ 5 4. Der Status quo der jüngeren, werkästhetisch vorgehenden Forschung ........... 10 5. Die ‚performative Wende’: Chor und Ritual......................................................... 11 6. Das Erfordernis einer methodischen Neuorientierung ....................................... 14 II. Die rezeptionsästhetische Methode: Affekt und Reaktion des Chores als Interpretationsparadigma 1. Möglichkeiten eines rezeptionsästhetischen Ansatzes für die Interpretation des Chores bei Aischylos ................................................................ 17 1.1 ‚Konstanzer Schule’ und ‚Reader-Response-Criticism’ in der Neuphilologie ...................................................................................................... 17 1.2 Rezeptionsästhetik und Klassische Philologie: Defizite und Chancen ....... 18 1.3 Überblick über das methodische Vorgehen .................................................... 26 2. Der Chor der griechischen song-and-dance culture: Gemeinschaft, Ordnung, Emotionen...................................................................... 28 2.1 Der ‚Sitz im Leben’ des Chores: Die Gemeinschaft der Polis ....................... 28 2.2 ™gkÚklioj paide…a : Die Erziehung zur Ordnung im Chor ............................ 31 2.3 t£xij : Chorische und kosmische Ordnung...................................................... 36 2.4 ‚Heilung’ von Krisen - Emotionalisierung der Choraufführung................. 39 2.5 Zusammenfassung I: Die Choraufführungen im homerischen Apollon-Hymnos als typische Beispiele .......................................................... 41 2.6 Zusammenfassung II: Gemeinschaft, Ordnung und Emotionen als zentrale Wahrnehmungskriterien .............................................................. 43 3. Der Chor als Boden der Tragödie und sein Identifikationspotential für den Zuschauer ..................................................................................................... 44 3.1 Vorbemerkung..................................................................................................... 44 3.2 Entstehungsfragen: Dithyrambos, Tragödie und die Polis ........................... 44 3.3 Identifikation durch Mimesis: Der Chor als Rollenträger............................. 49 3.4 Identifikation durch Performativität: Der Chor als corÒj ............................. 57 3.5 Chor und Zuschauer - Fokalisation ................................................................. 65 4. p£qoj durch lÒgoj : Die Affekte des Chores und ihre Transmission an den Zuschauer ...................................................................................................... 70 4.1 Die innerkulturelle Kontinuität von lÒgoj , ·uqmÒj und ¡rmon…a ................ 70 4.2 Zeugnisse für die emotionale Wirkung der aischyleischen Tragödie: Die Tragödie (auch) als ‚Hörspiel’ .................................................................... 71 4.3 Die Poetik des Rhetors Gorgias (fr. 11 DK) als Modell für die ‚bezaubernde’ Affekttransmission vom Chor zum Zuschauer .................... 78 4.4 Die Palette der Affekte: Nicht nur œleoj und fÒboj ....................................... 87 <?page no="10"?> x 5. Die Reaktion des Chores auf die Krise: Rat, Ritual, Reflexion und die Intention der ‚Heilung’ ...................................................................................... 90 6. Die medizinische Dimension: Krankheit und Heilung als Thema und als Metapher............................................................................................................... 98 7. Zusammenfassung zum Vorgehen....................................................................... 101 ZWEITER TEIL: EINZELINTERPRETATIONEN I. Perser 1. Der Chor der Perser: Die Inkorporation des ‚other’? .......................................... 103 2. Zur Anlage des Chores: Ritueller corÒj und Bewahrer Persiens ..................... 105 3. Sorge, Zuversicht und Angst vor der Katastrophe ............................................ 111 3.1 Die affektive Ambivalenz bei Chor und Zuschauer in der Parodos und die Unausweichlichkeit des Tragischen ................................................ 111 3.2 Der Chor als Berater: „Es wird schon gut ausgehen“ .................................. 118 4. Die Katastrophe: Der Chor und die Schuld des Xerxes..................................... 124 4.1 Die spontane affektive Reaktion im Klageritual........................................... 124 4.2 Der Beginn der Suche nach der Schuld (I. Stasimon) .................................. 126 5. „ … ein Heilmittel gegen das Unglück“: Sinneskrankheit, Hybris, swfrone‹n .................................................................................................................. 131 5.1 Die Anrufung des Dareios als „atrÒmantij (II. Stasimon)........................... 131 5.2 Eine unerbittliche Diagnose und die Rezeptur: Der Chor vor Dareios ..... 134 6. Selbstbescheidung und Katharsis im Ritual - Xerxes vor dem Chor .............. 143 6.1 Der geographische Horizont: Persien und Athen (III. Stasimon) .............. 143 6.2 Die rituelle Leiderfahrung im Kommos und die Integration des Xerxes . 145 II. Septem contra Thebas 1. Der Chor der Septem in der Forschung: Wandlungen ....................................... 156 2. Thebanische parqšnoi als Chor ............................................................................. 157 3. Innere Geschlossenheit und äußere Bedrohung - Der Prolog.......................... 160 4. fÒboj versus q£rsoj : Die Autonomie des Chores gegenüber Eteokles .......... 164 4.1 Die Orientierung des Chores am Göttlichen als Reaktion auf den fÒboj . 164 4.2 Die innere Bedrohung der Polis durch den Chor......................................... 172 4.3 Ein rascher Burgfrieden und ein verordneter Heilsgesang ........................ 177 4.4 Aeschylus Homericus: Ein ambivalentes Gebetslied (I. Stasimon) ........... 179 4.5 Die Unterstützung der taktischen Maßnahmen durch den Chor in den Redenpaaren............................................................................................... 185 5. Eteokles im Affekt und die Angst des Chores vor dem Miasma ..................... 188 6. Die Entkoppelung von Genos und Polis und die ‚Stunde Null’ Thebens ...... 196 6.1 Das II. Stasimon als Erfüllung des Fluchgeschehens ................................... 196 6.2 Das offene Ende für die Polis und der Ab-Gesang auf das Genos ............ 202 <?page no="11"?> xi III. Hiketiden 1. Die Danaiden in der Forschung: Ein vergessener Chor .................................... 210 2. Das ambivalente Wesen des Chores in der Parodos: Hellenisierung und Be-Fremden ...................................................................................................... 217 2.1 Der Chor zwischen Ägypten und Argos (anapästischer Teil).................... 217 2.2 Affekt und Rhetorik - Zeus (lyrischer Teil)................................................... 221 3. Hikesie, Miasma, Heilung...................................................................................... 233 3.1 Die Instruktionsrede des Danaos an den Chor: frone‹n und Reinheit ...... 233 3.2 Die Argumente des Chores vor Pelasgos: Affekt und Miasma .................. 237 3.2.1 Apis und der gesunde Boden von Argos.............................................. 237 3.2.2 Die Taktik des Chores: Vermeidung der Ursachenforschung ........... 238 3.2.3 Pathos und Logos - Die Furcht vor dem Miasma ............................... 241 3.2.4 Die Volksversammlung: Pelasgos’ Peitho als Exekutivkraft ............. 248 3.3 Ungewissheit und Sicherheit: q£rsoj, fÒboj und die Einhausung der Danaiden ............................................................................................................ 249 3.3.1 Io, die Präfiguration für Leid und Heilung (I. Stasimon)................... 249 3.3.2 Die Segenswünsche für Argos, eine gesunde Polis (II. Stasimon) .... 252 4. Wohin gehören die Danaiden? - Die Brüchigkeit der neuen Ordnung .......... 255 4.1 fÒboj I: Danaos und die intendierte Rolle der Töchter im Oikos .............. 255 4.2 fÒboj II: Entgrenzung und Tod (III. Stasimon)............................................. 256 4.3 Das q£rsoj der Danaiden: Die männliche Haus- und Polisordnung ........ 257 4.4 Die Verschärfung des Konfliktes durch den Nebenchor der Dienerinnen........................................................................................................ 263 IV. Agamemnon 1. Der Chor in der Forschung: Person, Pathos, Wissen ......................................... 270 2. Der Prolog als motivischer Nucleus der Orestie ................................................. 273 3. Die Parodos - eine lange Geschichte und unsichere Hoffnungen ................... 275 3.1 Unruhe und unerfüllte Hoffnung auf ‚Heilung’ durch Klytaimestra ....... 276 3.2 Optimistisches Ideal und ambivalente Realität: Von Aulis zu Zeus und zurück ......................................................................................................... 285 3.2.1 Die Stärke des Greisenchores: Ein ‚Drama im Drama’ ....................... 285 3.2.2 Das Adler-Omen und Kalchas: Ein Chor verzichtet auf Reflexion... 288 3.2.3 Der Zeus-Hymnos: Eine optimistische Weltordnung......................... 292 3.2.4 Der Fall Agamemnon: Gewaltsame Gunst der Götter für eine ‚Wahnsinnstat’? ......................................................................................... 300 4. Alle Möglichkeiten offen: Information, drohende Ate, Menelaos ................... 310 4.1 Informationsvergabe durch den lÒgoj Klytaimestras ................................. 310 4.2 Vollendete und drohende Ate: Paris und die Atriden (I. Stasimon) ......... 314 4.3 „ … trotz allem: Aufs Ganze gesehen ist es gut ausgegangen“.................. 327 5. Kann die endogene Ate im Haus Agamemnons aufgehalten werden? .......... 331 5.1 Die Gefahr der Fortpflanzung der Ate (II. Stasimon) .................................. 331 5.2 Die Begrüßung: Der eÜfrwn pÒnoj und die Integration des (geheilten? ) Königs............................................................................................ 341 6. Agamemnons letzte Hybris und der Affekt des Chores ................................... 347 6.1 Agamemnon zwischen swfrosÚnh und Hybris ........................................... 347 6.2 Verdichteter Affekt, heilbares und unheilbares Vergehen und die Unmöglichkeit der ‚Entwirrung’ (III. Stasimon)........................................... 350 <?page no="12"?> xii 7. Der Chor und die lex talionis im Genos ................................................................ 363 7.1 Kassandra und der dumme (? ) Chor - Der Vollzug eines Verständnisvorganges für den Zuschauer .................................................... 363 7.2 Die Unersättlichkeit des eâ pr£ssein : Das Schlussurteil über Agamemnon....................................................................................................... 370 7.3 Warum greift der Chor nicht ein? ................................................................... 373 7.4 paqe‹n tÕn œrxanta : Der aggressive Chor - Klytaimestras ¥koj ................ 375 V. Choephoren 1. Zur Anlage des Chores: Sklavinnen und die Ordnung des Hauses ................ 385 2. Vom Prolog zum Kommos: Die Gruppierung der Agamemnon-Partei ......... 387 2.1 Die Perspektive Orests ..................................................................................... 387 2.2 Dreifacher fÒboj : Die Zuspitzung des Konfliktes in der Parodos ............. 388 2.3 Der Chor als Ratgeber und Agitator vor dem Kommos.............................. 391 3. Der Kommos: Peitho und Pathos.......................................................................... 393 3.1 Überblick über den Aufbau und die Forschung........................................... 393 3.2 Der Chor als Sprachrohr der Dike: dr£santi paqe‹n als Titel des Kommos.............................................................................................................. 394 3.3 Erster Teil: Antreibende Rhetorik des Chores - ¢mhcan…a Orests ............. 396 3.4 Zweiter Teil: Die affektive Aufladung Orests durch einen ‚Kommos im Kommos’ und die Internalisierung der lex talionis ................................. 402 3.5 Dritter Teil: Die Heilung aus dem Haus heraus ........................................... 407 4. Der Chor in der Intrigenhandlung ....................................................................... 411 4.1 Klytaimestras Traum: Der Chor als Informant ............................................. 411 4.2 Mythos und Rhetorik: Die Wiedererrichtung der männlichen Hausordnung (I. Stasimon) ............................................................................... 412 4.3 Peitho im Plot I: Der Chor und Kilissa ........................................................... 418 4.4 Gebet und Antizipation der Tat (II. Stasimon) ............................................. 420 4.5 Peitho im Plot II: Der Chor und Aigisthos .................................................... 423 5. Die Tatausführung und das Scheitern der ‚Heilung’ ......................................... 424 5.1 Die Distanzierung des Chores von den Morden .......................................... 424 5.2 Der vorläufige Heilsgesang (III. Stasimon) ................................................... 425 5.3 Orest vor dem Chor und das Sichtbarwerden der Erinnyen...................... 427 VI. Eumeniden 1. Zur Anlage des Chores: Mehr als eine dramatis persona .................................... 429 2. Von Delphi nach Athen: Das Pathos des Chores und die Unheilbarkeit des Konfliktes .......................................................................................................... 431 2.1 Pythia, Apollon und Orest, Klytaimestra: Pathos am Ort der Heilung .... 431 2.2 Die Parodos: Der Schmerz des Chores wegen der Verletzung der Dike .. 434 2.3 Der Auftakt zur Gerichtsverhandlung in Delphi ......................................... 436 3. Athen(e) zwischen Hikesie und Bindehymnos, Rechtsverfahren und nÒsoj .................................................................................................................. 437 3.1 Die unfertige Reinigung Orests und der weitere Zugriff der Erinnyen.... 437 3.2 Der Einzug des Chores in Athen: Die Erinnyen der Orestie ....................... 438 3.3 p£qei m£qoj für Orest? - Der Hymnos Desmios (I. Stasimon) ................... 439 3.4 Athenes Anhörung und die Bedrohung der Polis durch nÒsoj ................. 447 4. Das antizipierte p£qei m£qoj und das gute deinÒn als Grundlage dauerhaften Heiles (II. Stasimon) ......................................................................... 448 <?page no="13"?> xiii 5. Die Sonderlösung für Orest und das Übergreifen des Konflikts auf Athen... 457 5.1 Die Durchsetzung der männlichen Ordnung in Athen und Argos: Zeus und Orest .................................................................................................. 457 5.2 Affekt und Reaktion: Schmerz wegen Athen, Zorn gegen Athen ............. 461 6. Die Integration der Erinnyen als Grundlegung des swfrone‹n ........................ 466 6.1 Die neue und alte tim» der Erinnyen - Der gesunde Boden Athens ......... 466 6.2 Der Nutzen für Athen....................................................................................... 468 DRITTER TEIL: SYNOPSE I. Das äußere Erscheinungsbild des Chores 1. Methodische Vorbemerkung ................................................................................. 475 2. Die akzidentielle Rolle: Der Chor als spezifische Personengruppe ................. 475 3. Widersprüche und Wandlungen? ........................................................................ 481 4. Das essentielle Wesen: Ritualität und Performativität des corÒj ..................... 484 4.1 Die Relevanz des ‚Chorischen’ bei Aischylos ............................................... 484 4.2 Formen des Rituals bei Aischylos - Die Gliederungsversuche der Forschung ........................................................................................................... 487 4.3 Chorische Rituale bei Aischylos: Ein vergleichender Überblick ................ 490 4.4 Nicht-rituelles Auftreten des Chores ............................................................. 497 5. Versuch eines synthetischen Gesamtmodells des Chores bei Aischylos ........ 500 II. Die Bedeutung von Affekt und Reaktion des Chores für den Zuschauer 1. Die Affekte des Chores bei Aischylos: Indikatoren der Krise und Rezeptionsvorgaben ............................................................................................... 502 1.1 Rückblick ............................................................................................................ 502 1.2 Ein vergleichender Überblick über die Affekte des Chores........................ 503 1.3 Affektregulierung und chorisches Ich............................................................ 510 2. Die Reaktionen des Chores auf die Krise: Der Chor im Spannungsfeld von ‚Heilung’ und Verschärfung .......................................................................... 513 2.1 Fokalisation und Informationsvergabe im Chorlied.................................... 513 2.2 Konfrontation und Koalition: Chor, Einzelfigur, swfrone‹n ...................... 521 3. Ein Fazit: Der Chor in der Tragödie des Aischylos ............................................ 526 Anhang 1: Zum Chor im Prometheus ............................................................................ 529 Anhang 2: Die Chöre des Aischylos ............................................................................. 532 Literaturverzeichnis ........................................................................................................ 539 Index der Begriffe, Sachen und Namen ....................................................................... 559 Index der besprochenen Stellen und Passagen.......................................................... 566 <?page no="15"?> 1 ERSTER TEIL: METHODE I. Der Chor des Aischylos in der Forschung 1. Walther Kranz und die „Dreinatur“ des Chores „Der Chor der ausgebildeten aischyleischen Tragödie ist schon seiner Stellung nach eine Zweiheit: die Person, die an der Handlung als solcher teilnimmt, oft leidenschaftlich teilnimmt, und die Schar der Choreuten, die, von der Skene losgelöst, während der Handlungspause ... das in sich ruhende Lied singend vorträgt. Aber der tragische Dichter, der immer ‚Lehrer des Volkes’ ist ... hat ... auch nicht darauf verzichtet, den Chor zum Sprachrohr seines Ich zu machen, zum Träger seiner ‚Lehrer’gedanken. Und so hat der Chor der großen Tragödie auch schon in der alten Zeit eine Dreinatur: er ist Person des Stückes, er ist Instrument zur Begleitung, Gliederung, Vertiefung des Dramas, er ist endlich Organ des dichterischen Ich. ‚Widersprüche’ sind ihm aber damit geradezu eingeboren, sie sind nichts als der natürliche, besonders deutliche Ausdruck einer dieser Funktionen.“ 1 In der ersten wissenschaftlichen Monographie zum Chor der Griechischen Tragödie (Stasimon. Untersuchungen zu Form und Gehalt der griechischen Tragödie) definiert Walther K RANZ im Jahre 1933 den Chor bei Aischylos zunächst als janusköpfige „Zweiheit“, bedingt durch die Handlungsteilnahme des Chores und durch das Singen von Liedern während der Handlungspause; in letzterer Funktion sei der Chor zugleich das Sprachrohr des Dichters. Wenn K RANZ der Mitspieler- und Sprachrohrfunktion schließlich noch eine dritte, die dramatische Technik betreffende Aufgabe hinzufügt und der damit gezeichneten geradezu proteischen „Dreinatur“ des aischyleischen Chores sogar etwaige innere Widersprüche zugesteht, so ist diesem polyvalenten Erklärungsmodell für ein offensichtlich nicht mit e i n e r griffigen Formel zu fassendes Phänomen der Rang einer ‚klassischen’ Definition zuzusprechen. Denn die nicht wenigen Forschungsbeiträge zum Chor in den Tragödien des Aischylos - oder auch im Griechischen Drama insgesamt - beruhen bei aller Divergenz in Methodik und Quantität des Untersuchungsmaterials doch zumeist jeweils auf der Analyse einer der von K RANZ ausgemachten drei Funktionen. Nimmt man also die K RANZ sche Trias zum Ausgangspunkt für einen kritischen Forschungsüberblick, so lassen sich gewisse Stränge erkennen, die sich durch ein von gleich sechs, ja vielleicht sieben aischyleischen Chören gebildetes Dickicht ziehen und mit jeweils gewissen perspektivischen Schwerpunkten versuchen, eine eindeutige Festlegung auf ‚den’ Chor des Aischylos zu erreichen. 1 K RANZ (1933) 171 (Hervorhebungen hier und in den beiden folgenden Zitaten M.G.). <?page no="16"?> Der Chor des Aischylos in der Forschung 2 2. Der Chor als Sprachrohr des Dichters: Die Separierung von Chorlied und Handlung Es ist eine Auffälligkeit speziell der deutschsprachigen Forschung, die Funktion des Chores als Sprachrohr des Dichters gerade für den ältesten Tragiker zu betonen. Das geistige Umfeld dieser Position ist in der Goethezeit und deren Vorstellung einer Präsenz des Dichters in dem von ihm geborenen Werk zu suchen. Friedrich S CHILLER und August Wilhelm S CHLEGEL haben durch den intuitiven Blick des Literaten auf den Chor der Griechischen Tragödie der ‚Sprachrohr-Theorie’ in der Klassischen Philologie schon lange vor K RANZ nachhaltige Wirkung gegeben. „Wir müssen ihn [den Chor] begreifen als den personifizierten Gedanken über die dargestellte Handlung, die verkörperte und mit in die Darstellung aufgenommene Teilnahme des Dichters als des Sprechers der gesamten Menschheit. Dies ist seine allgemeine poetische gültige Bedeutung [.] … Was er auch in dem einzelnen Stücke Besondres sein und tun mochte, so stellte er überhaupt und zuvörderst den nationalen Gemeingeist, dann die allgemeine menschliche Teilnahme vor. Der Chor ist mit einem Worte der idealisierte Zuschauer. Er lindert den Eindruck einer tief erschütternden oder tief rührenden Darstellung, indem er dem wirklichen Zuschauer seine eignen Regungen schon lyrisch, also musikalisch ausgedrückt entgegenbringt und ihn in die Region der Betrachtung hinaufführt.“ 2 Die ebenso berühmte wie kritisierte Auffassung S CHLEGEL s (in seinen Wiener Vorlesungen Über dramatische Kunst und Litteratur von 1809), der Chor sei „der idealisierte Zuschauer“, ist in der prägnanten Kürze ihrer Definition bei gleichzeitig maximaler Ausweitung des Definitionsgegenstandes - die gesamte Griechische Tragödie - sicherlich zu pauschal. Trotz der Prävalenz des reflektorischen Momentes, das S CHLEGEL im Chor angelegt sieht („Gedanke“, „Gemeingeist“, „Betrachtung“), schwingt im Terminus ‚Teilnahme’ doch auch schon etwas von der von K RANZ gesehenen Mitspielerfunktion mit, die jedoch in etwas unerwarteter Weise auf den Dichter selbst fokussiert wird, der also durch den Chor als sein Sprachrohr am Werk teilnimmt. Es ist bemerkenswert, wie nur kurz vor S CHLEGEL , der im Chor immerhin auch eine Art Person sieht („personifizierter Gedanke“, „idealisierter Zuschauer“), Friedrich S CHILLER 1803 im Vorwort zur Braut von Messina oder Die feindlichen Brüder (einem für diese Zeit höchst ungewöhnlichen Trauerspiel mit Chören, so der Untertitel) den tragischen Chor gänzlich auf die eine Funktion reduziert hat, distanzierte Reflexionen zu äußern: „Er ist selbst kein Individuum, sondern ein allgemeiner Begriff [.] ... Der Chor verläßt den engen Kreis der Handlung ... , um die großen Resultate des Lebens zu ziehen und die Lehren der Weisheit auszusprechen. … Der Chor reinigt also das tragische Gedicht, indem er die Reflexion von der Handlung absondert und eben durch diese Absonderung sie selbst mit poetischer Kraft ausrüstet [.] … So wie der Chor in die Sprache Leben bringt, so bringt er Ruhe in die Handlung - aber die 2 S CHLEGEL ed. L OHNER Bd. 5,64f. <?page no="17"?> Der Chor als Sprachrohr des Dichters 3 schöne und hohe Ruhe, die der Charakter eines edlen Kunstwerkes sein muß. … Was das gemeine Urteil an dem Chor zu tadeln pflegt, daß er die Täuschung aufhebe, daß er die Gewalt der Affekte breche, das gereicht ihm zu seiner höchsten Empfehlung, denn eben diese blinde Gewalt der Affekte ist es, die der wahre Künstler vermeidet, diese Täuschung ist es, die er zu erregen verschmäht. … Dadurch, daß der Chor die Teile auseinanderhält und zwischen die Passionen mit seiner beruhigenden Betrachtung tritt, gibt er uns unsere Freiheit zurück, die im Sturm der Affekte verlorengehen würde.“ 3 Diese Entpersonalisierung, die den Chor buchstäblich seiner körperlichen Substanz beraubt („kein Individuum“), separiert den Chor und insbesondere das Chorlied ganz bewusst von der Handlung und den Affekten der Einzelfiguren, die für S CHILLER offenbar in einer ganz eigenen Welt handeln und leiden. In einer wie bei S CHLEGEL sehr allgemeinen Aussage wird das Reflexionspotential des Chores den rein spielinternen (aber auf den Zuschauer übergreifenden) Affekten und der in der Handlung verwirklichten „Täuschung“ (das heißt: der Mimesis) konträr entgegengesetzt, da die reflektorische Betrachtung der tragischen Handlung eine beruhigende Wirkung habe, während Täuschung und Affekte „der wahre Künstler vermeidet“: Damit stehen Dichter und Chor auf einer Ebene. Die Reflexion eines entpersonalisierten Chores findet also fernab der affektgeladenen Handlung statt - eine sehr scharfe Trennung. Obwohl sich S CHLEGEL und S CHILLER nicht explizit auf Aischylos beziehen, legte die ältere, zumal deutschsprachige Aischylos-Forschung ihren Schwerpunkt auf eben diese Auffassung, dass der Chor vordringlich reflektiere und dies sozusagen im Auftrag des Dichters durchführe. „Der Dichter redet warnend als Lehrer zu seinem Volke, vertritt seine Überzeugung“ - so W ILAMOWITZ -M OELLENDORFF (1921, 517) über den Chor auch bei Aischylos; an die Anknüpfung des Liedes an die dramatische Situation solle man gar nicht denken. 4 Etwa eine Generation später spricht P OHLENZ (1954, zuerst 1930) davon, Aischylos habe im Agamemnon „Gelegenheit genommen, durch den Chor seine eigene Stellung ausdrücklich auszusprechen.“ (108). Die Aischylos-Monographie von P ORZIG (1926) behandelt im Kapitel Religion (99-148) fast ausschließlich und wie selbstverständlich Äußerungen des Chores. Für R EITHMAIER (1939), der die Chöre bei Aischylos und Sophokles entwicklungsgeschichtlich betrachtet, hält Aischylos durch die Chöre der Perser, des Agamemnon und der Eumeniden weltanschauliche Predigten an die Hellenen (15f., 27, 52-58). L ESKY (1958) möchte dann beispielsweise in den Äußerungen des Chores der Perser „das Ringen des Dichters mit letzten Fragen nach dem Wesen von 3 S CHILLER ed. F RICKE / G ÖPFERT Bd. 2,821f. - Friedrich N IETZSCHE (ed. H OLZER , Bd. 17,310f.) stimmt in seiner Ödipus-Vorlesung von 1870 S CHILLER zu und bezieht dessen allgemeine Äußerung gerade auf den sophokleischen Chor; vgl. auch Victor H UGO (ed. T HIERRY / M ÉLÈZE Bd. 1,142), der den zwischen Spiel und Zuschauer lokalisierten Chor als Verkörperung des Dichters sieht. Die ‚Sprachrohr-Theorie’ ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts und scheint wesentlich beeinflusst zu sein vom Typus des theoretisierenden Dichters. 4 Weiter heißt es dort: „Sophokles mahnt, predigt, wie Aischylos es tut. Dafür ist er Dichter und Athener.“ (ebd.). <?page no="18"?> Der Chor des Aischylos in der Forschung 4 Schuld und Schicksal“ (89) sehen. - Für die englischsprachige Forschung ist dann etwa L EBECK (1971) zu nennen, die die Chorlieder der Orestie als zusätzliches Informationsangebot dahingehend akzeptiert, Beziehungen und Motive in der ganzen Trilogie zu explizieren, wobei auch die persönliche Meinung von Aischylos und seine religiösen Überzeugungen zum Ausdruck kommen könnten. Auch die umfassende Arbeit von G EISSER (2002) über die Unheilsmächte bei Aischylos gehört hierher, da nahezu alles, was über Götter, Geister und Dämonen (so der Untertitel) zu sagen ist, in den Chorliedern gefunden und von G EISSER entsprechend als objektiv wahre Aussage des Dichters genommen wird. Beispielsweise für die viel diskutierte Parodos des Agamemnon seien drei Positionen zitiert, die von einer Identität von Choraussage und Dichtermeinung ausgehen: R EINHARDT (1949) spricht vom „Zeus des Aischylos“ und nimmt darüber hinaus auch das II. Stasimon als unmittelbare Aussage von Aischylos selbst (14-16); für D ENNISTON / P AGE (1957) ist die Ursache für den Zorn der Artemis ein „extraordinary reason given by Aeschylus“ (XXIII); und K ITTO (1961) sagt über Zeus im Hymnos des Chores: „[W]hat Aeschylus says about him is that ... “ (68). Zusammenfassend für die ‚Sprachrohr-Theorie’ sei G ÖRGEMANNS (1979) zitiert, der den aischyleischen Chor insgesamt schlicht als den „Vertreter des Dichters“ (36) sieht. Zwar hat die ‚Sprachrohr-Theorie’ darin recht, das Deutungsangebot des Chores für die Beurteilung der tragischen Handlung überhaupt zu akzeptieren und nicht, wie die im Folgenden zu besprechende Forschungsposition, von vornherein unter dem Gesichtspunkt des Charakters des Sprechers kritisch zu betrachten. Jedoch kann die Fixierung auf dieses ja vor allem im lyrischen Chorlied (Stasimon und Parodos) zu findende interpretatorische Potential dazu führen, den Chor als solchen, das heißt als eine bestimmte Personengruppe, nicht mehr wahrzunehmen. Denn zumal bei Aischylos ist der Chor noch sehr stark in die Handlung involviert und nimmt an ihr affektiv teil, wie K RANZ betont, auch wenn Aischylos nach Aristoteles den Anteil des Chores schon verringert habe: … kaˆ t¦ toà coroà ºl£ttwse (Poet. 1449 a17). Und keineswegs singt der Chor nur Lieder, die für sich alleine stehen: Er ist auch ständig im Kontakt mit den Einzelfiguren, ob in Stichomythie, Epirrhema oder Amoibaion. Diese Bauformen drohen auch dann zu wenig berücksichtigt zu werden, wenn man sich auf eine Verhältnisbestimmung nur zwischen Chorlied und Handlung konzentriert, womit einer Separierung zweier Bereichseinheiten Vorschub geleistet wird, die trotz ihrer Verschiedenheit, welche sich aus der Gattungsgenese herleitet, doch aufeinander bezogen sind. An erster Stelle ist hier die Arbeit von R ODE (1965) zu nennen, die ausschließlich das Chorlied (Parodos und Stasimon) betrachtet: „Die zweite Funktion des Tragödienchores, die personale Beteiligung an der Handlung, ist von seiner ersten Aufgabe, dem Singen der nicht zur dramatischen Aktion gehörenden Chorlieder, weitgehend unabhängig.“ (202). Dem Verhältnis zwischen Chorlied und Handlung bei Aischylos sowie dem Aufbau und Gedankengang nur der lyrischen Partien sind einige Arbeiten gewidmet, so M ÜNSCHER (1924), K RANZ (1933) im Kapitel Das alte Lied (127-74), <?page no="19"?> Der Chor als Sprachrohr des Dichters 5 H ÖLZLE (1934), der den religiösen Gehalt behandelt, und F AUTH (1953) mit Schwerpunkt auf metrischen Analysen. 5 Es stimmt grundsätzlich bedenklich, die Reflexionen des Chores einseitig als bare Münze zu nehmen und in ihnen gar die Meinung des Dichters als eines Volkspädagogen zu suchen. Gewissermaßen ersetzt hier das Ich des Dichters Aischylos das ‚vergessene’ Ich des entpersonalisierten Chores. Man braucht nicht unbedingt den von der modernen Literaturwissenschaft verkündeten ‚Tod des Autors’ auch für die Griechische Tragödie zu bemühen, um einzusehen, dass es kaum möglich ist, Gedanken des Chores gleichzusetzen mit denen des Dichters Aischylos. Zwar wird man nicht fehlgehen, das von den Chören häufig geäußerte theologische Gedankengut - über Zeus, Hybris und Dike - als einen von der Polisgemeinschaft allgemein akzeptierten und von Aischylos zum Verständnis der tragischen Handlung errichteten Orientierungsrahmen aufzufassen. Aber grundsätzlich ist zu beachten, dass jede Aussage eines Chores - und beileibe handelt es sich nicht nur um nüchtern kommentierende Reflexionen - aus dem Munde einer ins Geschehen involvierten und an diesem affektiv teilnehmenden Personengruppe kommt. Dahingehend wurde gegen eine einfache ‚Sprachrohr-Theorie’ zu Recht Kritik erhoben. So fragt - ebenfalls in Bezug auf die Parodos des Agamemnon - S MITH (1973) provokativ: „How is it possible to pick out a single structure in a literary work and identify this with the author when nothing in the text tells us to do so? “ (2); ähnlich R OSENMEYER (1982), der gerade auf die Affekte des Chores und seine Involvierung in die Handlung hinweist: „There is much about Aeschylean tragic choruses, notably fear, simplicity, even cowardice … , that would seem to disqualify the chorus as an appropiate mouthpiece for the poet’s moral or philosophical ideas“ (167). 5 Die Kernpunkte der bei Walter J ENS entstandenen Dissertation von R ODE haben auch Eingang gefunden in J ENS ’ Handbuch Die Bauformen der griechischen Tragödie (1971) (Abschnitt Das Chorlied, 85-115). Zum Verhältnis von Chorlied und Handlung bei allen drei Tragikern vgl. H ELG (Das Chorlied der griechischen Tragödie in seinem Verhältnis zur Handlung, 1950), der im Anschluss an Tycho von W ILAMOWITZ -M OELLENDORFF (1917) und seinen eigenen Lehrer H OWALD (1930) nun speziell für die Chorlieder zu dem Ergebnis kommt, „dass sie in erster Linie unter dem Aspekt ihrer dramatischen Wirkung beurteilt und verstanden werden müssen“ (63). Für den Zusammenhang zwischen Chorlied und Handlung bei Sophokles und Euripides vgl. R AHM (1907), bei Euripides H OFMANN (1916) und M ÖLLER (1933). 3. Der Chor als dramatis persona: Ãqoj und Charakter Die von K RANZ hervorgehobene Handlungsbeteiligung des Chores („Person des Stückes“) hat zum einen bereits in der deutschsprachigen Forschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts Aufmerksamkeit gefunden, zum anderen in der englischsprachigen etwa seit den Siebziger Jahren. <?page no="20"?> Der Chor des Aischylos in der Forschung 6 Die Suche nach einem Charakter des Chores, seinem Ãqoj , bestimmt die Arbeit von H ELMREICH aus den Jahren 1914 bis 1917, die als gymnasiale Programmschrift nur schwer erreichbar ist: Der Chor im Drama des Aeschylus. 6 Bei H ELMREICH und in weiteren älteren Beiträgen mit ähnlicher Perspektive, so den Aischylos-Interpretationen von W ILAMOWITZ -M OELLENDORFF von 1914 und dem - in manchen bedenklichen Ansichten vor dem Hintergrund seiner Zeit zu sehenden - Aufsatz von B OGNER von 1942, geht es vor allem um die Frage, inwieweit die Äußerungen des Chores insbesondere im Chorlied im Hinblick auf seinen Charakter - über den vorab eine bestimmte Meinung besteht - angemessen seien: „Versteht der Chor, was er da singt? “, so fragt B OGNER (179) hinsichtlich des Zeus-Hymnos in den Hiketiden, womit den Danaiden als jungen Mädchen tiefsinnige religiöse Gedanken gewissermaßen abgesprochen werden. Wenn aber die Aussagen nicht zum vorgefertigten Ãqoj passen, so fällt der Chor eben aus seiner Rolle und wird zur Stimme des Dichters. So etwa bei W ILAMOWITZ -M OELLENDORFF (1914) 241, für den im Zeus-Hymnos der Danaiden eigentlich Aischylos als religiöser Lehrer zu den Athenern spricht. - Man hat des Öfteren den Eindruck einer latenten Voreingenommenheit dieser Forschungsrichtung gegen weibliche Chöre, so in der schon erwähnten Dissertation von R EITHMAIER (1939), der die Chöre der Hiketiden, des Prometheus und der Septem (die Reihenfolge entspricht der angenommenen Chronologie der Stücke) sehr kurz auf drei, sechs und zwei Seiten abhandelt, dies auffallenderweise auch ohne dass diese Chöre für die Sprachrohr-Theorie herhalten müssen, die R EITHMAIER auf die anderen Chöre anwendet. Der ‚ Ãqoj -Ansatz’ geht letztlich zurück auf die - wesentlich von Aristoteles’ Formel kat¦ tÕ e„kÕj À tÕ ¢nagka‹on (Poet. 1451 a13 u.ö.) beeinflusste - neuzeitliche Poetik, nach der Handlung und Charaktere, ob im Drama oder auch im Roman, einer lückenlosen, Gesetzen der Logik und der realistischen Wahrscheinlichkeit folgenden Kausalität zu unterliegen haben. Dass eine solche naturalistische Poetik der Griechischen Tragödie nicht angemessen ist, wurde allerdings bereits verschiedentlich zu Recht hervorgehoben. 7 Das Hauptverdienst der ‚realistischen’ Methode besteht aber sozusagen implizit 6 Für Sophokles und Euripides vgl. H ELMREICH (1905), wo folgende Interpretationskategorien verwendet werden: Realistisches Ãqoj versus idealistisches Ãqoj , Verhältnis von Ãqoj des Chores und Inhalt des Chorliedes, Einheitlichkeit in der Gestaltung des Chores, Wahl des Chores durch den Dichter. 7 Grundlegend hierfür S IFAKIS (1971) 7-15, der als Kernmerkmale des neuzeitlichen, auf perfekte Illusionserzeugung abhebenden „realistic drama“ einen in sich logisch fortschreitenden Plot und eine individuelle psychologische Zeichnung der Charaktere bestimmt; institutioneller Rahmen ist die „Italian box“, die mit einer Vielzahl von Effekten, vor allem mit Licht, arbeitende Guckkastenbühne. Demgegenüber sei die Griechische Tragödie (und mit ihr die Komödie, deren Parabase im Zentrum von S IFAKIS ’ Arbeit steht) als „conventional drama“ un-realistisch und anti-illusionistisch; Masken, das Sonnenlicht und der stets präsente Chor liefen „realism and vraisemblance“ zuwider. Vgl. auch S EECK (2000) 201-06 zu der in der Griechischen Tragödie oft fehlenden Glättung der Motivstruktur und der ebenso großzügigen Behandlung der Einheit von Handlung, Zeit und Ort; vgl. auch für Homer die Kritik von S EECK (2004) am „Oberflächen-Realismus“ (56), auf den die Analyse fixiert war. An Beispielen aus den Hiketiden exemplifizieren K ITTO (1961) 9, 27f., 30, 52, 106f. und L LOYD -J ONES (1964) 365-70 die Unangemessenheit naturalistischer Interpretationskategorien. <?page no="21"?> Der Chor als dramatis persona 7 darin, auf die - eigentlich scheinbare - Problematik von unmotivierten oder auch unwahrscheinlichen Verhaltensweisen und Wandlungen in der Person des Chores hinzuweisen. Dieser wird indes einfach als eine weitere dramatis persona und als dritter oder vierter Schauspieler angesehen und gegebenenfalls einer Funktionsaufspaltung unterzogen. Der Übergang zu psychologisierenden Ausdeutungen des (angenommenen) Charakters eines Chores als weiterer dramatis persona ist fließend. In der jüngeren, vor allem englischsprachigen Forschung lässt sich dann die Tendenz beobachten, dass nun alle Äußerungen des Chores grundsätzlich kritisch beäugt werden, da er, wie die Einzelfiguren, nur über eine beschränkte Perspektive verfüge, die sich zusammenschließe mit einem rekonstruierbaren Charakter des Chores. Der Gegensatz zur ‚Sprachrohr-Theorie’ könnte nicht größer sein. Für die Handlungsbeteiligung und die Suche nach einem Charakter des Chores bei Aischylos sind zunächst zwei Aufsätze zu nennen: P ODLECKI (1972) untersucht in seinem Beitrag The Aeschylean Chorus as Dramatic Persona „lyric and dialogue“ (183) für alle Chöre des Aischylos und zeigt die Relevanz der Chöre im Rahmen der Gesamtkonstellation der einzelnen Stücke auf. G ANTZ (1983) geht für den Chor des Agamemnon, den er als „prime component“ (67) sieht, von einer „limited vision“ (80) aus. Für die Chöre der Orestie hat V ELLACOTT (1984) 97-127 eine soziokulturelle, oft auf psychologische Spekulationen gestützte Interpretation vorgelegt, die im Einzelnen problematisch ist. Einen in sich konsistenten Charakter der Chöre der Perser und des Agamemnon möchte S CHENKER (1991) nachweisen (bezeichnend auch hier der Titel der - überwiegend Paraphrasen gebenden - Monographie: The character of the Aeschylean chorus). Den bislang gewichtigsten Beitrag zur ‚Charakterdeutung’ eines aischyleischen Chores hat T HIEL (1993) geleistet, der sämtliche Äußerungen des Chores des Agamemnon „als diejenigen einer Person ... , die bei aller situationsbedingten Verschiedenheit doch durchgängig dieselbe bleibt“ betrachtet, um so „dem jeweiligen Wissen und der dramatischen Situation des Chors innerhalb der Bühnenhandlung“ (9) Rechnung zu tragen. Letztlich steht, ob dies ausgesprochen wird oder nicht, hinter der Auffassung, der Chor bei Aischylos sei einfach eine dramatis persona, die kurze Forderung des Aristoteles in der Poetik, wonach der Chor wie einer der Schauspieler zu behandeln und in die Handlung zu integrieren sei, kurzum also „mitspielen“ müsse - „nicht wie bei Euripides, sondern wie bei Sophokles“: kaˆ tÕn corÕn d ›na de‹ Øpolamb£nein tîn Øpokritîn, kaˆ mÒrion e nai toà Ólou kaˆ sunagwn…zesqai m¾ ésper EÙrip…dV ¢ll' ésper Sofokle‹ . to‹j d loipo‹j t¦ dÒmena oÙd n m©llon toà mÚqou À ¥llhj tragJd…aj ™st…n: diÕ ™mbÒlima °dousin prètou ¥rxantoj 'Ag£qwnoj toà poihtoà. (Poet. 1456 a25-30) Auf diese normative Forderung (deren deskriptiver Wert zunächst zu hinterfragen wäre) beruft sich vor allem eine Reihe von Forschungspositionen zum Chor bei Sophokles, der als eine vierte, intellektuell minder bemittelte <?page no="22"?> Der Chor des Aischylos in der Forschung 8 dramatis persona mit einer eingeschränkten Perspektive gesehen wird. 8 Gegen dieses Verständnis von Aristoteles im Hinblick auf den Chor bei Sophokles sei hier nur soviel eingewandt, dass Aristoteles im Kontext ein ‚Mitspielen’ des Chores im Sinne von dessen Integration in die Handlung doch wohl lediglich dahingehend fordert, dass die Gesangspartien ( t¦ dÒmena ) einen speziellen Bezug zum Plot ( màqoj ) haben müssen und nicht beliebig austauschbare Einlagen sein dürfen. Es ist hier keinerlei Rede vom Ãqoj des Chores, geschweige denn von einem inferioren, und Aristoteles spricht nicht von der ‚Figur’, die der Chor des Sophokles nach Meinung der genannten Forschungspositionen mimetisch verkörpere, oder der ‚Rolle’, in die er hineinpasse. Mitspielen, sunagwn…zesqai , heißt für den Chor, sich an der Handlung zu beteiligen und nicht fernab von ihr ornamentale Intermezzi zu singen; und das heißt zugleich, dass der Chor als S c h a u s p i e l e r ( ›na tîn Øpokritîn ), das heißt als Darsteller und Rollent r ä g e r fungiert und im ¢gèn der Aufführung mitwirkt. Und hierbei kommt es auf die Funktion an sich an, nicht aber auf die verkörperte, dargestellte Rolle oder Figur selbst. Terminologisch luzide geht Horaz das Problem an, wenn er im Gefolge von Aristoteles die Integration des Chores als eines actor in die Handlung fordert: actoris partis chorus officiumque virile / defendat, neu quid medios intercinat actus / quod non proposito conducat et haereat apte (ars 193-95). Hingegen die R o ll e bezeichnet Horaz als persona - dies auch unmittelbar zuvor, nämlich die vierte entbehrliche Rolle als quarta persona (192). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Befund 9 , dass Øpokrit»j - das gewöhnliche Wort für ‚Schauspieler’ - nur ein einziges Mal überhaupt für einen Chor 8 So zuerst M ÜLLER (1967): „Diese aristotelische Aussage schließt in sich, daß der Chor eine konsequente Rolle im Drama einzuhalten hat.“ (212), und als Fazit: „Es muß gesagt werden, daß jedes Wort, das aus dem Munde des Chors [bei Sophokles] kommt, erstens der Konsequenz seiner Rolle im Stück entspricht, zweitens aber weit entfernt davon ist, eine Deutung des Geschehens vom Dichter aus zu geben, sondern nur eine Beurteilung von irrenden Menschen, irrenden Mitspielern gibt. Das Verhältnis des Chors zum Helden der Tragödie ist unter dem Schema: Mittelmaß und Größe zu sehen.“ (228). Dann R ÖSLER (1983): „Sophokles machte den Chor recht eigentlich zum vierten Schauspieler [.]“ (123); ähnlich P AULSEN (1989) 151 und (1998), der Sophokles gar die Absicht abspricht, dem Publikum „durch den Chor Deutungshilfen für das tragische Geschehen aus dem Mund des Dichters“ (81) zukommen zu lassen. Für eine retrospektivische Anwendung der Aristoteles-Stelle auf den Chor bei Aischylos, die methodisch kaum zulässig ist, sh. die neueste Gesamtdarstellung zu Aischylos von L OSSAU (1998) 148-50. Zur Kritik am Fehlverständnis der Aristoteles-Stelle sh. zusammenfassend F LASHAR (2000) - auch gegen die Charakterdeutung des aischyleischen Chores lässt sich sagen: „Ihn [den Chor] in eine vollkommen integrierte Rolle zu pressen, führt zu den absonderlichsten Konsequenzen. Man muß dann alle Äußerungen des Chores, die nicht zu der einmal festgelegten Rolle passen, als unangemessene Geschwätzigkeit oder als Irrtum und Fehldiagnose interpretieren.“ (15). Vgl. weiter die harte Kritik von B AUR (1997) 26f. mit Anm.4, der von „fast sklavisch an Aristoteles orientierten Arbeiten“ spricht. 9 Sh. P ICKARD -C AMBRIDGE (1968) 127. <?page no="23"?> Der Chor als dramatis persona 9 gebraucht wird, dies bezeichnenderweise in der Mordszene des Agamemnon (Schol. S MITH 197,1343b), wo sich der Chor höchst ungewöhnlich in Einzelstimmen auflöst, die Choreuten untereinander kommunizieren und sich also wie einzelne Øpokrita… verhalten - was aber nicht der Normalfall ist. Und Aristoteles formuliert ja auch nur im Vergleich: „w i e einen der Schauspieler.“ So richtig es ist, die Aussagen des Chores zum tragischen Geschehen nicht im Sinne der ‚Sprachrohr-Theorie’ zum objektiven, alleingültigen Wertmaßstab (und zur Idee des Dichters) zu erheben und stattdessen stärker auf die Handlungsbeteiligung und auch die bestimmte, je verschiedene Identität des Chores zu achten - bei der ‚dramatis-persona-Theorie’ besteht die immense Gefahr, den Chor in einem naturalistischen Verständnis der Gattung Tragödie gänzlich in die fiktionale Bühnenwelt zu verpflanzen. Ihn auf eine Ebene mit den Einzelfiguren zu stellen (ihn also in S CHILLER s Worten - aber ganz gegen dessen Meinung - zum „Individuum“ zu machen), heißt vor allem die kulturelle Besonderheit dieses Phänomens zu übersehen: Und wie kann eine Personeng r u p p e , die zudem als Chor in einer ganz eigenen Beziehung zum Publikum steht, zugleich ein Individuum sein? Insbesondere der Gruppencharakter des überwiegend anonymen Chores impliziert per se, dass hier nicht die gleichen Maßstäbe angelegt werden dürfen wie an eine individualisierte Einzelfigur. 10 Die Konstruktion des Ãqoj eines Chores oder die Grundannahme einer einheitlichen Perspektive kann zu einer zwanghaften Anwendung logischer Stringenz führen, die alle Aussagen des Chores nur noch auf diesen selbst als dramatis persona projiziert und nicht mehr in ihrer Relevanz für das Verständnis der Handlung begreifen will. 10 Vgl. das Ergebnis der Untersuchung von K AIMIO (1970) zum Numerus-Gebrauch beim Chor des Griechischen Dramas, speziell für Aischylos: „ [T]here is … more potential dissimilarity in such a group than in an individual character of a Greek play, who bears a certain name and identity. Thus, we cannot expect the chorus’ attitudes to be represented in a psychological progression as logical as those of the actor. It is possible for the community to react in different ways to the events of the drama.“ Dies impliziert natürlich keine simultane Vielstimmigkeit, da die Homogenität des Chores oberstes Gebot ist: „At each moment, all members of the chorus are thinking alike, but the chorus may take different attitudes in succession.“ (241). Vgl. weiter B URTON (1980) für den Chor bei Sophokles, dem er gerade nicht „the same consistency or coherence of character as we expect from an individual“ attestiert; damit gebe es auch „different and sometimes conflicting reactions being presented in the same play or the same ode“ (3). Der Grund sei eine „group personality“ (ebd.), der Chor habe also eine kollektive Identität. Zum Gruppencharakter des tragischen Chores, dessen Homogenität sich aus der kulturellen Tradition des frühgriechischen Chores herleitet (wozu unten S.29f.), sh. auch H OSE (1990) 16. <?page no="24"?> Der Chor des Aischylos in der Forschung 10 4. Der Status quo der jüngeren, werkästhetisch vorgehenden Forschung Gleich als schlösse sich ein forschungsgeschichtlicher Kreis, wenn man gegenüber den vorgetragenen vereinseitigten Positionen nach zusammenfassenden Definitionen sucht, die sich grundsätzlich über den Chor bei Aischylos treffen lassen: Der Status quo auch der jüngeren Forschung geht, wie schon K RANZ , von einer Doppelfunktion aus, die teils als eine Art pal…ntonoj ¡rmon…a , teils aber auch als von notwendig inhärenten Widersprüchen durchsetzt gesehen wird. Am klarsten hat dies bereits M ÜLLER (1967) formuliert, der dem aischyleischen Chor einen „folgerichtige[n] Charakter“ zuweist und doch zugleich die Fähigkeit, „die theologische Sinndeutung dieses Geschehens vorzutragen, eine Sinndeutung, die diejenige des Dichters ist.“ (218). In dieselbe Richtung einer Doppelrolle geht P AULSEN (1998): „Aischylos legt großen Wert auf eine stimmige Charakterisierung des Chores. Er ist bei ihm ein Mitspieler, der nicht aus seiner Rolle zu fallen pflegt. Darüber hinaus kann er allerdings ohne weiteres Sprachrohr des Dichters sein. Beide Funktionen schließen sich bei diesem Dichter nicht aus, sondern ergänzen einander sinnvoll.“ (77). Ähnlich L OSSAU (1998): „Die ‚Einheit der Person’ ist durch das zwiefache Engagement im Geschehen [gemeint ist die theologische Sinndeutung der Chöre in den beiden Tragödien Perser und Agamemnon] nicht bedroht, vielmehr unter eine besondere Spannung gesetzt.“ (149). Hier wird also jeweils ein weitgehend widerspruchsfreies Gesamtbild konstruiert, doch sind die Urteile zu pauschal und nicht auf Einzelinterpretationen zu a l l e n Tragödien gestützt. Demgegenüber versucht C OURT (1994) in detaillierten Untersuchungen über Die dramatische Technik des Aischylos nachzuweisen, dass in der Charakterzeichnung und Verwendung der Chöre (wie auch in der Handlungsführung eines jeden Stücks) eine Fülle von Widersprüchen zu finden sei, die darin begründet lägen, dass es Aischylos lediglich auf den Effekt der jeweiligen Einzelszene angekommen sei (bes. 9-18 und 312f.); so könne Aischylos den Chor einmal als Sprachrohr und dann wieder unvermittelt als dramatis persona verwenden. C OURT s Arbeit ist eine direkte Fortsetzung der Sophokles-Monographie von Tycho von W ILAMOWITZ -M OELLENDORFF (Die dramatische Technik des Sophokles, 1917) und darüber hinaus wesentlich beeinflusst von dem Aufsatz von D AWE über Inconsistency of plot and character in Aeschylus (1963, deutsch 1974). Diese Perspektive auf Aischylos (und Sophokles) bestätigt letztlich, ohne es explizit zu offenbaren, die von der am Ãqoj des Chores interessierten älteren Forschung schon zum Teil ausgemachten Unebenheiten und führt zu der richtigen Einsicht, dass für den Chor die naturalistisch-neuzeitlichen Deutungskategorien ‚Einheit der Person’ und ‚Psychologie’ weitgehend fehl am Platze sind. Aber abgesehen von einer Vielzahl eher verquerer Textinterpretationen, auf die wir in unseren Einzelanalysen eingehen werden, bleibt C OURT durchgehend die Antwort schuldig, inwieweit Widersprüche beim Chor wirklich eine Voraussetzung sein sollen für den Effekt der jeweiligen Szene, oder worin dieser Effekt überhaupt besteht. Und es befremdet, einerseits von Effekten zu sprechen, andererseits aber den Zuschauer weitestgehend auszublenden. - Gut und abschließend hat das Dilemma der am Charakter des Chores orientierten Forschung K ITZINGER (2008) formuliert: „ … either one has to abandon consistency of character or one has to force the language of the odes to express a point of view with what the character ‚ought’ to be saying.“ (62f. Anm.96). <?page no="25"?> Der Status quo der werkästhetischen Forschung 11 Wie bei C OURT der Chor als Instrument im Mittelpunkt steht - die dritte der von K RANZ ausgemachten Naturen -, so ähnlich auch bei K ÄPPEL (1999), der in werkästhetischer Methode für jeden der Chöre der Orestie eine eigene Funktion sieht: Im Agamemnon sei der Chor „epischer Erzähler“, in den Choephoren „lyrisches Ich“, und in den Eumeniden „Handlungsbeteiligter“ - eine etwas zu grobe Schematisierung, die von Einzelbeispielen auf ein Ganzes schließen will: Auch der Chor des Agamemnon könnte, etwa im III. Stasimon, als lyrisches Ich (wie ‚epischer Erzähler’ ein aus der Germanistik übernommener Terminus, welcher zu hinterfragen wäre) definiert werden, und „Handlungsbeteiligter“ ist doch jeder der drei Chöre. Für die Untersuchung allein der Handlungsbeteiligung sowie der Figurenkonstellation in nun rein werkästhetischer, auf die dramatische Technik konzentrierter Perspektive ist hier auch der Beitrag von S TOESSL (1984/ 85) zu nennen, der sich auf die Hiketiden, den Prometheus und die Perser beschränkt, welche als die drei frühesten Stücke angesehen werden. Für den Agamemnon schließlich nehmen B OLLACK / J UDET DE LA C OMBE in ihrem monumentalen Kommentarwerk (1981/ 82) und (2001) wie schon R ODE (1965) eine bewusste Abspaltung der Parodos und der Chorlieder von der Handlung vor - durchaus noch werkästhetisch, aber nun mit ganz anderer Zielsetzung: Hier ist der Chor die Verkörperung der Tragödie selbst, ohne noch Person zu sein oder eine theologische Wahrheit zu verkünden. 5. Die ‚performative Wende’: Chor und Ritual Nahezu alle der bislang vorgestellten Forschungsbeiträge zum Chor bei Aischylos nehmen eine produktions- und besonders werkästhetische Perspektive auf die Tragödien als schriftliche Texte ein. Die Doppel- oder Dreinatur des Chores kommt dann zum Vorschein, wenn entsprechende interpretatorische Leitlinien angewendet werden, die sich letztlich vom Literaturverständnis des 19. Jahrhunderts und vom Einheitspostulat der neuzeitlichen, auf Aristoteles fußenden Poetik herleiten. Diese Herangehensweise muss sich den Vorwurf einer methodischen Schwäche gefallen lassen, da hiermit zum einen die Sachlage verkompliziert zu werden droht, zum anderen die Besonderheit des Genos unzureichend berücksichtigt wird: Zunächst einmal handelt es sich bei der Griechischen Tragödie des 5. Jahrhunderts um eine dichterische Form, die ihre vitale Existenz in einer Aufführung im Dionysostheater der Polis Athen vor einem Publikum als Adressaten hat. 11 Es ist das Verdienst der ‚performativen Wende’ (performative turn), im Rahmen einer umfassenden Kulturanthropologie der Antike die auf Mündlichkeit beruhenden Dichtungsformen, zumal das Griechische Drama, einer Rekontextualisierung zuzuführen. 12 Vor allem im angelsächsischen Raum wird die soziokulturelle Einbettung der Theateraufführung intensiv unter- 11 Selbst der Beginn einer Lese- und Buchkultur, die die Möglichkeit der Lektüre von Tragödien erschloss, etwa seit dem Ende des 5. Jahrhunderts, führt nicht dazu, dass der Tragödiendichter nun mit Blick auf ein Lesepublikum dichtete oder gar ‚schrieb’ - nach wie vor war die Bühne der primäre Bezugspunkt (so T APLIN (1977) 13 und 15). 12 Für einen Überblick über die Kulturanthropologie in der Klassischen Philologie und zur Begrifflichkeit vgl. S CHLESIER (2000), bes. 1135-40. <?page no="26"?> Der Chor des Aischylos in der Forschung 12 sucht. 13 Dem zur Seite gesellt sich eine Forschungsrichtung, die den Chor und dessen rituellen Charakter als das zentrale Phänomen einer panhellenischen song-and-dance culture sozusagen erst entdeckt hat. 14 Damit können in einem weiteren Schritt die Interdependenzen zwischen der Chorlyrik und dem Chor in Tragödie und Komödie beleuchtet werden: Alle diese Genera sind Gegenstand einer öffentlichen performance, bedienen sich für den Chor einer spezifischen Verbindung der Medien Tanz und Gesang und vollziehen, so die weitere Annahme dieser Forschungsrichtung, in der Aufführung durchweg Rituale. 15 Sicherlich steckt die lyrische Expressivität des Chores einen weitgehend autonomen, in der Orchestra situierten Spielraum ab, der sich zudem durch den dorischen Dialekt spezifiziert, wohingegen der iambische Trimeter die Sprechszenen als Handlungsort der Einzelfiguren definiert. Aufgrund dieser natürlich auch gattungsgenetisch zu erklärenden Bereichsdifferenzierung lässt es sich rechtfertigen, Ritual und Performativität des Chores im Drama eigens zu untersuchen, in das - zumal bei Aischylos - eine Vielzahl chorischer Ritualformen wie Gebet, Klage, Supplikation Einzug gefunden hat. 16 Jedoch besteht bei aller Innovativität dieses Forschungszweiges die Gefahr, dass nun die Untersuchung des ‚Chorischen’ (mit welchem Begriff sich alle spezifischen Merkmale des Chores wie Tanz, Gesang, Performativität, Ri- 13 T APLIN (1978), W INKLER / Z EITLIN (1990), R EHM (1992), S OMMERSTEIN (1993), E DMUNDS / W ALLACE (1997), G OLDHILL / O SBORNE (1999), W ILES (2000), L EY (2007). Diese Sammelbände und Arbeiten, zu denen auch M EIER (1988) zu rechnen ist, bauen auf den wertvollen faktenorientierten Grundlagenwerken zu Organisation und Aufführungspraxis auf, wie sie unter anderen P ICKARD -C AMBRIDGE (1968), M ELCHINGER (1979/ 80), K INDERMANN (1979) und B LUME (1984) vorgelegt haben. 14 Nach der grundlegenden Monographie von C ALAME (1977, Neuauflage 1997), die am Beispiel von Alkman die Morphologie von Jungfrauenchören beschreibt und deren soziale Bedeutung (es handele sich überwiegend um Initiationsriten) expliziert, ist jetzt K OWALZIG (2007) als Standardwerk anzusehen. Von einigem Wert ist auch die neuere Darstellung von L EY (2007) 114-99; für die frühere Forschung repräsentativ ist die grundständige Sammlung und Interpretation der erhaltenen Zeugnisse, einschließlich der Chöre im Drama, von W EBSTER (1970). Für die mousik» im klassischen Athen sh. den Sammelband M URRAY / W ILSON (2004); für eine poetologische Herangehensweise an den griechischen Chor sh. D AVID (2006). - Der Terminus song-and-dance culture („Kultur des Singens und Tanzens“, so überträgt H ENRICHS (1996) 17), wurde offenbar von H ERINGTON (1985) 3 (Kapitelüberschrift: The song culture) geprägt und ist mittlerweile zu einem Fachterminus der Gräzistik geworden. Vgl. die nähere Aufgliederung dieses Kulturbegriffs in eine „musische“, „orale“ und „festliche“ Kultur der frühen Griechen bei K ANNICHT (1989) 30f. 15 Nur die wesentlichen Beiträge seien hier genannt: Für Tragödie und Komödie B IERL (1991) und (2001), wo insbesondere auch das Konzept des Metatheaters erstellt wird, das heißt der spielimmanenten Selbstreflexion des Theaters (dort 22-30 auch zum Terminus performance); für Chorkultur und Tragödie H ENRICHS (1994/ 95) und C ALAME (1999) sowie das Themenheft der Zeitschrift Arion 3.1 (1994/ 95) über The Chorus in Greek Tragedy and Culture. 16 Was allerdings von der älteren Forschung keineswegs unbemerkt geblieben ist; vgl. für Aischylos etwa K RANZ (1933), H ÖLZLE (1934), F AUTH (1953). <?page no="27"?> Die ‚performative Wende’: Chor und Ritual 13 tual, Spiel et cetera beschreiben lassen) zum Selbstzweck wird, und dass die Verbindung zur tragischen H a n d l u n g und zu den von dieser betroffenen Einzelfiguren gekappt wird. Mag auch das Einheitspostulat der neuzeitlicharistotelischen Poetik der Handlung einer aischyleischen Tragödie ein zu enges Korsett anlegen, so ist doch keinesfalls die Existenz eines sinnvoll durchkonstruierten Plots zu verneinen und die Tragödienaufführung auf eine Abfolge ritueller Darbietungen oder Szenenfolgen zu reduzieren. Und trotz der richtigen Verortung des Chores in der Lebenswelt des Rezipienten lässt die performance-Forschung bei der Textinterpretation bisweilen doch auch wieder die Berücksichtigung der Wirkung auf den Zuschauer, für den die performance erfolgt, vermissen. Es ist eine Sache, den Chor der Tragödie im neuen Licht von Ritual und Performativität für sich zu betrachten (und damit letztlich doch wieder werkästhetisch vorzugehen), und eine andere, von dieser lohnenden Perspektive ausgehend einen weiteren Blick auf den Rezipienten als Adressaten der auf der Bühne dargestellten tragischen Handlung zu richten (welche nicht generell ‚Ritual’ ist). Mit einer solchen Perspektiverweiterung hin auf den Zuschauer ist aber nach der Rekontextualisierung des Phänomens Chor durch die Ritual- und Performanzforschung ein wesentlicher Erkenntnisfortschritt zu erwarten. Aber auch nach der ‚performativen Wende’ kommt die Dramenforschung kaum umhin, in der Gesamtschau auf das äußere Erscheinungsbild des Chores weiterhin eine Doppelrolle anzunehmen. Diese setze sich nun allerdings zusammen aus einer g e n e r e ll e n Verfasstheit als rituell-performativer Chor der song-and-dance culture und einer s p e z i e ll e r e n , nämlich der jeweiligen fiktionalen Rollenidentität der Personengruppe. Diese ‚neue’ Doppelrolle beinhalte aber jetzt weder eine Funktionsaufspaltung noch interne Widersprüche (in der Tat behält ja der Chor seine eine Maske durchgehend auf), sondern stelle ein von Flexibilität und Offenheit geprägtes Modell des Chores dar: „[D]er dramatische Chor kann aus dem inneren Plot heraus auf die äußere Kommunikationsebene übergreifen, ohne die Dimension des Fiktionalen ganz aufzugeben. Umgekehrt ist er auch im Sujet nie vollkommen als Mitspieler verankert, weil er aufgrund der Theatergenese immer die rituelle, lebensweltliche Dimension mitführt. Der dramatische Chor ist also ein Träger mehrerer nebeneinander angelegter Stimmen oder Aspekte, zwischen denen er frei zu oszillieren vermag.“, so B IERL (2001) 19. Dieses Konstrukt beruht auf der grundlegenden Annahme der Literaturwissenschaft, dass es in jedem Drama (auch dem neuzeitlichen) zwei Kommunikationssysteme gibt (vgl. P FISTER (2001) 20-22): Ein inneres, in dem die Einzelfiguren untereinander und auch mit dem Chor kommunizieren, und ein äußeres, das den Zuschauer als Empfänger aller Äußerungen der Figuren zum Ziel hat. Im antiken Drama nun besetzt der Chor in spezifischer und singulärer Weise dieses äußere Kommunikationssystem, wenn er sich alleine in der Orchestra befindet und n u r für den Zuschauer singt (auch ohne dies, wie in der Parabase der Komödie, explizit deutlich zu machen). Mit der Konstruktion eines Empfänger-Sender-Modells für den Chor, der aufgrund seiner Zwischenstellung sozusagen frei hin- und herschalten kann, kommt man dessen Doppelrolle als eines Handlungsbeteiligten und Sinndeuters besser entgegen als mit <?page no="28"?> Der Chor des Aischylos in der Forschung 14 der Theorie einer strikten und gegebenenfalls widersprüchlichen Entgegensetzung dieser beiden Funktionen. Dieses Modell bietet sich auch insofern an, als eine klare Zuordnung der Chorauftritte zu zwei sauber trennbaren Bereichen ‚Handlung’ und ‚Chorlied’ oft nicht so recht möglich ist: Zum einen existieren astrophische Chorlieder (Parodos Septem, Epiparodos Eumeniden, Suchszene Hiketiden 825-35), die mimetisch eine Handlung umsetzen (vgl. R ODE (1965) 34-41), zum anderen finden sich inmitten der eigentlichen Bühnenhandlung sogenannte infraepisodische Chorlieder (so das Gebet Cho. 152-63, mit dem das II. Stasimon der Perser, die parallel zum Opfer Atossas vorgenommene Beschwörung des Dareios, vergleichbar ist; vgl. C ENTANNI (1991) 21-31). Mit einer Art two-voices-Theorie versucht schon R OSENMEYER (1982) 145-87, gefolgt von C ONACHER (1996) 150-76, den Chor bei Aischylos zu erklären: Einerseits äußere er als Vertreter der Gemeinschaft allgemeine, konventionelle und für jedermann akzeptable Gedanken (was alle Chöre bei Aischylos verbinde), andererseits besitze der Chor eine mehr oder weniger fest gezeichnete Identität als involvierte Personengruppe, als welche er auch spezifischere, rollenbestimmte Äußerungen von sich geben könne. Hierbei wird aber von beiden keine streng werkästhetische Methode verfolgt, derzufolge der Chor aus seiner - von vielen Exponenten der Forschung angenommenen - Rolle fallen könne, sondern es sind rezeptionsästhetische Gesichtspunkte wichtig; bei R OSENMEYER , einer unseres Erachtens avancierten und zugleich ausgewogenen Darstellung des Chores bei Aischylos, wird schon einige Jahre vor der Theoriebildung des performative turn auf die rituelle Dimension geachtet. Der Chor reflektiert ja nicht einfach, welchen Eindruck die Sprachrohr-Theorie erzeugt, sondern er klagt, betet, dankt, verflucht; zugleich kann er erzählen, Gnomen äußern, den Zuschauer informieren und natürlich im engeren Sinne ‚mitspielen’. Die Möglichkeiten des aischyleischen Chores, nicht nur zu reflektieren oder zu informieren, sondern auch Elemente des religiösen Kultus aufzunehmen und zugleich mitzuspielen, stehen dann nicht im Widerspruch zueinander, sondern sie machen, so könnte man R OSENMEYER s Gesamtschau zusammenfassen, den Chor zu einem höchst flexiblen, differenzierten Instrumentarium für die Rezeption der Tragödie, die in der Lebenswelt des Zuschauers verortet ist. 6. Das Erfordernis einer methodischen Neuorientierung Das Fazit nach diesem Forschungsüberblick über den Chor bei Aischylos muss zwiespältig und unbefriedigend ausfallen. Eine Monographie, die den Chor in allen Tragödien des Aischylos ausführlich untersucht und dabei keine problematische oder verengende Perspektive einnimmt - etwa durch Beschränkung auf das Ãqoj des Chores, auf die Chorlieder, auf das Chorische (Ritual und Performativität), oder auf nur eine einzelne Tragödie -, steht aus. 17 Diese Tatsache wiegt um so schwerer, als für Sophokles und Euripides, auch für Aristophanes und Seneca, ja selbst für den Chor im 17 Bei den angeführten Forschungsbeiträgen fällt zudem eine Konzentration auf den Chor des Agamemnon auf, der offensichtlich ein großes, zugleich aber nicht leicht entschlüsselbares Sinnpotential für das Verständnis dieser Tragödie bereitstellt. <?page no="29"?> Neuorientierung 15 Neulateinischen Drama schon umfassende Gesamtdarstellungen vorliegen. 18 Entspringt dieses Defizit vielleicht einem Unbehagen darüber, dass die 18 Konsequent der Charakterdeutung des sophokleischen Chores verpflichtet ist G ARDI - NER (1987), die Character and Function (Untertitel) untersucht und dabei starkes Gewicht auf die individuelle Gestaltung der einzelnen Chöre legt, die so in konsequenter Psychologisierung zu jeweils eigentümlichen Einzelgestalten werden und dann wieder in übergeordnete, gender-spezifische Kategorien wie Men at War etc. zusammengefasst werden (für die Kernthese sh. bes. 5 und 177f.). Bei G ARDINER wird der Chor des Sophokles zwar als ein eigenständiges Phänomen untersucht, ohne dass aber je der Versuch unternommen würde, seine Aussagen für eine Interpretation der tragischen Handlung heranzuziehen. Die zweite, frühere Monographie zum Chor bei Sophokles von B URTON (1980) mit dem schlichten Titel The Chorus in Sophocles’ Tragedies geht nach Art eines Kommentares als Lesehilfe vor und achtet insbesondere auf formale Beziehungen wie Metrik, Aufbau, Stil und Motivik in den Chorpartien, aber auch auf die Relevanz chorischer Äußerungen für das Sinnganze der Tragödie. Die maschinenschriftliche Frankfurter Dissertation Studien zum sophokleischen Chor von B ECKER (1950) geht aus von der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung der bis dato vorliegenden Forschung - die deutschsprachige stelle „die objektive Seite der Lieder in den Vordergrund“, während die englischsprachige „den Ton auf die subjektive“ Seite lege (45) - und kommt zu dem Schluss: „Erst bei Sophokles wird der Chor zum Sonderteil des Dramas, und er wird damit zugleich zum Problem.“ (52). Allerdings behandelt B ECKER hierbei nur den Aias und den Oidipus Tyrannos; für Studien zu einzelnen Stücken sh. auch P AULSEN (1989), rein der dramatis-persona-Theorie verpflichtet, und, mit Schwerpunkt auf Gesang und Tanz des Chores in Ant. und Phil., K ITZINGER (2008). Mit der Sprachrohr- These für alle Stücke des Sophokles operiert die Tübinger Dissertation von U HSADEL (1969) Der Chor als Gestalt, wo der sophokleische Chor „integrante[r] Teil der Tragödie“ ist, eine „Gestalt, die leistet, was keine andere vermag“, da der Chor „den Leidenden fragend auf seinen Daimon führt“ (26). Auf die innovativen Überlegungen von B UDELMANN (2000) 195-272 zum Chor bei Sophokles wird später einzugehen sein (sh. S.93f.). Für Euripides hat H OSE (1990/ 91) eine umfangreiche zweibändige Monographie Studien zum Chor bei Euripides vorgelegt. Um „beide Stränge“ (13) der vorherigen Forschung (nämlich einmal zum Chorlied, gewissermaßen als Sprachrohr, sowie zum euripideischen Chor als dramatis persona) wieder zusammenzuführen und die „chorische Technik“ (15) des Euripides zu untersuchen, wird eine detaillierte Typologie und Kategorisierung nach verschiedenen Gesichtspunkten vorgenommen (der Chor im Eingang, in der Handlung, das Chorlied, Chortragödien). Die Berücksichtigung rezeptionsästhetischer Aspekte macht die Arbeit von H OSE auch für unsere im Folgenden zu leistende methodische Grundlegung wertvoll. Der Chor bei Aristophanes hat in zwei Studien Beachtung gefunden, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Z IMMERMANN (1984/ 85/ 87) untersucht Form und dramatische Technik in ausführlichen, vor allem auch metrischen Einzeluntersuchungen aller Komödien; B IERL (2001) bietet einen Forschungsansatz, der Ritual und Performativität des komischen Chores allgemein diskutiert und beides dann am Beispiel einer Komödie, den Thesmophoriazusen, untersucht. Für Seneca vgl. M ARX (1932) über Funktion und Form der Chorlieder sowie G IL (1979) über die Philosophie Senecas in den Liedern; Formen und Funktionen des Chores im Neulateinischen Drama stellt umfassend und systematisch J ANNING (2005) dar. Hingewiesen sei noch auf die Themenhefte zweier Zeitschriftreihen: Arion (3.1, 1994/ 95) über The Chorus in Greek Tragedy and Culture und Dioniso (55, 1984/ 85) über Il coro della tragedia greca: struttura e funzione; sowie auf den Kongressband Der Chor im antiken und modernen Drama (= R IEMER / Z IMMERMANN (1999)). <?page no="30"?> Der Chor des Aischylos in der Forschung 16 Doppelrolle des Chores bei Aischylos mit ihren scheinbar notwendigen inneren Widersprüchen doch kein wirklich befriedigendes Fazit darstellt? Mit dem zuletzt erwähnten flexiblen Oszillationsmodell für den Chor des Griechischen Dramas könnte man natürlich versuchen, sich auch dem Chor in den Tragödien des Aischylos zu nähern, um beispielsweise mehrere Stimmen dieses Chores aus dem Text herauszufiltern. Dies freilich ist eine Herangehensweise, die primär immer noch nach dem ä u ß e r e n E r s c h e i n u n g s b il d des Chores fragt (was sicher seine eigene Berechtigung hat). Wir meinen nun jedoch, dass es für eine Gesamtdarstellung des Chores bei Aischylos notwendig ist, nicht nur dessen äußeres Erscheinungsbild in einem Modell zu beschreiben, sondern den Chor noch in einer anderen Weise zu rekontextualisieren, als dies die Performanzforschung schon unternommen hat: Welche Bedeutung hat der Chor bei Aischylos eigentlich für den Z u s c h a u e r und für dessen R e z e p t i o n s h a l t u n g beim Verstehen der tragischen Handlung? Methodisch bewegt man sich hier im Bereich der Rezeptionsästhetik, die ja wissenschaftsgeschichtlich die Ausgangsbasis für die erwähnten innovativen Ansätze aus dem Bereich der Kommunikationstheorie und Performanzforschung ist. Doch sei nun zunächst zu den Grundlagen der Rezeptionsästhetik zurückgegangen. Es soll also im Folgenden ein Modell konstruiert werden, das die Voraussetzungen rekapituliert, wie und unter welchen Voraussetzungen der Zuschauer im frühen 5. Jahrhundert den Chor bei Aischylos wahrgenommen haben kann. Wir wollen also einen rezeptionsästhetischen Ansatz anfangs theoretisch fundieren, an die Besonderheiten der Gattung Griechische Tragödie anpassen und dann einer Konkretisierung zuführen. <?page no="31"?> 17 II. Die rezeptionsästhetische Methode: Affekt und Reaktion des Chores als Interpretationsparadigma 1. Möglichkeiten eines rezeptionsästhetischen Ansatzes für die Interpretation des Chores bei Aischylos 1.1 ‚Konstanzer Schule’ und ‚Reader-Response-Criticism’ in der Neuphilologie Die Rezeptionsforschung wurde als literaturtheoretische Richtung in den Siebziger Jahren von der sogenannten ‚Konstanzer Schule’ entwickelt. Die von den Neuphilologen Wolfgang I SER , Hans Robert J AUß , Harald W EINRICH und Rainer W ARNING programmatisch verkündeten Theorien, die ihrerseits auf Vorüberlegungen von Hans-Georg G ADAMER zurückgehen, wurden alsbald auf die Interpretation literarischer Werke der Neuzeit appliziert. 19 Der neue rezeptionsästhetische Ansatz verstand sich zum einen als Gegenbewegung zur werkimmanenten Interpretation, die nach 1945 in der Nachfolge der Geistesgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts praktiziert wurde und den Kommunikationsaspekt von Literatur vernachlässigte. Etwa zeitgleich begann sich in den USA der Reader-Response-Criticism zunächst relativ unabhängig zu entwickeln, der die vom gleichfalls werkimmanent vorgehenden New Criticism verurteilte affective fallacy (die psychologische Wirkung des Textes auf den Leser und Interpreten) zu rehabilitieren und so das hermetische close reading abzulösen versuchte. 20 Die Rezeptionsästhetik setzte sich zum anderen dezidiert von der autorzentrierten‚ produktionsästhetischen Analyse ab, die seit Beginn der institutionalisierten literaturwissenschaftlichen Forschung im 19. Jahrhundert der dominierende Ansatz zur Erklärung literarischer Werke war: Anstelle des 19 Die entsprechenden grundlegenden Titel seien hier mit ihrem Ersterscheinungsjahr vollständig genannt: G ADAMER , H.-G.: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960; I SER , W.: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972; ders.: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976; J AUß , H.R.: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/ Main 1970; ders.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Bd. 1, München 1977; W ARNING , R. (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975; W EINRICH , H.: Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft, Stuttgart 1971. Vgl. auch G RIMM , G.: Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie. Mit Analysen und Bibliographie, München 1977. 20 Zum Reader-Response-Criticism, der letztlich auf die Rhetoriktheorie zurückgeht (vgl. etwa W.C. B OOTH : The Rhetoric of Fiction, zuerst Chicago 1961) sh. die allgemeinliteraturwissenschaftlich orientierten Sammelbände: J.P. T OMPKINS : Response Criticism. From Formalism to Post-Structuralism, Baltimore 1980; und: S ULEIMAN , S.R. / C ROSMAN , I.: The Reader in the Text. Essays on Audience and Interpretation, Princeton 1980. <?page no="32"?> Die rezeptionsästhetische Methode 18 schöpferischen, genialen Autors sollte nun der Rezipient (in der Regel der Leser) eines literarischen (in der Regel als Text niedergeschriebenen) Werkes sowie das jeweilige gesellschaftliche und geschichtliche Umfeld im Mittelpunkt literaturwissenschaftlicher Forschung stehen. Eines der neuesten neuphilologischen Arbeitsbücher zur ‚Rezeptionstheorie’ liefert folgende Definition: „Der rezeptionsästhetische Ansatz untersucht die Beziehungen zwischen Text, Leser und Wirklichkeit. Er untersucht es vor allem daraufhin, wer einen Text verstehen kann (Bedingungen), warum er ihn lesen will (Interesse, Nutzen und Bedürfnisse) und wie dieses Verstehen abläuft (Leseakt, Rezipientenleistung). Er betrachtet damit die komplexen Bedingungen des Zustandekommens und Funktionierens der Text- Leser-Wirklichkeit-Beziehung. Wie der produktionsästhetische Ansatz fasst auch die Rezeptionstheorie den Text als Bestandteil des Kommunikationsprozesses auf. Der Fokus auf die Leserposition innerhalb dieses Prozesses zeigt den Text vorwiegend als System einer wirkungsorientierten Strategie.“ 21 Termini wie ‚Erwartungshorizont’, ‚impliziter Leser’, ‚Appellstruktur der Texte’, ‚Text- und Leserseite’ und ‚Sinn-Konstitution im Lesevorgang’ sind längst philologisches Gemeingut geworden; eine detaillierte Darstellung dieser Konkretisationen der Rezeptionstheorie erübrigt sich hier. Stattdessen soll im Folgenden gefragt werden, wie die Klassische Philologie in Theorie und Praxis auf die neue Methode reagiert hat und wo deren Chancen liegen, wenn sie auf die Interpretation der Griechischen Tragödie und des Chores angewendet wird. 1.2 Rezeptionsästhetik und Klassische Philologie: Defizite und Chancen Wenn die Rezeptionsästhetik den Text „als System einer wirkungsorientierten Strategie“ analysiert und damit einen expliziten Paradigmenwechsel gegenüber der werk- und produktionsästhetischen Interpretation vornehmen will, so bewegt sie sich freilich in Bahnen, die bereits die antike Dichtungstheorie betreten hat. Die theoretischen Äußerungen von Gorgias, Platon, Aristoteles, Ps.-Longin und Horaz zur Wirkung des gesprochenen und geschriebenen Wortes sind, in jeweils höherem oder geringerem Maße, prinzipiell rezeptionsästhetisch angelegt: In der Antike war der Blick auf das Publikum - das der ‚Schönen Literatur’ nicht weniger als das der ‚Gebrauchsformen’ wie der praktischen Rhetorik und der Geschichtsschreibung - ein selbstverständliches Ingrediens von Poesie und Prosa und der entsprechenden theoretischen Reflexion. 22 Wenn es sich dabei zum Teil um 21 S IMON (2003) 42. 22 Man denke etwa auch an die programmatischen Äußerungen von Herodot (1,1) und Thukydides (1,22,4), die die intendierte Wirkung der Geschichtsdarstellung auf den Rezipienten darlegen. Für die narrative, schon primär auf lesende Rezipienten abgestimmte Literatur sh. beispielsweise gleich den Beginn von Apuleius’ Metamorphosen (1,1): lector intende, laetaberis. Vgl. außerdem allgemein Ter.Maur. de syll. 1286: pro captu <?page no="33"?> Möglichkeiten eines rezeptionsästhetischen Ansatzes 19 Überlegungen handelt, die man zunächst dem Bereich der Rhetorik zuordnen möchte, so trifft sich dieser Umstand exakt mit dem Interesse, das die neuphilologische, von der Rezeptionsästhetik beeinflusste Forschung nunmehr literarischen Formen entgegenbringt, die stark zweckorientiert sind und lange Zeit vernachlässigt wurden. 23 Der rezeptionsästhetische Grundzug in den Überlegungen der erwähnten antiken Theoretiker ist natürlich in enger Verbindung mit der spezifischen Qualität der entsprechenden, reflektierten dichterischen Formen zu sehen, die, wie etwa das Homerische Epos, die Chorlyrik und das Drama (Tragödie und Komödie), erst in ihrem Publikumsbezug die vom Autor intendierte künstlerische Wirkung entfalten. Nur wenn die philologische Interpretation den ‚Sitz im Leben’ dieser primär mündlich, also in einer Aufführung (im weiteren Sinn verstanden) rezipierten Gattungen berücksichtigt und deren gesellschaftliche und kommunikative Bedeutung adäquat situiert, kann sie in der Retrospektive eine angemessene Gesamtdeutung erreichen. Obwohl also viele Erscheinungsformen von antikem sprachlichen Kunstschaffen (um den mit Schriftlichkeit konnotierten Begriff ‚Literatur’ zu vermeiden) schon allein durch ihre Qualität und auch durch die von ihnen ausgehenden Reflexe auf antike Dichtungstheorien geradezu prädestiniert sind für eine rezeptionsästhetische Ausdeutung, hat sich die Klassische Philologie auch hier lange Zeit von der Produktions- und Werkästhetik sowie von der Ideen- und Geistesgeschichte leiten lassen; diese Richtungen im Gefolge des Autonomie- und Geniekultes des 18. und 19. Jahrhunderts dominierten in der etwa zeitgleich erst als Wissenschaft entstehenden Philologie. 24 Wie im Forschungsüberblick dargelegt, lassen sich auch die letztlich unbefriedigenden Sichtweisen auf den aischyleischen Chor diesen vereinseitigenden Interpretationstendenzen zuordnen. Die deutschsprachige Tragödienforschung hat sich die Angebote der Rezeptionsästhetik, bei der philologischen Einzeluntersuchung einer Tragödie den Blick überhaupt auf den Zuschauer zu richten beziehungsweise dies wirklich in bewusster Selbstreflexion durchzuführen, erst spät und oft nur akzidentiell zunutze gemacht. Im Zuge der ‚performativen Wende’ entwickelte die Forschung, wie schon bemerkt, durchaus ein Interesse an rezeptionsästhetischen Fragestellungen im Dienste textnaher, detaillierter Einzellectoris habent sua fata libelli. Für die frühe und klassische griechische Literatur in dieser Hinsicht sh. den Überblick von K ANNICHT (1980). Für die Tragödie bemerkenswert ist das rezeptionsästhetische Interesse mancher Scholien, vor allem zu Sophokles, hinsichtlich der Wirkung auf einen imaginären Zuschauer: Sh. F UCHS (2000) 177-86 und E ASTERLING (2006), bes. 29f. 23 So konnte etwa die deutschsprachige Lyrik des Barocks und der Aufklärung, lange Zeit als inferior abgewertet, adäquat erst dann gedeutet werden, als man den ‚Sitz im Leben’ und die Bedeutung des Systems der Rhetorik berücksichtigte. 24 Sh. G OLDHILL (1997) 328-31 für einen an Sophokles exemplifizierten wissenschaftsgeschichtlichen Überblick zum „ ‚mainstream’ literary criticism in the Classics“ (328) noch der Sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, worunter insbesondere die Einheitspostulate der Geistesgeschichte und des New Criticism verstanden werden. <?page no="34"?> Die rezeptionsästhetische Methode 20 interpretationen im Bereich des Griechischen Dramas. 25 Vor allem aber für die archaische Lyrik ist eine an Fragen der Mündlichkeit und des Publikumsbezugse ausgerichtete ‚pragmatisch-okkasionelle’ Forschung bereits zu tragfähigen Ergebnissen gelangt, die rezeptionsästhetische Überlegungen zum Drama und somit auch zum Chor wesentlich fundieren können. 26 25 Ausgehend von P FISTER (zuletzt 2001) 79-103 berücksichtigt H OSE (1990/ 91) für den Chor des Euripides grundsätzlich die Rezeptionssteuerung des Zuschauers während des Dramenverlaufs (sh. bes. (1990) 32-37 und 166f.). Analog verfährt D UBISCHAR (2001) bei der Untersuchung der Agonszenen bei Euripides (sh. vor allem die umfangreichen Kapitel 7 Informiertheit des Zuschauers und 8 Steuerung der Rezeptionsperspektive). K ÄPPEL (1998) blickt bei seinem Grundkonzept der expositorischen Informationsvergabe auf den „aufmerksame[n] Zuschauer“ (272). Für die Antigone untersuchen T YRRELL / B ENNETT (1998) die mögliche Rezeption durch den zeitgenössischen Zuschauer und folgen dementsprechend dem linearen „progress“ (XIII) des Stückes ab dem ersten Vers. An Aristophanes’ Rittern hat S CHWINGE (1975) schon früh „eine entschieden rezeptionsästhetische Perspektive“ (183) erprobt und eine mögliche Wirkungsabsicht bezüglich des historischen Rezipienten expliziert. Für die Ästhetik der Alten Komödie insgesamt ist auf M ÖLLENDORFF (1995, mit Forschungsüberblick 9-24), für deren Chor auf B IERL (2001) zu verweisen. Freilich muss erwähnt werden, dass auch in älteren Arbeiten zur Tragödie oft der Zuschauer gewissermaßen selbstverständlich im Hintergrund stand - aber eben nur im Sinne eines sekundären Vorhandenseins. Auch ein grundsätzliches Bewusstsein der Mündlichkeit der frühgriechischen Dichtung und anderer Formen der antiken ‚Literatur’ in früheren Arbeiten soll nicht in Abrede gestellt werden: So wirken die Bemerkungen von H EINZE (1907) über Die gegenwärtigen Aufgaben der römischen Literaturgeschichte wie ein Vorgriff der neueren Diskussion (sh. bes. 174f. zum sozialen Kontext der römischen Literatur und zu deren Nachwirken). Vgl. weiter die Bemerkungen und Nachweise bei L ATACZ (1986) 46-49. Wenn S CHMITZ (2002) jedoch bemerkt, dass in der Klassischen Philologie „eine wirklich konsistente Anwendung von und Auseinandersetzung mit der Rezeptionsästhetik ... sich kaum feststellen“ (110) lasse, so ist ihm durchaus zuzustimmen. Sh. aber zumindest für den amerikanischen Reader-Response- Criticism und dessen Anwendung in der Klassischen Philologie das Themenheft der Zeitschrift Arethusa 19,2 (1986), dessen Titel Audience-Oriented Criticism and the Classics eine für die Antike korrekte Spezifizierung enthält, wo es nicht nur Leser gab. Neben Aufsätzen zum griechischen und römischen Epos und zu Catull findet sich auch ein Beitrag von R ABINOWITZ zu Euripides’ Hippolytos (171-85), der jedoch, unter dem vielsagenden Titel Aphrodite and the audience: Engendering the reader, schon deutlich den gender-Studien zuzurechnen ist - und eben nur den reader sieht. - Bei den bei J ONG / S ULLIVAN (1994) 284f. aufgeführten Titeln zum Reader-Response-Criticism fällt eine starke Konzentration auf das frühgriechische Epos und den römischen Roman auf, ohne dass hier Publikationen zum Griechischen Drama vorhanden wären. - Die Themenhefte der Zeitschrift Der altsprachliche Unterricht 21 (1978), Heft 1 und 23 (1980), Heft 6 zur Rezeptionsforschung, beide herausgegeben von Peter Lebrecht S CHMIDT , befassen sich vorwiegend mit diachroner Rezeptionsg e s c h i c h t e . 26 Hier ist vor allem die Schule von Urbino um G ENTILI zu nennen; für ein Zwischenfazit sh. G ENTILI (1988) und (1990). Als Vorläufer dieser Richtung muss die amerikanische Oral-Poetry-Forschung um Milman P ARRY gesehen werden. - Vgl. für die Lyrikforschung darüber hinaus die Beiträge von R ÖSLER , besonders die bahnbrechende Arbeit zu Alkaios (1980), mit der die „Rezeptionsforschung ... ihren konkreten Einzug auch in die Gräzistik“ (L ATACZ (1982) 337) gehalten haben dürfte (allerdings fällt R ÖSLER in <?page no="35"?> Möglichkeiten eines rezeptionsästhetischen Ansatzes 21 Berücksichtigt man zum einen die Besonderheit der Gattung Tragödie, zum anderen das allgemeine, wissenschaftsgeschichtlich erklärbare Defizit der altphilologischen Forschung, das zudem mit dem deutlich sichtbaren Faktum der Eigentümlichkeit auch dieses Genos in Widerspruch steht, so dürfte sich die Adaption einer rezeptionsästhetischen Methode auf die Interpretation auch des Chores in den Tragödien des Aischylos rechtfertigen. Sinnvoll erscheint es weiterhin, zunächst von dem bereits entwickelten Theoriegebäude der Rezeptionsästhetik auszugehen. Es stellt sich dann jedoch rasch die Frage, ob die von der ‚Konstanzer Schule’ (und dem Reader-Response-Criticism) postulierten Interpretationsmuster unreflektiert auf dichterische Formen der Antike angewendet werden können, handelt es sich dabei doch um Perspektiven, die von Neuphilologen für neuphilologische Literaturformen entwickelt wurden. Insbesondere die Beschränkung auf den L e s e r , also den Rezipienten eines schriftlich fixierten Textes, ist eine etwa für die gräzistische Chorlyrik- und Tragödien- Forschung kaum haltbare Prämisse. Den Besonderheiten archaischer und klassischer Dichtung widerstrebt auch die in der Rezeptionsästhetik große Bedeutung der Fiktionalität als „eine der ersten Rezeptionsvorgaben des literarischen Textes“ 27 . Insofern erscheint eine Anpassung der rezeptionsästhetischen Methode nötig. Einen guten Ausgangspunkt für die Frage, welche Leitlinien und Konzepte die Klassische Philologie einer konkreten, an der Rezeptionsästhetik orientierten Interpretation zugrunde legen kann, bietet zunächst ein 1977 in der Poetica erschienener Aufsatz von Wilfried B ARNER . 28 Die theoretischen Überlegungen seien im Folgenden referiert und im Hinblick auf ihre Adaptionsfähigkeit für die Griechische Tragödie hinterfragt. B ARNER betont die Relevanz der Gesellschaftlichkeit und der Geschichtlichkeit von Literatur überhaupt und definiert, nach einer exemplarischen rezeptionsästhetischen Interpretation der Demodokos-Szene im achten Gesang der Odyssee, diese Methode wie folgt: seiner Interpretation des Chores der Antigone (1983) dann ganz in die Mitspieler-These zurück, während seine Antrittsvorlesung (1980a) funktionsgeschichtlich die Tragödienaufführung innerhalb der Polis betrachtet). Vgl. weiter K RUMMEN (1990) für Pindar (dort 1-30 weitreichende methodische Überlegungen zur Rezeptionsforschung und zu deren Anwendung auf Pindar); B IERL (2003, zu Sappho) und S TEHLE (1997), die speziell am gender-Aspekt frühgriechischer Lyrik interessiert ist. Eine kritische Bilanz der gesamten gräzistischen Lyrik-Forschung hat L ATACZ (1986) gezogen, dem die oft selbstbewusst und provokativ auftretende Rezeptionsästhetik nicht immer innovativ erscheint. - Eine Anwendung der Rezeptionsästhetik auf das Griechische Epigramm hat M EYER (2005) unternommen. 27 S IMON (2003) 43. - Zur Frage der Fiktionalität in der archaischen griechischen Dichtung sh. G ENTILI (1990) 8f. mit weiteren Nachweisen für die geführte Diskussion. 28 Neben diesem oft zitierten Beitrag sind für die theoretische Auseinandersetzung der Klassischen Philologie mit der Rezeptionsästhetik besonders noch L ATACZ (1986) und S CHMIDT (2000) sowie der Überblick bei S CHMITZ (2002) 100-10 zu nennen. <?page no="36"?> Die rezeptionsästhetische Methode 22 „Der sogenannte rezeptionsästhetische ‚Ansatz’ ist, etwas vereinfacht und zugleich prononciert gesprochen, im Kern nichts anderes als ein konsequentes, historischhermeneutisches Ernstnehmen der kommunikativen und lebenspraktischen Modellsituation, wie sie sich am Beispiel des Gesangs des Demodokos darbietet.“ 29 Gegenüber der zitierten Definition von S IMON hat diese, an einem konkreten Beispiel der antiken Dichtung gewonnene Begriffsbestimmung Vorteile: Sie stellt nicht mehr den Rezipienten nur als L e s e r und als I n d i v i d u u m in den Mittelpunkt (beides zumindest nicht zwangsläufig), ebenso wenig das Produkt des Dichters nur als schriftlichen T e x t - Untersuchungsgegenstände, die im Gesamtspektrum der antiken ‚Literatur’ nur mit Einschränkungen und Schwierigkeiten einer Interpretation zugänglich gemacht werden können. Die Betonung der Lebenspraxis und des kommunikativen Aspektes im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Interpretation kommt hingegen dem bereits explizierten Sachstand in der Antike gut entgegen. Danach stellt B ARNER eine Typologie von insgesamt sieben „Untersuchungsfelder[n] und Dokumentenarten aus der antiken Literatur“ auf, von denen, wie noch näher zu sehen sein wird, für eine rezeptionsästhetisch fundierte Betrachtung des Chores in den Tragödien des Aischylos vor allem zwei Bereiche in Frage kommen: Zum einen derjenige der „innertextlichen Rezeptionsvorprägungen“, unmittelbar dem einzelnen Werk zu entnehmender Elemente, „die in herausgehobener Weise die Qualität einer angestrebten Rezeption oder Wirkung benennen, etwa den begleitenden Affekt oder dergleichen“ - rezeptionssteuernder Momente also, aus denen man sogar, ganz in Übereinstimmung mit I SER s Konzept des ‚impliziten Lesers’, Rezipienten-Rollen konstruieren könne. Der zweite Bereich „umfasst alle Zeugnisse für die institutionellen Bedingungen, unter denen Rezeption, Wirkung und Überlieferung literarischer Texte sich im Horizont der Geschichte vollziehen. ... Institution wird hier verstanden als das spezifische, überindividuelle Bedingungsgefüge, auf das hin literarische Werke jeweils schon konzipiert werden [.]“ 30 Die Institution der Tragödienaufführungen in 29 B ARNER (1977) 507. 30 Ebd. 508-13. Die anderen fünf Punkte B ARNER s seien hier kurz genannt und für unser spezielles Thema bewertet: - Äußerungen eines Autors über die von ihm intendierte Rezeption: Von Aischylos sind keine derartigen Zeugnisse erhalten; allerdings fiele in diesen Bereich das der ‚Sprachrohr-Theorie’ zugrunde liegende Konzept der Interpretation der Chorlieder. - Theoretisch-allgemeine Äußerungen besonders von Philosophen: Hier ist an erster Stelle Aristoteles’ Poetik zu nennen, die für die Tragödie insgesamt eine wirkungsästhetische Theorie von beträchtlicher Nachwirkung in der europäischen Geistesgeschichte entwickelt hat, bei der der Chor gleichwohl ins Hintertreffen geriet. Demgegenüber hat Gorgias ein für den Chor bei Aischylos vielversprechendes theoretisches Konstrukt anzubieten, wie zu sehen sein wird (sh. unten S.78-87). - Nichtexplizite Reaktionen: Hier wäre gemäß den Vorgaben B ARNER s etwa das hohe Ansehen des Tragödiendichters Aischylos in und über Athen hinaus zu nennen, das sogar postume Wiederaufführungen nach sich zog. Dies lässt Rückschlüsse zu auf die <?page no="37"?> Möglichkeiten eines rezeptionsästhetischen Ansatzes 23 Athen ist für diesen Bereich, der im Allgemeinen den Sitz im Leben umfasst, natürlich ein vorzüglicher Untersuchungsgegenstand. Wenn sich also die Berücksichtigung dieses äußeren, kulturellen und sozialen Rahmens verbindet mit einer darauf abgestimmten Betrachtung der (möglichen) textinternen Rezeptionsvorprägungen, die der schriftlich überlieferte Tragödientext offensichtlich bietet, so sind von dieser kulturwissenschaftlich flankierten Philologie tragfähige Ergebnisse zu erwarten. Entsprechend betont B ARNER auch das Erfordernis einer Synthese der verschiedenen Möglichkeiten der Rezeptionsforschung selbst, aber auch die Integration herkömmlicher philologischer Untersuchungsgegenstände wie Thematik, Aufbau, Stil und Metrik, um entsprechende interpretatorische Ergebnisse „in einen neuen, spezifischen, historisch-hermeneutischen Horizont“ 31 zu rücken. Eine derartige Synthese und ein methodischer Pluralismus auch unter dem Primat e i n e r bestimmten Methode dürfte jede an neuen literaturtheoretischen Richtungen orientierte Interpretation vor überzogenen Einseitigkeiten bewahren. Als Summe seiner Überlegungen umreißt B ARNER vier Arbeitskonzepte mit der beschriebenen synthetischen Qualität, die die Klassische Philologie einer rezeptionsästhetisch ausgerichteten Forschung zugrunde legen kann: 32 1) Bestimmung der einem Text inhärenten Rezipienten-Rolle(n) 2) Rekonstruktion des Erwartungshorizonts 3) Interpretation der einzelnen Rezeptionen im Sinne eines sich entfaltenden ‚Sinnpotentials’ 4) Reflexion auf die rezeptionelle Vermitteltheit unseres eigenen, heutigen Zugangs zur antiken Literatur Während die beiden ersten Bereiche in einer synchronen Perspektive ihren Fokus auf dem ersten, primären Publikum haben, für das als originären Rezipienten das dichterische Werk gestaltet ist (also etwa für den atheni- Qualität der ästhetischen Erfahrung, die wiederum dem erhaltenen Werk zu entnehmen sein müsste. - Beeinflussung von Werken im innerliterarischen Bereich (Variation, Transformation, Permutation): Dies liegt außerhalb unseres thematischen Skopus und wäre zunächst bei einer Untersuchung der Chöre von Sophokles und Euripides von Interesse, wenn nämlich diese späteren Tragiker etwa bei inhaltlich ähnlichen Tragödien den Chor ganz anders als Aischylos einsetzen. Allerdings behandeln bereits die Perser und die verlorenen Aigyptioi und Danaides des Aischylos Stoffe, die schon Phrynichos für seine Tragödien verwendet hat (Aigyptioi, Danaides, Mil»tou ¤lwsij , Phoinissai). - Explizite Äußerungen über einzelne Werke und Autoren; B ARNER selbst nennt die Aussagen des Aristophanes über Aischylos und Euripides. Es stellt sich hier jedoch die Frage, ob solche in der Regel in mehr oder weniger großem zeitlichen Abstand getroffenen, bewertend-interpretativen Aussagen für eine wissenschaftliche Interpretation des originalen Werkes gewinnbringend herangezogen werden können. Vgl. die hier S.2f. schon besprochenen Äußerungen von S CHLEGEL und S CHILLER zum Chor, die die Grundlage für manche Unklarheiten in der Forschung gelegt haben. 31 B ARNER (1977) 516. 32 Ebd. 516-19. <?page no="38"?> Die rezeptionsästhetische Methode 24 schen Bürger im Dionysos-Theater), liegt der Schwerpunkt der beiden letzten Konzepte in einer diachronen Sichtweise. Um dieser Differenz gerecht zu werden, bietet sich die von Peter Lebrecht S CHMIDT getroffene begriffliche Unterscheidung in „aesthetics of reception“ und „reception history“ an. 33 Die solchermaßen von ‚Rezeptionsgeschichte’ (einem in der Literaturwissenschaft ja seit jeher gängigen Forschungsthema) abgegrenzte ‚Rezeptionsästhetik’ setzt sich als hauptsächlichen Untersuchungsgegenstand traditionell das dichterische Werk, aber eben in Bezug auf den Rezipienten und dessen Wahrnehmung, eben die a‡sqhsij . 34 Offensichtlich ist diese Perspektive einer stark rezipientenorientierten Gattung wie der Tragödie angemessen, auch was die Erklärung ihres distinkten Merkmals ‚Chor’ betrifft. Doch sind im Rahmen einer Darstellung des Chores bei Aischylos Präzisierungen vorzunehmen (ausgehend von B ARNER s ersten beiden Arbeitskonzepten): So muss sich die Bestimmung der dem Text inhärenten Rezipienten-Rolle darauf konzentrieren, was speziell d e r C h o r für diese Rolle leistet. Zunächst könnte man versucht sein, auf die inhärente Rezipienten-Rolle S CHLEGEL s Konzept vom Chor als dem idealisierten Zuschauer, also Rezipienten, anzuwenden. Dem aber widerstrebt die Handlungsbeteiligung des Chores gerade bei Aischylos, die den Chor in keinem Stück allein zu einem Zuschauer werden lässt, sondern ihn immer auch in Kontakt mit den Einzelfiguren bringt. Nur ein passiver Rezipient ist der Chor sicher nicht. Dennoch meinen wir, dass der Dichter dem Chor bestimmte Rezeptionsvorprägungen - B ARNER nennt unter anderem „den begleitenden Affekt oder dergleichen“, was für uns zentral sein wird - beilegt, aus denen sich ‚ablesen’ (durchaus konkret in Bezug auf den überlieferten Text zu verstehen) lässt, wie der Zuschauer den Geschehensablauf aufnehmen soll. Hierbei ist aber nicht auszugehen vom ‚empirischen’, das heißt historischen Rezipienten, dessen konkrete Reaktion in der Aufführung kaum zu bestimmen ist und sich beispielsweise auf die Auswertung schriftlicher Quellen stützen müsste 35 - hierfür bedürfte es einer methodisch wohl nur schwer durchführbaren Differenzierung in verschiedene Zuschauertypen, etwa Männer, Frauen, sozial höher oder niedriger stehende Bürger, Athener, Fremde. 33 „By concentrating on the literary constitution of the text itself, reception theory becomes ‚aesthetics of reception’. Whereas reception history aims at the reader with respect to the work of art, ‚aesthetics of reception’ aims at the work with respect to the reader.“ (S CHMIDT (2000) 99). Der „reader“ ist in dieser Definition ohne weiteres auch der Rezipient von nicht-schriftlich fixierter Dichtung oder Rede. 34 Hierbei könnte mit J AUß (1975) 332 eine nochmalige Unterscheidung in adressatenbedingte (eigentliche) ‚Rezeptionsästhetik’ und textbedingte ‚Wirkungsästhetik’ vorgenommen werden. 35 Vgl. die bei Cicero (Tusc. 4,63) und Diogenes Laertios (2,33) beschriebenen Reaktionen des Sokrates auf den Orestes und die Elektra des Euripides sowie das freundschaftliche Verhältnis beider bei Aelian (var.hist. 2,13). S CHAUER (2002) betont völlig zu Recht die Schwierigkeit, die „konkrete Wirkung ... auf das historische Publikum“ (24) nachzuvollziehen. <?page no="39"?> Möglichkeiten eines rezeptionsästhetischen Ansatzes 25 Stattdessen ist unter dem Terminus ‚Zuschauer’, so wie wir ihn verwenden wollen, immer der i m p li z i t e Rezipient zu verstehen, den die Rezeptionsforschung auch als den ‚idealen’ bezeichnet. 36 Produktionsästhetisch gesehen hat ein Tragödiendichter beim Abfassen des Textes und Einstudieren der Aufführung ja einen solchen impliziten Zuschauer vor Augen und hat eine Art Idealvorstellung von der Aufnahme seines Werkes - dies nicht zuletzt in dem Bestreben, im Agon den ersten Platz zu erringen. Von daher kann auch gefragt werden, warum in einem bestimmten Stadium des Plots nun gerade diese Möglichkeit der inhaltlichen oder dramaturgischen Umsetzung gewählt ist und keine andere. Mit dieser Beachtung der grundsätzlichen Koppelung von Produktion und Rezeption im Akt der Kommunikation verbinden sich auch Fragen nach den Wirkungsabsichten von Aischylos im Sinne eines theologischen und philosophischen Weltbildes sowie - gemäß der von B ARNER geforderten Synthese - solche der Werkästhetik. 37 Die Grundlage bildet jedoch die Frage nach der Wahrnehmung des Chores durch den Zuschauer, nach dessen Sinnkonstituierung und ästhetischen Erfahrung. 38 Hierbei sei auch ausdrücklich betont, dass es nicht darum geht, die Aufführung (performance) als solche nachzuvollziehen, sondern den Text und seine ‚Textur’, in welche der kulturelle Kon-Text als Reflexionsgegenstand eingegangen ist, philologisch zu untersuchen und zu ‚lesen’. 39 36 Zur Unterscheidung von explizitem und implizitem Rezipienten sh. J AUß (1975) 339 und, speziell für dramatische Texte, P FISTER (2001) 21. 37 Vgl. S CHAUER (2002) 24f. und schon N ICOLAI (1972), der es für die Ilias für möglich hält, die vom Autor angestrebte Rezeption aus dem Text zu erschließen, „nämlich aus der Art und Weise, wie der Autor die Rezeption seines Werkes durch die Darstellungsform zu steuern sucht.“ (1). Daraus könnten sich dann Überlegungen zu den historisch begründeten Wirkungsabsichten des Autors ergeben. N ICOLAI unterscheidet indirekte von direkten Rezeptionsvorgaben: Indirekte wie die Handlungsstruktur und die Charakterisierung der Figuren können vom Erzähler und wiederum von seinen Figuren direkt kommentiert werden. Die grundsätzlich betrachtend-reflektierende Haltung des tragischen Chores muss nach dieser Überlegung eine direkte Rezeptionsvorgabe ersten Ranges sein. Zum Wirkungsziel der Orestie sh. auch die so betitelte Studie von N ICOLAI (1988). - Zum Erfordernis einer Synthese verschiedener Zugangsmöglichkeiten vgl. auch L ATACZ (1986) 55, der bei der Lyrikinterpretation nach wie vor die Werkästhetik für unentbehrlich hält. 38 Gemäß der S.18 zitierten neuphilologischen Definition der Rezeptionsästhetik könnte man also sagen, dass bei unserem Thema eine Konzentration auf das ‚Wie? ’ des Verstehens erfolgen soll. 39 Sh. das Kapitel Text und Theater bei G ÖDDE (2000) 75-79, die ihre Interpretation der Hiketiden auf der „immanenten Logik und … stilistischen Verfaßtheit“ (9) des Textes aufbaut und mit einem Konzept der „virtuellen Performanz“ (78) arbeitet, „die der dramatische Text selbst entfaltet, indem er eine imaginäre Topographie entwirft, innerhalb derer die Figuren und ihre Reden zueinander in ein spannungsvolles Verhältnis treten - und dies auch ohne Bühne.“ (ebd.) - Die für die Tragödieninterpretation grundlegende methodische Spannung zwischen Text und performance wird aufgezeigt von W ILES (1987) - der Aufsatztitel Reading Greek Performance ist ebenso provokativ wie paradox - im Zuge einer Besprechung zweier jeweils repräsentativer Monographien, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: T APLIN (1978) - zugleich Verfasser einer <?page no="40"?> Die rezeptionsästhetische Methode 26 Sodann bedarf der Terminus ‚Erwartungshorizont’ einer Adaption: Obwohl dieser Untersuchungsgegenstand nicht nur dem antiken Grundkonzept der imitatio entgegenkommt, sondern insbesondere auch dem wesentlichen Charakteristikum der Gattung Griechische Tragödie, einen bereits bekannten màqoj im Rahmen des tragischen Agons zu variieren und in einen Plot umzusetzen, kann hier nur nach dem Erwartungshorizont des Zuschauers in Bezug auf den Chor gefragt werden. Hierbei verbinden sich kulturgeschichtliche Überlegungen mit Fragen dichterischer Produktion. 40 Die beschriebene Erweiterung der rezeptionsästhetischen Methode setzt an die Stelle eines starren Methodenpurismus einen Pluralismus interpretatorischer Vorgaben. In diesem Sinne sollen je nach Sachlage Anregungen aus weiteren literatur- und kulturwissenschaftlichen Theorien und Modellen bei der Deutung des aischyleischen Chores berücksichtigt werden, wie der Ritualforschung, der Performanz- und Sprechakttheorie sowie der vom Strukturalismus entwickelten Innen-Außen-Polarität. 41 Diese Ansätze, die zum Teil ohnehin genetisch in enger Verbindung zur Rezeptionsästhetik stehen, brauchen nicht vorab eigens vorgestellt zu werden, sondern sollen in einem pragmatischen Sinn in die weitere Darlegung der methodischen Grundlagen eingehen. 1.3 Überblick über das methodische Vorgehen Zunächst soll im Folgenden das Phänomen ‚Chor’ in der archaischen und klassischen Zeit insgesamt in den Blick genommen und als d a s zentrale Moment der griechischen song-and-dance culture begriffen werden. 42 Ohne eine Gesamtdarstellung der äußerst komplexen und schillernden Erscheinung ‚Chor’ zu intendieren, sollen doch einige grundlegende Kennzeichen des frühgriechischen Chores herausgestellt werden, die, so unsere Angrundlegenden Monographie über The stagecraft of Aeschylus (1977) - versus G OLDHILL (1986), mit den programmatischen Titeln Greek Tragedy in Action und Reading Greek Tragedy. G OLDHILL urteilt treffend: „ … performance does not efface the textuality of drama“ (284). 40 Vgl. die Unterscheidung von J AUß (1975) 338 in einen literarischen und einen gesellschaftlichen Erwartungshorizont, die aber eine Verschmelzung eingingen. - Für Pindar sh. in ähnlicher Adaption B ARNER s K RUMMEN (1990) 7f., die für die Epinikien den ‚Erwartungshorizont’ definiert als „den archäologisch-religionsgeschichtlichen Hintergrund.“ 41 Zur Genese und Einordnung dieser Konzeptualisierungen der Kulturanthropologie innerhalb der Klassischen Philologie sh. S CHLESIER (2000). 42 Natürlich gehören auch die monodische Lyrik und weitere Soloformen zu dieser songand-dance culture. Allerdings ist die klassifikatorische Trennung von corJd…a und monJd…a so deutlich, wie sie Plat.Leg. 764 d7-e3 vorgenommen wird, kaum durchzuhalten: Sh. D AVIES (1988). Zitiert wird im Folgenden, soweit nicht jeweils ausdrücklich anders angegeben, der Einheitlichkeit halber nach der als Ganzes noch nicht ersetzten Lyriker-Ausgabe Poetae Melici Graeci (PMG) von P AGE (1962) und nach der Anthologia Lyrica Graeca von D IEHL (1949-1952). <?page no="41"?> Möglichkeiten eines rezeptionsästhetischen Ansatzes 27 nahme, auch für die Wahrnehmung des Chores der Tragödie des Aischylos, des Vaters der Tragödie, durch den Zuschauer ausschlaggebend gewesen sind. Insofern soll hier zunächst, in Abwandlung des rezeptionsästhetischen Terminus ‚Erwartungshorizont’, der wahrscheinliche E r f a h r u n g s h o r i z o n t des Tragödienzuschauers entworfen werden, der immer auch Angehöriger der song-and-dance culture ist. Dabei soll aber weder eine eindimensionale Orientierung an der nur schwer definierbaren Gattung ‚Chorlyrik’ erfolgen noch an Textzeugnissen allein - dies nicht zuletzt wegen der für das Gesamtphänomen Chor letztlich nicht wirklich aussagekräftigen philologischen Überlieferungslage. Wenn hierbei eine Vielzahl heterogener Zeugnisse aus einem großen Zeitraum, zum Teil auch noch nach Aischylos, angeführt wird, so soll bei diesem interpretativen Vorgehen eine Art ä s t h e t i s c h e s G e s a m t s p e k t r u m des kulturellen Phänomens Chor erzeugt werden. Die wesentlichen Bestandteile dieses Spektrums waren, so unsere Hypothese, dem zeitgenössischen Tragödienzuschauer vertraut, freilich überwiegend implizit und unbewusst. Die Beschaffenheit dieser ästhetischen Faktoren muss über die schon vor Homer einsetzende, immens lange kulturelle Tradition des Chores bestimmt werden, als deren morphologische Fortentwicklung die Griechische Tragödie begriffen werden kann, auch im Hinblick auf den Sitz im Leben dieser performativen Formen. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass im Zuge einer innerkulturellen Kontinuität der Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizont des Theaterbesuchers identisch ist mit demjenigen eines ‚typischen’ Rezipienten der frühgriechischen Chorkultur. Für diese Rezipientenrolle existieren also i n n e r k u l t u r e ll e R e z e p t i o n s v o r p r ä g u n g e n . 43 In einem nächsten Schritt sollen, ausgehend von dem gewonnenen Befund über den Chor der song-and-dance culture sowie von den diffizilen Entstehungsfragen des Griechischen Dramas, einige grundsätzliche Fragen zum Chor der Griechischen Tragödie, besonders natürlich der frühen des Aischylos, gestellt und methodisch geklärt werden. Als ‚Boden’ der Tragödie, so sei vorab unser Beweisziel formuliert, stellt der aischyleische Chor dem Rezipienten ein großes sympathetisch-identifikatorisches Potential bereit. Schließlich ist als Kern der hier verfolgten These zu erörtern, auf welche Weise der Chor im Ablauf einer Tragödie die Rezeptionshaltung des Zuschauers prägt. Hier bewegt man sich im Bereich der i n n e r t e x t li c h e n R e z e p ti o n s v o r p r ä g u n g e n . Damit sind dann methodische Prämissen geschaffen, mit denen eine textnahe Untersuchung des Chores in den Tragödien des Aischylos durchgeführt werden kann. 43 Dies in Abwandlung des B ARNER schen Terminus „innertextliche Rezeptionsvorprägungen“, die dann als solche bei der Textinterpretation eine zentrale Rolle spielen werden. <?page no="42"?> Die rezeptionsästhetische Methode 28 2. Der Chor der griechischen song-and-dance culture: Gemeinschaft, Ordnung, Emotionen 2.1 Der ‚Sitz im Leben’ des Chores: Die Gemeinschaft der Polis Da diverse chorische Formen wie Paian, Threnos, Goos, Hymenaios und Linos sich bereits in der Homerischen Epik spiegeln, muss auf ein sehr hohes Alter dieses kulturellen Phänomens geschlossen werden. 44 Als dessen charakteristisches Merkmal kann schon vor einer näheren Betrachtung angegeben werden, dass ein tanzender und singender Chor Gemeinschaft stiftet und erhält - sowohl was die eigentlichen, aktiven Mitglieder des Chorreigens betrifft, die sich oft an den Händen halten, als auch jeden weiteren Angehörigen der Gemeinschaft, innerhalb derer der Akt der chorischen performance stattfindet. 45 Wenn man von den homerischen Beispielen ausgeht, so muss diese Gemeinschaft nicht unbedingt an eine Polis 46 gebunden oder mit ihr identisch sein, sondern das Phänomen Chor erscheint auch in anderen Formen sozialer Gemeinschaft wie dem Heerlager der Griechen vor Troja, oder, im Mythos bei Hesiod reflektiert, dem olympischen Pantheon. 47 Gleichwohl ist das Wort corÒj und das von ihm besetzte semantische Feld schon in archaischer Zeit geradezu wesensmäßig verbunden mit der Polis, wie die homerischen Epitheta kall…coroj 48 und eÙrÚcoroj 49 zeigen. Diese 44 Hom.Il. 1,473 (Paian); 18,50f., 18,314-16, 24,719-22 und Od. 24,60-62 (Goos und Threnos); Il. 18,493-96 (Hymenaios, mit (weiblichen) Zuschauern); 18,567-72 (Linos); vgl. auch den begleitenden qe‹oj corÒj beim Gesang des Demodokos Od. 8,261-64. Angesichts der jeweils verschiedenen Praxis dieser chorischen Darbietungen - die Kombination von Musik, Tanz und Gesang ist nirgends identisch - meint corÒj bei Homer jeweils etwas anderes, so D ANIELEWICZ (1990). - Zur Problematik der Abgrenzung von gÒoj und qrÁnoj sh. A LEXIOU (1974) 102f. und T SAGALIS (2004) 2-8: Bei Homer seien die gÒoi eine persönlichere, von Angehörigen durchgeführte Form des Trauerns; die qrÁnoi aber würden von professionellen Sängern vollzogen. 45 Diesen Aspekt der Selbstvergewisserung über die eigenen Werte hat die Forschung auch als ein zentrales Merkmal der schon zur dichterischen Kunstform entwickelten Chorlyrik herausgestellt, so S EGAL (1985) 165, G IANOTTI (1992) 146 und, speziell für den Paian, R UTHERFORD (2001) 61f. 46 Hier mit G SCHNITZER (1981) 42f. verstanden als Stadtstaat, das heißt als politisch-religiöse, durchstrukturierte und organisierte Bürgergemeinschaft mit einem festen städtischen Zentrum, wie sie sich etwa zur Entstehungszeit der Homerischen Epen in Griechenland herausbildete, besonders in Ionien, der Aiolis, auf der Peloponnes, auf Euböa und in Attika, wodurch der weniger fest geschlossene Stammesstaat, das œqnoj , abgelöst wurde. 47 Hes.Theog. 1-115; sh. bes. 63 vom Olymp als Ort des Musenchors: œnqa sfin liparo… te coroˆ kaˆ dèmata kal£ , wobei für coro… die Bedeutung ‚Tanzplätze’ anzusetzen ist. Für N AGY (1990) geht die „social institution of what we call the chorus“ (343) sogar der Polis zeitlich voraus. 48 Od. 11,581 (Panopeus). 49 Il. 2,498 (Mykalessos), 23,299 (Sikyon); Od. 4,635 (Elis), 6,4 (Hypereia), 11,256 (Iolkos), 11,265 (Theben), 13,414 und 15,1 (beide Lakedaimon), 24,468 (allgemein zu ¥stu ). Das kultische Zentrum von Sparta hieß schlichtweg corÒj (Pausan. 3,11,9). Die Verbindung <?page no="43"?> Der Chor der griechischen song-and-dance culture 29 weisen auf die möglicherweise ursprüngliche Bedeutung von corÒj hin: Den ‚festumgrenzten, für Reigentänze hergerichteten öffentlichen Platz’ 50 . Die Junktur ... di' `Ell£doj eÙrucÒroio (Hom.Il. 9,478) zeugt in höchst prägnanter Form von einem sehr frühen Bewusstsein einer panhellenischen song-anddance culture und deren Tanzplätzen. Die schon bei Homer begrifflich differenzierten Chorformen lassen sich für die folgende Zeit der Archaik und Klassik erweitern um Dithyrambos, Hymnos, Partheneion, Hyporchema, Enkomion, Prosodion und Epinikion, um nur die wichtigsten zu nennen. 51 Obwohl eine exakte Definition der einzelnen Gattungen, auch in Abgrenzung voneinander, mitunter sehr schwierig ist (zu berücksichtigen wären darüber hinaus auch chorartige Volks- und Arbeitslieder), zeigt doch schon diese bloße Nennung die ganze Bandbreite chorlyrischer Formen, die bei den verschiedensten lebensweltlichen Anlässen der Gemeinschaft aufgeführt werden. Dieser Sitz im Leben kann näher definiert werden als eine prinzipielle Gebundenheit von Chor und chorischer performance an Kult und Fest. Trotz des überaus öffentlichen, sich auf die gesamte Polis beziehenden Charakters dieses kulturellen Phänomens ist doch als ein zentrales Charakteristikum festzuhalten, dass das Personal der überwiegenden Mehrzahl der uns noch greifbaren chorischen Formen aus e i n e r bestimmten sozialen Gruppe dieser Gesamtgemeinschaft gebildet ist; dass also dieses S e g m e n t , dem tendenziell das Merkmal ‚Homogenität’ (der Choreuten) eignet, zunächst nur einen Ausschnitt darstellt, der möglicherweise nicht einmal die ganze Gemeinschaft zu repräsentieren braucht. Freilich ist zu bemerken, dass selbst bei spezifischeren Chorformen wie dem Partheneion, das von heiratsfähigen Jungfrauen von Chor und Polis, auch im Gegensatz zum mühevollen Landleben, lässt sich Hes.Sc. 270-85 schön beobachten. - Um die Bedeutung des Phänomens Chor für die griechische Kultur auch in chronologischer Hinsicht zu verdeutlichen: Lukians Traktat de saltatione ist fast ein Jahrtausend nach diesen ‚Anfängen’ des corÒj bei Homer verfasst. 50 R EISCH (1899) 2373. Dagegen neigt F RISK (1970) 1112f. eher zu ‚Reigentanz’ als ursprünglicher Bedeutung. Von Interesse für unsere weitere These ist jedenfalls die von F RISK vertretene etymologische Verbindung von corÒj - zusammen mit cÒrtoj ‚(umzäuntes) Gehege, Hof’ - mit einem Verb ‚fassen, greifen’ (vgl. im Altindischen hárati ‚bringen, tragen’), so dass auf diesem Weg die Bedeutung ‚eingezäunter Platz’ als möglich erscheint. Denn diese etymologische Überlegung sichert ein strukturalistisches Modell ab, das den Chor als das Feste, in sich Geschlossene innerhalb der Polis begreift (sh. unten S.69). Zur spekulativen Verbindung mit lithuanisch záras ‚Reihe, Ordnung, Aufstellung’ sh. unten S.36 Anm.76. 51 Die seit der alexandrinischen Philologie unternommenen retrospektiven Klassifizierungsversuche, die in der Chrestomathie des Proklos (ap. Phot. 318b 22 - 322a 30) ihren Höhepunkt finden, sind problematisch (vgl. H ARVEY (1955)); sie sind zum Teil widersprüchlich und werden im Nachhinein auf eine mündlich geprägte Kultur appliziert. Für die Philologie der Neuzeit vgl. etwa die Ausgabe von S MYTH (1899) XIII mit nicht weniger als 20 Gattungsbezeichnungen. <?page no="44"?> Die rezeptionsästhetische Methode 30 aufgeführt wird, doch auch wieder die ganze Gemeinschaft involviert ist. 52 Die Homogenität der Chormitglieder in Bezug auf Lebensalter, sozialen Status, und natürlich Geschlecht führt zum Eindruck einer fest in sich geschlossenen, chorischen Gruppe, in der das Individuum in doppeltem Sinne ‚aufgehoben’ ist und keine eigene Rolle spielt. Diese Homogenität ist ein wesentliches Merkmal auch des Chores der Tragödie, wie auch dessen ebenfalls segmenthafter Charakter hinsichtlich der im Stück präsenten Polis. 53 Nicht weniger bedeutsam ist in rezeptionsästhetischer Hinsicht der Umstand, dass fast immer Laien die Mitglieder des Chores bilden. 54 Essentieller Bestandteil des Chores ist auch ein corhgÒj , Chorführer oder Chorführerin, der als Einzelfigur aus der Gemeinschaft herausgehoben ist und ganz verschiedene, jedoch immer mit der Führungsposition zusammenhängende Aufgaben im Gesamtensemble übernehmen kann. Dieses vertikale Verhältnis von Gruppe und Einzelnem stellt eine Art Grundmodell für die Griechische Tragödie dar, wie später noch darzulegen ist. 55 Die Homogenität chorischer Gruppen äußert sich bisweilen sogar in kollektiven Eigennamen, wie im Mythos aƒ Moàsai oder aƒ Nhre dej (wo die ‚Choreutinnen’ zudem Schwestern sind) und in der realen Welt des Kultes aƒ Dhli£dej (im delischen Apollonkult) oder aƒ Ludîn kÒrai (im ephesischen Artemiskult). Wenn es sich hier um Benennungen für w e i b li c h e Chöre handelt, so korrespondiert dies mit dem auffallenden Befund, dass es für die frühgriechische Zeit, im Mythos wie im Kult, deutlich mehr Zeugnisse für weibliche als für männliche Chöre gibt. 56 Diese Tatsache, 52 In diesem Falle insofern, als die performance des Partheneions der Vorbereitung der Mädchen auf Heirat und Ehe dient (wo sie als perfekte Ehefrauen auch gute Nachkommenschaft hervorbringen sollen). Vgl. C ALAME (1997) 234-38. 53 Zu diesen Merkmalen sh. die Nachweise und Beispiele bei C ALAME (1997) 19-34, zur Homogenität des tragischen Chores vgl. B AUR (1997) 29. 54 Gilden aus professionellen Sängern und Tänzern sind zwar bezeugt, stellen aber im Gesamtspektrum seltene, relativ spät bezeugte Ausnahmen dar. Zudem handelt es sich bei den Onitaden in Milet und den Euneiaden in Athen um alte, eingesessene Geschlechter (sh. S CHMIDT -S TÄHLIN (1929) 341 Anm.1 und 452 Anm.7). Wenn R EISCH (1899) vermutet, dass die Chordichtungen, „die Simonides und Pindar für die Feste des Adels gedichtet haben, … gewiss von berufsmässigen, in Gilden organisierten Sängern vorgetragen“ (2381) worden seien, so handelt es sich dabei eben um Aufführungen, die nicht für die ganze Polis bestimmt waren, sondern nur für die Hetairien beim Symposium. Und die fortschreitende musikalische Virtuosität der Chordichtungen etwa eines Timotheos und Philoxenos erforderte zunehmend professionelle Choreuten (vgl. N AGY (1990) 105f.), die nicht mehr die gesamte Polis vertreten, sondern von dieser als Künstler wahrgenommen werden. 55 Sh. unten S.62f. und 93-95. Zum corhgÒj allgemein sh. C ALAME (1997) 43-73 und N AGY (1990) 345-81. 56 „Mädchenreigen überwiegen in allen Landschaften, ganz besonders in der Argolis. Jünglingsreigen werden allein in Attika relativ häufig dargestellt.“ (T ÖLLE (1964) 54). C ALAME (1997) 25 verweist auf die ungedruckte Dissertation von R. C ROWHURST , Representations of Performances of Choral Lyric on the Greek Monuments 800-350 B.C., London 1963, 208ff., wonach - offenbar in den archäologischen Zeugnissen - 81 weiblichen Chören nur 26 männliche für diesen Zeitraum gegenüberständen. <?page no="45"?> Der Chor der griechischen song-and-dance culture 31 untermauert durch die relativ starke Präsenz von Partheneia bei Alkman und Pindar, sollte beachtet werden, orientiert man sich am gender- Paradigma bei der Betrachtung des Chores der Tragödie im Sinne eines ‚Playing the Other’ durch m ä n n li c h e Produzenten, Schauspieler und Rezipienten. 57 Denn die Tragödie stellt keine hermetisch abgeschlossene Kunstform dar, sondern steht zusammen mit ihrem Merkmal Chor in einer langen kulturellen Tradition, die dem athenischen Zuschauer nicht nur bekannt, sondern in die er selbst eingebunden ist. 2.2 ™gkÚklioj paide…a : Die Erziehung zur Ordnung im Chor Viele der bezeugten frühgriechischen Chöre, ob männlich oder weiblich, haben ein zentrales Merkmal, das in enger Verbindung mit dem bereits postulierten gemeinschaftsstiftenden Charakter steht: Innerhalb von Kult und Fest dient der Chor insbesondere der Erziehung der Jugendlichen, die an der Schwelle zum Erwachsenenalter und somit vor dem Eintritt in die Gemeinschaft stehen, welche sie als Männer und Frauen, durch Kriegsdienst und Kindergeburt, fortan erhalten sollen. 58 Entsprechend bilden auch parqšnoi, nean…dej und nÚmfai beziehungsweise œfhboi, º…qeoi und koàroi die Mehrzahl der Chöre dieser song culture, während die aus - verheirateten, erwachsenen und bisweilen auch älteren - guna‹kej und ¥ndrej zusammengesetzten Chöre offenbar nicht pädagogischen, sondern anderen, gleichwohl immer ebenfalls im Zusammenhang mit der Gemeinschaft stehenden Zwecken dienen. 59 Diese grundlegende Differenz zwischen jung und alt dürfte sich in der Wahrnehmung des Rezipienten einer Tragödie niedergeschlagen haben. Besonders einsichtig wird die erzieherische und dabei immer gemeinschaftserhaltende Funktion des frühgriechischen Chores durch die Bezeichnung des Chorführers als did£skaloj , dessen ‚Lehrtätigkeit’ sich offensichtlich auf ein gesamtpädagogisches Konzept richtet. Darin verbindet sich das Erlernen des musikalischen Harmonie- und Rhythmusgefühls, wie es für die 57 Vgl. etwa F OLEY (2003), bes. 5 und 13, und sh. unten S.55f. 58 Die folgenden Ausführungen zum Chor als dem pädagogischen Instrument schlechthin, „cardine d’educazione collettiva en plein air“ (G IANOTTI (1992) 151), sind, besonders für die Verhältnisse in Sparta, C ALAME (1997) 207-63 verpflichtet. 59 Vgl. die aus geraia… (Hom.Il. 6,87, 270, 287) gebildete chorische Delegation unter der Führung Hekabes zum Tempel der Athene in Troja, wo die paianähnliche, spezifisch ‚weibliche’ Ololyge (6,301) durchgeführt wird; vgl. unten S.179. Zur Ololyge insgesamt sh. D EUBNER (1941) und K ÄPPEL (1992) 81f. Für Jünglings- und Mädchenchöre bei Homer vgl. Il. 18,494, 567, 593 und Od. 8,262. Diese Belege werden von T ÖLLE (1964) für die gesamte (! ) frühgriechische Zeit dahingehend interpretiert, „dass die Tänze wirklich von Jünglingen und Mädchen und nicht von Männern und Frauen aufgeführt wurden“ (54). Die „einzige Ausnahme“ (ebd.) bilde Od. 23,147 mit den ¥ndrej kaˆ guna‹kej nach dem Freiermord. - Freilich wollen wir hier keine Ausschließlichkeit einer Merkmalszuordnung (etwa dass ein jugendlicher Chor i m m e r pädagogischen Zwecken diente) postulieren. <?page no="46"?> Die rezeptionsästhetische Methode 32 öffentliche Choraufführung als den lebensweltlichen, zunächst eher äußerlichen Zweck erforderlich ist, mit der Aneignung der Werte und Konventionen der Polis-Gemeinschaft, insbesondere durch die Rezitation eines für die jeweilige Polis wichtigen Götter- oder Heroenmythos im gesanglichen lÒgoj . Dabei zeigt die vielfach bezeugte mediale Dreiteilung auch der chorischen mousik» in lÒgoj, ¡rmon…a und ·uqmÒj 60 die differenzierte Besonderheit des griechischen corÒj an. Simonides bringt das Erziehungskonzept bündig auf den Punkt: pÒlij ¥ndra did£skei (fr. 53 D). Am deutlichsten greifbar ist der Chor als pädagogische Institution an drei Orten: Auf Lesbos, in Sparta und in Athen. 61 Sapphos Thiasos hatte zwar einen eher intimen Charakter und war nicht offizieller Bestandteil der Gesellschaft von Lesbos, doch ihre moisopÒlwn o„k…a (fr. 150 V), in der die Mädchen in chorischer Gemeinschaft auf die Ehe vorbereitet wurden, muss ganz in unserem Sinne als rituell-pädagogische und somit gemeinschaftsstabilisierende Institution gesehen werden. 62 Für Sparta liegen uns noch relativ umfassende Textzeugnisse in Form von Alkmans Partheneia vor (zugleich die ersten Primärzeugnisse altgriechischer Chorlyrik), die auch auf die Existenz definierter chorischer Mädchengruppen wie der Dymainai und der Pitanatiden schließen lassen (Alkm. fr. 11). Dieses Bild lässt sich komplettieren mit den Nachrichten über das Erziehungssystem der ¢gwg» („Führung“) für die männlichen Jugendlichen, die in die Sozialform der ¢gšlh („Herde, Schar“) eingeteilt wurden, eine dem singenden und tanzenden corÒj analoge pädagogisch-militärische Institution, in der es ebenfalls, so wie den coragÒj , eine Einzelgestalt als Leitperson gab: Den ¢gel£rchj oder bouagÒr . 63 Das Erlernen der Kampftechnik ging dabei einher mit dem rhythmischen Chortanz; die militärischen Implikationen, die besonders in Sparta und Athen eine spezielle Schattierung des Chores als eines Erziehungsinstrumentes sind, seien später eigens betrachtet. 64 Im Órmoj -Tanz schließlich vereinigen sich symbolisch Epheben und Parthenoi und zelebrieren in einer kettenförmigen performance die geschlechtsspezifischen Werte ¢ndre…a und swfrosÚnh (Lukian de salt. 10-12), wie sie für den Bestand der künftigen Polis wichtig sind. In Athen kann man seit dem späten 6. Jahrhundert von einer ausgereiften Chorkultur ausgehen, die bevorzugt pädagogischen Zwecken dient. Die 60 Sh. etwa Plat.Rep. 398d 1-2 und das gesamte zweite Buch der Nomoi; vgl. Arist.Poet. 1447a 22f.; für die Konsequenzen dieser Mehrmedialität für die Tragödieninterpretation sh. unten S.82. 61 Vgl. ferner Zeugnisse wie Polyb. 4,20,4-12 über die mousik» der Arkader, deren pa‹dej und nean…skoi (bis zum 30. Lebensjahr) die traditionellen Gesänge der Polis lernen (Hymnen und Paiane), in denen die einheimischen ( ™picwr…ouj ) Heroen und Götter besungen werden, und ™mbat»ria met' aÙloà kaˆ t£xewj und Ñrc»seij einüben, die dann für die Öffentlichkeit der pol‹tai alljährlich im Theater aufgeführt werden. 62 Zu Sappho sh. C ALAME (1997) 210-14, 231-33 und 249-52. 63 Sh. C ALAME (1997) 214-19. 64 Sh. unten S.38. <?page no="47"?> Der Chor der griechischen song-and-dance culture 33 besonders im Dithyrambos, dem kÚklioj corÒj 65 , vorgenommene musische Erziehung in Tanz und Gesang, das ™n kÚklJ paideÚein , generierte den bildungs- und geistesgeschichtlich wichtigen Begriff der ™gkÚklioj paide…a (‚Enzyklopädie’). 66 Eine retrospektivische Spiegelung dieser athenischen Realität als einer ‚guten, alten Zeit’ besonders vor dem Auftreten der Sophisten findet sich explizit mehrfach bei Aristophanes 67 sowie, auch mit Reflexen auf die anscheinend historischen Zustände in Kreta und Sparta, in den ‚utopischen’ gesellschaftspolitischen Darlegungen ausgerechnet des Atheners in Platons Nomoi, wo core…a (also Tanz und Gesang im corÒj ) gar mit pa…deusij schlechthin gleichgesetzt wird: 68 Insbesondere soll diese chorische paide…a und trof» durch das nur menschlichen Lebewesen eigene Gefühl für Rhythmus und Harmonie den anfangs sich regellos bewegenden 65 Zu kÚklioj als zentralem Merkmal nahezu aller frühgriechischen Chöre sh., neben der Auflistung der Belege aus dem Drama bei K OLLER (1955) 175f., C ALAME (1997) 34-38 mit vielen Nachweisen (auch für die semantisch nahen Begriffe Órmoj und eƒl…ssw ); häufig ist auch explizit ein vom Chorführer oder einem Kultobjekt gebildetes Zentrum ( mšson ) erwähnt, um das sich dieser Chor gruppiert. Für Hesych ist corÒj (ed. S CHMIDT X 645) sogar gleichbedeutend mit kÚkloj und stšfanoj ; für diqÚramboj steht seit dem 5. Jahrhundert kÚklioj corÒj quasi synonym. Weitaus seltener sind Chöre in Prozessions- oder rechteckiger Reihenform (in welcher dann der Chor der Tragödie auftritt; vgl. unten S.167). 66 Näheres bei R ECHENAUER (1994) 1164f. Zur griechischen Vorstellung von musischer Erziehung sh. K OLLER (1963), bes. 86-96. - Nach Pollux 9,14 (= Epich. fr. 13 und fr. 104 K AIBEL ) wurde bei den Dorern sogar die Schule corÒj, der Schulmeister corhgÒj genannt. Vgl. auch Poll. 4,43ff. und 9,143f., wo die Begriffe maqhta…, ¢gela‹oi, ˜ta‹roi und coreuta… in engem semantischen Zusammenhang stehen. 67 Für die vor allem musisch-gesangliche ¢rca…a paide…a vgl. Aristoph.Nub. 964-83, für die aus pala…stra, coro… und mousik» bestehende traditionelle, gymnastisch-musische Erziehung Ran. 727-29. Man beachte an diesen Stellen die zentralen Wertbegriffe wie d…kaioj, sèfrwn oder kalÕj k¢gaqÒj . Zur obligaten Verbindung von körperlicher Gymnastik und seelisch wirkender Musenkunst vgl. auch Plat.Rep. 376 e2-4 und, aus den Nomoi extrahiert, das Schema bei S CHÖPSDAU (1994) 344, wo core…a als Ólh pa…deusij (Leg. 672 e5) sogar mousik» und gumnastik» umfasst. Aischin.Tim. 10 führt die auf Solon zurückgehende dreistufige Erziehung vor, deren Endstufe der kÚklioj corÒj ist. 68 Leg. 672 e5f.: Ólh mšn pou core…a Ólh pa…deusij Ãn ¹m‹n, toÚtou d' aâ tÕ m n ·uqmo… te kaˆ ¡rmon…ai, tÕ kat¦ t¾n fwn»n. Weiter Leg. 654 a9-b1 : OÙkoàn Ð m n ¢pa…deutoj ¢cÒreutoj ¹m‹n œstai, tÕn d pepaideumšnon ƒkanîj kecoreukÒta qetšon; Für die Bezüge zu Sparta und zu Kreta, wo ein der spartanischen ¢gwg» ähnliches Erziehungssystem nachweisbar ist (sh. C ALAME (1997) 216), vgl. Leg. 660 b2-4 und 673 b5-8. Beispielsweise reflektiert die Einteilung des gesamten Chorwesens in drei altersmäßig gestaffelte Chöre (Leg. 664 b3-d4) offensichtlich die spartanische, aus pa‹dej, ¥ndrej und gšrontej bestehende tricor…a (sh. Plut.Lyk. 21,2-3). Für eine historische Bewertung des pädagogischen Konzepts der Nomoi sh. M ORROW (1960) 297-398. - Auch Plat.Tht. 175 d7 - 176 e2 stellt einen ganz entsprechenden Reflex auf das hohe Ideal dieser musischen Erziehung dar: Im Symposion werden die auch schon längere Zeit zuvor öffentlich aufgeführten Chorgesänge als Nachweis hoher Bildung gesungen, was die aktive Teilnahme vieler Bürger an den Choraufführungen eindrucksvoll beweist; der Ungebildete hingegen verfällt dem sprichwörtlichen Verdikt: oÙd tr…a toà SthsicÒrou gignèskeij (Zenob. 1,23). Vgl. K OLLER (1955) 176-80. <?page no="48"?> Die rezeptionsästhetische Methode 34 Jugendlichen zur Ordnung ( t£xij ) führen, die sich schließlich idealiter in der Übereinstimmung negativer und positiver Affekte mit dem lÒgoj und somit in der ¢ret» manifestiert. 69 Der Ort dieser musischen Erziehung, die schon den Kindern im „Musenchor“ und den unter Dreißigjährigen im „Paian- Chor“ zuteil werden soll, ist das öffentliche Fest ( ˜ort» ), bei dem es zu einer Symbiose von göttlicher und menschlicher Welt im Chortanz kommt, wenn sämtliche Festteilnehmer aller Altersgruppen nicht nur untereinander im geschlossenen Chorreigen, als aktive Teilnehmer ebenso wie als Rezipienten, das Gemeinschaftsgefühl par excellence emotional erfahren, sondern auch Apollon Mousagetes und die von ihm geführten Musen, der Prototyp des Chores, als sugcoreuta… mittanzen und mitsingen. Dabei fungiert das Fest in der Sicht des platonischen Sprechers als emotional positiv gefärbter Ausgleich zur Mühsal der conditio humana und hat, natürlich auch wieder unter erzieherischen Aspekten, vermittels des Chores eine justierende, Ordnung schaffende Aufgabe zum Wohle der Polis. 70 Die Göttergeschenke Fest und Chor garantieren somit durch die Regelmäßigkeit ihrer Präsenz und die Regelhaftigkeit ihres Wesens den Fortbestand der Polis, die sich selbst unter harmonischer Integration sämtlicher sozialer Gruppen die emotional als Zaubergesang ( ™pJd» ) wirksamen Chorgesänge vortragen soll. Die Mannigfaltigkeit ( poikil…a ) dieser Darbietungen führt so, nach den Überlegungen des Atheners, zu einer regelrechten musischen Sucht. 71 Diese Sollbestim- 69 Leg. 653 a5-c4 und d7-e5; zur t£xij vgl. auch 664 e3 - 665 a6; zur Verbindung von lÒgoj, nÒmoj und t£xij vgl. Rep. 587 a10-11. 70 Leg. 653 c9-d5: ... qeoˆ d o„kte…rantej tÕ tîn ¢nqrèpwn ™p…ponon pefukÕj gšnoj, ¢napaÚlaj te aÙto‹j ttîn pÒnwn ™t£xanto t¦j tîn ˜ortîn ¢moib¦j to‹j qeo‹j, kaˆ MoÚsaj 'ApÒllwn£ te moushgšthn kaˆ DiÒnuson ssuneortast¦j œdosan, †n' ™™panorqîntai, t£j te ttrof¦j genomšnaj ™n ta‹j ˜orta‹j met¦ qeîn . Zum syntaktischen Verständnis sh. K ANNICHT (1989) 46 Anm.58, der ™panorqîntai passivisch übersetzt mit „damit [die geplagten Menschen] wieder hergestellt / wieder ins Geleis gebracht werden“. Die erholsame, Mühsal verdrängende Wirkung der Musenkunst schon Hes.Theog.55 und 98-103, wo ganz wie bei Platon von den diesbezüglichen dîra qe£wn die Rede ist. Im Modell des Atheners bei Platon ist auch die von der Neuzeit, besonders von N IETZSCHE , postulierte Dichotomie der griechischen Dichtkunst in ,Apollonisches’ und ,Dionysisches’ nicht existent, da dem Gott Dionysos - freilich auch bei Platon in gängiger kulturgeschichtlicher Tradition als ungeordnet, wild und bakchantisch erscheinend - eine untergeordnete Funktion zugewiesen wird: In seinem Zuständigkeitsbereich, den Chören der über Dreißigjährigen, hat auch Dionysos systemstabilisierenden Charakter, dies ungeachtet der Tatsache, dass die Dionysos-Chöre nach den Vorstellungen der Dialogfigur offenbar eher im kleinen Kreis des Symposions ihre vorbildhafte Wirkung entfalten sollen als in der Öffentlichkeit (so S CHÖPSDAU (1994) 307) - ganz anders als der vor der ganzen Polis auftretende Musenchor der Kinder (Plat.Leg. 664 c4-6). Auffallend ist, wie sehr bei Platon der Dithyrambos ausgeblendet wird, der doch im historischen Athen als kÚklioj corÒj der zentrale Bestandteil der musischen Bildung war, und wie stattdessen die jungen Angehörigen der Polis ganz Apollon und seinem Paian-Chor überantwortet werden. 71 Leg. 665 c2-7, bes. 6f.: ... éste ¢plhst…an e na… tina tîn Ûmnwn to‹j °dousin kaˆ ¹don»n. Noch Lukian charakterisiert - in diesem ‚pädagogischen’ Zusammenhang - die (chori- <?page no="49"?> Der Chor der griechischen song-and-dance culture 35 mungen dürften den historischen Istzustand der panhellenischen song-anddance culture sicher in hohem Maße reflektieren (auch wenn Sklaven und Frauen, wie bei Platon in einer Maximalforderung vorgebracht, nicht in allen Fällen an dieser Kultur teilhatten). Insbesondere die Gattung Paian fungiert in ganz Griechenland als zentrales ordnungsschaffendes und gemeinschaftsstiftendes Medium der ganzen Polis. 72 Der bei Platon geforderte Charakter des corÒj als einer festen Institution der Polis lässt sich historisch auch bereits für Sparta nachweisen, dem ersten griechischen Stadtstaat, der eine umfassende musisch-chorische Kultur zur inneren Stabilisierung einrichtete. Der Begriff für diese Institutionalisierung, kat£stasij (die erste durch Terpander, die zweite durch Thaletas), trägt in sich die Vorstellung von Ordnung, die, wenn man Plutarchs Lykurg-Vita glaubt, sogar der gesetzgeberischen Tätigkeit voranging. 73 Der musikalische nÒmoj als die vom Dichter etablierte „Tonart, Melodie“ ist eine Gesetzmäßigkeit auch in einem anderen, politischen Sinn. Wenn dann in produktionsästhetischer Sicht bei Platon der Dichter, der unter staatlicher Aufsicht steht, im Chorgesang die Lehre vom Glück des Gerechten verkünden soll, 74 damit die im Chor ohnehin schon präfigurierte Ordnung auch in ethischem Sinne in der Polis präsent ist und performativ präsentiert wird, so entfließt diese, für den utopischen Idealstaat getroffene Forderung einer platonischen Dialogfigur nicht nur geistesgeschichtlich dem sich mit rechtem Maß und goldenem Mittelweg beschäftigenden mhd n- ¥gan -Diskurs des frühgriechischen Denkens: Was die primäre Vermittlung und Rezeption dieser um die Zentralbegriffe Dike, Ate und Hybris kreisenden Thematik betrifft, so zeigen noch die Reste der griechischen Chorlyrik, sche) Tanzkunst als auch emotional wirksames Erziehungsinstrument: ... kaˆ tosaÚthn tšryin ¤ma kaˆ paide…an çfšlimon parecomšnou (sc. ™pithdeÚmatoj , de salt. 23). 72 Vgl. R UTHERFORD (2001) 61-63 und besonders 85-89. 73 Plut.Lyk. 4,2-3: lÒgoi g¦r Ãsan aƒ òdaˆ prÕj eÙpe…qeian kaˆ ÐmÒnoian ¢naklhtikoˆ di¦ melîn ¤ma kaˆ ·uqmîn, polÝ ttÕ kÒsmion ™cÒntwn kaˆ k katastatikÒn, ïn ¢kroèmenoi katepraÚnonto lelhqÒtwj t¦ ½qh ... éste trÒpon tin¦ tù LukoÚrgJ proodopoie‹n t¾n pa…deusin ( ! ) aÙtîn ™ke‹non. Dieses Vorgehen des Musenpolitikers Thaletas, vermittels der Emotionen eine erzieherische, ordnungsschaffende Wirkung zu erzielen, liest sich hier wie die perfekte Umsetzung der in Platons Nomoi getroffenen Forderungen. - Die Partheneia Alkmans wurden wohl nicht nur einmal, sondern immer wieder aufgeführt, was den stabilisierenden, ja ideologischen Charakter der spartanischen Chorkultur noch verstärkt haben kann: Sh. H ERINGTON (1985) 25f. und 55 und die komplexen Ausführungen von N AGY (1990) 343-81, der die alljährliche, neue chorische performance in Sparta (und andernorts) als Reaktualisierung einer mythischen Protoform deutet, bei der der Chorführer den „protocomposer who is grounded in myth“ (343), etwa Terpander, Thaletas oder Alkman, verkörpere und der Laienchor den mythischen Ritus vollziehe. Die ,sprechenden’ Eigennamen Hagesichora, Agido und Astymeloisa bei Alkman sind in diesem Zusammenhang zweifellos auffallend. 74 Leg. 659 c5 - 663 d5. Gegenüber dieser im ‚Text’ zu vermittelnden (freilich ungeschriebenen, mündlichen) Lehre sollen durch Rhythmus und Harmonie die Kardinaltugenden ¢ndre…a und swfrosÚnh dargestellt und so anschaulich ,gelehrt’ werden (660 a6-8). Vgl. S CHÖPSDAU (1994) 292. <?page no="50"?> Die rezeptionsästhetische Methode 36 dass der Sitz im Leben dieses theologischen und ethischen Diskurses kat' ™xoc»n der griechische Chor, mithin derjenige auch der Tragödie, gewesen ist. 75 2.3 t£xij : Chorische und kosmische Ordnung Der Begriff t£xij und dessen Bedeutung ‚Ordnung’, womit in den Nomoi die Vorstellung eines korrekt aufgestellten und Richtigkeit und Recht vermittelnden Chores evoziert wird, ist ohne Zweifel auch in der historischen Realität ein ganz signifikantes Merkmal der Wahrnehmung eines corÒj . So existiert für die Aufstellung und Anordnung der Chormitglieder eine feste Fachterminologie, die von der hohen Bedeutung des richtigen Arrangements zeugt und in der älteren Forschung sogar zu der Vermutung geführt hat, die Urbedeutung von corÒj könnte auch ‚Reihe, Ordnung, Aufstellung’ sein. 76 Im philosophischen Denken wird dann gar die - auf Erden so wahrgenommene - regelmäßige und zuverlässige Kreisbewegung der Himmelskörper im Kosmos als zyklischer Chortanz gedeutet, zwar nicht zwangsläufig im Zusammenhang mit der pythagoreischen Sphärenharmonie, die gleichwohl die chorischen Elemente Harmonie und Rhythmus in einen kosmischen Rahmen transponiert. Wenn im Timaios Platons, dem locus classicus für die Vorstellung des planetaren und stellaren Chortanzes, auch noch die Weltentstehung als Weg vom Chaos zur Ordnung (man vergleiche das Erziehungskonzept in den Nomoi) und die Tätigkeit des schaffenden, anordnenden dhmiourgÒj als die eines corhgÒj dargestellt wird, so unterstreicht diese verbildlichende Verknüpfung von makrokosmischer Theorie mit einem hervorstechenden Merkmal der lebensweltlichen song-and-dance culture das starke Gewicht der Wahrnehmung eines Chores als einer ordnungsverwirklichenden Kraft im frühgriechischen Denken. 77 75 M ETTE (1963) 207-22 hat die entsprechenden Belege von Homer über Hesiod und Solon bis hin zu Pindar aufgelistet und in ihrer zentralen Bedeutung für das aischyleische Denken erklärt. Für die erhaltene Chorlyrik vgl. bei Alkman das mythische Exempel fr. 1,1-39 und fr. 7,17; bei Pindar Isthm. 5,12-16, Isthm. 7,39-48, Ol. 1,54-58, Ol. 3,43-45, Ol. 13,47f., Pyth. 2,21-34, Pyth. 3,19-25, Pyth. 10,20-31, Pyth. 11,50b-57; vgl. auch Simonid. fr. 542,34-36 und 543,24-27. 76 C ALAME (1997) 38-43 bespricht im Zusammenhang von Alkman fr. 33 (es handelt sich um eine Glosse zu ÐmÒstoicoi ) die für die chorische Ordnung oft, gerade auch im Zusammenhang mit t£xij , verwendeten Begriffe stoice‹on, sto‹coj und zugÒn und verweist auf F ROEHDE (1886) 301, der für die oben S.29 Anm.50 zitierte Urbedeutung lithuanisch záras mit corÒj vergleicht. - In Xenophons Ephesiaka (1,2,5) wird eine chorische Prozession sogar direkt als t£xij bezeichnet; vgl. dort auch kÒsmoj (1,3,1). 77 Plat.Tim. 40 a2-d5, bes. c3f.: core…aj d toÚtwn aÙtîn (sc. tîn qeîn , als Gestirne); vgl. Epin. 982 e3-6: toàto d' e nai t¾n tîn ¥strwn fÚsin, „de‹n m n kall…sthn, pore…an d kaˆ core…an p£ntwn corîn kall…sthn kaˆ megaloprepest£thn coreÚonta p©si to‹j zîsi tÕ dšon ¢potele‹n . Platon greift im Timaios auf ältere Vorstellungen zurück, so M ILLER (1986) 23f., der in seiner umfangreichen Monographie die antiken und christlichen Konzepte des ‚kosmischen Tanzes’ mit ihren vielfältigen, besonders rituellen Implikationen untersucht. Im Timaios werden weiter die ,chorischen’ per…odoi des noàj <?page no="51"?> Der Chor der griechischen song-and-dance culture 37 Auch der schon erwähnte Musenchor als Prototyp des corÒj wird in einem kosmischen Kontext verortet, in dem - in einer nun vom Mythos gefärbten Perspektive - die gerechte, stabile Herrschaft des Zeus und der Olympier das Objekt dieses chorischen Musenpreises ist. So in Pindars fragmentarisch überliefertem Zeus-Hymnos: Nach der kataskeu» der Welt bedarf es noch der Musen, deren in lÒgoi und mousik» bestehender Lobpreis auffallenderweise mit dem Verbum kosme‹n bezeichnet wird: Ordnung der Welt und ‚ausschmückender’ Chorgesang sind eins. 78 In Hesiods Theogonie verknüpft sich die vom Chaos ausgehende Entstehung der Welt und ihre in der Zeusherrschaft verwirklichte Ordnung mit der dann auch vom Menschen geforderten Wahrung der Dike sowie mit dem Lobpreis der sich solchermaßen in allseitiger Rechtlichkeit manifestierenden menschlichen und göttlichen Daseinsfreude durch den Musenchor. In enger stemmatischer Verbindung werden drei - auffallenderweise weibliche - Geschwistergruppen geboren: Als Garanten der Herrschaft und der zivilisatorischen Ordnung die Horen (Eunomia, Dike und Eirene), als Personifikationen der Festlichkeit die Chariten (Aglaia, Euphrosyne und Thalia), und eben die schon am Beginn der Theogonie als Chor tatsächlich ‚auftretenden’ neun Musen. 79 - Zwar ohne die Musen, aber doch in unverkennbarem Bezug auf den Chortanz als Manifestation der kosmischen Ordnung präsentiert die Titanomachie aus dem epischen Kyklos den siegreichen Souverän Zeus als Chorführer des vermittels des menschlichen Gesichtssinns als justierende Kräfte rezipiert; analog sind Harmonie und Rhythmus zur (Wieder-)Herstellung der psychischen Ordnung Geschenke der Musen (47 d1-e2). - Vgl. auch Lukian de salt. 7: Zusammen mit dem Weltganzen und mit Eros entsteht die Ôrchsij überhaupt in Form der planetaren und stellaren core…a , die als eÜruqmoj koinwn…a kaˆ eÜtaktoj ¡rmon…a definiert und als poik…lon ti kaˆ panarmÒnion kaˆ polÚmouson ¢gaqÒn gepriesen wird; vgl. weiter Arist. de mundo 399a: Aus den singenden und tanzenden Einzelelementen besteht die ¡rmon…a der Welt, die kÒsmoj zu nennen ist. Auch die Kykladeninseln und die Atombewegung werden mit dem zyklischen corÒj verglichen, sh. I ERANÒ (1997) 234f. 78 Pind. fr. 29 - 35 Sn.-M., sh. bes. fr. 31 und die Interpretation von K ANNICHT (1989) 51f. 79 Hes.Theog. 901-17; die Musen wohnen auf dem Olymp, dem Zentrum der Herrschaft, gleich neben den Chariten (60-67). Besonders bemerkenswert ist die explizite Nennung dessen, was sie singen: ... mšlpontai p p£ntwn te nÒmouj kaˆ ½qea kšdna / ¢qan£twn kle…ousin (66f.). Zum Aspekt der Ordnung vgl. bes. 73f. eâ d ›kasta / ¢qan£toij dištaxen ktl. Für die bei den Menschen einzuhaltende Dike vgl. die Erga (bes. 212-84), wo bereits im Musenanruf (1-10) das zentrale Merkmal der Zeus-Herrschaft, nämlich die ausgleichende Tätigkeit der Dike, in Verbindung steht mit dem hymnischen Preis des Vaters durch die Töchter. Auf menschlicher Ebene haben der von Apollon inspirierte Sänger und der von Zeus inaugurierte Herrscher äquivalente Aufgaben, die von Hesiod Theog. 80-103 in einer rezeptionsästhetischen Perspektive dargelegt werden, nämlich in der affektiven Wirkung des gesprochenen und gesungenen Wortes bei der ,Zurechtrückung’ von Mißständen im innerpsychischen und im gesellschaftlichen Raum - beide Fähigkeiten aber werden von den Musen inspiriert. Zum Dienst des Sänger-Dichters an der Gemeinschaft seit Homer (auch er gehört wie der Arzt zu den dhmioergo… , Od. 17,383) vgl. K ANNICHT (1989) 34; diese frühgriechische Vorstellung hat auch für die Elegie und die monodische Lyrik Konsequenzen (sh. unten S.69 und S.99 Anm.233). <?page no="52"?> Die rezeptionsästhetische Methode 38 olympischen Götterreigens. 80 Und bei Lukian garantiert der Waffentanz der Kureten und der Korybanten, die von Rhea als erste menschliche Wesen im Chortanz unterrichtet werden, das Leben des Neugeborenen Zeus, der im Inneren des Chorreigens geschützt ist vor Kronos (de salt. 7). Zusammen mit dem obersten göttlichen Herrscher tritt der Chortanz ins Licht des Kosmos und der menschlichen Zivilisation, als deren Archegeten die Kureten allgemein gelten. 81 Das Merkmal ‚Ordnung’ führt noch in einen weiteren Bereich, der mit dem erwiesenen pädagogischen Charakter des corÒj eng zusammenhängt: Die disziplinierte und formalisierte chorische performance von jungen Männern führt zu einschlägigen Assoziationen von Militärwesen und Chortanz, der bisweilen auch direkt im Dienste militärischen Trainings steht, wie beim Waffentanz Pyrrhiche. 82 Neben dem schon erwähnten musisch-militärischen Erziehungssystem in Sparta für die Rekruten dürften auch die zehn athenischen Epheben-Chöre, die an den Großen Dionysien auftraten, einen entsprechenden Hintergrund haben. Auch wenn man den provokativen Thesen von W INKLER zum männlichen Initiationsritus, der in diesen Dithyrambenchören und sogar im Chor der Tragödie, wohl ebenfalls aus Epheben gebildet, vollzogen werde, 83 nicht in allen Punkten folgen mag, so muss man doch konzedieren, dass die institutionalisierte, im breitesten Rahmen und Jahr für Jahr erfolgende Teilnahme von 500 heranwachsenden œfhboi die militärische Stärke der Polis Athen sowie deren biologische Valenz und Kontinuität eindrucksvoll demonstriert. Dies wäre dann gewissermaßen die praktische Seite der ™gkÚklioj paide…a . 80 fr. 6 B ERNABÉ : mšssoisin d' çrce‹to pat¾r ¢ndrîn te qeîn te. 81 So L ONSDALE (1993) 50f.; vgl. Diod. 5,65,1-3 (kulturschöpferische Tätigkeit) und Verg.georg. 4,149-55 (soziale Eintracht); bemerkenswert ist ihre autochthone Geburt (Strab. 10,3,19). Vgl. NP s.v. ‚Kureten’ (6,934-36). 82 Zur Pyrrhiche sh. L ONSDALE (1993) 137-68. Für den Zusammenhang von Chortanz und Kriegsdienst vgl. die für Sokrates überlieferten Verse bei Athenaios (Socr. fr. 3 W ap. Ath. 14,628e-f): o‰ d coro‹j k£llista qeoÝj timîsin, ¥ristoi / ™n polšmJ , und weiter Athenaios: scedÕn g¦r ésper ™xoplis…a tij Ãn ¹ core…a kaˆ ™p…deixij oÙ mÒnon tÁj loipÁj eÙtax…aj [! ] , ¢ll¦ kaˆ tÁj tîn swm£twn ™pimele…aj. Xenophon (Cyr. 3,3,70) vergleicht die rasche, korrekte Aufstellung einer militärischen Phalanx mit der ¢kr…beia eines Chores. Eine komische Spiegelung des militärischen Rituals findet sich nicht nur im Ritter-Chor bei Aristophanes; vgl. für die weiteren Implikationen B IERL (2001) 100f. Aufschlussreich sind auch die Bemerkungen des Lykinos bei Lukian de salt. 8-9 über Meriones und Neoptolemos-Pyrrhos, die als bewegliche Tänzer auch sehr gute Kämpfer gewesen seien. Die durch die chorische Grundausbildung erzielte Disziplin der Spartaner ist sogar Grundlage der militärischen Erfolge: toigaroàn ™kr£toun ¡p£ntwn, mousikÁj aÙto‹j kaˆ eÙruqm…aj ¹goumšnhj (10). 83 W INKLER (1990). Vgl. auch G IANOTTI (1992) 172f., der den 3. und 4. Dithyrambos des Bakchylides (c.17 und 18) als Reflexe auf die Initiation der Epheben in Athen deutet; ähnlich Z IMMERMANN (1992) 88-91 und 98, mit weiteren Literaturangaben. <?page no="53"?> Der Chor der griechischen song-and-dance culture 39 2.4 ‚Heilung’ von Krisen - Emotionalisierung der Choraufführung Die auch aus ethnologischer Sicht vertretene Ansicht, dass in vielen griechischen Chören insgesamt Initiationsriten zu sehen seien, vor allem in sozialen Schwellensituationen wie Pubertät und Hochzeit, kann zwar aus rein philologischer Sicht auf etwas unsicheren interpretatorischen Boden führen, doch harmoniert eine wesentliche Einsicht mit der hier beschriebenen gemeinschaftserhaltenden Funktion des Chores: Der rituelle, initiatorische Prozess, der in einer öffentlichen, insbesondere chorischen performance vorgeführt werde, präsentiere dem Publikum das Erlebnis eines chaotischen Krisenzustandes und dessen Überwindung; am Ende aber seien die Spannungen wieder aufgelöst und die Gemeinschaft stabilisiert. 84 Auf jeden Fall ist aus gräzistischer Sicht hierzu zu bemerken, dass eine destruktive (Selbst-)Auflösung eines Chores als Folge einer Krise, sei es in der Chorlyrik, sei es in der Tragödie, schlechterdings nicht vorstellbar und auch nicht belegt ist. Als Beispiel für diese Initiationsthese mag das berühmte Erste Partheneion Alkmans dienen, in der die offensichtlich einen entsprechenden Ritus vollziehenden Mädchen erleichtert von der Göttin Aotis als „Heilerin unserer Mühen“ singen: pÒnwn g¦r / ªmin „„£twr œgento (fr. 1,88f.). 85 Ohne Zweifel ist das Bewusstsein einer manifesten Krise der Gemeinschaft ein ganz wesentlicher Bestandteil vieler Chor-‚Aufführungen’, auch wenn man vom Chor als pädagogischer Institution und von initiatorischen Implikationen absieht. Das Krisenbewusstsein gilt zunächst für den Paian, der als dem Apollon geweihter Heilsgesang eine entsprechende Gefahrensituation, ob gegenwärtig oder bereits überwunden, als Grundbestandteil hat; 86 dann weiter für den Goos respektive Threnos, Ritualformen, die dem eingetretenen Unglück zum Trotz als Selbstvergewisserung des eigenen 84 In diesem Sinne C ALAME (1997) 259, der für Griechenland von „tribal societies“ ausgeht und es sogar für möglich hält, dass corÒj ursprünglich auch ‚Gruppe der Initianden’ gemeint habe (261 Anm.187). Vgl. auch die Einzelinterpretationen von L ONSDALE (1993) 137-205 zur Pyrrhiche, zu weiblichen Übergangsriten (etwa den Arkteia in Athen) und zu Alkman; für eine ethnologische Interpretation vgl. T URNER (1989) 94- 158, weiter 201 zum ‚Sozialen Drama’. Vgl. zuletzt B IERL (2001) 101f. Insgesamt verknüpft sich damit das Konzept der karnevalistischen, temporären Außerkraftsetzung der sozialen Normen, wie es M OELLENDORFF (1995) in Auseinandersetzung mit Michail B ACHTIN auf Aristophanes angewendet hat. 85 Die überwundenen Mühen können sich auf den schwierigen Ritus beziehen, auf einen mit dem Kult verbundenen sportlichen Wettkampf (so K ANNICHT (1989) 50 Anm.68) oder gar auf einen überstandenen Krieg, wie zuletzt E ISENBERGER (1991) 287 in einer rezeptionsästhetisch ausgerichteten Interpretation dieses oft nur schwer auszudeutenden ‚Louvre-Fragments’ meint. Vgl. die Literatur bei C ALAME (1983) XLV-LXIII. Die medizinische Metaphorik hier ist von großem Interesse für unsere weitere These, da auch die wesentlich gefahrvolleren Krisensituationen der Tragödie so ausgedrückt werden können (sh. unten S.98-100). 86 So K ÄPPEL (1992) 62-65. Interessant ist die Tatsache, dass in aller Regel º…qeoi , also auch hier junge Männer, den Paian aufführten. R UTHERFORD (2001) 62 verknüpft auch den Paian mit der männlichen Initiation, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der qewr…a zu einem Apollon-Heiligtum, die die jungen Männer zunächst aus der Polis entferne. <?page no="54"?> Die rezeptionsästhetische Methode 40 Überlebens der trauernden Gemeinschaft fungieren. 87 Bei diesen chorischen Formen in einer kritischen Situation können schon das bloße Gemeinschaftserlebnis und die erhoffte Hilfe von den Göttern als positive, autosuggestive Emotionalisierung gedeutet werden. Emotionen negativer wie positiver Art spielen bei diesen Krisensituationen eine zentrale Rolle. Sie werden vom Chor erfahren und vorgeführt und vom Publikum - zu verstehen als die im weitesten Sinne zuschauenden, zuhörenden und emotional teilnehmenden Angehörigen der Gemeinschaft - miterlebt. Dieses Faktum einer intensiven Emotionalisierung der gesamtgemeinschaftlich durchgeführten und rezipierten chorischen performance trifft sicher insgesamt auf das Phänomen ‚Chor’ in der frühgriechischen Kultur zu. Aufs Ganze gesehen ist dieser Emotionalisierung, die ja mit dem gesellschaftlichen Großereignis des Festes in engster Verbindung steht, eine positive und somit wieder gemeinschaftserhaltende Valenz zuzuordnen, welche in je verschiedener Weise wirksam wird: Nicht nur bei per se positiv konnotierten Formen wie dem Hymenaios, dem Linoslied oder dem Epinikion, sondern auch bei der Darbietung und Verarbeitung negativer Zustände und Affekte. 88 Trotz der sachlich falschen etymologischen Verbindung von corÒj mit car£ in Platons Nomoi 89 verweist dieser Text, der zudem die Göttergeschenke Fest und Musenchor als ‚Erholung von der Mühsal’ definiert, neben vielen anderen Zeugnissen auf die hohe Bedeutung der emotionalen Erfahrung, die abgebildet wird von Vokabeln wie ¹don» und tšryij . 90 Neben dem 87 Sh. G ÖDDE (2000a) 42 mit Anm.35 am Beispiel der Perser. Die Überreste der Threnoi Pindars (fr. 128a - 137 Sn.) haben einen „reflective, consolatory character“ (E LSE (1977) 79 Anm.19). 88 Sh. L ONSDALE (1993) 236-41, der über Paian, Goos und Threnos hinaus auf folgende Erscheinungen hinweist: Die Ambivalenz von Linoslied und Hymenaios (und Ololoyge), Chorformen, die trotz eines Ursprungs im Totenkult in einem eindeutig positiven Rahmen aufgeführt werden; die emotional ganz unterschiedlich konnotierten Bestandteile vieler Feste wie der Hyakinthien, die in Trauer beginnen und in Festfreude enden; und ganz ähnlich die Totenklage für Patroklos im 23. Buch der Ilias, die bekanntlich im festlichen Wettkampf endet. Immerhin stellt jedoch die Totenklage zunächst einmal eine temporäre Außerkraftsetzung der Ordnung dar, womit wohl die scharfe Entgegensetzung zu der per se freudigen ‚harmonischen’ Musik, mithin zur Ordnung des corÒj , zu erklären ist, die etwa Eur.Troad. 120f. evoziert wird: moàsa d caÜth to‹j dust»noij / ¥taj kelade‹n ¢¢coreÚtouj . Vgl. auch Plat.Leg. 947 b4-c2, wo implizit qrÁnoi und Ñdurmo… dem von den beiden Chören als Lob gesungenen Ûmnoj und allgemein der òd» entgegengesetzt sind. - Auch für die Chorlyrik könnte also in diesem Zusammenhang die aristotelische Katharsis-Lehre herangezogen werden, die von der o„ke…a ¹don» der Tragödie ausgeht (Arist.Poet. 1453 a35-37, 1453 b12f.), auch wenn sich für Aristoteles diese „eigentümliche Lustempfindung“ auch, das heißt sogar primär, beim bloßen Lesen einstellen soll. 89 Plat.Leg. 654 a4-5: ... coroÚj te çnomakšnai par¦ tÕ tÁj car©j œmfuton Ônoma . Zur Zurückweisung dieser Etymologie sh. S CHÖPSDAU (1994) 307. 90 Eine Auswahl aus Plat.Leg.: 655 d1, 657 d3 und e5, 658 b1, 665 c7, 670 d7-e1. Der Vater des Sängers Phemios heißt Terpias (Hom.Od. 22,330). Auch beim Namen Terpander klingt die Wurzel terpan, die im Musennamen Terpsichore die perfekte Assoziation zum Chortanz weckt. <?page no="55"?> Der Chor der griechischen song-and-dance culture 41 Gemeinschaftserlebnis, der emotionalen Wirkung des Gesanges und dessen ‚ideologischen’, identitätsstiftenden Inhalt dürfte allein schon die Präsentation der Ordnung in der rhythmischen Tanzbewegung einer absolut homogenen Menschengruppe einen starken emotionalen Effekt haben. 91 2.5 Zusammenfassung I: Die Choraufführungen im homerischen Apollon-Hymnos als typische Beispiele Diese festliche Freude ist auch in den beiden Passagen des homerischen Apollon-Hymnos omnipräsent, in denen, einmal auf Delos, einmal auf dem Olymp, prototypisch das Ideal einer chorischen performance dargestellt wird. Hier finden sich neben der ständigen Betonung der emotionalen Wirkung auf den Rezipienten, der tšryij , 92 alle hier schon besprochenen wesentlichen Merkmale einer Choraufführung versammelt, die nun abschließend zusammengestellt seien. Bei der pan»gurij auf Delos sind dies (Hom. h. Ap. 146-176): Die öffentliche Versammlung der gesamten Gemeinschaft der Ioner mit Frauen und Kindern auf Delos; 93 die Gebundenheit der ¢oid» an den kultischen Agon; der temporäre Ausnahmecharakter dieses Festes als Kontrapunkt zur Mühsal der conditio humana (hierfür sind auch vv.190-93 aus der olympischen Passage zu beachten); und der Inhalt des hymnischen Chorgesanges der Deliaden - Preis der Gottheiten und rühmende Erinnerung an heroische Männer und Frauen. Bei der Ðm»gurij auf dem Olymp lassen sich als prototypische Kennzeichen feststellen (182-206): Die Dichotomie von chorischer Gemeinschaft und Einzelfigur (Apollon als Sängergestalt und Artemis als durch Schönheit hervorstechende Chorführerin); der Chor als eine Art erzieherisches Auffangbecken für den Bewegungs- und Spieltrieb von jungen, hier männlichen Angehörigen der Gemeinschaft (Apollon, Hermes und Ares - ist bei Ares 91 Auch die Moderne ist sich dieser Wirkung bewusst: Ob Synchronschwimmen, Militärmusikparaden oder natürlich die ‚Choreographie’ in Musicals und Videoclips der Popmusik - überall setzt man auf die absolut gleichmäßige rhythmisch-harmonische Körperbewegung der ganzen Menschengruppe (die hier freilich nicht unbedingt auch im lÒgoj singen muss). 92 Dabei handelt es sich um ganz verschiedene, emotional affizierte Rezipienten: Apollon ( ™pitšrpeai , 146 und tšrpousin , 150); „alle“ Ioner ( c£rij , 153); ein äußerer Beobachter des delischen Festes ( tšryaito , 153); die vielen Festbesucher unterschiedlicher Herkunft auf Delos ( qšlgousi d fàl' ¢nqrèpwn , 161); auf dem Olymp Leto und Zeus ( ™pitšrpontai , 204). Und sogar der Chor der Deliaden selbst wird von ‚Homer’, auf den als Anonymus angespielt wird, positiv affiziert ( ¼distoj , 169, tšrpesqe , 170). Vgl. insgesamt zu diesem Hymnos L ONSDALE (1993) 51-73. 93 Es handelt sich wohl um Deputationen der einzelnen Poleis, die auch jeweils ihre eigenen Chöre zur Aufführung brachten (vgl. Thuk. 3,104,3: ... coroÚj te ¢nÁgon aƒ pÒleij ); demgegenüber ist der im homerischen Hymnos genannte Chor der delischen Mädchen ortsgebunden und das eigentliche Zentrum dieses panionischen Völkerfestes, wo er die ganze Gemeinschaft repräsentiert, obwohl ihm ein gewisser Grad an Professionalität zu eigen ist. <?page no="56"?> Die rezeptionsästhetische Methode 42 vielleicht auch an die militärische Disziplinierung gedacht? ); die Merkmale Vitalität, Harmonie und Ordnung der Gemeinschaft, wie sie personifiziert sind in den jugendlichen, weiblichen Einzelfiguren und Personengruppen: Chariten, Horen, Harmonia, Hebe und auch Aphrodite, die zusammen den kreisförmigen und - wie beim Musenchor - aus neun Tänzerinnen bestehenden Chorreigen unter der Führung von Artemis tanzen und so die von ihnen repräsentierten Werte und Vorstellungen auch visuell und konkret konfigurieren: ... Ñrceànt' ¢ll»lwn ™pˆ karpù ce‹raj œcousai (196). Die Chariten im Olymp und die auf dem festlichen Delos wirkende c£rij verbinden menschliche und göttliche Welt. 94 Das im Hymnos stark betonte Moment der Visualität bei der Rezeption der Choraufführungen durch das - jeweils menschliche und göttliche - Publikum steigert die emotionale Wirkung weiter und stellt einen zusätzlichen, über die Akustik noch hinausgehenden Rezeptionskanal dar. Der Hymnos preist den Chor der Deliaden für seine perfekten mimetischen Qualitäten bei der Nachahmung menschlicher Stimmen und Dialekte sowie von Geräuschen. Dies hat eine vollständige affektive Involvierung des Rezipienten zur Folge: prÕj d tÒde mšga qaàma, Óou klšoj oÜpot' Ñle‹tai, koàrai Dhli£dej `Ekathbelštao qer£pnai: a† t' ™peˆ ¨r prîton m n 'ApÒllwn' Ømn»swsin, aâtij d' aâ Lhtè te kaˆ ”Artemin „ocšairan, mnhs£menai ¢ndrîn te palaiîn ºd gunaikîn Ûmnon ¢e…dousin, q qšlgousi d fàl' ¢nqrèpwn. p£ntwn d' ¢nqrèpwn fwn¦j kaˆ krembaliastÝn mime‹sqai ‡sasin: f fa…h dš ken aÙtÕj ›kastoj fqšggesq': oÛtw sfin kal¾ sun£rhren ¢oid» . (156-64) Die perfekte harmonische ‚Zusammenfügung’ des Chorgesanges, die sicher auch inhaltlich auf die hohe Qualität der Mimesis in Bezug auf die nachgeahmte Realität zu beziehen ist, bezaubert den Rezipienten emotional und spricht ihn so sehr an, dass er selbst im Chor mitzusingen scheint. 95 Für eine 94 Der ins Deutsche nur sehr schwer bündig übersetzbare Begriff c£rij markiert häufig eine positive reziproke Beziehung, ein car…zesqai im do-ut-des-Verhältnis zwischen Göttern und Menschen, das in der Freude des Dankfestes resultiert; sh. L ONSDALE (1993) 60 und 76. 95 Vgl. hierzu G ENTILI (1988): „The role of the spectator in this process was not a purely passive one; rather, through the psychosomatic pleasure inherent in the visual (gestural) and auditory (musico-rhythmical) aspects of the spectacle, he became involved to the point of being himself actor and participant in the mimetic action. Identification between the hearer-spectator and the various characters in the narrative was complete.“ (39f.). Die Deliaden erfüllen sozusagen das ÐmoiÒthj - und ÑrqÒthj -Gebot, das Plat.Leg. 668 a6-c2 für die gesamte mousik» aufgestellt wird, um, so darf man die Argumentation des Atheners zusammenfassen, eine perfekte emotionale Involvierung aller Beteiligten zu erreichen, welcher Vorgang bei Platon immer wieder ™pJd» genannt wird (Leg. 659 e2, 664 b4, 665 c4, 666 c6). <?page no="57"?> Der Chor der griechischen song-and-dance culture 43 nähere Spezifizierung dieser Mimesis lässt sich kaum eine sichere Aussage treffen, etwa ob eine Geschichte aus dem Heroenmythos der „Männer und Frauen der Vorzeit“ erzählt oder sogar vorgespielt wurde, indem die Deliaden Rollen verkörperten. Jedenfalls sind Mimesis und emotionale Involvierung des Zuschauers Merkmale auch der Gattung Tragödie, in der der Chor innerhalb einer zunächst einmal fiktionalen Welt agiert. Im Folgenden soll nun der Transformationsprozess von der Chorlyrik hin zum Chor der Tragödie beleuchtet werden. 2.6 Zusammenfassung II: Gemeinschaft, Ordnung und Emotionen als zentrale Wahrnehmungskriterien Zusammenfassend lässt sich nun über das Phänomen ‚Chor’ sagen, dass für die Wahrnehmung eines Angehörigen schon der frühgriechischen song-anddance culture drei zentrale Merkmale ausschlaggebend gewesen sind: 1. Das Erlebnis der Gemeinschaft i m Chor selbst und d u r c h den Chor, der als Repräsentation der g e s a m t e n Polis begriffen wird, auch wenn jeweils bestimmte soziale Gruppen (fast ausschließlich Laien) als S e g m e n t e der Polis die Chormitglieder bilden. Die Polis (oder eine polisähnliche Gemeinschaft) nimmt sich im Akt der festlichen Aufführung in ihrer Identität selbst wahr, und dies in der Regel in der Auseinandersetzung mit dem Götter- und Heroenmythos. 2. Der Aspekt der Ordnung - so sehr, dass man im Verständnis der Antike ‚Chor’ und ‚Ordnung’ fast gleichsetzen kann. Dieser Punkt gilt gewissermaßen vom mikrobis zum makrokosmischen Rahmen, für Menschen- und Götterwelt und hat seinen konkreten kulturellen Bezugspunkt im Chor als Erziehungsinstrument, durch das die jungen Mitglieder der Polis deren Werte und Normen vermittelt bekommen. 3. Das Faktum einer intensiven Emotionalisierung der Choraufführung, die während der performance zu einer emotionalen Involvierung des Rezipienten und zu einer weitreichenden sympathetischen Identifizierung mit den aktiven Choreuten führt. Die dabei entstehende positive tšryij steht mit dem Erlebnis von Gemeinschaft und Ordnung in enger Verbindung. <?page no="58"?> Die rezeptionsästhetische Methode 44 3. Der Chor als Boden der Tragödie und sein Identifikationspotential für den Zuschauer 3.1 Vorbemerkung Die folgenden Ausführungen zum Chor in der Tragödie stehen unter der Prämisse, dass die drei ästhetischen Faktoren Gemeinschaft, Ordnung und Emotionen, wie sie als Orientierungspunkte am Erfahrungshorizont des Angehörigen der song-and-dance culture beschrieben worden sind, auch für die Wahrnehmung des tragischen Chores von wesentlicher Bedeutung sind. Damit wollen wir den Chor der Tragödie als eine Fortentwicklung des prädramatischen, lyrischen Chores innerhalb der umfassenden song-anddance culture begreifen, wobei neben wichtigen Kontinuitäten freilich auch Differenzen zu konstatieren sein werden. Notwendigerweise wird dabei auch der Blick auf den Chor der gesamten Griechischen Tragödie fallen und eine Auseinandersetzung mit bisherigen allgemeinen Charakterisierungen erfolgen müssen. Jedoch sollen die getroffenen Aussagen stets in besonderem Maße für Aischylos und die Frühzeit der Tragödie gelten (also etwa für die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts). Nachgewiesen werden soll hier, dass der Chor dem Publikum ein großes Identifikationspotential bereitstellt und damit den ‚Boden’ der Tragödie bildet. 3.2 Entstehungsfragen: Dithyrambos, Tragödie und die Polis Die Betonung der mimetischen Fähigkeiten der Deliaden im homerischen Apollon-Hymnos ist ein sehr früher Beleg für die Möglichkeit, dass bereits die prädramatische Chorlyrik auch mimetische Akte enthalten kann. Dann sind es wieder die Nomoi Platons, in denen, erneut unter pädagogischen Vorzeichen, mehrfach von der Mimesis der core…a und der mousik» überhaupt die Rede ist: Die korrekte Nachahmung und Abbildung schöner Zustände und Verhaltensweisen soll den politisch erwünschten, positiven erzieherischen Effekt hervorbringen. 96 Dass die entsprechenden Orientierungsmuster offensichtlich dem Bereich des Heroenmythos zu entnehmen sind, 97 reflektiert den üblichen Inhalt chorlyrischer Dichtung - insbesondere des Dithyrambos, der nach einhelli- 96 Plat.Leg. 655 f5: ™peid¾ mim»mata trÒpwn ™stˆ t¦ perˆ t¦j core…aj ktl.; 668 a6f.: oÙkoàn mousik»n ge p©s£n famen e„kastik»n te e nai kaˆ mimhtik»n . Das umfangreiche Problemfeld, das sich mit dem Begriff ‚Mimesis’ schon vor Platon und Aristoteles öffnet, kann hier nicht betreten werden (vgl. K OLLER (1954) zum musikalisch-ausdruckshaften Aspekt und E USTERSCHULTE (2000) 1237f.). Hier und im Folgenden soll mit ‚Mimesis’ die dramatisierte Nachahmung von Handlungsabläufen und von Figuren im Theater erfasst werden, durchaus im Sinne von Aristoteles (Poet. 1449 b24: Die Tragödie als m…mhsij pr£xewj ). Natürlich könnten zum Beispiel auch rituelle Akte eines nichtdramatischen Chores und die Darstellungsmittel Tanz und Gesang unter dem Aspekt der Mimesis untersucht werden. 97 Zu erschließen aus den Plat.Leg. 660 a6-8 genannten Kardinaltugenden. <?page no="59"?> Der Chor als Boden der Tragödie 45 ger, mit dem Zeugnis von Aristoteles (Poet. 1449 a9-11) übereinstimmender Forschungsmeinung als Keimzelle der Griechischen Tragödie anzusehen ist. Aus den zahlreichen, divergierenden Hypothesen zur Entstehung der Tragödie 98 schält sich als einigermaßen fester Kern heraus, dass sich das anfängliche chorische Gemeindekultlied zu Ehren des Dionysos durch die Verarbeitung anderer, immer neuer Inhalte aus dem gemeingriechischen Mythos weiterentwickelte zu einer Art „Heroenballade“ 99 . Auffallend ist im Zuge dieser Entwicklung die politische Instrumentalisierung gerade dieser Gattung: Zunächst in verschiedenen, von Tyrannen dominierten Poleis und dann besonders im demokratischen Athen. Ausschlaggebend für die Förderung von Dithyrambendichtern - wie Arion durch Periander in Korinth, Epigenes durch Kleisthenes in Sikyon, und Lasos und Simonides durch den Peisistratiden Hipparchos in Athen - und geradezu ideologischer Hintergrund ist offensichtlich die volksfreundliche, sozial harmonisierende Qualität besonders des Dionysoskultes und des Dithyrambos: 100 Die von uns schon herausgestellten rezeptionsästhetisch relevanten drei Merkmale des Chores treffen gerade für diese system- und polisstabilisierende chorlyrische Gattung zu. Im demokratischen Athen wird dann der an einer ganzen Reihe von großen Festen aufgeführte Dithyrambos zu d e r identitätsstiftenden Dichtungsgattung der Polis schlechthin. Schon vor der festen Institutionalisierung des Dithyrambos an den Großen Dionysien durch Lasos von Hermione um 509/ 508 war zwischen 535 und 533 der Tragödienagon eingerichtet worden 101 - die morphologische Vorform der Tragödie, welche sich schon selbständig entwickelt hatte, wurde gewissermaßen ex eventu institutionalisiert. Ebenso wurde das Satyrspiel, dessen Meister dann Pratinas war, etwa um dieselbe Zeit in das offizielle Festprogramm aufgenommen, um wohl an die mittlerweile verlorengegangenen Ursprünge des Dionysoskultes und der damit verbundenen dramatisierten Darbietungen anzuknüpfen. Vom Abbruch dieser Verbindung, für die Phrynichos und Aischylos verantwortlich gemacht werden, zeugt das bei Plutarch überlieferte Sprichwort „Das hat ja nichts (mehr) mit Dionysos zu tun! “: Frun…cou kaˆ A„scÚlou t¾n tragJd…an e„j mÚqouj kaˆ 98 Die wichtigsten Arbeiten, die auch jeweils die ältere Forschung aufarbeiten, seien wenigstens genannt: P ATZER (1962), P ICKARD -C AMBRIDGE (1966), G ARVIE (1969) 91-129, L ESKY (1972) 17-48, H ERINGTON (1985), L ATACZ (2003) 51-64, L EONHARDT (1991) mit der ablehnenden Rezension von P ATZER (1995). 99 S CHMID -S TÄHLIN (1929) 342. Diese Gattungsbezeichnung kann sich auf Zeugnisse wie Plut. de mus. 10 ( ¹rwikîn Øpoqšsewn ) berufen. 100 So Z IMMERMANN (1992) 138, der eine grundlegende Monographie über die Geschichte der Gattung vorgelegt hat. 101 Zu den Datierungsfragen sh. H ERINGTON (1985) 79-94 und W EST (1989), der diese „fixed points“ (254) in der Frühgeschichte der Tragödie einer kritischen Überprüfung unterzieht. <?page no="60"?> Die rezeptionsästhetische Methode 46 p£qh proagÒntwn, ™lšcqh tÕ ‚ t… taàta prÕj tÕn DiÒnuson ; ’ (TrGF I, 3 T7; vgl. TrGF I, 1 T18). 102 Wenn Aristoteles in seiner Entstehungshypothese die Tragödie ¢pÕ tîn ™xarcÒntwn tÕn diqÚrambon (Poet. 1449 a10f.) sich entwickeln lässt, so dürfte es zulässig sein, diese schon bei Archilochos im Zusammenhang mit dem Dithyrambos zu findende œxarcoj -Form in eine Verbindung zu bringen mit der grundsätzlichen Spannung zwischen der Gemeinschaft des Chores und der Einzelfigur des Chorführers, die auch für andere Chorformen konstitutiv ist. 103 Diesen œxarcoj , das heißt zugleich den corhgÒj , kann man sich ohne weiteres als Vorstufe des Einzelschauspielers denken, der dem in sich geschlossenen Chor gegenübertritt. 104 Ob dabei die Erfindung von Prolog und Rhesis und damit die Einführung des ersten Schauspielers ( Øpokrit»j ) die singuläre, epochemachende Leistung des Thespis war, 105 sei dahingestellt: Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Einzelnem und Gemeinschaft ist offenkundig von zentraler Bedeutung für die gesamte Griechische Tragödie und ist darüber hinaus bereits in der frühgriechischen Dichtung fest verankert. So hängt in der Ilias das Wohlergehen des Griechenheeres vor Troja zum einen vom Königsheil Agamemnons ab, zum anderen von der Mitwirkung des besten Kämpfers Achill an der Schlacht. Entsprechendes gilt für das Verhältnis der Polis Troja und ihrer Heeresgemeinschaft zu Hektor. Explizit und in allgemeiner Form formuliert dann Hesiod: pÒllaki kaˆ xÚmpasa pÒlij kakoà ¢ndrÕj ¢phÚra, / Ój tij ¢litra…nV kaˆ ¢t£sqala mhcan£atai (Theog. 239f.). 106 Wenn Aristoteles andererseits zur Tragödie bemerkt: œti d tÕ mšgeqoj ™k mikrîn mÚqwn kaˆ lšxewj gelo…aj di¦ tÕ ™k saturikoà metabale‹n Ñy ¢pesemnÚnqh (Poet. 1449 a19-21), so hat dieser Umschlag aus einer kurzszenischen, satyrhaft-burlesken Form in eine pathetisch-erhabene Tragödie mit 102 Zenob. 5,40 nennt als solche „undionysische“ Themen der von ihm nicht näher bezeichneten poihta… „Aianten und Kentauren“. Für Thespis ist immerhin ein Pentheus bezeugt (TrGF I, 1 F1c); bei Aischylos gibt es tatsächlich doch ein gewisses Repertoire dionysischer Themen (Lykurg-Trilogie mit Edonoi, Bassariden, Neaniskoi, weiter sind die Titel Semele, Pentheus, Bakchen, Xantriai bezeugt; vgl. Anhang 2, S.532ff.). 103 Archil. fr. 120 W (= 77 D): æj DiwnÚsoi' ¥naktoj kalÕn ™™x£rxai mšloj / o da diqÚrambon, o‡nJ sugkeraunwqeˆj fršnaj . Entsprechend für den Paian: aÙtÕj ™ ™x£rcwn prÕj aÙlÕn Lšsbion pai»ona (fr. 121 W (= 76 D)). 104 Neben anderen haben besonders K RANZ (1933) 16f. und S TOESSL (1987), passim, den Gegensatz von Doppelchören, die in der frühgriechischen Kultur belegt sind, als Vorform des tragischen Spiels begriffen; K RANZ ging hierbei allerdings noch von der Frühdatierung der Hiketiden aus. In unserem Sinn hingegen N AGY (1990) 378. - Zu den Doppel- und Halbchören in der Tragödie sh. L AMMERS (1931). 105 TrGF I, 1 T6 (Themistios: kaˆ oÙ prosšcomen 'Aristotšlei Óti tÕ m n prîton Ð corÕj e„siën Ïden e„j toÝj qeoÚj, Qšspij d prÒlogÒn te kaˆ ·Ásin ™xeàren ktl .) und T7 (Diog.Laert.: tÕ palaiÕn ™n tÍ tragJd…v prÒteron m n mÒnoj Ð corÕj ddiedram£tizen, Ûsteron d Qšspij ›na Øpokrit¾n ™xeàren Øp r toà dianapaÚesqai tÕn corÒn ). Beide Zeugnisse verweisen deutlich auf die primäre Existenz des Chores, förmlich Kern einer Art Urtragödie. 106 Vgl. weiter Pind.Pyth. 3,35-37, Plat.Leg. 910 a7-b7, Philostr.VA 8,5. <?page no="61"?> Der Chor als Boden der Tragödie 47 einem komplexeren Plot aus dem Mythos (bekanntlich meint der aristotelische màqoj die sÚstasij tîn pragm£twn , 1450 a15) 107 vielleicht gerade damit zu tun, dass der Dithyrambos, der als Kultlied des Weingottes Dionysos anfangs solche burlesken, ausgelassenen Elemente in einem bäuerlichen Umfeld hatte, im Zuge seiner politischen Inanspruchnahme und ideologischen Institutionalisierung für die Polis eine immense Veränderung durchlaufen hat. 108 Dieser Wandel scheint somit in unmittelbarem Zusammenhang 107 Die Entwicklung des ‚mythischen’ Plots ( màqoj ), mit dem offenkundig das Konzept der dramatischen Spannung und die Erzeugung von p£qh verbunden ist, ist von zentraler Bedeutung für die Beurteilung der Leistung des Aischylos (sh. unten S.71-75). 108 Zur Entstehung des Dithyrambos speziell in Athen sh. Test. 1 I ERANÒ (1997): ¢pÕ tÁj kat¦ toÝj ¢groÝj paidi©j kaˆ tÁj ™n to‹j pÒtoij eÙfrosÚnhj , zur Wandlung hin zu einer bühnenmäßigen tšcnh Test. 81. Geradezu sprichwörtlich ist die ursprüngliche Verbindung von Weingenuß und Dithyrambos: Vgl. (neben dem locus classicus Archil. fr. 120 W) Epicharm fr. 115 K AIBEL oÙk œsti diqÚramboj, Ókc' Ûdwr p…Vj. Merkwürdig erscheint, wie gerade eine derartige Gattung, der oft genug Attribute der Unordnung, Übertreibung und Ausgelassenheit zugeschrieben werden (vgl. auch Test. 40 und 134 I ERANÒ , im Unterschied zur t£xij und swfrosÚnh des Paian), zu d e m musischen Erziehungs- und Ordnungsinstrument der Polis Athen schlechthin werden konnte. Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist für diese immense Wandlung Hipparchos mit verantwortlich, der boulÒmenoj paideÚein toÝj pol…taj (Ps.-Plat. Hipp. 228 c4) neben Anakreon und anderen auch den Simonides nach Athen holte. Besonders die Landbevölkerung sollte an die Polis gebunden werden, wie die Aufstellung von Hermes-Büsten mit gnomischen Sinnsprüchen entlang der Wege in die Stadt zeigt. Gemäß dem bereits zitierten Diktum des Simonides pÒlij ¥ndra did£skei (fr. 53 D) kann gemutmaßt werden, dass der im Agon institutionalisierte Dithyrambos, der als fünfzigköpfiger kÚklioj corÒj Sinnbild der Ordnung ist, ebenfalls solche Gnomen enthalten hat. Immerhin wird dieser ‚alte’ Dithyrambos (das heißt nicht mehr der bäuerlich-burleske, sondern schon der der Polis) - im Gegensatz zu den avantgardistischen, oft experimentierenden, rein kunstmäßigen Dichtungen eines Philoxenos, Timotheos oder Telestes gegen Ende des 5. Jahrhunderts - als ‚geordnet’ bezeichnet: ... ™peˆ par£ ge to‹j ¢rca…oij tetagmšnoj Ãn kaˆ Ð diqÚramboj (Test. 78 I ERANÒ ). Auffallend ist zweifellos, dass etwa seit der Mitte des 5. Jahrhunderts nur noch die Gattungsbezeichnung kÚklioj corÒj zu finden ist (vgl. K ÄPPEL (2000) 22-26), was ein deutliches Zeichen für die innere Wandlung sein dürfte. Mit guten Gründen argumentiert D’A NGOUR (1997) 342f. dafür, dass erst Lasos den zuvor prozessionsförmig als pomp» und q…asoj auftretenden Dithyrambenchor kreisrund aufgestellt hat, um die Aufführungsqualität zu steigern. Was speziell die Anfänge der tragJd…a in Athen betrifft, so könnte, ausgehend von diesen Überlegungen über einen tiefgreifenden Wandel des anfangs ausgelassenen, unernsten Dithyrambos, die in der Solon-Vita Plutarchs überlieferte Anekdote vom Zusammenstoß des alten Solon mit dem Experimentator der tragJd…a und deren Initiator Thespis darauf hinweisen, dass es sich zunächst in der Tat um eine saturikÒn - Form handelte, in der die ‚untragische’ paidi£ das zentrale, auf Affektstimulation abzielende Merkmal war, die aber bereits als Mimesis wahrgenommen wurde: 'Arcomšnwn d tîn perˆ Qšspin ½dh t¾n tragJd…an kine‹n , kaˆ di¦ t¾n kainÒthta toÝj polloÝj ¥gontoj toà pr£gmatoj, oÜpw d' e„j ¤millan ™nagènion ™xhgmšnou, fÚsei fil»kooj ín kaˆ filomaq¾j Ð SÒlwn, œti m©llon ™n g»rv scolÍ kaˆ ppaidi´ kaˆ n¾ D…a pÒtoij kaˆ mousikÍ parapšmpwn ˜autÒn, ™qe©to tÕn Qšspin aÙtÕn ØpokrinÒmenon, ésper œqoj Ãn to‹j palaio‹j . met¦ d t¾n qšan prosagoreÚsaj aÙtÕn ºrèthsen, e„ tosoÚtwn ™nant…on oÙk a„scÚnetai thlikaàta yyeudÒmenoj (Mimesis! ). f»santoj d toà <?page no="62"?> Die rezeptionsästhetische Methode 48 zu stehen mit der Entstehung der Sozialform Polis, für die die kulturelle, besonders pädagogische Einrichtung Chor untrennbar mit dem Aspekt der Ordnung verbunden ist. Das gesamte Satyrwesen aber, wie an den Resten des Satyrspieles noch gut zu erkennen, ist in einem naturhaften, unzivilisierten Raum außerhalb der Polis angesiedelt; das Satyrspiel und sein Chor präsentiert für den athenischen Zuschauer so eine „Gegenwelt, die ... die Ideale der Polis und ihrer Mitglieder zugleich in Frage stellt und - ex negativo - bestätigt.“ 109 Die Satyrn sind damit insbesondere auch die Konterkarierung des Erziehungsideals der zur Ordnung führenden ™gkÚklioj paide…a , die besonders in Athen im dithyrambischen kÚklioj corÒj vermittelt wird. Man könnte also sagen, dass die Entwicklung des Dithyrambos und mit ihm die der Tragödie auch den Weg von der naturhaften, agrarischen Kultgemeinschaft zur festen, städtischen Ordnung der Polis abbildet. 110 Gleichwohl werden in die neue Gattung die archaischen, ‚wilden’ Urmerkmale integriert. Dies zeigt sich besonders in der alljährlich an den Großen Dionysien zelebrierten Einholung des Dionysos in die Stadt, welche dieses zentrale Fest, ganz wie die Saturnalien in Rom, als temporäre Umkehr der Ordnung intensiv feiert. Davon ausgehend hat eine auf Ritualität konzentrierte Forschungsrichtung auch die an den Dionysien aufgeführte Dichtungsgattung Tragödie als Form des ‚Sozialen Dramas’ interpretiert, in dem die zentralen Werte und die Ordnung der Gemeinschaft zeitweise erschüttert und so einer kritischen Überprüfung unterzogen würden. 111 Auch wenn man sich auf solche und weitere rituelle und soziale Implikationen im Detail nicht einlassen will, so ist einer Charakterisierung der Griechischen Tragödie als einer eminent ‚politischen’ Form zuzustimmen. Die Gebundenheit dieses Genos an die Polis gilt zum einen für den Sitz im Leben, also für die Aufführungssituation, zum anderen für die Inhalte, die sich stets in einem sozialen Rahmen bewegt, der entweder - dies in der großen Mehrzahl der Fälle - Qšspidoj, m¾ deinÕn e nai ttÕ met¦ paidi©j lšgein t¦ toiaàta kaˆ pr£ssein, sfÒdra tÍ bakthr…v t¾n gÁn Ð SÒlwn pat£xaj „ tacÝ mšntoi t t¾n paidi£n “ œfh „ taÚthn ™painoàntej oÛtw kaˆ timîntej eØr»somen ™n to‹j sspouda…oij .“ (Plut.Sol. 29,6-7). 109 K RUMEICH / P ECHSTEIN / S EIDENSTICKER (1999) 39. - Die direkte Verbindung von Satyrwesen und Dithyrambos ist umstritten; insbesondere existiert kein wirklich sicheres Zeugnis für einen Satyrchor, der den Dithyrambos gesungen hat, was die entscheidende Verbindung zwischen den beiden separaten Aussagen von Aristoteles wäre: Vgl. P ATZER (1962) 52, G ARVIE (1969) - „The hybrid ‚satyr-dithyramb’ is the invention of modern scholars.“ (98) - und I ERANÒ (1997) 182. Andererseits zeigt allein die Existenz des Satyrchores im Satyrspiel, das ganz offenkundig eine genetische Verwandtschaft mit Tragödie und Dithyrambos hat, dass es gewisse Berührungspunkte zwischen den drei Gattungen geben muss, die ja auch alle den Heroenmythos zum Gegenstand haben. 110 Vgl. TrGF I, 1 T2 über Thespis (vom Marmor Parium): ... Öj ™d…daxe dr©ma ™™n ¥stei . 111 Zu T URNER sh. oben S.39 mit Anm.84; aus der Gräzistik sind vor allem die Beiträge in den Sammelbänden von W INKLER / Z EITLIN (1990) und G OLDHILL / O SBORNE (1999) zu nennen. <?page no="63"?> Der Chor als Boden der Tragödie 49 explizit von einer Polis gebildet wird oder doch zumindest von polisähnlichen Gemeinschaften. 3.3 Identifikation durch Mimesis: Der Chor als Rollenträger In jeder Griechischen Tragödie hat der Chor eine bestimmte Rollenidentität als Personengruppe innerhalb der fiktionalen, dargestellten Bühnenwelt. Eine erstmalige Herausbildung dieser Rolle ist wohl zugleich mit der mimetischen Darstellung der heroischen Einzelfigur durch den Einzelnen erfolgt, wenn also der œxarcoj und Chorführer zum Øpokrit»j wurde. Dieser doppelte mimetische Akt von Schauspieler und Chor ist als identisch mit dem Anlegen der Maske zu denken, 112 welche nicht nur die Übernahme der fremden, von beiden dargestellten Identität anzeigt, sondern auch, von der Lebenswelt des Zuschauers aus gesehen, die Existenz der dargestellten Handlung und deren Figuren in einem eigenen Raum. Dieser Raum steht aber in einem Nahverhältnis zur Gemeinschaft der Polis, aus der der Chor der Tragödie also nicht austritt, wenn er in die fiktionale Welt hineingeht. Für die Präsentation einer Rollenidentität durch den Chor der Tragödie (oder auch des Dramas insgesamt) ist es nun unabdingbar, dass dieser Chor mit einem eigenen Ich ausgestattet wird: Nur wenn er über sich selbst sprechen kann, wird seine Identität erkennbar. Dies stellt gegenüber dem Dithyrambos, so ist nach den erhaltenen Resten dieser Gattung zu schließen, eine Innovation dar, knüpft andererseits aber an die vorhandenen Ich-Aussagen in anderen Chorgattungen an. Denn der Dithyrambenchor trägt, wie alle anderen nicht-dramatischen Chöre, keine Maske und tritt kaum als Rollenträger auf. Wenn er màqoi als ‚Plots’ zum Inhalt seines Gesanges macht, so handelt es sich dabei, folgt man der Dreiteilung der po…hsij bei Platon, vorwiegend um narrative ¢paggel…a, im Unterschied zur mimetischen Tragödie. 113 Das heißt, beim Dithyrambos (die Charakterisierung Platons darf man wohl auch auf den bereits mit Lasos und Simonides beginnenden ‚polishaften’ Dithyrambos qua kÚklioj corÒj anwenden) b e r i c h t e t und e r z ä h l t der Chor einfach eine Geschichte. Im differenzierenden Blick auf den Chor der Tragödie ist festzustellen, dass es beim dithyrambischen Chor so gut wie nicht auf den Chor selbst als Personengruppe und auf seine Ich-Aussage ankommt - dies zeigen die erhaltenen Reste der Gattung von Pindar und Bakchylides. 114 Von da aus ist es 112 Auch in Form des Schminkens des Gesichts, wie von Thespis überliefert (TrGF I, 1 T1). 113 Plat.Rep. 394 b10-c5: ... Óti tÁj poi»seèj te kaˆ muqolog…aj ¹ m n di¦ mim»sewj Ólh ™st…n ... tragJd…a te kaˆ kwmJd…a, ¹ d di' ¢paggel…aj aÙtoà toà poihtoà: eÛroij d' ¨n aÙt¾n m£list£ pou ™n diqur£mboij: ¹ d' aâ di' ¢mfotšrwn œn te tÍ tîn ™pîn poi»sei ktl . Etwas weniger differenzierend Arist.Poet. 1447 a13-15, wo Epos, Tragödie, Komödie, Dithyrambos und der Großteil der Auletik und der Kitharistik mim»seij tÕ sÚnolon sind. 114 In den sechs Dithyramben des Bakchylides (= c. 15-20 im Gesamtwerk) sind an Ich- Aussagen des Chores nur zu nennen: Dith. 2,2 ( ™mo… ) und 13 ( klšomen ) und Dith. 5,37 ( ™mo… ), und selbst hier bleibt der Chor als Person sehr blass („In his poems the chorus <?page no="64"?> Die rezeptionsästhetische Methode 50 recht wahrscheinlich, dass entsprechend bereits in den Heroenerzählungen der früheren Dithyramben eines Arion, Lasos und Simonides der Chor als charakterisierte Personengruppe eine nur bestenfalls untergeordnete ‚Rolle gespielt’ hat - das heißt, er besaß keine eigene Rollenidentität in der performance. Wenn die dithyrambischen tragikoˆ coro… in Sikyon zu Beginn des 6. Jahrhunderts Adrast prÕj t¦ p£qea aÙtoà im Gesang verehrten (Her. 5,67,5), so hat dieser Dithyrambenchor wohl das Leid der mythologischen Bezugsfigur berichtet und nicht das eigene p£qoj als dasjenige einer involvierten Personengruppe emotional ausgedrückt, wie dies für den tragischen Chor so typisch ist. Allenfalls als eine Art epischer Erzähler und Sänger kann der Chor auch von sich selbst als Person und seiner Tätigkeit („wir singen von … “) sprechen. Dies ist zwar von einiger Relevanz für die auf solche performative Verben achtende Sprechakt-Theorie auch in Bezug auf den Chor des Dramas, 115 stellt jedoch zunächst, in dem hier umrissenen Kontext der chorischen Rollenidentität, einen kategorialen Unterschied zum Chor des Dramas dar, der ein wirklich persönliches Ich entwickelt. Die Aussage der pseudoaristotelischen Problemata über das mit der Abschaffung der antistrophischen Gliederung einhergehende „mimetisch Werden“ des Dithyrambos (… ™peid¾ mimhtikoˆ ™gšnonto , 918 b19f.), die sich auf die radikalen, avantgardistischen Neuerungen innerhalb dieser Gattung gegen Ende des 5. Jahrhunderts bezieht, lässt auf die nicht-mimetische Qualität des älteren Dithyrambos, mithin seiner zur Tragödie führenden Frühform, schließen. Tatsächlich ähnelt somit der narrative, nicht-dramatische Dithyrambos mit seinem offenbar fehlenden oder zumindest unwichtigen chorischen Ich in der poetischen do not speak of themselves“, so K AIMIO (1970) 33 zu Bakchylides’ Gesamtwerk). Der 18. Dithyrambos ( QhseÚj ) enthält einen Dialog zwischen dem Chor, der sich als eine Gruppe von Athenern offensichtlich in einer dramatischen Fiktion bewegt, und dem König Aigeus (möglicherweise traten zwei Halbchöre auf), scheint jedoch bereits von der entwickelten Tragödie zumal des Aischylos beeinflusst zu sein. Im 17. Dithyrambos ( 'H…qeoi À QhseÚj ) vv.128-32 ist zunächst eine ‚Lied-im-Lied-Technik’ zu beobachten, die mit der Rollenidentität der Choreuten spielt: „Da verschmilzt also der Chor des Theseus mit dem keischen Chor, für den Bakchylides gedichtet hat (S NELL (1975) 96; kritisch-differenzierend hierzu H OSE (1995), der das Lied in die 90er Jahre datiert). Doch singen hier auffallenderweise die beiden Chöre eben nicht über s i c h s e l b s t in der Ersten Person. - Bei den Resten der Dithyramben Pindars handelt es sich zum Großteil recht eindeutig um den Dichter, der im Chorgesang von sich selbst spricht (so fr. 70a Sn.-M.,15; 70b,23-25; 81,1f.). Nur vereinzelt finden sich Belege, die problemlos auf den Chor passen - aber nicht als Träger einer Rollenidentität, sondern als singenden corÒj (70d (c),6f. kleÒmenoi , 70c,16 pÒnoi corîn ). Besonders schwierig ist die Zuordnung des Ich am vollständig erhaltenen Beginn des athenischen Dithyrambos (75,7- 13); einiges spricht auch hier für Pindar selbst; sh. VAN DER W EIDEN (1991) 195f. - Das ‚Pratinas-Fragment’, wohl in die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts zu datieren, ist dann, sollte es sich um einen Dithyrambos handeln, typisches Beispiel für den neuen, mimetischen Dithyrambos (sh. Z IMMERMANN (1986), bes. 150-53) - und gerade hier spricht der Chor persönlich über sich selbst, sogar sehr deutlich (vv. 1, 4, 23). 115 Sh. unten S.60f. <?page no="65"?> Der Chor als Boden der Tragödie 51 Technik und Darbietungsweise den Werken des Stesichoros, die sich einer genauen Einordnung zu entziehen scheinen (etwa ob Solovortrag mit Tanzchor, so wie beim Gesang des Demodokos Hom.Od. 8,262-64, oder ‚Chorlyrik’ - von Dithyramben ist bei Stesichoros aber nie die Rede). Jedenfalls dürfte von der Verwendung eines solchen bloß orchestrierenden Chores kein geradliniger Weg zur Tragödie führen. Um so auffallender gegenüber diesem - freilich aufgrund der Überlieferungslage der Gattung Dithyrambos mit Kautelen zu versehenden - Befund ist die Tatsache, dass bei der ‚Konkurrenzgattung’ Paian Ich-Aussagen des Chores recht häufig zu finden sind, ja die Regel zu sein scheinen, wie die Paiane Pindars zeigen. 116 Diese deutlich erkennbare Involvierung des Chores als einer definierbaren Personengruppe in die situativen Umstände der performance ist aufgrund der Gattungskonstituenten des Paians ganz natürlich, geht es doch bei dieser chorlyrischen Form um die Belange der Gemeinschaft, zu deren Wohl die jungen Männer den Paian als eine funktional bestimmte chorlyrische Form singen und aufführen. Hierbei handelt es sich zwar nicht um eine mimetisch gespielte Rolle; durch die Benennung der Sängergruppe wird vielmehr die Polisgemeinschaft erkennbar, etwa Abdera oder Keos. Aber rein von der Präsenz des chorischen Ich aus betrachtet, scheint - soweit die Zeugnisse eine Aussage zulassen - die Konstellation beim Paian derjenigen beim tragischen Chor näher zu stehen als die beim Dithyrambos. Und auch der Chor der Tragödie, zumal bei Aischylos, ist eine Personengruppe, die um das eigene Wohl oder um das der ihn umgebenden Gemeinschaft besorgt ist und dementsprechend die eigene Identität in Form von Ich-Aussagen einbringt, etwa um Kontakt zu den Göttern aufzunehmen - ähnlich beim nicht-dramatischen Paian. Natürlich findet sich das Ich des Chores auch in anderen chorlyrischen Genera, so dem Partheneion mit seiner spezifischen Rollenidentität der Sängerinnen. Das Epinikion ist im Gesamtspektrum der Chorlyrik eine relativ späte, erst seit Simonides greifbare Gattung; für die überlieferten Epinikien Pindars stellt sich das kontrovers diskutierte Problem, wer hinter den hier recht häufig anzutreffenden Ich-Aussagen des Chores eigentlich zu sehen ist. - Ganz abgesehen von gattungsinternen Entwicklungen von der Chorlyrik hin zum Chor im Drama kann auch seitens der monodischen Dichtung und ihrer Ich-Darstellung eine Einwirkung auf Selbstaussagen eines gemeinschaftlichen Ich erfolgt sein. 117 116 Vgl. Paian 2 (= fr. 52b Sn.-M.), 24-28 und 102-06; Paian 4 (= fr. 52d), 21-27; Paian 5 (= fr. 52e), 44-48; Paian 6 (= fr. 52f), 1-18; Paian 9 (= fr. 52k), 7-9 und 21. Dies sind nur die längeren, besonders aufschlussreichen Passagen, in denen der Chor von sich selbst spricht; hinzu kommt eine Vielzahl einzelner Verbformen in der Ersten Person. Zur Ich-Aussage als wesentlichem Funktionselement des Paian, welches den Akt der Kommunikation mit dem Göttlichen kennzeichnet, sh. K ÄPPEL (1992) 71f. 117 Ich-Aussagen im Partheneion: Alkm. fr. 1,39-101; fr. 3,1-9 und 64-81; Pind. fr. 94a Sn.- M. 5f.; fr. 94b,11f., 33-35, 66-72; fr. 94c. Zu Verbindungen zwischen Partheneion und tragischem Chorlied sh. C ALAME (1994/ 95); zu den Ich-Aussagen in Pindars Epinikien sh. L EFKOWITZ (1991) 1-71; zum umfangreichen Problemkreis des Ich in der frühgriechischen Dichtung sh. den Sammelband von S LINGS (1990). <?page no="66"?> Die rezeptionsästhetische Methode 52 Aus diesen Erwägungen zur Ich-Identität des tragischen Chores, die gegenüber dem morphologisch zur Tragödie führenden Dithyrambos offenbar neu ist, von der restlichen, schon lange existenten Chorlyrik aus gesehen hingegen als direkte Fortsetzung erscheint, ist als Fazit zu ziehen: Der Tragödienzuschauer, der immer auch Angehöriger der song-and-dance culture als Aktant wie als Rezipient ist, kann sich auch im ‚neuen’ Chor der Tragödie und in dessen Ich wiederfinden - dies obwohl der Chor mit dem Anlegen der Maske zugleich den fiktionalen Raum der dramatis personae des Mythos betritt. Was die Rollenidentität selbst betrifft, mit der der Chor für jede einzelne Tragödie neu ausgestattet wird, so steht es dem Dichter zunächst völlig frei, welche Personengruppe und welches Segment der Polisgemeinschaft, innerhalb derer der dargestellte Mythos spielt und die Einzelfiguren agieren, den Chor bildet - die Wahl steht aber in engster Verbindung mit der Gestaltung des Plots, so dass im Einzelfall unter Umständen Gedankenexperimente helfen können, die Besonderheit gerade des gewählten Chores zu erklären: Wieso zum Beispiel hat Aischylos im Agamemnon nicht Dienerinnen des Hauses verwendet und umgekehrt in den Choephoren keine alten Männer? Die ‚Fabel’ allein, wie man sie in einem mythologischen Handbuch nachlesen kann, das heißt der bloße Ablauf des Plots außerhalb des Theaters, ist in aller Regel ganz und gar ohne einen Chor möglich. Für die mimetische Darbietung dieses Plots im Dionysostheater vor der versammelten Polis von Athen jedoch ist der Chor anscheinend von derart zentraler Bedeutung, dass er selbst im Zuge seiner Reduzierung auf das Singen von Intermezzi ja immerhin noch vorhanden ist. Das Grundmodell des Chores in der Tragödie ist ein anonymer Bürger- und Gemeinschaftschor. Dass Aischylos demgegenüber auch Chöre mit einer individuellen Identität und einem Namen verwendet, wie die Danaiden und die Erinnyen, die auch außerhalb der Tragödie im Mythos existieren, ist als sekundäre Weiterentwicklung anzusehen. 118 Es wird in den Einzelinterpretationen zu zeigen sein, dass sich auch diese - auffallenderweise weiblichen - Chöre nicht wesentlich vom Grundmodell unterscheiden und mit diesem eine Reihe bedeutsamer Merkmale besitzen. Die Bezugnahme auf eine Polis ist sowohl bei den ‚anonymen’ als auch bei den ‚mythologischen’ Chören von zentraler Bedeutung: Im zeitgenössischen Bewusstsein lief der Plot eines jeden Sujets aus dem Mythos (oder bisweilen 118 So S OURVINOU -I NWOOD (2003) 266; zum Gemeindechor der ‚Ur-Tragödie’ P ATZER (1962) 136. - Angesichts der offensichtlich schon frühzeitig, Ende des 6. Jahrhunderts einsetzenden allgemeinen Lust an der Metamorphose, die sich an der Existenz prädramatischer Tierchöre ablesen lässt (sh. S IFAKIS (1971) 71-102 und jetzt R OTHWELL (2007)), könnte man zu dem Schluss kommen, dass die Verwendung solcher im Vergleich mit anonymen Chören aus normalen Menschen zunächst recht exotischen Chöre im Gesamtkontext des Phänomens ‚Chor’, gerade auch mit Blick auf die Komödie, dann doch nicht so ungewöhnlich war. <?page no="67"?> Der Chor als Boden der Tragödie 53 auch aus der Zeitgeschichte) vor dem jeweils mehr oder weniger explizit erkennbaren Hintergrund einer Polisgemeinschaft ab. Gebunden ist jeder Tragödiendichter zunächst an die anscheinend unbedingte Konvention der Homogenität und inneren Geschlossenheit des Chores, in dem das Individuum keine Rolle spielt. Allein die Fortexistenz des homogenen Chores der song-and-dance culture in der Tragödie beweist ein Höchstmaß an innerkultureller Kontinuität, die somit auch unser methodisches Vorgehen rechtfertigt, die drei signifikanten Merkmale schon des prädramatischen corÒj , nämlich Gemeinschaft, Ordnung, Emotionen, in den Erfahrungshorizont des Tragödienzuschauers zu integrieren. Der Dichter kann seinen Chor aus einer sozialen Gruppe bilden, die auch in der Chorlyrik üblich ist, wie parqšnoi oder º…qeoi , oder aber er kann, nicht zuletzt der Abwechslung halber, neue Segmente der Polisgemeinschaft auswählen, die nicht unbedingt gewohnte Bestandteile der überkommenen Chorkultur sind, wie Greise, Sklavinnen oder Matrosen - oder eben, in einem weiteren Schritt, Personengruppen aus dem Mythos, wie die Danaiden, Erinnyen, Nereiden oder auch Okeaniden. Auffallend ist die Tatsache, dass speziell j u n g e Männer im wehrfähigen Alter, die dem athenischen Zuschauer als unmaskierte Choreuten der vielen Dithyramben- und sonstigen Chöre offenbar sattsam bekannt waren und, gemäß den erwähnten Überlegungen von W INKLER zum Initiationsritus, wohl auch als Chorsänger für die Tragödien herangezogen wurden, im Gesamtspektrum der Tragödienchöre eine seltene Ausnahme sind. Das heißt, die Epheben als Choreuten spielen für gewöhnlich nicht sich selbst. Für den frühen Thespis ist aber der Tragödientitel 'H…qeoi überliefert. 119 Für ein adäquates Verständnis des Chores zumal bei Aischylos ist nun der Umstand zentral, dass der Chor trotz seiner spezifischen Identität als soziales Segment der Polisgemeinschaft niemals nur diesen Ausschnitt allein abbildet, sondern hinter ihm oder in einem Zusammenhang mit ihm immer auch die ganze Polis, das Land und das Volk erkennbar ist. Zu erfassen ist dies an Vokabeln wie gÁ, cqèn oder cèra , die die Involvierung einer noch viel größeren Gemeinschaft in das tragische Geschehen anzeigen. Insofern ist der Chor also repräsentativ für die Polis, auch wenn in der Orchestra nur ein bestimmter Teil von ihr direkt anwesend ist - anders hätte der Dichter jedoch nicht verfahren können. Das ganze Volk als durchmischte Personen- 119 TrGF I, 1 F1b. Nach dem Tragödientitel zu schließen, bestand der Chor der Neaniskoi des Aischylos wohl speziell aus jungen Männern. Was die Soldaten- und Matrosenchöre betrifft, so ist natürlich auch hier ein jüngeres Alter wahrscheinlich (so wohl Aisch.Myrmidones, Hektoros Lytra=Phryges, Memnon; vgl. weiter die erhaltenen Stücke Soph.Aias, Philoktetes und den Rhesos). Junge Männer sind auch für die Aigyptioi anzunehmen; vgl. auch den 'H…qeoi À QhseÚj betitelten Dithyrambos des Bakchylides. Zur offenbar spärlichen Verwendung von Tragödienchören aus jungen Männern passt in gewissem Sinne die Beobachtung von E LSE (1957), dass die Chorlieder der Tragödie Verbindungslinien „with almost every known variety of choral lyric except the dityramb“ (46) aufwiesen. <?page no="68"?> Die rezeptionsästhetische Methode 54 gruppe, etwa Frauen, Kinder, alte und junge Männer auf einmal und zusammen, kann nach den Konventionen der song-and-dance culture unmöglich den Chor bilden. Mit dem ständigen Bezug auf den Boden der ganzen Gemeinschaft aber wird für den Zuschauer klar, welche Dimensionen der tragische Konflikt hat. Die große Gemeinschaft im Theater, nicht zuletzt die Landbevölkerung (die cèra schlechthin), kann sich so mit der großen, unsichtbaren Gemeinschaft im Stück, „the large off-stage group“ 120 , identifizieren. Auch dieser ‚topographische’ Aspekt der Tragödie geht zum Teil bereits auf die griechische Chorlyrik zurück: Vokabeln wie ™picèrioj zeigen dort die Verwurzelung und ‚Bodenhaftigkeit’ von Polis und Chor an. 121 Was das Verhältnis zwischen Tragödientitel und Rollenidentität des Chores bei Aischylos betrifft - für eine Übersicht über die Chöre auch der verlorenen Stücke sh. Anhang 2 (S.532ff.) -, so findet sich auch hier ein enger Zusammenhang mit dieser Lokalisierung von Chor und Tragödienhandlung auf einem benennbaren Boden - so zum Beispiel die aischyleischen Tragödien Argeiai (-oi? ), Eleusinioi, Edonoi, Kares (= Europe), Kressai, Lemnioi (-ai? ), Mysoi, Perrhaibides, Salaminiai (-oi? ), Phryges (= Hektoros Lytra) und eventuell Phrygioi. Die erhaltenen Persai zeigen die Auswirkungen der Verfehlung von Xerxes auf das ganze Imperium, nicht nur auf die alten Königsberater, die den Chor bilden. - Der Chor kann auch über seine Tätigkeit den Tragödientitel abgeben: Choephoroi und Hiketides verweisen auf die jeweils im Mittelpunkt des Stückes stehenden Ritualhandlungen (Libation und Supplikation); vgl. weiter Hiereiai, Hydrophoroi (= Semele), Ostologoi, Propompoi, Psychagogoi, Toxotides, Xantriai; bemerkenswert ist die Möglichkeit, dass auch im Satyrspiel die an sich immer gleiche Identität der Satyrn (also das essentielle Wesen, sh. unten S.58) spezifiziert werden kann durch eine individuellere Rolle: Diktyulkoi, Theoroi (= Isthmiastai), Thalamopoioi (? ), Trophoi. Mythologisch-individuelle Identität weisen neben der erhaltenen Tragödie Eumenides wohl auch die Chöre folgender Tragödien auf (Auswahl, die auf Wahrscheinlichkeit beruht): Aigyptioi, Bassarai / Bassarides, Heliades, Myrmidones, Nereides. Auch hier und selbst in den Fällen, in denen das Stück nicht nach dem Chor, sondern nach der Hauptfigur (zum Beispiel Agamemnon, Glaukos Potnieus, Ixion, Laios, Memnon, Niobe, Oidipus, Palamedes, Penelope, Philoktetes, Polydektes, Prometheus-Stücke, Telephos) oder dem Handlungskern (Hepta epi Thebas, sodann Epigonoi, Hektoros Lytra, Hoplon Krisis, Psychostasia; vgl. auch die schon genannten ‚Tätigkeits-Titel’) benannt ist, steht der Chor - soweit man von den erhaltenen Stücken her urteilen kann - natürlich in einem bestimmten Verhältnis zur (Polis-) Gemeinschaft. Je nach der Anzahl der rekonstruierten Stücke kommt man auf einen Anteil von rund 65% von nach dem Chor benannten Tragödien. Dies zeigt natürlich 120 B UDELMANN (2000) 201, für den sophokleischen Chor, der zwar nie der direkte Repräsentant dieser großen Gemeinschaft, jedoch immer ein Teil von ihr sei. Auch den weiteren Argumenten B UDELMANN s zum Beweis einer Übernahme der Perspektive des Chores durch den Zuschauer ist vollauf zuzustimmen (202f.), besonders seiner Betonung der Tatsache, dass im Theater mit dem Publikum ebenso eine a n o n y m e M a s s e anwesend ist, wie sie hinter dem Chor in der fiktionalen Welt steht: Beide Gruppen koinzidieren also. 121 Sh. die Belege bei C ALAME (1997) 32 für Ephesos, Patras und Aigina. Für den tragischen Chor vgl. G OLDHILL (1996) 246, der von „rooting“ spricht, und allgemein B UXTON (2002) 178 zu den Schauplätzen der Tragödien, die sich nicht auf eine ‚richtige’ Polis beschränken. <?page no="69"?> Der Chor als Boden der Tragödie 55 die grundsätzlich hohe Bedeutung des Chores bei Aischylos an, 122 ebenso wie die Versanteile des Chores im jeweiligen Stück: Perser 46%, Sieben 49%, Hiketiden 60%, Agamemnon 50%, Choephoren und Eumeniden je 42% - im Durchschnitt 48% (ohne den Prometheus mit 19% Versanteil). 123 Ein Zweig der neueren Tragödienforschung hat komplexe Überlegungen angestellt zur sozialen Marginalität vieler Chöre - Sklavinnen, Ausländer(innen), Greise und überhaupt Frauen - und der damit verbundenen Frage der Autorität solcher scheinbar randständiger Gruppen (genannt the Other) beim Singen eines Chorliedes vor einem vorwiegend männlichen, auch politisch mächtigen Theaterpublikum. 124 Diese Forschungsposition steht in engem Zusammenhang mit der Theorie vom Chor als einer dramatis persona mit einem eigenen Charakter, einer eingeschränkten Perspektive und so fort. Es ist aber problematisch, den männlichen Vollbürger der Polis Athen in den Stand des idealen Theaterzuschauers zu erheben, auf den allein hin die Tragödie zugeschnitten sei und an dem sich die otherness des jeweiligen Chores reibe. Verschiedene Indizien sprechen für die Präsenz 122 Eigene Auszählung; bei Sophokles etwa 30% (unter den erhaltenen nur die Trachiniai, wo ausgerechnet der Chor verhältnismäßig wenig betroffen ist), bei Euripides rund 15% (erhalten Bakchai, Herakleidai, Hiketides, Troades, Phoinissai); diese Zahlen nach S OURVINOU -I NWOOD (2003) 268f. Auch fünf der zehn bekannten Tragödien von Phrynichos sind nach dem Chor benannt. Weitere Überlegungen zu den Tragödientiteln des Aischylos bei G ARVIE (1969) 114. Bei derlei Ansätzen, vom Titel eines nicht erhaltenen Stückes aus über Inhalt oder Figurenkonstellation Aussagen zu treffen, ist freilich Vorsicht angebracht: Sh. S OMMERSTEIN (2002), der den möglichen Einfluss des Buchhandels auf die Titulierungen einschließlich Unter- und Doppeltitel (bei Aischylos Argo=Kopastes, Europe=Kares, Hektoros Lytra=Phryges, Semele=Hydrophoroi sowie das Satyrspiel Theoroi=Isthmiastai) expliziert und auch die Aufführungspraxis berücksichtigt (so könne die spätere Herauslösung eines Stückes wie der Septem aus einer Inhaltstrilogie zu einem eigenen, eventuell aber unangemessenen Titel geführt haben). S OMMERSTEIN rechnet auch mit der Möglichkeit, dass Euripides mit der bewussten Wahl von Stücktiteln, die ja vorab bekannt waren, zunächst an bekannte Tragödien seiner Vorgänger Aischylos und Phrynichos erinnern habe wollen, um die Publikumserwartung zunächst zu wecken, dann aber zu täuschen, weil etwas ganz anderes dargeboten wurde (Hiketides, Kressai, Phoinissai). 123 Die Zahlen nach P AULSEN (1998) 92; Sophokles durchschnittlich 21%, Euripides 20%. 124 So H ALL (1989) 115, G OULD (1996) 220, F OLEY (2003), passim (der Begriff „the Other“ 5). Als eine Art Gründungsdokument, noch nicht speziell auf den ‚anderen’ Chor bezogen, kann der Beitrag von Z EITLIN (1990) gelten. Vgl. die kritische Rekapitulation dieser Forschungsrichtung von S OURVINOU -I NWOOD (2003) 275-84 und, speziell zu Women in Tragic Space, den so betitelten wohlabgewogenen Aufsatz von E ASTERLING (1987) zur Darstellung von Frauen in der Tragödie: „In all cases their presence is given more or less explicit motivation, and in general it is presented as something completely unexceptionable within the norms of female behaviour.“ (23); bei der Anwesenheit von Frauen in einem Stück handele sich nicht von vornherein um „a challenge to existing social practice“ (25), zumal wenn der Schauplatz im engeren Sinn der eher private Oikos-Raum ist und die Polis zurücktritt, wie in den Trachiniai (die gleichwohl nach dem Chor und dem Schauplatz benannt sind! ). Im Anschluss an E ASTERLING argumentiert H OSE (1990) 29f. für eine ganz natürliche Plausibilität der Frauenchöre des Euripides in der Wahrnehmung des zeitgenössischen Publikums. <?page no="70"?> Die rezeptionsästhetische Methode 56 weiterer sozialer Gruppen wie Frauen, Ausländer und Sklaven bei den Tragödienaufführungen an den Großen Dionysien, d e m Massenevent der demokratischen Polis, in der es dann gar zu einer qeatrokrat…a (Plat.Leg. 701 a3) gekommen zu sein scheint. 125 Die Harmonisierungs- und Integrationskraft der Muttergattung Dithyrambos und des Dionysoskultes machen es wahrscheinlich, dass gerade die Tragödie, im Unterschied besonders zum aristokratischen Epos, die g a n z e soziale Bandbreite der eigenen Polis reflektiert, präsentiert und anspricht, o h n e dabei stets oder gar ausschließlich an the Other als eine ständig vorhandene Kontrastfolie zu denken. Insbesondere lassen die von j e d e m Chor der Griechischen Tragödie vertretenen durchschnittlichen Wertmaßstäbe, die popular morality, auf ein entsprechendes, sehr breites Publikum schließen (und nicht etwa auf eigens herauszufordernde Intellektuelle als primäre Zielgruppe). 126 Wenn verschiedene soziale Schichten angesprochen werden sollen, ist der ‚kleinste gemeinsame Nenner’ am erfolgversprechendsten. Überblickt man überdies die Chöre auch der vielen verlorenen Tragödien der drei großen Tragiker, so muss man urteilen, dass eine otherness in der Chordarstellung der Griechischen Tragödie ohnehin nicht der Normalfall wäre: Tatsächlich halten sich zum Beispiel Frauen- und Männerchöre in etwa die Waage. 127 Die Tatsachen, dass für die song-and-dance culture außerhalb des Dramas sogar weitaus mehr Frauenals Männerchöre bezeugt sind und dass die Mythologie mit d e m Prototyp des corÒj , dem Musenchor, offensichtlich ein spezifisch weibliches Moment des corÒj reflektiert, müsste für die otherness-Forschung zu einem gänzlich paradoxen Ergebnis führen: Gemessen an dieser Tradition sind in der ‚neuen’ Gattung Tragödie nun m ä n n li c h e coro… das other. 125 Die Zeugnisse sind gesammelt und ausgewertet von H ENDERSON (1991). Besonders aufschlussreich Plat.Leg. 658 d2-4: tragJd…an d a† te pepaideumšnai tîn gunaikîn kaˆ t¦ nša meir£kia kaˆ scedÕn ‡swj t tÕ plÁqoj p£ntwn (sc. krinoàsin im Sinne von ‚vorziehen’) - die Tragödie als Massenunterhaltung. Vgl. - gegenüber der einseitigen Fixierung mancher Forschungsbeiträge in dieser Frage auf männliche Bürger - die differenzierten Erwägungen von S OMMERSTEIN (1997) 64-74: „ … we can be sure that many who were adult male citizens did not attend the performance, and that many who were not adult male citizens did.“ (64) - zu letzteren zählen zweifellos Metöken, die unter Umständen überproportional im Theater repräsentiert gewesen sein könnten. Reflexe auf die Aufnahme von Metöken sieht S OMMERSTEIN bei Aischylos in den Hiketiden (609, 994) und Eumeniden (1011, 1018). 126 So H OSE (1990) 37-39. Für die griechische popular morality sh. insgesamt die so betitelte Monographie von D OVER (1974). Vgl. weiter B AUR (1997): „Die Chöre sind religiös und bescheiden, vernünftig, aber auch mit einem begrenzten Horizont [.]“ (35) und M ATTHIESSEN (2002) 11: Das große Publikum sind alle und nicht nur wenige Gebildete. Vgl. auch die Forderung des Horaz nach der vom Chor zu vertretenden Maßethik: ille bonis faveatque et consilietur amice / et regat iratos et amet pacare tumentis, / ille dapes laudet mensae brevis, ille salubrem / iustitiam legesque et apertis otia portis, / ille tegat conmissa deosque precetur et oret, / ut redeat miseris, abeat Fortuna superbis (ars 196-201). 127 Vgl. die Übersicht von F OLEY (2003) 26f.: Etwa 75 Frauen- und 65 Männerchöre. Für Aischylos scheint dies ebenfalls zu gelten; sh. unten S.536. <?page no="71"?> Der Chor als Boden der Tragödie 57 Die eigentliche Problematik solcher Spekulationen liegt aber darin, dass auch sie sich im Fahrwasser der eindimensionalen und offenkundig schon überholten Ausdeutung des Chores als einer weiteren dramatis persona bewegen. Sicher hat die other-Forschung ihre eigene Berechtigung und ist zu erhellenden Einsichten gelangt. Aber man muss fragen, ob der Zuschauer den Chor der Tragödie überhaupt primär und durchgehend als charakterisierte Personengruppe mit einer vollgültigen Rolle innerhalb der dargestellten fiktionalen Welt wahrgenommen hat. Denn die von uns schon herausgestellten Besonderheiten des corÒj der song-and-dance culture lassen den Schluss zu, dass noch weitere, ganz andere Faktoren für die Wahrnehmung auch des tragischen Chores von großer Bedeutung gewesen sind. 3.4 Identifikation durch Performativität: Der Chor als corÒj Im weiteren Anschluss an die Darstellung des Chores der song-and-dance culture und somit gewissermaßen die innerkulturelle Kontinuität vom prädramatischen hin zum tragischen Chor widerspiegelnd, soll im Folgenden gezeigt werden, wie der Chor der Tragödie in seinem spezifischen Wesen als singender und tanzender Chor vom Zuschauer wahrgenommen wird und auch auf diese Weise ein Identifikationsmedium für das Publikum darstellt - dies vielleicht sogar in stärkerem Maße als durch seine jeweilige Rollenidentität im Stück. Diese Performativität, die sich in den Ausdrucksmedien Gesang und Tanz offenbart und zudem häufig umgesetzt wird in chortypische Ritualformen, ist wohl das Hauptargument gegen die Ausdeutung des tragischen Chores nur als einer dramatis persona. Für eine terminologische Differenzierung bietet es sich bei der Beschreibung dieses performativen Charakters an, nun vom ‚Chor als corÒj ’ zu sprechen. Im Unterschied zu den Einzelschauspielern, die sich voll und ganz in Einzelfiguren des Mythos (oder der Historie) verwandeln, findet bei den zwölf bis fünfzehn Choreuten der Tragödie 128 trotz Maskierung und Verkleidung keine vollständige Mimesis statt, auch wenn die Übernahme einer Rollenidentität einen großen Unterschied zur Chorlyrik darstellt. Während sich der Øpokrit»j im Zuge der Gattungsgenese wohl nach und nach vollständig in eine fiktionale dramatis persona verwandelte und so seinen bloß narrativen Botenstatus überwand, blieb der corÒj bei seiner Annäherung an den dargestellten Raum des Mythos quasi auf der Kante zur Skene stehen - insofern ist er ein „outsider“ 129 , der nie vollkommen an der Welt der Heroen 128 Die Erhöhung der Anzahl der Choreuten durch Sophokles von zwölf auf fünfzehn dürfte mit der Einführung des dritten Schauspielers nicht nur insofern zusammenhängen, grundsätzlich mehr Menschen auf die Bühne zu bringen (so L ATACZ (2003) 172), sondern zugleich das Gewicht des Chores anzupassen: Standen zuvor zwei Schauspieler zwölf Choreuten gegenüber (1: 6), so nun drei fünfzehn (1: 5 statt 1: 4). 129 M ICHELINI (1982) 69, und weiter: „This kind of mimesis, which stops at a point intermediate between the full impersonation of a mythical protagonist and a flat narration of myth, is a plausible beginning for drama, or for proto-drama.“ <?page no="72"?> Die rezeptionsästhetische Methode 58 teilhat: Dies ist zweifellos ein Merkmal der otherness des Chores, nur in anderer Weise. Einen eindrucksvollen Beleg für den geringeren Grad an Mimesis des corÒj liefern zunächst die pseudoaristotelischen Problemata bei der Behandlung musikalischer Detailprobleme: Im Unterschied zu den ¢pÕ tÁj skhnÁj , also den von den Einzelschauspielern gesungenen Liedern (gemeint sind vor allem die Monodien), müssten die von „den Vielen“ gesungenen Chorlieder einfach und antistrophisch gebaut sein, dies mit der Begründung: Ð m n g¦r Øpokrit¾j ¢gwnist¾j kaˆ mimht»j, Ð d corÕj Âtton mime‹tai (918 b27-29.) - „denn der Schauspieler ist ein Wettkämpfer im Agon und ein Nachahmer (sc. seiner Rolle), der Chor aber ahmt in geringerem Maße nach.“ Die für jedes Stück neu vergebene Rollenidentität des Chores, beispielsweise junge Mädchen, kann als das jeweils a k z i d e n ti e ll e Merkmal definiert werden, hingegen die Verfasstheit eines j e d e n Tragödienchores als eines singenden, tanzenden und rituell agierenden corÒj als das e s s e n ti e ll e , gerade in der Wahrnehmung durch den Zuschauer. 130 Natürlich wird schon dadurch, dass es sich beim tragischen Chor ganz überwiegend um Durchschnittsmenschen und um Vertreter der popular morality handelt, dem Zuschauer ein großes Identifikationspotential an die Hand gegeben. Doch dürften sich durch die Beachtung des essentiellen Charakters eines corÒj weitere grundlegende Einsichten gewinnen lassen. 1) Während die Einzelfiguren durch eine individuelle Kostümierung eindeutig und ausschließlich als Personen des auf der Bühne dargestellten Mythos gekennzeichnet sind und sich hierbei auch untereinander unterscheiden, ähnelt das absolut homogene Äußere der Choreuten (einschließlich des Chorführers) einer ‚Uniform’, die die Sängergruppe stärker als einheitlichen corÒj auszeichnet denn als spezielle Personengruppe des Mythos. 131 Nach naturalistischem Verständnis wäre es ja wohl recht unwahrscheinlich, dass beispielsweise alle alten Perser oder alle Danaiden gleich aussähen. Es ist allerdings nicht in Abrede zu stellen, dass eine - übrigens häufig dem Text zu entnehmende - spezifische Kostümierung des Chores (wozu auch Attribute wie Bärte an den Masken, Gehstöcke oder Wollzweige rechnen) dem Zuschauer eine entsprechende Rollenidentität des Chores kontinuierlich vor Augen stellen. Jedoch rechtfertigt diese äußere Gewandung, die die Zugehörigkeit des Chores zur Bühnenwelt anzeigt, nicht die Konstruktion einer wirklich vollgültigen und eigenständigen ‚Rolle’ im Sinne einer dramatis persona. Denn uniform ist jeder corÒj auch insofern, als es sich stets um männliche Choreuten handelt, deren sozusagen wahre, lebensweltliche Identität in der performance stets mitschwingt: Die Choreuten sind nur entsprechend verkleidet und maskiert, stehen aber qua corÒj in 130 In diesem Sinne auch der Theaterwissenschaftler B AUR (1997) 45f.; besonders aufschlussreich die „Graphik zum Sonderstatus des Chores“ (46); vgl. das oben S.13f. erwähnte Oszillationsmodell. 131 Vgl. V ERNANT / V IDAL -N AQUET (1986) 158. <?page no="73"?> Der Chor als Boden der Tragödie 59 einer Art abstrakter Distanzhaltung zu ihrer akzidentiellen Rollenidentität. Auch präsentiert die in der Regel rechteckige, reihenförmige Formation des tragischen Chores, ja überhaupt sein tänzerisches Auftreten und seine Choreographie dem Zuschauer die auf der Bühne anwesende Gruppe auch immer als corÒj . Wollte die Tragödie in ihrem Chor nur ein Kollektiv als weitere dramatis persona allein innerhalb des Mythos darstellen, so erschiene ein derartiges Auftreten als reichlich merkwürdig, ja als fehl am Platze. Am Erwartungshorizont des Zuschauers erscheint bei jeder Aufführung zunächst einmal ‚sein’ lebensweltlicher corÒj , der dann das eine Mal so, das andere Mal wieder so verkleidet und maskiert ist, gewissermaßen zufällig, eben akzidentiell. Mit Beginn der Parodos wird die jeweilige Identität des Chores als eines bestimmten Segments der Gemeinschaft für den Zuschauer herangezoomt; hier stellt sich zumal der aischyleische Chor auch gleich selbst vor, wie in den Einzelinterpretationen zu sehen sein wird. In der Wahrnehmung des Zuschauers ist beides, Rollenidentität und corÒj -typische Verfasstheit, s i m u l t a n präsent. 2) Eine sehr enge Verbindung mit der Lebenswelt besteht dann, wenn der Chor der Tragödie rituell auftritt: Wenn er einen Hymnos oder einen Goos innerhalb der Handlung singt, wenn er sich zu einer Prozession formiert, wenn er betet, klagt oder jubiliert, so agiert er, ganz grundsätzlich gesagt, nicht anders als ein corÒj in der Lebenswelt des Zuschauers. Diese Überlappung von Drama und Lebenswelt auf der gemeinsamen Ebene des chorischen Rituals bildet einen Schwerpunkt der Performanzforschung innerhalb der Klassischen Philologie, wie im Forschungsüberblick erwähnt. Die kultischen Elemente besonders im aischyleischen Chorlied - Wiederholungen, Refrains, religiöse Formeln - wurden freilich schon früh von K RANZ mustergültig dargestellt. 132 Innerhalb der song-and-dance culture übernimmt und verarbeitet auch der Chor der Tragödie Elemente der vielen verschiedenen chorlyrischen Gattungen und der Erscheinungsformen des lebensweltlichen corÒj : Der Zuschauer fühlt sich in der Welt des dargestellten Mythos zu Hause. Allein durch die Existenz des Chores wird ihm suggeriert, dass die um die Heroen des Mythos kreisenden Plots in einem gesellschaftlichen Raum spielen, der seiner eigenen Polisgemeinschaft sehr ähnlich ist. Man könnte freilich einwenden, dass der Theaterchor der Polis Athen ‚eigentlich’ auf einer mimetischen Ebene auch das Singen und Tanzen einer von ihm dargestellten Personengruppe nachahme, die allein i n n e r h a l b der fiktionalen Welt chorisch agiere (beispielsweise stellten dann die athenischen Choreuten dar, wie thebanische Mädchen einen Goos sängen) - doch würde diese Sichtweise nur einer Rezeptionssi- 132 K RANZ (1933) 127-37. Vgl. auch schon E LSE (1977) über den Goos: Aischylos „achieves the dramatic effect he wants by borrowing a ritual form from real life.“ (78); sh. dort 70-72 zur Unterscheidung dieser Form des Rituals von der mittlerweile als erledigt geltenden, früheren Auffassung, die Entstehung der Tragödie sei letztlich auf Vegetationsrituale zurückzuführen, die sich mit einem ™niautÕj da…mwn beschäftigten, der in den tragischen Helden mutiert sei. <?page no="74"?> Die rezeptionsästhetische Methode 60 tuation gerecht, die den Sitz im Leben eines Chores nicht mehr kennt, wie etwa bei den Tragödien des Andreas Gryphius, in denen die „Reyen“ (also Chor-Reigen) nach wie vor regelmäßig vorkommen. Auch wenn die Tragödiendichter, selbst oft Verfasser von Kultliedern und Chorlyrik, überkommene Formen des chorischen Rituals höchst flexibel variieren und nicht einfach Realität in die dargestellte Welt verpflanzen, 133 wird doch der Sitz im Leben dessen, was der corÒj in der Orchestra unternimmt, vom Zuschauer problemlos (wieder)erkannt. Insofern muss, dem Diktum der ‚dichterischen Freiheit’ zum Trotz, eine Interpretation des aischyleischen Chores auf solche Verbindungslinien zu chorlyrischen Genera achten. Dies auch dann, wenn im Tragödientext auf die umfassende Chorkultur nur angespielt wird. Berücksichtigt man diesen äußeren Bezugsrahmen des tragischen Chores, so erscheint es auch von hieraus als legitim, die drei festgestellten Merkmale des frühgriechischen Chores als zentrale Wahrnehmungskriterien auch für die Rezeption des tragischen Chores durch den zeitgenössischen Zuschauer zu sehen. 3) Unter dem Stichwort ‚Selbstreferentialität’ wurden von der Performanzforschung in jüngerer Zeit innovative Ansätze zum Griechischen Drama verfolgt, die auf die Sprechakttheorie von B ÜHLER zurückgehen, welche als eine Vorstufe der Rezeptionsästhetik anzusehen ist. Danach besitzen Texte, aber auch die auf Mündlichkeit angelegten Formen von Dichtung eine ‚Appellstruktur’, die der Lenkung des Rezipienten dient und dazu mit diesem Kontakt aufnimmt. Dies geschieht, indem vonseiten des Sprechers eine sogenannte Deixis vorgenommen wird: Ein Verweisgestus, der auf eine gemeinsame Kommunikationsebene von Sprecher und Rezipient Bezug nimmt - entweder räumlich (zum Beispiel mit dem Wort „hier“), temporal („jetzt“) oder personal. Mit der personalen Deixis bezieht sich der Sprecher auf sich selbst als Rollenträger („ich“) beziehungsweise er bezieht den Rezipienten („du“) ein. 134 Auf Grundlage zumal dieser letzten Form der Deixis gerieten, im Anschluss an die Fortentwicklung der Sprechakttheorie durch A USTIN und S EARLE , seitens der Gräzistik vor allem im Bereich des Griechischen Dramas sogenannte ‚performative Verben’ ins Blickfeld, insbe- 133 Zu dieser Distanz sh. F URLEY / B REMER (2001) Bd. 1, 273-79; insbesondere dürfe man nicht einfach von dargestellten Formen auf deren tatsächliche Existenz in der Realität schließen (ein besonders krasses Beispiel sei der Chorhymnos an den Schlaf Soph.Phil. 827-32). Interessant in diesem Zusammenhang ist in Platons Nomoi die Kritik des Atheners an der Vermischung der chorlyrischen Genera, so des Threnos mit dem Hymnos (700 d2-e4). Dennoch ist mit B ACON (1994/ 95) 17f. und S OURVINOU -I NWOOD (2003), passim, mit Nachdruck die rituell-religiöse Dimension eines jeden tragischen Chores zu betonen. - Zu den Tragikern als Dichtern von Chorlyrik sh. D ORSCH (1983) 2-6; zu den Überlappungen mit dem Genos Tragödie sh. auch S CHNYDER (1995) 21f. mit weiterer Literatur. Für Aischylos ist bezeugt, dass er einen Paian-Entwurf in Delphi eingereicht habe (TrGF III, T 114). 134 Sh. B ÜHLER (1934), bes. 79-148, und die Überblicksdarstellung bei M EYER (2005) 1-23. <?page no="75"?> Der Chor als Boden der Tragödie 61 sondere was den Chor betrifft. 135 Gemeint ist damit die Bezugnahme eines Chores auf das eigene Singen, Tanzen und rituelle Handeln durch Tätigkeitsverben wie „ich singe“, „ich tanze“ oder „ich bete“ (gegebenenfalls auch in Form einer hortativen Aufforderung), die ebenso wie die räumliche und temporale Deixis explizit auf das hic et nunc der performance verweisen und den aktuellen Vollzug der also direkt bezeichneten Handlung anzeigen. Somit ergibt sich eine Überlappung zwischen der lebensweltlichen Situierung auf der einen und der dargestellten Welt des Mythos auf der anderen Seite, in der in der Wahrnehmung des Zuschauers also chorische Rituale - freilich individuell an die Situation adaptiert - ebenso aufgeführt werden wie in seiner Lebenswelt. Eine weitere wesentliche kommunikative Bedeutung der Deixis liegt darin, den Chor als direkten Zeugen der Ereignisse erscheinen zu lassen, der etwas sieht und hört und diese ästhetischen Wahrnehmungen durch einen Verweisgestus an den Zuschauer weitergibt. Damit steigern sich Faktizität und Glaubwürdigkeit des Geschehens. 136 Durch Deixis fühlt sich der Zuschauer als Angehöriger der song-anddance culture unmittelbar angesprochen, gerade auch im Ich (respektive Wir) des Chores. Die personale Deixis des Chores in Bezug auf Performativität und auf die eigene Verfasstheit als corÒj ist auch insofern von Bedeutung, als in diesem Ich auf deutlich mehr als auf die bloße Rollenidentität hingewiesen wird: Nämlich auf das essentielle Wesen, das als gemeinsames Merkmal aller der durch Gesang, Tanz und Ritual verbundenen coro… die akzidentielle Rolle übersteigt. Es stellt sich allerdings die Frage, ob bei den nicht wenigen Chorliedern der Tragödie auch schon des Aischylos, die keinen deutlich erkennbaren rituellen Charakter haben, sondern reflektieren und erzählen (so etwa das III. Stasimon der Perser oder das I. und II. des Agamemnon), allein mit den Konzepten ‚Performativität’ und ‚Ritual’ gearbeitet werden kann. Hier können sich freilich - ebenso wie bei den rituellen Chorpartien - ebenfalls deiktische Verben vom Typus „ich sage“, „ich erzähle“ finden, welche nicht in den Bereich des Rituals weisen, aber doch auch die Funktion der jeweiligen Äußerung explizieren und nicht zuletzt den Wahrheitsgehalt der entsprechenden Inhalte verbürgen sollen. Auch hier kann sich der Zuschauer an die Position des chorischen Ich annähern, ist doch der tragische Chor nur einer von vielen Chören, die an unzähligen Festen der Polis Athen auftreten. Hierzu gehört auch der Chor der Komödie, dessen Darstellung ein - hier von uns nicht zu leistendes - Gesamtbild der athenischen Chorkultur erst vervollständigen kann. 137 Grundsätzlich zeichnet den Chor der Alten Komödie, der in einer phantasti- 135 Sh. A USTIN (1975) und S EARLE (1969). Für die Anwendung in der Gräzistik seien repräsentativ genannt H ENRICHS (1994/ 95) und (1996), C ALAME (1999), B IERL (1991) 219-26 und besonders B IERL (2001) 11-64. Die bekannteste selbstreferentielle Äußerung eines Chores in der Griechischen Tragödie ist das t… de‹ me coreÚein; der Alten von Theben (Soph.OT 896). 136 Vgl. E ASTERLING (1996) 177f. und (1997) 163-65. 137 Zum komischen Chor insgesamt sh. B IERL (2001) 64-104. <?page no="76"?> Die rezeptionsästhetische Methode 62 schen, deutlich als Fiktion erkennbaren Gegenwelt agiert, Ritual und Performativität noch viel stärker aus als den der Tragödie. Gegenüber den insgesamt gesehen doch überwiegend statischen Stasima der Tragödie ist der komische Chor viel bewegungsreicher, ‚handelt’ auch mehr direkt im Spiel, was seinen Ursprung hat im wilden, ausgelassenen Komos. Dabei aber ist er noch weniger als der tragische Chor nur eine dramatis persona, weil nach B IERL „die Rollenidentität der Choreuten mit Hilfe expliziter Verweise auf den Aufführungsrahmen so dünn [wird], daß auf der Rezipientenseite die Grenze zum Chor ebenfalls transparent erscheint.“ 138 Die otherness-Forschung wäre hier stärker am Platz, da der komische Chor gerne auch aus Tieren und sogar nicht-menschlichen Personifikationen von Sachen und Zuständen besteht: Eine tiefgreifende Verwandlung von Menschen in etwas ganz ‚Anderes’. Chorische Selbstreferentialität ist auch in der Chorlyrik außerhalb des Dramas zu finden. 139 Entsprechende Erscheinungen, auch was räumliche und temporale Deixis betrifft, werden bei unseren Interpretationen des aischyleischen Chores Beachtung finden, da diese sprachlichen Mittel auf die Rezeptionshaltung des Zuschauers einwirken und vielfältige Bezugnahmen auf die song-and-dance culture ermöglichen. 4) Ein weiterer Bereich, in dem die große Bedeutung des tragischen Chores für den Zuschauer als Angehörigen der Polis und als Festteilnehmer sichtbar wird, ist das Umfeld der Aufführung. Wir fassen hier einige bekannte Fakten zusammen. Bei der Tragödienaufführung handelt es sich, terminologisch und institutionell betrachtet, eigentlich um eine Choraufführung. Das vom Tragödiendichter zu durchlaufende Zulassungsverfahren besteht darin, einen Chor zu beantragen ( corÕn a„te‹n ) und zugeteilt zu bekommen ( lamb£nein ). Noch bei Aristophanes bezeichnet oƒ coro… schlichtweg die Tragödie (Ran. 1419) und Komödie (Equ. 521). 140 Das aufwändige und kostspielige Training ist der Kern der gesamten Probenarbeit und stellt die eigentliche Leistung des Choregen dar, der für die Choreuten, auch schlicht als tragJdo… bezeichnet, 141 aufzukommen hat. Der Begriff corhgÒj meint im institutionellen Rahmen nun den finanzierenden Produzenten, während ein corodid£skaloj als Choreograph tätig ist und der 138 B IERL (2001) 73. 139 Vgl. die obigen Ausführungen zur Ich-Identität des lyrischen Chores S.49-52. Chorische Selbstreferentialität zum Beispiel Alkm. 1,39 (Partheneion): ¢e…dw , Pind. fr. 52d,2 (Paian): coreÚsomai , 94b,11 (Partheneion): Ømn»sw . Sh. weiter die Anm.114 genannten Stellen aus den Dithyramben, wo ja der Chor zumeist von sich selbst als corÒj , nicht aber als einer von ihm dargestellten Figur singt. Zur Deixis in der Chorlyrik sh. insgesamt D ANIELEWICZ (1990a). 140 Zu dieser Terminologie sh. W ILSON (2000) 6 und 312 Anm.20; Sophokles’ Traktat Perˆ toà coroà könne durchaus über die Tragödie insgesamt gehandelt haben. - An der Ranae-Stelle ist die Kongruenz des Wohlergehens der Polis mit den Chor- und Tragödienaufführungen bemerkenswert: †n' ¹ pÒlij swqe‹sa toÝj coroÝj ¥gV. Das von der Forschung oft gezeichnete Bild einer geradezu teleologischen Degeneration des Chores, angelehnt an Aristoteles’ Aussage über Agathons Embolima (Poet. 1456 a30f.), kann durch solche Zeugnisse widerlegt werden (vgl. W ILSON (2000) 5f.). 141 Entsprechend oƒ s£turoi für ‚das Satyrspiel’; zur Terminologie P ICKARD -C AMBRIDGE (1968) 126-35. <?page no="77"?> Der Chor als Boden der Tragödie 63 Chor in der Aufführung von einem ihm selbst angehörenden korufa‹oj geführt wird. Trotz dieser Funktionsaufspaltung von ursprünglich einer einzigen Person beim prädramatischen Chor in drei Mitwirkende bei der performance des tragischen Chors offenbart sich auch hier eine starke Kontinuität. Obwohl sich das did£skein nun auf ‚Choreographie’, auf Tanzfiguren und korrekte gesangliche Harmonie richtet, dürfte auch die Beteiligung der Choreuten am tragischen Chor und das Erlernen von Chorliedern einen ‚pädagogischen’ Effekt gehabt haben. Bemerkenswert ist ja überhaupt die Fortexistenz des Chorführers in der Tragödie, denn diese Person ist offenkundig ein sehr wichtiges Merkmal des Chores der song-and-dance culture, der somit auch in dieser Hinsicht vom Zuschauer als corÒj erkannt wird. In der selbstverständlichen Annahme der Forschung, dass in den reinen Sprechpartien nur der Chorführer, nicht aber der gesamte Chor mit der Einzelfigur gesprochen habe, liegt möglicherweise ein Missverständnis vor. Weder geben hierfür die Handschriften Hinweise, noch scheinen überhaupt antike Quellen dies zu belegen: Weder R EISCH in seinem umfassenden Lexikonartikel in der RE noch P ICKARD -C AMBRIDGE in seinem Standardwerk The Dramatic Festivals of Athens geben Belege für diese Abspaltung des Koryphaios vom gesamten Chor. 142 Für die Herkunft dieser Annahme verweisen wir zunächst auf die Überlegungen von B AUR , die hier zitiert seien: „Die Tradition der ausschließlichen Zuschreibung der Sprechpartien in den Handlungsteilen dürfte sich aus der Fehlinterpretation der … Aristoteles-Stelle, wo der Chor als Handelnder bezeichnet bzw. gefordert wird, in Poetiken der Renaissance ergeben haben. Paccius folgert (1563) aus dem ‚ sunagwn…zesqai ’, ‚Mithandeln’, daß nur einer im Chor, der Chorführer handle (Robertello nimmt sogar [1548] an, die Rolle des Chores sei nur einem Einzigen übertragen). Für Piccolomini folgt aus der Stelle (1575), daß der Chor durch den Chorsprecher spricht oder gemeinsam singt. Diese Auffassung äußert auch Gottsched, er teilt den Chor in einen gemeinsam Singenden und einzeln Handelnden ein: ‚eine spielende Person … der Koryphäus oder Führer desselben … redete im Namen aller übrigen …’ (Johann Christian Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, Leipzig 4 1751; Nachdruck Darmstadt 1962, S.609 [§ 8 des Kapitels „Von Tragödien, oder Trauerspielen“]. … Die (für das 5. Jahrhundert) sehr zu bezweifelnde Hervorhebung des Chorführers in der Sprechzuteilung, die das Unbehagen der Renaissance und der Neuzeit mit dem undramatischen Tragödienchor widerspiegelt, scheint sich bis heute fortgesetzt zu haben.“ - soweit B AUR . 143 Das Einstudieren von Sprechversen für den gesamten Chor dürfte ohnehin weniger Aufwand erfordert haben im Vergleich zu dem der höchst komplexen Chorlieder, und wenn der ganze Chor - dessen Homoge- 142 R EISCH (1899) formuliert: „Die kleineren Zwischenreden … , die Bemerkungen nach den Reden der Schauspieler, Ankündigungen von Auftretenden und Abtretenden und Antworten auf ihre Fragen oder Aufforderungen an den Chor enthalten, werden gewiss mit Recht dem Ch[or]-Führer zugewiesen … Dass auch die Anapaeste vom Ch[or]-führer allein vorgetragen wurden, wird jetzt allgemein angenommen.“ (2398) - man beachte die affirmative Formulierung (Hervorhebungen M.G.), wie auch bei P ICKARD -C AMBRIDGE (1968): „Where the chorus takes part in the dialogue … the leader doubtless spoke for the whole [.]“ (245). Auch noch beispielsweise L ATACZ (2003) 72 nimmt diese Separierung des Koryphaios an. 143 B AUR (1997) 34 Anm.23. Ein weiterer Einwand von W ALTON (1984): „ … it can be no more than personal preference to suggest that the leader usually spoke alone.“ (70). <?page no="78"?> Die rezeptionsästhetische Methode 64 nität ja doch durchgehend gewahrt werden soll - mit der Einzelfigur spricht, so erhöht dies nicht nur die Wirkung, sondern unterstreicht auch im direkten Kontakt die Auswirkung der Handlung auf die Gemeinschaft. In unseren Einzelinterpretationen wird grundsätzlich der Terminus ‚Chor’ auch für die Sprechszenen verwendet. Während für Einzelschauspieler (sofern nicht noch der Dichter selbst mitspielte) schon relativ früh eine Professionalisierung anzunehmen ist, wird der Tragödienchor bis ins 4. Jahrhundert hinein von Laien gebildet - ein gewichtiger Beleg für die tiefe gegenseitige Durchdringung von Theater und Lebenswelt. Allein für die 20 Dithyrambenchöre an den Großen Dionysien, nur eines von vielen Festen mit Chören, werden Jahr für Jahr 1000 Choreuten benötigt. Glaubt man der Nikias-Vita Plutarchs, so kannten kriegsgefangene Athener auf Sizilien Chorlieder aus Euripides auswendig (9,2-5, bes. 4 tîn melîn °santej und 5 °smata ). Man braucht aber wohl nicht zu fragen, ob es sich bei diesen Soldaten um Choreuten o d e r um Zuschauer handelte. Zuschauer und Choreuten kennen sich zum Teil persönlich; der Zuschauer kann aus unmittelbarer eigener Erfahrung wissen, was es heißt, als Choreut zu singen und zu tanzen, und der Choreut kennt die typische Haltung des Zuschauers. Viele soziale Gruppen im Theater sind persönlich oder durch ihre Angehörigen an der Chorkultur intensiv beteiligt (man denke inbesondere auch an alte Männer als ehemalige Chorsänger). Ein für die Wahrnehmung des Chores einer Tragödie und einer Trilogie durch den Zuschauer gewichtiger Faktor liegt in der Tatsache begründet, dass jeder der drei tragischen Chöre, egal welche akzidentielle Rolle er jeweils verkörpert, schließlich aufgeht und endet im immer gleichen, per se männlichen Satyr-Chor. 144 Dies kann mit zum essentiellen Wesen des Tragödienchores gerechnet werden, der nach der Verwandlung in drei akzidentielle, in sich ganz heterogene Rollen sozusagen sein Telos im Rahmen des Festes für Dionysos erreicht und hierbei auch seine vermutlich ja aus dem Satyrwesen hervorgegangene ‚Genese’ quasi rekapituliert. Was zusammenfassend den corÒj der Tragödie betrifft, so dürfte für das Publikum die darstellende performance (deren Vorführung und Rezeption) im Mittelpunkt des Interesses gestanden haben, und weniger ein dargestelltes other. Es sei denn, man definiert dieses other anders, nämlich in Bezug auf die spezifische Qualität des tragischen Chores. Denn mit den beschriebenen distinkten Merkmalen der Performativität kann in der Tat von einem Sonderstatus, ja einer Autonomie des Chores innerhalb der Tragödie gesprochen werden - tatsächlich ein other. 145 Was die Autorität des Chores 144 Sh. E ASTERLING (2005) 51f. Vgl. andererseits die Suche nach dem Dionysischem in den einzelnen Tragödien in der Arbeit von B IERL (1991). - Die Platzierung der Alkestis an Stelle eines Satyrspiels und die Aufführungspraxis an den Lenäen mit nur zwei Tragödien (ohne Satyrspiel) sind dann freilich spätere (ab ca. 440) Entwicklungen, die das Grundschema durchbrechen. 145 Die Autonomie des tragischen Chores, gerade auch bei Aischylos und mit Blick auf die Aufführungspraxis, hat L EY (2007) gut herausgearbeitet. Mit anderer, mehr literatur- <?page no="79"?> Der Chor als Boden der Tragödie 65 bei der Sinndeutung des tragischen Geschehens betrifft, so sollte hierfür nicht ausschließlich von der Rollenidentität her geurteilt werden: Schon allein durch seine Existenz als corÒj der song-and-dance culture dürfte der Chor der Tragödie beim Zuschauer einen Vertrauensvorschuss haben, der ihn in der Wahrnehmung des Zuschauers zumindest berechtigt, die Handlung zu kommentieren und Interpretationsvorgaben zu machen. 146 3.5 Chor und Zuschauer - Fokalisation Als soziales Segment der fiktiven Polisgemeinschaft und als corÒj der Lebenswelt hat der Chor der Tragödie eine natürliche Nahbeziehung zum Zuschauer. Die Einzelfiguren - Xerxes, Eteokles, Pelasgos, Agamemnon und Klytaimestra, Orestes, Athene, Prometheus - sind der Aristokratie des homerischen Epos oder gar der Götterwelt entsprungen und erscheinen dem durchschnittlichen Tragödienrezipienten (man denke etwa an einen einfachen Landmann) als entrückt und fern. Natürlich ist eine sympathetische Haltung des Zuschauers auch in Bezug auf den tragischen Helden als Individuum möglich, ohne den keine Tragödie zustande kommt. 147 Die Perspektive des Chores ist nur eine von mehreren, aus deren Polyvalenz sich die Gesamtaussage einer Tragödie - wie jedes anderen dichterischen Werkes mit mehreren Figuren - ergibt. Die weitere Entwicklung des Genos Tragödie zielt zweifellos darauf ab, das Individuum in den Mittelpunkt zu rücken, wodurch der Chor ins Hintertreffen zu geraten scheint; kurz nach Aischylos’ Tod werden um 447 auch Preise für die Einzelschauspieler eingeführt. 148 Jedoch meinen wir, dass bei Aischylos der Perspektive des hier noch sehr prominenten Chores eine besondere und sehr zentrale Bedeutung zukommt, was die Lenkung des Zuschauers betrifft. Die Nähe des Chores zum Zuschauer gilt zunächst in einem ganz konkreten Sinn: Im Theaterbau bilden der Rezipient im Zuschauerraum und der Chor, der sich in der vom Publikum förmlich umklammerten Orchestra befindet, eine Gemeinschaft, der die Einzelfiguren auf dem erhöhten Logeion vor der Skene gegenüberstehen. Zuschauer und Chor bilden zusammen einen ‚Boden’, auf dem sich die tragische Handlung in ihren Auswirkungen auf die Gemeinschaft abspielt. Anders als die Einzelfiguren befindet sich der Chor theoretischer Konturierung sh. die unten S.271f. angeführte These von B OLLACK / J UDET DE L A COMBE (1981/ 82) zum Chor des Agamemnon. 146 Positive Stimmen zur Autorität des tragischen Chores: V ERNANT / V IDAL -N AQUET (1986) 158 („la vérité collective, la vérité moyenne, la vérité de la cité“); G OLDHILL (1986) 255 („an authoritative collective voice“, die freilich nur eine von mehreren sein könne); S ILK (1999), bes. 16f. in Bezug auf den ‚hohen’ Stil der Chorlieder; M AS - TRONARDE (1999) 89f. 147 An dieser Stelle ist nochmals daran zu erinnern, dass wir grundsätzlich vom impliziten, idealen Rezipienten ausgehen, dessen Haltung aus dem kulturellen Kontext rekonstruiert ist. Für einen anderen Ansatz, der auch die Perspektiven der Einzelfiguren als Identifikationsangebote für Zuschauer aus verschiedenen sozialen Schichten zu berücksichtigen versucht, sh. G RIFFITH (1995), bes. 72. 148 Sh. aber oben S.62 Anm.140. <?page no="80"?> Die rezeptionsästhetische Methode 66 in aller Regel andauernd im Raum und gewährleistet durch diese Präsenz die Kontinuität der Handlung und deren räumlich-zeitliche Verortung. 149 Und anders als ein tragischer Held darf ein Chor nie sterben, sondern bleibt am Ende der Tragödie bestehen. Diese Art von kontinuierlicher Präsenz, die allein den Chor auszeichnet, schließt keineswegs aus, dass es in Abhängigkeit von der Fortentwicklung des Plots Veränderungen und Entwicklungen aufseiten des Chores selbst gibt. 150 Gegenüber der tragischen Handlung gilt für Chor und Publikum gleichermaßen eine Innenperspektive: Beide Gemeinschaften haben, ganz grundsätzlich gesagt, eine einander ähnliche Haltung als Zuschauer, die das Geschehen aus dem gleichen Blickwinkel heraus beobachten. Von zentraler Bedeutung für eine rezeptionsästhetisch orientierte Interpretation des Chores der Griechischen Tragödie ist nun das von der neuphilologischen Dramenforschung, besonders von P FISTER , erstellte Konzept der Perspektivsteuerung im Drama. Hierbei besitzt der Chor, wenn er im Chorlied (Parodos und Stasimon) in einen direkten Kontakt mit dem Zuschauer tritt, gegenüber den ganz in der fiktionalen Welt und im internen Kommunikationssystem aufgehenden dramatis personae eine ‚übergeordnete Figurenperspektive’, die „prinzipiell einen höheren Grad der Verbindlichkeit“ 151 hat. Dies heißt mitnichten, dass es sich beispielsweise bei einem Kommentar des Chores um eine o b j e k t i v richtige Interpretation des Geschehens handelt, dass also der Chor als Sprachrohr des Dichters fungiert. Sondern der Chor wird vom Dichter als ein „Instrument der Fokalisation“ 152 eingesetzt, mit welchem der Blick des Zuschauers gelenkt, gewissermaßen auch manipuliert wird, um nun bestimmte Aspekte der tragischen Handlung hervortreten zu lassen - beispielsweise durch die Erzählung vergangener Ereignisse oder durch die Evokation des tradierten Wertesystems, an dem der jeweilige Stand der Dinge gemessen werden soll, so durch Gnomen, mit denen der Chor einen dem Publikum vertrauten Orientierungsrahmen eröffnet und ihm Beurteilungskriterien an die Hand gibt. 153 149 R OSENMEYER (1982) spricht in diesem Zusammenhang treffend vom aischyleischen Chor als „nucleus“ (161) der Tragödie. Die stetige Bühnenpräsenz des Chores könnte auch einen neuen Blick auf die sogenannten Diptychon-Stücke des Sophokles ermöglichen. 150 Vgl. B AUR (1997) 41. 151 P FISTER (2001) 92; vgl. oben S.13f. 152 H OSE (1990) 36 (im Anschluss an die Darstellung der Perspektivenstruktur dramatischer Texte von P FISTER (2001) 90-102); H OSE hält für Euripides S CHLEGEL s allgemeine Definition des Chores als eines idealisierten Zuschauers für zulässig. Vgl. weiter die Überlegungen von H OSE (2000) 29-32 über die Unterscheidung von ‚Hauptperson’ und ‚Zentralfigur’ in den Tragödien des Sophokles: Die Zentralfigur erschließe eine ‚dominante Figurenperspektive’ und leite den Zuschauer am meisten an. Man wird nicht fehlgehen, für Aischylos dem Chor diese Dominanz der Perspektive zu attestieren. Vgl. auch unten S.211f. Anm.5. 153 Zur Gnomik in der Tragödie sh. S TENGER (2004) 19f. und die Definition 36-38. <?page no="81"?> Der Chor als Boden der Tragödie 67 Was unter solchen vom Chor allein vorgetragenen Bemerkungen ‚richtig’ oder ‚falsch’ ist, lässt sich letztlich erst im Nachhinein, nach dem Ende der Tragödie beurteilen. Zunächst einmal singt der Chor jeweils aus einer beschränkten Perspektive heraus (dies aber durchaus, wie bemerkt, mit Anspruch auf Autorität und Verbindlichkeit) und nimmt als eine am Geschehen beteiligte Personengruppe aus dem jeweiligen Moment heraus für den Zuschauer eine Fokalisation vor. Hierbei aber ist aus den Äußerungen des Chores nicht einfach das Ãqoj einer dramatis persona, die der Chor darstelle, zu konstruieren oder gegebenenfalls gar zu kritisieren, 154 sondern vordringlich gilt es darauf zu achten, w a r u m im jeweiligen Kontext nun der Fokus gerade auf diesen einen Sachverhalt gerichtet wird. Die Textinterpretation tut gut daran, auch für den Zuschauer eine beschränkte Perspektive anzunehmen, die derjenigen des Chores ähnlich ist. Das Grundmodell einer Tragödie besteht darin, dass Chor und Zuschauer in der Position dessen sind, der erst informiert werden muss. Ein modernes Verständnis von einem allseitigen Vorwissen des Zuschauers, dem der Mythos nun einmal bekannt gewesen sein müsse, übersieht wesentliche Eigenheiten der Rezeptionssituation. Zunächst stand es dem Dichter völlig frei, wie er im Einzelnen seinen tragischen màqoj gestaltete, was einen großen Raum für Überraschungen ließ (ein Beispiel ist die Behandlung der Opferung Iphigenies bei Aischylos und Euripides) - und wie er jeweils den Chor gestaltete. Es wäre sicherlich reizvoll, in einer intertextuellen Perspektive für die Elektra-Stücke den jeweiligen Erwartungshorizont des Zuschauers auch in Bezug auf den Chor zu untersuchen. Ein fundierter intertextueller Ansatz für Aischylos selbst könnte aber nur dann durchgeführt werden, wenn insbesondere über die Tragödien des Phrynichos - die Danaides und Aigyptioi ebenso wie die beiden historischen Stücke - genauere Aussagen möglich wären. Auf überraschende Wendungen, die innerhalb der dargestellten Welt immer möglich sind, warten Chor und Publikum zusammen. Es geht also nicht einmal so sehr um das ‚Wie? ’, sondern durchaus um das ‚Was? ’ der weiteren Handlung. 155 Dies zumal bei Aischylos, der in nicht wenigen 154 Vgl. die oben S.5-9 zitierten Forschungspositionen. 155 In diesem Sinne dezidiert T APLIN (1978), der sagt, das Publikum sei „virtually free of preconceptions“ (164) der darzustellenden Tragödie gegenübergetreten. Sh. auch T APLIN (1977), der sehr skeptisch ist „to explain anything earlier in the play of something which is only divulged later“ und „to read between the lines“ (18); vgl. auch M ATTHIESSEN (2002): Die Zuschauer, in der Mehrzahl einfache Menschen, brachten „keine überdurchschnittlichen mythologischen Kenntnisse“ (11) mit und konnten keine „Leitwörter oder -metaphern“ bemerken, um „verborgene Zusammenhänge“ (ebd.) herzustellen; vgl. E LSE (1977), in Bezug auf die so häufige Furcht und Unsicherheit des Chores bei Aischylos, die sich in rituellen Gebetshandlungen offenbart: „All is not a foregone conclusion, or it is not felt as one.“ (83). Vgl. konträr dazu M ASTRONARDE (1999) 90f., für den - allerdings speziell bei Euripides - das Vorwissen des Publikums die potentiell vorhandene Autorität des Chores untergraben kann. Insgesamt zur Bedeutung des Wissens und Vorwissens sh. jetzt F UCHS (2000) 128-67, der <?page no="82"?> Die rezeptionsästhetische Methode 68 Tragödien und Tetralogien den zugrundeliegenden Mythos überhaupt das erste Mal auf die B ü h n e bringt, ihn somit auch das erste Mal als Bühnenbearbeitung in den Sinnen des Zuschauers verankert. Gegenüber dem Weitererzählen mythologischer Geschichten ist deren mimetische Umsetzung im Theater ein kultureller Quantensprung. Und selbst bei einem entsprechenden Vorwissen, das für das gesamte Publikum keinesfalls vorausgesetzt werden kann, ist der Zuschauer vom hic et nunc der Aufführung völlig gefangen - zumal in den Chorpartien, in denen Melodik, Rhythmus, Gesang und Tanzfiguren einen überwältigenden visuellen und akustischen Eindruck bieten. Die Grundhaltung des heutigen Theaterbesuchers, der einer Guckkastenbühne gegenübersitzt, kann demgegenüber als relativ gefühllos und als kritisch-rezensierend charakterisiert werden. Ausgehend von der gemeinsamen Innenperspektive ist, auch im Rückgriff auf S CHLEGEL s großzügige Definition des Chores als des idealisierten Zuschauers, auf ein weiteres konstitutives Merkmal zu verweisen, durch das sich Chor und Zuschauer annähern können: Beide haben im Theater eine passive Grundhaltung, die sich kontrastierend aus einer Differenzerfahrung zu den großen Figuren des Mythos ergibt und per se der Position eines reflektierenden Betrachters Vorschub leistet. In den pseudoaristotelischen Problemata wird der Chor zum khdeut¾j ¥praktoj (922 b26), zum „Beobachter, der nicht handelt“ - eine vom Sachstand der Griechischen Tragödie aus gesehen völlig zutreffende Formulierung, gerade im Vergleich mit der so oft zitierten Stelle in der Poetik über das sunagwn…zesqai des Chores. In den Problemata heißt es: ... ™ke‹noi ( sc. oƒ ¢pÕ skhnÁj ) m n g¦r ¹¹rèwn mimhta…: oƒ d ¹gemÒnej tîn ¢rca…wn mÒnoi Ãsan ¼rwej, ooƒ d laoˆ ¥nqrwpoi, ïn ™stˆn Ð corÒj. DiÕ kaˆ ¡rmÒzei aÙtù tÕ goerÕn kaˆ ¹sÚcion Ãqoj kaˆ mšloj: ¢nqrwpik¦ g£r. Taàta d' œcousin aƒ ¥llai ¡rmon…ai, ¼kista d aÙtîn ¹ frugist…: ™nqousiastik¾ g¦r kaˆ bakcik». Kat¦ m n oân taÚthn p£scomšn ti: ppaqhtikoˆ d oƒ ¢sqene‹j m©llon tîn dunatîn e„s…, diÕ kaˆ aÛth ¡rmÒttei to‹j coro‹j: kat¦ d t¾n Øpodwristˆ kaˆ Øpofrugistˆ ppr£ttomen, Ö oÙk o„ke‹Òn ™sti corù. ””Esti g¦r Ð corÕj khdeut¾j ¥praktoj: eÜnoian g¦r mÒnon paršcetai oŒj p£restin. (922 b17-b27) Aktives, potentiell tragisches Handeln ( pr£ttein ) fällt in den Bereich der Einzelfiguren, der ¼rwej . Die Passivität des Chores ( p£scein ), dem solches pr£ttein wesensfremd ist, ist nicht nur aus seinem sozialen Stand innerhalb des Stücks abzuleiten, obwohl die Präsentation von Durchschnittsmenschen ( laoˆ , ¥nqrwpoi ), von Schwachen ( ¢sqene‹j ) die Differenz zu den Einzelfiguren auch in dieser Hinsicht zeigt. 156 zu Recht die „textimmanente Informationsvergabe“ (137) und das „Sich-Selbst-Vergessen und das Verdrängen des Mehrwissens bis zum Spielende“ (144) betont. 156 Eine Gegenprobe für die im Sinne der otherness-Forschung offensichtlich nicht sozial marginalen Soldatenchöre des Aias und des Philoktet würde zeigen, dass auch diese <?page no="83"?> Der Chor als Boden der Tragödie 69 Die gemeinsame ‚passive’ Innenperspektive von Chor und Publikum führt aber noch über diese eher im Bereich der dramatischen Technik angesiedelten Äquivalenzen hinaus: Aus unserer bisherigen Argumentation lässt sich folgern, dass die von den Einzelfiguren herbeigeführte Krisensituation für Zuschauer und Chor zu einer Erschütterung und Bedrohung der Gemeinschaft führt, was von beiden Gruppen als integratives Erlebnis geteilt wird. Unter der Voraussetzung einer gemeinsamen Innenperspektive ist nicht schwer einzusehen, dass Chor und Zuschauer die Präsenz dieses Bedrohungspotentials als eine von außen kommende Gefahrensituation empfinden. Damit kann der Gegensatz zwischen einem in allererster Linie vom Chor als Segment der Polis gebildeten Innenraum und einer in einem Außenraum angesiedelten Gefahrenlage eine Leitlinie der Textinterpretation sein. Dieser Innen-Außen-Gegensatz, für dessen Konstitution die von der angloamerikanischen Gräzistik bereits breit rezipierte strukturalistische Opposition von Zivilisation und Wildnis 157 eine gewisse Grundlage bilden kann, lässt sich insbesondere auch mit der Dichotomie von ‚Ordnung’ und ‚Chaos’ beschreiben. Die bereits für die frühgriechische Kultur geltende Formel: ‚Chor ist gleich Ordnung’ kann nach unserer Annahme einer Kontinuität innerhalb der song-and-dance culture auch für die Tragödie gelten: Ihren Boden bildet der Chor auch insofern, als er - natürlich auch kraft seiner jeweiligen Rollenidentität - Bezug nimmt auf die popular morality. Noch für den Chor des Euripides hat H OSE einige wesentliche Kennzeichen dieser Durchschnittsethik formuliert, wie Tyrannenfeindlichkeit, Götterverehrung, Gerechtigkeit und Hilfestellung für ungerecht Behandelte; 158 hinzuzufügen sind wohl noch Kardinaltugenden wie Besonnenheit und Maßhalten. Für Aischylos ist auf eine spezifisch athenische Traditionslinie hinzuweisen: Vor allem das in den Elegien Solons zu findende theologisch-ethische System, dessen Kern die Begriffe Ate und Hybris bilden, ist nicht nur Verstehensgrundlage für zentrale interpretatorische Fragestellungen wie ‚Weltbild und Theologie des Aischylos’, sondern ist zugleich auch ein Orientierungsrahmen für Chor und Zuschauer, dessen Verständnishorizont auf diese Weise abgesteckt wird. 159 Die Adaption traditioneller, drei bis vier Generationen, in ihren Ursprüngen bis auf Hesiod zurückreichender Denkstrukturen hat ihren Grund auch in der integrativen Kraft der frühen Griechischen Tragödie, andere poetische Formen wie das Epos und die Elegie in verschiedener Hinsicht zu adaptieren. 160 Im Falle von Solons politischen Elegien handelt es sich um Chöre eine deutliche Haltung von Passivität und Abhängigkeit gegenüber ihren ‚Herren’ aufweisen. 157 Vgl. besonders die Sophokles-Monographie von S EGAL (1981). 158 H OSE (1990) 33f.; sh. S.56 Anm.126. 159 Sh. die Darstellung bei S OLMSEN (1949) 107-23. 160 Zur frühen Tragödie als „synthesis of live performing arts“ sh. H ERINGTON (1985) 79- 97 (Zitat 80) mit der bezeichnenden Kapitelüberschrift The Confluence. <?page no="84"?> Die rezeptionsästhetische Methode 70 einen öffentlichen Auftritt mit g e s u n g e n e n Inhalten zum Wohle der Polis, über deren Belange in einem weiten, metaphysischen Rahmen reflektiert wird. Nicht anders in der Tragödie, nur dass jetzt die entsprechenden Theoreme vom Chor vertreten und vorgetragen werden, nicht mehr nur von einem Solisten, der zudem erst um eine entsprechende Akzeptanz bemüht sein muss. Die starke innere Ähnlichkeit dieser beiden performances wird durch die Tatsache unterstrichen, dass vor dem Bau des Dionysostheaters die frühen Tragödienaufführungen (etwa vor 500) auf derselben Agora stattfanden, auf der Solon einige seiner Elegien ‚aufführte’: Die Öffentlichkeit der Polis ist der genuine Raum, ihr Wohlergehen zu verhandeln. 161 Die Tatsache, dass dieses Wertesystem einerseits in der Polis des Zuschauers beheimatet ist, andererseits aber auch in der (Polis-)Gemeinschaft des dargestellten Stücks, wo es ebenso gültig ist, hat eine zusätzliche integrative Kraft für die einheitliche Wahrnehmung des tragischen Chores während der Aufführung: Als Personengruppe des Stücks und zugleich als TheatercorÒj Athens verfügt er über diesen Orientierungsrahmen, den er als ‚Delegation’ der Zuschauer bei seinem Eintritt in den Raum der Tragödie mitnimmt. 162 161 Vgl. Sol. fr. 2,1f. und H ERINGTON (1985) 34f.; zur Agora als Ort der frühen Theateraufführung I ERANÒ (1997) 244. Obwohl die Gattung Elegie zunächst einmal in das weniger öffentliche, aristokratische Symposion gehört, ist doch ihr auf das Heil der gesamten Polis gerichteter Grundcharakter bemerkenswert. Auch ihre frühesten Ausformungen bei Kallinos und Tyrtaios hat die zentralen Merkmale, die man einem Tragödienchor zuweisen könnte, so den Bezug auf den Boden der Polis, den es von innen heraus zu verteidigen gilt: Vgl. bes. Kallin. 1,7f. und Tyrt. 6,3 und 13f.; 9,15. Eunomia, deren Personifikation schon bei Hesiod in großer Nähe zum Musenchor zu finden ist (sh. oben S.37), ist das gemeinsame Anliegen des Elegiendichters (vgl. Xenophan. 2,19, Sol. 3,32 und den Titel von Tyrt. 2 und 3) und des tragischen Chores. 162 Die Formulierung der ‚Delegation’ ist hier übernommen von L ONGO (1990) 16; ähnlich W ILES (2000): Der Chor als „physical extension of the audience“ (125) und, in umgekehrter Blickrichtung, A RNOTT (1989): „ ... and the auditorium was an extension of the orchestra circle.“ (23) 4. p£qoj durch lÒgoj : Die Affekte des Chores und ihre Transmission an den Zuschauer 4.1 Die innerkulturelle Kontinuität von lÒgoj , ·uqmÒj und ¡rmon…a Wenn in einer Tragödie die Erschütterung der Polisordnung und des vom Chor gebildeten Bodens vorgeführt wird, so liegt es nahe, dass diese Krisensituation dem Zuschauer durch eine emotionale Teilnahme des Chores an der Handlung angezeigt wird: Bei seinem Eintritt in die fiktionale Welt nimmt der Chor neben den Merkmalen ‚Gemeinschaft’ und ‚Ordnung’ auch seine Emotionen aus der song-and-dance culture mit, das heißt sein Potential, den Rezipienten durch Gesang, Tanz und Wort zu stimulieren. Wenn man auch in dieser Hinsicht eine innerkulturelle Kontinuität annimmt, so dürfte <?page no="85"?> p£qoj durch lÒgoj : Affekttransmission 71 es zu kurz greifen, die Darstellung der Emotionen auch aufseiten des tragischen Chores nur auf dessen Rollenidentität und Charakter hin zu fokussieren, als sei er einfach eine weitere dramatis persona. Denn nicht bloß als eine gewissermaßen zufällig involvierte Personengruppe der Polis wird der Chor der Tragödie von der Handlung affiziert, sondern als corÒj der Lebenswelt ist er in der Wahrnehmung des Zuschauers geradezu prädestiniert für die Darbietung von Emotionen: Dies liegt im Erfahrungs- und Erwartungshorizont des Zuschauers, für den die Großen Dionysien zudem schon per se ein emotional höchst aufgeladenes Ereignis sind. Allerdings bleibt dem Philologen aus der Dreiheit der mousik» (Plat.Rep. 398 d1-2) nur der lÒgoj , also der sprachliche Inhalt des Chorgesanges, wie er im Text überliefert ist, als aussagekräftiger Untersuchungsgegenstand. Der ·uqmÒj ist über den Weg metrischer Interpretationen bis zu einem gewissen Grad noch zugänglich. 163 Über die als solche nicht mehr rekonstruierbare ¡rmon…a wird man immerhin so viel sagen können, dass bestimmten traditionellen chorlyrischen Formen, die in die Tragödie transformiert werden, wie dem Goos oder dem Hyporchema, von vornherein ein entsprechender emotionaler Grundton zugeschrieben werden kann, 164 dass es also vielleicht eine entsprechende spezifische ‚Erkennungsmelodie’ gab. K RANZ hat in Stasimon unter der Kapitelüberschrift Melos und Rhythmus (137-48) Ergebnisse einer möglichen Rekonstruktion vorgelegt. Wenn jedoch der primäre Bezugspunkt auch für die Bestimmung der emotionalen Komponente der lÒgoj des Chores ist, so ist nun nach einer Methode zu fragen, mit dem sich dieser emotionale Gestus des Chores beschreiben lässt, insbesondere in seiner Bedeutung für den Zuschauer. Es gilt hier zunächst einige Zeugnisse für die Qualität der aischyleischen Tragödie auszuwerten, um dann, mit Blick auf unsere rezeptionsästhetische Fragestellung, eine theoretische Fundierung zu bieten, die - aus noch anzuführenden Gründen - von der im Hinblick auf die Affekte der Tragödie vieldiskutierten Katharsis-Lehre des Aristoteles abrückt und sich stattdessen dem zeitlich ohnehin viel näher an Aischylos stehenden Begründer der griechischen Rhetorik zuwendet: Gorgias. 4.2 Zeugnisse für die emotionale Wirkung der aischyleischen Tragödie: Die Tragödie (auch) als ‚Hörspiel’ Bislang haben wir mit dem allgemeinen Begriff ‚Emotion(en)’ für die grundsätzliche Beschreibung des entsprechenden Wesensmerkmales des Chores gearbeitet. Demgegenüber lassen sich mit dem Begriff ‚Affekt’, griechisch p£qoj , insbesondere was die konkrete Textinterpretation anbelangt, jeweils einzelne, intensive psychosomatische Erregungszustände, einschließlich 163 Beispiele für metrische inhaltsbezogene Analysen von Chorpartien: Für Tragödie und Komödie insgesamt F AUTH (1953), für Aischylos S COTT (1984), für Sophokles S COTT (1996), für Aristophanes Z IMMERMANN (1984/ 85/ 87). 164 Vgl. dazu S CHNYDER (1995) 20f. <?page no="86"?> Die rezeptionsästhetische Methode 72 ihrer körperlichen Symptome, beschreiben. 165 Der deutsche Terminus ‚Pathos’ trägt in der Neuzeit ganz verschiedene Konnotationen, mit welchen sich komplexe philosophische, ethische und literaturtheoretische, auch rhetorische Fragestellungen verbinden. 166 Aber schon ein erstes oberflächliches Verständnis von ‚Pathos’ wird auch dem deutschen Begriff eine gattungskonstituierende Bedeutung für das Genos Tragödie zuschreiben. Bemerkenswert ist, wie konkret p£qoj bereits in antiken Zeugnissen für die Deskription der epochemachenden Leistungen des Creator of Tragedy 167 Aischylos verwendet wird. Es steht zu vermuten, dass dieses offenbar durchaus spezifisch ‚aischyleische’ p£qoj in einen Zusammenhang mit dem Chor gebracht werden kann, den Aischylos ja aus der song-and-dance culture übernommen hat. 168 1) Die im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer, ‚undionysischer’ Plots bereits zitierte Feststellung Plutarchs hebt darauf ab, dass zwischen dem màqoj als dem im Theater spannungsvoll dargebotenen Plot und dem p£qoj ein nahezu genetischer Zusammenhang besteht: Frun…cou kaˆ A„scÚlou t¾n tragJd…an e„j mÚqouj kaˆ p£qh proagÒntwn ktl. (TrGF I, 3 T7). Es handelt sich offenkundig um zwei zentrale Kategorien, deren qualitative Steigerung durch Phrynichos und Aischylos der Tragödie einen gewaltigen Entwicklungsschub gegeben haben. Es lässt sich mit Fug annehmen, dass hierbei dem Chor eine zentrale Rolle zukam. 2) Die Vita Aeschyli berichtet von der affektiven Wirkung der aischyleischen Tragödie, die auf verschiedene bahnbrechende dramaturgische und szenographische Neuerungen zurückgeführt wird. Die Formulierung zeigt, dass den an erster Stelle stehenden p£qh - der Begriff steht gewissermaßen in genetischer Verbindung mit dem prîtoj eØret»j Aischylos - ein Eigenwert zukommt, der sich aber nicht auf das neue visuelle Moment beschränken dürfte: prîtoj A„scÚloj p£qesi gennikwt£toij t¾n tragJd…an hÜxhsen t»n te skhn¾n ™kÒsmhsen kaˆ t¾n ÔÔyin tîn qewmšnwn katšplhxe tÍ lamprÒthti, grafa‹j kaˆ mhcana‹j, bwmo‹j te kaˆ t£foij, s£lpixin, e„dèloij, ’ ErinÚsi, toÚj te Øpokrit¦j ceir‹si skep£saj kaˆ tù 165 Vgl. etwa die Definition NP 1,213f. s.v. ‚Affekte’. 166 Vgl. die Überblicksartikel von M EYER -K ALKUS (1989) und K RAUS (2000), bes. 691f. 167 So der Titel der Monographie von M URRAY (1940). 168 In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Affekte in den Tragödien des Aischylos - nicht nur was den Chor betrifft - in der Forschung bislang verhältnismäßig wenig Berücksichtigung gefunden haben und auch der emotionale Gehalt der Griechischen Tragödie insgesamt noch weitere spezielle, vor allem textbasierte Untersuchungen verdiente. Vgl. den Forschungsüberblick bei S CHNYDER (1995) 17-19 und die Arbeiten von E GGERKING (1912), bes. 1-16, S TANFORD (1983), bes. 11-20, F UCHS (2000), bes. 203-22 (über die emotionale Aufladung der Großen Dionysien) und Z IERL (1994). <?page no="87"?> p£qoj durch lÒgoj : Affekttransmission 73 sÚrmati ™xogkèsaj me…zos… te to‹j koqÒrnoij metewr…saj (TrGF III, T A 1,14). 169 Mit katšplhxe lässt sich eine Verbindung zu dem in der antiken Literaturtheorie wichtigen Terminus œkplhxij ziehen, der grundsätzlich eine starke emotionale Erschütterung anzeigt. 170 Als œkplhxij bezeichnet die Vita außerdem die wirkungsvolle Verbindung von Plot und visueller Darbietung eines Schau-Spiels durch Aischylos: ta‹j te g¦r Ôyesi kaˆ to‹j mÚqoij prÕj œkplhxin teratèdh m©llon À prÕj ¢p£thn kšcrhtai . Die hier behauptete Dominanz der œkplhxij über die ¢p£th - letzterer Begriff wird uns im Folgenden noch beschäftigen - lässt auf einen Ersatz des verhältnismäßig geringen Grades an realistischer Illusion der Bühne (so könnte ¢p£th hier übersetzt werden) durch die genannten visuellen Mittel schließen, die den Zuschauer durch spektakuläre Bühnenaktionen regelrecht überwältigen. Der Wahrheitswert dieser Bemerkungen aus der Vita, der wohl eine peripatetische Quelle zugrunde liegt, über ein von Aischylos veranstaltetes Bühnenspektakel ist allerdings zweifelhaft. 171 Wohl zutreffender urteilt Euripides in den Ranae über Aischylos, scheinbar tadelnd, tatsächlich aber wohl das gegenüber Phrynichos radikal Neue seiner Tragödie aufzeigend: ... æj Ãn ¢lazën kaˆ fšnax o†oij te toÝj qeat¦j / ™xhp£ta mèrouj labën par¦ Frun…cJ trafšntaj (909f.). Exemplifiziert wird die Fähigkeit des Dichters zur ‚Täuschung’ ( ™xhp£ta ) des Zuschauers - das heißt zum Gefangenwerden durch Spannung, der sich der von Phrynichos an anderes gewöhnte Rezipient gerne ausliefert - an den Figuren Niobe und Achilleus, die lange Zeit nur stumm dasitzen. 172 Ist es hier also das Schweigen, das den Zuschauer involviert und ‚anspricht’, so in vv.961-63, in 169 Eher unwahrscheinlich erscheint es, dass p£qoj in diesen beiden Zeugnissen gegenständlich das ‚Leid’ bezeichnet, wie S CHNYDER (1995) 16 annimmt, doch ergäbe das für unsere Sicht der Dinge keine wesentliche Änderung, da solches Leid natürlich als Erleiden auf der Bühne dargestellt wird. - M URRAY akzeptiert in seiner Ausgabe die Konjektur gennikwtšroij von B LOMFIELD , woraus auf eine ‚Veredelung’ des Genos durch Aischylos (und Phrynichos; vgl. im vorherigen Zeugnis proagÒntwn ) gegenüber dem möglicherweise dionysischen, scherzhaften Treiben der frühen tragJd…a geschlossen werden könnte (eventuell parallel zum Ernsthaftwerden des Dithyrambos? ). Die affektive Wirkung der damals neuen aischyleischen Tragödie ist zu Recht die eigentliche „dramatic quality“ des Aischylos (so E LSE (1977) 73), der diese Besonderheit der noch relativ einfachen Plots der aischyleischen Tragödie hervorhebt. 170 Vgl. H EATH (1987) 15 mit den Belegen: Plat.Ion 535 b2 (Wirkziel einer Epos-Rezitation); Arist.Rhet. 1385 b32, Poet. 1460 b25 ( tšloj der Dichtung allgemein), Ps.-Long. 15,2; Plut.Mor. 16a-17e und 25d. Zunächst ist œkplhxij das akute Erschrecken, das einen niederwirft (vgl. S CHMIDT (1879) III 524). 171 Sehr skeptisch dazu T APLIN (1977) 42-49; möglich sei eine Bezugnahme der Vita auf spätere Wiederaufführungen, die solche „spectacular effects“ (47) eingebaut haben könnten. Vgl. auch Arist.Poet. 1453 b8-10 über das foberÒn und das teratîdej , das der wahren Tragödie abhold sein müsse. Der Einfluss der hellenistischen Rhetorik auf die Vita ist unverkennbar, obgleich die rezeptionsästhetische Perspektive für sich genommen wiederum interessant ist. 172 Für diese Interpretation der Ranae-Stellen sh. P OHLENZ (1920) 159-67. <?page no="88"?> Die rezeptionsästhetische Methode 74 einer weiteren Aussage des Euripides, der hohe und komplizierte Stil, das Vokabular, mithin die Sprache selbst, mit der Aischylos œkplhxij erzielt und das frone‹n ausschaltet: ... ¢ll' oÙk ™kompol£koun ¢pÕ toà frone‹n ¢posp£saj oÙd' ™xšplhtton aÙtoÝj KÚknouj poiîn kaˆ Mšmnonaj kwdwnofalaropèlouj. Aus diesen Zeugnissen und Reflexen ist zu schließen, dass die affektive Wirkung der aischyleischen Tragödie zum einen auf visuellen Bühnenmitteln beruht, zum anderen aber - und dies ist wohl das Wesentlichere und für die philologische Textinterpretation leichter Zugängliche - auf der Verwendung der Sprache. 173 3) Eine bei Plutarch überlieferte Äußerung des Rhetors Gorgias (fr. 23 DK), die sich allgemein auf die Tragödie bezieht, betont ebenfalls den Zusammenhang zwischen p£qoj und màqoj . Trotz der hier nicht expliziten Nennung von Aischylos sei dieses Zeugnis im Verbund mit den beiden anderen zum Ausgangs- und Angelpunkt genommen, um im Folgenden die Relation zwischen Tragödienchor, p£qoj und Zuschauer zu erklären und theoretisch zu fundieren. ½nqhse d ’ ¹ ttragJd…a kaˆ diebo»qh, qqaumastÕn ¢krÒama kaˆ qšama tîn tot ’ ¢nqrèpwn genomšnh kaˆ pparascoàsa to‹j mÚqoij kaˆ to‹j p£qesin ¢p£thn, æj Gorg…aj fhs…n, ¿n Ð t ’ ¢pat»saj dikaiÒteroj toà m¾ ¢pat»santoj kaˆ Ð ¢pathqeˆj sofèteroj toà m¾ ¢pathqšntoj. Ð m n g¦r ¢pat»saj dikaiÒteroj Óti toàq ’ ØposcÒmenoj pepo…hken, Ð d ’ ¢pathqeˆj sofèteroj: eeÙ£lwton g¦r Øf ’ ¹donÁj lÒgwn tÕ m¾ ¢na…sqhton. (Gorg. fr. 23 DK) Was zunächst die in allen drei Zeugnissen auftretende Verbindung von p£qoj und màqoj betrifft, so steht dahinter das dramatische Konzept ‚Spannung’: Die gerade für Aischylos (und Phrynichos) bezeugte Entwicklung komplexerer màqoi setzt die passive Zuschauerhaltung von Chor und Publikum voraus. Die Passivität dieser beiden Gemeinschaften im Theater, der ¢sqene‹j ¥nqrwpoi und lao… (Ps.-Arist.Probl. 19,48, 922b26), kann im gemeinsamen emotionellen Erlebnis des p£qoj (gegenständlich qua ‚Leid’), also als p£scein , definiert werden. Und das p£qoj qua ‚Affekt’ ist entsprechend die an den Zuschauer übertragene persönliche Betroffenheit des Chores, die die im màqoj dargestellte Störung der Ordnung anzeigt; dieser màqoj aber ist ohne aktiv handelnde Einzelfiguren, denen das pr£ttein zukommt, 173 Einen interessanten Vorschlag zur Erklärung der Junktur œkplhxij teratèdhj aus der Vita macht E ASTERLING (2005a) in einer Anwendung auf die Kassandra-Szene im Agamemnon: Bei den blutigen Visionen der Seherin (cena Thyestea, Mord an Agamemnon) handele sich um „something beyond their [sc. des Publikums] normal experience“ (29) - insofern also könnte man hier gerade einen Zusammenhang zwischen der ‚visuellen’, die Vorstellungskraft des Zuschauers herausfordernden Darbietung, und dem lÒgoj herstellen, dem Medium, in dem diese ‚Vorstellung’ durchgeführt und erzeugt wird. <?page no="89"?> p£qoj durch lÒgoj : Affekttransmission 75 undenkbar. 174 Das im frühgriechischen Denken ohnehin häufig zu findende Bewusstsein von einem sicher eintretenden tšloj in der weiteren Entwicklung der Dinge 175 bedeutet auf dramaturgischer Ebene, dass der màqoj zwangsläufig seinen - so oder so gearteten - Verlauf nehmen wird. Damit sind die p£qh aufs engste verknüpft: Das gemeinsame Nichtwissen von Chor und Publikum über den weiteren Handlungsverlauf zumal am Beginn einer aischyleischen Tragödie, den S EECK treffend als labilen Unruhezustand definiert hat, 176 kreiert einen Zeit- und Spielraum für fortwährendes p£qoj. Weiter weist das Gorgias-Zitat bei Plutarch auf die Äquivalenz akustischer und optischer Wahrnehmung ( ¢krÒama kaˆ qšama ) bei der Affekterregung hin. 177 Die Nennung beider Kanäle der Sinneswahrnehmung in dieser rezeptionsästhetischen Kurztheorie ist bemerkenswert, wird doch so schon eine relativ genaue Verhältnisbestimmung zwischen Tragödie als Sprachhandlung und szenischem Spiel auf der einen und ihrer konkret physiologisch fassbaren Wirkung beim Zuschauer auf der anderen Seite möglich. Die Beschreibung dieser Relation hat für unsere Fragestellung deutliche Vorzüge gegenüber dem aristotelischen Modell, das insbesondere mit der Theorie von der Hamartia operiert, in der ein ‚mittlerer Held’ als anthropologischpsychologisches Identifikationsmuster fungiert, das zugleich aber die Ver- 174 Auf die beiden verschiedenen Formen von p£qoj hat N AGY (1994/ 95) hingewiesen: „So too the audience of the drama that is Athenian State Theater experience the pathos of the hero through the pathos of choral song and dance.“ (52). Pathos sei für den tragischen Helden als „ordeal“ (50, etwa „Martyrium“) in objektivem Sinne wirksam, für das Publikum hingegen als „emotion“ (ebd.) auf einer subjektiven Ebene - durch den Chor vermittelt, so N AGY ; ganz ähnlich auch E LSE (1977) 86. - Die literaturtheoretische Kategorie ‚Pathos’ kann natürlich bei der Tragödieninterpretation auch in anderer Weise bestimmt werden, etwa durch die Untersuchung thematischer und struktureller Fragen oder auch der Leiderfahrung der Einzelfiguren, wie in der Arbeit von DE R OMILLY (1980). Als unverzichtbarer Bestandteil des màqoj neben Peripetie und Anagnorisis wird p£qoj in der Poetik explizit als pr©xij („Geschehen“) definiert (1452 b12f.); die Beispiele (dargestellte Todesfälle, heftige Schmerzen und Verwundungen) weisen deutlich in den Bereich des ‚tragischen Helden’. Vgl. aber 1456 a38-b1, wo p£qh die Affekte œleoj, fÒboj, Ñrg» und Ósa toiaàta bezeichnet; zu p£qoj in der Poetik sh. die wohlabgewogenen Betrachtungen von R EES (1972). Doch bei der - in dieser Arbeit nicht zu leistenden - Bestimmung von ‚Pathos’ bei Aischylos, auch wenn es das „objektive schwere physische oder psychische Leid“ (K RAUS (2000) 691) meinen kann, kommt man am Chor nicht vorbei. 175 So Sem. fr. 1,1; Sol. fr. 1,17,28,58; Pind.Ol. 2,15-19, Ol. 13,104f., Nem. 10,29f. Zu Begriff und Vorstellung von tšloj bei Aischylos sh. insgesamt F ISCHER (1965) 176 „Am Anfang steht eine Situation der Befürchtung oder Angst, der Erwartung oder des Hoffens, also allgemein ausgedrückt ein labiler Zustand, der nur von begrenzter Dauer sein kann und bei dem unsicher ist, nach welcher Seite sich das Gewicht neigen wird.“ (S EECK (1984) 5). 177 Die einleitenden Worte sind zwar kein direktes Zitat aus Gorgias, doch ist anzunehmen, „daß die von Plutarch gegebene Erläuterung aus Gorgianischem schöpft“ (B UCH - HEIM (1989) 199). <?page no="90"?> Die rezeptionsästhetische Methode 76 mittlerrolle des Chores vernachlässigt. Und Aristoteles setzt ja auch melopoi…a und Ôyij ganz explizit hintan (Poet. 1450 b15-20). 178 Was zunächst das affektiv wirksame qšama betrifft, so lässt sich hier speziell für den Chor ein Zeugnis bei Athenaios (1,39) einordnen. Aischylos habe in nie dagewesener Weise als Choreograph die Tanzfiguren seiner Chöre einstudiert: kaˆ A„scÚloj d oÙ mÒnon ™xeàre t¾n tÁj stolÁj eÙpršpeian kaˆ semnÒthta , ¿n zhlèsantej oƒ ƒerof£ntai kaˆ dvdoàcoi ¢mfišnnuntai, ¢ll¦ kaˆ poll¦ sc»mata Ñrchstik¦ aÙtÕj ™xeur…skwn ¢ned…dou to‹j coreuta‹j . Camailšwn goàn prîton aÙtÒn fhsi (fr. 21 Koepke) schmat…sai toÝj coroÝj Ñrchstodidask£loij oÙ crhs£menon, ¢ll¦ kaˆ aÙtÕn to‹j coro‹j t¦ sc»mata poioànta tîn Ñrc»sewn, kaˆ Ólwj p©san t¾n tÁj tragJd…aj o„konom…an e„j ˜autÕn periist©n . Øpekr…neto goàn met¦ toà e„kÒtoj t¦ dr£mata . 'Aristof£nhj goàn ( par¦ d to‹j kwmiko‹j ¹ perˆ tîn tragikîn ¢pÒkeitai p…stij ) poie‹ aÙtÕn A„scÚlon lšgonta to‹si coro‹j aÙtÕj t¦ sc»mat' ™po…oun . (PCG III 2 696a) kaˆ p£lin · ... toÝj FrÚgaj o da qewrîn, Óte tù Pri£mJ sullusÒmenoi tÕn pa‹d' Ãlqon teqneîta , poll¦ toiautˆ kaˆ toiautˆ kaˆ deàro schmat…santaj . (PCG III 2 696b) Freilich bewegt man sich auch hier in einem Bereich, der sich kaum noch rekonstruieren lässt. Jedoch ist festzuhalten, dass die bei Athenaios genannten sc»mata die große Bedeutung auch des Visuellen für die durch die Tanzfiguren des aischyleischen Chores erzielte affektive Wirkung unterstreichen. Ausgehend von den von Gorgias genannten ästhetischen Kanälen ¢krÒama und qšama sieht sich eine philologische Untersuchung erneut auf das ¢krÒama zurückgeworfen, soweit sich hiermit eine auf dem T e x t basierte Interpretation verknüpft. 179 Doch ist dieses ‚akustische’ Moment für den Vater der griechischen Rhetorik auch das wichtigere, wie in fr. 23 DK der Schlusssatz mit der Formulierung ¹don¾ lÒgwn zeigt, von der sich, so wird faktisch und objektiv festgestellt, „das, was nicht empfindungslos ist, hinreißen lässt“ - also offenkundig der Tragödien-Zuschauer, der so immer auch ein Zuhörer ist. Diese lÒgoi (respektive der lÒgoj als Kategorie) sind für Gorgias offenbar das probate Mittel der Tragödie, dem Rezipienten die 178 Vgl. aber andererseits die Überlegungen zur Affekterregung durch die Musik, auch im Theater, in der Politik 1339 a11 - 1342 b35. 179 Sh. oben S.25f. Anm.39 über das Spannungsverhältnis zwischen einer eher theaterwissenschaftlichen und einer philologisch-‚lesenden’ Herangehensweise. <?page no="91"?> p£qoj durch lÒgoj : Affekttransmission 77 màqoi überhaupt erst nahezubringen und die p£qh vielleicht noch stärker als auf dem Wege der Ôyij zu erzeugen. Die Bemerkung von Gorgias über die ¹don¾ lÒgwn und die durch mÚqoij kaˆ p£qesi erzielte ¢p£th kann nun einen methodischen Weg weisen, das Verhältnis von Chor und Zuschauer bezüglich des p£qoj , des Affektes, bei Aischylos zu beschreiben, zumal sich hierzu die Reflexe über die Wortgewalt der aischyleischen Tragödie in den Ranae fügen. B UCHHEIM hat für ¢p£th bei Gorgias - der Begriff fällt auch in Fragment 11 DK, auf das gleich einzugehen sein wird - die Übersetzung „Entführung“ vorgeschlagen, der der ursprüngliche Wortsinn von ¢pat£w „vom Weg abbringen“ zugrunde liegt. 180 Gorgias hat der Tragödie, auch im Falle von Aischylos, insofern Interesse entgegengebracht, 181 um aus dieser bereits hochentwickelten Kunstform seiner Zeit Gewinn zu ziehen für sein eigentliches Metier, die Rhetorik, deren zumal ‚sophistisches’ Hauptziel sich exakt so definieren lässt, wie Gorgias den Effekt der ¹don¾ lÒgwn der Tragödie beschreibt: Derjenige, der sich gegenüber ihrem visuellen und besonders ‚akustischen’ Angebot nicht verschließt, kann „leicht gefangen werden“: eÙ£lwton g¦r Øf' ¹donÁj lÒgwn tÕ m¾ ¢na…sqhton . Sicherlich ist dies auch ein ‚Gefangensein’ und ‚Entführtwerden’ im Sinne einer Illusionserzeugung der fiktionalen Bühnenwelt, der der Zuschauer gegenüber sitzt. Aber gerade angesichts der im Vergleich mit der neuzeitlichen, abgedunkelten Guckkastenbühne doch so un-naturalistischen, recht spärlich ausgestatteten Bühne der Griechischen Tragödie (die Zeugnisse für die skenographischen Neuerungen des Aischylos stehen nicht im Widerspruch zu diesem Befund) ist in der Tat eine Deutung von ¢p£th im Sinne einer r h e t o r i s c h e n „Entführung“ durch den lÒgoj zulässig - Tragödie zwar als qšama , als Schauspiel, noch viel mehr aber als ¢krÒama , als ‚Hörspiel’ und als ein sich in sprachlicher Kommunikation vollziehendes Handeln der Figuren, welches nicht weniger illusionserzeugend wirkt und die Vorstellungskraft des Zuschauers herausfordert. 182 Die entscheidende Verbindung zwischen der rhetorischen Theorie des Gorgias und der dichterischen Praxis des Aischylos in Bezug auf Darstellung und Erregung der p£qh durch den Chor liegt nun, so meinen wir, darin, dass zwischen Chor und Zuschauer im äußeren Kommunikationssystem dieselbe e i n d i m e n s i o n a l e und d i r e k t e Verbindung besteht wie zwischen Redner und Zuhörerschaft bei der Darbietung einer Rede. Wenn hier, wie von uns postuliert, der Chor als Instrument der Fokalisation die Perspektive des Zuschauers beliebig lenken kann, so wird nun zu fragen sein, wie sich die Rolle der Affekte hierbei näher beschreiben lässt. 180 B UCHHEIM (1989) 198f.; vgl. V ERDENIUS (1981) 116. - Plutarch setzt de aud. poet. 15 D, eine verkürzte Fassung von fr. 23 DK, Tragödie und „Entführung“ sogar gleich: Gorg…aj d t¾n tragJd…an e pen ¢p£thn ktl. 181 Zur Verbindung von Gorgias und Aischylos sh. R OSENMEYER (1955) 225 und 233 und die Bezugnahme auf die Septem Gorg. fr. 24 DK. 182 Die Wirkung der Rhetorik des Gorgias wird wohl nicht ohne Grund mit dem Verbum ™xšplhxe charakterisiert (DK A 4,3); vgl. V ERDENIUS (1981) 119 mit Anm.24. <?page no="92"?> Die rezeptionsästhetische Methode 78 4.3 Die Poetik des Rhetors Gorgias (fr. 11 DK) als Modell für die ‚bezaubernde’ Affekttransmission vom Chor zum Zuschauer Im Helenae Encomium (fr. 11 DK) beschreibt Gorgias, in einer zunächst auf die Rhetorik abgestimmten Theorie, das Potential des lÒgoj , Affekte verschiedener Art zu erzeugen: (8) e„ d llÒgoj Ð Ð pe…saj kaˆ t¾n yuc¾n ¢ ¢pat»saj, oÙd prÕj toàto calepÕn ¢polog»sasqai kaˆ t¾n a„t…an ¢polÚsasqai ïde: lÒgoj dun£sthj mšgaj ™st…n, Öj smikrot£tJ sèmati kaˆ ¢fanest£tJ qeiÒtata œrga ¢potele‹: dÚnatai g¦r kaˆ ffÒbon paàsai kaˆ llÚphn ¢fele‹n kaˆ c car¦n ™nerg£sasqai kaˆ œœleon ™pauxÁsai . taàta d æj oÛtwj œcei de…xw · de‹ d kaˆ dÒxV de‹xai to‹j ¢koÚousi · (9) t¾n po…hsin ¤pasan kaˆ nom…zw kaˆ Ñnom£zw lÒgon œconta mštron: Âj toÝj ¢koÚontaj e„sÁlqe kaˆ ffr…kh per…foboj kaˆ œœleoj polÚdakruj kaˆ p pÒqoj filopenq»j, ™™p' ¢llotr…wn te pragm£twn kaˆ swm£twn eÙtuc…aij kaˆ dusprag…aij ‡diÒn ti p£qhma di¦ tîn lÒgwn œpaqen ¹ yuc» . fšre d¾ prÕj ¥llon ¢p' ¥llou metastî lÒgon . (10) aƒ g¦r œnqeoi di¦ lÒgwn ™™pJdaˆ ™pagwgoˆ ¹donÁj, ¢pagwgoˆ lÚphj g…nontai: suggignomšnh g¦r tÍ dÒxV tÁj yucÁj ¹ dÚnamij tÁj ™pJdÁj œ œqelxe kaˆ œpeise kaˆ metšsthsen aÙt¾n ggohte…v. g gohte…aj d kaˆ m mage…aj dissaˆ tšcnai eÛrhntai, a† e„si yucÁj ¡mart»mata kaˆ dÒxhj ¢ ¢pat»mata. ... (14) tÕn aÙtÕn d lÒgon œcei ¼ te toà lÒgou dÚnamij prÕj t¾n tÁj yucÁj t£xin ¼ te tîn farm£kwn t£xij prÕj t¾n tîn swm£twn fÚsin. ésper g¦r tîn farm£kwn ¥llouj ¥lla cumoÝj ™k toà sèmatoj ™x£gei, kaˆ t¦ m n nÒsou t¦ d b…ou paÚei, oÛtw kaˆ tîn lÒgwn oƒ m n ™™lÚphsan, oƒ d œœteryan, oƒ d ™™fÒbhsan, oƒ d e„j qq£rsoj katšsthsan toÝj ¢koÚontaj, oƒ d ppeiqo‹ tini kakÍ t¾n yyuc¾n ™farm£keusan kaˆ ™ ™xego»teusan . Die - anfangs nicht ausdrücklich auf die Dichtung bezogene - Aussage, die Beeinflussung der Seele, also die Psychagogik, im Hinblick auf die zunächst genannten vier Elementaraffekte fÒboj, lÚph, car£ und œleoj erfolge mittels des lÒgoj , des „großen Bewirkers“, ist eine ebenso prononcierte wie prägnante Theorie der Rezeptionsästhetik, als deren locus classicus diese Stelle gelten kann. Zudem kann man hier eine (knapp gehaltene, überwiegend deskriptive) Theorie von Dichtung überhaupt und somit auch der Gattung Tragödie sehen. Denn der Auffassung, die gesamte po…hsij sei schlichtweg „ lÒgoj mit Metrum“, liegt nichts weniger zugrunde als das literaturwissenschaftliche Konzept von Dichtung und Tragödie als Sprachhandlung. 183 Und mit den Schlüsselwörtern ¢pat»saj und ¢pat»mata , zu denen hier der rhetorische Zentralterminus peiqè tritt, liegt ein enger sachlicher Bezug auf fr. 23 DK vor, wo Gorgias ja explizit die Tragödie im Blick hat. Somit lässt 183 Sh. auch Arist.Poet. 1456 a33-b8 über lšxij und di£noia , wo ausdrücklich auch tÕ p£qh paraskeu£zein durch den lÒgoj genannt wird; vgl. Z IERL (1994) 31. <?page no="93"?> p£qoj durch lÒgoj : Affekttransmission 79 sich auch hier von der Vorstellung einer psychagogischen ‚Entführung’ des Rezipienten einer Tragödie ausgehen. Es ist zwar unverkennbar, dass die Behauptung von Gorgias, „dass der Seele [des Zuschauers / Zuhörers] wegen Glück und Unglück für fremde Angelegenheiten und fremde Menschen durch die sprachliche Darstellung ein eigentümlicher Affekt ( p£qhma ) widerfährt“, schon auf Aristoteles und dessen so wirkungsmächtige Überlegungen zu œleoj und fÒboj für die Einzelfigur, den ‚tragischen Helden’, vorausweist, zumal mit fr…kh per…foboj kaˆ œleoj polÚdakruj kaˆ pÒqoj filopenq»j nahezu identische Formulierungen verwendet sind. Jedoch knüpft Gorgias bei seiner Theoriebildung zunächst deutlich an das seit Homer belegte Konzept von Dichtung an, wonach deren Effekt in der Erzeugung von tšryij bestehe. 184 Diese gesellschaftlich höchst relevante Wirkung von Dichtung kann sich beim Solovortrag eines rezitierenden Rhapsoden einstellen, hat ihren Sitz im Leben aber auch bei den allgegenwärtigen Choraufführungen der song-and-dance culture: Nicht umsonst findet sich in der Schilderung der von uns als Paradigmata angeführten chorischen performances auf Delos und auf dem Olymp im Apollonhymnos so häufig die Wurzel tšrp- . Auf diese erfreuende Wirkung nicht nur von po…hsij , sondern auch des lÒgoj überhaupt (also auch des im engeren Sinn ‚rhetorischen’) hebt Gorgias primär ab: Beendigung von fÒboj , Beseitigung der lÚph , Erzeugung von car£ und Vergrößerung des œleoj . Mit dieser deutlich erkennbaren Rückbindung an den konventionellen tšryij -Effekt drängt sich nun ein Verdacht auf: Betrachtet man die von Gorgias gebrauchten Begriffe ™pJda… und gohte…a , qšlgein und ™kgohteÚein , so hat man hier das geradezu fachspezifische Vokabular vor sich, das in identischer Form beispielsweise in den Beschreibungen für die in der Polis aufzuführenden Chorgesänge bei Platon und für die musikalische Mimesis des Deliadenchores auftritt. 185 Der Höchstgrad an Emotionalisierung, den eine chorische performance erzeugt, lässt sich mit dieser auffälligen Terminologie des Gorgias, die der Definition vom „ lÒgoj als dem großen Bewirker“ dient, 186 vorzüglich beschreiben. Die Existenz dieses ‚Fachvokabulars’ über einen langen Zeitraum hinweg, in verschiedenen Gattungen und in je verschiedenem Kontext, zeugt von der Kontinuität einer dezidiert rezeptionsästhetischen Auffassung von Dichtung, in deren Zentrum das sprachliche Bewirken steht. 184 Sh. hierzu S CHNYDER (1995) 9-14 und S CHWINGE (1997) 25. 185 Sh. oben S.34 und 40f. 186 Für das häufige, seit Homer zu findende Bild einer ‚magischen’ Rhetorik sh. V ERDE - NIUS (1981) 122f. und R ICCIARDELLI (2003), passim. Für Gorgias soll also auch die reine Prosarede, kunstmäßig extrem verfeinert und alle Register rhetorischen Könnens ziehend, entsprechend bezaubernd und betörend wirken. Immerhin könnte man von Platons Nomoi ausgehend sagen, dass die magische Psychagogie einer chorischen performance gerade nicht nur dem Zweck des reinen Kunstgenusses dient, sondern in durchaus rhetorischer Manier politische Zwecke durch die Beeinflussung der gesamten Polis verfolgt. <?page no="94"?> Die rezeptionsästhetische Methode 80 Insofern also könnte man den affekterzeugenden lÒgoj , so wie Gorgias ihn sieht, im Rahmen der song-and-dance culture auf diesen einen Bestandteil der chorischen mousik» hin fixieren. Das heißt, in einer Anwendung der gorgianischen Theorie können durch die philologische Interpretation des lÒgoj , der sprachlich-inhaltlichen Gestaltung eines allein für den Zuschauer gesungenen Chorliedes, welche im schriftlichen Text registriert ist, spezifische Aussagen über die Erregung von p£qoj getroffen werden. In der mehrhundertjährigen Tradition der griechischen Chorkultur ist dieses p£qoj freilich primär ein positives, eben tšryij . Wenn Gorgias aber die neue Gattung Tragödie des 5. Jahrhunderts in fr. 11 DK im Fokus hat, dann ist eben auch eine Differenzierung dieses p£qoj erforderlich, ja geradezu eine Umqualifizierung, da es sich - trivial ausgedrückt - nun um negatives p£qoj handelt, das auf der Bühne von den Figuren erlitten und im Theater vom Zuschauer rezipiert wird. 187 Die innerkulturelle Kontinuität, die auch die Übernahme der Emotionen des Chores in die Tragödie ermöglicht, sollte nun jedoch das hinreichende Argument sein, den Wirkmechanismus des lÒgoj , der vom Chor der Tragödie ausgeht und auf die Rezeptionshaltung des Zuschauers abzielt, mit eben den Begriffen zu erfassen, die Gorgias offenkundig aus der Tradition der song-and-dance culture bezieht: ™pJda… und gohte…a , qšlgein und ™kgohteÚein können so die magische, bezaubernde und einlullende Wirkung auch desjenigen Chorgesanges beschreiben, der negatives, ‚tragisches’ p£qoj vermittelt, und zwar gerade durch die - im Text noch fassbare - sprachliche und inhaltliche Gestaltung (die durch eine entsprechend affektiv wirksame melJd…a und den ·uqmÒj natürlich eine Unterfütterung erhält). Insofern ist auch der lÒgoj des tragischen Chores ein „großer Bewirker“, der den Zuschauer vom gemeinsamen Boden aus in die fiktionale Welt der Tragödie „entführt“ ( ¢pat»saj ). Es kann natürlich hier ein weiter Bogen geschlagen werden vom alten tšryij -Konzept über Gorgias hin zu Aristoteles, der - auf den ersten Blick paradox - von der genrespezifischen Lustempfindung der Tragödie, ihrer o„ke…a ¹don» (Poet. 1453 b11) spricht, die sich wohl nach dem Aufführungsende im Gefolge der vorherigen Affektstimulation einstellt. 188 Dementsprechend hat S CHWINGE auch den pÒqoj filopenq»j bei Gorgias erklärt, was ja eine dritte, von Aristoteles nicht genannte Qualifizierung darstellt: Es handele sich um eine Art Lust nach Leiderfahrung beim Zuschauer. 189 Die derartige Wirkung der Tragödie auf den Zuschauer zu bestimmen (eventuell auch in Bezug auf die Leistung des Chores) erscheint jedoch als ein höchst komplexes Unterfangen, für dessen Durchführung neben der Einbeziehung von Konzepten aus 187 Dieses ‚neue’ p£qoj wird wohl nicht umsonst als ‡diÒn t ti p£qhma zu definieren versucht - „irgendwie“ ( ti ) spezifisch, aber doch nicht letztgültig erklärbar, wie die offenbar eindeutigere tšryij . 188 Sh. H OLZHAUSEN (2000) 20f. für diese hier in äußerster Knappheit vorgeschlagene Auffassung der Katharsislehre, die sich vor allem auf pera…nousa (Poet. 1449 b27) im Sinne von „am Ende (also nach dem Aufführungsende der als Fiktion wahrgenommenen Tragödie) zustande bringen“ stützt. 189 S CHWINGE (1997) bezeichnet dieses gegenüber der Tradition Neue als „Überschuß“ (25) und „die negative Hälfte“ (26); zur Deutung des pÒqoj filopenq»j sh. dort 27-30. <?page no="95"?> p£qoj durch lÒgoj : Affekttransmission 81 Psychologie und Anthropologie nichts weniger als eine Überprüfung der aristotelischen Poetik an den erhaltenen Tragödien erforderlich wäre. Anstatt also die Fragen zu stellen: „Was hat der Zuschauer beim Verlassen des Theaters gefühlt und gedacht, und wie hat er zuvor den Chor wahrgenommen? “ - Fragen, deren Beantwortung durch einen neuzeitlichen Interpreten einer gewissen Arbitrarität unterliegt - wollen wir allein den Prozess der affektiv-psychagogischen Lenkung des Zuschauers durch den Chor w ä h r e n d der Darbietung der Tragödie behandeln, so wie dieser Mechanismus aus dem Text erschlossen werden kann. Die Existenz zweier Kommunikationssysteme in der Griechischen Tragödie mit je verschiedener Ausrichtung hinsichtlich des Zuschauers rechtfertigt es, die magische „Entführung“ durch den affekterregenden lÒgoj in erster Linie dem Chor und seinem Gesang zuzuschreiben. Im inneren System kommunizieren die Einzelfiguren untereinander und mit dem Chor, im äußeren hingegen kommuniziert der Chor allein mit dem Zuschauer, indem er ihm Informationen sendet - auch dieses Spezifikum verleiht dem Chor Autonomie. Das innere Kommunikationssystem entspricht der fiktionalen, dargestellten Welt, einer eigenen Realität, in der die dramatis personae selbständig agieren, was in den Augen des Publikums eine gewisse Zufälligkeit darstellt. Anders beim Chorlied: Hier besteht für den Zuschauer ein deutlicher und konkreter Begründungszusammenhang zwischen dem Tragödienchor und einem jeden corÒj der song-and-dance culture, denn der Chor der Tragödie ist gerade n i c h t einfach ein weiterer Bestandteil der dargestellten Realität. Diese fiktionale Welt wird vom Zuschauer beobachtet, die Dialoge der dramatis personae untereinander werden von ihm indirekt wahrgenommen, während das Chorlied, das in gorgianischer Terminologie ja in der Tat zunächst als ™p-Jd» , als ein ‚Hinzu-Gesang’ gelten kann, seinen Platz im äußeren Kommunikationssystem hat: Hier singt und tanzt der Chor eigenständig nur für den Zuschauer, und hier (das heißt im Spiel-Raum der Orchestra) besteht zwischen Chor und Zuschauer eine eindimensionale Relation - ganz wie in der praktischen Rhetorik eines Gorgias. Aber auch dann, wenn der Chor als Delegation des Publikums in Kontakt mit den Einzelfiguren tritt und in das innere Kommunikationssystem wechselt, wird der Zuschauer ‚mitgenommen’: Die Position des Chores gegenüber einer dramatis personae erscheint als zumindest gleichwertig, plausibel und gerechtfertigt. Nun sind natürlich auch Rhesis und Stichomythie im Trimeter, in denen die Einzelfiguren sprechen und sich austauschen, in sich ‚Rhetorik’ und richten sich, wenn auch indirekt und implizit, an den Zuschauer: Ein Botenbericht, ein Monolog oder ein Redeagon, zumal ein stichomythischer, ist vom Dichter auf einen entsprechenden emotionalen Effekt beim Publikum hin angelegt. Jedoch hat die fundamentale Dichotomie der Griechischen Tragödie zwischen den Einzelfiguren und dem Chor, die von der Gattungsgenese her zu erklären ist, auch hier eine eindeutig bestimmbare Ausprägung, wobei der Befund zumal für Aischylos klar zutage liegt - man kann von einem Gegensatz zwischen der emotionalen Lyrik des Chores und der demgegenüber r e l a ti v emotionslosen Rhesis der Einzelfigur ausgehen: <?page no="96"?> Die rezeptionsästhetische Methode 82 „We have therefore in tragedy two strikingly opposed kinds of verse, one emotive, non-logical, and intense - the very essence of poetic tone; the other - like the prose it anticipated and inspired - matter-of-fact or cold in tone, structurally elaborate, lexically simple, and retaining the epic quality of extension and discursiveness.“ 190 Gegenüber den ‚emotionslosen’, ‚kalten’, ‚objektiven’, vorwiegend narrativen und diagnostizierenden trimetrischen Sprechszenen der frühen Tragödie, die zusammen mit dem ersten Schauspieler zum lyrisch singenden Chor hinzugetreten sind (vgl. TrGF I, 1 T6 über Thespis) und überhaupt als Vorläufer der Prosa gelten können, haben das gewissermaßen traditionelle Repertoire der ™pJda… auch des tragischen Chores und dessen lyrisches qšlgein eine viel höhere Relevanz für die Erzeugung von Affekten beim Rezipienten. Noch Aristeides Quintilianus betont die Überlegenheit der mousik» mit der Pluralität ihrer Gestaltungsmittel ( lÒgoj, melJd…a, ·uqmÒj und der darauf basierenden chorischen Ôrchsij ) bei der Affektstimulation: Anders als Malerei, Plastik und sogar po…hsij allgemein, die mit ihrer ‚nackten’ lšxij nur auf das Gehör wirke, könne allein die mousik» , die vor allem im ausdrücklich genannten Chortanz wirksam sei, das p£qoj v o ll erregen, das sowohl akustisch als auch - durch die mimetischen Tanzfiguren - visuell erzeugt werde (de musica II 4; p. 63f., 6-23 W-I). Und womöglich im Rückgriff auf die Theorie des Gorgias über die ‚Entführung’ und ‚Bezauberung’ durch den lÒgoj sagt Ephoros bei Polybios über die Musik: oÙ g¦r ¹ghtšon mousik»n, æj ”EforÒj fhsin ... ™p' ¢p£tV kaˆ gohte…v pareisÁcqai to‹j ¢nqrèpoij (Polyb. IV 20,5). 191 In solchen Reflexen kann eine Bestätigung unserer interpretierenden Anwendung von Gorgias fr. 23 DK gesehen werden, wo die Tragödie als qaumastÕn ¢krÒama kaˆ qšama definiert wird, woraus sich eine zentrale Rolle des Chores - gerade bei Aischylos - bei der Psychagogik des Zuschauers ableiten lässt. Die Bauform der Monodie, also die lyrische Partie einer Einzelfigur, die ihrerseits eine hohe affektive Wirkung erreicht, ist nachweislich eine sekun- 190 M ICHELINI (1982) 15, die von Tragedy as a Dual Art Form (Kapitelüberschrift 6) spricht. Aus dieser Dichotomie folgert M ICHELINI , dass der Chor keine vollgültige Rollenidentität besitze: „The result of the chorus’ dual role as singer and speaker is a fragmentation of dramatic identity.“ (66). - Für eine Charakterisierung der aischyleischen Rhesis vgl. weiter P ERETTI (1939), der „la forma obiettiva e impersonale“ (228) hervorhebt und auf unpersönliche Konstruktionen und Phrasen wie cr» (Aisch.Hik. 186, 710) und pršpei (Hik. 931) hinweist. Für M ICHELINI haben die ursprünglich immer sehr langen, in sich geschlossenen und monolithischen Rheseis im Trimeter sogar etwas Unnatürliches an sich, verglichen mit den „normal patterns of human discourse.“ (59). Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass die Rhesis die aktive Komponente ist, die die wirkliche dramatische Bewegung ins Spiel bringt, in ihrer einfachsten Form als Botenbericht. - Etwas paradox mutet schließlich die Tatsache an, dass diese ‚kalte’ Rhesis dann zur affektiv höchst wirksamen Prosarede etwa eines Gorgias führt. 191 Vgl. P OHLENZ (1920) 160, auch mit Verweis auf Polyb. II 56,11, wo in allgemeiner Abgrenzung der Geschichtsschreibung von der Tragödie die Rede ist von der ¢p£th letzterer. Zum medialen Pluralismus der Dichtung gegenüber der Rede vgl. auch Plat.Gorg. 502c und V ERDENIUS (1981) 118f. <?page no="97"?> p£qoj durch lÒgoj : Affekttransmission 83 däre Entwicklung, die bei Aischylos noch fehlt, mit Ausnahme des in seiner Authentizität umstrittenen Prometheus (hier singen vv.88-127 Prometheus, allerdings nicht rein lyrisch, und vv.561-608 Io). Ganz anders verfahren Sophokles und Euripides, die besonders mit Monodien die Einzelfiguren (und deren Darsteller) durch den expressiven Ausdruck von Affekten zum Mittelpunkt des Publikumsinteresses machen. Was weiter das Amoibaion betrifft, so ist es ebenso bemerkenswert (ohne nun unseren Einzelinterpretationen vorgreifen zu wollen), dass in dieser Grundform des Austausches von Chor und Einzelfigur bei Aischylos noch vorwiegend der Chor singt, während die Einzelfigur eher im Trimeter spricht (womit also die epirrhematische Form vorherrscht); und Atossa, Dareios, Eteokles, Danaos, Pelasgos, Agamemnon sowie Orest, Apollon und Athene in den Eumeniden singen sogar überhaupt nicht. Auch beim direkten Kontakt im inneren Kommunikationssystem kommt also primär dem Chor der emotionalere Grundton zu, der dann auch eine entsprechende Wirkung beim Zuschauer entfaltet. 192 Von den trimetrischen Sprechszenen aus betrachtet stellt sich die Dichotomie so dar, dass die den Chor wesensmäßig charakterisierende mousik» einfach nicht hierher gehört und der Chor in den Trimeter-Szenen folglich eine eher untergeordnete Rolle spielt - dem entspricht das konventionelle Verbot einer längeren Rhesis des Chores. 193 Die Rezitationsanapäste des Chores schließlich, die bei Aischylos vor allem in der Parodos und als kurze Auftakte zu Chorliedern auftreten, haben durch Skandierung, Rhythmisierung und kollektive Homophonie eine starke Ausdruckskraft. Der Aussagegestus des Anapäst liegt nicht nur in einer tatsächlichen physischen Bewegung in der Orchestra, sondern auch in einer durchgehenden emotionalen Erregung. 194 Zweifellos sind die Affekte der Einzelfiguren unverzichtbarer Bestandteil der Bühnendarstellung - auch sie empfinden Angst, Freude oder Schmerz 192 Zur Monodie sh. B ARNER (1971) 277-320, bes. die aufschlussreiche Übersicht 279f.; zum Amoibaion (der Terminus umfasst für uns auch das Epirrhema) sh. P OPP (1971) 221-75, für das Frühwerk des Aischylos bes. 239f. („Die Strophen des Chores sind beschwörend, affektgeladen; die Iamben des Schauspielers tragen den Charakter sachlicher, rationaler Argumentation“, 240) und für die Orestie 242-46, wo nun freilich das „lyrische Element“ (243) auch schon in den Bereich der Einzelfiguren eindringt. Zur Sekundärentwicklung des Gesanges des Schauspielers sh. etwa L AMMERS (1931) 32, 162f., 167-70. 193 Im Bedarfsfall muss in die Stichomythie ausgewichen werden; sh. D ALE (1969) 211 und M ICHELINI (1982) 37-40, 44, 41-64 sowie M ICHELINI (1974) über explizite Hinweise vom Typus makr¦n g¦r ™xšteinaj (so der Titel ihres Aufsatzes nach Aisch.Ag. 916), dass eine Rhesis kurz sein müsse. 194 Vgl. H ERINGTON (1985) 121f. Was H ERINGTON als „chanted“ bei den Rezitationsanapästen bezeichnet, könnte heute in etwa mit skandierten Sprechchören bei Demonstrationen verglichen werden. Zur Zwischenstellung des Anapäst zwischen lyrischem Vers und Trimeter (beziehungsweise Tetrameter) und zu seiner diesbezüglichen Vermittlungsfunktion sh. M ICHELINI (1982) 57f., die eine graduelle Entwicklung vom Singvers über den Anapäst hin zu Tetrameter und Trimeter und damit „from emotive to objective, from chorus-dominated to actor-dominated poetry“ (64) sieht. <?page no="98"?> Die rezeptionsästhetische Methode 84 und sind insbesondere dem Wahnsinn wie einer Krankheit ausgesetzt, der sie zu weitreichenden Fehlentscheidungen bringt. 195 Aber die Affekte des Chores haben eine wesentlich größere Dimension, Intensität und Kontinuität: Nach den hier vorgebrachten Überlegungen zum Chor, dem Boden der aischyleischen Tragödie, ist zu konstatieren, dass durch seine Affekte die tragische Grundbefindlichkeit im Rahmen der Aufführung überhaupt erst erzeugt wird. Eine nicht leicht zu entscheidende Frage betrifft das Verhältnis zwischen der Darstellung der Affekte auf der Bühne und den tatsächlichen Reaktionen im Zuschauerraum: Ist zum Beispiel die Darstellung von Angst, Trauer oder Freude beim Chor daraufhin angelegt, dass auch der Zuschauer d i e s e l b e n Affekte empfindet? Werden also tatsächlich diese Affekte nach Art einer eindimensionalen Relation direkt e r z e u g t , wie es Gorgias in seiner rhetorisch-poetischen Theorie beschreibt? 196 Hier bewegt man sich zunächst wieder auf den empirischen, historischen Rezipientenkreis zu, dessen tatsächliche emotionale Reaktionen kaum allgemeingültig definiert werden können - weder was den Gesamteindruck einer Aufführung betrifft noch die Darstellung eines bestimmten Affektes etwa in einem Chorlied. Darüber hinaus ginge es hier letztlich darum, eine rezeptionsästhetisch ausgerichtete Poetik der Griechischen Tragödie zu erstellen, die sich nicht auf den Chor beschränken dürfte und die Dichtungs- und Tragödientheorien von Platon und Aristoteles einbeziehen müsste - eine methodische Fundierung, die den Rahmen einer auf den Chor bei Aischylos bezogenen Darstellung sprengte. Immerhin aber lässt das Zeugnis über die affektive Wirkung der Mil»tou ¤lwsij des Phrynichos von ca. 492 den Schluss zu, dass threnetische Klage - vermutlich aufseiten des Chores - und die Darstellung des Affektes Trauer zu einer i d e n ti s c h e n Reaktion aufseiten des Publikums geführt hat. 197 195 Näheres unten S.100. 196 Vgl. S CHNYDER (1995) 13f., die sich angesichts der von ihr konstatierten methodischen Schwierigkeit, diese Relation zu bestimmen, auf eine rein werkästhetische Untersuchung der Darstellung des Affektes Angst bei Aischylos beschränkt. 197 Die wohl überbordende Klage des Chores habe das mit Milet stammverwandte athenische Publikum dermaßen zu Tränen gerührt, dass sich die Politik aufgrund der Gefahr einer moralischen Zersetzung der Polis durch die Darstellung dieser o„k»ia kak£ zum Eingreifen gezwungen sah: OÙd n Ðmo…wj kaˆ 'Aqhna‹oi: 'Aqhna‹oi m n g¦r dÁlon ™po…hsan Øperacqesqšntej tÍ Mil»tou ¡lèsi tÍ te ¥llV pollacÍ kaˆ d¾ kaˆ poi»santi Frun…cJ dr©ma Mil»tou ¤lwsin kaˆ did£xanti ™ ™j d£kru£ te œpese tÕ qšhtron kaˆ ™zhm…ws£n min æj ¢namn»santa o„k»ia kak¦ cil…Vsi dracmÍsi, kaˆ ™pštaxan mhkšti mhdšna cr©sqai toÚtJ tù dr£mati (Her. 6,21). Für eine Interpretation der Zusammenhänge, auch in Bezug auf œleoj und fÒboj , sh. R OSENBLOOM (1993). Auch wenn die Brisanz der politischen Situation die Reaktion von Publikum und Behörden verständlich macht, gibt es doch keinen Anlass, an einer ähnlich starken affektiven Wirkung auch der Tragödien mit mythologischen Sujets zu zweifeln. Sh. weiter die Zeugnisse bei H EATH (1987) 9 über das Potential der Tragödie, das Publikum durch Leiddarstellung zu Tränen zu rühren (Isokr. 2,49, 9,10 und 4,168; Aeschin. 3,153; Xen.Symp. 3,11). - Gorgias beschreibt in fr. 11 die Wirkung des Sehens schreckerregender Dinge, das eine sofortige Ausschaltung von frÒnhma und nÒhma und tiefgreifende <?page no="99"?> p£qoj durch lÒgoj : Affekttransmission 85 Es dürfte nun für unsere Fragestellung ausreichen, die vom Chor präsentierten Affekte im Sinne von B ARNER als ‚innertextliche Rezeptionsvorprägungen’ aufzufassen, zu denen er ja beispielsweise „den begleitenden Affekt“ 198 rechnet. Gemäß dem Grundmodell der Rezeptionsästhetik ist nun als Adressat dieser Rezeptionsvorprägungen der ideale, dem Text implizite Zuschauer anzunehmen, nicht aber (zumindest nicht notwendig) der empirische. Das heißt, der Dichter hat in Bezug auf die von seinem Chor dargebotenen Affekte einen idealen Zuschauer vor Augen, der sich in der gewünschten Weise lenken lässt. 199 Affekte des Chores als Rezeptionsvorgaben oder, weniger bestimmt ausgedrückt, als modellhafte A n g e b o t e an den Zuschauer, wie die Entwicklung der Handlung aufzufassen ist, sind Grundbestandteil der vom Chor als dem Instrument der Fokalisation vorgenommenen perspektivischen Lenkung. Die Plausibilität der Affekte als Rezeptionsangebote liegt wiederum im Identifikationspotential des Chores begründet, das er als Boden der Tragödie dem Zuschauer bietet. Als eine von der tragischen Handlung direkt und persönlich betroffene, oft auch körperlich bedrohte Personengruppe ist der Chor bei Aischylos nicht einfach nüchterner Beobachter oder Kommentator, sondern affektiv involvierter Zeuge der Geschehnisse. Hierbei offenbart er dem Zuschauer sein psychosomatisches Innenleben. Schon das frühgriechische Epos hat eine eigene Sprache entwickelt, um menschliche Affekte als körperliche Phänomene an psychosomatischen Zentren wie vor allem dem qumÒj und der fr»n , aber auch der kard…a und den spl£gcna zu verorten und detailliert zu beschreiben. 200 Den umfangreichen Gebrauch dieser psychosomatischen Terminologie bei Aischylos hat S ULLIVAN umfassend und differenziert zusammengestellt. 201 Für diese Form der Ich-Aussage - im einfachsten Fall physiologische Aberrationen zur Folge habe: ½dh dš tinej „dÒntej fober¦ kaˆ toà parÒntoj ™n tù parÒnti crÒnJ fron»matoj ™xšsthsan: oÛtwj ¢pšsbese kaˆ ™x»lasen Ð fÒboj tÕ nÒhma: polloˆ d mata…oij pÒnoij kaˆ deina‹j nÒsoij kaˆ dusi£toij man…aij perišpeson · oÛtwj e„kÒnaj tîn Ðrwmšnwn pragm£twn ¹ Ôyij ™nšgrayen ™n tù fron»mati . (fr. 11,17 DK). Dies liest sich wie eine Erklärung der Nachrichten aus der Vita über die œkplhxij der aischyleischen Tragödie allgemein und speziell die vom Erinnyen-Chor der Eumeniden erzeugte (TrGF III, T A 1,9; letztere Aussage mag ersponnen sein, liefert aber doch einen Hinweis auf eine zumindest sehr hohe, ungewöhnliche Wirkung gerade durch den Chor). 198 B ARNER (1977) 509; sh. oben S.22. 199 Der Erfolg der aischyleischen Tragödie beim Publikum zeigt freilich auch, dass man von einer weitgehenden Deckungsgleichheit des idealen mit dem empirischen Zuschauer ausgehen kann. 200 Zu diesem umfangreichen Komplex sh. S NELL (1975). Die monodische Lyrik mit der individuellen Aussage eines Ich entwickelt diese Deskriptivform bei der Expression eigener Emotionen weiter, wie etwa an dem berühmten Sappho-Gedicht fa…neta… moi kÁnoj (fr. 2 D) zu sehen ist. 201 S ULLIVAN (1997), ebenso für Euripides (2000). Für fr»n und fršnej gibt es nach S UL - LIVAN (61) bei Aischylos exakt 100 Belege, 53 im Singular und 47 im Plural. Sh. auch die früheren Arbeiten von W EBSTER (1957), der yuc» , qumÒj , kard…a , fr»n / fršnej und noàj für alle drei Tragiker untersucht, und T HALMANN (1986), der vom III. Stasimon <?page no="100"?> Die rezeptionsästhetische Methode 86 etwa „Ich empfinde jetzt starke Angst im Zwerchfell“ - ist die Existenz einer Rollenidentität des tragischen Chores natürlich unabdingbar. Gleichwohl wird diese akzidentielle Identität gerade bei der Affektdarstellung überlagert von der essentiellen Verfasstheit als corÒj , weil Gesang und Tanz, beides noch unterfüttert von der Begleitmusik, die lyrische Expressivität des lÒgoj unterstützen. Die ausdrückliche Nennung der eigenen Affekte und die Beschreibung von deren psychosomatischer Wirkung im Körper des Chores kann als explizite Darstellung kategorisiert werden, im Unterschied zu einer impliziten Affektpräsentation (an die Gorgias bei seiner rhetorischen Theorie primär gedacht haben mag): Auch Inhalt, Sprachrhythmus, Wort- und Klangfiguren können natürlich affektstimulierend wirken. 202 Wenn der Chor den Zuschauer teilhaben lässt an seinen Affekten, die er hinsichtlich der tragischen Handlung empfindet und im Sinne von Rezeptionsvorgaben an den Zuschauer weitergibt, so intendiert dieser T r a n s m i s s i o n s v o r g a n g eine s y m p a t h e t i s c h e Grundhaltung des Zuschauers hinsichtlich des ihm ohnehin nahestehenden Chores. Dem Zuschauer wird es ermöglicht, gewissermaßen in den Körper des chorischen Ich zu schlüpfen und an dessen Empfindungen zu partizipieren. 203 Der Begriff sump£qeia kann diesen Transmissionsprozess gut beschreiben, auch ohne dass man hier weitere dichtungstheoretische Konzeptualisierungen einbezöge: Aufseiten des Zuschauers handelt sich zumindest um ein Mit-Affiziertsein, zu welchem der Chor den Rezipienten bringt, so dass sich in diesem Mit-Empfinden (was keineswegs nur ein Mit-Leiden oder gar ‚Mitleid’ zu sein braucht) eine Art A n t w o r t auf das dargestellte Geschehen ergibt. 204 des Agamemnon ausgehend fr»n / fršnej , kard…a / kšar und qumÒj behandelt. Allerdings werden in allen diesen Untersuchungen keine Rückschlüsse auf den Chor als solchen gezogen. 202 Für diese wichtige Unterscheidung, auch speziell für Aischylos, sh. S CHNYDER (1995) 19; vgl. die Differenzierung eines inhaltlich bestimmten Pathos von einem expressiven bei K RAUS (2000) 690. Mit der Existenz dieses impliziten Pathos ist die von S CHAUER (2002) 167-98 durchgeführte Einteilung der Lyrika der Griechischen Tragödie in Logos- und Pathoseinheiten in ihrer Schärfe kaum zu halten; zur weiteren Kritik sh. unten S.509-11. 203 Vgl. die Bemerkung des homerischen Apollon-Hymnos über das Mitsingen eines jeden Zuhörers ( fa…h dš ken aÙtÕj ›kastoj / fqšggesq' , 163f.), der sich ‚gefangennehmen’ lässt vom Chorgesang - auch ein Akt der Partizipation. 204 Vgl. die beherzigenswerte Diskussion bei H EATH (1987) 15, der für die Beschreibung der Relation von Zuschauer und dargestellter tragischer Handlung nicht von „identification“ des Zuschauers, sondern von „involvement“ oder „engagement“ sprechen will. Ganz ähnlich E ASTERLING (1997) mit Bezug auf den tragischen Chor: „Its job is to help the audience become involved in the process of responding, which may be a matter of dealing with profoundly contradictory issues and impulses.“ (164). Trotz der Zeugnisse für die intensive Wirkung mancher Tragödien (sh. oben S.84f. mit Anm.197) ist mit Z IERL (1994) grundsätzlich die „mimetische Entschärfung“ (59), das Bewusstsein über den fiktionalen Charakter der Tragödie, zu berücksichtigen. Andererseits ist ja gerade der Chor aufgrund seines geringeren Grades an Mimesis nicht völlige Fiktion <?page no="101"?> p£qoj durch lÒgoj : Affekttransmission 87 Das Rezeptionsangebot, das der Chor hier präsentiert, richtet sich zum einen auf das ganze Publikum in seiner kollektiven Anwesenheit im Theater, zum anderen aber auch auf jeden einzelnen Zuschauer: Denn in seinen selbstbezüglichen Aussagen kann, so hat K AIMIO detailliert nachgewiesen, jeder Chor der drei Tragiker zwischen Plural- und Singularformen der Ersten Person relativ frei oszillieren - so spricht er mit dem ‚Wir’ die Gemeinschaft an, mit dem ‚Ich’ aber auch das Individuum. 205 4.4 Die Palette der Affekte: Nicht nur œleoj und fÒboj Schon die von Gorgias in fr. 11 DK genannten Affekte - fÒboj, lÚph, car£, œleoj , fr…kh per…foboj , pÒqoj filopenq»j , q£rsoj - können eine Vorstellung davon geben, welche Vielzahl von Affekten auch bei der Rezeption der von Gorgias ausdrücklich genannten po…hsij , zu der er vorrangig die Tragödie rechnet, möglich ist. Wenn von tragischen Affekten die Rede ist, so scheint eine Auseinandersetzung mit der Poetik des Aristoteles unausweichlich, wo die vom Rezipienten (nicht unbedingt dem Zuschauer) erfahrenen tragischen paq»mata in œleoj und fÒboj eingeteilt werden (1449 b27f.). 206 Ganz abgesehen von den intrikaten Problemen der Katharsislehre, in deren Rahmen diese beiden Elementaraffekte der Tragödie genannt werden, erscheint ein Vorgehen, das die Theoreme der Poetik, wie etwa die Generierung von œleoj und fÒboj beim Zuschauer, zwangsläufig als Deskription eines tatsächlichen, in den (wenigen) erhaltenen Tragödien nachzuweisenden Zustandes nimmt und retrospektiv für die Tragödieninterpretation verwendet, als zumindest problematisch. Was jedoch den Chor in den Tragödien des Aischylos betrifft, so muss die Tatsache zu denken geben, dass über den Chor als solchen in der gesamten Poetik nur die doch eher triviale Bemerkung über das sunagwn…zesqai fällt, zudem lediglich auf Sophokles und Euripides bezogen (1456 a25-27). Vom Standpunkt des Aristoteles aus gesehen ist im Rückblick der Chor natürlich immer unwichtiger geworden - er hat in der Poetik kaum noch einen Platz: Nur noch als Bauelemente und schematische Gliederungsmittel ( mšrh ) der Tragödie dienen Parodos, Stasimon und Exodos (1452 für den Zuschauer. - Nur am Rande sei hingewiesen auf den Fachterminus ‚Empathie’ aus der modernen Sozialpsychologie, der soviel meint wie ‚Perspektivenübernahme’ und ‚Einfühlungsvermögen’, womit konzeptuell in Anti-Aggressions-Therapien oder der Verkaufspsychologie operiert wird. 205 Sh. K AIMIO (1970) 239-48 (für Aischylos 240-42). Die Austauschbarkeit von Singular und Plural „strengthens the sense of corporate nature“, so W ALTON (1984) 69. Z IERL (1994) 34 betont für die Griechische Tragödie die kollektive Teilung des individuellen Theatererlebnisses, wofür man in der Tat das aristotelische kaqÒlou (Poet. 1451 b7) anführen kann. 206 Die Formulierung tîn toioÚtwn paqhm£twn lässt darauf schließen, dass Aristoteles neben den beiden Hauptaffekten auch noch an weitere denkt. p£qhma kann hier als gleichbedeutend mit p£qoj angesehen werden (vgl. für die jeweils möglichen Nuancen LSJ 1286f.). <?page no="102"?> Die rezeptionsästhetische Methode 88 b19-26). Diese stark eingeschränkte Perspektive sollte davor warnen, Fragestellungen, die sich mit dem Phänomen Chor beschäftigen, mit Aristoteles beantworten zu wollen. Z IERL nimmt eine Evaluierung der aristotelischen Affektenlehre an der Orestie und dem Oidipus Tyrannos vor und bezieht dabei auch immer die Chöre ein. Die sehr allgemeine Bewertung, dass „[i]n den Reaktionen des Chores … das Verhalten der nicht unmittelbar Betroffenen und gleichwohl Affizierten präfiguriert“ 207 werde, trifft für Aischylos kaum zu: Seine Chöre können sehr wohl unmittelbar betroffen sein vom tragischen Geschehen und von den Entscheidungen der Einzelfiguren. Der Grundtenor der Poetik lässt darauf schließen, dass Aristoteles bei der Erzeugung von œleoj und fÒboj an das Verhältnis zwischen Einzelfigur und Zuschauer denkt und eine mögliche Vermittlung zwischen beiden Ebenen durch den Chor zumindest nicht explizit berücksichtigt. 208 Von der aischyleischen Form der Tragödie und der für die Affekttransmission zentralen Rolle des Chores hat sich Aristoteles schon denkbar weit entfernt. Es ist durchaus angeraten, sich für die Bestimmung der Relation von Chor und Zuschauer auf der Ebene der Affekte von der aristotelischen Sichtweise zunächst einmal freizumachen und den Fokus der Interpretation keinesfalls nur auf fÒboj und œleoj zu richten. 209 Auch suggeriert die aristotelische Affektenlehre durch die Beschränkung auf die Elementaraffekte œleoj und fÒboj , dass die zugrunde liegende Handlung der Tragödie ausschließlich in einer entsprechenden negativen Qualität vorhanden ist. Nicht genannt werden hier positive Affekte wie die von Gorgias angeführten, car£ und q£rsoj , die zwar der - von der Gattung Tragödie sicherlich geforderten - Prävalenz einer negativen Erschütterung und Handlung auf den ersten Blick widerstreben. Ebenso kann der deutsche Begriff ‚Pathos’ gerade im Zusammenhang mit ‚Tragödie’ zu dem Trugschluss führen, dass es sich beim griechischen p£qoj ausschließlich um negative Affekte handelt - aber p£qoj als Oberbegriff bezeichnet negative u n d positive Affekte, so dass bei der Bestimmung der Rezeptionswirkung der aischyleischen Tragödie nicht einfach von einer rein negativen œkplhxij des Zuschauers ausgegangen werden kann (was die zitierten Zeugnisse aus der 207 Z IERL (1994) 30. 208 Vgl. die für Aristoteles zentrale Bedeutung von Peripetien und Wiedererkennungen (1452 a38-b13) für das yucagwge‹n des Zuschauers, von Gedankengang und Figurenrede (1456 a36-b8), wo stets die Einzelfiguren gemeint sind; für diesen ‚mittleren Helden’ sh. Z IERL (1994) 65-67. 209 Nur als unterstützendes Argument hierfür und noch nicht im Sinne eines eigenen Ergebnisses der Einzelinterpretationen sei auf E LSE (1977) 74 verwiesen, der nicht fÒboj und œleoj , sondern „fear“ und „grief“, also Angst und Trauer, als die beiden Zentralaffekte der aischyleischen Tragödie sieht. Diese beiden p£qh seien - gemäß der Charakterisierung der Tragödie des Phrynichos und Aischylos in den zitierten Zeugnissen - bei der Vorführung des màqoj die um die Peripetie gruppierten emotionalen Angelpunkte im Sinne eines ‚Vorher’ (Angst) und ‚Nachher’ (Trauer, welche sich in der Klage äußere). Zur grundsätzlichen Problematik des Verhältnisses der Poetik zu den erhaltenen Tragödien sh. F LASHAR (2004), für die Affekte bes. 55f. <?page no="103"?> p£qoj durch lÒgoj : Affekttransmission 89 Vita und aus Aristophanes ja auch nicht behaupten). Es wird also bei jeder einzelnen Tragödie auch auf positive Affekte des Chores zu achten sein, mit denen es eine besondere Bewandtnis haben dürfte - auch sie können der Psychagogik des Zuschauers dienen. So kann der nicht nur in der Tragödie des Aischylos zentrale Affekt fÒboj 210 in Form von q£rsoj , Zuversicht, gerade denjenigen Komplementäraffekt erhalten, der ihm auch bei Platon und Aristoteles gegenübergestellt wird; ähnlich steht es mit der ™lp…j , die ja schon im frühgriechischen Denken eine prominente Rolle einnimmt und mit der einem pessimistischen Grundton in der Weltsicht ein Kontrapunkt gesetzt wird. 211 Die entsprechenden Stellen aus dem Timaios und der Rhetorik präsentieren Kategorisierungen menschlicher Affekte, die auch allesamt in der Gattung Tragödie und bei ihrem frühen Meister in der Erzeugung von p£qh zu finden sein können. Plat.Tim. 69 d1-4 nennt die Affekte ¹don», lÚph, q£rroj kaˆ fÒboj, qumÕj kaˆ ™lp…j . Arist.Rhet. 1378 a19 - 1388 b30 finden sich die Dualitäten Ñrg» und pr£unsij , fil…a und œcqra / Ñrg» , fÒboj und q£rsoj , a„scÚnh und ¢naiscunt…a , c£rij und ¢cariste‹n , œleoj und nemes©n , fqÒnoj und zÁloj . Auch die Nikomachische Ethik nennt eine Reihe von Affekten: ™piqum…a, Ñrg», fÒboj, q£rsoj, fqÒnoj, car£, fil…a, m‹soj, pÒqoj, zÁloj, œleoj (1105 b21-23). Ferner kann ein Blick auf Cic. de or. 2,185-211 von Nutzen sein: amor, odium, iracundia, invidia, misericordia, spes, laetitia, timor, molestia. Bei diesen Stellen handelt es sich nicht mehr um Auseinandersetzungen mit Affekten in Dichtung oder Tragödie (obwohl die aristotelische Rhetorik auch die Erzeugung solcher Affekte beim Rezipienten reflektiert). Begrifflichkeit und Kategorisierungen seien hier nur angeführt, um einen Eindruck davon zu vermitteln, welche schillernde Vielzahl von Affekten, und zwar negativen und positiven, prinzipiell möglich ist, das heißt mit dem Ziel einer Einwirkung auf den Rezipienten dargestellt werden kann. 212 Es sollen jedoch im Folgenden die Affekte des Chores nicht ausschließlich mit Hilfe derartiger Kategorisierungen oder theoretischer Modelle un- 210 Zur Angst bei Aischylos sh. S NELL (1928) 34-51, DE R OMILLY (1958), passim, und S CHNYDER (1995), hier 31-33 auch zum deutschen Begriff ‚Angst’, der sich keineswegs klar von ‚Furcht’ scheiden lässt, geschweige denn, dass im Griechischen - auch bei Aischylos - insgesamt eine wirklich deutliche, differenzierende Zuordnung der deutschen Begriffe ‚Angst’ und ‚Furcht’ zu den Vokabeln fÒboj und dšoj / de‹ma möglich ist. Sh. aber unten S.351 mit Anm.160 zum III. Stasimon des Agamemnon. 211 Vgl. T HEUNISSEN (2000) 307-95; vgl. auch den vieldiskutierten Passus Hes.Erg. 96-99. Zum Gegensatzpaar der Affekte Angst und Hoffnung in der Antike sh. S PIRA (1987). 212 Zur Anwendung der aristotelischen Affektenlehre in der Rhetorik auf die Tragödieninterpretation sh. Z IERL (1994) 18-29, der ebenfalls eigens auf die Komplementarität von fÒboj und q£rsoj hinweist (21); das breite Spektrum der Emotionen in der griechischen Kultur zeichnet ausgehend von Aristoteles K ONSTAN (2006) nach. Hingewiesen sei auch auf die von S CHMIDT (1879) III 463-655 in seiner Synonymik vorgenommene, äußerst hilfreiche Einteilung des für die Bezeichnung von Affekten verwendeten Vokabulars, die auf Etymologie und Semantik beruht. Wir geben hier für jede der gebildeten Gruppen die wichtigsten Zentralbegriffe: ™r©n, mise‹n , fobe‹sqai , a„dèj , q£rsoj , Ñrg» , œleoj , ™lp…j , ™piqum…a . <?page no="104"?> Die rezeptionsästhetische Methode 90 tersucht und etwa bestimmte Erscheinungen und Textpassagen mit einem dieser Begriffe ‚von außen’ belegt werden, da es sich dann letztlich um eine retrospektivische Anwendung am Beispiel des aischyleischen Chores handelte. Sondern unsere Interpretation soll grundsätzlich offen sein für die ganze Palette möglicher Affekte, die durch griechische Begriffe benannt werden können: Auch beispielsweise mit ¥lgoj, ¥coj, œrwj, mšrimna, pÒnoj und front…j wird deutlich in den Bereich des Affektiven gewiesen, wie auch ‚gegenständliche’ Substantive Beachtung verdienen, die das tragische Geschehen, das auf den Chor eindringt, gewissermaßen in seiner objektiven Gegebenheit markieren - so tÕ deinÒn, tÕ kakÒn, tÕ pÁma. Diese hier in ihrer großen Bandbreite nur angedeutete Begrifflichkeit kann als locker gesteckter Orientierungsrahmen für eine textnahe Betrachtung der Affekte des Chores dienen, wobei vor allem der expliziten Benennung des Affiziertseins durch den Chor selbst Bedeutung zukommen soll. 5. Die Reaktion des Chores auf die Krise: Rat, Ritual, Reflexion und die Intention der ‚Heilung’ Es wäre denkbar, dass dem Chor vom Dichter lediglich die beschriebene emotionale Affizierung beigelegt würde, dass er also allein als Resonanz- Boden der tragischen Handlung fungierte und sich mit dem ihm wesensmäßig zukommenden Mittel der mousik» über die empfundene Schieflage im Ordnungs- und Wertesystem der Polis äußerte, diese also einfach hinnähme. Insofern wäre der Affekt eine Reaktion, die in allererster Linie als passiv bezeichnet werden müsste, und der Chor könnte als ein rein dramaturgisches Instrument aufgefasst werden, der beispielsweise eine Klagelitanei zur Erhöhung der Bühnenwirkung sänge. 213 Aber damit erschöpft sich die Beschreibung des Chores der Griechischen Tragödie, zumal bei Aischylos, noch nicht. Bislang haben wir den interpretatorischen Rahmen durch die Eigenschaften des Chores als des ordnungsverkörpernden Bodens der Tragödie und als eines emotional affiziertes Identifikationsmediums für den Zuschauer abgesteckt, den der Chor durch Affektdarstellung, im äußeren wie im inneren Kommunikationssystem, in den Bann ziehen kann. Zu fragen ist nunmehr zweierlei: 1) Wie verknüpft sich diese Affizierung des Chores, der so sein Betroffensein von der Krise ausdrückt, mit seiner Handlungsbeteiligung, das heißt wie verhält sich der Chor im direkten Kontakt mit den dramatis personae? 213 So sieht H ELG (1950) 18-29 eine Reihe von Liedern der drei Tragiker als „gefühlsmäßige Reaktionen“, in denen die Gefühle Freude, Trauer, Mitleid, Bewunderung, Angst, Verzweiflung, Entrüstung, Hoffnung/ Hoffnungslosigkeit, Unwillen, Neugierde sowie Bitten an die Götter zum Ausdruck gebracht würden - eine rein dramaturgische Herangehensweise, die die Chorlieder als Ausdruck atmosphärischer Schwingungen zu beschreiben versucht. <?page no="105"?> Die Reaktion des Chores - Heilungsintention 91 2) Und wie lässt sich angesichts dieser Affizierung die perspektivische Lenkung des Zuschauers durch den Chor als Instrument der Fokalisation (welche sich vorrangig im Chorlied abspielt) noch näher beschreiben? Bei beiden Punkten wollen wir nun die Frage nach der R e a k t i o n des Chores stellen, die sich im jeweiligen Entwicklungsstadium des Plots offenbart. Passivität als Grundmerkmal des tragischen Chores im Sinne einer Dominanz des emotionalen p£scein über ein aktives pr£ttein bedeutet keineswegs eine völlige Absenz von der tragischen Handlung. Die Handlungsbeteiligung des Chores konkretisiert sich im direkten Kontakt mit den dramatis personae, dies in den Trimeter- und Tetrameterszenen und im Amoibaion. Und wenn der Chor mit den Einzelfiguren spricht und singt, so sollte die Interpretation von einer eigenständigen Intention des Chores ausgehen. Einen ersten Schlüssel zur Beantwortung der Frage, welche handlungsspezifische Intention der Chor bei Aischylos haben könnte, liefert zunächst ein bei allen drei Tragikern anzutreffendes distinktes Merkmal, das als eine besondere Ausprägung dieser Handlungsbeteiligung anzusehen ist: Die häufige Funktion des Chores schon bei Aischylos als Ratgeber und als Beistand, der - in einer Sprechszene oder einem Amoibaion - eine Einflussnahme auf die Einzelfigur vorzunehmen versucht. 214 Warum legt der Dichter ausgerechnet dem Chor diese Aufgabe bei? Auf den ersten Blick erscheint dieses Spezifikum überhaupt nicht notwendig für den Fortgang des Plots, wie er außerhalb des Theaters im Mythos abläuft; und wie ein Blick auf die spätere Entwicklung des Genos Tragödie lehrt, kann die Ratgeberfunktion auch von einer namenlosen Nebenfigur wie einer Amme oder einem sonstigen Vertrauten übernommen werden. Diese Form der Reaktion, mit der der Chor aus seiner Passivität heraustritt, muss Ausdruck einer entsprechenden Intention sein, die zudem - unter der Voraussetzung eines Nahverhältnisses des Zuschauers zum Chor - in einer bestimmten Weise mit der Rezeptionshaltung des Publikums korrelieren dürfte. Die Ratgeberfunktion des Chores steht außerdem, so ist zu vermuten, in einem Zusammenhang mit Empfindung und Ausdruck der Affekte. Nun beschränkt sich aber der direkte Kontakt zwischen Chor und Einzelfigur nicht auf Ratschläge oder Beeinflussungsversuche: Es sind auch Formen der Konfrontation möglich. Aber auch hier ist der Chor als eigenständiger Kommunikationspartner mit einer bestimmten Position anzusehen und nicht als bloß notwendiges Beiwerk, an dem sich die dramatis persona reibt, um Kontur zu gewinnen. Es erscheint als interpretatorisch fruchtbar, jedes derartige Zusammentreffen der beiden Bereiche, das sich gewissermaßen an der Schnittstelle von Orchestra und Skene abspielt, unter dem Ge- 214 Sh. etwa Aisch.Pers. 170-75 und 215-25, Sept. 677-719, Hik. 418-32, Ag. 783-809, Cho. 84- 123, 264-68, 766-82. Für Sophokles sh. etwa OT 276-95 und 649-97, Trach. 531-593; für den Chor als Ratgeber bei Euripides sh. H OSE (1990) 294-98. - Vgl. die S.56 Anm.126 zitierte Charakterisierung des Chores als eines Ratgebers bei Horaz (ars 196-201), wo der Chor auch auf die sich im Affekt befindlichen Einzelpersonen besänftigend einwirken soll. <?page no="106"?> Die rezeptionsästhetische Methode 92 sichtspunkt einer vom Chor vertretenen Position und einer von ihm verfolgten Intention zu untersuchen. 215 Einen zweiten Schlüssel für die Beantwortung der Frage nach Intention und Position des von der ‚sozialen Krise’ affizierten Chores liefert die Fortexistenz chorischer Ritualformen in der Tragödie des Aischylos. Bereits die prädramatische Chorlyrik kann, wie gesehen, den Zusammenhang zwischen einer Krisensituation, die sich auf Chor und Polisgemeinschaft auswirkt, und der Emotionalisierung der chorischen performance darstellen, die auf eine H e il u n g der Krise zusteuert. 216 Man muss nicht soweit gehen, die Griechische Tragödie mit T URNER als ‚Soziales Drama’ zu deuten, in der ein liminaler Zustand überwunden und am Ende eine (neue) Ordnung errichtet werde. Aber man wird nicht fehlgehen, dem gesellschaftlich-kulturellen Phänomen Ritual - ganz grundsätzlich - einen systemstabilisierenden Charakter zu attestieren. Es sei nun die vorläufige Hypothese aufgestellt, dass in den per se chorischen Ritualformen auch der Tragödie, die sich gerade bei Aischylos noch häufig finden (Gebet, Hymnos, Paian, Ololygmos, Goos und Threnos, Kommos), der Wunsch des Chores nach einer Beseitung der den Chor selbst betreffenden sozialen Krise, nach einer Auflösung des tragischen Konfliktes zum Ausdruck kommt: Im Ritual erfolgt eine unmittelbare Kontaktaufnahme mit dem Göttlichen, von dem eine positive Einflussnahme auf die Gemeinschaft erhofft wird, deren gestörte Ordnung wiedererrichtet oder bewahrt werden soll. Dass nun auch hier der interpretatorische Terminus ‚Heilung’ am Platz ist, rechtfertigt sich mit der Verwendung medizinischer Metaphorik und Thematik bei Aischylos (wozu unten, S.98-100). Schlägt man nun von hieraus den Bogen zurück zur Haltung des Chores beim Kontakt mit den dramatis personae, dann erklärt sich, so meinen wir, entsprechend seine Position als Ratgeber (oder auch Gegner) der Einzelfigur: Von der Entscheidung des Einzelnen wird die tragische Verwicklung ausgelöst, die den vom aischyleischen Chor gebildeten Boden der Polis mit ihrer large off-stage group im Hintergrund bedroht. Darauf reagiert der Chor in Form einer Einflussnahme, die in einem Zusammenhang mit dem Gedanken der Ordnung steht. Wenn nun einerseits die negativen Affekte des Chores die Erschütterung dieses Bodens anzeigen und andererseits, so wollen wir zunächst annehmen, die Reaktion des Chores vom Wunsch einer Wiederherstellung der normalen Ordnung getragen ist, so ergeben sich zunächst zwei wichtige Folgerungen: 1) Der negative, dem Zuschauer so präsentierte Affekt des Chores bestimmt die Richtung der Reaktion, die sich auf eine ‚Heilung’ richtet. Dass der Zuschauer in seiner Lebenswelt der Polis Athen das Bedürfnis nach 215 E LSE (1977) 83 betont zu Recht die Notwendigkeit, die Bauform Kommos immer in der Perspektive einer rituellen und ursprünglich chorischen Handlung zu sehen, also dem Chor seine eigene Berechtigung zu geben. 216 Sh. oben S.39-41. <?page no="107"?> Die Reaktion des Chores - Heilungsintention 93 Ruhe und Ordnung hat, welches auch der Chor bei seiner Einflussnahme auf die dramatis personae und bei der Durchführung stabilisierender Chorrituale erkennen lässt, kann als Grundannahme gelten: „Spectators vary in their interests, their judgements and much else, but almost all of them ... share a desire for safety and survival.“ 217 Insofern ergibt sich eine Überlappung der Grundhaltungen von Chor und Zuschauer, wobei eine enge Bezugnahme der fiktionalen Bühnenwelt, die bei Aischylos vom Chor wesentlich mitgetragen wird, auf die politische und soziale Realität der Polis Athen vorliegt. Damit in Übereinstimmung steht die mittlerweile etablierte Forschungsmeinung, dass die Tragödie ein Diskussionsmedium bezüglich derjenigen Normen und Werte sei, die für das Zusammenleben der Polis Athen von hoher Bedeutung seien. 218 2) Bereits hinlänglich haben wir dargestellt, dass auch dem tragischen Chor als Bestandteil der song-and-dance culture die Fähigkeit zu einer intensiven Emotionalisierung der teilnehmenden Gemeinschaft bei der performance zukommt. Wenn nun dieser Praxis insgesamt, auch im größeren Rahmen der festlichen Großen Dionysien, eine positive Valenz im Sinne der tšryij zuzuschreiben ist, so sollte dieses positive Charakteristikum auch in der Tragödie selbst zu finden sein (nun einmal abgesehen von der aristotelischen o„ke…a ¹don» der Gattung). Da aber diese positive Emotionalisierung der Gemeinschaft, die innerhalb einer Tragödie ebenso präsent ist wie im Dionysostheater von Athen, mit dem Aspekt der vom Chor verkörperten Ordnung eine untrennbare, geradezu traditionelle Verbindung eingegangen ist, dann liegt der Schluss nahe, dass sich die durch die ‚Heilung’ der Ordnungsstörung definierbare Intention des Chores mit einer ebensolchen positiven Affizierung verquickt. Positive Affekte des Chores wie Freude, Hoffnung und Zuversicht wie am Ende der Eumeniden dürften somit die Möglichkeit einer Beseitigung der Gefahrensituation, mithin einer Auflösung des tragischen Konfliktes, für den Zuschauer anzeigen. Die Relation von Chor und dramatis personae lässt sich aber noch weiter bestimmen. B UDELMANN hat für die Interpretation des Chores bei Sophokles eine nun auch in unserem Sinn zentrale Interpretationslinie gezeichnet: Das Verhältnis der vom Chor jeweils repräsentierten large off-stage group zur Einzelfigur sei bei Sophokles grundsätzlich definierbar als dasjenige einer Gemeinschaft „under threat“, die gerettet und bewahrt werden wolle, zu 217 B UDELMANN (2000) 205. Zur Bedeutung des Aspektes der Bewahrung der Polis gerade bei Aischylos vgl. N ESTLE (1934) 55-81. 218 Hierher gehört auch die seit jeher praktizierte, in letzter Zeit aber wiederholt inkriminierte ‚politische’ Interpretation der Griechischen Tragödie, die insbesondere auch Anspielungen auf und Stellungnahmen zu aktuellen, brennenden Fragen der Tagespolitik in den Texten nachzuweisen versuchte; sh. besonders M EIER (1988) und N EUMANN (1995); für Aischylos speziell P ODLECKI (1966); für Euripides Z UNTZ (1963). Doch kommt im Vergleich diese Praxis wesentlich stärker der Komödie zu, so T APLIN (1986) 62; vgl. die große Skepsis bei T APLIN (1977) 134. <?page no="108"?> Die rezeptionsästhetische Methode 94 einem „saviour“. 219 Das idealtypische Beispiel für eine solche Retter- und Heilsgestalt ist für B UDELMANN Oidipus im Oidipus Tyrannos; aber auch auf Aias, Orest und Herakles richteten sich entsprechende Erwartungen der jeweiligen Tragödienchöre. Eine entsprechende Relation findet sich nun, so meinen wir, auch bei Aischylos als zentrales Merkmal der Figurenkonstellation einer jeden Tragödie. 220 Die entsprechenden saviour-Gestalten sind: Dareios für die alten Perser (die das unterlegene Persien vertreten), Eteokles für die direkt bedrohten Thebanerinnen (die ähnlich die ganze, vom Krieg bedrohte Polis Theben repräsentieren), Pelasgos als Schutzherr für die ebenfalls bedrohten Danaiden, Agamemnon für die alten Argiver (die Argos vertreten) und Orest für das vom Chor der Dienerinnen repräsentierte Haus Agamemnons. Athene schließlich ist zunächst für das Individuum Orest die saviour-Gestalt, daraufhin aber auch für ihre Polis Athen und parallel für die Erinnyen, deren Isolation aufgehoben wird. Und Prometheus ist eine Retter- und Heilergestalt für die ganze Menschheit par excellence. Wie schon an dieser kurzen Übersicht zu sehen ist, gibt es in jedem einzelnen Fall andere Schattierungen und Umformungen dieses hier zunächst nur postulierten Grundmusters. Doch das prinzipielle Spannungsverhältnis zwischen Gemeinschaft und Einzelnem (das sich ja aus der Gattungsgenese erklären lässt) dürfte in einer grundsätzlichen Ambivalenz strukturbildend auch für Aischylos sein: Rettung und ‚Heilung’ versus Bedrohung und (weiterer) Konfliktverschärfung können als interpretatorische Orientierungspunkte für die Verhältnisbestimmung zwischen Chor und Einzelfigur(en) dienen. Die dramatis personae haben neben ihrer Entscheidungskompetenz f ü r ordnungsstörendes Handeln unter Umständen auch diejenige g e g e n solches Handeln. Der Chor nun, so lässt sich thesenhaft annehmen, erscheint in seinen Einwirkungsversuchen auf die Einzelfigur als Delegation des auf „safety and survival“ bedachten Zuschauers, ja er arbeitet unausgesprochen mit ihm zusammen und bietet der dramatis persona quasi eine ‚Diskussionsvorlage’. Diese Einflussnahme bietet natürlich keineswegs eine Garantie für richtiges oder gegen falsches Handeln des potentiellen saviour - ob dieser sich an die Ratschläge oder Beeinflussungsversuche des Chores hält oder nicht, ist allein seiner Autonomie zum pr£ttein überlassen. 221 Mit 219 Sh. B UDELMANN (2000) 205-72. 220 Für Euripides vgl. in sehr ähnlicher Perspektive K OSAK (2004), die eine Reihe von ‚Heilerfiguren’ beschreibt; vgl. weiter H OSE (1990) 17-20, der für die Beschreibung des Verhältnisses von Chor und Einzelfigur mit dem Konzept der fil…a operiert. - Bei der speziellen Form des Hikesiedramas ist die saviour-Figur natürlich sehr konkret als swt»r für den oder die Schutzflehenden ausgeformt. 221 Auf die in diesem Zusammenhang wichtige Frage, inwieweit das Göttliche den Handlungsspielraum der Figuren beschränkt, sei erst in den Einzelinterpretationen eingegangen; vorab ist jedoch auf die für Aischylos mittlerweile etablierte Forschungsmeinung von der ‚doppelten Motivation’ zu verweisen. Sh. S NELL (1928), der von einem „Zirkelschluß“ (71) innerhalb dieses Denkmodells spricht: „Eins begründet das andere. Wir können keins herausgreifen als den einzigen Grund des Geschehens. ... Schuld und <?page no="109"?> Die Reaktion des Chores - Heilungsintention 95 der Beantwortung der Frage, welchen Einfluss der Chor überhaupt nehmen k a n n und welchen tatsächlichen Effekt gegebenenfalls ein vorläufiger Erfolg hat, wird dann auch eine Beurteilung der tragischen Erfahrung möglich, der der Zuschauer also wesentlich auch vonseiten des Chores unterzogen wird. Gegenüber dem autonomen pr£ttein der Einzelfigur gilt umgekehrt, wie schon herausgestellt, für den Chor und sein Singen und Tanzen eine Autonomie, die ihn im äußeren Kommunikationssystem in eine Nähe zum Zuschauer stellt. Nun lässt sich auch ein Stasimon als R e a k ti o n auf ein jeweils unmittelbar zuvor erreichtes neues Stadium des Plots auffassen (welches aber nicht notwendigerweise negativer Natur sein muss). Auch schon der Parodos liegt in den erhaltenen Stücken des Aischylos ein solches Bewusstsein einer Krise zugrunde, in die der Zuschauer durch den Erstauftritt des Chores, der hier also bereits als reagierend gezeigt wird, induziert wird. Wenn rituelle Elemente in die Bauform Parodos und Stasimon transformiert sind (etwa ein Gebet oder ein Hymnos), so verleiht diese Formgebung dem Auftreten des Chores eine direkte Motivation und Plausibilisierung innerhalb der dargestellten Welt: Ein corÒj reagiert nun einmal so auf ein Ereignis, mit dem er konfrontiert wird, und versucht durch die performance eines Rituals eine Stabilisierung der gefährdeten Ordnung. Allerdings kommt es in der Tragödie nun weniger auf die Durchführung der Ritualhandlung an sich an, sondern auf die ‚Füllung’ des Chorliedes durch das, was man als Sinndeutung, Reflexion oder Kommentar bezeichnen kann - also auf die perspektivische Lenkung des Zuschauers durch einen Akt der Fokalisation. Dies gilt in gleicher Form natürlich auch für ein nicht-rituelles Auftreten des Chores, etwa für ein rein erzählendes oder deutendes Stasimon, das nach realistischem Verständnis ja eigentlich keine direkte Motivation im Plot hat. Es sei nun für das Chorlied die interpretatorische Vorgabe (und Vorannahme) gemacht, dass der Chor bei Aischylos in diesem seinen autonomen Spielraum dahingehend eine Fokalisation vornimmt, inwiefern die von ihm verkörperte Ordnung bedroht ist - oder aber, wie diese Krise vielleicht beendet und ‚geheilt’ werden kann. Das heißt insbesondere, dass sich die Inhalte des Chorliedes immer eng auf den Plot beziehen und nicht ornamentales Beiwerk sind. Der hierbei im lÒgoj zugleich geäußerte Affekt, der ja nicht um seiner selbst willen zum Ausdruck kommt, fungiert quasi als psychagogischer Köder, der den ‚Vertrauensvorschuss’, den der Chor beim Zuschauer ohnehin schon aus der Lebenswelt hat, noch verstärkt: Persönliche Leiderfahrung garantiert für (momentane) Wahrheit und Aufrichtigkeit Schicksal knüpfen das Verhängnis: erst in diesem Widerstreit, gegen den unser Verstand sich sträubt, liegt der Kern der aischyleischen Weltdeutung.“ (ebd.); vgl. weiter L ESKY (1958) 89f. und N ICOLAI (1998) 20f. (beide am Beispiel der Perser). Auch eine der neuesten Monographien zu Aischylos, F ÖLLINGER (2003), ist diesem Modell durchgehend verpflichtet (sh. 316-22), nun in Gestalt einer horizontalen Achse (Individualschuld) und einer vertikalen (Abhängigkeit des ‚tragischen Helden’ von den früheren Generationen, die sein Handeln wesentlich mitbestimmen). <?page no="110"?> Die rezeptionsästhetische Methode 96 der Reflexion. Angesichts der Tatsache, dass Gorgias in fr. 11 DK nur die E r z e u g u n g der Affekte behandelt, nicht aber eine bestimmte inhaltlich fixierte I n t e n ti o n des Sprechers (abgesehen vielleicht von einer allgemeinen ‚sophistischen’ ¢p£th ), kann die auf dem Affekt basierende Perspektivsteuerung, die vom Chor ausgeht, im Zusammenhang mit dessen Fixierung auf Ordnung gewissermaßen als die pragmatische Seite der ‚Rhetorik’ des Chores gesehen werden. Sicherlich erweitert der Chor schon durch seine bloße Informationsvergabe den Horizont des Zuschauers - doch die Miteinbeziehung von Affekten ist die unabdingbare Grundlage, die bei der reinen Sprachrohrtheorie (gemäß S CHILLER s entpersonalisierender Deutung des Chores als „kein Individuum“) unter den Tisch zu fallen droht. 222 Die Verbindung emotionaler und rationaler Akte im menschlichen Verhalten, ob beim aktiven Handeln oder eher passiven Reagieren, hat auch in der Tragödienforschung, oft mit Bezug auf Aristoteles und rezeptionsästhetisch ausgerichtet, Beachtung gefunden. 223 Jedoch soll die hier von uns für den Chor vorgenommene Adaption dieser anthropologisch selbstverständlichen Verbindung lediglich auf die Rezeptionssteuerung des Zuschauers hin konturiert sein, wie sie dem Text entnommen werden kann - und sich nicht etwa den Fährnissen einer Charakterdeutung der Chores als einer weiteren dramatis persona aussetzen. 224 Und auch der Definitionsversuch der emotionalen und rationalen Akte aufseiten des Zuschauers selbst steht gewissen Unwägbarkeiten gegenüber. - Besonders fruchtbar erscheint es aber, neben dem Ausdruck der eigenen Affekte des Chores das in der späteren Rhetorik als ™n£rgeia beziehungsweise evidentia und illustratio praktizierte Verfahren der „möglichst anschauliche[n] Vergegenwärtigung affektauslösender Sachverhalte oder starker Affekte dritter Personen“ 225 auch in den 222 Dass der tragische Chor grundsätzlich „seinen frustrierten Handlungsdrang in lyrische Äußerungen [umleitet], in das Singen von Assoziationen - religiösen, mythischen, ethischen - und von Gedanken, die sich aus seinen hilflosen Emotionen ergeben“, so T APLIN (1986) 69, ist in diesem Zusammenhang eine treffende Gesamtcharakteristik. T APLIN betont weiter, „daß dieses Verhalten dem Zuschauer das Modell einer sowohl emotionalen als auch intellektuellen Reaktion vorgibt“ (ebd.). 223 Am prononciertesten in Bezug auf den Zuschauer T APLIN (1978): „Understanding, reason, learning, moral discrimination - these things are not ... incompatible with emotion ... what is incompatible is cold insensibility.“ (169); ähnlich E ASTERLING (1996) 177f. mit Bezug auf die dem Text bereits inhärenten Rezeptionsvorgaben wie Fragen und Aufforderungen. Von Aristoteles gehen aus B ELFIORE (1985), passim, und L ADA (1993/ 94), bes. 94f.; auf die dramatische Spannung bezogen F UCHS (2000) 134; vgl. für Aristoteles auch die Arbeit von C ESSI (1987). Anders H EATH (1987) 77, der von einem rein emotionalen Erlebnis ausgeht. Hieran knüpft sich die Frage, ob die Griechische Tragödie eine Art Erziehungsanstalt war; sehr skeptisch dazu H OLZHAUSEN (2000), bes. 51f., der von einer deutlichen Prävalenz der paidi£ gegenüber der paide…a ausgeht. Auf eine ausschließlich affektstimulierende Veranstaltung sollte man die Gattung jedoch nicht reduzieren; andererseits geht ja gerade die ‚Sprachrohr-Theorie’ in der Chorforschung von einer erzieherischen Absicht des Aischylos aus. 224 Vgl. die oben S.5-11 zitierten und besprochenen Arbeiten. 225 K RAUS (2000) 690. <?page no="111"?> Die Reaktion des Chores - Heilungsintention 97 Chorliedern zu bestimmen und nachzuvollziehen: Als rhetorischer, direkt an den Zuschauer gerichteter Akt kann dieses Vor-Augen-Stellen auch wieder eine visuelle Dimension tragischen Handelns erzeugen. So kann der Affekt Angst insofern ausgedrückt werden, als die Angst auslösenden Ereignisse antizipierend dargelegt werden. Im Zusammenwirken von Pathos und Logos verschränkt sich intellektuelles Reflektieren mit emotionalem Erleben, nicht nur in der Gegenwart, sondern auch mit Bezug auf Vergangenes und Zukünftiges, wie es sich jeweils in den Plot fügt - oder fügen kann. Ein Chorlied, welches zunächst als Reaktion auf die jeweilige Entwicklung gesungen wird, kann gerade auch Spannung für den w e i t e r e n Ablauf erzeugen. 226 Und es kann durch die Vermittlung zusätzlicher Informationen den sich im Plot entwickelnden Geschehensablauf sogar zuspitzen: Der Chor kann trotz seiner passiven Grundhaltung einen ganz eigenen Beitrag zur Entwicklung der tragischen Handlung vor dem Zuschauer liefern. Was speziell das Zukünftige betrifft, also den weiteren Ablauf des Plots, so ist für die Ausdeutung unbedingt zu berücksichtigen, dass nichts den Sinngehalt eines Chorliedes mehr zerstört, als wenn man darin ein eindeutiges Vorwissen determiniert sieht, das womöglich noch mit dem des allseitig informierten Rezipienten auf einer Ebene liege. Statt scheinbarer Definitivität, was die mögliche negative oder positive Fortentwicklung des Plots, mithin eine mögliche Zuspitzung oder ‚Heilung’ anbelangt, muss P o t e n ti a li t ä t eine Interpretationsmaxime sein, die ohnehin schon unter rein dramaturgischen Aspekten ein höheres Maß an Spannungserzeugung liefern dürfte. Mit diesem Punkt einer begrenzten Perspektive verknüpft sich eine nicht minder wichtige Überlegung: Die vom Chor aufgezeigten möglichen Entwicklungs- und Handlungsalternativen einer Zuspitzung oder ‚Heilung’ oder auch die entsprechenden unmittelbaren Umsetzungsversuche im direkten Kontakt mit den dramatis personae können natürlich in eine ganz andere Richtung gehen als vom Chor intendiert: Die rhetorische ‚Entführung’ des Zuschauers durch den Chor könnte so in einer tatsächlichen Ent-Täuschung, einer Irre-Führung resultieren. Möchte man nun zusammenfassend vorab umreißen, wie sich die Funktion des Chores beschreiben lässt, sowohl was seinen direkten Kontakt mit den dramatis personae betrifft als auch seine Aufgabe im äußeren Kommunikationssystem, so offenbart sich unter dem Aspekt der vom Chor als dem Repräsentanten der Ordnung intendierten Auflösung der sozialen Krise und der ‚Heilung’ des tragischen Konfliktes eine Einheitstextur hinter dem an der Oberfläche vermeintlich auseinanderfallenden Erscheinungsbild des Chores (Sprechszenen versus Lieder, dramatis persona und Charakter versus 226 Zur „forward tension“ der Stasima von Aischylos und Sophokles sh. M ASTRONARDE (1999) 100, im Unterschied zu der kontemplativen „relax tension“ bei Euripides. F UCHS (2000) 169-76 erläutert den Affekt fÒboj im Zusammenhang mit dem aristotelischen Terminus fantas…a . <?page no="112"?> Die rezeptionsästhetische Methode 98 Deutungskompetenz, dramaturgisches Instrument etc.): Der Chor als Verkörperung der Ordnung versucht bei den dramatis personae, insbesondere bei der saviour-Gestalt Einfluss zu nehmen auf den Geschehensablauf, um die Ordnung wiederherzustellen, und er nimmt selbst Einfluss auf den Zuschauer, indem er Möglichkeiten der ‚Heilung’ und der Verschärfung aufzeigt. 6. Die medizinische Dimension: Krankheit und Heilung als Thema und als Metapher Wenn die vom aischyleischen Chor intendierte und diskutierte Wiederherstellung der Ordnung als ‚Heilung’ bezeichnet werden kann und sich dieser Begriff als interpretatorischer Terminus verwenden lässt, so deshalb, weil die Vorstellungsbereiche ‚Krankheit’ und ‚Heilung’ von Aischylos sowohl thematisch als auch metaphorisch in die Darstellung des tragischen Geschehens einbezogen werden. Insofern kann die durch Affekte des Chores angezeigte Krise der Gemeinschaft eine ‚Krankheit’ sein. Die Beziehungen zwischen der Gattung Tragödie und der zeitgenössischen Medizin, besonders dem Corpus Hippocraticum, sind bereits gut erforscht. Auch für Aischylos richtete sich das Augenmerk schon früh auf den auffälligen Gebrauch medizinischer Fachterminologie, die kompendienartig zusammengestellt wurde. 227 Die Symptomatik psychosomatischer Vorgänge bei der Beschreibung von Affekten, die in den einzelnen Entitäten im menschlichen Organismus verortet werden, eröffnet natürlich ein weites Anwendungsfeld für einen derartigen medizinischen Aussagegestus. Indes gehören viele solcher scheinbarer Fachbegriffe letztlich doch auch zur Gemeinsprache, wie zum Beispiel kard…a oder fr»n . 228 Noch über die Verwendung von derartigem Vokabular hinaus, das prinzipiell in jeder Tragödie zu finden sein kann, ist die konkrete Thematisierung körperlicher und geistiger Krankheit eine Auffälligkeit - so bei Aischylos der Wahnsinn Kassandras und Orests; für Sophokles anzuführen sind die Trachiniai und der Philoktet, auch der Oidipus Tyrannos, für Euripides der Herakles und der Orestes. Speziell für die Tragödie des Aischylos figuriert die auch noch im 5. Jahrhundert präsente Miasma- Thematik sehr konkret als Ausdruck der Gefährdung des Bodens der Gemeinschaft durch vergossenes Blut. 229 227 Sh. D UMORTIER (1935) und S TANFORD (1942) 54-58 sowie für alle drei Tragiker G UARDASOLE (2000). Für weitere, über rein sprachliche Befunde und Vergleiche hinausgehende Interpretationsansätze sei auf J OUANNA (1987) verwiesen, der die Krankheitsbeschreibungen in der Tragödie im Übergang vom archaisch-mythischen zum rationalen Denken ausdeutet, sowie auf K OSAK (2004), sh. oben S.94 Anm.220. 228 Vgl. die kritischen Bemerkungen von C OLLINGE (1962) 53f. Anm.16. 229 Zum Miasma sh. die Monographie von P ARKER (1983), der zahlreiche Reflexe bei den Tragikern behandelt. <?page no="113"?> Die medizinische Dimension: Thema und Metapher 99 Jedoch soll diese spezielle Interpretationsperspektive hier nicht allgemein auf die möglichen thematischen Berührungspunkte von aischyleischer Tragödie und Fachmedizin hin fokussiert werden, sondern es soll nach der tieferen Bedeutung speziell der Krankheits- und Heilungs-M e t a p h o r i k in Bezug auf den tragischen Konflikt, dies wiederum mit Blick auf den Chor und dessen Intention, gefragt werden. Zwei Arbeiten haben die mögliche Bedeutung medizinischer Metaphorik bei Aischylos zu bestimmen versucht. Die Zusammenstellung von O’C ONNOR zu den Krankheitsbildern bei Aischylos und Sophokles nennt einleitend drei Dimensionen für bildhaftes Krankheitsvokabular: Eine pathetische, eine moralische und eine dynamische. 230 Ergiebiger, wenn auch nur für die Orestie und den Prometheus, hat C ORDES das Potential dieser Materie ausgeschöpft. Die medizinischen Bilder seien Leitmotive, mit denen „der Dichter das tragische Geschehen kennzeichnet.“ Dass weiter die „Verletzung einer gottgewollten, gerechten Ordnung als Krankheit“ bezeichnet werde, wobei die „Ordnung der menschlichen Gemeinschaft als Spiegelbild einer größeren Ordnung des Kosmos“ 231 fungiere, steht in deutlicher Übereinstimmung mit einem in Dichtung und Philosophie schon vor Aischylos auftretenden Denkmodell von großer Tragweite: Ob die Gegensätzlichkeit von geordnetem Gleichgewicht als „sonom…a und chaotischem Ungleichgewicht als monarc…a bei Alkmaion (VS 24 B4) oder das durch rechtswidriges Gewinnstreben verursachte ›lkoj ¥fukton als einer ‚sozialen Wunde’ 232 im nun kranken Staatsorganismus in der Eunomie-Elegie Solons (fr. 3,17) - Gesundheit markiert metaphorisch Stabilität, Krankheit hingegen eine entsprechende Störung im Gesellschaftsverbund. 233 230 O’C ONNOR (1974) 1-21. Ganz ähnlich schon S TANFORD (1942) 57f. 231 Alle Zitate C ORDES (1994) 34. Vgl. auch den Überblicksartikel von R ECHENAUER (2005). 232 Für die metaphorische Verwendung von ›lkoj und ulcus in der Antike sh. W ÖHRLE (1991) 3. 233 Zwei weitere Beispiele: Im Plot der Ilias kulminiert die immer stärker sinkende Erfolgslinie der Griechen unter der Führung Agamemnons (der wegen Ate auch sein Königsheil verloren hat) in der Verwundung des Arztes Machaon (11,507-15), der nun also nicht mehr heilen kann, bis die Heilkünste des Patroklos (11,828-48) den Umschwung einleiten. - Archilochos fr. 7 bietet als Trostparänese angesichts eines für die Polis katastrophalen Schiffsunglückes eine ganze Reihe metaphorischer und konkreter Ausdrücke; besonders aussagekräftig ist die Relation zwischen dem sozialen Unglück und einem entsprechenden Krankheitsgefühl in Form psychosomatisch empfundender Affekte: K»dea m n stonÒenta, Per…kleej, oÜte tij ¢stîn memfÒmenoj qal…Vj tšryetai oÙd ppÒlij: to…ouj g¦r kat¦ kàma poluflo…sboio qal£sshj œklusen: oo„dalšouj d' ¢mf' ÑdÚnVs' œcomen pneÚmonaj. ¢ll¦ qeoˆ g¦r ¢ ¢nhkšstoisi kako‹sin, ð f…l' ', ™pˆ krater¾n tlhmosÚnhn œqesan f£rmakon. ¥llotš t'' ¥lloj œcei t£de: nàn m n ™j ¹mšaj ™tr£peq'', aƒmatÒen d' ›lkoj ¢nastšnomen, ™xaàtij d' ' ˜tšrouj ™pame…yetai. ¢ll¦ t£cista tlÁte gunaike‹on p pšnqoj ¢pws£menoi. <?page no="114"?> Die rezeptionsästhetische Methode 100 Die Eunomie-Elegie, auf die im Zusammenhang mit der Polisordnung und Solons ethischem Konzept schon hingewiesen wurde, verknüpft mit dem in Form der Dusnom…h auftretenden Defekt ein intellektuelles Defizit der Bürger; genannt werden ¢frad…Vsin (5) und ¥dikoj nÒoj (7). Dieses falsche, ‚kranke’ Denken führt zu Hybris und Ate und zieht das unausweichliche Eingreifen der strafenden Dike nach sich. In der Griechischen Tragödie spielt nun ein solchermaßen verkehrtes frone‹n , das oft den Charakter der man…a und einer regelrechten Geisteskrankheit annimmt, eine zentrale Rolle, die P ADEL in ihren Monographien In and Out of the Mind (1992) und Whom Gods destroy (1995) untersucht hat. Dies mit besonderem Augenmerk auf den explizit präsentierten Wahnsinn von Figuren wie Orest, Io, Aias oder Herakles. Bei Aischylos lässt sich für Xerxes, Eteokles, Agamemnon, Klytaimestra und Orest nachweisen, dass solch krankhaftes Aus-der-Bahn-Schlagen durch ein Übermaß des Affektes hervorgerufen wird, dass also ‚im Affekt’ gehandelt wird. Wird diese Interpretationslinie für die Verhältnisbestimmung zwischen Chor und Einzelnem verfolgt, so dürfte sich tragisches Handeln und Sichentscheiden der Einzelfiguren, welches vom Affekt diktiert wird, im seinerseits affektiven p£scein des Chores widerspiegeln. Beides zusammen aber offenbart den unnormalen, kranken Zustand der Gemeinschaft auf der Bühne. 234 Wenn nun der Chor seine Fixierung auf Wiederherstellung und Bewahrung der Ordnung erkennen lässt und diese Grundintention zum Beispiel in Beeinflussungsversuchen gegenüber einer dramatis persona - gegebenenfalls der saviour-Figur - artikuliert, so lässt sich hier mit dem interpretatorischen Terminus ‚Heilung’ operieren. Und wenn der Chor in seinen Äußerungen medizinische Metaphorik verwendet oder natürlich eine entsprechende Thematik (Wahnsinn, Miasma) behandelt, so lässt sich auch hieran die Spannung zwischen ‚Heilung’ und weiterer Verschärfung der tragischen Handlung ablesen. Der zentrale Begriff im Griechischen für Ordnung schaffendes und gewährleistendes Denken und Handeln ist swfrone‹n - „gesundes Denken“. Darauf, so wollen wir nun weiter postulieren, richtet der aischyleische Chor sein Hauptaugenmerk - und dorthin steuert er die Perspektive des Zuschauers. 234 Für das vom Einzelnen über die Gemeinschaft gebrachte Übel durch affektives, die Verstandeskräfte lähmendes Handeln vgl. in der Ilias Agamemnons Ate (bes. 19,86-94, so in v.88 fresˆn œmbalon ¥grion ¥thn (sc. ZeÝj, Mo‹ra, ''ErinÚj ) und v.93 ( ”Ath ) kat' ' ¢ndrîn k kr£ata ba…nei ) und in den Erga das ¢t£sqala mhcan£asqai (240). - Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist S OMMERSTEIN s (1996) Kennzeichnung der griechischen Kultur als einer „results culture“ (113), in der es auf das F a k t u m der Tat ankommt, auch wenn sie ‚im Affekt’, also insbesondere im Wahnsinn begangen wurde, und eine innere Disposition nicht als Entschuldigung gilt. <?page no="115"?> Zusammenfassung zum Vorgehen 101 7. Zusammenfassung zum Vorgehen Die Vorgehensweise für die Einzelinterpretationen sei zum Abschluss unserer methodischen Überlegungen noch kurz zusammengefasst. In Adaption der Vorschläge von Barner für einen rezeptionsästhetischen Ansatz zur Interpretation antiker Literatur haben wir zunächst das Untersuchungsfeld der Institution dargestellt: Den kulturellen Kontext des Chores in der song-anddance culture. Gearbeitet wurde hierbei mit dem Terminus Erfahrungshorizont, um die möglichen Wahrnehmungskriterien des Rezipienten auch hinsichtlich des tragischen Chores zu bestimmen; als diese wurden Gemeinschaft, Ordnung und Emotionen eruiert, auf deren Grundlage der Chor als Boden der Tragödie ein großes Identifikationspotential für den Zuschauer bereitstellt. In den Einzelinterpretationen gilt es nun darzustellen, wie sich diese drei Kategorien bei jedem der Chöre manifestieren, und zwar in allen Chorpartien. Hierbei muss vordringlich auf die innertextlichen Rezeptionsvorprägungen geachtet werden: Auf die Affekte des Chores, die als Indikatoren der sozialen Krise und zugleich als Rezeptionsvorgaben für den idealen, impliziten Zuschauer fungieren, der sympathetisch ins Geschehen einbezogen wird. Die vom Chor im lÒgoj explizit oder implizit dargebotenen, negativen und positiven Affekte sind das psychagogische Substrat, der ‚Köder’ für die gleichsam rhetorische Psychagogik und ‚Entführung’ des Zuschauers. Für diesen hat der Chor bei seinem Auftreten sowohl im inneren als auch im äußeren Kommunikationssystem von vornherein einen gewissen Vertrauensvorschuss. Sodann ist eine Verhältnisbestimmung zwischen dieser Affektdarstellung und den Reaktionen des Chores auf die ihn affizierende soziale Krise zu leisten. Die Reaktionen des Chores sowohl im unmittelbaren Kontakt mit den dramatis personae, worunter sich auch die für das Wohl der Gemeinschaft zuständige saviour-Gestalt befindet, als auch im autonomen Raum des Chorliedes sind immer in einer Beziehung zu sehen mit dem Aspekt der wiederzuerrichtenden oder zu bewahrenden Ordnung. Im Zuge dieser Verhältnisbestimmung zwischen Affekt und Reaktion des Chores ist durchgehend zu fragen, wie sich im Geschehensablauf die Rezeptionshaltung des Zuschauers konstituiert. Die auf eine ‚Heilung’ der Krise und auf eine Stabilisierung der Ordnung gerichtete Intention des Chores kann (aber muss keineswegs) signalisiert werden durch metaphorisches Vokabular aus den Vorstellungsbereichen ‚Krankheit’, ‚Gesundheit’ und ‚Heilung’. Was speziell das Chorlied betrifft, so ist hier, wo der Chor seine Fähigkeit zur Fokalisation der Zuschauerperspektive nutzt, stärker der Aspekt der Potentialität als der der Definitivität und Determiniertheit zu betonen: Früheres ist nicht in rein werkästhetischer Sichtweise im Vorausgriff auf Späteres zu erklären. Insofern rechtfertigt es sich, die Tragödie so zu untersuchen, wie sie der Zuschauer präsentiert bekommt, also in ihrem linearen Ablauf. <?page no="116"?> Die rezeptionsästhetische Methode 102 Daneben ist auf das äußere Erscheinungsbild des Chores zu achten. Seine Aussagen, Handlungsweisen und Affekte sind nicht unter der zwanghaften Annahme einer Einheit der Person mit einem bestimmten Ãqoj (das auch nicht psychoanalytisch zu untersuchen ist) zu erklären, da der offene Gruppen-‚Charakter’ des Chores und überhaupt sein Sonderstatus der Hypothese einer inneren Stringenz kat¦ tÕ e„kÕj À tÕ ¢nagka‹on und einem naturalistischen Verständnis widerstreben; und ebenso wenig braucht eigens nach Widersprüchen in der Verwendung des Chores gesucht zu werden. Für die Wahrnehmung seitens des Zuschauers ist die essentielle Qualität eines j e d e n Tragödienchores als corÒj der song-and-dance culture ebenso wichtig wie die jeweils akzidentielle Rollenidentität. Zum Beispiel handelt es sich bei einem Chor aus alten Männern gerade nicht einfach um alte Männer, die ‚zufällig’ in der fiktionalen Bühnenwelt singen und tanzen - sondern qua corÒj besteht stets ein enger Begründungszusammenhang mit dem Publikum. Es ist aber zweifellos von Bedeutung, welches soziale Segment Aischylos jeweils aus dem Gesamtverbund der Polis herauslöst, um es im Chor darzustellen. Hier muss auch immer die Beziehung des Chores zur jeweiligen Polis und zur large off-stage group bestimmt werden, die auch von Spannungen geprägt sein kann. Unsere Vorannahmen über die Handlungsbeteiligung und die Deutungsfunktion stützen sich auf das jeweils detailliert nachzuweisende Anliegen des aischyleischen Chores, die ihn affizierende Krise zu beseitigen und den tragischen Konflikt zu ‚heilen’. Nicht einfach spielintern als dramatis persona nimmt der Chor diesen Konflikt wahr und gestaltet dementsprechend seine Affekte und Reaktionen, ebenso wenig wie er für seine auf den Zuschauer bezogenen Deutungen zeitweise aus einer Rolle heraus- und danach wieder in diese hineinschlüpft: Der dezidierte Bezug auf den Zuschauer wird der Aufführungssituation und der Verwendung des Chores gerecht; er ist ein an der Handlung beteiligtes u n d deutendes Medium, das affiziert wird u n d reagiert. Alle Textzitate folgen der neuesten kritischen Ausgabe von W EST ; Abweichungen werden vermerkt und die Namen von Beiträgern textkritischer Entscheidungen in aller Regel direkt aus dem Apparat dieser Ausgabe ohne weitere Nachweise (die dann dem Index Criticorum bei W EST LVII-LXXIX zu entnehmen sind) übernommen. Zitate für die lyrischen Partien der Choephoren folgen der Ausgabe von S IER (1988). Nachweise für die Scholien sind gegeben nach der Edition von S MITH , für die dort nicht edierten Scholien zu den Persern nach der von D INDORF (beides jeweils mit Seitenzahl und Versangabe). Tragiker-Fragmente werden nach TrGF in der Form „F 395“ gegeben (das heißt für Aischylos nach Band 3 von R ADT ). Doppelte Anführungszeichen „ … “ markieren direkte Übersetzungen aus dem Griechischen (und natürlich Zitate aus der Sekundärliteratur). Zu beachten ist schließlich, dass für die Aufschlüsselung der Literaturangaben, gegeben nach dem Schema: ‚Autor (Veröffentlichungsjahr)’, im Literaturverzeichnis auch auf Unterpunkt ‚1. Ausgaben, Kommentare, Übersetzungen, Indices’ zurückzugreifen ist, vor allem wenn es sich um Hinweise aus den Kommentaren handelt. <?page no="117"?> 103 Z WEITER T EIL : E INZELINTERPRETATIONEN I. Perser 1. Der Chor der Perser: Die Inkorporation des ‚other’? Die singuläre Stellung der Perser, in denen Aischylos zeitgeschichtliche Ereignisse von höchster Relevanz für die Polis Athen nach nur acht Jahren verarbeitet, hat zu drei kontroversen Positionen in der Forschung geführt: Eine der Philologie des 19. Jahrhunderts entspringende, gewissermaßen chauvinistische Auffassung, die in den Persern ein ‚Schadenfreudestück’ sieht, in dem es letztlich nur um die Verherrlichung des athenischen Sieges gehe; 1 dann ganz im Gegensatz dazu eine vor allem nach 1945 etablierte Position, die unter Berücksichtigung des theologischen Gehalts auch dieser Tragödie den Persern eine von Mitleid und Verständnis getragene humanphilanthropische Aussage unterlegt, auch in Bezug auf den athenischen Zu- 1 Gleich mit Beginn der wissenschaftlichen Philologie schlägt sich diese Sichtweise in Editionen der Perser nieder, so in den Vorworten der Ausgaben von B LOMFIELD (1818), hier bes. XII, P RICKARD (1879), bes. XXVIII-XXIX, und S IDGWICK (1903); dann extrem etwa P OHLENZ (1954 - zuerst 1930) 62-64, der das „Hellenenvolk“ gegen die „Massen der zusammengetriebenen Barbaren“ ausspielt und gar noch den „Preuße[n] Kleist, hierin ganz dem Athener verwandt“ (63), und die Schlussworte des Prinz Friedrich von Homburg: „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs! “ als tragfähige Interpretationsparadigmata anführt. Vgl. weiter K RANZ (1933) 77f.; C LIFTON (1963) 113; S CHOTTLAENDER (1981) passim; M ICHELINI (1982) 115; G EORGES (1994) 76-114. Die einzelnen Meinungen sind selbstverständlich jeweils noch dahingehend zu differenzieren, ob auch der Philologe selbst zu einer entsprechenden ‚ideologischen’ Stellungnahme neigt. Immerhin kann sich diese Sicht auf die Rezeption bei Aristophanes Ran. 1026-29 berufen, wo Aischylos seine Leistung als Kriegsprotreptik herausstellt; die Reduzierung der Dareios-Szene auf ein vergnügliches Schau- und Hörspiel durch Dionysos, der sich am Jaulen ( „auo‹ ) des händeklatschenden Chores erfreut habe, sollte jedoch vor einer eindimensionalen Interpretation der Aristophanes- Stelle warnen. Für die verschiedentliche politische Inanspruchnahme der Perser seit dem 19. Jahrhundert bis hin zum Irakkrieg von 1991 sh. H ALL (1996) 1-3. - Zu dieser ersten, ‚patriotischen’ Position sei hier auch diejenige Forschungsmeinung gestellt, die nach einer tagespolitischen Einflussnahme des Aischylos sucht, nämlich um den im Jahre 472 in Bedrängnis gekommenen Sieger von Salamis, Themistokles, gegenüber Kimon zu rehabilitieren, und das unter der Choregie des jungen Perikles, so z.B. P ODLECKI (1966) 8-26. Zur Kritik an dieser politischen Interpretation, die sich - was grundsätzlich für die aischyleische Tragödie zu gelten scheint - immer nur auf recht dehnbare Aussagen im Text berufen kann, sh. P ELLING (1997) 9-11. H ALL (1996) 12 weist darauf hin, dass die Perser mit diesen methodischen Vorgaben auch ganz im Gegenteil ‚anti-themistokleisch’ gelesen werden können. Die Kontinuität der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Persien ist indes für die Deutung des Kommos am Ende wichtig. <?page no="118"?> Perser 104 schauer; 2 und drittens die in letzter Zeit favorisierte Meinung, dass in dieser Tragödie beides, der Sieg der demokratischen Polis Athen u n d das menschliche Leid der Perser, behandelt werde, womit durchaus unterschiedliche Zuschauerpositionen bedient werden könnten: Der natürliche Hass auf den Aggressor stehe dem Mitleid gegenüber, welche Eigenschaft im 5. Jahrhundert geradezu zu einem nationalen Stereotyp Athens stilisiert wurde und sich immerhin schon am Schluss der Ilias findet. 3 Diese ambivalente Interpretation der Perser baut auf den wegweisenden Studien von H ALL auf, die im Zuge des self-/ other-Diskurses in der Gräzistik vehement die These vertreten hat, dass sich im Medium der Tragödie, das zweifellos von zentraler Bedeutung für das Selbstverständnis der Polis Athen ist, durch die Darstellung eines rezeptionsästhetisch überwiegend erst zu erfindenden other - wie der Perser - ex negativo eine Selbstdefinition dessen, was ‚griechisch’ oder auch ‚athenisch’ sei, erfolge. 4 2 So schon D EICHGRÄBER (1941), der von einer „ sump£qeia des Zuschauers“ (178) spricht; B ROADHEAD (1960) sieht hierbei auch das aristotelische kaqÒlou verwirklicht: „[H]e has treated the Persians in much the same way as he would have treated the Greek in similar circumstances; from the particular he has distilled the universal.“ (XVIII); A LBINI (1967): „[Eschilo] guarda con pietà e pensosità alle vicende dei nemici ... c’è in lui la chiara consapevolezza di una sorte commune [.]“ (263); L ESKY (1972): „Kein Wort des Hohnes über den Gegner wird laut, seine Macht wird ebenso ernst genommen wie die Tragik seines Sturzes.“ (86); T HALMANN (1980): „Aeschylus depicts mortal suffering for a failing by no means limitated to Persians: arrogance bred by excessive wealth.“ (281); M EIER (1988), der von „Identifikation oder doch Sympathie mit denen, die da ... so schrecklich in ihr Leid verstrickt sind“ (83), und einer „wunderbare[n] Fairneß gegenüber dem Feind“ (91) spricht; S OMMERSTEIN (1996), der von „compassion“ für Xerxes - „not a bad man“ (96) - und Persien ausgeht. Weitere Positionen bei H UTZFELD (1999) 93. Grundsätzlich ist mit H ALL (1996) 16 die keineswegs banale Feststellung zu machen, dass es sich bei den Persern nun einmal um eine Tragödie mit allem, was dazugehört, handelt. 3 So P ELLING (1997): „As characters, particularly characters responding to disaster, the figures of Persae may invite audience engagement, association, perhaps even a form of identification; yet as Persians who are strongly differentiated from Greeks, they would seem to repulse any such emotional involvement.“ (13); dort 17f. Anm.75 die Stellenangaben zur athenischen Mitleids-Ideologie, vor allem bei den Rednern, 18f. zur Ilias. G OLDHILL (1988): „Aeschylus’ Persae seems to suggest that Greeks are victorious not only because of the gods, not only because of Persian hubris [sic], but also because of the values of democratic collectivity, embodied in Athens, as opposed to barbarian tyranny. … To write a kommos for a defeated enemy … is in itself a remarkable event [.]“ (193). Damit ergebe sich „a complex understanding of the recent events of Athenian history“ (ebd.) und eine Spannung zwischen „lauding of Athens and values that led to triumph, and the extensive mourning for the enemy victims of that triumph.“ (ebd.). Die ganze mögliche Bandbreite der Zuschauerreaktion spiegelt sich für G OLDHILL in den konträren Forschungspositionen. Vgl. auch G AGARIN (1976) 30-49 und H UTZFELDT (1999), der meint, dass „der Dichter dem Zuschauer sowohl für patriotisches Empfinden als auch für echt tragisches Mitgefühl Raum gibt“ (94). 4 Sh. H ALL (1989) mit dem programmatischen Titel Inventing the Barbarian: Greek selfdefinition through Tragedy. Entsprechende Überlegungen zur Selbstdefinition der Polis bei G OLDHILL (1986) 57-78. H ALL (1996) sieht dann in den Persern die Vermittlung von <?page no="119"?> Der Chor: Die Inkorporation des ‚other’? 105 Wenn freilich de facto alle diese Positionen ein solches other ins Zentrum ihrer Interpretationen gerückt haben, so hat diese Fixierung fast unisono dazu geführt, den Chor auf einer Ebene mit Xerxes, Dareios und Atossa implizit oder explizit - das heißt, sofern er eigens überhaupt Aufmerksamkeit findet - als eine weitere dramatis persona zu sehen. 5 Hierbei herrscht die Tendenz vor, den alten, königstreuen Persern die auch sonst in der Griechischen Literatur zu findenden Charaktereigenschaften des orientalischen Menschenschlages zuzuschreiben, wie despotenhörige Unterwürfigkeit, weibische Verweichlichung und schwankende Emotionalität. 6 Trotz der zeitgeschichtlichen, ja tagesaktuellen Bedeutung der Perser wurde noch zu wenig die Grundannahme gemacht, dass dieser Chor - gerade auch im Gegensatz zu den drei Mitgliedern der Königsfamilie - durch seine doppelte, simultane Verfasstheit als Personengruppe u n d als ritueller corÒj der Lebenswelt einen Boden bilden kann, auf dem der athenische Zuschauer das persische Susa und darüber hinaus den Raum des Genos Tragödie betreten kann, das per se einen theologischen Gehalt hat. Mit diesen interpretatorischen Vorgaben ist, im Anschluss an die von G OLDHILL und P ELLING für möglich gehaltene Auffassung einer ambivalenten Aussageintention der Tragödie, zu erwarten, dass auch seitens des Chores, der zwar ‚fremd’ und nicht-griechisch, aber zugleich doch immer der Bürgerchor der Polis Athen ist, die Doppeltheit von self und other gerade im Bezug auf den Zuschauer zum Tragen kommt - dieser aber wird einer Affektstimulation ausgesetzt. Hierbei, so sei unsere These formuliert, richtet sich die Grundintention des Chores auf eine Bewältigung der durch Xerxes verursachten sozialen Krise, eine Wiederherstellung der Ordnung, woraus eine versöhnliche Darstellung im Sinne der conditio humana erwächst. „patriotic pride“, „ethnic superiority“ und einen „thrill of victory“, der kollektivpsychologisch einen „exorcism of their [der Athener] own psychological pain“ (19) angestrebt habe, womit H ALL deutlich der älteren Auffassung einer ‚patriotischen’ Lesart zustrebt. 5 Vgl. exemplarisch S CHENKER (1991) 168-223, der insgesamt einen in sich konsistenten Charakter des Chores zu beweisen versucht, dabei aber durchweg eine ‚humane’ Interpretation der Perser vornimmt. 6 So H UTZFELDT (1999) 45-47 und 69-72; ferner, in einem süffisanten Tonfall, der Althistoriker G EORGES (1994) 89 und 101-09, dem es beim Chor ingesamt darum geht, ein psychologisches Charakterbild geistig minderbemittelter Sklaven nachzuweisen. Vgl. weiter S CHNYDER (1995) 46. 2. Zur Anlage des Chores: Ritueller corÒj und Bewahrer Persiens Ein leitendes Prinzip für die Wahl eines Chores alter Perser war für Aischylos die Gegenüberstellung der positiven Regierung des Altkönigs Dareios und der katastrophalen Lage nach dem Entschluss des jungen Xerxes, den <?page no="120"?> Perser 106 Hellespont zu überbrücken und gegen Griechenland zu Land und zu Wasser Krieg zu führen. Als eine Art Kronrat üben die engen Vertrauten, die f…loi schon des alten und jetzt des neuen Königs (und Atossas), während der Abwesenheit von Xerxes die Regierungsgeschäfte aus. Seine Identität evoziert der Chor sofort in den ersten Versen, was in den erhaltenen Stücken des Aischylos eine Ausnahme ist: T£de m n Persîn tîn o„comšnwn `Ell£d' ™j a an p pist¦ kale‹tai kaˆ tîn ¢fneîn kaˆ polucrÚswn ˜˜dr£nwn fÚlakej, kat¦ presbe…an oÞj aÙtÕj ¥nax Xšrxhj basileÝj Dareiogen¾j e†leto c cèraj ™foreÚein: (1-7) Diese noch öfters anklingende Funktion als Bewacher und Bewahrer persischer Königsmacht, 7 der der athenische Zuschauer ohne weiteres von vornherein Verständnis und Aufmerksamkeit entgegenbringen dürfte, lässt erwarten, dass sich im weiteren Verlauf des Stücks entsprechende Verhaltensweisen zeigen. Die ( xun)¼likej des Dareios (681, 784, vgl. 914) haben eine enge Beziehung zum verstorbenen König und verankern so die Gegenwart in der Vergangenheit - aber auch die Zukunft muss ein solcher ‚Aufseher-Chor’ im Auge behalten. Damit lässt sich schon eine grundsätzliche Fixierung dieses Chores auf Ordnung und ‚Heilung’ vermuten, die auch mit einer entsprechenden Handlungs- und Deutungskomponente verbunden sein sollte. Mit diesem vorläufigen Ansatz ergibt sich bereits ein Erkenntnisfortschritt selbst gegenüber den Auffassungen, die auch ohne Fixierung auf das persische Kolorit einer dramatis persona die einheitsstiftende Funktion des Chores für den Zusammenhalt des Stückes erkennen. 8 Und akzeptiert man die Tatsache, dass der durchschnittliche athenische Zuschauer ein vitales Bedürfnis nach Ruhe und Sicherheit hat, gerade nach der massiven Bedrohung in den Perserkriegen, 9 so dürfte dieser Chor ein sympathetisches Potential für das Publikum bereitstellen. 7 ghralša pistèmata (171), pist¦ pistîn ¼likšj q' ¼bhj ™mÁj (681, Dareios), pisto‹si pist¦ xumfšrein bouleÚmata (527); für die Bezeichnung als f…loi sh. 162, 206, 231, 445, 598, 619, 674, 702. Vgl. D EICHGRÄBER (1941) 192f. zum entsprechenden griechischen Konzept der treuen Alten; verfehlt K IERDORF (1966), der im Chor der Perser „keine feste politische Funktion“, sondern nur das reagierende „Publikum auf der Bühne“ (60) sieht. 8 So S NELL (1928), für den die Einheit der Tragödie im „anschwellenden und schließlich sich erfüllenden fÒboj “ (67) liegt; K RANZ (1933), der im Chor ein „volltönendes Instrument“ sieht, das dem Geschehen „Kraft und Resonanz“ (167f.) verleiht; B ELLONI (1994), der jedoch das Einwirkungspotential des Chores zu niedrig ansetzt: „Organo permanente nella tragedia, non usufruisce di un potere effettivo, ma è presenza scenica costante nel rendersi interprete di un cosmo.“ (74); in anderem Sinn auch F ÖLLLINGER (2003) 279-82, für die der Chor primär dazu dient, Vergangenheit und Gegenwart voneinander abzuheben. 9 Sh. B UDELMANN (2000) 205. <?page no="121"?> Ritueller corÒj und Bewahrer Persiens 107 Die Selbstvorstellung des Chores hat zwei Auffälligkeiten: Zum einen erfolgt sie gleich in den allerersten Versen der Parodos - im Unterschied zu den Septem, zum Agamemnon und zu den Choephoren, aber ähnlich wie in den Hiketiden und den Eumeniden. Die Chöre der Perser, Hiketiden und Eumeniden sind zweifellos ‚fremder’ als die der anderen drei, von Anfang an im Inneren einer griechischen Polis spielenden Stücke, so dass die Vermutung nahe liegt, dass auch in den Persern die - relativ gesehen - fremdere Identität des Chores von vornherein eindringlich sichergestellt werden soll. Zum anderen spricht der Chor hier nicht von sich in der Ersten Person, sondern nimmt eine deutliche Distanzhaltung zu sich selbst ein: „Das hier ( T£de ) werden die Getreuen genannt …“. Vergleicht man hiermit die ‚fremden’ (und zugleich weiblichen) Chöre der Hiketiden und Eumeniden, so fällt dort sofort eine starke Bezugnahme auf das eigene Ich auf. 10 Der Chor der Perser hingegen spricht erst v.114, und hier bezeichnenderweise in Bezug auf seinen eigenen starken fÒboj , wirklich von sich selbst ( moi ). Wenn das allererste Wort der Tragödie das deiktische Pronomen t£de ist, so ist dies nicht nur ein selbstreferentieller Hinweis eines Theaterchores auf sich selbst und das hic et nunc der Aufführung, was bereits an sich bemerkenswert ist, sondern der Zuschauer wird auch darauf hingewiesen, dass die athenischen Choreuten und Mitbürger hier diese alten Perser spielen und darstellen. Gerade das ‚Ich’ des tragischen Chores, also seine Rolle im jeweiligen Stück, hatten wir im Zuge der Gattungsgenese als den wesentlichen Unterschied zu dem noch rein narrativen Dithyrambos herausgestellt, weil sich damit, vermittels der Deskription des eigenen psychosomatischen Innenlebens, ein starkes Identifikationspotential für den Zuschauer aufbauen kann. Die zumindest im Spektrum der erhaltenen Tragödien des Aischylos offenkundig ungewöhnliche s o f o r t i g e Evokation der eigenen Identität, der aber andererseits der Aussagegestus der Ersten Person wieder abgeht, wirkt wie eine vorsichtige Annäherung an das, was da auf der Bühne geboten wird - eine Annäherung nicht nur der athenischen Zuschauer an die Angehörigen des Feindvolkes, sondern auch der Choreuten selbst, die sich gleichsam über die von ihnen gespielte Identität erst vergewissern müssen. Von der Rolle des Chores und der Anlage des Plots her betrachtet korrespondiert diese Distanzhaltung außerdem mit der Tatsache, dass die konservativen Regierungsberater nicht unmittelbar, das heißt in Leib und Leben bedroht sind von den tragischen Ereignissen, etwa im Unterschied zu den Chören der Septem und der Hiketiden. Damit ist eine durchgehend reflektierende, beobachtende und beurteilende Haltung möglich, die allgemeingültiges und nicht mehr unbedingt spezifisch persisches Gedankengut an den Zuschauer übermitteln kann. Und doch wird auch die immense emotionale Bedeutung dieser nationalen Katastrophe Persiens ständig eingeblendet - indem hinter dem Chor die large off-stage group des eigenen Landes sichtbar ist 11 und eine allgemeinmenschliche Perspektive eröffnet wird. Und obwohl die Wahl gerade dieses Einfluss nehmenden Kronrat-Chores einen durchgehenden politischen Unterton geradezu notwendig macht, die der von uns vertretenen These einer ‚Heilungs’-Intention des aischyleischen Chores in 10 Vgl. Hik. 2, 5, 16, 20 u.ö.; Eum. 143f. gleich anfangs ™p£qomen ... ™gè . 11 F ÖLLINGER (2003) 282 und S CHENKER (1991) 171 und 183f. weisen auf einen Simultancharakter dieses Chores hin: Die aristokratischen f…loi des Monarchen sind immer auch die Repräsentanten von Volk und Gemeinschaft. <?page no="122"?> Perser 108 Bezug auf die ihn jeweils umgebende Gemeinschaft entgegenkommt, 12 darf diese Charakterisierung auch aus einem weiteren Grund nicht allein auf eine dramatis-persona-Interpretation hin verengt werden: Die Ich-Aussagen dieses Chores, deren anfängliches Fehlen schon eine Auffälligkeit ist, finden sich im weiteren Verlauf sehr häufig in Gestalt der typischen selbstreferentiellen Verweise auf die momentane chorische, rituelle Tätigkeit des Singens und Tanzens, in diesem Stück vorwiegend in Form der Klage. 13 Damit aber wird für den Zuschauer ständig deutlich, dass es doch auch ‚sein’ Chor ist, der da das Klageritual in der chorischen performance aufführt, mithin auch wieder ein griechischer Chor, der in persischem Gewand ( pšploi , 1060) und mit Masken mit grauen Bärten (1056) singt und tanzt. Der Chor der Perser besitzt also mehrere, gleichrangige Merkmale: Er ist als Segment der Gemeinschaft der konservative, aristokratische Kronrat in Susa, der auch noch die Generation von Dareios vertritt; als Boden der Tragödie repräsentiert er ganz Persien, insbesondere auch die Kriegerwitwen, und fungiert als Zeuge der historischen Ereignisse; er äußert Affekte angesichts des Geschehens (was nicht notwendig zu den ersten beiden Merkmalen gehört); und er ist ein corÒj der griechischen song-and-dance-culture. Mit dieser Vielfalt baut der Chor für den Zuschauer ein sympathetisches Potential auf, vor allem auf der menschlichen Erfahrungsebene der Affekte: Besorgnis, Angst, Sehnsucht, Trauer, Schmerz. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass Publikum und Chor auf einem gemeinsamen Boden stehen, sind die zahlreichen expliziten Hinweise auf die persische Polis Susa ( pÒlij , pÒlisma , ¥stu ) und deren Bürger in Gestalt des Chores ( pol‹tai , ¢sto… ). Damit wird in der fiktionalen Welt des Stückes in überaus deutlicher Form ein Spiel-Raum gebildet, in dem sich auch der Bürger Athens, das ebenfalls ausdrücklich als pÒlij bezeichnet wird (233, 347, 348, 895), zuhause fühlen kann. 14 Aufgrund der Vielschichtigkeit der Zeichnung des Chores, der ohne- 12 In diesem Zusammenhang bemerkt F ÖLLINGER (2003) 252 in Übereinstimmung mit unseren Überlegungen (sh. unten S.157f.), dass es zum Beispiel in den Septem die eigentlich doch völlig unpolitischen Jungfrauen seien, die Eteokles zu beeinflussen versuchten, weil sie die ganze Gemeinschaft repräsentierten. Andererseits besteht bei F ÖLLINGER auch wieder die Gefahr einer reinen Rolleninterpretation, wenn der Chor einfach „die Generation des Dareios repräsentiert“ (ebd.). 13 k¢gè ... °dw (546f.), ¹me‹j q' Ûmnoij a„thsÒmeqa ( 625), à ·' ¢ ei mou ( 634), diabo£sw ( 638), sšbomai (694-96, kultische Proskynese), d…omai (699-701, ebenso), pšmyw ... „ac£n (940), ¼sw sc. aÙd£n (944), kl£gxw ( 947), bÒa kaˆ p£nt' ™kpeÚqou (955, Selbstaufforderung), dia…nomai 1047, tšggomai 1065, pšmyw to… se dusqrÒoij gÒoij 1077. 14 ¥stu tÕ Persîn (15), pÒlij (118), mšg' ¥stu Sous…doj (119), tÕ Kiss…wn pÒlism' (120), oÙc ØpeÚqunoj pÒlei (213), pÒlei (219), auch gÁj 'As…doj pol…smata (249), pÒlin Persîn (511f.), poli»taij (556), pÒlij (682), st£sij pÒlei (715), SoÚswn ¥stu (730), tÒd' ¥stu SoÚswn (761), pÒlei (781), ¢stîn (914), pÒlewj (946), und markant am Ende kat' ¥stu (1071). Vgl. auch im Eroberungskatalog pÒleij (864, 891). - Zur Skene sh. H ALL (1996) 118f.: Das v.141 erwähnte stšgoj kann eine Art Versammlungsgebäude in der Nähe des Grabes von Dareios sein, zwar in der Stadt, aber etwas vom Königspalast entfernt. <?page no="123"?> Ritueller corÒj und Bewahrer Persiens 109 hin aus fÚlakej besteht, ist dessen Intention, die Ordnung Persiens wiederherzustellen, für das Publikum vollauf nachvollziehbar. Denn dieselbe Erschütterung hat Athen wenige Jahre zuvor selbst schmerzlich empfinden müssen, womit eine (wenn auch nicht unbedingt homogene) Verständnisebene beim Publikum hergestellt wird: Der zuvor realiter selbst empfundene fÒboj wandelt sich, so könnte man in aristotelischer Terminologie sagen, zum œleoj für die in der fiktionalen Welt um ihr Land fürchtenden und leidenden Perser. Voraussetzung hierfür ist das Gefühl einer eigenen sicheren Position, die generiert wird sowohl durch das tatsächliche Überleben der existenziellen Bedrohung durch den Perserangriff als auch, im Theater, durch die Distanzhaltung des Zuschauers beim Betrachten eines mimetischen Aktes (wobei sich diese Mimesis wiederum auf eine Realität zurückbezieht, die nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit in der in den Persern imaginierten Form im Jahre 480 in Susa existiert hat). 15 Die Perser stellen mit ihrem Chor wohl, wenn man eine Wertung abgeben möchte, einen Fortschritt dar gegenüber den ebenfalls die Zeitgeschichte behandelnden Vorgängertragödien des Phrynichos, den Phoinissai von 476 mit einer wohl überwiegend passiven, bloß auf die schon von Anfang an bekannte Katastrophe antwortenden Klage eines Frauenchores, 16 und der Mil»tou ¤lwsij von vermutlich 492 mit den für den Dichter bekannten negativen Folgen aufgrund der Darstellung von o„k»ia kak£ . 17 Solches „eigenes Leid“ verarbeiten freilich auch die Perser, aber in einer ganz anderen Weise, die auch auf eine Stellungnahme des Aischylos zur Zeitgeschichte abheben dürfte. Die für die Perser so wichtige Opfer- und Beratungsthematik, die mit der Dareios-Szene den dramatischen Höhepunkt des Stückes produziert, ist möglicherweise von den Phoinissai geerbt, wo vielleicht im Zuge der Meldung der Katastrophe eine Beratung einsetzte und segenheischende Opfer dargebracht wurden, 18 die per se - aus dem allgemein-menschlichen Glauben an die Wirksamkeit von apotropäischen Ritualen heraus - eine Art Einwirkungs- und Heilungsversuch darstellen. Aischylos aber dürfte vermittels seines fÚlakej -Chores auch in Bezug auf diesen thematischen Komplex eine bedeutende Innovation vorgenommen haben, mit der sich eine Tragödie nun nicht mehr nur in der Perspektive ex 15 P ELLING (1997) konstatiert zwar die Ähnlichkeit der tatsächlichen negativen Erfahrung der Polis Athen im Jahre 480 und der in den Persern dargestellten der Polis Susa (respektive ganz Persiens), folgert daraus aber „different audience responses“ (16), teils als Schadenfreue, teils als Mitgefühl. Dieses Ähnlichkeits-Argument geht zurück auf R OSENBLOOM (1993), dessen - von Phrynichos ausgehenden - Ausführungen zu œleoj und fÒboj in der Relation von ‚eigen’ und ‚fremd’ (166f.) beherzigenswert sind. 16 Es handelte sich wohl um die Witwen der auf persischer Seite bei Salamis kämpfenden Phönizier (sh. TrGF I, 3 F9 (Femininum prolipoàsa ) und H ALL (1996) 7). 17 Sh. oben S.84. 18 So M ICHELINI (1982) 130f. Am Anfang der Phoinissai sprach ein Eunuch den Prolog und richtete offenbar die Sitze für eine Beratung mit dem König her (TrGF I, 3 F8), weswegen man in der Forschung auch die merkwürdige Reihentitulatur eines Stücks des Phrynichos: D…kaioi À Pšrsai ÀÀ SÚnqwkoi darauf zu beziehen versucht. <?page no="124"?> Perser 110 eventu (wenn auch mit starken Affekten des Chores) erschöpft, sondern Beratung und Opfer nun in den Begründungszusammenhang von Affekt und Reaktion des Chores eingeordnet werden. Die Bemerkung bei Plutarch, Phrynichos und Aischylos hätten die Tragödie e„j mÚqouj kaˆ p£qh verfortschrittlicht, ist wohl gerade auf diese Epoche ganz spezieller Tragödienproduktionen in Athen zu beziehen. Gerade die p£qh aber, die eine wesentliche Weiterentwicklung für das Genos Tragödie bedeuteten, brauchen dann nicht notwendigerweise nur in Bezug auf eine typisch nicht-griechische Emotionalität eines verweichlichten Altmänner-Chores der Perser ausgedeutet zu werden: 19 Die Erwartungshaltung des Zuschauers richtet sich beim Betreten des Theaters von vornherein auf typisch chorische Elemente, auf Gesang, Tanz und Affekte. Dass es sich dann beim Chor um Angehörige des verhassten Kriegsgegners handelt und die als Pšrsai angekündigte Tragödie mitten in der Polis des Feindes spielt, ist ein Überraschungseffekt erster Güte. Gewiss hat Aischylos einiges aufgewendet, um eine fremdartige, orientalische Atmosphäre, auch beim Chor, zu erzeugen - doch ist diese asiatische Kultur in den Persern durchsetzt von griechischen Elementen, unter denen Zeus als Bestrafer menschlicher Hybris eine zentrale Bedeutung hat. 20 Außerdem muss, trotz mancher Unwägbarkeiten im Einzelnen, ein unverrückbares Faktum zumindest beachtet werden: Bei den Persern handelte es sich nicht um eine isoliert dargebotene Tragödie, sondern um lediglich eines von vier Stücken einer Tetralogie, die im Phineus und im Glaukos Potnieus (möglicherweise als dem ersten und dem dritten Stück) wohl ebenfalls die gängige Hybris-Thematik behandelte - sicher auch die geeignete Materie für eine komische Umsetzung im Satyrspiel Prometheus Pyrkaios. 21 Insofern hat- 19 Die ‚Verteidigung’ der exzessiven, scheinbar so unmännlichen Klage des Xerxes etwa durch P ELLING (1997) 14 gegen diejenigen Interpretationen, die hier, auch aufgrund der Beschränkung öffentlicher Klage in Athen durch Solon, ein tiefgreifendes Befremden des Zuschauers behaupten (sh. die Hinweise bei H ALL (1996) 169), lässt sich somit auch auf den Chor ausdehnen; vgl. auch E LSE (1977), der das Klageritual der alten Perser mit dem der „perfectly good Greeks“ (78) der Septem vergleicht. 20 Für griechisches Gedankengut sh. P ELLING (1997) 15. Weiter zu nennen ist die Zitierung griechischer Mythologeme wie Perseus und Danae (145f.) und Helle (70, 799) sowie, neben Zeus (532, 762, 827, 915), die Nennung von Gottheiten wie Phoibos (206), Hermes (629), Hades (649f.) und Poseidon (750). Insgesamt kann mit V OGT (1972) von einer ‚Hellenisierung’ der Perser ausgegangen werden (gegen G EORGES (1994), sh. oben Anm.1). Die Verlegung des Stücks nach Susa, in den fabulösen, wissenschaftlich noch kaum erforschten Osten, kann als eine Art Mythisierung der zeitgeschichtlichen Gegenwart gedeutet werden, so dass Aischylos dem Zuschauer insofern entgegenkam, als dieser ‚mythologische’ Stücke als den Normalfall kannte. Zum Verhältnis von historischen und mythologischen Stoffen in der Tragödie sh. H ALL (1996) 7-10; zu Tradition und Innovation in den Persern sh. F ÖLLINGER (2003) 286f. 21 M OREAU (1993) verficht einen inneren Zusammenhang der Stücke und präsentiert insgesamt acht Vergleichspunkte, darunter Hybris, Bestrafung, Orakel und den Argonautenmythos (136). M ELCHINGER (1979) 12 vermutet als Grundthema der Tetralogie sogar den Ost-West-Gegensatz. <?page no="125"?> Ritueller corÒj und Bewahrer Persiens 111 ten die Perser bei ihrer Aufführung vielleicht gar nicht die Sonderstellung, die dem Stück in der Neuzeit beigelegt wird. 3. Sorge, Zuversicht und Angst vor der Katastrophe 3.1 Die affektive Ambivalenz bei Chor und Zuschauer in der Parodos und die Unausweichlichkeit des Tragischen Nach der also bestimmte Auffälligkeiten enthaltenden Selbstvorstellung des Chores bekommt das Publikum sowohl in den Anapästen (1-64) als auch in den fünf lyrischen Strophenpaaren der Parodos (65-139) einen geradezu intimen Einblick in das bange Warten auf Neuigkeiten im persischen Susa. Im Innenraum des Theaters, der zugleich den Kernbereich Persiens darstellt, warten Chor und Zuschauer auf Nachrichten von ‚draußen’. Das Schwanken zwischen den polaren Affekten Sorge und Angst auf der einen und Zuversicht auf der anderen Seite in dieser labilen Anfangssituation ist typisch für einen aischyleischen Chor, so dass davon nicht zwangsläufig auf eine emotionale Wankelmütigkeit persischer Männer zu schließen ist. 22 Phrynichos, in dessen Phoinissai der Ausgang der Schlacht von vornherein feststand, hatte noch einen Prolog verwendet, in dem ein Eunuch - das heißt eine rein in der fiktionalen Welt aufgehende, auch typisch orientalische dramatis persona - sprach. Hingegen der unmittelbare Einsatz mit der Parodos, die umfassende Möglichkeiten einer stark affektiven Darstellung bietet, setzt die Weiterentwicklung der Tragödie e„j mÚqouj kaˆ p£qh fort, denn zumal für Spannungssteigerung ist dieser Auftakt perfekt geeignet. Gleich zu Beginn spricht der Chor von seinem psychosomatisch lokalisierten unguten Gefühl, ohne sich aber - in Fortsetzung der von Anfang an zu beobachtenden Distanzhaltung - auf seine eigene Person zu beziehen. Der Affekt als solcher scheint wichtiger zu sein als die Charakterisierung: ¢mfˆ d nÒstJ tù basile…J kaˆ polu£ndrou strati©j ½dh kakÒmantij ¥gan Ñrsolope‹tai qqumÕj œswqen. p©sa g¦r „scÝj 'Asiatogen¾j o‡cwke, nnšon d' ¥ndra baäzei ktl. (8-13) qumÒj ist auch hier „die physische Seite der Seele, nach außen sich offenbarend“ 23 , die als eine Aufwallung den Sprecher erfasst und das bestimmende Movens für die ganze Parodos, in der dem Zuschauer Informationen vermittelt werden, zu sein scheint. Diese Stimulation wird hervorgerufen durch externe, unbeeinflussbare Ereignisse: Das hinterszenisch schon reale Unheil 22 Man vergleiche die Parodoi der Septem, der Hiketiden und besonders des Agamemnon, wo die Alten von Argos ebenfalls Sorge ( mšrimna, front…j ) um das Heer zeigen, aber doch auch Hoffnung ( ™lp…j ) hegen (Ag. 99, 102). 23 S CHMIDT (1879) III 624; für weitere Diskussion sh. ebd. 552 und 556 sowie P ADEL (1992) 27-30. <?page no="126"?> Perser 112 bricht sich in dieser Ahnung seine unausweichliche Bahn, wie der Zuschauer seinerseits vermuten kann. 24 Der Grund für diese Unruhe liegt nicht nur in der faktischen Abwesenheit von Heer und König, sondern auch in der Beschaffenheit beider: Materielle Stärke und jugendlicher Überschwang sind die beiden Grundpfeiler tragischer Verfehlung in den Persern. Darüber beschleicht den Chor ein gewisses Unbehagen. Im Folgenden versucht sich der Chor jedoch gerade durch die Evokation der gewaltigen Truppenmacht selbst zu beruhigen: Durch die epische, katalogartige Aufzählung der gewaltigen Kriegsmacht ganz Asiens vermittelt er sich autosuggestiv die Hoffnung auf ein Gelingen des Feldzuges; im anapästischen Einmarsch in die Orchestra schwingt noch etwas vom Auszug des Heeres mit. Der auf die Feinde in der Vorstellung des Chores hervorgebrachte Eindruck durch dieses Heer wird dabei im Vokabular des Affektiven vermittelt: Die Junkturen foberoˆ „de‹n (27) und fober¦n Ôyin prosidšsqai (48), auch die Vokabel deinÒj (27, 40, 58), siedeln den erwünschten Erfolg und damit auch die Aufhebung der eigenen, ‚persischen’ Sorge in der präsumptiven Angst des Gegners an - genau das aber hat viele athenische Veteranen im Theater an ihren eigenen fÒboj beim Anblick der persischen Flotte und des Riesenheeres bei Artemision, deren Präsenz sich den Griechen nach Herodot par¦ dÒxan eingestellt hatte, erinnert: 25 Jetzt aber hört der Zuschauer, dass auch die Perser in ihrer Heimat besorgt sind (so die dichterische Darstellung), da ihnen ihrerseits die Dinge vielleicht par¦ dÒxan ausgehen können. Die Erinnerung an die eigene Ôyij durch die Evokation und Imagination dieser gewaltigen, fremdartigen Truppenmacht ( plÁqoj t' ¢n£riqmoi , 40) nach Art des evidentia-Verfahrens wird aber auch acht Jahre danach zugleich ein Gefühl des erhabenen Stolzes angesichts des eigenen Sieges par¦ dÒxan hervorgerufen haben. Somit ist nicht nur die bipolare Affizierung des Chores (Angst versus Zuversicht) ambivalent, sondern auch die Rezeption dieses Tragödienauftaktes durch den Zuschauer. Abgeschlossen wird der Truppenkatalog mit der zusammenfassenden Feststellung, die Blüte Persiens sei fort, und das ganze Land sehne sich nach ihr: toiÒnd' ¥nqoj Pers…doj a‡aj oo‡cetai ¢ndrîn, oÞj perˆ pp©sa cqën 'AsiÁtij qršyasa p pÒqJ stšnetai malerù, tokšej t' ¥loco… t' ººmerolegdÕn te…nonta crÒnon ttromšontai. (60-64) 24 B ROADHEAD (1960) spricht von der „prophetic soul“ (39) des Chores und verweist auf die kard…a ter£skopoj des Chores in Ag. 977 sowie auf Eur.Andr. 1072. Hinzuzufügen ist (neben Apoll. Rhod. 3,936) Sept. 722f. kakÒmantin ... 'ErinÚn . 25 TÒte d oátoi oƒ kaˆ ™p' 'Artem…sion `Ell»nwn ¢pikÒmenoi æj e don nšaj te poll¦j katacqe…saj ™j t¦j 'Afštaj kaˆ stratiÁj ¤panta plša, ™peˆ aÙto‹si par¦ dÒxan t¦ pr»gmata tîn barb£rwn ¢pšbaine À æj aÙtoˆ katedÒkeon, katarrwd»santej drhsmÕn ™bouleÚonto ¢pÕ toà 'Artemis…ou œsw ™j t¾n `Ell£da (Her. 8,4f.). <?page no="127"?> Sorge, Zuversicht und Angst vor der Katastrophe 113 Die Vokabel ¥nqoj versinnbildlicht zunächst den ungeheuren Bevölkerungsreichtum Persiens, aber gerade dieses materielle Zuviel ist die Voraussetzung für Hybris, deren aufgeblühte Üppigkeit von Ate abgemäht wird: Vielleicht hat der athenische Zuschauer hier Solons Vers ¥thj ¥nqea fuÒmena (Sol. 3,35 D) im Gedächtnis. Immenser Reichtum und sein Vergehen - o‡cesqai ist insofern ambivalent, wenn es zunächst noch das bloße „Weggehen“ bezeichnet - ziehen sich leitmotivisch durch das ganze Stück: Die örtliche Abwesenheit verwandelt sich in physische Vernichtung. 26 Die angsterfüllte Atmosphäre drängt jedoch auf eine so oder so geartete Auflösung: Eltern und Frauen zittern pÒqJ malerù (62, vgl. 134f.) im allmählichen, unerbittlichen Fortschreiten der Zeit Tag um Tag um ihre Lieben und sind doch, so wie der Chor im hic et nunc und wie das Publikum, zur Passivität verurteilt. Hier erscheint erstmals die large off-stage group hinter dem Chor als Boden dieser Tragödie (wobei nicht etwa die orientalische Verweichlichung alter Männer thematisiert würde). Eine chauvinistische, pro-athenische Aufarbeitung der Perserkriege hätte Aischylos ganz anders angehen müssen: So aber erweckt seine Schilderung des persischen pÒqoj , des Affektes Sehnsucht (vgl. weiter 512, 548f., 929) Mitgefühl auch beim Gegner. 27 Nach den Anapästen wechselt der Chor zunächst in den Ioniker, das typisch orientalische und in den Persern immer wieder auftretende Versmaß, das dem Zuschauer zunächst als ein äußerlich fremdartiges Gefäß für die Äußerungen des Chores erschienen ist, so wie dessen Kleidung fremd ist. 28 Wird dem Publikum zunächst (65-92) das wohl für b e i d e Kriegsparteien schier unglaubliche Jahrhundertunternehmen der Überquerung des Hellespont anschaulich vor Augen gestellt, so geht es anschließend (93-113) auf einer allgemeineren Ebene um das, was jeden, auch den Nicht-Perser, treffen kann: Die Selbstüberhebung des Menschen und sein zwangsläufiges Scheitern. Die Überbrückung und ‚Knechtung’ des Hellespont ( zugÕn ¢mfibalèn , 72) bringt den Chor, nachdem am Ende der Anapäste schon ein emotionaler Tiefpunkt erreicht worden war, zu weiterer grüblerischer Unruhe, weil Xerxes dabei wortwörtlich auf wackeligem Boden steht (69-72; vgl. 112f.). Doch erneut setzt der Chor den Mechanismus der auf dem Affekt Zuversicht fu- 26 Vgl. 250-52 (Bote): ð Persˆj a a kaˆ ppolÝj ploÚtou lim¾n / æj ™n mi´ plhgÍ katšfqartai polÝj / Ôlboj, tÕ Persîn d' ¥¥nqoj oo‡cetai pesÒn und 755f. (Atossa über die schlechten Berater): ploàton ™kt»sw sÝn a„cmÍ, tÕn d' ¢nandr…aj Ûpo / œndon a„cm£zein, patrùon d' Ôlbon oÙd n aÙx£nein . Für den Ausdruck der Abwesenheit durch o‡cesqai vgl. 1 und 13 gegenüber 546 und 916f. Eine subtile Untersuchung dieser Motivik, zu der auch der ständige Gegensatz von ‚voll’ und ‚leer’ gehört (vgl. 40, 119, 123f., 235, 272, 334, 342, 352, 413, 420f., 429f., 432, 477, 549, 718, 730, 761, 803f., 923f.), hat W INNINGTON -I NGRAM (1983) 198f. vorgenommen. 27 Wie M EIER (1988) bemerkt, konnten Trauer und Klage (die später im Stück faktisch wird) „in jeder griechischen Stadt fast genauso passieren“ (84). 28 Vgl. S COTT (1984) 155 und H ALL (1996) 113. Weitere Verwendung des Ionikers in der Nekromantie (633-71), vor Dareios (694-702) und im Kommos (950-73). <?page no="128"?> Perser 114 ßenden Selbstberuhigung in Gang. Dem gewaltigen Ansturm unter Führung des qoÚrioj ¥rcwn (74), des „sÒqeoj fèj (80), könne niemand widerstehen: dÒkimoj d' oÜtij Øpost¦j meg£lJ ·eÚmati fwtîn Ñcuro‹j ›rkesi e‡rgein: ¥macon kàma qal£ssaj. ¢prÒsoistoj g¦r Ð Pers©n stratÕj ¢lk…frwn te laÒj. (87-92) Keiner sei dÒkimoj , erprobt und bewährt, dass er sich dem Lindwurm des Heeres mit dem blutgierigen Schlangenblick (81f.) entgegenstellen könne. 29 Mit einer auf Empirie beruhenden Gnome, die dem Zuschauer die eigentlich normale Gesetzmäßigkeit des Vorganges nahebringt, erzeugt der Chor hier autosuggestiv Zuversicht, wobei kontrastiv wieder auf die ‚griechische’ Angst rekurriert wird. 30 Der Landkrieg sei den Persern nämlich ( g£r ) von der Moira zugestanden, hier waren sie bisher erfolgreich (102-04). Aber ( œmaqon d' , 109) - dies ist der neue, problematische Punkt der Kriegführung, der den Chor nunmehr bis zum Ende der Parodos affektiv nur noch ins Negative zieht - sie „lernten“ sich auch den Seekrieg und haben Zutrauen zum unsicheren, losen Tauwerk der Schiffsbrücke: ... p…sunoi leptodÒmoij pe…smasi laopÒroij te mmacana‹j (112f.). Durch seine mhcan» und tšcnh , so könnte man aus dem I. Stasimon der Antigone extrapolieren (sh. dort 349, 365), möchte der Perser in das pÒntion ¥lsoj (111) Poseidons eindringen. Aber ist es nicht auch jeder Mensch, jeder perifrad¾j ¢n»r (Ant. 347), ob Perser oder Grieche, der sich insofern der Hybris schuldig macht? 31 Das gefährliche Wagnis der ‚neuen’ Seefahrt ist seit Hesiod und Solon bekannt, die Antithese Natur / Erlernen bei Pindar prominent. 32 Um spezifisch persisches Gedankengut handelt es sich hierbei nicht. Ebenso akzeptabel für den athenischen Zuschauer ist dann eine der Schlüsselstellen für die theologische Dimension der Perser: Die Überlegun- 29 Vgl. die Übersetzungsvorschläge für dÒkimoj von B ROADHEAD (1960): „of such metal as to ...“; weiter: „Lit. ‚acceptable’, it comes to mean ‚approved’, ‚held in high esteem’, ‚that passes the test’“ (53). G ÖDDE (2001) weist bei diesem Bild hin auf die „hybride Zeichnung des Heerführers als eine groteske Kriegsmaschinerie - zugleich Mensch, Tier und Masse [.]“ (252). 30 S CHNYDER (1995) sieht den Grundton dieses Strophenpaares im Unterschied zu den „ängstlich verhaltenen Schlußstrophen“ in 114-39 sogar als „siegesgewiss, triumphierend“ (39) vorgetragen. Die den Affekt ‚Zuversicht’ für gewöhnlich bezeichnende Vokabel q£rsoj fällt hier zwar nicht, lässt sich aber von v.216 ( qarsÚnein ) her und wegen des Gesamtduktus der Beschreibung der affektiven Disposition des Chores hier applizieren, gerade auch als Komplementäraffekt zur Angst. 31 Zu diesem Diskurs vgl. U TZINGER (2003) und, speziell auf die Perser bezogen, P ELLING (1997) 17. 32 Hes.Erg. 618-94; Sol. 13,43-48; vgl. Semonid. fr. 1 W, 15-17; Pind.Ol. 2,86-88, Ol. 9,100- 04, Nem. 3,40-42. <?page no="129"?> Sorge, Zuversicht und Angst vor der Katastrophe 115 gen des ‚persischen’ Chores zur verführerischen, doch zerstörerischen Kraft der Ate. Diese Vorstellung ist dermaßen Gemeingut, dass sie den äußerlich fremdartigen, in Ionikern singenden Chor an dieser Stelle dem Zuschauer annähert. Ate wird in den Persern fünfmal erwähnt (112, 653, 822, 1007, 1037), davon nur in v.822 nicht vom Chor und auch nicht in einer lyrischen Partie. dolÒmhtin d' ¢¢p£tan qeoà t…j ¢n¾r qnatÕj ¢lÚxei; t…j Ð kraipnù podˆ phd»matoj eÙpetšoj ¢n®sswn; filÒfrwn g¦r <poti>sa…nousa tÕ prîton ppar£gei brotÕn e„j ¢rkÚst<at>' ”Ata: tÒqen oÙk œstin Øp r qnatÕn ¢lÚxanta fuge‹n. (93-100) Neu und ungewöhnlich, aber aus dem gedanklich-bildlichen Zusammenhang direkt hervorgehend 33 ist für den Zuschauer das spezifische Bild, das die Wirkkraft der Ate verständlich macht: Das Vertrauen von Xerxes (respektive der Perser) auf leichtgebautes, wackeliges Strickwerk macht ihn zum Opfer des Netzes der Ate, die ihm einen technischen ‚Kunstgriff’ - eine mhcan» - für seine Weltmachtpläne vorgetäuscht hat. Die Schiffsbrücke, die beide Kontinente verbindet, ist nur scheinbar ein fester Boden, der sich dann, wenn er tatsächlich betreten wird, allzubald als wackelig und bodenlos erweisen und in Absturz und Untergang enden wird. Im weiteren Verlauf wird tatsächlich eine List eine zentrale Rolle für die Niederlage der Perser spielen, die Xerxes Øp' eÙqÚmou frenÒj (372) nicht erkennt: oÙ xuneˆj dÒlon (361). Die Nennung eines kakÕj da…mwn (354 u.ö.) ist äußerlich die eine Seite der ‚doppelten Motivation’ für das Geschehen, die jedoch mit einem intellektuellen Versagen der tragischen Figur Xerxes zusammenfällt, wie es für die Ate typisch ist. 34 33 Die Stellung dieser scheinbar aus dem Gesamtverlauf der Parodos herausfallenden Mesode, die zuerst von M ÜLLER hinter v.114 gestellt wurde, ist in der Forschung umstritten; vgl. die Argumente zugunsten einer Umstellung und Aufteilung in ein normales weiteres Strophenpaar bei B ROADHEAD (1960) 53f. und dagegen bei B ELLONI (1994) 99f.; wenig überzeugend, weil auf die Griechen als Opfer der Ate bezogen, S CHNYDER (1995) 41-45. Die Beibehaltung der überlieferten Stellung, das heißt zugleich der Sonderexistenz einer Mesode, lässt sich, so meinen wir, allein schon durch den p l ö t z l i c h e n und somit sehr wirkungsvollen Stimmungsumschwung von autosuggestiver Zuversicht hin zu tiefen, begründeten Zweifeln rechtfertigen (vgl. gerade umgekehrt im Agamemnon den Übergang zum Zeus-Hymnos, 159f.), und damit auch durch den spezifischen und für die theologische Dimension unentbehrlichen Gehalt. Andernfalls wären die abstrahierenden Überlegungen zur Ate zwar ebenfalls eine Art Höhepunkt, der jedoch erst nach einiger gedanklicher Entwicklung sozusagen als Endstufe erreicht würde - dies um den Preis von Konjekturen, um zwei formal korrekte Strophenpaare herzustellen. 34 Sh. ausführlich unten S.135-43. <?page no="130"?> Perser 116 Die große Bedeutung des Ate-Diskurses für die aischyleische Tragödie insgesamt und für den weiteren Verlauf der Perser gebietet eine kurze Erläuterung des sehr bildhaften Vorstellungsinhaltes. Zunächst einmal ist die „Täuschung der Gottheit“ einfach vorhanden, offenbar in der Vorspiegelung eines durch Handeln erreichbaren Zieles. Ein Ausweichen ( ¢lÚskein ) und Wegspringen ( ¢n®ssein ) 35 mit schnellem Fuß ist für den Sterblichen f a s t nicht möglich - wirklich definitiv aber sind erst die Konsequenzen, die eine Tätigkeit der nun tatsächlich eingetretenen Ate voraussetzen: Ihnen kann der jetzt in die ¢rkÚstata Verwickelte sicher nicht e n t k o m m e n : tÒqen oÙk œstin ... ¢lÚxanta fuge‹n 36 (99f.). Streng zu beachten ist die temporale Distanz zwischen tÕ prîton und tÒqen : A n f a n g s wedelt Ate ihr Opfer freundlich an ( potisa…nousa ) und führt ( par£gei ) es in die ¢rkÚstata , und d a n n kann der nunmehr Verstrickte nicht mehr aus. Die ¢p£th wird also im Moment des Anwedelns und Wegführens wirksam, wo der entscheidende Punkt gegeben ist: Lässt man sich auf die Täuschung ein, endet der Weg in der Sackgasse. Die Richtigkeit dieser Abfolge, die eine förmlich sekundengenaue Punktualität beinhaltet, dürfte sich durch Hik. 110f. bestätigen: ¥taj d' ¢p£tan metagnoÚj . 37 - Es bleibt aber festzuhalten, dass ein Erkennen der Situation und ein Vermeiden der Ate durch swfrone‹n als zumindest möglich erscheint: Dies ist im p£qei-m£qoj -Konzept impliziert. Ohne es explizit auszusprechen, denkt der Chor bei alledem offensichtlich an seinen König Xerxes: Er evoziert von seiner Warte aus deutlich die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit dieser Vorgänge - aber eine eindeutige Aussage über die Schuld des Königs oder gar eine Vorverurteilung ist hier noch nicht zu finden, der Chor hat lediglich dunkle Vorahnungen. Auffallend und von zentraler Bedeutung für die weitere Deutung des Chores ist die Tatsache, dass von Hybris und von Zeus als deren Bestrafer, wie es doch im Zusammenhang mit der Ate zu erwarten wäre, keine Rede ist - diese spezifischen theologischen Zusammenhänge werden Chor und Zuschauer erst von Dareios erfahren, was seinen eigenen Grund hat. Als Akteur wird in starker Abstrahierung der ¢n¾r qnatÒj (94) und der brotÒj (98) genannt - mithin der perifrad¾j ¢n»r aus dem Chor der sophokleischen Antigone. Wenn der Chor also hier eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit der Wirksamkeit von ¢p£th und Ate annimmt, andererseits aber in vv.87-92 mit dÒkimoj eine ziemlich sichere Aussicht auf die Unbesiegbarkeit des Heeres verkündet hat, so sind auch mit diesem approximativen, rationaler Überlegung zugrundeliegenden Dafürhalten die beiden affektiven Pole Zuversicht und Besorgnis zu verbinden. Nun aber bricht sich der fÒboj , die Angst Bahn, wenn nach diesen rationalen Überlegungen zur (möglichen) Ate der Chor mit dem Strophenpaar d (114ff.) zur Beschreibung seines eigenen Affektes zurückkehrt und hierbei erstmals wirklich von sich selbst spricht: 35 So die minimale Konjektur von T URNEBUS für das überlieferte und von W EST gedruckte ¢n£sswn ; das gleiche Problem ergibt sich Ag. 77 (sh. unten S.279 Anm.24). 36 W ECKLEIN schlägt mit dem bloßen Infinitiv ™xalÚxai eine bedenkenswerte Konjektur vor, mit welcher das Entkommen und Sichherauswinden stärker betont würde (von P AGE und W EST nicht in den Apparat übernommen). 37 Für eine sorgfältige Unterscheidung von Täuschung und Ate vgl. auch B ROADHEAD (1960) 60f. <?page no="131"?> Sorge, Zuversicht und Angst vor der Katastrophe 117 taàt£ mmoi melagc…twn fr¾n ¢mÚssetai ffÒbJ (115f.) - auch der auffällige metrische Wechsel in den Iambus und das Lekythion lässt die atmosphärische Änderung hin zur eigenen Affektäußerung deutlich erkennen. Die detaillierte und bildreiche Beschreibung der Angst, die das Zwerchfell „zerfleischt“ und in „schwarzes Trauergewand gehüllt ist“ ermöglicht eine Teilnahme des Zuschauers am psychosomatischen Innenleben des Chores. Wichtig für die Einschätzung der Darbietung dieser psychosomatischen Vorgänge und somit auch der sympathetischen Involvierung des Zuschauers ist die Tatsache, dass jetzt nicht mehr nur der qumÒj (11) von innen heraus spricht, sondern diagnostiziert wird, dass die umfassendere fr»n affiziert ist. Dies dürfte seinen Grund darin haben, dass der Chor das Ate-Geschehen gedanklich durchgespielt und durch die Imagination der in sich gefährlichen Militärmaschinerie eine Grundlage geschaffen hat für einen wesentlich stärkeren Intensitätsgrad der Angst. 38 Trotz der Hoffnung auf eine glückliche Wendung, die eine Kontrastfolie zum negativen Geschehensverlauf bildet (die Perser k ö n n t e n siegen und die Hoffnung der Angehörigen auf unversehrte Heimkehr k ö n n t e erfüllt werden), hat der fÒboj am Ende das Übergewicht. Dies zeugt eindrucksvoll von der Unausweichlichkeit des tragischen Geschehens, gegen das die - in der Orchestra - ‚inszenierte’ Hoffnung, selbst unter Zuhilfenahme empirischer Erfahrung, nicht ankommt. 39 Der Versuch, durch die Evokation der ungeheuren Größe persischer Macht Zuversicht zu erzeugen, ist nicht nur gescheitert, sondern hat sogar zu einer Zuspitzung des Unruhezustandes geführt. 40 38 Vgl. R ODE (1965): Der fÒboj hat nun „eine höhere Stufe der Objektivität erreicht als die nur an der äußeren Lage orientierte Furchtäußerung in den Anapästen (8ff.)“ (60). Eine Parallele zu der Konstellation, dass die fršnej eines anderen affiziert werden durch die Ate eines Handelnden, bietet Hom.Il. 6,355f. (Helena zu Hektor): ™pe… se m£lista pÒnoj fršnaj ¢mfibšbhken / e†nek' ™me‹o kunÕj kaˆ 'Alex£ndrou ›nek' ¥thj. 39 Mit etwas anderer Akzentuierung betont auch S CHAUER (2002) 46f. den „Lauf des Schicksals, der ... um so mächtiger und unaufhaltsamer“ ist, als die Wartesituation von großer Passivität geprägt ist. S TOESSL (1945) nimmt angesichts dieser Ambivalenz eine Aufteilung in zwei Halbchöre an, da er von einer „Spaltung der politischen Körperschaft ‚persischer Senat’ in zwei Parteien“ (149) ausgeht, in der die „ewige Spaltung menschlicher Grundtypen“ (ebd. 164) verwirklicht sei, welche sich im allgemeinen Unglück wieder vereine: Ein zu gesuchter Vorschlag, die doch vor allem a f f e k t i v vermittelte tiefgreifende Unsicherheit des Chores, der nach außen hin immer eine Einheit bleibt, zu erklären. Für S TOESSL weist dieser Befund der „Spaltung der Meinungen und Gefühle“ (163) sogar auf eine Abhängigkeit von Phrynichos’ Phoinissai mit einem Doppelchor aus Phönizierinnen (daher der Bezug des aischyleischen Chores auf persische Frauen! ) und persischen Greisen hin. Aber der Affekt fÒboj ist in keinster Weise typisch nur für Frauenchöre; vgl. etwa auch den Aias und den Oidipus Tyrannos, wo schon in den Parodoi die männlichen Chöre überhaupt nicht zuversichtlich, tapfer oder sehr kriegerisch wirken: Ai. 139 pefÒbhmai (wie eine Taube), OT 153 ™ktštamai fober¦n fršna de…mati p£llwn . 40 „May not the power and success of Persia be in itself a cause for alarm? “ (W INNING - TON -I NGRAM (1983) 4); ähnlich P OHLENZ (1954) 58f. und D EICHGRÄBER (1941) 168. <?page no="132"?> Perser 118 Der Chor prognostiziert für den befürchteten negativen Ausgang ein Klageritual insbesondere der persischen Frauen (123-25). Dieses wird später der Chor selbst - zugleich der Theaterchor der Polis Athen - in der Orchestra aufführen: 41 In °setai liegt somit ein selbstreferentieller Verweis vor, und diese vor dem Zuschauer singende Personengruppe ist nicht einfach eine Verkörperung alter Perser, sondern existiert als corÒj , der ein in der Lebenswelt des Zuschauers wohlvertrautes Ritual vollzieht. Dabei führt das in v.125 angesprochene rituelle Zerreißen der Kleidung ein Leitmotiv ein, das die Zerstörung des Landes veranschaulicht. 42 Der die Parodos abschließende „Blick in die Intimität persischer Ehegemächer“ 43 offenbart in le…petai monÒzux (139) eindrucksvoll den defekten Zustand des Landes, der sich in dieser Form verfestigen wird. Gerade hier ist durch die bewusste Gestaltung der Sehnsucht der Soldatenwitwen ein wesentliches Moment für die Interpretation der Tragödie im Sinne einer conditio humana gegeben - um den Sieg der Athener zu verherrlichen, in deren Häusern im Krieg zuvor ebenfalls der pÒqoj nach den Angehörigen herrschte, hätte Aischylos anders verfahren müssen. 3.2 Der Chor als Berater: „Es wird schon gut ausgehen“ Nachdem der Chor bei den Affekten fÒboj (116) und pÒqoj (134) stehengeblieben war, konzentriert er sich jetzt, in Anapästen, ganz auf das hic et nunc: ¢ll' ¥ge, Pšrsai, tÒd' ™nezÒmenoi sstšgoj ¢rca‹on front…da kedn¾n kaˆ baqÚboulon qèmeqa: cre…a d pros»kei: pîj ¥ra pr£ssei Xšrxhj basileÝj Dan£hj te gÒnou tÕ parwnÚmion gšnoj ¹mšteron; (140-46) Der durch eine Selbstermunterung eingeleitete Versuch einer rationalen Bewältigung der labilen Situation durch eine „sorgsame und tiefsinnende Beratung“ zielt darauf ab, die Angst zu beenden. Sieht man die front…j als Inhalt der fršnej 44 , so ergibt sich eine unmittelbare Verbindung zu fr»n und fÒboj von v.116. Die seit dem ersten Vers affektiv vorgeführte „Notlage“ ( cre…a ) hat eine Reaktion zur Folge, deren Bedeutung für die Interpretation 41 Sh. bes. 256-89, 531-47, 572-75, 579-83, 1038-77. 42 „I pepli strappati inaugurano un’ immagine diffusa nei Persiani, dove, in tal caso, non è distinzione fra simbolo e realtà.“ (B ELLONI (1994) 107). Vgl. 199 (Atossas Traum), 468- 70 (Botenbericht über die Reaktion von Xerxes), 537 (Frauen, vom Chor berichtet), 834- 36 (Ankündigung des Auftretens von Xerxes durch Dareios), 1017 (restliche stol» ) und 1030 (entspricht 468-70), 1060 (Chor zerreißt sein eigenes Gewand auf die Anweisung von Xerxes). Insgesamt dazu T HALMANN (1980) und G ÖDDE (2000a), bes. 38-47. 43 S CHNYDER (1995) 37. 44 So S ANSONE (1975) 25 mit Verweis auf Ag. 805. <?page no="133"?> Sorge, Zuversicht und Angst vor der Katastrophe 119 sich nicht darin erschöpfen darf, hier ein ‚totes Motiv’ zu sehen, da es doch nie wirklich zu dieser Beratung komme (so dass diese kurze Szene womöglich noch die ungeschickte Abhängigkeit des Aischylos von Phrynichos offenbare). 45 Stattdessen ist zu konstatieren, dass der athenische Zuschauer hier im Machtzentrum des Perserreiches die tiefe Sorge des vom Chor dargestellten Kronrates erkennt, dessen verzweifelte, letztlich nutzlose Reaktion nur das Ausgeliefertsein an das tragische, von der unheilbaren Ate diktierte Geschehen offenbart: Die Überlegung, wie es Xerxes geht, und ob der persische Bogen oder die griechische Lanze gesiegt haben (144-49), deutet in der Doppelfrage für den Zuschauer an, dass eine der beiden Möglichkeiten schon eingetreten ist. Ohne dass Spekulationen nötig sind, w a s eventuell weiter beraten werden soll 46 - der Grundtenor des Chores in seiner Sorge um Land und König wird auf jeden Fall deutlich. Persien, dessen Wohlergehen von der saviour-Gestalt Xerxes abhängt, stammt, sollte die Konjektur von W EST zutreffen, 47 von dem Griechen Perseus ab, dem Sohn der Danae (vgl. auch Her. 7,61 und 150) und dem eponymen Heros des persischen Genos - und damit sogar von Zeus selbst. Dadurch wird auf die gleich in der Szene mit Atossa angesprochene Vorstellung von einer Schwesternschaft Griechenlands und Persiens hingearbeitet; Zeus hat den Persern sogar die tim» der Monarchie verliehen (762-64). Hatte die Parodos auf der Ebene der Affekte schon eine gewisse Wesensverwandtschaft der in der Zeitgeschichte gegeneinanderstehenden Feinde, mit jeweils unterschiedlichen Akzentuierungen, evoziert, so konkretisiert sich nun diese Affinität durch die Anzitierung eines gemeingriechischen Mythologems. Dieses Verfahren ist typisch für einen corÒj , der auf diese Weise innerhalb der song-and-dance-culture auf das gemeinsame kulturelle Gedächtnis Bezug nehmen kann. 48 Andererseits präsentiert die Aufführung dann gleich wieder etwas für den Zuschauer Fremdartiges, wenn der Chor Atossa unterwürfig als Gattin des göttlichen Dareios und Mutter des göttlichen Xerxes begrüßt. 45 So, neben W ILAMOWITZ -M OELLENDORFF (1897) 382f., S TOESSL (1945): „Das Motiv ‚Beratung’ passt nicht auf die von Aischylos gezeichnete Situation.“ (150); zu Phrynichos sh. L ESKY (1972) 85. Zutreffender K ORZENIEWSKI (1966): „Die geplante Beratung des Chores ist sachlich und psychologisch verständlich, vom dramatischen Gesichtspunkt unentbehrlich.“ (555), und D EICHGRÄBER (1941), der gerade im Nichtzustandekommen der Beratung ein „tragisches Moment“ (165) sieht, weil der Auftritt Atossas nach ihrem Unheilstraum den Chor unterbreche. 46 Soll man einen Boten aussenden? - so D EICHGRÄBER (1941) 171 Anm.2; oder möchte man überlegen, wie „eine Regierung ohne den König“ aussehen und wie der „Gefahr eines Aufstandes in Asien“ begegnet werden soll? - so K ORZENIEWSKI (1966) 554. 47 Mit Verweis auf v.79f. ( crusogÒnou gene©j „sÒqeoj fèj ) ändert W EST das nahezu einhellig überlieferte Dareiogen¾j tÕ patrwnÚmion entsprechend ab (sh. W EST (1990) 78f.), während P AGE nach S CHÜTZ hier eine Athetese vornimmt. 48 Weiterhin wäre mit H UTZFELDT (1999) 65 an die Abkunft des Medos, der auch in den Persern (765) als allererster König genannt wird, von Aigeus, dem König von Athen, und Medea zu denken. <?page no="134"?> Perser 120 Ein ‚totes Motiv’ ist diese Beratungsszene auch insofern nicht, als der Chor vor Atossa seine offensichtlich als genuin zu denkende Tätigkeit als wohlmeinender Ratgeber (175) an den Tag legt: Die Erfordernisse des Plots, respektive die Eigendynamik des dramatischen Geschehens, fangen dieses Motiv auf. Der Chor leistet Hilfestellung für die ihm auf der Ebene der fil…a nahestehende Königsmutter, deren unheilverkündender Traum ihre fršnej affiziert (165) und sie in fÒboj (206) und de…mata (210) gestürzt hat. Trotz der Schwesternschaft von Griechen und Persern haben beide ein unterschiedliches Naturell, womit sich für den Zuschauer erneut die Möglichkeit einer Abgrenzung der eigenen Identität ergibt: Die Konstituierung des other ist also sehr differenziert zu betrachten. Ein von Atossa geplantes apotropäisches Opfer (203f.) kommt wegen eines plötzlichen Vogelzeichens, das ebenso eindeutig aufzuschlüsseln ist wie der Traum und in gleicher Weise einen negativen Verlauf der weiteren Handlung anzeigt, nicht zustande. Auch bei Atossa führt das tragische Geschehen zum Affekt fÒboj , was sicher einen starken Eindruck beim Zuschauer hervorrufen soll, welcher die Mutter des Perserkönigs leibhaftig auf der Bühne sieht. Aber es offenbart sich hier gleich ein signifikanter Unterschied, der auch später immer wieder zum Ausdruck kommt: Atossa ist ganz vorwiegend um ihren Sohn besorgt, der Chor hingegen um das ganze Land. 49 Der emotionale Status einer ausschließlich s p r e c h e n d e n Atossa, deren Schrecken und Schmerz wiederholt betont wird, 50 ist für den Zuschauer zwar eindrucksvoll, aber aufs Ganze gesehen schwächer als die intensive Affektdarstellung des s i n g e n d e n , durchgehend präsenten Chores. Die Nichtausführung des Opfers und damit die neuerliche Unmöglichkeit, der Entfaltung des tragischen Geschehens entgegenzuwirken, 51 gibt dem Chor die Gelegenheit, eine wesentliche Differenzierung der Opferthematik durchzuführen und auf Dareios als Helfer hinzuarbeiten, den Atossa nur kurz im Traum gesehen hatte (197f.). Denn der Rat des Chores weist eine Dichotomie auf und ist bestimmt von einer Haltung, die weder durch fobe‹n noch durch qarsÚnein (215f.) eine übermäßige und somit der Situation nicht angepasste Reaktion bei Atossa verursachen will - ein ausgleichendes, beruhigendes Moment also. Von den Göttern allgemein soll Hilfe in folgender Form erfleht werden: e‡ ti flaàron e dej, a„toà tînd' ¢potrop¾n tele‹n, t¦ d' ¢g£q' ™ktelÁ genšsqai so… te kaˆ tšknoij sšqen kaˆ pÒlV f…loij te p©si. (217-19) 49 Vgl. H ALL (1996) 122 und S CHENKER (1994) 287. 50 Vgl. 161-68, 206-11, 598-606, 845f. 51 In werkästhetischer Perspektive - um den parataktischen Stil der frühen Tragödie aufzuzeigen - hat M ICHELINI (1982) 102f. und 129-36 eine ausführliche Analyse dieser Auffälligkeit vorgelegt, die im Verbund mit den Ab- und Auftritten der Figuren die eigentlich ‚sichtbare’ dramatische Bewegung in das Stück bringt. <?page no="135"?> Sorge, Zuversicht und Angst vor der Katastrophe 121 Die sehr allgemeine Aussage Atossas zu den ¢pÒtropoi da…monej wird also nicht nur wiederaufgenommen, sondern auch um die positive Alternative ergänzt, die in einer weiten Perspektive a ll e möglichen Betroffenen, also auch die Stadt und den Chor selbst (die f…loi ), miteinschließt und so über das hinausgeht, was Atossa geäußert hatte. Zu dem selbstbewussten Anspruch Atossas, ihr Sohn sei auch im Falle einer Niederlage oÙc ØpeÚqunoj pÒlei und werde dann weiter über das Land herrschen (213f.), was den Angehörigen der demokratischen Polis Athen mit ihrer radikal gehandhabten Einrichtung der eÙqÚnh für die Beamten befremden muss, äußert sich der Chor nicht. Stattdessen schärft die Evokation einer ‚Teleologie’ ( ™ktelÁ ) das Bewusstsein des Zuschauers für die Brisanz der aktuellen Situation, die auf eine Auflösung drängt. Die Einführung des eÙqÚnh -Gedankens stellt aber eine wichtige Frage in den Raum, letztlich diejenige nach der Schuld des Xerxes. Es wird darauf zu achten sein, ob der Chor in seiner ja gerade hier zu findenden Funktion als ein von der Sorge um das Land gesteuertes Beratungsgremium dieses Edikt Atossas befolgt, ob er also k e i n e entsprechende, Rechenschaft fordernde Reaktion erkennen lässt. Die Einführung des von Atossa nur kurz erwähnten Dareios als einer wirklich helfenden Instanz durch den Chor zeigt nicht nur die Gemeinschaft in ihrem Bestreben nach einer heilenden Einwirkung, sondern arbeitet auch auf den szenischen und inhaltlichen Höhepunkt der ganzen Tragödie hin, die spätere Erscheinung des Dareios: 52 ... preumenîj d' a„toà t£de, sÕn pÒsin Dare‹on, Ónper fÊj „de‹n kat' eÙfrÒnhn, ™sql£ soi pšmpein tšknJ te gÁj œnerqen e„j f£oj, t¥mpalin d tînde ga…v k£toca mauroàsqai skÒtJ. taàta qumÒmantij ên soi preumenîj parÇnesa, eâ d pantacÍ tele‹n soi tînde kr…nomen pšri. (220-25) Mit den konkreten Aussagen pšmpein und mauroàsqai , die ebenfalls zwei Alternativen vorstellen, kann kein Zweifel daran bestehen, dass die eigentliche positive Einwirkung von Dareios ausgehen soll, nicht von einem anonymen Götterkollektiv. Der Chor charakterisiert sich abschließend sogar selbst als wohlmeinenden qumÒmantij - „one who prophesies by native wit ... , not by divine inspiration ( qeÒmantij ), or by observation of signs“ 53 -, was 52 D I V IRGILIO (1973) 33-36, dessen Arbeit das Ziel hat, Atossa als die eigentliche Zentralfigur und tragische Heldin mit einem „dramma interiore“ (36) herauszustellen, die sowohl die Bedeutung ihres Traumes als auch das Unheil von Platäa schon im Voraus wisse (! ), verkennt diese Bedeutung, wenn er den Rat des Chores nur als Wiederholung dessen deutet, was originär von Atossa schon unternommen sei. Denn sie hat ja gar nichts unternehmen können. 53 B ROADHEAD (1960) 86. B ELLONI (1994) paraphrasiert mit „fedele ad auspici che sono del suo sentire“ (133) und verweist auf Eur.Andr. 1073 und Hel. 757. Ähnlich ist qumÒsofoj , das im Drama nur Aristoph.Nub. 877 zu finden ist und neben zwei weiteren Belegen (Plut.Art. 17 und Arr.Ind. 14,4) auch für das Wittern von Tieren verwendet wird (Ael.NA 16,15 und Plut. 2,970e). <?page no="136"?> Perser 122 mit dem späteren Auftreten des Dareios als eines diagnostizierenden, prophezeienden und behandelnden „atrÒmantij , eines Seherarztes, konform geht. Die Ahnung einer positiven Wendung der Dinge und einer (hier durch den Rat als mittelbar gestalteten) Einwirkungsmöglichkeit kommt ebenso aus dem sich regenden qumÒj heraus wie zuvor die unvermeidbare Ahnung des tragischen Geschehens im kakÒmantij qumÒj (10f.). Das aber heißt, dass beide Komponenten wesensmäßig in diesem Chor, der hier sein Innenleben offenbart, angelegt sind: Nicht nur das zwingende Hereinbrechen des Tragischen, sondern auch die ‚heilende’ Gegenbewegung, durch die der Chor förmlich wittert, dass sie mit Dareios und somit der richtigen, alten Herrschaftsausübung zu tun hat. Affekt und Reaktion, wie sie hier durch den Rat gestaltet ist, gehen Hand in Hand. Das sich anschließende persönliche Urteil des Chores: eâ d pantacÍ tele‹n soi tînde kr…nomen pšri (225) nach dem Motto: ‚Wenn Du mich fragst: Es wird schon gut ausgehen’ mag zwar nicht einer gewissen Naivität entbehren, kann sich jedoch ganz auf die menschliche Grundhaltung eines Autosuggestionsgestus in einer unsicheren Lage stützen. Dies kann jeden Zuschauer ansprechen. Immerhin schließt sich Atossa dieser an das tÕ d' eâ nik£tw des Agamemnon (121, 139, 159) erinnernden Haltung an: ™ktelo‹to d¾ t¦ crhst£ (228). Obwohl der Chor also zuvor stärkste Angst empfunden hatte und sich nun durch den Traum sogar bestätigt sehen kann, suggeriert er die Möglichkeit einer positiven Wendung, was die sump£qeia des Zuschauers noch steigern dürfte. Es ist darüber hinaus aber auch möglich, dass der Chor in Gegenwart der Königin jetzt anders, nämlich ‚offiziell’, spricht als zuvor, wo er alleine war und über seine Befürchtungen sang. In dieser Spannung dürfte sich für den Zuschauer eine auf das politische System der dargestellten persischen Welt bezugnehmende Differenzierung zeigen, innerhalb derer die Redefreiheit eine Bedrohung der persischen Königsmacht darstellt (vgl. explizit im I. Stasimon vv.584-97). 54 Jedoch gerade diese Redefreiheit wird sich der Chor später auch ganz öffentlich zu eigen machen, sogar im Angesicht von Xerxes. Diese Auffälligkeit in der Zeichnung des Chores zeugt von dessen Autonomie, die jedoch nicht auf die je nach den äußeren Umständen divergierende Haltung einer dramatis persona (‚offiziell - inoffiziell’) hin verengt werden sollte: In rezeptionsästhetischer Perspektive ist ‚Gesangs-Freiheit’ ein zentrales Merkmal eines jeden Tragödienchores. Die Informationen, die der Chor Atossa über Athen gibt (230-45), dienen dann einer ganz eigentümlichen Affektstimulation des Zuschauers, wird 54 Vgl. hierfür S CHAUER (2002) 54f. Anm.67 und K ORZENIEWSKI (1966) 585. Ähnlich C OURT (1994) 69 Anm.150, wo der Chor aber gemäß der Grundthese der Arbeit zu einem beliebigen Instrument in der Hand des Aischylos wird, das „je nach den Erfordernissen der Einzelszene ohne weitere Motivierung verändert wird“ (70). Interne Widersprüche, gerade auch in Bezug auf Unterwürfigkeit und Kritik am König, seien mit der „doppelten Funktion als Sprachrohr des Dichters und als dramatis persona“ (75) zu erklären. <?page no="137"?> Sorge, Zuversicht und Angst vor der Katastrophe 123 doch hier aus einer fremden, noch dazu von Angst durchsetzten ‚äußeren’ Perspektive ein höchst respektvolles Bild der eigenen Heimat gezeichnet. Die Konvention erfordert es, dass der Chor hier keine eigenständige, Informationen übermittelnde Rhesis halten darf, sondern in einer Stichomythie immer nur antwortet (in diesem Fall im Tetrameter). Dies ist ein markanter Unterschied zwischen dem vom Chor gebildeten Kollektiv und einem Boten, der nur eine dramatis persona ist, dafür aber länger und zusammenhängend sprechen darf. Insofern wird der Chor, der doch in der Parodos dem Zuschauer viele Informationen eigenständig gegeben hat, hier in seinem besonderen Status als Chor erkennbar. Eine besondere Note erhält die Darstellung noch dadurch, dass sich die a t h e n i s c h e n Choreuten zusammen mit ‚ihrem’ Publikum von Atossa quasi die eigene Identität erfragen lassen. Atossa läßt sich vom Rat und vom persönlichen Urteil des Chores, mithin von dessen Hoffnung, beeinflussen und lobt ihn als eÜnouj ... tînd' ™nupn…wn krit»j (226), um ihn dann aber nach der Schreckensnachricht zu schelten: Øme‹j d faÚlwj aÜt' ¥gan ™kr…nate (520) - der Chor hatte sich im Urteil zwar klar geirrt, was die Ausführung seines Rates aber keineswegs einschränkt. Denn es kommt gerade n a c h dem Bericht von der Katastrophe zu dem Opferritual (angekündigt von Atossa 521-28; durchgeführt 607-18), das der Chor z u v o r vorgeschlagen hat. Und danach wiederum, was für den Fortgang der Handlung und für die Aussage der Tragödie wohl von noch größerer Bedeutung ist, wird der Chor die rituelle Totenbeschwörung des Dareios als chorische performance aufführen. Pointiert ausgedrückt: Der Chor bereitet schon vor der Krisis sein eigenes Ritual vor, welches dem Plot inneren Zusammenhalt verleiht (so dass sich auch eine Separierung der Rolle des Chores in ‚Handlungsbeteiligung’ und ‚Chorlied’ verbietet). Dass sein Ratschlag so lange, über den Botenbericht hinweg, wirksam und insofern in der Aufmerksamkeit des Zuschauers erhalten bleibt, obwohl er unter ganz anderen Voraussetzungen gegeben und von den Ereignissen überrollt worden ist, zeugt sowohl von der hohen Bedeutung, die Aischylos diesem handlungstragenden Motiv im Verlaufe der Aufführung beimisst, als auch vom Anliegen des Dichters, dem Chor dieses Charakteristikum einer Einwirkung zu geben. Zwar sind die fÚlakej des Kronrates schon qua ihrer akzidentiellen Rolle in diesem Stück geradezu prädestiniert, Einfluss zu nehmen, doch steht dies immer auch in einem Begründungszusammenhang mit dem essentiellen Wesen eines corÒj , der als emotional affiziertes Medium zwischen Bühne und Zuschauer steht und hierbei gerade die Durchführung ritueller Akte erwarten lässt. Die behutsame Differenzierung gegenüber dem bloß apotropäischen Moment, wie von Atossa eingeführt, und die damit einhergehende Konzentrierung auf Dareios (der dann dem Chor politische Ratschläge gibt, die dieser seinerseits an Xerxes übermitteln soll), ermöglicht eine Übernahme und Anwendung der frühen Ratschläge des Chores auch n a c h der Krisis: Der Wirkungslosigkeit des spontanen Opfers der Atossa steht das erfolgreiche Chorritual gegenüber. Insofern erscheint die Erwähnung der chthonischen <?page no="138"?> Perser 124 ™sql£ für Xerxes (222) und der so naiv anmutende Wunsch des Chores nach dem eâ tele‹n in einem anderen Licht. 4. Die Katastrophe: Der Chor und die Schuld des Xerxes 4.1 Die spontane affektive Reaktion im Klageritual Bemerkenswert ist, wie sich der Chor bis kurz vor der - im Botenbericht übermittelten - Katastrophe die Möglichkeit eines guten Ausgangs offenhält, wie die Ankündigung des Boten zeigt: kaˆ fšrei safšj ti pr©goj ™sqlÕn À kakÕn klue‹n (248). Das ‚Hören’ der sehnlich erwarteten Neuigkeiten stellt eine gemeinsame Rezeptionsebene zwischen Chor und Publikum her, die beide voller Spannung warten, auch wenn der athenische Zuschauer ein historisches Vorwissen hat: Auf das ‚Wie? ’ der Informationsvergabe kommt es an. Es ist das kakÒn , das der Bote meldet. Die Junktur ¢n£gkh p©n ¢naptÚxai p£qoj (254), von Atossa fast wörtlich wiederholt (294), zeigt die Unausweichlichkeit auch der leidvollen Informationsvergabe, in die der Chor nun affektiv eingebunden wird; sie spiegelt die ¢n£gkh der tatsächlichen, auf Handlungen und Entscheidungen fußenden Ereignisse. 55 Die analytische Entfaltung des vom Heer erlittenen p£qoj verschränkt sich sukzessive mit dem affektiven p£qoj des Chores. Auf die relativ kurze Nachricht, die das so lange vorgeführte bange Warten wie ein Paukenschlag beendet, folgt ein Amoibaion des Chores mit dem Boten, das als eine erste spontane, affektive Reaktion gesehen werden kann, in der sich die immense emotionale Anspannung entlädt 56 - was freilich ebenso sehr für den Zuschauer gilt, dessen Erwartungshaltung solchermaßen erfüllt wird. Aber der Chor reagiert nicht nur qua seiner Identität als alte Perser, die vom Leid erfasst werden: Auch in der rituellen Klage, die ihren Ort in der Lebenswelt des Zuschauers hat, generiert er ein Verstehen der Dimension der Katastrophe, woraus sich ein sympathetisches Verständnis des Zuschauers ergibt, dem jede Möglichkeit zur Schadenfreude genommen wird. Im Selbstbezug auf den eigenen Klagegesang, ja sogar auf den von allen Persern ( dia…nesqe Pšrsai 257f., ‡uz' ... bo£n 280f.), und auf die rituellen Schreie a„a‹ (257, 283) und Ñtototo‹ (268, 274), die das persische Lokalkolorit vermitteln, wird nicht nur das Ritual vollzogen, sondern es entfaltet sich zugleich, über die drei Strophenpaare hinweg, stufenweise eine inhaltliche Reaktion: Von der Kunde als solcher, bei der das Hören des 55 „Das Geschehen, das in der Gegenwart spielt, wird notwendig, indem es in die Form ... der ‚tragischen Analyse’ gefaßt ist [.] Dadurch, daß die Handlung des Dramas nicht über den Anfangspunkt hinausschreitet, sondern nur aufklärt, was schon vor dem Beginn des Spiels liegt, ist sie von der unbedingten Notwendigkeit umklammert, die für das tragische Geschehen gefordert ist.“ (S NELL (1928) 75). 56 So S CHAUER (2002) 45, der 43-63 eine subtile, detaillierte Interpretation dieses Amoibaions, auch im Kontext der gesamten Tragödie, vorlegt. <?page no="139"?> Die Katastrophe: Der Chor und die Schuld des Xerxes 125 „Seelenschmerzes“ 57 (tÒd' ¥coj klÚontej , 259) nahezu identisch mit dessen Beklagen ( dia…nesqe ) ist, geht es zusammen mit den losgeflogenen Pfeilen hinüber zum Kampfort Salamis und den dortigen Leichen, und dann wieder zurück ins geschlagene Persien, wo die Betten der Frauen nun leer sind. In dieser räumlich weit ausgreifenden, detailreichen Imagination überspringt der Chor gleichsam den Hellespont und holt den athenischen Zuschauer in den persischen Leidensraum herein. Hierbei wird die simultane Verfasstheit dieses Chores deutlich: Zugleich alte Perser, die das neue, „unerwartete Unglück“ jetzt noch ertragen müssen (263-65), und rituell klagender corÒj , der zudem alle Perser repräsentiert (257f., 282). Für den schwer korrupten v.256 erklärt das Scholion zu P ¥nia kaˆ luphr¦ kkaˆ ¢n…ata (D INDORF 445,16-18); das (ältere) Scholion zu M hat nur ¢n…ata (D INDORF 77,24) - mit dieser Lesart würde der Chor unmittelbar nach der totalen Niederlage (vgl. p©j stratÒj 255) eine Heilung wortwörtlich für unmöglich halten. In dieser ersten affektiven Reaktion fokussiert der Chor, nach natürlichmenschlichem Empfinden, den Grund für die Katastrophe auf die Götter (282f.). Über Xerxes fällt noch kein Wort; die Niederlage stellt sich hier zunächst kontrastiv als der Sieg Athens dar: stugna… ge d¾ da oij: memnÁsqa… toi p£ra, æj polloÝj sperm£twn eÜnidaj œktissan ºd' ¢n£ndrouj. (286-89) Anstatt aber dass der Chor sänge: „Verhasst ist u n s Athen! “, singt er: „Verhasst ist Athen den Feinden: Es besteht Anlass, sich zu erinnern“ - nämlich an das Leid der verwitweten Perserfrauen. In diesem objektivierenden, die an sich subjektiv empfundenen Affekte Hass und Trauer in zwei Fakten einkleidenden Stil wird der momentane Augenblick überstiegen: Hier eröffnet der Chor einen allgemeinen Orientierungsrahmen, innerhalb dessen auch der athenische Zuschauer sich an das Leid der anderen Seite erinnern kann. 57 Zu dieser Übersetzung von ¥coj (auch „schneidender Schmerz“, „Gram“) von der Wurzel agh „sich ängstigen“ sh. S CHMIDT (1878) II 580 („ ... Seelenschmerz der uns mächtig ergreift bei fremdem wie bei eignem Unglück ... der ... sich auch in wilder Klage ... äußern kann“); zu Aischylos sh. S CHNYDER (1995) 158-60. Ein Blick auf die anderen Belege von ¥coj in den Persern zeigt, dass dieser Affekt ausschließlich vom Chor (im I. und II. Stasimon) erlitten wird und zudem stets in eine akustische Wahrnehmung eingebunden, also Objekt sprachlicher Artikulation und Rezeption ist: barÝ d' ¢mbÒason / oÙr£ni' ¥ch (572f.), tokšej d' ¥paidej { œrrantai } / daimÒni' ¥ch / Ñ© / durÒmenoi gšrontej (580-83), wo man sich (Ñ)dÚresqai durchaus als klanglich-artikulierend denken kann und gerade das Folgende einen eindeutigen Kontext herstellt: tÕ p©n d¾ kklÚousin ¥lgoj ; dann an Dareios: pant£lan' ¥ch / diabo£sw: nšrqen «ra kklÚei mou (637-39), Ópwj kain£ te k klÚVj nša t' ¥ch (665). <?page no="140"?> Perser 126 4.2 Der Beginn der Suche nach der Schuld (I. Stasimon) Durch Atossa richtet sich der Blick des Zuschauers wieder auf Xerxes: Er lebt, und allein das ist schon ein dèmasin f£oj mšga (300) für die Königsmutter. Dieser Nachordnung im Plot, in dem zuerst der Chor informiert und affiziert wird, entspricht eine Dichotomie zwischen Atossa und Xerxes auf der einen und dem das ganze Spektrum des Landes Persien repräsentierenden Chor auf der anderen Seite. Diese Differenz war schon in der Szene vor der Nachricht angeklungen, als Atossa die Rechenschaftsablage für Xerxes ablehnte und der Chor das segenheischende Opfer im Hinblick auf eine heilende Einwirkung von Dareios auf das g a n z e Land differenzierte. Das Überleben von Xerxes, welches Atossa vorsichtig optimistisch stimmen kann, steht dem Totalverlust, den die anonyme Masse der Perserinnen erlitten hat, konträr gegenüber. Der folgende lange Botenbericht erfüllt in Teilen zweifellos den Zuschauer mit Stolz und erhebendem Schauder über den gigantischen Sieg, vor allem, als der gemeinsame Schlachtruf der „Kinder Griechenlands“ vom Boten zitiert und auf der Bühne wohl emphatisch ausgerufen wird (402-05). Der gemeinsame Paian (388-94) und das geordnete, überlegte Vorgehen der wie e i n Mann kollektiv kämpfenden Polis Athen (399f., 417) kontrastiert mit dem disharmonischen ·Òqoj der b£rbaroi , die, ohnehin schon der List erlegen (361), ohne Zusammenhalt dilettieren und im Chaos flüchten (414, 421, 470, 481). 58 In der Tat: „The real hero of Aeschylus’ version is the average Athenian citizen-rower“ 59 - dieser sitzt auch im Publikum. Aber wenn dann vom Massaker an den umzingelten, wehrlosen persischen Schiffbrüchigen auf Psyttalia (447-64) berichtet wird, so ist es, zumal nach den vom Chor stellvertretend durchgeführten Klagen der persischen Ehefrauen, fürwahr „[k]aum auszuloten, wie den Zuschauern zumute war, als sie nun das Ganze von der andern Seite sahen“ 60 . Durch den unerwarteten perspektivischen Wechsel auf die namenlose Masse der unheroisch umgekommenen, wie Thunfische mit Planken und Rudern erschlagenen Perser (424-26), ist die Erzeugung von Mitleid mehr als wahrscheinlich. Atossa und der Bote sehen in ihrer Deutung des Geschehens die Götter und einen bösen Daimon am Werk (294, 354, 362, 472), und der Chor, der sich zunächst ganz zurückhält, beschließt den Bericht entsprechend - und in Fortsetzung seiner Interpretation im Amoibaion (282f.) - mit der Apostrophierung dieses Daimons (515f.), dessen unheilvolles Wirken in der Bestrafung der naturwidrigen Überschreitung des Hellespont, gewissermaßen der überzogenen Verlagerung des ‚Drinnen’ von Persien nach außen, eine geradezu kosmische Dimension annimmt: Nicht genug, dass die in völligem 58 Sh. für diese wichtigen Aussagen G OLDHILL (1988) 192 mit den entsprechenden weitreichenden Folgerungen für das somit kontrastiv gewonnene Selbstverständnis der athenischen Demokratie. 59 H ALL (1996) 12. 60 M EIER (1988) 83. <?page no="141"?> Die Katastrophe: Der Chor und die Schuld des Xerxes 127 Chaos Fliehenden vor Hunger und Durst zugrunde gehen, sondern ein vorzeitiger Wintereinbruch über Nacht und das ebenso unerwartete, rasche Wiederauftauen des Strymon zerstören das Heer fast vollkommen. Die Frage nach der Schuld für diese Pervertierung der natürlichen Ordnung, die auch den Boden von Persien schwer erschüttert hat, steht aber noch nicht im Raum. Diese bewusste Aussparung dürfte ihren Sinn darin haben, dass nun im I. Stasimon der Chor eine um so stärker wirkende Fokalisation auf die Rolle des Xerxes vornehmen kann und einen vorläufigen Deutungsversuch unternimmt, der auf die Verantwortung des jungen Königs hinweist. Rein dramentechnisch betrachtet dient das I. Stasimon dazu, den Zeitraum zu überbrücken, während dessen Atossa zu den Göttern betet und das Opfer für Ge und die Toten vorbereitet (521-26), ohne dass sie aber dabei Dareios nennt. Trotz ihres Tadels für die im Nachhinein offenkundig falsche Deutung des Traumes durch den Chor (519) vertraut sie weiter auf die treue Beratung und weist den Chor an, Xerxes im Falle seiner Ankunft freundlich aufzunehmen und ins Haus zu geleiten: ... ™p…stamai m n æj ™p' ™xeirgasmšnoij, ¢ll' e„j tÕ loipÕn e‡ ti d¾ llùon pšloi. Øm©j d cr¾ 'pˆ to‹sde to‹j pepragmšnoij pisto‹si ppist¦ xumfšrein b bouleÚmata: kaˆ pa‹d', ™£nper deàr' ™moà prÒsqen mÒlV, parhgore‹te kaˆ propšmpet' ™j dÒmouj m¾ ka… ti prÕj kako‹si prosqÁtai kakÒn. (525-31) Hinter dem von Atossa angekündigten Opfer- und Gebetsritual steht der Wunsch, nun wenigstens für die Zukunft eine Besserung ( lùon ) zu erreichen. Gerade diese Intention (die einer ‚Heilung’) aber hatte der Chor schon v o r dem Botenbericht in seiner genuinen Funktion als Ratgeber erst entwickelt und an Atossa weitergegeben. Und ohne den Chor, so steht für den Zuschauer zu vermuten, wird das Ritual ohnehin nicht erfolgen. Am auffallendsten ist aber, dass von Atossa merkwürdig unbestimmt bleibt, w a s überhaupt von den Göttern erbeten werden soll - insbesondere von Dareios, den zuvor erst der Chor ins Spiel gebracht hatte, ist jetzt doch wieder keine Rede. Anscheinend hat sie auch bei dem lùon und den getreulichen Ratschlägen ganz überwiegend die Person ihres Sohnes im Auge, der vom Chor freundlich aufgenommen werden soll: 61 Mit dieser weiteren Aussparung, die die Perspektive des Zuschauers hier zunächst auf Xerxes und das königliche Haus hin verengt, erweitert sich zusätzlich der Reflexions- und Aktionsraum des Chores. Dieser wird zunächst von Atossa als einer Art ™x£rcousa ‚angeleitet’, damit er seinerseits in einer propomp» Xerxes reintegriert (vgl. 530, was am Schluss des Stückes in der Tat durchgeführt 61 So S CHENKER (1991) 204: Die völlige Zerstörung des Heeres erfordere die Ausrichtung der Opferhandlung Atossas auf das Element der Expedition, das überlebt habe, also Xerxes. <?page no="142"?> Perser 128 werden wird) und weiterhin seiner Ratgeberfunktion treu bleibt: Damit ist ihm von der dramatis persona ein durchaus eigenständiger Spielraum zugestanden, aus dem sich Atossa zurückhält. Der Zuschauer könnte nach den Schlussworten Atossas erwarten, dass Xerxes nun tatsächlich bald auf der Bühne erscheint und der Chor seine dem Königshaus „treuen Beratungen“ (528) durchführt. Tatsächlich aber nutzt der Chor die Abwesenheit Atossas in unerwarteter Weise, um sich nun, gewissermaßen wieder inoffiziell und alleine für den Zuschauer singend, der Schuldfrage zuzuwenden. Die kritische Haltung Xerxes gegenüber, die hier beginnt und am Ende im Kommos in der direkten Konfrontation ihren Höhepunkt findet, ist ein hervorstechendes Merkmal des Chores, das in der Forschung zu gering angesetzt wird. 62 In den Anapästen wird markant der oberste griechische Gott Zeus, zugleich Urahn der Perser, angerufen, der Trauer über Persien gebracht habe. Nichts gesagt wird aber über den Hybris-Dike-Mechanismus, denn dessen Erklärung wird Dareios vorbehalten sein. Jedoch errichtet der Chor hier im I. Stasimon bereits ein Fundament für die weitere Ursachenerklärung, indem mit der Nennung von Zeus zumindest ein theologischer Orientierungsrahmen gesetzt wird, in den Xerxes, explizit als Schuldiger bezeichnet, positioniert wird. Zuvor aber evoziert der Chor höchst anschaulich die als gegenwärtig zu denkende Trauer der Perserinnen, deren ¥lgoj (540) sich im rituellen gÒoj (545) äußert. Die emotionale ‚Weichheit’ Persiens, die im ganzen Stück an Wortbildungen mit ¡brÒj deutlich wird, 63 ist zwar ein ethnisches Charakteristikum, welches aber gewiss nicht auf ein negatives Urteil des Zuschauers abhebt (gar noch hinsichtlich einer ‚weibischen’ Zeichnung des Chores), sondern Verletzlichkeit und Zartheit der Frauen markiert. Was solchermaßen zitiert und imaginiert wird, fällt mit dem aktuellen Auftritt des Chores zusammen, wie der selbstreferentielle Hinweis k¢gè ... °dw (546f.) zeigt: So fungiert er als Boden der prÒpasa ga‹' 'Asˆj ™kkenoumšna (548f.), in der von der Masse der Männer die Alten, die jedoch simultan als Chor singen, alleine noch übrig sind. 64 Sicher ist es Aischylos darauf angekommen, nach dem Botenbericht das große Leid mit Hilfe des Chores zunächst einmal grundlegend und intensiv darzustellen. Doch werden dem Chor Äußerungen von großer Eigenständigkeit beigelegt, die das Augen- 62 So bei B ROADHEAD (1960), für den der Chor jetzt nur noch „lyrical comments“ (XXXIV) äußere; ähnlich abwertend B ELLONI (1994) 74 und diejenigen Interpretationen, die den Chor einfach als Inkorporation orientalischer Devotheit sehen (sh. oben S.103f.). Richtiger F ÖLLINGER (2003) 280-82. 63 Vgl. 41, 135, 541, 543, 1073. 64 Reprisen im Vokabular lassen das, was in der Parodos befürchtet worden war, nun als real erscheinen: Vgl. zuvor lšktra d' ¢ndrîn pÒqJ p…mplatai dakrÚmasin, / Pers…dej d' ¡bropenqe‹j ˜k£s- / ta pÒqJ fil£nori / tÕn a„cm£enta qoàron eÙnatÁr' ¢popemyamšna / le…petai monÒzux (134-39); hier: aƒ d' ¡brÒgooi Pers…dej ¢ndrîn / poqšousai „de‹n ¢rtizug…an, / lšktrwn eÙn¦j ¡broc…twnaj, / clidanÁj ¼bhj tšryin, ¢fe‹sai, / penqoàsi gÒoij ¢korestot£toij: (541-45). <?page no="143"?> Die Katastrophe: Der Chor und die Schuld des Xerxes 129 merk des Zuschauers auf die Schuldfrage lenken: Xerxes wird unverhohlen als Schuldiger und Verantwortlicher für Führung, Tod und die Fehlentscheidung für den Seekrieg genannt (551f.). Wenn der Chor hierbei das Handeln seines Königs als dusfrÒnwj (552), „unbesonnen, sinnlos“, negativ kennzeichnet, so klingt an, dass die fršnej von Xerxes das kognitive Regulativ sind, auf das auch eine Einwirkung erfolgen könnte - sofern Xerxes freilich wieder integriert wird, wie von Atossa gewünscht. Und wenn das einhämmernde dreifache n©ej (560-62) das dreifache Cšrxhj (550-52) strophenübergreifend und refrainartig wiederaufnimmt, dann deutet sich an, dass im ‚neuartigen’ Vertrauen auf den Seekrieg und in dem Plan, mit einer Schiffsbrücke die Kontinente zu verbinden, das Unheil begründet liegt. Zeus, Xerxes, Schiffe - damit wird ein erster interpretierender Orientierungsrahmen aufgebaut, der allerdings in etwa noch auf dem Wissensstand der Parodos und den dortigen dunklen Vorahnungen zur Ate basiert. Die Nennung des Dareios als eines kontrastiven Bezugspunktes ist insofern bemerkenswert, als der Altkönig nun erstmals auch n a c h der eingetretenen Katastrophe im Chorgesang ‚auftritt’, denn Atossas Ankündigung der Opfer hatte den toten Gemahl ja ausgeblendet. Hier also erfährt die vorherige doppelte Aussparung - keine Schuldfrage, kein Dareios - eine Füllung, mit der der Chor den Zuschauer nach weit über 300 Versen wieder auf Dareios (und auf die Verantwortung des Xerxes) hinweist. Hierin wird die Ausrichtung des Chores auf den alten, ‚unschädlichen’ König deutlich: t…pte Dare‹oj m n oÛtw 65 tÒt' ¢ ¢blab¾j ™pÁn tÒxarcoj poli»taij Sous…doj f…loj ¥ktwr; (555-57) Aus dem schmerzvollen Affekt heraus unternimmt der Chor einen Richtungswechsel in die Vergangenheit. Zunächst vollzieht sich auch im Folgenden die Darstellung des eigenen Affektes als ein ritueller, auf das Singen 65 So die von W EST akzeptierte Lesart der Codices, während P AGE mit dem Vermerk zu oÛtw „quod non intellegitur“ oÙ kaˆ konjiziert, was der Interpretation eine völlig andere Richtung gibt, denn damit würde auch schon Dareios als Schädiger des Gemeinwesens dargestellt und eine fortlaufende Unheilskette evoziert. In der Tat war Dareios auch selbst schon den Griechen bei Marathon unterlegen (vgl. 244, 475), doch werden im Stück die Auswirkungen dieser Niederlage nirgends diskutiert, sollen also anscheinend auch nicht so schlimm gewesen sein, da sie eben nur auf einen Landkrieg zurückgingen: Es ist ein Charakteristikum der Perser, dass Dareios nur positiv gezeichnet wird (vgl. K RANZ (1933) 94; B ROADHEAD (1960) 148; F ÖLLINGER (2003) 263), was die Freiheit des Dichters sogar bei einem historischen Stoff beweist. Mit der Lesart oÛtw tÒt' ¢blab»j wird auf die gesamte und im Hinblick auf die ‚besonnene’ Kriegsführung eben unschädliche Regierungszeit Dareios’ verwiesen. Völlig zutreffend hierzu D EICHGRÄBER (1941): „Wie konnte es kommen, daß Dareios, der tÒxarcoj , dem Lande keinen Schaden brachte (er war eben tÒxarcoj und wagte sich nicht auf die Schiffe)[? ]“ (181); ähnlich B ROADHEAD (1960), der paraphrasiert: „Why should we have had such a ruler in Darius (but not in Xerxes? )? “ (148). Zu beachten ist auch das mšn , das die Betonung auf Dareios richtet. <?page no="144"?> Perser 130 und Schreien verweisender Sprechakt, mit dem dieser Chor einen lebensweltlichen Bezugspunkt für den Zuschauer aufzeigt: ... stšne kaˆ dakn£zou, barÝ d' ¢mbÒason oÙr£ni' ¥ch, Ñ©, te‹ne d dusb£-kton bo©tin t£lainan aaÙd£n. (571-75) Die Notwendigkeit einer ‚heilenden’ Einflussnahme auch n a c h der unabänderlich eingetretenen Katastrophe - die ¢n£gkh (569), die über die Perser gekommen ist, ist wohl ein Hinweis auf die unerbittliche Gewalt der Ate (vgl. Ag. 218-27, 385f.) - macht der Chor dem Zuschauer im letzten Strophenpaar deutlich, dessen beängstigender Inhalt auch durch den metrischen Wechsel in rasch ablaufende Daktylen evident wird: Die extraterritoriale Katastrophe führt zu immensen innenpolitischen Gefährdungen wegen des Schwindens der basile…a „scÚj (589f.). Hier ist deutlich der Gegensatz von orientalischer Knechtschaft, die in der Proskynese plastisch zum Ausdruck kommt, und griechischer Freiheit gestaltet, vor allem auch was die glîssa (591) betrifft, die sich zusammen mit der Auflösung des zugÕn ¢lk©j (594) ‚löst’. Der Zuschauer kann sich trotz der Fremdheit dieses Herrschaftssystems in die Befürchtungen des Chores hineinversetzen, der äußerst besorgt ist um die Zerrüttung des Staatswesens. Aber ist nicht das ™leÚqera b£zein ( 593) schon das, was der Chor in diesem I. Stasimon mit der deutlichen Kritik an Xerxes unternimmt? 66 Die momentane labile Situation gibt nicht nur Raum für Affekte (zu Trauer und Schmerz tritt nun die Besorgnis), sondern auch für Reflexionen, die auf eine ‚Heilung’ zusteuern können. Das I. Stasimon beinhaltet also nicht nur typische Elemente der rituellen, chorischen Totenklage, sondern fügt sich durch die Wiederaufnahme von Motiven in den Gesamtzusammenhang des Stücks ein. 67 Vor allem aber erzeugt der Chor der fÚlakej für den Zuschauer eine Fokalisation auf den diametralen Gegensatz zwischen der unschädlichen alten Regierung eines Dareios und der gegenwärtigen Katastrophe, welche die Folge eines expansiven Ausgreifens zur See zu sein scheint. Die vom Chor vorgenommene Einführung von Zeus und Dareios in die Ursachenforschung lässt aber noch mehr erwarten. 66 Die Interpretation von C ONACHER (1974a) ist verfehlt: „ ... the good which is to come of all this suffering ... no longer concerns the glory of Xerxes and Persia but the freedom of Asia now saved from despotism.“ (160). Der Chor stellt nirgends die Monarchie an sich in Frage. 67 R ODE (1965) sieht im I. Stasimon eine nicht motivierte „eigenständige gedankliche Komposition neben dem dramatischen Ablauf“ (67). Für den Zuschauer nimmt der Chor freilich eine unentbehrliche Fokalisation auf die Schuldfrage vor, die auch für die weitere Handlung von Bedeutung ist. Vgl. das Urteil von B ORDAUX (1993): „Poétiquement, le premier stasimon avec ses variations sur des mots et des thèmes s’insère parfaitement dans la composition de la symphonie ‚Salamine’.“ (79). <?page no="145"?> „ … ein Heilmittel gegen das Unglück“ 131 5. „ ... ein Heilmittel gegen das Unglück“: Sinneskrankheit, Hybris, swfrone‹n 5.1 Die Anrufung des Dareios als „atrÒmantij (II. Stasimon) Die mit den Opfergaben eintretende Atossa spricht von ihrer eigenen Angst und von einem kšladoj oÙ paiènioj (605), der ihr in den Ohren klingt (603- 06) - offenkundig das vorherige I. Stasimon, das der Chor explizit als Singen eines Goos (545-47) bezeichnet hatte. Dieses „nicht heilsame Getöse“ verstärkt sogar noch den fÒboj Atossas, die doch „treue Beratungen“ (528) angeordnet hatte. Stattdessen hat der Chor nun Gedankengänge vollzogen, die unbequem für das Königshaus sein können und deren Rezeption überraschend im Nachhinein auch der dramatis persona Atossa zugeleitet wird. Dass ihr Sohn vom Chor als der Hauptverantwortliche für die Katastrophe genannt wird, steht in diametralem Gegensatz zu ihrer Auffassung der Nicht-Verantwortlichkeit des absolutistischen Gottkönigs, was sie mit einem ermahnenden eâ g¦r ‡ste an den Chor betont hatte (211-14). Gerade die schmerzvolle Erkenntnis einer Wahrheit dürfte aber das Fundament einer nachhaltigen ‚Heilung’ sein, die sich nicht in einer eher diffusen Opfer- und Gebetshaltung erschöpft. Das schon vor dem Botenbericht geplante und vom Chor angeratene Opfer für Dareios erscheint im Geschehensablauf, als die verängstigte Atossa nach dem I. Stasimon eintritt, nun fast als eine Reaktion auf die beunruhigenden Gedanken des Chores über den Fortbestand Persiens. Aber obwohl die Rhesis Atossas und ihr Opfer den Auftakt für den anakletischen Hymnos des Chores bilden, bleibt vonseiten Atossas erneut auffallend unbestimmt, was Gebet und Opfer nun eigentlich konkret bewirken sollen. Markant ist jedenfalls, dass Dareios für sie der Vater ihres Sohnes ( paidÕj patr… , 609) ist - und nicht der Landesvater, Großkönig und Politiker, von dem sich der Chor nicht nur für Xerxes, sondern auch für die Polis und alle f…loi schon früh ein Heil erhofft hatte (218f.): Die Perspektive des Zuschauers wird durch Atossa aufs Neue weggelenkt vom Leid des ganzen Landes und von der Erfordernis einer wirklich umfassenden ‚heilenden’ Reaktion auf die nationale Katastrophe. Und so, wie die Person des Xerxes das Hauptaugenmerk Atossas ist, steht jetzt für den Zuschauer auch das Individuum Atossa mit ihrer Angst im Mittelpunkt, denn ein wesentlicher Antrieb für sie ist auch die Beendigung ihres persönlichen fÒboj , der vom Gesang des Chores offenkundig sogar noch verstärkt wurde (vgl. toig£r, 607). Allerdings hatten weder Atossa noch der Chor irgendwann zuvor im Stück nun die Totenbeschwörung des Geistes von Dareios zur Debatte gestellt 68 - die Aufforderung an den Chor, Dareios emporzurufen, dürfte des dramatischen Effektes halber so plötzlich und überraschend kommen: 68 Vgl. H ALL (1996) 151 und M ICHELINI (1982): „One would expect explanations and plans relating to the coming of the Ghost, but there are none[.]“ (116); diese Rhesis sei <?page no="146"?> Perser 132 ¢ll', ð f…loi, coa‹si ta‹sde nertšrwn Ûmnouj ™peufhme‹te, tÒn te da…mona Dare‹on ¢nakale‹sqe: (619-21) Hier fungiert Atossa gewissermaßen als ™x£rcousa , die die opferbegleitenden Hymnen anweist. Damit beginnt nicht nur ein innerhalb der fiktionalen Bühnenwelt direkt motiviertes chorisches Ritual, sondern einmal mehr stellt dieser persische Chor eine Bezugsebene zur song-and-dance culture des athenischen Publikums dar. Aus den Worten von Dareios in v.683f.: t…na pÒlij pone‹ pÒnon; stšnei, kškoptai, kaˆ car£ssetai pšdon ist zu schließen, dass dieser Beschwörungshymnos in lebhaften Tanzfiguren auf dem Boden der Orchestra, der in seiner sicht- und hörbaren Erschütterung den Boden des schwer geschlagenen Persiens darstellt, aufgeführt wird. 69 Aber obwohl dieser Hymnos, der ebenso rasch beginnt, wie ihn Atossa unvermittelt angewiesen hatte, auch vonseiten des Chores keinen Bezugspunkt kat¦ tÕ ¢nagka‹on im Plot (sehr wohl aber kat¦ tÕ e„kÒj ) zuvor hat, zeigt der Chor eine überaus deutliche Intention, die sich von der leicht diffusen Unbestimmtheit der von persönlicher Angst getriebenen ™x£rcousa Atossa abhebt: Der Chor, der im I. Stasimon den Blick des Zuschauers auf die Notwendigkeit einer Ursachenforschung und auf die Gefahr eines Zusammenbruches des Reiches gelenkt hat, gestaltet nämlich die liturgischen Ûmnoi nicht nur als bloßen Resonanzboden der Opferhandlung Atossas. Die Nekromantie ist trotz der Betonung der eigenen ‚barbarischen’ Sprache (635f.) und des Ionikers nicht eine spezifisch persische Erscheinung; sie wird mit einem selbstreferentiellen Auftakt ( ¹me‹j q' Ûmnoij a„thsÒmeqa , 625) im hic et nunc der song-and-dance culture verortet. 70 Mit der Plausibilität eines solchen Rituals in dieser Situation wird auch die Intention des Chores nachvollziehbar: Dareios soll als Rettergestalt auftreten und ein Heilmittel bringen. ... pšmyat' œnerqen yuc¾n ™j fîj: e„ g£r ti kkakîn ¥koj o de plšon, mÒnoj ¨n qnhtîn pšraj e‡poi. (630-32) sogar bloß als ein notwendiges Verbindungsstück zwischen den beiden Chorliedern zu sehen. Wenn auch dies zu hart geurteilt sein dürfte - die Ankunft der hehren Königsmutter zu Fuß im schlichten Gewand und die exotische Opferhandlung zeigen dem Zuschauer die Extraordinarität der Situation an -, so bestätigt diese Beobachtung doch die scharfe Konturierung, die dem chorischen Ritual mit dem eigentlichen Ziel eines ¥koj zuteil wird. 69 Über die grundsätzlichen Probleme dieser Verse informiert DE W AELE (1929), der wohl zu Recht nur pšdon auf car£ssetai bezieht und pÒlij mit stšnei und kškoptai zusammen nimmt. Seine Deutung: „Metaphora audaci illa hominum laceratio ad terram transfertur: haec enim fossis laceratur quibus munera defuncto regi offerantur atque ipse eliciatur.“ (188) verfährt allerdings etwas zu positivistisch. 70 Zur Nekromantie im Kontext vgl. H ALL (1996) 151f. Selbstreferentieller Art sind auch vv.634-39. <?page no="147"?> „ ... ein Heilmittel gegen das Unglück“ 133 „ ... schickt von unten die Seele ans Licht empor: Denn wenn er [Dareios] mehr [als wir] ein Heilmittel gegen das Unglück kennt, so kann er als einziger von den Menschen ein Ende [des Leids] nennen.“ Die Bitte um eine heilende Einflussnahme des Toten geht genuin vom Chor aus und verleiht seiner Intention vielleicht gerade mit Hilfe der so unerwartet einsetzenden, nicht angekündigten Nekromantie Kontur, womit auch die ‚intentionslose’ Haltung Atossas erklärbar wird. Umgekehrt war aber dem Chor schon von Anfang an an einer - allerdings nicht auf diese Geisterbeschwörung hin fokussierten - helfenden Einflussnahme von Dareios gelegen, so dass sich hierin wiederum eine Kontinuität herstellt. Die medizinische Metaphorik des „Heilmittels“ findet später in den Äußerungen des Dareios ihre Bezugspunkte in der Diagnose der nÒsoj frenîn (750), der Xerxes verfallen sei, sowie in der Mahnung zum sw-frone‹n (829), zum „gesunden Denken“. Das pšraj ( „Ende, Höchstes, nicht mehr überschreitbare Grenze“), zunächst als Vermeidung einer weiteren Verschlimmerung gedacht, wird sich im Verzicht auf den Imperialismus, vor allem zur See, und in der Beschränkung auf das eigene persische Mutterland konkretisieren. 71 Die große Bedeutung, die der Chor der Ursachenforschung beimisst, offenbart sich in der das Lied betont abschließenden Frage nach den ¡m£rtia (676): 72 Die Wünsche nach Heilung und Diagnose (beides nun in concreto zu verstehen), die der Chor selbst (652-56) nur im Ansatz auf der Grundlage seiner empirisch-historischen Erfahrung hinsichtlich der Unschädlichkeit der Regierung des Dareios durchführt, umschließen ringkompositorisch dieses II. Stasimon. 73 Dareios tritt hier als ein „atrÒmantij auf, als ein Seherarzt. Nekromantie und die heilende Einwirkung eines göttlichen da…mwn (vgl. 634, 641, 643) dienen im griechischen Denken der Schadensabwehr und der magischen Bannung böser Geister: „With his prophetic insight and potential to know 71 Die beiden Verse 631f. sind in ihrem Verständnis umstritten, so dass auch Konjekturen vorgenommen wurden. B ROADHEAD (1960) interpretiert ¥koj vollkommen zu Recht als „a way of averting (future) evils“ (165) und verweist auf die Belege Ag. 17 und 1169-72 und die Verwendung von f£rmakon Ag. 548. B ELLONI (1994) 212 zitiert für die Junktur kakîn ¥koj Hom.Od. 22,481, Il. 9,250 und Aisch.Cho. 539: ¥koj toma‹on ™lp…sasa phm£twn . Das plšon interpretiert B ELLONI richtig als „ ‚più efficace’ delle iniziative prese dal Coro. ... Se la gravità del caso esige un ¥koj , Dario è senz’altro mÒnoj qnhtîn nel produrre un pšraj .“ (212). Sh. auch die Diskussion bei K RAUS (1991) 80-84, der pšra konjiziert und dies „im Sinne einer comparatio compendiaria“ (84) zu qnhtîn zieht: „Dareios, kein Sterblicher mehr, ... ist der einzige, der mehr zu sagen vermöchte als Sterbliche, wofern er noch ein Heilmittel weiß.“ (ebd.). 72 Die Passage ist korrupt, doch ist Neutrum Plural ¡m£rtia unverdächtig. W EST druckt: t… t£de, <t… t£de,> dun£ta, dun£ta, / † perˆ t´ s´ d…duma di¦ † gošdn' ¡m£rtia; Gerade in Bezug auf die Frage nach dem ¥koj ist der somit auch ringkompositorisch greifbare Tenor der ganzen Chorpartie gesichert. Für t´ s´ hält W EST aufgrund von F , tÍ sÍ gÍ tÍde , die Lesart g´ s´ für möglich. Damit käme auf jeden Fall wieder die weite Perspektive dieses Chores zum Ausdruck, der wortwörtlich um den Boden bemüht ist. 73 Zur Problematik einer Gattungsdefinition dieses Liedes, das Dareios selbst als Goos identifiziert (687, 697), sh. unten S.489. <?page no="148"?> Perser 134 the ‚cure’ of the evils which inflict his devotees, Dareios is cast as a Greek „atrÒmantij, the oracular healing daimon.“ 74 Mit seinem emphatischen Beschwörungsritual stellt der Chor, selber Verbindungsglied zwischen chthonischer und diesseitiger Welt, die erforderliche magische Atmosphäre erst her. Die Heilungsintention, die dieser Beschwörungsszene zugrunde liegt, lässt sich wohl auch aus den Fröschen ableiten, wo Aristophanes die Kenntnis der Szene explizit durchblicken lässt (1026-29): Die Anabasis des Aischylos ist von dem Bestreben einer Rettung der Polis durch das Erlernen des eâ frone‹n (Ran. 1485) geleitet. 75 Die Vorstellung vom „atrÒmantij findet sich bei Aischylos noch Eum. 62f. (Apollon), Hik. 262-74 (Apis) und Ag. 1621- 24, hier bezogen auf körperliche Qualen, die Klytaimestra und Aigisthos dem Chor androhen, um ein systemkonformes swfrone‹n zu erzwingen. Alle diese Stellen sind Verweisangaben auf Heilungsstrukturen, die eine Kontrastfolie zur momentanen Unordnung bilden. Der Bezug auf die leidlose, prosperierende Vergangenheit, aus der heraus offensichtlich eine Gesundung zu erwarten ist, zeigt sich plastisch im Äußeren von Dareios: Zur Pracht seiner Tiara und Schuhe bildet die zerfetzte Kleidung von Xerxes einen denkbar großen Gegensatz. Wenn Atossa dann in ihren letzten Worten neuen „Kleiderschmuck“ ( kÒsmon , 849) zu bringen ankündigt, dann zeigt sich für den Zuschauer mit diesem Leitmotiv der Perser die Spannung zwischen der faktischen Zerstörung und der intendierten Wiederherstellung der „Ordnung“ ( kÒsmoj ), in die auch Atossa, obschon primär auf das persönliche Wohlergehen ihres Sohnes fixiert, eingebunden ist. Das für die aischyleische Tragödie grundlegende Spannungsverhältnis zwischen der Gemeinschaft und der saviour-Gestalt, welches wir eingangs postuliert haben, 76 ist in den Persern in überraschender Weise zum Vorschein gekommen: Xerxes, der verantwortlich ist für sein Land und dessen Wohlergehen, hat versagt, ja ganz im Gegenteil eine Katastrophe verursacht. Stattdessen kommt nun Dareios als „atrÒmantij , als Heiler, ins Spiel. Dass der Geist angerufen wird und erscheint, ist eine für den Zuschauer bei aller Vertrautheit mit dem zeitgeschichtlichen Stoff völlig unerwartete Wendung der Geschehnisse auf der Bühne. 5.2 Eine unerbittliche Diagnose und die Rezeptur: Der Chor vor Dareios Als der Geist erscheint, bietet die Proskynese des Chores und sein t£rboj („ehrfürchtige Scheu“), Dareios überhaupt anzusehen und anzusprechen, dem Zuschauer ein fremdartiges Bild orientalischer Unterwürfigkeit. Doch 74 O’C ONNOR (1974) 25, mit ausführlicher Diskussion dieses umfangreichen Komplexes. 75 Vgl. H ALL (1996) 151f., die weiter auf die Demoi des Eupolis verweist, wo Männer vom Schlag eines Perikles an die Oberwelt treten (Eupolis fr. 99, 146 PCG). 76 Sh. oben S.94. <?page no="149"?> „ ... ein Heilmittel gegen das Unglück“ 135 dürfte sich die Haltung des Zuschauers angesichts des Auftrittes von Dareios, Zentralfigur der politischen Umwälzungen dieser Zeit, ebenfalls als eine Art Nebeneinander von Annäherung und Distanz beschreiben lassen, so wie gegenüber dem Chor. Als einen Widerspruch zum Grundtenor des eben verklungenen Hymnos mag man es werten, dass sich der Chor jetzt weigert, Dareios von den Geschehnissen Mitteilung zu machen. Dass sich ein Chor durchaus im Wissensvorsprung befinden und dem Dialogpartner Informationen übermitteln kann, zeigt die Stichomythie mit Atossa (232-48) - anstelle von Atossa hätte im Folgenden auch der Chor dem Altkönig die Nachricht von der vernichtenden Niederlage schrittweise, immer auf Nachfrage von Dareios, geben können. 77 Ein simpler Grund dafür, dass der Chor, der mit einem je dreifachen sšbomai und d…omai und sogar einem Reim seine rituelle Verfasstheit deutlich evoziert (694-96, 699-701), sich selbst verstummen lässt - lšxaj dÚslekta f…loisin (702) begründet abschließend die recusatio weiterer Sprachhandlungen mit der Schrecklichkeit der Ereignisse -, liegt darin, die Ehepartner Atossa und Dareios auf der Bühne miteinander in Kontakt zu bringen. 78 Man kann mit S EECK auch rein von Fragen der dramatischen Technik ausgehen und hier eine Kombination zweier verschiedener Szenen, Totenanrufung und tatsächliche Geistererscheinung, sehen. Das hieße, der Chor und mit ihm der Zuschauer erwarteten gar nicht, dass Dareios leibhaftig erschiene - ein Überraschungseffekt stelle sich ein, Chor und Zuschauer seien gleichermaßen perplex. 79 Allerdings müsste man dann die unmissverständlichen Aufforderungen zur Erscheinung (621, 630, 642, 650, 658, 662) als sinnentleerten Bestandteil eines konventionellen Rituals abtun, und wie anders könnte Dareios das ¥koj mitteilen? Wenn jedoch der Chor hier ganz auf seinen rezeptiven Status zurückgeworfen wird, so gibt diese selbstauferlegte Passivität ihm und dem Zuschauer die Möglichkeit, nach der Beschwörungsszene, mit der ein gewaltiger atmosphärischer Wechsel vollzogen worden ist, das Kriegsgeschehen nochmals schrittweise und komprimiert anzuhören. Was im I. Stasimon bereits ansatzweise vollzogen wurde, bewahrheitet sich jetzt von wahrhaft berufener Seite: Im Gespräch mit Atossa (703-58), in einem Monolog (759-86) sowie einer Unterhaltung mit dem Chor (787-844) evoziert Dareios die theologischen Grundaussagen dieser Tragödie. Die Hybris des Xerxes bei der naturwidrigen Knechtung des Hellespont gegen den Willen der Götter wird von Dareios als Geisteskrankheit gekenn- 77 Vgl. für Informationsvergabe durch den Chor Cho. 523-39 und Eum. 585-613; der Chor als passiver, fragender Part: Ag. 264-80, 615-35, 1198-1213; Cho. 164-82. Insofern wäre die Beobachtung von M ICHELINI (1982): „The chorus simply refuses to speak.“ (32) etwas zu modifizieren. 78 So B ROADHEAD (1960) XXVII und S TOESSL (1945) 162. 79 Sh. S EECK (1984) 19. Ähnliches gelte für die Choephoren, wo eine wirkliche Erscheinung Agamemnons gar nicht intendiert sei. Doch liegen dort die Dinge etwas anders; sh. unten S.393f. Anm.17. Vgl. auch B ROADHEAD (1960): „The appearance of the disembodied Darius is temporarily overwhelming, and all but strikes the Chorus dumb.“ (176). <?page no="150"?> Perser 136 zeichnet: pîj t£d' oÙ nnÒsoj frenîn / e ce pa‹d' ™mÒn; (750f.). Eine Reihe weiterer einschlägiger Markierungen lässt diese Verfehlung als ein vom Affekt diktiertes Handeln, bei dem der qumÒj die Oberhand über die sonst vernünftigen fršnej gewinnt, erscheinen. 80 Das aischyleische Konstrukt der ‚doppelten Motivation’ lässt jedoch synchron einen übelwollenden Daimon Einfluss auf die fršnej nehmen: feà, mšgaj tij Ãlqe da…mwn, éste m¾ frone‹n kalîj (725), so dass in der Tat Daimon und nÒsoj hier als „clearly ... coordinate“ 81 gesehen werden können. Ist jedoch dergestalt die swfrosÚnh (wie man extrapolieren kann) durch Hybris verletzt, so dürfte das vom Chor erwünschte ¥koj in einer Rückkehr zum swfrone‹n liegen. Für die Vermittlung dieses „gesunden Denkens“ ist nun ein Chor alter, konservativer Perser perfekt geeignet, nachdem der junge, übermütige Xerxes von falschen Beratern, ehrsüchtigen kakoˆ ¥ndrej der Führungsriege, in seinen katastrophalen Entscheidungen beeinflusst ( did£sketai , 753) worden ist und die ™pistola… (783) des Vaters hat fahren lassen. 82 Hier könnte man mit Ag. 385f. Peitho, das Kind der Ate, am Werke sehen. 80 Xšrxhj / d p£nt' ™pšspe dusfrÒnwj ktl . (552f.), Xšrxhj d' ™mÕj pa‹j nšoj ™ën nš' ¢frone‹ (782), pa‹j d' ™mÕj t£d' oÙ kateidëj ¼nusen nšJ qr£sei (744), oÙk eÙboul…v (749), tîn ØperkÒmpwn fronhm£twn (827f.), æj oÙc Øpšrfeu qnhtÕn Ônta cr¾ frone‹n (820), Øperfron»saj (825), ØperkÒmpJ qr£sei (831). Kontrastiv im Herrscherkatalog des Dareios über den Sohn des Medos: fršnej g¦r aÙtoà qumÕn òakostrÒfoun (767). Zur Verbindung von jungem Lebensalter und Hybris sh. Soph. F 786 TrGF: Ûbrij dš toi / oÙpèpoq' ¼bhj e„j tÕ sîfron †keto / ¢ll' ™n nšoij ¢nqe‹ te kaˆ p£lin fq…nei . Vgl. O’C ONNOR (1974) über die Symptomatik dieser Geisteskrankheit: „The symptoms of Xerxes’ disease - the delusion that he might compete with his father’s greatness, his blasphemous shackling of the Hellespont, the destruction of temples, his arrogant misjudgment of his enemy, his youthful boldness - indicate that he is afflicted with hybris. The disease has been fatal for Persia.“ (25f.). 81 S ANSONE (1975) 69. Vgl. ähnlich die Worte Agamemnons: kaˆ tÕ m¾ kakîj frone‹n / qeoà mšgiston dîron (Ag. 927f.). Zum Daimon, der besonders in den Persern eine große Rolle spielt, sh. L OSSAU (1998) 37; zur ‚doppelten Motivation’ in den Persern sh. S NELL (1928) 71; weiter B ELLONI (1994): „ ... una colpa nella quale umana responsabilità e intervento divino coesistono [.]“ (XXXIV); P OHLENZ (1954): „Was Xerxes so blind ins Verderben rennen ließ, war sein eigener Unverstand, auch wenn wir in dieser Verblendung die Einwirkung eines Dämons spüren. Auch in solchem Falle wird der Mensch nicht zum unfreien Werkzeug höherer Mächte.“ (60). Insbesondere in der vorzeitigen Erfüllung eines bestehenden Orakels von Zeus (Her. 8,96 und 9,42f. sind Orakel über den Untergang Persiens erwähnt, aber nicht gegenüber Dareios) durch Xerxes ist der Stellenwert der Eigenverantwortung dessen, der Entscheidungen trifft, zu erkennen: ¢ll' Ótan speÚdV tij aÙtÒj, cæ qeÕj sun£ptetai (742); zu dieser in der Tragödie topischen Gnome vgl. Aisch.Sept. 266 und F 395 TrGF; Eur.IT 910f. sowie K RANZ (1933) 68f. Zum Orakel in den Persern als „Spielraum ... , in dem sich Xerxes’ schuldhaftes Handeln entfalten kann“ und als wesentlichen Bestandteil der doppelten Motivation auf der ‚vertikalen’ Ebene sh. F ÖLLINGER (2003) 268-77 (Zitat 274). Da ist die Beschreibung des Feldzuges als ein ™laÚnein , als beschleunigendes Vorwärtstreiben durch Xerxes in der Parodos (73-75), sicher kein Zufall. 82 Historisch ist damit besonders Mardonios gemeint, der newtšrwn œrgwn ™piqumht»j (Her. 7,7); vgl. 7,16 ¢nqrèpwn kakîn Ðmil…v sf£llousi . Mit S CHENKER (1991) 214 kann <?page no="151"?> „ ... ein Heilmittel gegen das Unglück“ 137 Dareios beendet seine Diagnose der nÒsoj frenîn mit einem Hinweis auf seine eigene Regierungszeit, an der der Chor ja noch beteiligt war: eâ g¦r safîj tÒd' ‡st', ™moˆ xun»likej: ¤pantej ¹me‹j, o‰ kr£th t£d' œscomen, oÙk ¨n fane‹men p»mat' œrxantej tÒsa. (784-86) Aischylos, der zuvor die Aufmerksamkeit des Zuschauers lange Zeit auf das Gespräch zwischen Atossa und Dareios gelenkt hat, lässt an dieser Stelle mit einem Mal wieder den Chor, der als Zuschauer über 80 Verse lang stumm und zuhörend dagestanden war, ins Spiel kommen: t… oân ¥nax Dare‹e, po‹ katastršfeij lÒgwn teleut»n; pîj ¨n ™k toÚtwn œti pr£ssoimen æj ¥rista PersikÕj leèj; (787-89) Diese Kehrtwendung, die eine eigenständige intentionale Reaktion des Chores erkennen lässt, auch wenn sie durch Dareios mit einer Anrede provoziert ist, ist eine logische Fortentwicklung der Bühnensituation: Zeigt sich doch der Chor, kaum dass die Möglichkeit eines Gespräches mit Dareios (für den Atossa nur eine Informationsquelle war) gegeben ist, in seiner gewohnten Position als Bewahrer der persischen Königsmacht. Hier nun ist deutlich die Heilungsintention des Chores zu erkennen, mithin wieder die Frage nach dem kakîn ¥koj . Obwohl sich der Chor eigentlich denken könnte, dass das eâ pr£ssein in seiner wechselseitigen Bedingtheit von „gut gehen“ und „gut handeln“ zu tun haben muss mit der Sinneskrankheit von Xerxes, mit seiner Hybris und dem Krieg zur See, darf sich eine rezeptionsästhetische Interpretation nicht auf eine solche positivistische Ausdeutung zurückziehen, die in weiterer Konsequenz dem Chor als einer dramatis persona ein naives Unverständnis attestieren müsste. Wichtig ist hier in erster Linie, dass sich der Chor einschaltet, sein Bestreben nach einem künftigen Wohlergehen zu erkennen gibt und so dem „atrÒmantij Dareios die Möglichkeit weiterer Ausführungen und Analysen gibt. Und die Fragen des Chores initiieren einen Erkenntnisvorgang gerade auch für den Zuschauer. Gefordert sei Prophylaxe, so Dareios: Keine weiteren Feldzüge gegen Griechenland, auch wenn das eigene Heer größer sei, da die kleine, magere gÁ den Griechen beistehe (790-93). Diese Spezifizierung des schadenvermeidenden Handelns stellt nun einen wesentlichen Erkenntnisfortschritt für Chor und Zuschauer dar, da sich hier eine geradezu naturgegebene Abgrenzung der beiden Machthemisphären abzeichnet. Der Chor drängt Dareios zu genauerer Auskunft: Co. pîj toàt' œlexaj; t…ni trÒpJ d summace‹; Da. kte…nousa limù toÝj ØperpÒllouj ¥gan. (793f.) der Hinweis auf falsche Berater gerade aus dem Munde Atossas auch als Bestandteil ihrer durchgehenden Entschuldigungsstrategie in Bezug auf ihren Sohn gewertet werden. <?page no="152"?> Perser 138 Der immense persische ploàtoj kann auf griechischer gÁ nicht gedeihen und muss, zumal wenn er üppig aufgeblüht ist, förmlich absterben (vgl. den Bericht über die Flucht 490f.) und sollte sich auf den eigenen Boden beschränken: Diese Lehre erhalten Chor und Zuschauer. Wo der Chor jetzt angekommen ist, ist ein „punto di arrivo, non un fine ultimo“ 83 , die v.788 angesprochene teleut» . Ein weiterer pragmatischer Grund dafür, dass sich der Chor jetzt in einem Frage-Antwort-Gespräch mit Dareios befindet, liegt darin, dass die erst im folgenden Jahr 479 stattgefundene Schlacht bei Platäa in einer Prophezeiung in das hic et nunc der fiktionalen Bühnenwelt im Jahre 480 in Susa hereingespiegelt wird. Dabei ergibt sich für den Zuschauer die reizvolle Perspektive, dass er sich gegenüber dem Chor, dem er weiterhin sympathetisches Verständnis in dessen Sorge um die Zukunft entgegenbringt, in einem Wissensvorsprung befindet, der von Dareios nun abgetragen werden muss. Wenn dabei für den Zuschauer nochmals das Geschichtsbuch aufgeschlagen wird, dann erlebt er hier genau die ¹don» , die Aristoteles dem Betrachter eines Gemäldes durch den Vergleich mit der Realität und die Entschlüsselung dessen, was da mimetisch dargestellt wird, zuschreibt. 84 Diese Informationsvermittlung gestaltet sich jedoch als eine Absage an ein Denken in imperialistischen Kategorien, wie es der Chor nun vorbringt: Die Wiederherstellung der Ordnung, mithin das erwünschte ¥koj und das eâ pr£ssein , ermöglicht sich für ihn zunächst in einer neuen militärischen Operation gegen Griechenland, jetzt mit wenigen Elitesoldaten (795), die für die magere griechische gÁ vielleicht passender wären. Dieser Einwand, der sich immerhin auf die gottgegebene ‚natürliche’ Kriegsführung der Perser zu Land berufen kann, führt nun Dareios zum Höhepunkt und Abschluss seiner theologischen Deutung des Geschehens (800-42), das erst in Platäa den letzten Grund des Leidens erreicht haben wird: koÙdšpw kakîn / krhpˆj Ûp-estin, ¢ll' œt' ™kpidÚetai (814f.). Akzeptiert man die Konjektur von S CHÜTZ für das sinnlose ™kpaideÚetai , so besagt dieses Verspaar, dass durch weiteres Hervorquellen des Leides ein „Sockel“ überspült wird, und zwar „noch“. Das dürfte meinen, dass die im Boden verhaftete Ordnung Persiens durch die weitere blutige Vernichtung seines Menschenbestandes (vgl. pelanÕj aƒmatosfag»j , 816) noch nicht wieder erreicht werden kann. Denn das Perserheer - nicht nur Xerxes - ist durch die frevlerische Zerstörung 83 B ELLONI (1994) 245. - Etwas kurios klingen die Bemerkungen von B ROADHEAD (1960): „The Chorus speak as if they were somewhat bored by the King’s excursion into Persian history, and with their vivacious questions ( t… ... po‹ ... pîj ) bring him back to the realities of the moment.“ (198), und D I V IRGILIO (1973): „Il coro continua invece a non comprendere nulla [.]“ (53f.); nicht zu belegen ist dann die Behauptung, die Frage des Chores pîj toàt' œlexaj; richte sich eigentlich an Atossa, „che assiste al dialogo in silenzio“ (56), da sie ohnehin schon alles wisse. 84 di¦ g¦r toàto ca…rousi t¦j e„kÒnaj Ðrîntej, Óti sumba…nei qewroàntaj manq£nein kaˆ sullog…zesqai t… ›kaston, oŒon Óti oátoj ™ke‹noj: (Arist.Poet. 1448b 15-17). <?page no="153"?> „ ... ein Heilmittel gegen das Unglück“ 139 griechischer Heiligtümer unweigerlich dem dr©n-paqe‹n -Mechanismus verfallen: toig¦r kakîj dr£santej oÙk ™l£ssona / p£scousin ktl. (813f.). 85 Obwohl der Zuschauer hier aufgrund des bloßen Wiedererkennens der historischen Fakten eine Lust schon am Zuhören verspüren kann, dürfte doch das Mitleid mit dem p£scein der Perser, deren Boden förmlich im Blut schwimmt, überwiegen. Die ebenso luzide wie schreckerregende Einordnung von Schuld und Strafe in das bekannte theologische System - hier könnte ebensogut Solon auf der Bühne stehen und seine gnomischen Ansichten über Hybris, Olbos und Ate von sich geben - 86 zielt nicht auf Schadenfreude des Zuschauers ab, sondern auf einen Verstehensvorgang hinsichtlich menschlichen Scheiterns: ... æj oÙc Øpšrfeu qnhtÕn Ônta cr¾ frone‹n: Ûbrij g¦r ™xanqoàs' ™k£rpwse st£cun ¥thj, Óqen p£gklauton ™xam´ qšroj. toiaàq' Ðrîntej tînde t¢pit…mia mšmnhsq' 'Aqhnîn `Ell£doj te, mhdš tij Øperfron»saj tÕn parÒnta da…mona ¥llwn ™rasqeˆj Ôlbon ™kcšV mšgan. ZeÚj toi kolast¾j tîn ØperkÒmpwn ¥gan fronhm£twn œpestin, eÜqunoj barÚj. (820-28) Eine Besonderheit des Perser-Chores im Vergleich mit den anderen aischyleischen Chören ist der Umstand, dass der Hybris-Diskurs dem Chor nicht von vornherein bekannt ist, sondern ihm diese Theoreme erst von berufener Seite in einer trimetrischen Rhesis beigebracht werden müssen: Trotz der Gedanken über menschliche mhcan» und die Verführungskraft der Ate in der Parodos und das verderbenbringende Wagnis des Seekriegs im I. Stasimon kommt es Dareios zu, das theologische System der Zeus-Religion vor Chor und Zuschauer bekanntzugeben. 87 Dass dem persischen Chor nun 85 Aus der Diskussion zu v.814f. sind die Positionen von G ROENEBOOM (1960) und B EL - LONI (1994) herauszugreifen, die beide das von T UCKER konjizierte, aber sonst nur Is. fr. 19 S und Iul.Gal. 135 b belegte ™kplinqeÚetai akzeptieren. G ROENEBOOM sieht so plastisch einen „Tempel des Leides, von dem noch nicht einmal das Fundament gelegt ist ... sondern noch dabei ist errichtet zu werden“ (169): Allerdings heißt ™k-plinqeÚetai gerade das Gegenteil davon, nämlich „Ziegel herausnehmen“ (oder „in Ziegel zerlegen“) - so richtig von B ELLONI verstanden: „La loro krhp…j è instabile, insicura, destinata a subire la perdita di ulteriore pl…nqh : questi sono i kak£ in procinto di concretizzare la massima ‚fioritura’ di hybris a Platea (vv. 821-2), in grado di insidiare le fondamenta dello Stato.“ (251). Jedoch würde mit dieser Interpretation Dareios eine fast ausschließlich negative Perspektive eröffnen, die lediglich durch œti leicht abgemildert wäre. Mit œt' ™kpidÚetai hingegen ist die krhp…j , das Fundament des Staates, von vornherein substantiell vorhanden beziehungsweise bleibt dies nach wie vor; auch oÜpw legt ja immerhin ein zeitliches ‚Nachher’ nahe. 86 Wenn einer Figur bei Aischylos das Prädikat ‚Sprachrohr des Dichters’ zukommt, so Dareios in dieser „Entschlüsselungsszene“ (L ENZ (1986) 147). 87 Zur Rolle des Zeus sh. W INNINGTON -I NGRAM (1983) 1-15. Zeus wird weiter noch in v.532 (Einleitung des I. Stasimons) und v.915 (Ankunft von Xerxes) erwähnt, womit <?page no="154"?> Perser 140 diese Theologie ‚angelernt’ werden muss (vgl. die Frage nach den ¡m£rtia in v.676), ist in rezeptionsästhetischer Perspektive ein wichtiges Argument dafür, dass der Zuschauer in den Persern eine allgemeinmenschliche Aussage erkennt, wird ihm doch nicht zuletzt z u s a m m e n mit dem Chor eine Belehrung vonseiten einer gottähnlichen Figur zuteil, an deren Autorität kein Zweifel zu bestehen scheint. Trotz aller gebotenen Vorsicht, in der Aussage des Chores im Agamemnon über das p£qei m£qoj (Ag. 174-83) eine griffige Formel für die Ausdeutung der aischyleischen Tragödie insgesamt zu sehen, 88 kann man für die Perser noch am ehesten eine entsprechende Interpretation rechtfertigen. Denn in abschließender Erfüllung des Wunsches nach einem ¥koj rät Dareios dem Chor, auf den sinnverwirrten Xerxes mäßigend einzuwirken und ihn von dem gegen die Götter frevelnden Übermut abzubringen: prÕj taàt' ™ke‹non swfrone‹n kecrhmšnoi pinÚsket' eÙlÒgoisi nouqet»masin lÁxai qeoblaboànq' ØperkÒmpJ qr£sei. (829-31) Das ‚Generalrezept’ für die Vermeidung von tragischem Handeln kann als fabula docet dieser Tragödie angesehen werden, das über das bloße dr£santi paqe‹n (so in der Formulierung von Cho. 313) hinausgeht. Der aus Schmerz, Trauer und auch Angst heraus geborene Wunsch des Chores nach Aufklärung über die ¡m£rtia und nach der Mitteilung eines ¥koj ist erfüllt und offenbart sich nun in einer Aufforderung: Der Chor soll zum einen selbst das swfrone‹n wünschen und zum anderen dieses „gesunde Denken“ mit „vernünftigen Ermahnungen“ an Xerxes weitergeben. Diese geratenen Ratschläge transponieren das Rezept der ‚Heilung’, das durch Dareios für die beiden Gruppen Chor und Zuschauer entwickelt worden ist, in die fiktionale Welt hinein und fokussieren es auf die tragische Gestalt der Perser. Obwohl für die zunächst schwer verständliche, aber so überlieferte Junktur swfrone‹n kecr»menoi verschiedene Erklärungsversuche und auch Konjekturen gemacht wurden, dürfte sich durch W EST s Erläuterung: „construitur sicut crÇzontej “ (im kritischen Text seiner Teubner-Ausgabe) ein guter Sinn ergeben: Der Infinitiv drückt das Objekt des Verlangens und Wunsches aus 89 , während das Partizip imperativischen Charakter hat und sich eine Art Ringkomposition rund um die Dareios-Szene ergibt. - Eine Gleichsetzung von Zeus und Daimon, wie sie B ORDAUX (1993) 76 vornimmt, verbietet sich, auch wenn in letzter Konsequenz Zeus „le premier agent de la ruine des Perses“ (77) ist. 88 Sh. unten 300-310. 89 Diese Möglichkeit - auch vom Scholion A neben anderen angegeben: ... À oƒ crÇzontej kaˆ qšlontej swfrone‹n (D INDORF 491,5) - ist in B ROADHEAD s (1960) Auflistung (206f.) der diversen Vorschläge nicht berücksichtigt; die Bedeutung im Sinne von ‚sapientia indigentes’ lehnt er ab, „since kecrhmšnoi is never followed by an infin.“ (206), die von ‚sapientia usi’, weil dann ein Artikel beim Infinitiv stehen müsste. B ROADHEAD selbst akzeptiert die v.l. kecrhmšnon zu cr£w / cr£omai , interpungiert nach ™ke‹non und übersetzt mit „it having been declared (by the gods, presumably) that moderation must be observed“. Durch die Bestrafung der ØperkÒmpwn ¥gan fronhm£twn (827f.) habe Zeus <?page no="155"?> „ ... ein Heilmittel gegen das Unglück“ 141 eine deutliche Aufforderung darstellt, in Zukunft dieses Verlangen zu hegen: „Ihr sollt den Wunsch zur Besonnenheit haben.“ Die unter anderen von B ELLONI favorisierte Konjektur kecrhmšnon (vgl. Ag. 1620 swfrone‹n e„rhmšnon , an gleicher Position im Vers ) mit Bezug auf einen in der Zukunft bereits wieder zum swfrone‹n gelangten und mit den Alten beratenden Xerxes - „un primo indizio del suo recupero nel consesso degli anziani“ 90 also - würde eine immens positive, bereits resultativ bestimmte Zukunftsaussicht beinhalten; wie in unserer Interpretation des Kommos deutlich werden wird, ist bei dieser Lösung aber Vorsicht angebracht. In Fortführung der auffälligen Distinktion der ‚Zuständigkeitsbereiche’ Atossas und des Chores soll die Mutter dem in lak…dej auftretenden Sohn neuen kÒsmoj bringen (832-36) und ihn trösten (837f.), und so ihren Part für die Reintegration des geschlagenen Großkönigs erfüllen, die sich hier gewissermaßen in ihrer persönlich-individuellen Seite zeigt: Sie ist für den Trost zuständig, der Chor für die politischen Ermahnungen. Die letzte Anweisung von Dareios ist an den Chor gerichtet und liegt weiterhin auf der Linie der intendierten versöhnlichen Wendung der Dinge: Øme‹j d pršsbeij ca…ret', ™n kako‹j Ómwj yucÍ didÒntej ¹¹don¾n kaq' ¹mšran, æj to‹j qanoàsi p ploàtoj oÙd n çfele‹. (840-42) Mit dem verfügbaren ploàtoj soll also, so dieser gemeingriechische Topos, 91 sinnvoll umgegangen und sein Nutzen fruchtbar gemacht werden, anstatt dass er immer weiter gefährlich aufblüht und dann von der Ate „abgemäht“ (822) wird; die neuen Kleider für Xerxes sollen dazu gewissermaßen den also seinen Willen kundgetan (das sei die weitere Bedeutung von cr£w ), dass nämlich in Zukunft ein swfrone‹n stattfinden solle; einen Bezug auf die in v.739f. und v.801 erwähnten und mit der Niederlage bereits erfüllten Orakel lehnt B ROADHEAD dabei aber ab. Sicherlich ist es ein interessanter Vorschlag, Zeus, der sowohl für die Existenz der tim» der persischen Monarchie (762-64) als auch für die Bestrafung des entarteten Xerxes (vgl. neben den Orakel-Stellen auch den Chor in v.532) genannt wird, auch als diejenige Gottheit miteinzubeziehen, die Interesse an einer Besserung hat, zumal angesichts der Spannung zwischen der nÒsoj frenîn und dem swfrone‹n . Platäa muss so oder so noch als unabänderliche Auswirkung der aktuellen Katastrophe verstanden werden. Ein Zweifel an dieser Version bleibt aber nicht nur wegen der gezwungenen Interpretation von cr£w / cr£omai o h n e Bezug auf die erwähnten Orakel, zumal B ROADHEAD als einzige Parallelstelle Pind.Ol. 7,92 anführt, wo zudem aktivisch œcreon steht. Inhaltlich aber würde Zeus bloß zu einer Art Bereitsteller zweier Wahlmöglichkeiten, der dann die falsche bestraft, wie durch die historische Wirklichkeit bestätigt - der Raum menschlicher Entscheidung, das heißt eigenverantwortlichen Handelns im Sinne der doppelten Motivation, würde so wesentlich eingeschränkt. Vor allem stünde eine derartige Einwirkung durch Zeus thematisch völlig singulär innerhalb der Tragödie, in der Überlegungen zum richtigen oder falschen frone‹n immer von den menschlichen Akteuren ausgehen - das aber zeigt deutlich an, dass dieses Moment eben auch auf der menschlichen Seite der doppelten Motivation anzusiedeln ist. 90 B ELLONI (1994) 254. 91 Vgl. Alkm. fr. 3,37-39; Pind.Isthm. 7,39-42; Eur.Alk. 788f., Hik. 953f., Her. 503-505, Bakch. 907-11. <?page no="156"?> Perser 142 Grundstock legen. Zugleich spricht aus den Worten dessen, der kurz zuvor die Härte der Zeus-Theologie und deren endgültige Bewahrheitung in Platäa unmissverständlich evoziert hatte, Trost, im Unglück nicht zu verzweifeln: Auch dies, die ™lp…j im Pessimismus, gehört zur Aussage dieser ‚griechischen’ Tragödie. Mit den letzten Worten des wieder unter Tage verschwindenden Dareios, dem selbst der Reichtum ebenso wenig mehr nützt wie den vielen Getöteten, zeigt sich, ganz im Einklang mit den vorherigen Weisungen an Atossa und den Chor, in einer dritten Stufe ein Lichtstreif am Horizont eines zukünftigen, auf sich selbst beschränkten und wieder zum alten System eines Dareios zurückgekehrten Persiens. 92 So zumindest die poetisch gestaltete Theorie. Die affektive Reaktion des Chores bringt den Zuschauer jedoch nach dieser Beantwortung der Frage nach dem ¥koj und dem eâ pr£ssein in das hic et nunc zurück: Der „Sockel“ des Leides ist noch nicht erreicht, Platäa wird folgen - à poll¦ kaˆ parÒnta kaˆ mšllont' œti / ½lghs' ¢koÚsaj barb£roisi p»mata (843f.). 93 Die von Dareios verordneten nouqet»mata und das swfrone‹n haben hierfür also noch keine Relevanz; erst prÕj taàta (829), n a c h Platäa und i n B e z u g darauf, soll die Belehrung erfolgen. Das Konzept der ‚Heilung’ liegt zwar vor, die Durchführung aber wird verzögert; der Chor befindet sich quasi in einem Zwischenstadium, das zudem dadurch definiert wird, dass der Auftritt des Xerxes erst noch bevorsteht. Jedoch wird nach dieser resignierenden Klage über das die „Barbaren“ erwartende Leid wiederum der versöhnliche Ausblick durch Atossa, die lange Zeit stumm dagestanden hatte, eröffnet: Der Anweisung von Dareios gemäß geht sie, in gewohnter Weise vordringlich um ihren Sohn besorgt ( m£lista d' ¼de sumfor£ (846) wirkt angesichts der nationalen Katastrophe allerdings fast schon sarkastisch), neuen Kleiderschmuck holen. Dieser kÒsmoj verspricht in dinglicher Symbolik die persische Monarchie wiederherzustellen, nachdem ja das Motiv des Kleiderzerreißens die Zerstörung indiziert hat. Diese Neuausstattung wird allerdings im Stück nicht mehr vorgeführt. 92 In diesem Sinne auch B ROADHEAD (1960) 209f. („ ... peace and prosperity will return to the Persian empire“), der auch die zum Teil abstrusen anderen Interpretationen widerlegt, welche hier „oriental colouring“ oder „comic flavour“ sehen, oder dem Dichter die Absicht beilegen „to bring apathetic, self-indulgent temper of the old men“. 93 B ELLONI (1994) bezieht diese Verse lediglich auf die Differenz zwischen den bereits vom Boten als nur teilweise angesehenen kak£ (330, 513f.) und den unmittelbaren Konsequenzen in Form der Gefährdung persischer Macht, also auch des „interno dell’ impero“ (249), wie sie der Chor vv.583-97 ausspricht. Die Bemerkungen des Boten über weiteres Leid beziehen sich jedoch sicher nur auf seine eigene Berichterstattung; und in der Rede des Dareios geht es nicht mehr um die als höchst brisant vorgeführte innenpolitische Gefährdung: Dieses Thema ruht hier, was sicherlich auffallend ist. In den Augen des Zuschauers reagiert der Chor doch wohl unmittelbar auf die prophezeite negative Zukunft des kommenden Jahres. <?page no="157"?> Selbstbescheidung und Katharsis im Ritual 143 6. Selbstbescheidung und Katharsis im Ritual - Xerxes vor dem Chor 6.1 Der geographische Horizont: Persien und Athen (III. Stasimon) Vor dem zu erwartenden Auftritt des Xerxes steht für den Zuschauer das III. Stasimon an. Der Chor nimmt hier nicht Bezug auf die Prophezeiung des Dareios, beklagt also nicht das noch bevorstehende, unermessliche Leid. 94 Obwohl sich so die Möglichkeit ergeben hätte, den Chor nun in seinem neu gewonnenen Wissen über die theologischen Zusammenhänge zu zeigen, hätte damit doch zugleich die Gefahr einer ermüdenden, wenn auch lyrischen Wiederholung dessen bestanden, was Dareios kurz zuvor in so konzentrierter Form im Trimeter vorgetragen hatte: Diese Art der Sinndeutung und Fokalisation reicht aus. Zudem hätte sich mit einer direkten Aufarbeitung der Dareios-Szene - nicht nur im III. Stasimon, sondern auch im Kommos mit Xerxes (wozu später) - die weitere Unbequemlichkeit ergeben, dass sich der Zuschauer bei einer expliziten Vertiefung gefragt hätte, wieso denn die Warnung, nicht mehr gegen Griechenland zu ziehen und fortan swfrosÚnh walten zu lassen, sich nicht sofort umsetzen hätte lassen können, indem etwa das in Europa verbliebene Landheer doch zurückgezogen worden wäre - was einen unerträglichen Widerspruch zu der erbarmungslosen Vorhersage des Dareios produziert hätte, die ja gerade das aktuell und in der allernächsten Zukunft noch u n h e il b a r e Wirken der Ate (das heißt die sichere Bestrafung der Hybris von Xerxes und seinem Heer) evoziert hat. Dies aber stand durch das historische Wissen des Zuschauers unverrückbar fest. Der Gefahr einer poetischen Untergrabung historischer Fakten ist Aischylos mit seiner Lösung entgangen; die knappe affektive Reaktion des Chores in den beiden Trimetern (843f.) auf Dareios’ Worte muss insofern ausreichen, ohne dass eine nochmalige, ausladende lyrische Klage vorgenommen wird. Die Ausblendung der Platäa-Thematik, mithin der negativen nahen Zukunft, hier und insbesondere im Kommos mit Xerxes, der ja, logisch zu Ende gedacht, von der sich noch fortsetzenden Katastrophe zunächst eigentlich gar nichts erfährt, unterliegt jedoch einer spezifischen Aussageintention, die für die adäquate Beurteilung des Schlusses der Perser wichtig ist. Das III. Stasimon evoziert die prächtige Vergangenheit der besonnenen Regierung von Dareios in Bezug auf dessen Eroberungen, die in ihrer immensen geographischen Ausdehnung, vom Hellespont über die Ionischen Inseln bis hin nach Rhodos und Zypern, ausführlich vorgeführt werden. Zweifellos ist diese Imagination, die den Zuschauer nötigt, seine geistige 94 S EECK (1984) meint, „kein Wort läßt erkennen, daß der Chor eben noch mit diesem Dareios gesprochen hat“ und siedelt das III. Stasimon „wieder auf der Ebene der bloßen Anrufung“ (20) an; die „Erinnerung an die große Vergangenheit“ stehe „eindeutig innerhalb der Klage“ (17). Ähnlich S NELL (1928): „ ... sein Erscheinen hat keinerlei Wirkung.“ (68). <?page no="158"?> Perser 144 Landkarte aufzuschlagen und dem Chor bei dessen Deskription gerade des zwischen Griechen und Persern umstrittenen Grenzraumes zwischen Europa und Asien zu folgen, ein wirkungsvoller Kontrast zu dem durch die Sinnverwirrung des Xerxes eingetretenen Machtvakuum. Die Zurechtstutzung des hybriden Ausgreifens über diesen, von Susa aus gesehen westlichen Horizont hinaus nach Athen und Europa führt sogar zu einem Verlust dessen, was eigentlich den Persern, solange sie sich auf den Landkrieg beschränkten, in der kosmischen Ordnung durch die tim» von Stammvater Zeus (vgl. 762) von Anfang an zugeteilt war. Müssen sich jetzt aber nicht auch die Sieger, die Athener im Theater, im Gesamtduktus der vorherigen theologischen Aussage, die hier eine anschauliche Konkretisierung erhält, gewarnt fühlen? Ein Ausgreifen über diesen breit beschriebenen, neu gewonnenen Lebensraum, der hart an die östliche Hemisphäre Asiens grenzt, und eine Absage an friedliche Koexistenz mit Persien kann Athen in dieselbe Gefährdung durch Ate führen. 95 Auffallend ist jedenfalls, dass auf dem Höhepunkt des Liedes in der Epode der Blick des Zuschauers auf das starke ionisch-kleinasiatische Festland gerichtet wird, von wo die Perserkriege durch einen von Athen unterstützten Aufstand ihren Ausgang genommen hatten (vgl. Her. 5,97). Treffen kann die Ate jeden ¢n»r , jeden brotÒj , so weiß man aus der Parodos. Diese Epode ist auch markant abgesetzt durch den vollständigen Wechsel in den Daktylos, das ‚politische’ Metrum der Perser, das im I. Stasimon (dort 584-97) eine interne Auflösung der persischen Macht als reale, drängende Befürchtung in den Raum gestellt hatte. Die ‚Unschädlichkeit’ von Dareios und die der leidvollen Gegenwart diametral entgegengesetzte Möglichkeit der ‚gesunden’ Staatsverwaltung und Kriegsführung kommt gleich zu Beginn in einer Reihe von Adjektiven mit aprivativum sinnfällig zum Ausdruck: Dareios war ein ¢k£kaj, ¥macoj basileÚj (855) und führte seine Soldaten ohne Leid wieder heim: nÒstoi d' ™k polšmwn ¢pÒnouj ¢paqe‹j / <aâqij ™j> eâ pr£ssontaj «gon {™j} o‡kouj (861f.). Die vom Chor in der rituellen Klage vermittelten p£qh ganz Persiens waren von vornherein nicht gegeben: Insofern richtet sich die auf ein swfrone‹n , welches im Wohlergehen des persischen o koj auch eine wechselseitige Harmonie der Sozialstrukturen Polis und Haus erzeugt, hinarbeitende (mentale) Heilung des Xerxes auch auf eine Überwindung negativer Affekte. Die vorherige Befürchtung einer gänzlichen Auflösung der persischen Königsmacht wird in diesem Stasimon zugunsten einer rein außenpolitischen Perspektive, die einen geographischen Horizont zeichnet, ausgeblen- 95 Vgl. S OMMERSTEIN (1996): „ ... we could lose it if we are not careful as easily as Xerxes did [.]“ (93); sehr dezidiert M ELCHINGER (1979) 35-39 (schon die Warnung zum swfrone‹n sei „in die aktuelle Gegenwart Athens hinein“ (32) gesprochen); auch F ÖLLINGER (2003) 254. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Thukydides die von Athen geleiteten expansiven Unternehmungen des Delischen Seebundes unter dem prÒschma (1,96) der Vergeltung sieht. <?page no="159"?> Selbstbescheidung und Katharsis im Ritual 145 det und aufgegeben: Das drohende Vakuum im Inneren füllt der auf die Wiedererrichtung der Ordnung abzielende Chor aus. Diese neue Ordnung ist Folge der geradezu naturgesetzlichen Neu-Ordnung der geopolitischen Lage und basiert wesentlich auf dem Verbleiben des Königs in Susa: Das Fortstürzen des Xerxes ¢f' ˜st…aj (867), über den Halys hinaus ist im Wirken der Ate eine Grenzüberschreitung in concreto. Die letzten Verse dieses Stasimons können, obwohl sie mit dem ‚Wir’ des Chores das aktuelle Leid konstatieren und mit einer raschen Wendung hin zur Gegenwart den Auftritt von Xerxes vorbereiten, als eine implizite Warnung an jeden verstanden werden, der sich gegen den Willen der Götter auf eine Expansion zur See verlegt: nàn d' oÙk ¢mfilÒgwj qeÒtrepta t£d' aâ fšromen polšmoisi, dmaqšntej meg£lwj plaga‹si pont…aisin. (904-06) 6.2 Die rituelle Leiderfahrung im Kommos und die Integration des Xerxes Hat der eine Tragödie wie die Perser sicher passend beschließende Kommos die Aufgabe, ein völlig vernichtetes Land und einen erniedrigten Xerxes vorzuführen, dem der Chor nur Salz in die Wunden streut, anstatt ihm die Ermahnungen des Dareios mitzuteilen? Oder zeigt sich für den Zuschauer vielmehr ein einigermaßen versöhnlicher Abschluss, bei dem der Chor die tragische Figur Xerxes, der im Sinne des p£qei m£qoj seine Lektion gelernt hat, wieder aufnimmt? Dies sind in etwa die konträren Grundpositionen der Forschung, die jedoch, in der Perspektive einer Heilungsintention des Chores und unter Beachtung des historischen Kontextes, miteinander verbunden werden können. 96 Die Tatsache der noch im Jahre 472 fortgeführten kriegeri- 96 Das Stück ende in einem „Furioso des Jammers“, so L ESKY (1972) 84; B ROADHEAD (1960): „For the greater part of the final scene ... the Chorus do little more than rub salt into the wretched King’s wounds[.]“ (XXV); als eine Art kleines Satyrspiel gar möchte A DAMS (1983) den Schluss deuten; werkästhetisch S EECK (1984): „Der Chor antwortet auf Xerxes’ Klagen und Auskünfte prinzipiell nicht anders, als er es in A 2 [vv.249-531] gegenüber dem Boten getan hat.“ (16); W INNINGTON -I NGRAM (1983) folgert aus dem - von ihm so gesehenen - Fehlen der expliziten Weitergabe von Dareios’ Ratschlägen, die er immerhin als den wesentlichen Verständniszugang zu den Persern sieht: „For the Chorus, loyal subjects and faithful counselors though they may be, are but ordinary Persians. Xerxes and his subjects are upon the same moral level, and it is not the level of Darius. The last scene returns to the moral level and to the religious ideas of the first half of the play; and it is as though Darius had never spoken.“ (13). Zu den Vertretern der versöhnlichen Wendung sh. oben S.104 Anm.2 und unten S.153 Anm.111. Eine gewisse Offenheit des Stücks konstatiert zu Recht F ÖLLLINGER (2003) 281f., die zunächst auf die Kritik des Chores an Xerxes hinweist. Jedoch werde, aufgrund des Fehlens der Ratschläge, der Zuschauer einem entsprechenden Überlegungsprozess ausgesetzt, ob nämlich der Chor seine Ratgeberfunktion dann œxw tÁj tragJd…aj (so die Formulierung B ROADHEAD s (1960) XXXVIII) vollziehe. Der Zuschauer könne auch Mitleid empfinden für Xerxes, da der oft erwähnte Daimon das <?page no="160"?> Perser 146 schen Auseinandersetzungen mit Xerxes, die im Sieg Kimons am Eurymedon gipfelten, ist bei der Beurteilung des Endes zu wenig beachtet worden. Doch muss man diese spezielle Rezeptionssituation, allen Fährnissen einer definitiven Festlegung auf eine von Aischylos verfolgte Aussageintention oder gar einer erwünschten politischen Wirkung dieser Tragödie zum Trotz, zum mindesten dahingehend berücksichtigen, dass die Warnung des Dareios, nie wieder gegen Griechenland und Athen Krieg zu führen, eine Art „zooming“ 97 vollzieht, um auf die tagespolitische Situation von 472 hinzuweisen. Xerxes tritt in Anapästen vor den Zuschauer und bekennt sein Scheitern: „è: dÚsthnoj ™gè, stuger©j mmo…raj tÁsde kur»saj ¢tekmartot£thj. æj çmofrÒnwj d da…mwn ™nšbh Persîn gene´: t… p£qw tl»mwn; lšlutai g g¦r ™mîn gu…wn ·èmh t»nd' ¹ ¹lik…an ™sidÒnt' ¢¢stîn. e‡q' Ôfele Zeà k¢m met' ¢ndrîn tîn o„comšnwn qan£tou kat¦ mo‹ra kalÚyai. (908-17) An dieser Selbstreflexion ist bemerkenswert, dass Xerxes die Wirkkraft von Moira und Daimon anerkennt und seine Niederlage als Strafe von Zeus auffasst. Dieses Erkenntnisniveau entspricht demjenigen des Chores schon vor der Dareios-Szene, womit eine gemeinsame Erfahrungsebene von Xerxes und Chor geschaffen ist, auf der, so scheint es hier zunächst, das erforderliche swfrone‹n vermittelt werden kann. Sehr sinnfällig ist dann die Tatsache, dass der gottgleiche, absolutistische Monarch, der König der Könige, beim Anblick des Chores, dem „Alter der Bürger“, derer, die alters- „generationenübergreifende Wirken“ versinnbildliche, das im Zusammenhang mit dem unabänderlichen Orakel des Zeus (739-42) die Schuld des Xerxes „durch die diachrone Einbettung relativiert“ (286). M ICHELINI (1982) weist darauf hin, dass „reasoned discourse ... counsel or rebuke“ in threnodischen Anapästen von vornherein nicht wirklich möglich ist, projiziert dies aber unzutreffend auf eine „ineffectiveness of supportive advice to cure the incurable“ (148), die schon mit der Dareios-Szene zu Tage trete - dies widerspricht der Evidenz des Textes. - Die Problematik des Schlusses ist umfassend dargestellt von L ENZ (1986), bes. 156-63, und in einer Art Synthese der beiden Positionen dahingehend gelöst, dass am Ende eine „einstweilige Verarbeitung der Katastrophe durch den Hauptschuldigen“ (161) dargestellt werde, allerdings nur bis zu einem gewissen Grade in der gnîsij des tragischen Helden Xerxes. Unsere Überlegungen versuchen im Folgenden, die ‚offenen’ Ansätze von F ÖLLINGER und L ENZ weiterzuentwickeln. 97 Der Begriff aus der Kinematographie wurde von S OURVINOU -I NWOOD (1989) am Beispiel der Antigone verwendet und in Bezug auf die Problemstellung der Perser von P ELLING (1997) 12 aufgegriffen, der hinsichtlich der politischen Aktualität dieser Tragödie zu Recht davor warnt, sich auf eine einzige Lesart festzulegen. Stattdessen sei eine vom Zuschauer jeweils individuell aufschlüsselbare „contemporary resonance“ - diese aber mit Nachdruck - anzunehmen. Der Stoff sei nun einmal „rich, engrossing, lively“ (13) gewesen. <?page no="161"?> Selbstbescheidung und Katharsis im Ritual 147 schwach in Persien zurückgeblieben waren, weiche Knie bekommt, und zwar so sehr, dass er sich im Nachhinein den eigenen Kriegstod wünscht. Was man neuzeitlich als ‚schlechtes Gewissen’ bezeichnen würde, gewinnt innerhalb der Struktur der Tragödie durch die sprachlich-motivische Gestaltung besondere Brisanz: Vor dieser ¹lik…a , die die Generation des ‚unschädlichen’ Dareios repräsentiert 98 , ist Xerxes bereit sich zu verantworten und nimmt damit überraschend den Anspruch Atossas zurück, er sei im Falle eines verfehlten Handelns oÙc ØpeÚqunoj pÒlei (213). Hatte dort die Nennung der Polis und des eÙqÚnh -Verfahrens eine Bezugsebene für den athenischen Zuschauer errichtet, auf der die Fremdartigkeit dieser Auffassung einer monarchischen Staatslenkung konturiert wurde, so sind es jetzt die ¢sto… (! ), denen sich Xerxes förmlich zur eÙqÚnh ausliefert. 99 Die bange Frage von Xerxes: t… p£qw tl»mwn; situiert den eigenen Affekt ( p£qoj , zu konkretisieren als Schmerz) nicht nur in dem selbst erlebten und für alle Perser verursachten Leid (so 908-12), sondern weist - wie das begründende, fortführende g£r zeigt - vor allem auch auf einen e m o ti o n a l e n Ablauf der nun zu erwartenden Rechenschaftsablage vor dem Chor. Es liegt hiermit eine Grunddisposition für ein „Lernen durch Leid“ vor. Angesichts der Konstatierung einer nÒsoj frenîn durch Dareios und der Frage des Chores nach den ¡m£rtia (676) dürfte der aischyleische Xerxes auf einer höheren Stufe der Tragik stehen als ein bloß bestrafter Täter, dessen dr©n ein paqe‹n ohne weitere Konsequenz hervorruft. Nun stellt sich aber die Frage, in welcher Relation zueinander Leiden und Lernen im Kommos mit dem Chor gestaltet werden. Wie also reagiert der Chor auf die Katastrophe nun im direkten Kontakt mit Xerxes? Der Kommos präsentiert einen zusammen mit dem Chor am Ende des Stücks singenden Xerxes. Schon allein diese rein lyrische (also nicht etwa epirrhematische) Gestaltung zielt auf eine emotionale Aufladung des Zuschauers ab, dessen eigenen Affekt man auch hier in einer Ambivalenz von Mitgefühl für die geschlagenen Perser und der Erleichterung der eigenen Unversehrtheit durch den Sieg sehen muss. Für das fabula docet ist jedoch nun weiter darauf zu achten, welche inhaltlichen Vorgaben, wie sie bereits in den Anapästen von Xerxes selbst gemacht wurden, aufgestellt werden und wie der Chor intentional vorgeht. Die Intention des Chores kann sich, im Einklang mit der förmlichen Unterwürfigkeit des Xerxes, auf ein bemerkenswertes Maß an Redefreiheit stützen. Diese hatte der Chor zwar in der anfänglichen Verarbeitung der Katastrophe als Bedrohung für die persische Macht befürchtet (584-97), doch hat er sie sich selbst bei der Suche nach der Schuld schon angeeignet (und bemerkenswerterweise dann nicht weiter als Gefahr thematisiert). Sicher 98 Zur zeitlichen Struktur der Tragödie in dieser Hinsicht vgl. B ELLONI (1994) LVI und besonders F ÖLLINGER (2003) 279-82. 99 Vgl. auch Zeus (der anfangs den Persern die tim» verliehen hat) als eÜqunoj barÚj (828). <?page no="162"?> Perser 148 haben die „Treuesten der Treuen“ als Regierungsberater von vornherein die Möglichkeit einer Meinungsäußerung, aber was sie jetzt vornehmen, geht weit darüber hinaus. Denn das ™leÚqera b£zein des laÒj (592f.), den der Chor in der ganzen Bandbreite Persiens repräsentiert, erhebt sich aus der Asche dieses erodierten Bodens: Ñtoto‹, basileà, strati©j ¢gaqÁj kaˆ PersonÒmou ttimÁj meg£lhj, kÒsmou t' ¢ndrîn oÞj nàn da…mwn ™pškeiren. g© d' a„£zei t¦n ™gg£ian ¼ban Xšrxv ktamšnan, “Aidou s£ktori Pers©n: ¢gdab£tai g¦r polloˆ fîtej, cèraj ¥nqoj, toxod£mantej, p£nu tarfÚj tij muri¦j ¢ndrîn, ™xšfqintai. a„a‹ a„a‹ kedn©j ¢lk©j 'As…a d cqèn, basileà ga…aj, a„nîj a„nîj ™™pˆ gÒnu kšklitai . (918-30) Diese auf die Anapäste von Xerxes antwortende Proode, 100 Auftakt für die eÙqÚnh , begrüßt Xerxes unverhohlen als Töter der biologischen Grundlage der g© , der die endogene Jugend in den chthonischen Bereich des Hades gestopft habe. Die persönliche Verantwortung des Xerxes, der selbst zunächst die göttliche Seite der ‚doppelten Motivation’, Daimon und Moira, genannt hatte, wird hiermit deutlich evoziert, was dieser sogleich akzeptiert: Zum Unglück und zum Übel für das Land sieht er sich geworden (931-33). Die Auflösung der Kraft seiner gu‹a korreliert mit dem Gebeugtsein ganz Asiens - ™pˆ gÒnu kšklitai -, und anstelle einer Proskynese des Chores liegt Xerxes vor seinen Untergebenen auf dem Boden. Wie aber lassen sich tim» und kÒsmoj Persiens wiedergewinnen? Der Zuschauer kennt die Antwort von Dareios und weiß, dass der Chor diese Antwort kennt. Da sich Xerxes mit seiner Ankunft bereits dem p£qei m£qoj geöffnet hat, sollte der Chor nun das erforderliche swfrone‹n im Sinne einer Heilung der nÒsoj frenîn und einer mahnenden Einflussnahme auf Xerxes durch die Verabreichung der nouqet»mata von Dareios auf der Bühne vermitteln können: Es würde sich lediglich darum handeln, dass Xerxes aufgeklärt wird über seine Sinnverwirrung, über seinen gotteslästerlichen Frevel, über seine Ate und Hybris. Es ist zweifellos auffallend, dass die entsprechenden Ausführungen und Ratschläge des Dareios im Kommos nicht nochmals explizit auftreten, woran überwiegend werkästhetisch vorgehende Forschungspositionen Anstoß genommen und den Schluss auf ein Klage- und Jammer-Furioso reduziert haben. Aber hat sich Aischylos mit der Explikation dieser Zusammenhänge in der Dareios-Szene dazu verpflichtet, sie mehr oder weniger identisch zu repetieren? 100 Zum anapästischen Metrum sh. B ROADHEAD (1960) 287. <?page no="163"?> Selbstbescheidung und Katharsis im Ritual 149 Zwei gewichtige Gründe lassen sich dafür angeben, dass Aischylos statt einer - in der performance aufgrund der Ratgeberfunktion des Chores sicherlich möglichen - Wiederholung des Hybris-Diskurses und der tiefschürfenden Ursachenerklärung des Dareios einen anderen Weg gewählt hat, um die Tragödie wirkungsvoll zum Ende zu bringen und zugleich der besonderen Rezeptionssituation im Jahre 472 Rechnung zu tragen. 1) Zum einen eröffnete sich die letztgültige Deutung des tragischen Geschehens im Rahmen der Zeustheologie durch Dareios in einer Szene, die nicht nur als dramatischer Höhepunkt und als ‚Entschlüsselungsszene’ der Tragödie fungiert, sondern auch - dies nun bedingt durch die fiktionale Situierung der Perser im Jahre 480 und deren reale Rezeption 472 - die mšllonta p»mata (843f.) der Schlacht von Platäa als essentiellen Bestandteil der Geschehensdeutung hereinprojizierte. Von diesem Ausgreifen in die fiktionale Zukunft des Folgejahres (das immer noch sieben Jahre von der Gegenwart des Zuschauers zurückliegt) weg schwenkt der Kommos mit Xerxes wieder in die eigentliche Gegenwart zurück, nachdem das III. Stasimon bereits in die Vergangenheit, rezeptionsästhetisch gesehen sogar in die Vor-Vergangenheit, zurückgegangen war. Dieses Hin- und Herschwenken zwischen verschiedenen Zeitstufen, wie es gerade diese ‚historische’ Tragödie ermöglichte und erforderte, zeigt sich nun auch bei der Verhältnisbestimmung zwischen Dareios’ Aufforderung, dem ‚wissenden’ Chor und dem zu ‚heilenden’ Xerxes: Denn das pinÚsket' eÙlÒgoisi nouqet»masi ist nach Dareios’ Willen (wie auch das lineare Präsens anzeigt) in einem Zeit-Raum vorzunehmen, der außerhalb dieser Tragödie liegt, die mšllonta kak£ von Platäa als ohnehin unheilbaren Höhepunkt des Ate- Geschehens bereits hinter sich hat und diese als faktischen Bestandteil der Tragik von Xerxes und Persien begreift. Bekanntlich sollen prÕj taàta d a n n die Ermahnungen des Chores zum frommen, selbstbeherrschten swfrone‹n erfolgen, gewissermaßen durativ. Wohlgemerkt: s o ll e n . Ansonsten hätte Aischylos einen Schluss gestalten müssen, in dem der Chor Xerxes erst noch über Platäa aufklärt und dabei zugleich die Zusammenhänge von Olbos, Hybris und Ate ermahnend ausspricht. Zu den schon erwähnten Unbequemlichkeiten wäre dann hinzugekommen, dass ein zusammen mit Xerxes threnodisch singender Chor zugleich noch die Aufgabe einer umfangreichen Wissensvermittlung übernehmen hätte müssen. 2) Damit aber bietet die von Aischylos gewählte Lösung - zugleich gewissermaßen die Auflösung der tragischen Verwicklung, in die der in das Netz der Ate verstrickte Xerxes geraten war - einen ungemeinen Vorteil, der dem politischen Ist-Zustand des Jahres 472 entgegenkommt: Hätte der Chor Xerxes direkt auf der Bühne über seinen gotteslästerlichen Frevel und die harte Bestrafung seines kontinentübergreifenden Begehrens durch Zeus aufgeklärt, so wäre der Zuschauer wohl irritiert gewesen, wieso denn Xerxes zur Zeit der Aufführung (472) weiterhin gegen Athen und Griechenland Krieg führte. So aber dürfte in der Tat offenbleiben, „ob Xerxes den sprin- <?page no="164"?> Perser 150 genden Punkt der Lektion der Jahre 480 und 479 erfaßt hat oder nicht“ 101 , das heißt, ob er n a c h Platäa, wenn (das kann auch heißen: falls) ihm die Ermahnungen des Chores zuteil geworden sind, zum swfrone‹n zurückgekehrt ist - oder nicht, und wenn doch, ob nur zeitweise, und so fort. Die physische Fortexistenz einer eminenten Persönlichkeit, die in der dichterischen Gestaltung zur tragischen Figur geworden ist, erforderte von Aischylos diese Distanzierung. Der Dichter konnte zwar dramenintern die Diagnose der nÒsoj frenîn stellen lassen und den Weg zur Heilung aufzeigen, durfte sich dabei aber nicht der Gefahr aussetzen, beim Publikum ein möglicherweise nicht akzeptables Urteil über den historischen Xerxes zu provozieren, der vielleicht eben nicht als ‚geheilt’ erschienen ist. Die Erfahrung des p£qei m£qoj ist somit ambivalent zu beurteilen: Dem ‚historischen’ Xerxes, über dessen m£qoj der Zuschauer nur spekulieren kann, steht ein ‚tragischer’ gegenüber. Dessen starkes p£qoj wird auf der Bühne dargestellt, wohingehend das potentielle m£qoj in einen Raum œxw tÁj tragJd…aj verschoben wird, der mit dem historisch-realen Zeitverlauf zusammenfließt. Die Gestaltung des Kommos steht aber in einem noch spezifischeren Verhältnis zu dieser Ambivalenz. Nach dem Schuldeingeständnis von Xerxes sua sponte stellt sich sogleich eine Gemeinsamkeit her, quasi die von Exarchos und Chor, die auch in der metrischen und strophischen Gestaltung sichtbar wird. 102 Damit wird ein äußerer Rahmen errichtet, innerhalb dessen die unverblümte Wahrheit der Verirrung in den Westen unter Erweckung des Affektes Schmerz ausgesprochen wird. Zugleich aber wird dem ins Innere seines Kernlandes zurückgekehrten Xerxes, immer noch basileÚj (918), auch die Möglichkeit einer Reintegration gegeben. Dem Kommos liegt dabei die lebensweltliche Ritualform des Goos (respektive Threnos) zugrunde, dessen Funktion als „restoration of order after disaster“ 103 beschrieben werden kann. Co . prÒsfqoggÒn soi nÒstou taÚtan 104 kakof£tida bo£n, kakomšleton „¦n Mariandunoà q qrhnhtÁroj pšmyw pšmyw, polÚdakrun. {„ac£n} 101 L ENZ (1986) 162. 102 Sh. die detaillierten Interpretationen von E LSE (1977) 75-78, der auf die fortschreitende emotionale Steigerung hinweist, und F ÖLLINGER (2003) 272f., die zeigt, wie so auch äußerlich Xerxes und der Chor „zueinanderkommen“. B ELLONI (1994) spricht sogar von einer „intima coesione“ (278) zwischen dem Chor und Xerxes, dessen Rückkehr eine „speranza“ (211) erfülle. 103 G EORGES (1994) 112. Zum Trauerritual als Wiederherstellung der Ordnung sh. weiter G ÖDDE (2000a) 42f. mit Anm.35, und B URIAN (1985) zu den Hiketiden des Euripides, wo vv.71-77 der eigene gÒoj und überhaupt der corÒj den kÒsmoj der überlebenden Frauen des Chores produziert: „ ... the ecstatic death-dance is their ornament, and the ordering principle of their shattered lives.“ (130). 104 So der Text von P AGE , während W EST † nÒstou t¦n † druckt. Dass auf den nÒstoj von Xerxes also Bezug genommen wurde, ist unzweifelhaft. <?page no="165"?> Selbstbescheidung und Katharsis im Ritual 151 Xe . †et' a„anÁ {kaˆ} p£ndurton dÚsqroon aÙd£n: da…mwn g¦r Ód' aâ met£tropoj ™p' ™mo…. Co . ¼sw toi kaˆ p£nu, laoà p£qea seb…zwn ¡l…tup£ te b£rh pÒlewj, gšnnaj: penqhtÁroj kl£gxw d' aâ g gÒon ¢r…dakrun . (935-49) Die vielfachen selbstreferentiellen Bezüge auf den Klagegesang (der auch durch Responsionen, Alliterationen und Assonanzen als solcher typisiert wird) und der explizite Verweis auf die Polis 105 verorten dieses chorische Ritual, in das Xerxes als den „unheilvollen Willkommensgruß der Rückkehr“ sogleich einstimmt, in der Lebenswelt des Zuschauers. Hiermit wird einmal mehr, trotz der Spezifizierung des „mariandynischen Threnos“ als einer asiatisch-fremdartigen Gesangsform (vgl. auch die „mysische Weise“, 1054), ein gemeinsamer Bezugspunkt von Orchestra und Zuschauerraum gezeichnet: Fremdes und Eigenes verbinden sich im rituellen corÒj . Nachdem diese kollektive Erfahrungsebene errichtet ist, beginnt der Chor ein Verfahren, das durch das hemmungslose, emotionale Ausleben des eigenen Affektes und durch die Wiederholung des früheren Klagegestus sowie der unbemäntelten, schrecklich-klaren Realisierung der erlittenen Zerstörung 106 eine kathartische Wirkung zum Ziel hat: o„oio‹ bÒa kaˆ p£nt' ™kpeÚqou . poà d ff…lwn ¥lloj Ôcloj; (955f.) Das ‚Ausfragen’ von Xerxes, wo denn die ganzen Feldherren und das Heer geblieben seien, ist als rhetorischer Fragegestus zu verstehen und nicht als wirkliche Nachfrage, ob nicht doch noch etwas übrig sei von den f…loi und parast£tai (957), der ganz wesentlichen persönlichen Stütze der Königsmacht. 107 Die negative Umkehrung des Heerführer-Kataloges der Parodos komplettiert die Vernichtung des anonymen Heeres, legt aber auch schon den Gedanken nahe, dass die übriggebliebenen f…loi die alten Perser des Chores sind, die Xerxes auf der Ebene des Affektes fil…a verbunden sind. Wenn Xerxes immer wieder den Tod immer neuer hervorragender Kämpfergestalten zugeben muss und der Chor immer weiter nachbohrt ( t£de s' ™panerÒman , 973), sich nach immer neuen Namen sehnt ( poqoàmen , 992), dann wird Xerxes hier in der Tat Salz in die Wunden gestreut. Aber zugleich werden ihm die Auswirkungen seiner nÒsoj frenîn drastisch vor Augen 105 Sh. oben S.108 mit Anm.13 und Anm.14. 106 Vgl. G ÖDDE (2000a) 42f. für die Motivik des Kleiderzerreißens, das die allgemeine Zerstörung plastisch vergegenwärtigt. 107 Zwar hatte von den etwa - je nach Textgestaltung - 25 hier vom Chor erwähnten Feldherren der Bote, der insgesamt 18 gefallene Generäle verkündet hatte, seinerseits nur 7 als gefallen gemeldet, doch sollte man daraus nicht ableiten, der Chor hoffe jetzt noch auf ein Überleben der anderen. <?page no="166"?> Perser 152 geführt - so sehr, dass sogar sein Herz von innen heraus schreit (991). Das Aussprechen und das emotionale Herausschreien dessen, was belastet, führt zu einer kathartischen ‚Abfuhr’, die nun eine ganz andere Form der Heilung darstellt als das von Dareios an Atossa detachierte pr£-non lÒgoij (837). Dieser Vorgang ist als eine schmerzhafte Vertiefung des p£qoj zu deuten, dem sich Xerxes anfangs schon geöffnet hatte und das nun, zusammen mit dem Chor, eine sich auf ganz Persien ausdehnende Dimension bekommt. Dass diese Darstellung auch auf die sump£qeia des Zuschauers hin angelegt ist, kann man mit Fug annehmen. Das Fazit aus den Nachfragen des Chores: Der Chor muss seinem Staunen darüber Ausdruck geben, dass diese nun toten persischen Größen dem Wagen des Königs fortan nicht mehr Gefolgschaft leisten können - œtafon œtafon oÙk ¢mfˆ skhna‹j / trochl£toisin Ôpiqen ˜pomšnouj (1000f.). Der Blick des Chores richtet sich also deutlich auf die Konsequenzen der Niederlage und auf ein Danach. 108 Eine weitere Kriegsführung scheint unmöglich (1013), da in der völligen Vernichtung schlichtweg keine Grundlage mehr existiert. Dieser Tenor setzt sich auch in einer metaphorischen Aussage fort: Der kümmerliche Rest der stol» von Xerxes besteht aus einem Köcher mit noch wenigen Pfeilen (1016-24). Das heißt übertragen, dass der stÒloj der Heeresmacht fast völlig dahin ist und das „Schatzhaus“ (vgl. qhsaurÒn , 1022) des früheren Ôlboj leer ist. Damit kann sich Xerxes in der Tat in doppelter Weise als „nackt von Begleitern“ ( gumnÒj e„mi propompîn , 1036) bezeichnen. Der Mangel an „Helfern“ ( ™span…smeq' ¢rwgîn , 1024) ist ein Leerraum, den aber der Chor der konservativen Bewahrer wieder ausfüllen kann. Gerade die Tatsache, dass die von Dareios und Atossa intendierte und angekündigte Ausstaffierung des Xerxes mit neuem kÒsmoj (833, 849), der Überleben und Fortbestand symbolisiert, n i c h t (mehr) direkt auf der Bühne inszeniert wird, zeugt eindrucksvoll von der momentanen totalen Niederlage. Diese ist indes als ‚Stunde Null’ der Überlebenden zu begreifen. 109 Eine ‚vernünftige’ Grundsubstanz gibt der Chor dadurch ab, dass er das p£qoj vertieft. Die offene Bezeichnung Xerxes’ als meg£late , als „schwer von der Ate Getroffener“ 110 (vgl. 1017), soll im schrecklichen, emotionalen Ge- 108 Ôpiqen hat hier durchaus temporale Bedeutung. 109 Das Überleben Persiens, wie es Aischylos darstellt, hat die Forschung bisweilen so irritiert, dass in den Kommos gar schon die gefährliche Wiederaufrüstung des Landes hineingelesen wurde (so DI V IRGILIO (1973) 68 und G EORGES (1994) 112f.). Der Vorschlag von A VERY (1964), dass Xerxes mit v.1038 die neue Kleidung bekäme (und während des Strophenpaares e die alte zerrissene auszöge), so dass das Fortbestehen seines Gewalt- und Aggressionspotentials sinnfällig dargestellt würde („What guarantee was there that the Persians would not come back again? “ (171)), ist im Text einfach nicht zu belegen. 110 Die exakte deutsche Bedeutung der nach dem Muster von megalÒ-fwnoj gebildeten Zusammensetzung meg£l-atoj , bei Aisch. nur noch Eum. 791 und 821 zu finden, schwankt genau wie die von ¥th zwischen einem resultativen „schwer getroffen“ und <?page no="167"?> Selbstbescheidung und Katharsis im Ritual 153 wahrwerden der Fakten bei Xerxes in der Konsequenz einen auch rationalen Erkenntnisprozess hervorrufen, der jedoch als solcher aus den genannten Gründen keinen Platz hat im Kommos der Perser. Das Verhör, die harsche Kritik, das Vor-Augen-Führen der persönlichen Schuld - mit diesem durchgehend auf Affektstimulation abzielenden Vorgang, der das p£qoj durchaus schon mit dem m£qoj verbindet, ist die Grundlage geschaffen für die erst noch vorzunehmende luzide Ursachenerklärung, wie sie Dareios vorgeführt und an den Chor weitergegeben hatte. Für den Zuschauer muss aber, wie bemerkt, offenbleiben, ob aus dem dr£santi paqe‹n (vgl. 813f.), das Xerxes am eigenen Leib erfahren hat, dann auch ein vollgültiges p£qei m£qoj im Sinne der Strophe des Chores im Agamemnon erwächst, indem nämlich ein dauerhaftes swfrone‹n als Korrelat einer vorherigen, vom Affekt verursachten ‚Verirrung’ erreicht wird. 111 Die Hinwendung zu einem richtigen Verhalten liegt aber im Bereich des Möglichen. Wenn sich die früheren Kriegsgegner beschränken sollen, so wohl auch Athen, die gleichberechtigte Schwester. Vielleicht tat, wie auch angesichts des im III. Stasimon eröffneten geopolitischen Horizontes zu vermuten steht, im Jahre 472 diese Warnung vor Hybris not, da die Athener so wie Xerxes handelten: Expansiv zur See. 112 Die Möglichkeit einer ‚Heilung’ von der Ate ist kein Freibrief für verkehrtes Handeln, da in dieser Tragödie ein abschreckendes Exemplum vorgeführt wird, dessen komplexe affektive Darstellung - wir hatten schon in der Parodos ein ambivalentes Verhältnis des Publikums zu den Affekten des Chores beobachtet - auch der möglichen eigenen einem vorherigen kausalen „schwer verblendet“. In den Eum. sprechen die Erinnyen von sich selbst dann in der ersten Bedeutung. 111 Ein bereits im Stück selbst erreichtes p£qei m£qoj von Xerxes konstatieren C ONACHER (1974a), der von einer „tragic catharsis“ (167) spricht; D EICHGRÄBER (1941): Xerxes komme „zur Einsicht ... in sein ganzes Leid“ (190) und vollziehe im Sinne des p£qei m£qoj eine „Selbsteinkehr“ (191); S CHENKER (1991): „ … since Xerxes has obviously learned the lesson on his own.“ (221); übertragen auf den Zuschauer P ELLING (1997) 16: „But his fate can still capture something of the human condition, and exemplify a human vulnerability, which the audience can capture as their own.“; dann S CHAUER (2002): „ … Xerxes, der mittlerweile offenbar nach dem Grundsatz p£qei m£qoj zur selben Erkenntnis gekommen ist wie der Chor aufgrund der verschiedenen Visionen, Nachrichten und Prophezeiungen.“ (61). Gegen eine allzu eindeutige Festlegung darauf, ob das p£qei m£qoj bei Xerxes schon vorhanden ist, spricht aber die innere Logik des Stücks mit der deutlichen Positionierung der Ermahnungen durch Dareios in einem ‚Danach’. Dass die Verfehlung „glatt und folgenlos erledigt“ werden könne (so M EIER (1988) 88), ist vielleicht zu überspitzt formuliert. Doch handelt es sich insofern sicher um die Verwirklichung des Gerechtigkeitsvollzuges der Polis, der möglich ist und konsequent verläuft. 112 Im Jahre 478/ 77 war es zu einem Bündnis mit den Ioniern gekommen (vgl. Arist. Ath.pol. 23,5), wohl in der Absicht eines Angriffes auf Persien; Athen kämpfte zu dieser Zeit in Ionien und Thrakien; vgl. G EORGES (1994) 94-96, wenngleich mit konträren Folgerungen für die Intention von Aischylos, der hier zum Kriegspropagandisten wird. <?page no="168"?> Perser 154 Hybris Athens eine ‚Abfuhr’ erteilen soll. 113 Die mimetische Eröffnung eines ‚Was-wäre-wenn’-Szenarios im Theater, das der Zuschauer am Ende unbeschadet verlassen kann, transponiert die Mixtur von Annäherung und Distanzierung, wie sie für die Perser typisch ist, auf eine weitere Ebene. Gegenüber dem tragischen Xerxes, dessen ‚pathetische’ Katharsis als Voraussetzung des späteren rationalen Erkenntnisprozesses hinsichtlich der theologischen Zusammenhänge zur Darstellung kommt, erlebt der athenische Zuschauer in einer Verschränkung der Reaktualisierung eigenen Leides mit der erstmaligen Realisierung (als Bühnendarstellung und als Verstehensprozess) des ungleich größeren Leides der persischen ‚Polis’ eine von sump£qeia getragene Affektstimulation, die nach Aufführungsende zu einem entsprechenden, spezifischen m£qoj führen soll. Und hierbei hat der Chor der Perser Wesentliches geleistet. Das auffallendste Merkmal für die Reintegration von Xerxes in seinem besonderen Status als König besteht darin, dass sich mit Strophe z das Verhältnis von Gemeinschaft und Einzelfigur dahingehend umkehrt, dass der Chor, bisher Xerxes ausfragend und förmlich auspeitschend, sich in eine untergeordnete, passive Rolle fügt und jetzt immer auf die Aufforderung von Xerxes hin die einzelnen, ausführlich vorgeführten Elemente der rituellen Klage unternimmt: 114 Damit hat sich ebenso sehr das normale Verhältnis von Gemeinschaft und Herrscher, das durch die Verfehlung von Xerxes in Unordnung geraten war, wiederhergestellt, wie sich im chorischen Ritual, das nun in seiner lebendigen performance vor dem Zuschauer abläuft und weiterhin die emotionale Erschütterung vorführt, die Relation von Exarchos und Chor präsentiert. Nachdem Xerxes eben doch ØpeÚqunoj (213) geworden ist und sich, so wie der Chor, mit dem Leid ganz Persiens identifiziert hat, delegiert die Gemeinschaft die Führung wieder an ihn, in der Hoffnung auf einen nun vernünftigen Umgang mit ihr. Der Chor äußert durch seine Gefolgschaft, die für den Zuschauer durchaus wieder das Bild orientalischer Unterwürfigkeit abgeben dürfte, das neu gewonnene Vertrauensverhältnis; die persische Macht hat sich nicht völlig aufgelöst, sondern wird nun in der Prozession des Chores in geordneter Form wieder repräsentiert. 115 Statt erneut mit ei- 113 In der Orestie, die mit einer rituellen Prozession des Chores endet, wird dann entsprechend das deinÒn in die Polis Athen integriert. 114 Sh. die Verse 1038, 1040, 1042, 1046, 1048, 1050, 1054, 1056, 1058, 1060, 1062, 1065, 1067, 1069, 1071, 1073. Die Plastizität des rituellen Vorgangs eröffnet sich auch für den Leser in v.1046 ( œress' œresse kaˆ stšnaz' ™m¦n c£rin ): Die rudernde Gestik der Arme stellt einen sinnfälligen Bezug zur Seeschlacht her (diese Choreographie findet sich sehr ähnlich wieder Sept. 855f.). 115 Einen versöhnlichen Schluss sehen auch G AGARIN (1976) 42, S CHENKER (1994) 292f. und insbesondere B ELLONI (1994) LVIIf. und 266-68, der freilich eine sehr optimistische Sicht hat und am Ende bereits die Präsenz der Gesundung konstatiert: So hätten sich dank der fÚlakej -Funktion des Chores die fršnej von Xerxes schon in Richtung auf die Einstellung von Dareios hin gewandelt, und das „pathos corale“ habe die „unità prima turbata“ (LV) bereits wiederhergestellt. Gerade umgekehrt möchte T HALMANN <?page no="169"?> Selbstbescheidung und Katharsis im Ritual 155 nem Kriegsgefolge auszuziehen, geleiten nun die kriegsuntüchtigen Alten Xerxes in den Königspalast, ™j dÒmouj (1069) hinein, womit der zumindest vorläufige Rückzug auf das Zentrum des Perserreiches und das Verbleiben im ‚Schatzhaus’ (vgl. den qhsaurÒj von v. 1022) versinnbildlicht wird. Ob jedoch Xerxes, im Jahre 472 weiterhin der Kriegsgegner Athens, die Chance, die ihm in der poetischen Gestaltung des Aischylos gegeben worden ist, wahrgenommen hat oder nicht, darüber gibt der Dichter nicht wirklich ein Urteil ab. Zwar betont der Chor ganz am Ende nochmals den Riss im Boden Persiens - „ë „è, Persˆj a a dÚsbatoj (1074) -, aber in der Klage der Überlebenden darum stellt sich auch die wiederzugewinnende Ordnung her. Das letzte Wort im Text der Perser lautet somit nicht umsonst: gÒoij (1077). (1980) 281 dem p£qei-m£qoj -Konzept eine komplette und irreversible Destruktion als conditio sine qua non zugrunde legen: Xerxes erkenne zu spät das Richtige und könne dann nicht mehr zurück. <?page no="170"?> 156 II. Septem contra Thebas 1. Der Chor der Septem in der Forschung: Wandlungen Die wenigen den Chor der Septem als ganzen untersuchenden Forschungsbeiträge sind bestimmt von einer analytischen Perspektive, die im Wesentlichen eine tiefgreifende Wandlung im Charakter des Chores konstatiert: Im Einklang mit dem (scheinbaren) Auseinanderfallen der Tragödie in zwei Teile und der drastischen Wesensverwandlung des Eteokles - vom umsichtigen Staatslenker zum Erfüller des Geschlechterfluches durch den Bruderkampf - unterliege auch der Chor einer Metamorphose: Die vom Angriff auf Theben völlig verunsicherten Mädchen, deren Grunddisposition zunächst in panischer Angst bestehe, wandelten sich mit v.677, als Eteokles in plötzlicher Erkenntnis seiner Tragik gegen Polyneikes zu kämpfen bereit ist, recht unvermittelt zu Ratgebern der swfrosÚnh und änderten ihre Funktion. 1 Zu dieser communis opinio über ein Doppelgesicht des Chores treten einige inhaltlich ausgerichtete Interpretationen zu einzelnen Chorpartien sowie Beiträge, die speziell die weibliche Identität des Chores untersuchen. 2 Im Folgenden sei nun im Rahmen unseres rezeptionsästhetischen Ansatzes die Rolle des Chores im ganzen Stück daraufhin untersucht, was er als ‚Boden’ der Tragödie für die Wahrnehmung der tragischen Handlung durch den Zuschauer leistet. Die Betrachtung der Affekte des Chores und 1 Stellvertretend sei das Urteil von W ILAMOWITZ -M OELLENDORFF (1914) genannt: „Aber sobald die Labdakidengeschichte an die Stelle der Thebais tritt, ändert sich der Charakter des Chores. Wie sollten die Mädchen, die von dem König so hart angelassen werden, ihn tšknon anreden können.“ Im zweiten Teil sei der Chor „gar nicht mehr ein Chor von Mädchen, sondern er vertritt das Volk von Theben. Er hat sich gewandelt, wie sich der komische Chor immer zu wandeln pflegt, und auch der tragische nicht selten.“ (68f.). Im Sinne der Funktionsaufspaltung von K RANZ (1933) 171 urteilt zum Chor der Septem C OURT (1994) 123-32: „Der Chor vollzieht in der zweiten Hälfte des Stückes einen Wandel, der dem des Eteokles genau entgegengesetzt ist.“ (124); und er sei anfangs „eine dramatis persona“, in den Redenpaaren hingegen nur „begleitendes Instrument“ (129). Hier ist der Punkt der Wandlung also sogar schon früher angesetzt. Vgl. weiter den C OURT zugrunde liegenden strikt analytisch verfahrenden Beitrag von D AWE (1974) 193f., ferner L UPAS / P ETRE (1981) 217. - In impliziter Übereinstimmung mit dem oben S.13f. beschriebenen flexiblen Oszillationsmodell der neueren Dramenforschung schreibt Z IMMERMANN (2003) dem Chor der Septem zu Recht einen „doppelgesichtigen Charakter … zwischen dramatis persona und kultischem Chor“ (12) zu. - Die einzelnen Positionen der Forschung zur Handlungsstruktur der Septem referiert F ÖLLINGER (2003) 139-45. 2 Zur Frage der genauen Identität des Chores D ELCOURT (1932); zum Chor als Frauen D ILLER (1975), B RUIT -Z AIDMAN (1991) und C ALAME (1994/ 95); zu Fragen der Strophenresponsion in allen Chorpartien M UFF (1882), zu Aufbau und Inhalt der Parodos M ESK (1934), des I. Stasimons V ALAKAS (1993), des II. Stasimons M ANTON (1961); zu den religiösen Grundhaltungen Eteokles’ und des Chores B ROWN (1977). <?page no="171"?> Der Chor in der Forschung: Wandlungen 157 seiner intentional geprägten Reaktionen auf die sich im Plot fortentwickelnde Krise soll den nicht zu unterschätzenden Beitrag des Chores für den Aufbau der Rezeptionshaltung des Zuschauers nachvollziehbar machen. Hierbei ist insbesondere auf das Verhältnis zwischen der Polis Theben und dem Genos der Labdakiden zu achten, das sich grundsätzlich in der Interdependenz von Chor und König abbildet, welche im Ablauf des Stückes teils von Konfrontation, teils von Zusammenarbeit geprägt ist: Eteokles ist einerseits die saviour-Gestalt für das bedrohte Theben, andererseits der von seinem Vater Oidipus verfluchte Angehörige des für diese Polis gerade gefährlichen Labdakiden-Genos. Mit dieser Konstellation zeichnet sich ein Spannungsverhältnis zwischen einer Bewältigung der aktuellen Krise (deren ‚Heilung’) und deren weiterer Zuspitzung ab, in das auch der Chor eingebunden ist. 2. Thebanische parqšnoi als Chor Der Chor der Septem stellt sich in der Parodos vor, allerdings erst zu Beginn des antistrophischen Teiles, nach einer 29 Verse umfassenden astrophischen Partie: ‡dete parqšnwn ƒkšsion lÒcon doulosÚnaj Ûper (109f.). 3 Nach einem ähnlichen, die Parodos abschließenden Hinweis - klÚete parqšnwn klÚete pand…kwj / ceirotÒnouj lit£j (172f.) - folgen über das ganze Stück verteilt einige derartige identifikatorische Hinweise auf den Chor speziell als Mädchen und auch etwas allgemeiner als Frauen. Die Auseinandersetzung des Eteokles mit dem Chor im I. Epirrhema (182-286) lebt von dem Gegensatz des traditionellen Rollenbildes von Männern und Frauen in der Polis, womit denn auch der Chor in seiner Identität qua Frauen eine zentrale Bedeutung hat für die Präsentation dieser Differenz und eines daraus erwachsenden Konfliktpotentials. Allerdings geht es in dieser Szene weniger um den Chor als parqšnoi , sondern als Frauen allgemein, was bereits der Annahme einer wirklich festen Rollenidentität widerstrebt. Ähnlich allgemeinere Hinweise muss man sehen in den Selbstanreden ð f…lai (370, 854), klaiomšnaj mou (920), t£laina (808; 262 so Eteokles) und gunaix… (712). Die Anrede des Boten: pa‹dej mhtšrwn teqrammšnai (792, eine allerdings textkritisch umstrittene Stelle) 4 geht jedoch wiederum ziemlich deutlich auf jüngere Frauen. In den Redenpaaren äußert der Chor seine Angst vor Kapaneus, der den Hausbereich und die Jungfräulichkeit bedroht ( prˆn ™mÕn e„sqore‹n dÒmon pwlikîn q' / ˜dwl…wn , 454f.). Die beschwörende, scheinbar mütterliche Ermahnung des Chores an den kampfeswütigen Eteokles: t… mšmonaj, tšknon; (686) hat für 3 Zu dieser Einteilung der Parodos mit antistrophischer Gliederung ab v.108 sh. die Ausgaben von P AGE und W EST sowie L UPAS / P ETRE (1981) 42f. und 53f. und W EST (1990) 102-04; anders H UTCHINSON (1985) 63f. Der Geschehensablauf mit dem Beginn der Hikesiehandlung nach einem von kopfloser Panik getragenen, astrophischen ‚Vorspiel’ legt diese Aufteilung, die durch den Textzustand in Zweifel gezogen wurde, nahe, wie auch deutliche Responsionen in Metrik und Vokabular, die sonst bloßer Zufall sein müssten. 4 Sh. H UTCHINSON (1985) 174 und unten S.202. <?page no="172"?> Septem 158 einige Irritationen in der Forschung gesorgt, so sehr, dass sich D ELCOURT bemüht sah, in einer komplexen Konstruktion einen gemischten Chor nachzuweisen: Älteren, reifen Frauen, die solchermaßen mit Autorität zu Eteokles sprächen, seien einige stumme jüngere auf der Bühne beigegeben. 5 Am wichtigsten für die Beurteilung der Rollenidentität dieses Chores sind die beiden Stasima. Hier nämlich nimmt der Chor jeweils sein Ich weitgehend zurück und spricht kaum in der Ersten Person, um - wir greifen hier vor - die Auswirkungen des Krieges und des Geschlechterfluches auf die g a n z e Polis erkennbar zu machen: Es soll also gerade nicht das persönliche Schicksal der Mädchen im Mittelpunkt stehen. Die rituelle Totenklage am Ende, ein Goos (853, 916f.), passt dann sicherlich zu einem weiblichen Chor. 6 Aber auch hier ist die Polis in ihrer Gesamtheit im Skopus des Chores und wird von ihm repräsentiert. Mit diesen vorläufigen Beobachtungen scheint es, dass dem parqšnoi -Chor der Septem eine Offenheit und Wandlungsfähigkeit eignet, die seine weibliche Identität teils stärker (vor allem beim Kontakt mit Eteokles), teils schwächer (vor allem in den Chorliedern) hervortreten lässt. Durchgehend aber behält der Chor die Perspektive auf die Gesamtheit der Polis bei. Und gerade durch den Chor, der ein soziales Segment der ganzen Polis ist und zugleich deren Boden bildet, erhält Theben auch sein spezifisches Lokalkolorit. 7 Verhältnismäßig wenige, ansatzweise Striche genügen dem Dichter, um durch sprachliche Mittel die spezifische Rollenidentität seines Chores als Mädchen oder allgemein als Frauen dem Zuschauer ab und zu e x p li z i t in Erinnerung zu rufen. Eine feste Zeichnung wie etwa die Danaiden in den Hiketiden, die doch einer ähnlichen Bedrohungssituation ausgesetzt sind, sollte der Chor der Septem offenbar nicht bekommen: Nicht sein persönliches Schicksal, sondern das des Eteokles und dasjenige Thebens soll im Mittelpunkt stehen. Die gleichwohl direkte, persönliche Bedrohung des Chores garantiert aber für eine Authentizität der Leiderfahrung, die auch diesen Chor zum Zeugen der tragischen Handlung macht. Der Existenz eines Frauenchores an sich ist zweifellos Aufmerksamkeit zu schenken: Zum einen, weil der Chor der Septem der erste greifbare Frauenchor der Griechischen Tragödie überhaupt ist. 8 Gegenüber den Phoinissai des Phrynichos, wo wohl im Zuge der Darstellung einer Kriegskatastrophe ex eventu ein rein klagender Frauenchor auftrat, ist der Chor im aischyle- 5 D ELCOURT (1932). Der Grund seien „invraisemblances psychologiques“ (26), nicht nur wegen der tšknon -Anrede, sondern auch, weil sich ein Jungfrauen-Chor gegenüber dem König Eteokles nicht so viel herausnehmen könne, wie es im Text steht - deshalb müssten es „femmes mûries par l’experience et qui parlent avec autorité“ (32) sein. Hier führt positivistische Analyse im Verbund mit naturalistischer Psychologisierung zu einer verqueren Interpretation. Zum Problem sh. unten S.193. 6 So L UPAS / P ETRE (1981) „ ... le choeur trouve enfin sa pleine fonctionnalité dramatique, car c’est un choeur de femmes, et c’est aux femmes de chanter le lamento d’usage dans les cérémonies funéraires traditionelles“ (265). 7 Vgl. E ASTERLING (2005) 56f. für die „physical features“ wie geographische Details und Gottheiten. 8 „ … a bold innovation … which [Aeschylus] will develop more fully in the Suppliants.“ (C AMERON (1971) 100). <?page no="173"?> Thebanische parqšnoi als Chor 159 ischen Stück unmittelbar von der erst sich entwickelnden Krise der Polis betroffen. Zum anderen sind bei einem weiblichen Chor Aussagen hinsichtlich Rollenerwartung und deren Durchbrechung möglich. 9 Durch die Verwendung eines Chores speziell aus parqšnoi scheint per se eine starke Anbindung an die song-and-dance culture zu bestehen, in der Chöre gerade junger Frauen eine zentrale Bedeutung haben. 10 Da nun gerade für Theben ein umfangreiches Fragment eines Partheneions von Pindar für das Daphnephorien-Fest (fr. 94b Sn.-M.) erhalten ist, hat C ALAME versucht, entsprechende Verbindungslinien zwischen Chorlyrik und Tragödienchor aufzuzeigen. 11 Jedoch lässt die eher skizzenhafte ‚Charakterisierung’ des Septem-Chores und seine Wandlungsfähigkeit darauf schließen, dass es Aischylos weniger darauf ankam, dem athenischen Zuschauer speziell einen thebanischen parqšnoi -Chor zu präsentieren. Nirgends tritt der Chor der Septem so auf, dass Bezüge zu einem Partheneion erkennbar würden. Vielleicht ist es auch bezeichnend, dass der Evidenz des Textes nichts über die Kostümierung des Chores zu entnehmen ist, anders als etwa beim Chor der Hiketiden dezidiert auf das fremdartige, ‚barbarische’ Äußere verwiesen wird und zugleich die Wollzweige als sichtbare Kennzeichen des Hikesierituals erkennbar sind - hier wird der Zuschauer durch das Medium des lÒgoj explizit auf derartige Besonderheiten hingewiesen. Und während sich alle anderen aischyleischen Chöre mehr oder weniger ausführlich selbst vorstellen, unternimmt der Chor der Septem dies sehr kurz in den zitierten zwei Verspaaren. 12 Ohnehin gibt es zwischen der Lebenswelt und dem Raum, den die Tragödie eröffnet und bespielt, einen kategorialen Unterschied: Einmal handelt es sich tatsächlich um junge Frauen, die ein Partheneion während einer Prozession singen (etwa für Apollon bei den Daphnephorien in Theben), das andere Mal um als parqšnoi verkleidete, maskierte männliche Choreuten, die den Bedürfnissen der fiktionalen tragischen Handlung entsprechend singen und agieren (und dies während des ‚Festivals’ für Dionysos in Athen). Auch der Chor der Septem ist nicht einfach eine Gruppe von dargestellten parqšnoi , sondern zunächst einmal ein darstellender corÒj . Dessen essentielle Merkmale wie Ritualität, Gesang, Tanz und Affektdarstellung 9 Über Frauen in der Tragödie, auch was Chöre betrifft, vgl. die wohlabgewogenen Bemerkungen von E ASTERLING (1987), für die Septem dort 25. 10 Sh. oben S.12 Anm.14 und S.29f. 11 C ALAME (1994/ 95), auch im Vergleich mit den gleichfalls in Theben angesiedelten Phoinissai des Euripides. Eine wesentliche Differenz zwischen Partheneion und Tragödienchor liege in den einem jeden Chor grundsätzlich zuzuschreibenden drei „modes de la voix chorale: performatif, affectif ainsi que hermeneutique“ (197); besonders letztere ‚Chorstimme’ sei, zusammen mit der emotionalen (die bei Pindar fr. 94b fehle, bei Alkman (fr. 1) aber in Form der Homoerotik vorhanden sei), charakteristisch für den tragischen Chor, der mit dieser „multiplication“ (200) eine Vermittlerrolle für das Publikum spiele. 12 Vgl. Pers. 1-7, Ag. 72-82, Cho. 75-83. Die Chöre der Hiketiden und der Eumeniden sind ohnehin stark individualisiert: Sie haben Eigennamen und Stammbaum. <?page no="174"?> Septem 160 werden in die akzidentielle Rolle transformiert. Freilich passt dann zu thebanischen parqšnoi auch wieder, dass diese bestimmte Rituale (Gebet, Hikesie, Ololygmos, Goos) durchführen und dabei solche Affekte äußern, die angesichts des Geschehensablaufes ganz plausibel sind: Angst und Trauer. Insgesamt können diese Affekte des Chores - nicht zuletzt angesichts der chamäleonartigen Verfasstheit des Septem-Chores, soweit wir diese nun annäherungsweise bestimmt haben - als Einheit stiftendes Moment gesehen werden. 3. Innere Geschlossenheit und äußere Bedrohung - Der Prolog Das Bild, das sich dem Zuschauer im Prolog bietet, lässt an Eindeutigkeit kaum zu wünschen übrig: Der entschlossene, umsichtige Staatslenker Eteokles ordnet Verteidigungmaßnahmen gegen das vor Theben lagernde Heer (28f.) aus Argos an. Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Statisterie in Form einer männlichen Menschenmenge als Adressat dieses Einberufungsbescheides anwesend ist. Aber auch wenn dies nicht der Fall sein sollte, so kann man doch im ersten Vers ( K£dmou pol‹tai ) ein Hinausgreifen über das innere Kommunikationssystem und eine Anrede an das Publikum sehen: Die im Theater versammelte Polis Athen kann sich mit der Polis Theben identifizieren und so in gewissem Sinne mitspielen - dies trotz einer dezidiert ablehnenden Haltung der Forschung, die für die Tragödie auf einem essentiellen Unterschied zur Komödie mit ihrer in der Parabase eindeutig bestimmbaren audience address beharrt. 13 Aus den ersten Worten des Eteokles erkennt der Zuschauer einen Gegensatz zwischen Einzelnem und der Gemeinschaft, über welchen beiden 13 Zur Annahme eines - für den Choregen recht kostspieligen - paracor»ghma sh. H UTCHINSON (1985) 41 und T APLIN (1977) 129f., beide ablehnend gegenüber einer impliziten Anrede des Publikums, wie von R OSE (1957) angenommen: „ … that the actor simply turned towards it [sc. the audience]“ (162). Vgl. C ALDER (1959) zum Oidipus Tyrannos (der ebenfalls in Theben spielt): „ … that … Sophocles used the spectators as the extras [sc. als paracor»ghma ]. They are the people of Thebes in whose presence the action takes place. … Finally it serves a particular dramatic function, that is to involve the audience more intimately with the stage action, and so increases the dramatic effectiveness of the performance a hundredfold.“ (125). Allgemein zur Frage der audience participation sh. W EBSTER (1956): „… the normal convention was that the audience were the citizens, sitting around the marketplace to watch the royal family conducting its affairs (2; vgl. 21) und die von T APLIN (1977) 129-34 vertretene Gegenposition. Nichts dürfte indes dagegen sprechen, auch beide Möglichkeiten miteinander zu vereinen: Ein anonymes, stummes Volk in der fiktionalen Bühnenwelt u n d im Theater wird gleichermaßen ‚angesprochen’. <?page no="175"?> Innere Geschlossenheit und äußere Bedrohung 161 Gruppen noch das Göttliche als Lenkungsinstanz steht. Damit sind insgesamt drei Bezugsebenen für die tragische Handlung vorhanden. 14 e„ m n g¦r eâ pr£xaimen, a„t…a qeoà: e„ d aâq', Ö m¾ gšnoito, sumfor¦ tÚcoi, 'Eteoklšhj ¨n eŒj polÝj kat¦ ptÒlin Ømno‹q' Øp' ¢stîn froim…oij polurrÒqoij o„mègmas…n q': ïn ZeÝj ¢lexht»rioj ™pènumoj gšnoito Kadme…wn pÒlV. (4-9) Dabei bezieht sich Eteokles sogar speziell auf eine Chorkultur, die in der Lebenswelt des Zuschauers nicht weniger als - so wird es unterstellt - im dargestellten Theben im Hintergrund präsent ist: Im Falle eines Unglücks für die Polis sei ihr alleinverantwortlicher „Schiffsführer“ Eteokles Objekt eines Trauergesangs. Im Gesamtkontext wird diese Ankündigung de facto mit dem Goos am Ende tatsächlich eingelöst, obwohl Theben überlebt. 15 Ob allerdings Aischylos hier bewusst mit ‚dramatischer Ironie’ operiert hat und dem Zuschauer am Ende einen Spagat zurück zu den ersten Versen zugemutet haben kann, sei dahingestellt. Zwei Themenbereiche, die für die Septem als Leitmotive von zentraler Bedeutung sind, kommen in der Ansprache des Eteokles zum Tragen: Einmal das traditionelle Bild des schwankenden Staatsschiffes und seines Lenkers (2f.), und zweitens das Thema des Bodens der Polis (14-20), das im Folgenden eine Reihe von Schattierungen bekommt. 16 Mit beidem ist der von Eteokles vor dem Volk intendierte Eindruck einer inneren Geschlossenheit der Polis verbunden, die gegen die äußeren Angreifer ( t¦ tîn qÚraqen , 68) steht. In den Septem ist der bei Aischylos durchweg anzutreffende Innen-Außen-Gegensatz zweifellos am auffallendsten; über diese Dichotomie legt sich noch eine Opposition zwischen Zivilisation und Wildnis: Das fremde Heer und seine Anführer werden als Inkorporation einer vollends destruktiven, die Ordnung der Polis Theben radikal bedrohenden Kraft präsentiert, die in ihrem Titanismus und ihrer Pervertierung ebenso götterfeindlich wie naturwidrig ist und die eigene lebensfeindliche Unnatur darüber hinaus durch eine selbstzerstörerische Tendenz offenbart. Einen Vorgeschmack auf dieses Bedrohungspotential, das vor allem in den Redenpaaren in extenso vorgeführt wird, erhält der Zuschauer im Bericht des Boten über das atavistische Stieropfer der Angreifer, deren Gewaltpotential im Schwur an die destruktiven Gottheiten Ares, Enyo und Phobos und in ihrem tierhaften Kampftrieb drastisch zum Ausdruck kommt (42-48, 52f.). 14 Bereits hier kann man den für Aischylos zentralen Wirkungsmechanismus der ‚doppelten Motivation’, der sich für Eteokles bei der Entscheidung zum Bruderkampf vollzieht, anklingen hören: „Diese doppelte Motivation des Handelns durch den Geschlechterfluch als objektive Macht und durch den Willen in der eigenen Brust ist spezifisch aischyleisch.“ (L ESKY (1958) 92). 15 Zum Verständnis von froim…oij als „preludes“ vor einer möglichen Eroberung Thebens sh. H UTCHINSON (1985) 43. 16 Vgl. die detaillierte Darstellung dieser Motivik von T HALMANN (1978) 32-50. <?page no="176"?> Septem 162 Diese äußere Bedrohung fungiert für den Zuschauer bildlich als Seesturm, der den Boden Thebens erschüttert, welcher in seiner konkreten Dinglichkeit ständig präsent ist: Die feste Verankerung von Volk und König gleichermaßen in der uralten, bodenverwurzelten „Stadt des Kadmos“ (vgl. 1, 9) bedeutet die Verpflichtung, diesem Boden, der Erzeugerin und Nährerin „Mutter Erde“ ( GÍ te mhtr… ), jetzt helfend beizustehen, ebenso wie den „einheimischen Göttern“ ( pÒlV t' ¢r»gein kaˆ qeîn ™gcwr…wn / bwmo‹si ) und den thebanischen Kindern (14-16). Eine sympathetische Identifikationshaltung des athenischen Zuschauers mit diesem ebenso politisch-sozialen wie ‚familiären’ Gesellschaftsverbund erscheint problemlos möglich. Gesteigert wird diese emotionale Gleichsetzung wohl noch durch den im Stück erwähnten Gegensatz zwischen griechischer, das heißt thebanischer, und fremd-barbarischer, das heißt argivischer, Sprache bei Verteidigern und Angreifern (72f., 170): Ein Verweis auf die nur wenige Jahre zuvor eingetretene Bedrohung der Polis Athen durch das ‚barbarische’ Perserheer. 17 Der Affekt, den Eteokles in der angegriffenen Polis wirken sehen möchte und offiziell verkündet, ist mit dem Begriff q£rsoj prägnant auf den Punkt zu bringen. Diese Zuversicht steht in Opposition zur Angst: m…mnontej eâ qqarse‹te, mhd' ™phlÚdwn tarbe‹t' ¥gan Ómilon: eâ tele‹ qeÒj. (34f.) Das Verharren der Verteidiger auf den Bollwerken und Türmen (30-35) symbolisiert die intendierte innere Festigkeit der Polis. Der entsprechende Affekt q£rsoj soll, so der optimistische Eteokles, ein gutes tšloj herbeiführen - für Theben nicht weniger als für den König, der trotz der angenommenen Einwirkung des Göttlichen seine eigene Handlungsaktivität entschlossen in die Tat umsetzt. Dramaturgisch gesehen bedeutet das Stichwort tšloj , dass die tragische Handlung nun im Theater in Gang gesetzt wird und auf eine Entscheidung zudrängt. Das den Prolog abschließende Gebet des Eteokles, das eine eigentlich unspektakuläre Bitte an die Götterwelt enthält - Theben zu beschützen, damit das do-ut-des-Prinzip im Kult auch weiterhin aufrechterhalten wird - und die ‚fromme’ Antithese darstellt zum Schwur der Angreifer auf Ares, Enyo und Phobos (44f.), hebt dann jedoch mit einer überraschenden Götterepiklese an: ð Zeà te kaˆ GÁ kaˆ polissoàcoi qeo… 'Ar£ t' 'ErinÝj patrÕj ¹ megasqen»j, m» moi pÒlin ge prumnÒqen panèleqron ™kqamn…shte dhi£lwton `Ell£doj: (69-72) Zu den Gottheiten Zeus, Ge und allgemein den Stadtgöttern, die alle dem Zuschauer aus seiner Lebenswelt vertraut sind, treten mit „Ara und Erinys, die stark mächtige des Vaters“ zwei Kräfte, die mit einem Male den überaus 17 Vgl. etwa K RANZ (1933) 78, R OSENMEYER (1982) 318, V ALAKAS (1993) 69f. <?page no="177"?> Innere Geschlossenheit und äußere Bedrohung 163 problematischen Aspekt vor Augen führen, der der letzten und mithin aktuellen Entwicklungsstufe des uralten Geschlechts von Kadmos zu eigen ist: Das Genos der Labdakiden, das den Gegenstand der Thebanischen Trilogie von 467 bildet, hat in der Gestalt von Laios und Oidipus - so auch die Titel der beiden vorhergehenden Stücke - schon in zwei Generationen Unheil über Theben gebracht, und auch die neue Bedrohungssituation ist nur ein weiterer Auswuchs dieses widernatürlichen Genos, das gegen sich selbst und gegen die umgebende Gemeinschaft destruktiv wirkt. Möglicherweise liegt dem Laios die auch sonst bekannte Geschichte zugrunde, dass Laios den Chrysippos, Sohn des Pelops, verführt hatte, welcher sich dann aus Scham umbrachte, woraufhin Laios von Pelops verflucht wurde. Dies wäre also die erste Stufe sexueller Transgression, die sich dann zweifellos im Oidipus in dem geläufigen Mythos fortsetzte. Das II. Stasimon macht es auch sehr wahrscheinlich, dass Laios sich ganz am Anfang des aischyleischen Mythos mit einer Orakelanfrage an Apollon gewandt hat, wie er die Polis Theben grundsätzlich in einem heilen Zustand bewahren könne (zu erschließen aus Sept. 742-49; die Frage hätte dann gelautet: pîj sózw pÒlin; ). Die Antwort: Wenn er ohne Nachkommenschaft bleibe. Vom Affekt der ¢boul…a übermannt, hat Laios dann dennoch Oidipus gezeugt, möglicherweise gerade mit der Absicht, so einen männlichen Nachfolger für Theben zu bekommen (750-57). 18 Wie auch immer Aischylos die Geschichte dieses Genos im Laios und im Oidipus im Detail gestaltet hat - zweifellos haben auch die Sphinx, vielleicht von Hera geschickt als Rache für Chrysippos, und die Verfluchung der beiden Brüder durch Oidipus, der schließlich als Herrscher Thebens ebenso scheiterte wie sein Vater, eine zentrale Rolle in der Trilogie gespielt. Trotz aller Unsicherheiten im Einzelnen ist doch die Tendenz erkennbar, dieses Genos über drei Generationen hinweg in einem kontinuierlichen, aufgrund von gewissermaßen unerlaubten Kinderzeugungen jedoch stets scheiternden Ansinnen zu zeigen, eine rechtmäßige Herrschaft über Theben auszuüben. Die tatsächliche Lösung der tragischen Verwicklung liegt somit nur in einer Auslöschung des Genos und in dessen endgültiger Abkoppelung von der Polis. Mit dem kurzen Fingerzeig des Eteokles auf die schwelende Gefahr des Geschlechterfluches, der offenkundig die aktuelle Krise verursacht hat, wird der Zuschauer in ständiger Spannung gehalten, ob und wann dieser Feuerbrand wieder neu ausbrechen wird. Die Verfluchung von Eteokles und Polyneikes hat er höchstwahrscheinlich kurz zuvor am Ende des Oidipus gesehen. 18 Zum möglichen Inhalt der beiden vorherigen Stücke, auch in Bezug auf die Thebais und die Oidipodeia aus dem Kyklos, und zu den entsprechenden Implikationen sh. C AMERON (1971) 22, T HALMANN (1978) 8-20 und F ÖLLINGER (2003) 145-60. Dass es aber, so F ÖLLINGER , etwa gegenüber Pindar (Ol. 2) „ein originärer Zug der aischyleischen Mythengestaltung“ sei, „daß das Schicksal der Stadt abhängig ist vom Verhalten des Herrschers“ (146), steht zumindest nicht primär in Verbindung mit einer Besonderheit poetischer Gestaltung, sondern liegt zunächst einmal im Genos Tragödie begründet, die eine Polis (oder etwas Äquivalentes) und damit auch einen Chor als deren Boden unbedingt braucht. Als genuin aischyleisch erscheint eher die Gestaltung der Geschichte des Labdakiden-Genos in Relation zur Polis, die darauf hinausläuft, dass „[t]he family’s existence is unnatural and disruptive.“ (T HALMANN (1978) (23)). <?page no="178"?> Septem 164 Somit muss eine rezeptionsästhetische Interpretation auf entsprechende weitere Hinweise im Text achten. In der Tat mag Aischylos rein des dramatischen Effektes halber das Thema des fluchbeladenen Genos erst mit v.631 in seiner ganzen Wucht auf das Publikum einschlagen haben lassen, zunächst also zurückgehalten haben - es zumindest nicht derart explizit und überdeutlich präsentiert haben, wie mit Beginn der Entscheidung des Eteokles (653ff.) bis hin zum Ende. 19 Wenn im Prolog fünfmal Eteokles und ‚sein’ Theben als Abkömmlinge des Kadmos genannt werden (1, 9, 39, 47, 74), somit Laios und insbesondere Oidipus offenbar bewusst ausgeblendet werden - vom Dichter nicht weniger als von der Figur Eteokles -, so wird für den Ablauf der tragischen Handlung und die Verwobenheit des Chores darin mehrerlei zu fragen sein: Kann Eteokles auch im Folgenden die negative Vergangenheit seines Genos abstreifen und sich in die bodenverwurzelte Ahnenreihe des Kadmos eingliedern? Sind Eteokles und Gemeinschaft (der Chor) einander loyal? Und wird der offiziell propagierte Affekt q£rsoj in der Polis seine Wirkung entfalten? 19 Vgl. W INNINGTON -I NGRAM (1983) 22, der in dieser Form dramatischer Technik die aischyleische œkplhxij verwirklicht sieht. Der in den ersten Worten zum Ausdruck kommende Isolationsstatus des Eteokles gegenüber Menschen und Göttern sei zu verbinden mit dem Wissen des Oidipussohnes über den Fluch (26). - Zum impliziten Bewusstsein des Zuschauers bezüglich der Existenz dieses Fluches („But the explicit is not everything, least of all in Aeschylus“, so W INNINGTON -I NGRAM (1983) 25) vgl. T HALMANN (1978) 30 und 90 sowie L UPAS / P ETRE (1981) 41. 4. fÒboj versus q£rsoj : Die Autonomie des Chores gegenüber Eteokles 4.1 Die Orientierung des Chores am Göttlichen als Reaktion auf den fÒboj Gegenüber dem Edikt einer inneren Geschlossenheit der Polis, die einhergehen soll mit dem ebenso positiven Affekt q£rsoj , präsentiert die - vom Zuschauer nun erwartete - Parodos augenscheinlich die tatsächliche emotionale Situation im Inneren der bedrohten Stadt: Der Chor, noch ohne seine Identität zu erklären, stürzt in völliger Panik herein. Der Gegensatz zu einem Stück wie den Persern oder dem Agamemnon, wo die Chöre - trotz einer emotionalen Beunruhigung - zunächst in geordneten, rezitierten Anapästen marschmäßig einziehen, besteht nicht nur äußerlich durch den Unterschied in der dramatischen Technik, die gleich zu Beginn gesungene Dochmier einsetzt. In den Septem erlebt der Zuschauer den Affekt fÒboj in einer Krisensituation für die ganze Polis, wie sie unmittelbarer und drängender nicht sein könnte: Die gesamte Parodos spielt nicht einfach vor dem Hintergrund des nun offensichtlich im Augenblick beginnenden Angriffs von außen, son- <?page no="179"?> Die Autonomie des Chores 165 dern sie setzt für den Zuschauer diese wesentliche Komponente des Plots überhaupt erst in Gang. Gegenüber der weitgehenden Statik des Prologes, ganz in Trimetern gesprochen, kommt in der Bewegung des Chores in der Orchestra, vor allem aber in seinen lyrisch-gesanglichen, höchst emotionalen Äußerungen die Unmittelbarkeit der Krisensituation direkt zum Tragen. In synchronem Einklang beginnen für den Zuschauer äußerer Angriff und innere Krise der Polis (91, 106) zusammen: < > qqršomai fober¦ meg£l' ¥ch: meqe‹tai stratÕj stratÒpedon lipèn: ·e‹ polÝj Óde leëj prÒdromoj ƒppÒtaj: a„qer…a kÒnij me pe…qei fane‹s', ¥naudoj saf¾j œtumoj ¥ggeloj. ... pot©tai, bršmei d' ¢macštou d…kan Ûdatoj ÑrotÚpou. (78-86) Die im Gesamtspektrum der Tragödie eher ungewöhnlichen Dochmier, möglicherweise von Aischylos erfunden, 20 zeigen noch auf dem Papier des Textes höchste Erregung an; eher von geschrienen Gesangsfetzen wird man hier sprechen müssen, als von harmonischem Chorgesang. Dieses Ausschreien des eigenen Affektes, wie es gleich im ersten Vers signalworthaft zum Ausdruck kommt, koinzidiert mit der in Gang gekommenen Bewegung des Feindheeres ( meqe‹tai, ·e‹ ), 21 dessen Anrücken der Zuschauer durch den Blick des Chores sieht, so wie dieser es sprachlich entstehen lässt - eine höchst wirkungsvolle Imagination 22 nicht darstellbarer Handlung, die der Chor, so soll es sich der Zuschauer vorstellen, nach Art einer Mauerschau beobachtet: Der Felsen am Rande der Orchestra fungiert in den Septem als die Akropolis von Theben (240f.). 23 Die stufenweise Entfaltung dieser ‚äußeren Handlung’ (sofern man überhaupt von deren eigenständiger Existenz sprechen mag) während der gesamten Parodos wird für den Zuschauer allein durch die Angst des Chores vermittelt und in diesem Affekt erlebbar. Dies nicht nur visuell - im Weiteren erhebt sich das Feindheer bereits über die Mauern (90-92) -, son- 20 Zum Befund S CHNYDER (1995) 67. 21 Vgl. weiter ÑrÒmenon kakÒn (87f.), Ôrnutai (90) und kàma ... ÑrÒmenon (114f.). 22 Mit dem Begriff ‚Imagination’ soll hier nicht unterstellt werden, der Chor mache sich hier nur eine lebhafte Vorstellung (so das Scholion S MITH 52,79a: taàta d fantazÒmena lšgousin æj ¢lhqÁ ), sondern es handelt sich hier um ein Beispiel für die rhetorische Technik der ™n£rgeia , mit der zudem der Affekt Angst, der sich ja auf eine visuelle und akustische Vergegenwärtigung des Bedrohungsmomentes stützt, plausibilisiert wird. 23 Zu diesem etwa fünf mal fünf Meter messenden Felsstück am östlichen Rand der Orchestra, das auch in den Hiketiden als p£goj erwähnt wird (189; vgl. pštraij (351) und pštra (796)), sh. H AMMOND (1972), bes. 416-30, und T APLIN (1977) 448f., der davon ausgeht, dass dieser Felsen kurz vor der Orestie eingeebnet wurde, um Platz zu schaffen für die Skene. <?page no="180"?> Septem 166 dern noch stärker akustisch: Wie sich dem Zuschauer durch das Auge des Chores sichere Evidenz (82) kundtut, so hört er durch dessen Ohr die kriegerische Klangkulisse in Form von Waffenlärm, Kampfwagengerassel und Steingeprassel. 24 Auch wenn möglicherweise bühnentechnische Mittel diese Geräusche im Zuschauerraum haben ertönen lassen, so erzielt doch die enge Verbindung dieser akustischen mit der visuellen Komponente, 25 vor allem aber mit dem durchgehenden Affekt fÒboj des Chores einen immensen Bühneneffekt: Nicht platte ‚action’ wendet Aischylos an, um œkplhxij beim Zuschauer zu erreichen, sondern ein synästhetisches Mit- und Ineinander von Wahrnehmung und Affekt, das die zum Plot gehörende ‚äußere Handlung’ synchron durch die performance des Chores entstehen lässt: Eine Aufführung, die ebensosehr mimetisch wie dramatisch (dies in doppeltem Wortsinn) ist. 26 All dies wird vorgesungen und vorgetanzt (die Notiz des Aristokles über den exzellenten Tänzer Telestes, der „durch sein Tanzen die Sache deutlich dargestellt hat“, mag hierher gehören) 27 und explizit mit Vokabeln benannt, womit Text und Sprache die Interpretationsgrundlage sein können: Der aufwirbelnde Staub (81), die immense Klangkulisse 28 und immer wieder der vom Chor empfundene Affekt fÒboj , 29 ein Gesang, der bestimmt, ja übertönt wird vom akustischen Schwall der hereinbrechenden tragischen Handlung. Wenn der Chor, wie vor allem wegen der kurzen, asyndetischen Sätze zu vermuten ist, zu Beginn in kleinen Gruppen oder sogar in Gestalt einzelner Choreuten, also spor£dhn hereinstürzte und in dieser Form zumindest den 24 Vgl. 83f., 100, 103, 151-53, 159, 161. 25 Zur Abwechslung optischer und akustischer Eindrücke und zum Aufbau der Parodos sh. M ESK (1934), der von „drei Steigerungsstufen [i.e. 78-107, 108-49, 150-81] … bedingt durch das Fortschreiten der Ereignisse“ (456) spricht. 26 Gewiss unterscheidet sich diese Parodos von anderen Parodoi und Chorliedern formal dadurch, dass sie eine Art selbständiger Szene mit einer eigenen ‚Handlung’ ist (das Herumlaufen des Chores und seine Gebete), was für R ODE (1965) 34-39 ein ganz wesentlicher Bestandteil seiner Gegenüberstellung von antistrophisch-unmimetischer und astrophisch-mimetischer Liedform (unter Einbeziehung des Satyrspiels) ist. Wenn man aber ‚Mimesis’ und ‚Handlung’ breiter auslegt, sind auch andere, scheinbar ‚unmimetische’ Darstellungen ‚mimetisch’: Auch die Erzählung der Vorgeschichte in der Parodos des Agamemnon und die Imagination von Geschehnissen und Zuständen in manchen Chorliedern von Aischylos (Io-Geschichte im I. Stasimon der Hiketiden) sind eine Art von Mimesis, die sich lediglich einer anderen Zeit- und Raumstruktur bedient. 27 FHG IV 333: Óti Telšsthj Ð A„scÚlou Ñrchst¾j oÛtwj Ãn tecn…thj éste ™n tù Ñrce‹sqai toÝj `Ept¦ ™pˆ Q»baj faner¦ poiÁsai t¦ pr£gmata di' Ñrc»sewj . Dazu kritisch H UTCHINSON (1985) 56. Zur Gestik in den Septem vgl. ceirotÒnouj l…taj (172) und vv.854-60 und, allgemein zur Bedeutung dieses freilich nur schwer rekonstruierbaren Ausdrucksmittels, T HALMANN (1978) 103. 28 ÐplÒktup' (84), bo£n (ebd.), bršmei (85), ÑrotÚpou (86), ktÚpon (100, 103), p£tagoj (103), kacl£zei (115), kinÚrontai (124) (so W , gegen W EST ), Ôtobon (151), œlakon (153), kÒnaboj (161). In der Frage ¢koÚet' À oÙ ¢koÚet' ¢sp…dwn ktÚpon; (100) könnte man eine Anrede an das Publikum sehen. 29 qršomai fober¦ meg£l' ¥ch (78), ¢g£stonoi (99), dšdoika (103, so A SKEW , dšdorka S ), fÒboj (121), fÒbwn (135), p£scei (156, von der Polis). <?page no="181"?> Die Autonomie des Chores 167 astrophischen Teil der Parodos (78-107) aufführte, 30 so ist in dieser aufgelösten Form einer ‚normalerweise’ geschlossenen, homogenen und geordneten Gruppe, wie sie der griechische corÒj mustergültig auch in der Lebenswelt des Zuschauers verkörpert, für das Publikum die Erschütterung der Ordnung in der Polis Theben in hohem Maße evident und tatsächlich sichtbar gemacht. Für die Eumeniden zeugt die Vita Aeschyli von einem entsprechenden ‚zerstreuten’ Erstauftritt des Chores (womit dort Parodos und Epiparodos gemeint sein können); 31 auch Suchlieder wie Soph.Ai. 866-78 und Eur.Rhes. 674-91 verwenden diese Form. Pollux stellt typologisch den spor£dhn -Auftritt (hier auf das Einlaufen einzelner Choreuten spezifiziert) als dritte Möglichkeit des Choreinzuges gleichberechtigt neben die - allerdings weitaus üblichere - Marschordnung drei mal fünf beziehungsweise fünf mal drei: penteka…deka g¦r Ãsan Ð corÒj. kaˆ kat¦ tre‹j m n e„sÇesan, e„ kat¦ zug¦ g…noito ¹ p£rodoj: e„ d kat¦ sto…couj, ¢n¦ pšnte e„sÇesan. œsq' Óte d kaˆ kaq' ›na ™poioànto t¾n p£rodon (IV 109). Die Reaktion, die sich aus diesem Affekt sogleich ergibt, besteht im elementaren Hilferuf an die Götter, das eben entstehende Unheil abzuwehren: „ë „ë qeoˆ qea… t', ÑrÒmenon / kakÕn ¢leÚsate (87f.). Aber auch dieser endlich zustande kommenden Bitte wird gleich der Boden entzogen, als sich einige Verse später das fremde Heer schon förmlich über die Stadtmauern erhebt und der Chor keinen definierten Bezugspunkt in der Götterwelt mehr sieht ( t…j ¥ra ·Úsetai ... qeîn À qe©n ; ), woraufhin er die Wirksamkeit des sonst üblichen Rituals in Frage stellt (90-96). Nach dieser Zweifelfrage, die auch die oberste Ebene des Gemeinschaftsverbundes der Polis ins Schwanken bringt, kann der Chor nur noch seine eigene Ortlosigkeit konstatieren: t… mšllomen ¢g£stonoi; (99) - diese offene Frage lässt den Chor zusammen mit dem Zuschauer in der labilen Anfangssituation und der Offenheit des Plots auf die weitere Entwicklung warten. Die später ebenso verzweifelt gestellte Frage: t… ppÒlij ¥mmi p£scei; t… gen»setai; po‹ d' œti tšloj ™p£gei qeÒj; (156f.) komplettiert diese Haltung und verbindet nun das persönliche Schicksal des Chores mit dem der Polis. Sicher sind die Mädchen in ihrer physischen Unversehrtheit direkt bedroht - Versklavung, Vergewaltigung drohen, wie sie später noch explizieren werden (321-68, 454-56) -, doch unstrittig greift der 30 Zuerst von H ERMANN (1852) 273f. vorgeschlagen („separatim canere“), übrigens in Verbindung mit einem negativen Urteil über das Ãqoj des rein als Person gesehenen Chores: „ea nimia parumque decora virginibus perturbatio esset“ (274). Ein weiterer Vorschlag der Aufteilung, die notwendig einem gewissen Subjektivismus unterliegt, bei R OBERT (1922), der 166-69 das Schlussgebet an Athene und Zeus effektvoll als vom ganzen Chor gesungen sieht. Gut vorstellbar ist, dass die Choreuten ihre diversen Wahrnehmungen und Reaktionen asyndetisch einander zurufen. 31 Sh. unten S.435 Anm.10. <?page no="182"?> Septem 168 Chor jetzt auf den großen Rahmen dieser Polis über, womit er eine bedeutsame Identifikationsinstanz für das Publikum bildet: „The chorus are not just a group of panic-stricken virgins … they represent Thebes as a whole, and they embody much that is fragile and precious in the city’s life. Their reactions to the events of the play not only are those of young girls but also stand for the effects of those events on the entire city. They thus provide an effective foil to Eteocles.“ 32 Knapp zwanzig Belege sind in der Parodos aus dem Wortfeld ‚Polis, Land, Boden’ zu zählen. 33 Die männliche Volksmenge, wie sie am Beginn des Prologs zu vermuten war, stand nur s t u m m auf der Bühne. In der Parodos und bis zum Ende des Stücks ist die Polis allein in Gestalt des Chores wirklich präsent und sichtbar, ungeachtet der Erwähnung des vom fÒboj des Chores bedrohten schattenhaften Bürgerheeres durch Eteokles (184, 191) - ihre S t i m m e hat die Polis Theben ausschließlich im Chor, der auch die large off-stage group vertritt. Jedoch ist auch das Bewusstsein über ein tšloj (157) vorhanden, dessen Eintreten den „erfüllenden Göttern und Göttinnen des Landes“ ( ... qeo…, / „ë tšleioi tšleia… te g©j , 166f.) und besonders „Vater Zeus“, pantÕj œcwn tšloj (116), anheimgestellt wird. Ein Telos eigener Art erreicht auch die vom Dichter dem Chor beigelegte Entwicklung innerhalb der Parodos: Nach der kopflosen Panik endet zunächst die astrophische Parodos mit einer Anrufung des Landesvaters Ares (104f.), woraufhin mit dem antistrophischen Teil eine Ritualhandlung in Form einer von Gebeten bestimmten Hikesie beginnt. 34 Auf der von dem Bühnenfelsen gebildeten Akropolis ist eine Reihe von Götterstatuen als pan£gurij (220, vgl. xuntšleia 251) aufgestellt, so dass während der gesamten tragischen Handlung die Götterwelt sichtbar präsent ist - ein nicht zu unterschätzender Faktor für die Rezeptionssituation, der bei einer reinen Textbetrachtung leicht unter den Tisch fällt. 35 Nach den anfänglichen Zweifeln über die Wirksamkeit dieses Rituals (95f.) bleibt dem Chor dennoch nur die göttliche Ebene als Bezugspunkt: Er zieht offenbar in einer Prozession der Reihe nach von einem Götterbild zum nächsten und singt jeweils, kniefällig und unter Ausstrecken der Hände (173, 185, 258), ein kurzes Gebet; genannt werden Zeus, Pallas und Poseidon, Ares und Kypris, 32 T HALMANN (1978) 102. Für das I. Stasimon entsprechend D ILLER (1975) 35. 33 ped…' (84), pÒlin (91), p£tria bršth (95f.), pÒlin (106), poli£ocoi (108), ptÒlin (111), pÒlisma (120), ·us…polij (130), pÒlin (139), gšnouj (140), pÒlin (151), pÒlij (156), pÒlewj (164), g©j (167), pÒlin (169), pÒlin (175), filopÒleij (176), ƒerîn dam…wn (177f.), pÒleoj (180). 34 Zum Ablauf dieser Gebetsform, bei der die Götterstatuen so wie angeflehte Menschen das Objekt der ƒkštai sind, sh. H UTCHINSON (1985) 55, mit weiteren Beispielen aus der Tragödie. 35 Zum Bühnenaufbau der Septem sh. M ELCHINGER (1979) 41. <?page no="183"?> Die Autonomie des Chores 169 Apollon und Artemis, Hera und nochmals Artemis und Apollon. 36 Dieses Sich-Festhalten ( bretšwn œcesqai , 98) bedeutet, dass nun ein Orientierungspunkt gefunden ist: Gegen den Wogenschwall des Angreiferheeres stellen die Götterbilder auf der Akropolis das Feste innerhalb der Polis dar. 37 Die bereits zitierte Selbstidentifizierung des Chores zu Beginn des antistrophischen, also auch rein äußerlich nun geordneteren Abschnitts der Parodos, als parqšnoi , die dieses Hikesieritual aus Angst vor Versklavung durchführen wollen, geht einher mit der sichtbaren Formierung zum prozessionsartigen lÒcoj (110) - ein äußerst passender Begriff für eine geordnete, homogene Menschengruppe, wie sie ein corÒj in der Lebenswelt des Zuschauers abgibt: Chorische Ordnung und Orientierung am Göttlichen laufen synchron ab. Man kann spekulieren, ob mit dieser Gestaltung einer Prozession Reminiszenzen an die Chorgattung Prosodion hergestellt werden sollen, zumal auch das Partheneion in Form eines solchen Prozessionsgesanges aufgeführt werden konnte - so das schon erwähnte Daphnephorikon von Pindar (fr. 94 b) und Alkman fr. 1. Vergleicht man speziell das thebanische Partheneion Pindar fr. 94 b, so erkennt man einen substantiellen Unterschied zwischen diesem ‚aristokratischen’ Enkomion auf die Familie des Agasikles, in dem - wie auch bei Alkman - Eigennamen von Individuen mit zum Grundgerüst des Chorliedes und seiner performance gehören, 38 und einer anonymen, homogenen Gruppe von parqšnoi , die die g e s a m t e Polis vertritt. Allein die Transformation eines parqšnoi -Chores der Lebenswelt war nicht die Darstellungsintention von Aischylos in der Parodos der Septem. Trotz dieser ansatzweisen Wiederherstellung der Ordnung besteht der Affekt fÒboj fort; erneut bricht der Kampflärm herein (150-65). Was von den Göttern erfleht wird, das ist nicht nur die Errettung der Stadt, sondern im hic et nunc auch die Beendigung des fÒboj . Aus diesem Affekt heraus wird in den Anrufungen der Götter eine positive Entwicklung der Handlung, mithin des Plots der Tragödie erhofft: ... ™p…lusin fÒbwn, ™p…lusin d…dou (135). Die „Auflösung“ dieses negativen Affekts durch die mit lut»rioi angerufenen Stadtgötter bedeutet zugleich diejenige der Gefahrensituation, mithin die ‚Heilung’ dessen, was die in Gang gesetzte Tragödie nun vorführt. Doch ist die krasse Andersartigkeit dieser Relation von Affekt und Reaktion gegenüber der selbstbewussten, ganz vom eigenen q£rsoj getragenen Verkündigung von Eteokles ( eâ tele‹ qeÒj , 35), nicht zu übersehen: Hierin offenbart sich schon vor der direkten Konfrontation ein Riss zwischen Polis und König. Der Zuschauer kann, nicht zuletzt aufgrund der realen Krise seiner eigenen Polis Athen wenige Jahre zuvor in den Perserkriegen, an der Angst des 36 Sh. im einzelnen S CHNYDER (1995) 70f.; mit dem Strophenpaar b (150ff.) ist eine Kehrtwendung anzunehmen: Auf neuerlichen Kampflärm beginnt der Chor nochmals ‚von hinten’ mit dem Ritual. 37 Vgl. m£karej eÜedroi (97), ›doj (165), t…mion ›doj (241). 38 Vgl. die Kurzinterpretation und die historisch-kulturelle Einordnung von C ALAME (1994/ 95) 185-87. <?page no="184"?> Septem 170 unmittelbar bedrohten Chores sympathetisch teilhaben und sich in dessen ‚Ich’ ( moi in v.181 schließt die Parodos ab) wiederfinden. 39 Insbesondere die Anrufung auch von Pallas Athene ·us…polij und die von Poseidon (129-34), der Stadtgottheiten Athens, 40 kann den Zuschauer zu einer Gleichsetzung beider Poleis bringen. Es stellt sich am Ende der Parodos eine zentrale Frage: Wo ist Eteokles? Der starke Mann an der Spitze der Polis, die saviour-Gestalt, spielt für den Chor, der nach dem Abtritt des Königs (77) den Spielraum ganz für sich allein bekommen hat, keinerlei Rolle. Der Chor, Boden der Polis, hat sich in seinem hilflosen, der eigenen Passivität entspringenden fÒboj intentional in Beziehung gesetzt nur mit der obersten Ebene, der Götterwelt, 41 und Eteokles, der als aktiv Handelnder die ideale Vermittlungsinstanz zwischen unten und oben sein sollte, übergangen. Wenn der Chor auf die Akropolis Thebens als Asylort flüchtet und allein auf die Götter als Schutzgebende zusteuert, so ist dies eine höchst auffällige, ungewöhnliche Gestaltung des pattern der Hikesie, das normalerweise - wie in den vier Jahre später aufgeführten Hiketiden - ganz von der Spannung zwischen a u s w ä r t i g e n , verfolgten ƒkštai und einer Polis als dem erwünschten Asylort, respektive ihrem König als Schutzherren, lebt: 42 Ist es in dieser frühen Tragödie schon eigenartig, dass überhaupt ein Chor innerhalb seiner e i g e n e n Polis eine Hikesie durchführt, so wird dies nochmals gesteigert durch die tatsächliche Ausformung dieser Handlung: Der eigene König steht im Abseits, das Göttliche - das auch im normalen pattern natürlich stets präsent ist - ausschließlich ist die a l l e i n i g e Orientierungsebene einer ganzen Polis, die bedroht und förmlich in Auflösung ist. Eine bewusste Intention, Eteokles einfach beiseite zu lassen, kann man dem Chor nicht unterstellen. Und doch fügt sich diese Separation gut zu den Anfangsworten des Eteokles, in denen ja eine gewisse Isolation von der Polisgemeinschaft zu beobachten war: Eteokles ist König Thebens und zugleich Sohn des Oidipus, eine gefährliche Mixtur von zentraler Bedeutung für die den Septem zugrunde liegende Krise der Polis, auf die der Chor zunächst a u t o n o m mit Ritualhandlungen - Gebeten und einer Hikesie - reagiert. Die Andersartigkeit der Konstellation zwischen Chor und Einzelfigur zeigt ein Vergleich mit Xerxes und vor allem Agamemnon, die als ‚Landes- 39 Auch ohne gender studies zu betreiben ist einzusehen, dass sich männliche Zuschauer durch expressive Affektdarstellung des Chores in die Position der dargestellten Mädchen hineinversetzen können. 40 So C ALAME (1994/ 95), womit der Chor eine „rôle médiateur … entre action dramatique et situation empirique du public“ (188) einnehme. Vgl. andererseits vv.135- 40 Ares und Aphrodite als Eltern von Harmonia, womit das Lokalkolorit Thebens evoziert wird. 41 Dies über die Relation der fil…a (vgl. 154, 160, 174-76, 180); die Parodos schließt mit der auf frühere Opfer seitens der Polis rekurrierenden Bitte: mn»storej œste moi (181). 42 Zum Begriff des pattern und dessen Anwendung auf die Hikesietragödien grundlegend B URIAN (1997). Bemerkenswert ist, dass also die Septem und nicht erst die Hiketiden den ersten Beleg innerhalb des Genos Tragödie enthalten. <?page no="185"?> Die Autonomie des Chores 171 väter’ erscheinen, mit denen deutlich zusammengearbeitet wird (ungeachtet der ihnen entgegengebrachten Kritik). Nach dem Gebet des Eteokles an Ara und die Erinnye konnte der Zuschauer annehmen, dass die neuerliche Gefährdung der Polis, die im fÒboj des Chores zum Ausdruck kommt, die Folge des Fluches von Oidipus ist, auch ohne dass dies schon ausführlich offenbart wurde. Im Folgenden nun lenken zwei weitere, vom Chor bereits vor dem großen Umbruch mit v.653 gegebene Hinweise die Perspektive des Zuschauers auf Oidipus als den Vater des Eteokles, der sich selbst ‚nur’ in das angestammte Genos des Kadmos einreihen will: Unmittelbar nach dessen Tirade gegen das Frauengeschlecht adressiert der Chor den König Thebens mit: ð f…lon O„d…pou tškoj (203) - hier hat das Publikum der Trilogie sicher mehr mitgehört als eine bloß variierte Anrede. Es frappiert, wenn der Chor ebenso nach dem I. Stasimon, als Eteokles wieder die Bühne betritt und die Redenpaare beginnen, seinen Herrscher in gleicher Weise ankündigt: kaˆ m¾n ¥nax Ód' aÙtÕj O„d…pou tÒkoj (372). Zwar steht der Chor dem Herrscher durchaus auf der Grundlage der fil…a gegenüber, doch ergänzen diese beiden Anreden, die ja angesichts der Repräsentativfunktion des Chores auch von der ganzen Polis Theben ausgehen und zwei Fixpunkte jeweils zu Beginn einer Kontaktszene des Chores mit Eteokles bilden, den Hinweis des Eteokles auf „Fluch und Erinnye des Vaters“ (70). Oidipus nennt der Inzestgezeugte nicht ein Mal namentlich - nur Kadmos und dem Theben der Sparten fühlt sich Eteokles zugehörig: Den Beschirmern von Land, Stadt und Markt von Theben sowie Dirke und Ismenos, den geographischen Identifikationspunkten Thebens kat' ™xoc»n , gelobt er Opfer nach dem Sieg (271-78). Die familiäre Identität des Eteokles steht dann markant und explizit gleich im zweiten Vers der Stelle, die man als den großen Umschlag in den Septem bezeichnet: ... ð pand£kruton ¡mÕn O„d…pou gšnoj · (654), und danach werden Oidipus und sein gšnoj häufig genannt, 43 hervorstechend auch im ersten Vers des Chores, der auf die Selbsterkenntnis des Eteokles reagiert: m», f…ltat' ¢ndrîn, O„d…pou tškoj, gšnV ktl. (677). Von einem völligen Auseinanderfallen des Stücks in zwei Teile kann nicht die Rede sein: Für den Zuschauer ist Eteokles als „Sohn des Oidipus“ und als Fluchobjekt des Vaters dreimal (70, 203, 372) erkennbar, zweimal davon seitens des Chores, der durch diese Form der Fokalisation und der fast unmerklichen Informationsvergabe - ohne dass hierbei nach einem psychologischen Innenleben des Chores gefragt werden müsste - eine Z u s p i t z u n g der momentanen Handlung erzeugt: Eine Darstellungsart, die nicht nur spannungssteigernd für das Fluchgeschehen ist, sondern auch für die jetzt zu erwartende Auseinandersetzung zwischen dem Chor und Eteokles. 43 Eteokles: O„d…pou kateÚgmata (709); Bote: O„d…pou gšnei (801) und O„d…pou gšnoj (809); Chor: O„dipÒda blay…fronoj (725), patroktÒnon O„dipÒdan (752), O„d…poun (775), gšneoj O„d…pou t' ¢r£ (833), patrÕj O„dipÒda (886), O„d…pou ski£ (976 und 987), sowie im wohl unechten Schluss O„dipÒda gšnoj (1055f.). <?page no="186"?> Septem 172 4.2 Die innere Bedrohung der Polis durch den Chor Die ruppige Schimpftirade des Eteokles, der bei seinem Auftritt den Chor wohl noch beim Ritual beobachtet, gegen das „unerträgliche (Weiber-)Gezücht“ ( qršmmat' oÙk ¢nascet£ , 181) hat zu psychologisierenden Spekulationen über eine Misogynie des inzestuös gezeugten Oidipus-Sohnes geführt. Auch die seit Hesiod bestehende Tradition der ‚Weiberschelte’ wurde als Erklärungsmuster herangezogen. Doch diese Szene muss innerhalb der Aufführung eine andere primäre Intention verfolgen. 44 B ROWN hat hingewiesen auf die unterschiedlichen religiösen Grundhaltungen, die sich umreißen lassen mit „undue timorousness and genuine religious feeling“ (Chor) gegenüber „prudent calculation and harsh intolerance of emotion“ 45 (Eteokles). Darüber hinaus jedoch findet sich in der Szene ein weiterer, nicht nur für das Griechische Drama zentraler Vorstellungsbereich: Der Gegensatz von weiblichem o koj und männlicher pÒlij , ein nicht weniger als die ‚Weiberschelte’ traditionelles Thema, dem als locus classicus die berühmte Ermahnung Hektors an Andromache in der Ilias zugrunde liegt: ¢ll' e„j o kon „oàsa t¦ s' aÙtÁj œrga kÒmize ... ... pÒlemoj d' ¥ndressi mel»sei p©si, m£lista d' ™mo…, toˆ 'Il…J ™ggeg£asin. (Il.6,490-93) 44 Eine Auswahl aus der Forschung zu dieser Szene: Für W INNINGTON -I NGRAM (1983) hat Eteokles Angst vor dem Fluch: „ … the excessive character of his reaction to the fears of the Chorus derives from his own - and different - fear.“ (29); VON F RITZ (1962) 219 meint, eine Spannung in Eteokles offenbare sich im Ausfall gegen die Mädchen; O TIS (1960) verteidigt Eteokles, der nun einmal das „royal and military decorum“ (158) wahren müsse; für K IRKWOOD (1969) entspricht die „harshness“ von Eteokles, „the firm defender and the man of action“ (18), der späteren Unbedingtheit, in den Bruderkampf zu treten. Zur psychologischen, zum Teil freudianischen Erklärung einer Misogynie von Eteokles vgl. die Nachweise bei B ROWN (1977) 303 Anm.10; zur Tradition der auch sonst in der Tragödie zu findenden ‚Weiberschelte’ sh. L UPAS / P ETRE (1981) 71 und H UTCHINSON (1985) 75. Zweifellos geht das, was sich Eteokles gegen die Frauen herausnimmt, weit über das hinaus, was die Tradition bietet: Das g e s a m t e weibliche Geschlecht ist nicht nur ein lästiges (aber zu ertragendes) Übel, sondern wird von ihm vollkommen verdammt: Weder in o koj noch pÒlij , weder im Krieg noch im Frieden, möchte er mit ihm zu tun haben (187-95). Man könnte sogar versucht sein zu sagen, dass sich Eteokles, Abkömmling eines pervertierten Genos, damit vom natürlichen Ordnungsgefüge überhaupt (Mann / Frau, Polis / Oikos) isoliert. Zur Androhung der archaischen, immer mit einem sexuellen Miasma verknüpften Steinigungsstrafe (197-99) und zur Interpretation des Ausdruckes meta…cmion (197, „zwischen Mann und Frau“) sh. L UPAS / P ETRE (1981) 76. 45 B ROWN (1977) 302, der für die Interpretation die methodische „preconception“ aufstellt, „that, since the play was written for a single performance … it must always be relevant to bear in mind what the audience in that theatre could have perceived and what its reaction could have been.“ (300). Im Unterschied zu B ROWN , der hinter dem Konflikt einen Geschlechterkampf zwischen Männern mit „masculine courage and practicality“ und Frauen mit „timidity and its intuitive religious feeling“ (305) sieht, möchten wir allerdings im Folgenden die Spannung zwischen Einzelfigur und Gemeinschaft betonen. <?page no="187"?> Die Autonomie des Chores 173 Eteokles’ Position entspricht dem vollauf; er ist sogar noch radikaler: mšlei g¦r ¢ndr…, m¾ gun¾ bouleuštw, t¥xwqen: œœndon d' oâsa m¾ bl£bhn t…qei. ½kousaj, À oÙk ½kousaj; À kwfÍ lšgw; (200-02), und: ¢ndrîn t£d' ™st…, sf£gia kaˆ crhst»ria qeo‹sin œrdein polem…wn peirwmšnouj: sÕn d' aâ tÕ sig©n kaˆ mmšnein e‡sw dÒmwn. (230-32) So der Abschluss seiner im Vergleich zu Hektor ungleich schärferen Anfuhr, die in der dramatischen Situation jedoch auch eine spezifische Intention verfolgt: Durch das Verlassen des Hausbereiches und durch den fÒboj , der in der Parodos im öffentlichen Raum der Polis vorgeführt wurde, weiche der Chor die innere Geschlossenheit Thebens auf. Hier wird nun doch eine Differenz zwischen dem Chor speziell als Frauen und einer ‚männlichen’ Polis sichtbar, die hinter Eteokles steht und in seinen Worten sichtbar wird - gewissermaßen in einer Rekapitulation des Prologes. Dies bedeutet aber für den Fortgang des Stückes mitnichten einen wirklichen Gegensatz zwischen dem Chor und einer anderen large off-stage group, wie es in den Eumeniden und auch den Hiketiden der Fall ist, sondern zeugt von der Offenheit und Wandlungsfähigkeit des Chores der Septem: Seine weibliche Identität kommt hier zwar verhältnismäßig stark zum Vorschein, tritt später aber, vor allem in den beiden Stasima, zurück, wenn der Chor wieder in Abwesenheit des Eteokles die Auswirkungen der Krise auf die gesamte Polis vorführt. Ein Einheit stiftendes Moment für den Chor im ganzen Stück ist indes sein Affekt, der fÒboj , der von Eteokles hier als Bedrohung des ‚angeordneten’ q£rsoj (gleichzusetzen mit der swfrosÚnh , vgl. swfrÒnwn mis»mata in v.186), angesehen wird und das Wohlergehen der Polis gefährde ( pÒlV swt»ria , 182). Hier offenbart sich der Anspruch des Eteokles, die durch das Verhalten des Chores noch zugespitzte Krise der Polis zu beseitigen, wofür der Affekt q£rsoj nötig ist. In der ganzen Szene (ein dreistrophiges Epirrhema umschlossen von zwei Rheseis des Eteokles, deren zweite nach einer Stichomythie folgt) ist dieses Affektpaar nicht nur Gesprächsgegenstand einer überwiegend auf das Geschehen der Parodos zurückgreifenden Argumentation, sondern die Dialogpartner sind auch jeweils von diesen beiden Affekten bestimmt: Der Chor, weiterhin in Dochmiern singend, nach wie vor von exzessiver Angst, 46 während Eteokles, der ausschließlich in Trimetern spricht, das schon bekannte Bild des Steuermanns abgibt (vgl. 209f.), absolute peiqarc…a (224) von ganz Theben verlangt und dementspre- 46 Angstvokabular: Chor von sich selbst: œdeis' (203), fÒbJ (214, 240), dšdoik' (249), fÒboj (259); Eteokles über den Chor: de…sasa (190), Øperfoboà (238), fÒbei (262), fÒbon (270). Der akustische Eindruck der Parodos ist wiederaufgenommen besonders in der Strophe a (203-207) als direkter erster Entgegnung; vgl. weiterhin 212f., 239, 245, 247, 249. Zu Beginn der Stichomythie dringt offenbar wieder Kampflärm in den Bühnenraum: kaˆ m¾n ¢koÚw g' ƒppikîn fruagm£twn (245). <?page no="188"?> Septem 174 chend den Chor zunächst zum Schweigen bringen will - fünf Mal erscheint sig©n in dieser Passage. 47 Trotz dieses Schweigegebots hebt der Chor vor dem Hintergrund des Kampflärms immer wieder aufs Neue an, seine Angst zu äußern, was zweierlei offenbart: Einmal das vergebliche Ansinnen des Königs, einen Chor, dessen ureigenstes Merkmal doch das emotional aufgeladene Singen ist, verstummen zu lassen; zum anderen, dass in diesem offensichtlich unbeherrschbaren Singen, obwohl vom Chor ständig entschuldigt, auch die unaufhaltsame, von Eteokles nicht beeinflussbare Fortentwicklung der tragischen Handlung vonstatten geht. W INNINGTON -I NGRAM folgend kann man, unter Berücksichtigung der Hinweise auf Oidipus (v.70 Eteokles, v.203 Chor), hinter dem Befehl des ‚Wunsch-Kadmeiers’ Eteokles, doch endlich still zu sein, nicht nur pragmatisch den Versuch sehen, den fÒboj einzudämmen, sondern auch ein mögliches Aussprechen der Fluchthematik zu verhindern. 48 Der weibliche Chor verlässt seinen o koj- Bereich und ist im Moment der Krise im Zentrum der Polis, auf der Akropolis (240f.) präsent - dies zeigt dem Zuschauer die Störung der Polis an. Das normale Ordnungsgefüge mit einer strikten Dichotomie beider Bereiche ist aufgelöst durch die ‚Intrusion’ des Chores in den öffentlichen Raum, 49 und um den Eindruck dieser Turbulenz zu vertiefen, mag Aischylos die weibliche Identität des Chores, gerade auch ex negativo aus der Haltung des Eteokles heraus, hier etwas deutlicher konturiert haben als in den übrigen Chorpartien (vor allem, wenn Eteokles gar nicht anwesend ist, wie in den Chorliedern). Allerdings könnte der Chor von seiner Position aus hier viel stärker für sich selbst als Frauen und als parqšnoi sprechen - tatsächlich aber liegt sein Augenmerk nach wie vor auf der gesamten Polis (so besonders in v.247: stšnei pÒlisma gÁqen , æj kukloumšnwn ) und sogar auch auf dem Heer: m»d' ™p…doimi t£nd' ¢studromoumšnan pÒlin kaˆ † str£teum' / ¡ptÒmenon † purˆ da J (220-22). Dieses identifizierende Ineinandergreifen hebt die in Eteokles’ Worten zuvor aufgeschienene Differenz zwischen weiblichem Chor und männlicher Polis auf und bildet zugleich eine breitere Basis, so dass gegenüber einer primär gender-orientierten, ausschließlich auf eine weibliche 47 sig©n (232), s‹ga (250), sigîs' (252), s…ghson (262), sigî (263). Religionspsychologisch steckt dahinter die Angst vor dem Aussprechen des Unheils als eines bösen Omens, so C AMERON (1971) 33. 48 W INNINGTON -I NGRAM (1983) 28f.; vgl. weiter für den Charakter von Eteokles: „It may be suggestetd, then, that throughout the first part Eteocles is in fear, which is not fear of battle or of death (for in human affairs he is courageous), but fear of the Erinys. This fear, except for one outburst, he conceals in silence, but the excessive character of his reaction to the fears of the Chorus derives from his own - and different - fear.“ (29). Jedoch halte Eteokles das eigene Überleben für möglich. 49 Der Begriff ‚Intrusion’ als Kennzeichen des Eindringens von Frauen in den Polisraum sei hier im Anschluss an den provokativen Basisaufsatz von S HAW (1975) mit dem Titel The female intruder verwendet, der in der Forschung für große Aufmerksamkeit gesorgt hat; vgl. E ASTERLING (1987) 16 Anm.4. <?page no="189"?> Die Autonomie des Chores 175 Kriegserfahrung abhebenden Interpretation dieser Szene Vorsicht angebracht ist. 50 Wenn für Eteokles diejenigen, die den inneren Hausbereich normwidrig verlassen haben in Richtung des äußeren Polisbereichs, die Polis de facto „von innen“ ( œndoqen ) verderben, weil sie zugleich die Sache derer fördern, die „draußen“ ( qÚraqen ) sind (193f.), so kann dieser Sichtweise, die ein ziemliches Chaos anzeigt, objektiv zugestimmt werden: Der fÒboj , den die brutalen, blutrünstigen Angreifer verkörpern (vgl. 45, 386, 498, 500), wurde durch die Parodos mit ihrer poetischen Technik der synchronen und synästhetischen Generierung äußerer Handlung im Affekt des Chores und in dessen panischer Reaktion in die Polis und in das Theater hereingeholt. In der Auseinandersetzung zwischen Eteokles, Angehöriger des Labdakiden-Genos, und dem Chor, der mehr darstellt als eine Gruppe verängstigter parqšnoi , kommt also ein zusätzlicher, interner Konflikt zum Tragen: Nicht zwischen verschiedenen sozialen Segmenten der Polis (Frauen versus Heer), sondern zwischen Eteokles und der Polis, die zu repräsentieren der Chor trotz seiner hier im Moment etwas stärker hervortretenden weiblichen Identität durchaus Anspruch erhebt. 51 Den im engeren Sinne inhaltlichen Kern der Diskussion bildet eine krass zum Ausdruck gebrachte Gegensätzlichkeit zweier religiöser Grundhaltungen, ohne dass freilich zwischen Eteokles und dem Chor wirklich kommuniziert oder argumentiert würde. 52 Vergleicht man zunächst diese Auseinandersetzung mit der strukturell an gleicher Stelle im Plot stehenden Szene der Perser mit dem Chor und Atossa (159-248), so springt zweierlei ins Auge: Dort reagieren Chor und Einzelfigur in einem harmonischen Miteinander auf die - zwar nicht derartig zugespitzte, aber doch manifeste - Krise der Polis respektive des ganzen Landes Persien, die dem Publikum zuvor in der Parodos durch negative Affektdarstellung nahegebracht wurde; und beide Parteien tun dies aus einer gemeinsamen Anschauung der religio heraus, die Volk u n d Herrscherfamilie die Wirksamkeit von Opfer- und Bitthandlungen zugunsten der Gemeinschaft akzeptieren lässt. Dass Aischylos den Plot der Septem nicht auf die Weise fortführte, wie fünf Jahre zuvor in den Persern, beleuchtet die von ihm intendierte Darstellung des inneren Zwiespaltes von Theben. Die auf den fÒboj folgende Reaktion des Chores in der Parodos, die Gebetsrituale, entspringt einem nahezu fatalistischen Glauben an a ll e i n i g e göttliche Allmacht; die Haltung des sicher tieffrommen Eteokles hingegen setzt (entsprechend dem Konzept der ‚doppelten Motivation’) das eigene, aktive 50 So B RUIT -Z AIDMAN (1991) - hier erklinge „la voix féminine anonyme de la cité“ und zeige „l’experience féminine tout entiere“ (43). 51 „That the ruler is in conflict with his citizens is an indication of his family’s peculiar position in Thebes.“, so zutreffend T HALMANN (1978) 41. Allgemeiner B RUIT -Z AIDMAN (1991): „ … c’est de la survie de Thèbes affrontée à une double guerre, étrangère et civile, qu’il y est question.“ (44); vgl. F INLEY (1966): „The chorus in their way are as violent as the Argive champions in theirs.“ (242). 52 Für eine entsprechende rhetorische Analyse sh. L UPAS / P ETRE (1981) 77-99. <?page no="190"?> Septem 176 Handeln und Entscheiden als mindestens gleichwertig an. Sicher ist aus den Worten des Eteokles die Akzeptanz einer Autonomie göttlicher Einflussnahme erkennbar (vgl. 35, 69-77, 266), doch dazu gesellt sich deutlich der - mit dem q£rsoj verbundene - Anspruch des „Steuermanns“, s e l b s t eine mhcan¾ swthr…aj (209) zu finden. Dafür aber braucht er als Unterbau die absolute Gefolgschaft der Polis: m» moi qeoÝj kaloàsa bouleÚou kakîj: Peiqarc…a g£r ™sti tÁj EÙprax…aj m»thr, gonÁj swtÁroj: ïd' œcei lÒgoj . (223-25) Ungeachtet der auch textlich bedingten Verständnisschwierigkeit, die sich mit der Identität des swt»r auftut, 53 schält sich doch heraus, dass bürgerlicher Gehorsam die Voraussetzung ist für das Wohlergehen der Stadt auch in einer Krise. Für diesen Stabilitätszustand fühlt sich Eteokles, der das q£rsoj im Verbund mit dem swfrone‹n wirken sehen möchte, zu Recht zuständig. Die Entgegnung des Chores jedoch geht eine Ebene höher: œsti: qqeoà d' œt' „scÝj kaqupertšra: poll£ki d' ™n kako‹sin tÕn ¢m»canon k¢k calep©j dÚaj Ûperq' Ñmm£twn krimnamen©n nefel©n Ñrqo‹. (226-29) Nicht die mhcan» des Eteokles, sondern diejenige der Gottheit soll den zur Passivität verurteilten Chor, der sich als ¢m»canon definiert, aus Qual und Verwirrung „aufrichten“. Die Gottheit hat eine Wirkungskraft, die möglicherweise über menschliche Aktivität hinausgeht - vielleicht ein ominöser Hinweis auf den weiteren Verlauf des Plots, in dem die Lösung des Konflikts auf einem ganz anderen Wege durchgeführt werden wird? Diese Aussage ist weniger eine Gnome (so wie der vom Chor akzeptierte lÒgoj des Eteokles) als eine empirische Tatsache, die von einem Chor gesungen wird, der allein dadurch, dass er ein Chor ist, beim Zuschauer Autorität besitzt und diesem einen Orientierungsrahmen aufzeigt. Ob freilich die Haltung des Chores oder die des Eteokles ‚richtig’ ist, diese Frage zu entscheiden bleibt dem Zuschauer anheimgestellt. Klar ist jedenfalls, dass Eteokles nicht ohne die peiqarc…a des Chores auskommt (sprich den Affekt q£rsoj ) und der passive Chor nicht ohne das bouleÚein des Strategen. Denn so elementarmenschlich und verständlich die Orientierung des Chores am Göttlichen auch sein mag - eine Heilung der Krise würde dies a ll e i n im Verständnis des 5. Jahrhunderts nicht bringen können, was der Gattung 53 Für verschiedene Vorschläge, so den eigentlich naheliegenden Bezug auf ZeÝj Swt»r , sh. H UTCHINSON (1985) 82. Wir folgen hier der Konjektur gonÁj von H ERMANN (von W EST nicht in den Apparat aufgenommen) für das überlieferte gÚnai , womit swtÁroj als - mit Parallelen belegte - Qualifikation von EÙprax…a zu verstehen ist und die Rettung der ‚Nachkommenschaft’ meint; normalerweise wäre zu swt»r als Ergänzung pÒlei zu erwarten, so H UTCHINSON . <?page no="191"?> Die Autonomie des Chores 177 Tragödie auch fremd wäre. Ohne den jeweils anderen können Eteokles und der Chor keinen Staat machen, beziehungsweise retten. 4.3 Ein rascher Burgfrieden und ein verordneter Heilsgesang Rein pragmatisch gesehen (auch um den Plot fortzuführen) liegt nun nichts näher als eine rasche Einigung, ein Burgfrieden auf der Akropolis. Eine Art impliziter Vertrag kommt in der Tat zustande, wenngleich sehr abrupt. Ohne einen evidenten, im Text zu belegenden Grund schweigt der Chor endlich: sigî. xÝn ¥lloij pe…somai tÕ mÒrsimon (263), und dies unmittelbar nach einer neuerlichen Zuflucht zu den Götterstatuen aus dem fÒboj heraus (258f.). Ein Erfolg von Eteokles’ Peitho ist dieses Einlenken nicht, nach einer ohne echte Kommunikation verlaufenden, auf der Stelle tretenden Auseinandersetzung, in der der Chor am Ende sogar in seine extreme, affektgesteuerte Haltung der Parodos zurückgefallen ist. Der Effekt für den Plot ist jedenfalls eindeutig - Eteokles hat die peiqarc…a erreicht und verfügt eine offizielle Anordnung: kaˆ prÒj ge toÚtoij, ™ktÕj oâs' ¢galm£twn, eÜcou t¦ kre…ssw, xumm£couj e nai qeoÚj: k¢mîn ¢koÚsas' eÙgm£twn œpeita sÚ ÑlolugmÕn ƒerÕn eÙmenÁ paiènison, `EllhnikÕn nÒmisma qust£doj boÁj, q£rsoj f…loij, lÚousa polšmion ffÒbon. ™gë d cèraj to‹j polissoÚcoij qeo‹j ktl. (265-71) Ein einziges Hilfsgesuch an die Götter stellte der Auftritt des Chores bislang dar - allerdings getragen vom fÒboj . Mit den ‚neuen’ Gebeten kommt Eteokles dem Chor in dessen tendenzieller Ausrichtung am Göttlichen immerhin im Nachhinein entgegen (ohne dass dies Bestandteil einer auf rationale Überzeugung gerichteten Argumentation gewesen wäre); 54 aber diese Gebete sollen den fÒboj zugunsten des q£rsoj „auflösen“ ( lÚousa ). Im Lichte von v.135 ( ™p…lusin d…dou , was ganz auf die Götterebene bezogen war) soll der Chor sich selbst, das heißt auch der ganzen Polis einschließlich des Heeres, Mut zusingen - und dies bemerkenswerterweise „außerhalb der Götterbilder“, an die geklammert der Chor noch kurz zuvor (258) seine eindimensionale Bezugnahme auf das Göttliche an Eteokles vorbei offenbart hat. Es ist unverkennbar, dass diese Unterordnung des Chores und somit Thebens einhergehen soll mit der Unterstützung der Maßnahmen von Eteokles: Den Gebeten des Herrschers und Heerführers, die dieser vv. 271-78 mit dem Versprechen von Opfergaben expliziert, soll eine Art ideologischer Unterbau, eben in Gestalt des Affektes q£rsoj , seitens des Chores hinzugefügt werden. Mit dieser ‚Heimatfront’ im Rücken, die sich letztlich passiv verhalten soll, kann sich Eteokles aktiv den praktischen Fragen des ‚Draußen’ 54 Für B RUIT -Z AIDMANN (1991) handelt es sich um eine Art Eindämmung „dans une forme prévue“ (48). <?page no="192"?> Septem 178 zuwenden. Es folgt die Ankündigung der Aufstellung von sechs Heerführern zusammen mit dem König an den sieben Stadttoren (282-86). Dieser taktischen Maßnahme ( t£xw , 284) entspricht somit eine polisinterne t£xij , die nun durchaus auf die Ordnung eines rituellen corÒj bezogen werden kann: Denn die in diesem Epirrhema ausgetragene Auseinandersetzung kreist auch um das richtige, situationsangemessene Ritual, das ja per se dem essentiellen Wesen eines corÒj zugehört. Wenn dieser Chor also bereits in der Parodos mit Hikesie, Prozession und Gebeten als ritueller corÒj erkennbar ist und gleich im I. Stasimon gemäß der Anweisung des Eteokles einen Ololygmos singen soll, so fungiert das Epirrhema auch als Gelenk zwischen Parodos und Stasimon. Und hierbei ist die Ritualität des Chores, über die ja hier ausführlich gestritten wird, das übergreifende, alle Szenenfolgen verklammernde Element. Die Form, in welcher nun der neue Chorgesang vollzogen werden soll, offenbart sich, von der Warte der song-and-dance culture aus gesehen, zunächst als eine Hybridgattung aus ‚weiblichem’ Ololygmos und ‚männlichem’ Paian (268). Der Ololygmos, in seiner Urform ein emotionaler, spannungsentladender Schrei mit klagender oder freudiger Note, ist auch als Gebetsform, in der Regel begleitend zu Opferhandlungen, hinreichend belegt. 55 Wenn nun der Frauen-Chor den Ololygmos hier ‚nach Art eines Paians’, das heißt auch ‚als Paian’ singen soll, dessen Sitz im Leben oft genug die affektive Selbstbestärkung der ganzen Heeresgemeinschaft unmittelbar vor der Schlacht ist, 56 so ist auch hieran zu sehen, dass der Chor eine seine spezielle Identität als parqšnoi übersteigende Rolle spielen soll, um die Polis nach innen u n d nach außen gleichermaßen mit q£rsoj zu bestärken. Der so in der Tragödie variierte Ololygmos bekommt denn auch nicht umsonst das Attribut „heilsam“ ( eÙmenÁ ): Er ist, wie der ‚normale’ Paian, ein vom obersten Strategen intendierter Heilsgesang, der den Führungsanspruch von Eteokles untermauern soll. Dessen Erfolg ist zweifach konkret sichtbar: Im Wegrücken des Chores von den Götterbildern und in der zeitlich an erster Stelle erfolgenden Gebetshandlung des Heerführers, der somit in gewissem Sinne auch als Exarchos fungiert. Alle drei Ebenen - Götter, Eteokles und der Chor als Boden der Polis - erscheinen als eine geordnete Harmonie, in der alle Bestandteile in wechselseitiger, definierter Beziehung stehen und eine ‚Heilung’ der Krisensituation garantieren. Der Zuschauer könnte also nun ein vom q£rsoj getragenes Chorlied erwarten. 55 Zur Ololyge (‚Ololygmos’ scheint unterschiedslos daneben verwendet zu werden) sh. insgesamt D EUBNER (1941), zur Septem-Stelle 20-23. 56 Sh. K ÄPPEL (1992) 45f. mit den Testimonien 38-40, in denen der Heerführer als œxarcoj erscheint; 81f. zu dieser Stelle der Septem: „Der Chor der Jungfrauen … schließlich soll die Ololyge zum Opfer gleichsam ‚als Paian’ singen: Sie sollen bei dem um den Sieg bittenden Opfer die Rolle der Männer, die vor den Toren stehen, mitübernehmen.“; ähnlich schon D EUBNER (1941) 23. <?page no="193"?> Die Autonomie des Chores 179 4.4 Aeschylus Homericus: Ein ambivalentes Gebetslied (I. Stasimon) Das I. Stasimon beschreibt in der Hauptsache die typischen Geschehnisse in einer eroberten Stadt, deren Paradigma in der Antike Troja ist. Auf die homerische Prägung der Septem hat die Forschung verschiedentlich hingewiesen, zumal in Bezug auf dieses Chorlied, welches in seiner Kompaktheit als ein „Stück vom großen Kuchen Homers“ rezipiert werden kann. 57 Insbesondere mit der Anweisung des Eteokles, der Frauenchor solle einen „heilsamen“ Ololygmos auf der Akropolis zum Wohle der bedrängten Polis vollziehen, liegt eine Bezugnahme auf die bekannte Stelle im 6. Buch der Ilias vor. Hekabe führt auf Geheiß Hektors eine Bittgesandtschaft alter Frauen ( geraia… Il. 6,270, 287, 296) zum Heiligtum der Athene ™n pÒlei ¥krV (297) an und gelobt für den Fall der Errettung Trojas ein Rinderopfer. Die alten Frauen vollziehen dabei als eine Art Chor begleitend das Ritual der Ololyge: a‰ d' Ñ ÑlolugÍ p©sai 'Aq»nV ce‹raj ¢nšscon: ¿ d' ¥ra pšplon ˜loàsa Qeanë kallip£rVoj qÁken 'Aqhna…hj ™pˆ goÚnasin º-kÒmoio, eÙcomšnh d' ºr©to DiÕj koÚrV meg£loio: „ pÒtni' 'Aqhna…h ™rus…ptoli d‹a qe£wn «xon d¾ œgcoj Diom»deoj, ºd kaˆ aÙtÕn prhnša dÕj pesšein Skaiîn prop£roiqe pul£wn, Ôfr£ toi aÙt…ka nàn duoka…deka boàj ™nˆ nhù ½nij ºkšstaj ƒereÚsomen, a‡ k' ™le»sVj ¥stÚ te kaˆ Trèwn ¢lÒcouj kaˆ n»pia tškna. “ (301-10) Bei der Ololyge der alten trojanischen Frauen handelt es sich wohl um die Urform des gebetsbegleitenden, muteinflößenden Schreiens ohne zusätzlichen, gesungenen Inhalt. Im Gegensatz zu dieser chorartigen Gebetsform hat der Chor der jungen Thebanerinnen keine individuelle Figur wie Hekabe an der Spitze, sondern betet autonom als Kollektiv, und das nicht zu einer Stadtgottheit, sondern zu den Diogene‹j qeo… (301f.) insgesamt. Der Rolle der ‚Chorführerin’ Hekabe entspricht zunächst diejenige des Eteokles, der ganz entsprechend ein umfangreiches Opfer ex eventu gelobt hat und als ein Exarchos den anonymen Chor jetzt hinter sich zu haben scheint. Jedoch beinhalten die Septem den signifikanten Unterschied, dass - trotz der zuvor zustande gekommenen Einigung - eine Separation zwischen der Einzelfigur, die das Gebet spricht und Opfer gelobt (271-78a), und dem Chor 57 Das bekannte bonmot wird bei Athenaios Deipn. VIII Kaib. 39 Aischylos selbst zugeschrieben: ... Öj t¦j aØtoà tragJd…aj tem£ch e nai œlegen tîn `Om»rou meg£lwn de…pnwn . Hingewiesen sei nur auf v.322 'A dv pro £yai . Vgl. V ALAKAS (1993) 63 mit Anm.38 für episches Vokabular und 63-69 für die Umgestaltung der Ilias in den Septem (so zur Parallelisierung von Hektor und Eteokles). Ein wichtiger Unterschied zwischen Theben und Troja in der Behandlung der thebanischen Mythen durch die Tragiker besteht aber darin, dass diese griechische Polis niemals zerstört wird; vgl. E ASTERLING (2005) 57f. <?page no="194"?> Septem 180 besteht, der ja explizit temporal „danach“ ( ¢koÚsas' ... œpeita sÚ , 267) den heilsamen, paianartigen Ololygmos singen soll. Selbst wenn, was im Text nicht zu belegen ist, das Ritual wie - vermutlich - von den Trojanerinnern in Form ritueller Schreie unterstützend während des Gebetes Eteokles’ vollzogen wird, oder kurz nachher, als er schon im Aufbruch begriffen ist, 58 bleibt der Zuschauer dennoch in der Erwartung eines nun erst noch folgenden, das q£rsoj vermittelnden und den fÒboj auflösenden (270) Gebetsliedes, wie die nochmalige Aufforderung von Eteokles n a c h seinem Gebet nahelegt: toiaàt' ™peÚcou mm¾ filostÒnwj qeo‹j, mhd' ™n mata…oij k¢gr…oij poifÚgmasin: oÙ g£r ti m©llon m¾ fÚgVj tÕ mÒrsimon . (279-81) Für den Zuschauer bedeutet der nochmalige Rückbezug auf das ungeordnete Vorgehen der Parodos und die Gegenüberstellung mit der erwünschten Gebetsform eine pointierte Zusammenfassung des Status quo. Aber gegenüber dem harmonischen Miteinander Hekabes, hinter der auch noch Hektor steht, und der Frauengemeinschaft Trojas sind in den Septem Anführer und Gemeinschaft getrennt. Dass diese Separation nicht einfach dem temporalen Nacheinander der Szenenfolge einer Tragödie geschuldet ist, lehrt ein Blick auf den Kommos der Choephoren, ein einziges großes gemeinsames Gebet von Einzelfigur(en) und Chor z u s a m m e n , ebenfalls in einer Gefahrensituation. Die abschließende Feststellung des Eteokles, dem mÒrsimon könne man ohnehin nicht entkommen, ist zwar eine sehr direkte Wiederholung der Schlussworte des v.263 verstummten Chores, die der Zuschauer noch in den Ohren hat („Ich schweige - zusammen mit den anderen will ich das mÒrsimon ertragen“) und mit denen er weiterhin explizit auf der Linie des herannahenden Telos der tragischen Handlung gehalten wird. Aber der Rezipient muss sich nun auch fragen, w i e sich dieses mÒrsimon angesichts der von Eteokles intendierten und erst noch zu verwirklichenden Zusammenfügung der drei Ebenen Polis (Chor), Einzelfigur und Götter gestalten wird. Sollte der Zuschauer nun eine vom q£rsoj getragene Gebetsform in Form eines Ololygmos oder Paians erwartet haben, so wird er zunächst enttäuscht: mšlei, fÒbJ d' oÙc Øpnèssei kšar: ge…tonej d kardi©j mšrimnai zwpuroàsi t£rboj tÕn ¢mfiteicÁ leèn, dr£kontaj éj tij tšknwn Øperdšdoiken leca…wn duseun£toraj p£ntromoj pelei£j . (287-94) 58 So K RANZ (1933) 135. <?page no="195"?> Die Autonomie des Chores 181 „Ja, es liegt mir im Sinn - aber mein Herz ist wegen der Angst nicht ruhig; als Nachbarn des Herzens fachen die Sorgen wieder die Furcht an vor dem Heer rings um die Stadtmauern, so wie eine stark zitternde Taube um ihre Nestjungen wegen der Schlangen, schlimmer Lagergenossen, in großer Furcht ist.“ Im unmittelbaren Zusammenprall von mšlei und fÒbJ ist viel von dem dahin, was Eteokles erwartet hat: Der Chor k a n n sich, obwohl er sich selbst und der Polis durchaus Mut zusingen w ill , affektiv nicht vom übermäßigen fÒboj lösen. Der „wieder angefachte“ Affekt äußert sich sogleich mit dem Wiederanheben des lyrischen Gesangs, und die bildhafte psychosomatische Beschreibung des lebendigen Wirkens des t£rboj , welche Vokabel die bedrohliche Komponente des Angst auslösenden Gegenstandes impliziert, 59 spricht den Zuschauer unmittelbar an. Bemerkenswert dabei ist, wie der Chor nicht wirklich von seinem eigenen Ich spricht, sondern eine gewisse Distanz zum Affekt, der ihn überwältigt, wahrt. Ohnehin bringt der Chor seine Person in dieses Lied im Vergleich zu Parodos und I. Epirrhema verhältnismäßig wenig ein, obwohl sich doch die Situation der unmittelbaren Bedrohung nicht wesentlich verändert hat, wie die neuerliche Imagination von Kampfhandlungen zeigt (298-300). Die Zweifelfrage t… gšnwmai (297), der neue Verweis auf die eigene Angst in protarbî (332) sowie das Verbum prolšgw (336), welches auf den Status des Chores als eines Erzählers abhebt, sind aber Indikatoren für die persönliche Involvierung, die das Singen eines ja durch die Handlung direkt motivierten Gebetsliedes plausibilisieren. Im Mittelpunkt steht aber hier nicht der Chor selbst, sondern die ganze Polis. Diese Grundtendenz des Stasimons offenbart das unmittelbar an die Affektäußerung angeschlossene Gleichnis von einer ängstlichen Taube und angreifenden Schlangen. Denn die Sorge um die Jungen im Nest ist eine eigentlich überflüssige Erweiterung, wenn nur eine eindimensionale Relation zwischen bedrohten parqšnoi und Angreifern angenommen wird. So aber - und angesichts von v.503, wo Eteokles von den neosso… spricht (allen Bewohnern Thebens), die es vor der Schlange (hier Hippomedon) zu schützen gilt - zeigt sich deutlich, dass dieser Chor noch über dem ‚Nest’ Theben, über der g e s a m t e n Bevölkerung steht und für diese eine integrative Funktion hat. So dürfte sich auch das Nebeneinander der Affekte Angst und Sorge erklären, denn letztere richtet sich auf andere Bezugspersonen, so wie die Chöre der Perser und des Agamemnon Sorge um die abwesenden Heere äußern. 60 Erst danach schwingt sich das Lied mit der Bitte an die „zeusentsprossten Götter“ (301f.) um Rettung der dem „Kadmos entsprungenen Stadt und ihres Heeres“ zu dem empor, was Eteokles, der ‚Wunsch-Kadmeier’, wollte. 59 Im Sanskrit bedeutet tárjati ‚er droht, fährt an’; lat. torvus ‚finster, drohend, schrecklich’ ist verwandt (sh. F RISK (1970) 855f.). Vgl. hier in den Septem v.35; die weitere Bedeutung ‚Scheu’ in Bezug auf ein bedrohliches Faktum findet sich häufig bei Aischylos (Ag. 858, signifikant und dann positiv konnotiert Eum. 700 und 714 für die letztlich segensreiche Präsenz der Erinnyen). 60 Sh. unten S.505. <?page no="196"?> Septem 182 Immerhin wirken diese Bitten hier und in der folgenden Antistrophe gegenüber den zerstobenen Gebetsfetzen der Parodos nun deutlich ruhiger und geregelter - das ganze Lied schreitet argumentierend und organisiert vorwärts; der überwiegend iambische Rhythmus in diesem Strophenpaar a und die im gesamten Lied regelmäßige Strophik zeigen dem Zuschauer eine gewisse Beruhigung, mithin doch einen Teilerfolg des Auftretens von Eteokles an. 61 Im Gebet an die Götter argumentiert der Chor mit der guten Qualität des erhaltungswürdigen Bodens von Theben und derjenigen der Dirke-Quelle; 62 die Bitten um Sieg und kàdoj (317) rekurrieren auf die Ermahnungen des Eteokles. Inhalt und Ausdrucksform ähneln sich, denn in dem selbstreferentiellen Verweis ÑxugÒoij lita‹sin (320) können nun die typischen gebetsbegleitenden Ololyge-Schreie gesehen werden (vgl. auch 327 und 339). Wie Hekabe und ihr ‚Begleitchor’ stimmen hier Chor und der abwesende Eteokles implizit überein, doch bildet der eigene, negative Affekt des Chores die Ausgangsbasis für das Gebet. Am Ende dieses ambivalenten Strophenpaares a spricht für den Zuschauer einiges dafür, nun trotz des anfänglichen neuen fÒboj fortan einen Chor zu hören, der nach dem Muster der traditionellen Ololyge sich selbst und der Polis Mut zusingt, in der Tat nach Art eines „heilsamen Paians“ (vgl. 268). Doch dies ist nur das erste Drittel des Stasimons. Was folgt, ist eine über zwei Strophenpaare hinweg gehende Beschreibung der typischen Ereignisse in einer eroberten Stadt, die an Drastik und brutaler Anschaulichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: Einäscherung, Versklavung der Frauen (wie Pferde an den Haaren fortgezogen) und deren ‚Heirat’ mit den neuen Herren, Mord und Brandschatzung, Wehgeschrei und das Totschlagen von Babys, Plünderung und Streit unter den raubenden Siegern. Am Ende steht die völlige Sterilität des Bodens. Es handelt sich um den Zustand, der vorhanden sein wird, wenn das ‚Draußen’ der Eroberer sich mit dem ‚Drinnen’ der Polis vermischt und dieses schließlich vernichtet. Gegenüber den verhältnismäßig regelmäßigen, geordneten Metrenkombinationen des ersten Strophenpaares (Iamben, Kretiker, Bakcheer und Pherekrateer) hört der Zuschauer nun ein häufiges Alternieren von recht willkürlich kombinierten, verschiedenen Versmaßen, zu denen sich v.345f. und v.357f. auch wieder Dochmier gesellen. 61 Innerhalb der Strophe ist die mimetische Beschreibung von Feindheer und Kampf durch die ungewöhnliche Aufeinanderfolge von sechs Pherekrateern deutlich und effektreich abgesetzt (vgl. H UTCHINSON (1985) 91); dem entspricht in der Antistrophe der ebenso mimetisch umgesetzte Wunsch nach einer Niederlage der Feinde vor der Stadt (312-17). 62 Das Auftreten Poseidons und der Okeaniden, der Töchter von Okeanos und Tethys, selbst Tochter der Gaia und des Uranos (Hes.Theog. 126-36), könnte durch die Verbindung dieser Gottheiten mit der qeîn gšnesij selbst (Hom.Il. 14,201 und 302) auf eine sogar präolympische Stufe des Kosmos zurückverweisen, auf der die Wurzeln Thebens bereits sprießen. <?page no="197"?> Die Autonomie des Chores 183 Die weitgehende Rücknahme des chorischen Ich, die hinter dem Chor die Polis erscheinen lässt, gibt zugleich die Möglichkeit zur perspektivischen Lenkung des Zuschauers innerhalb einer eigenen Raum- und Zeitstruktur, wie es in einem solchen ‚autonomen’ Stasimon möglich ist. Einige Beobachtungen im Detail sollen aufzeigen, wie der Chor primär über die Polis singt und sich nicht etwa selbst ins Zentrum stellt (trotz persönlicher Bedrohung). In Strophe b (321-32) steht pÒlin signifikant im ersten Vers; ihre Zerstörung, Versklavung und Entleerung ( ™kkenoumšna ) ist identisch mit dem gewalttätigen Fortschaffen der Frauen und dem Zerreißen von deren Kleidern. Der Chor endet mit: bare…aj toi tÚcaj protarbî , womit sich ringkompositorisch der Kreis zur pÒlij schließt, und dies ist in diesen 11 Versen das einzige Mal, wo der Chor sein eigenes Ich einbringt - nicht als dramatis persona äußert er sich hier, sondern in einem weithin unpersönlichen, objektivierenden und doch höchst affektiven Stil, der den Zuschauer mitreißt. Die Gleichsetzung junger und alter Frauen geht über das hinaus, was ein parqšnoi -Chor, der nur in eigenem Interesse spräche, äußern müsste. Der Schrei der Polis ( bo´ ) und das synchrone wilde Kreischen der Verschleppten ( meixoqrÒou ) ist eine Art schriller ‚Anti-Chorgesang’ (vgl. 345 korkoruga… ). Damit wird im Ineinandergreifen visueller und akustischer Momente ein starker synästhetischer Eindruck erzeugt. Die Antistrophe b (333-44) enthält zunächst mit der Beschreibung der „unreif Gepflückten“, die „früher als dem Brauch gemäß“ den Weg in ihr (fremdes) Brautgemach gehen müssen, eine deutliche Bezugnahme auf das, was nun eine parqšnoj erwartet: Gewissermaßen die Pervertierung des im Partheneion umgesetzten Rituals. Doch wird diese Spezifizierung sogleich wieder in einen allgemeinen Rahmen eingeordnet: tÕn fq…menon ist generalisierend für Mann u n d Frau gebraucht, tînde weist voraus auf das mit g£r angeschlossene Gefüge, das unter dem sehr allgemeinen Signum: eâte ptÒlij damasqÍ steht - und jetzt geht es offenkundig um j e d e n leidenden Bewohner ( poll¦ g£r ... dustucÁ te pr£ssei ). Der Gedankengang verläuft nun anders als in der Strophe vom Speziellen zum Allgemeinen. Damit wird insgesamt in Strophe und Antistrophe das spezielle Schicksal der Frauen (nicht einmal ausschließlich der parqšnoi ) ganz überwiegend objektivierend mit nur zweimaliger Ich-Aussage des Chores (332, 336) geschildert und vom großen Rahmen des Unheils für die Polis eingeschlossen. Aus den in Strophe g (345-56) bildreich vor Augen gestellten Tötungs- und Plünderungsvorgängen geht in der das Lied beschließenden Antistrophe (357-68) eine Vision hervor, die den Höhepunkt der düsteren Zukunftsaussichten des Chores bildet. Die Rede ist von „mancherlei Frucht, die auf den Boden fällt und dem Haus Schmerzen zufügt, das schlimme Bräutigame bekommen hat“, und von der „vielen Gabe der Erde, die wild durcheinander im Nichts der Wellen davongetragen wird“ (358-62); gleich angeschlossen wird das Leid der Beutefrauen, die dem Sieger zu Willen sein müssen, so dass ihre einzige Hoffnung im Tod besteht (363-68). Trotz mancher Verständnisschwierigkeiten im Einzelnen 63 ist es offensichtlich, dass zwischen 63 Die gegebene Paraphrase folgt der Textkonstitution von P AGE , der das überlieferte d' Ômma nur minimal in dîma zu ändern braucht, um eine befriedigende einheitliche und sprachlich luzide Aussage der ganzen Antistrophe g zu erreichen, in der es um das Haus, seine Vorräte, die versklavte Hausfrau und den neuen Herrn geht. <?page no="198"?> Septem 184 der nutzlosen Vergeudung agrarischer Erzeugnisse und der Reduzierung der Beutefrauen auf Objekte der Lustbefriedigung der Sieger ein gleichnishafter Zusammenhang besteht, der sich dahingehend entschlüsseln lässt, dass sich der Boden der Polis am Ende in einem Zustand der Sterilität befindet: Das natürliche Kontinuum der Fortpflanzung der erdgeborenen Kadmeier, die von ihrer „Mutter Erde“ (vgl. 16) gleichermaßen hervorgebracht und ernährt werden wie von ihren wirklichen Müttern, den rechtmäßigen Ehefrauen der „Kadmosbürger“ (vgl. 1), wäre damit abgebrochen. Sicherlich ist für solche Aussagen ein Chor aus parqšnoi passend, der auch in einem ganz konkreten Sinn als Boden der Polis fungiert, da aus ihm die Nachkommenschaft erwachsen soll. Aber durch den verallgemeinernden Gestus steht für den Zuschauer mit Beginn der Strophe b , als die homerischen Reminiszenzen 'A dv pro £yai und Øp' ¢ndrÕj 'Acaioà (324) fallen, nicht mehr Theben im Zentrum (wie noch in Antistrophe a mit den individuellen geographischen Referenzpunkten), sondern, vermittels des Paradigmas Troja, j e d e eroberte und zerstörte Polis. 64 Im Gegensatz zu der sehr persönlich gehaltenen Leiderfahrung der Parodos, die eine sich in Theben abspielende szenische Handlung sozusagen im Präsens direkt durchführte, stößt der Chor hier als eine Art epischer Erzähler - prolšgw (336) verweist auf das eigene Erzählen - ein Fenster auf in den gemeinsamen Wissens- und Erfahrensraum des Publikums, dem das Typische dieser Vorgänge aus den Perserkriegen und aus dem Epos bekannt ist. 65 Begonnen hatte das Lied mit dem eigenen, neu-alten fÒboj ; es hatte sich dann, durchaus im Stile der homerischen Ololyge, zu dem von Eteokles erwünschten Gebet entwickelt, dass die Götter den zivilisatorisch idealen Boden von Theben verteidigen mögen, und war dann übergegangen zu einer breit ausgemalten Schreckensvision. Dieser zwei Drittel des Umfanges umfassende Passus ist an das Gebet zunächst durch o„ktrÕn g£r (321) angeschlossen, so dass die Imagination dessen, was „bejammernswert“ ist (oder wäre), als Argumentation ex negativo angesehen werden kann. Doch bekommt der Gedankengang rasch eine Eigendynamik, die assoziativ eine ganze Reihe von Einzelbildern aus der eroberten Stadt vor dem geistigen Auge des Zuschauers entstehen lässt und in der auch das persönliche Schicksal der parqšnoi ‚nur’ zu einer, wenn auch wesentlichen, Komponente des Schicksals der ganzen Polis wird, dessen - zweifellos höchst affektiv wirkende - Ausmalung nur eine Ich-Aussage des Chores enthält ( protarbî , 332). Die Bitte an die Götter um die Erhaltung des guten Bodens, die im hic 64 Vgl. B ERNADETE (1967) 25; für die Behandlung der Kriegsthematik - „un contexte chargé d’ actualité“ - in der Literatur sh. D UCREY (1968) 116 mit Stellennachweisen für Homer, Sophokles und besonders Euripides. F INLEY (1966) 243 sieht das I. Stasimon der Septem sogar als eine Absage an den männlichen Heroismus und als Entlarvung des von Eteokles propagierten q£rsoj . Als Kritik am athenischen Militarismus unter Kimon sehen das Lied G AGARIN (1976) 126 und V ALAKAS (1993) 70. 65 Das Scholion S MITH 161,338a definiert das I. Stasimon als œkfrasij ¡loÚshj pÒlewj , vgl. V ALAKAS (1993) 62. <?page no="199"?> Die Autonomie des Chores 185 et nunc getragen ist vom Wunsch einer Auflösung des fÒboj , wiederholt sich am Ende nicht, sondern es wird einfach das mögliche Faktum einer ‚Sterilisierung’ dieses Bodens, der im Chor verkörpert ist, konstatiert. Die ™lp…j (367) richtet sich am Ende nicht auf das glückliche tšloj der Rettung durch die „zeusentsprossten Götter“ (301f.), sondern auf die extreme Steigerung dessen, was das Wüten von Ares (der einzige nach v.321 noch genannte Gott) hervorgebracht haben wird, nämlich den eigenen Tod, der die Sterilität des Bodens komplettiert - ein letztes Hilfs- und Heilmittel (vgl. ™p…rroqon , 368) gegen die Schmerzen. Ein „heilsamer Ololygmos“, um q£rsoj hervorzurufen, ist dieses I. Stasimon insgesamt gesehen somit nicht; die den Affekt entladenden Schreie Ÿ œ (327, 339) mitten in der Schreckensvision steigern den fÒboj in lethargische Hoffnungslosigkeit. Damit erfährt die homerische Ololyge eine Art inverser Rezeption. 4.5 Die Unterstützung der taktischen Maßnahmen durch den Chor in den Redenpaaren Der Schnitt, den die Ankündigung des Auftrittes des Boten und Eteokles’ durch zwei Halbchöre bringt (369-74), ist hart. Der Zuschauer fragt sich nun zum einen, wie Eteokles auf Verlauf und Inhalt des Stasimons reagieren wird, handelt es sich doch um eine ähnliche Situation wie nach der Parodos. Aber obwohl die Schreckensvision des I. Stasimons, in dem Eteokles wiederum nicht erwähnt wird, und die abschließende Resignation ja erneut destabilisierend wirken müssen, nimmt Eteokles den Chor jetzt überhaupt nicht zur Kenntnis. Es ist, als ob seine vorherige Gebetsanweisung nicht existiert hätte. Dieses harsche Nacheinander von in sich formal und inhaltlich stark divergierenden Szenen verfehlt seine Wirkung auf den Zuschauer nicht. Für diesen stellt sich nämlich nun die Frage, wie der Chor seinerseits auf die neue Situation reagiert, als der Bote und Eteokles zugleich im aufgeregten Laufschritt (371, 374) auf der Bühne erscheinen. Der eine wird neue Nachrichten von außen bringen, der andere wird ebenfalls den Plot weitertreiben durch seine Funktion als oberster Feldherr: Im Folgenden wird die bedarfsgerechte Aufstellung der Verteidiger an den sieben Toren vorgenommen, worauf der Zuschauer schon vorbereitet worden ist (282-84). 66 Eteokles ist aber zugleich, und darauf wird der Zuschauer hier vom Chor ganz deutlich hingewiesen, der „Sohn des Oidipus“ (372). Dieser kurze Fingerzeig erzeugt eine Fokalisation auf die der Trilogie zugrunde liegende Tiefenstruktur der Tragik des Genos, nachdem das I. Stasimon ausschließ- 66 Auf die leidige, vieldiskutierte Frage, wie im zeitlichen Ablauf die Aufstellung der Verteidiger zu denken ist, kann hier nicht eingegangen werden; vgl. etwa T APLIN (1977) 149-56 und T HALMANN (1978) 125f. Rezeptionsästhetisch betrachtet stellt sich dieses Problem weniger: Wie bei der Diskussion um die ‚blinden’, zu einer scheinbaren Inkonsistenz des Plots führenden Motive der Beratung und des Opfers in den Persern sollte es genügen, auf die Wahrnehmung des Zuschauers zu achten, dem im Verlauf der Aufführung diese Motive zumindest immer wieder vor Augen gebracht werden. <?page no="200"?> Septem 186 lich auf den Rahmen der Polis bezogen war. Auch die scheinbar so nebensächliche, konventionelle Aufgabe der Auftrittsankündigung durch den Chor nach einem Lied 67 kann also eine spezifische Aufladung bekommen, um die Situation in der Wahrnehmung des Zuschauers zuzuspitzen. Im Folgenden manövriert sich ja Eteokles durch die an sich geschickte Verteilung seiner sechs Kämpfer in eine ‚tragische’ Position, da er am Ende als siebter gegen Polyneikes antreten muss. 68 Damit aber agiert er in Personalunion gerade so, wie ihn der Chor in einem einzigen Vers ankündigt: Als Herrscher von Theben u n d als Sohn des Oidipus - kaˆ m¾n ¥nax Ód' aÙtÕj O„d…pou tÒkoj ktl. (372) Chor und Zuschauer müssen hier in Passivität auf die weitere Entwicklung warten. Aufgrund der düsteren Zukunftsaussicht, die der Chor zuvor im Lied vor Augen gestellt und die einen möglichen, ja wahrscheinlichen Geschehensverlauf expliziert hat, liegt es nahe, dass sich der Chor auf Eteokles und dessen taktische Maßnahmen einlässt und auch den Zuschauer dementsprechend sympathetisch induziert. Auf diese Konstellation hat der Dichter seinen Chor durch Affektäußerung und Vorstellungspotential hinarbeiten lassen. Aber wie wird sich nun die Zusammenarbeit von Polis und Eteokles, dem Sohn des Oidipus, gestalten? Obwohl in der langen Szene der Redenpaare der Chor auf den ersten Blick nur neben dem Austausch zwischen dem Boten und Eteokles steht, darf man die affektive Wirkung der sechs lyrischen Strophen, die zwischen die langen Rheseis eingeschaltet sind, nicht unterschätzen: Gegenüber dem männlichen Heroismus der namentlich genannten und individuell konturierten Angreifer und Verteidiger öffnet sich in jedem einzelnen dieser Gesänge immer wieder der Raum der Polis und des Oikos, den es zu schützen gilt. 69 Im Einklang damit und mit der von Eteokles intendierten Unterstützung seiner Kämpfer durch die Götter rekurriert auch der Chor kontinuierlich auf das Göttliche als die oberste Ebene des Gemeinschaftsverbundes von Theben. Damit wirken nun alle drei Ebenen in einer Harmonie zusammen, wie sie zuvor in den Septem nicht präsent war. Die äußere Gegenwelt der monströsen, tierhaften Angreifer dient zweifellos dazu, den Zuschauer diese dreifache Harmonie akzeptieren zu lassen. Nur die besonders drastischen Eindrücke, die das immense Bedrohungspotential der fünf ersten Angreifer bietet, seien hier angeführt: Das Schlangengezisch und Pferdeschnauben von Tydeus; Kapaneus, der es auf einen Feuerbrand Thebens abgesehen hat, so wie die Titanen in der Theogonie die gerechte Zeusherrschaft bedrohen; Eteoklos, der eine Kampfeinheit mit seinen wütend-schnaufenden Stuten bildet; Hippomedon mit Typhon auf dem Schild, dem Vertreter einer präolympischen, gegen den Menschen- und Göttervater Zeus frevelnden Gegenwelt (vgl. die Schilderung Hes.Theog. 820-35), und mit der Abbildung eines bestialischen Schlangengezüchts, 67 Sh. T APLIN (1977) 146-49 zu diesen „announcements“ im Kontext. Vgl. oben S.171. 68 Zu dieser „tragischen Verkettung“ sh. etwa W OLFF (1958) 93f. und C AMERON (1971) 39f.; auch Polyneikes bekommt seinerseits durch das Los (vgl. v.55f.) das ‚richtige’ Tor. 69 Vgl. 417, 452, 483, 527 und bes. prÒsqe pul©n (525), ™n g´ (567), g©j (628). <?page no="201"?> Die Autonomie des Chores 187 das die Gefahr für die Nestjungen von Theben eindringlich verdeutlicht; und schließlich Parthenopaios, der Sohn einer im typischen Raum der Wildnis, dem Bergwald, hausenden Mutter, und als Mensch eine pervertierte Zwischenfigur aus Jüngling und Jungfrau (und zugleich aus Jüngling und Mann). Der Chor ist hier insofern in die Handlung eingebunden, als er das von dieser Gefahr bedrohte Objekt verkörpert und immer wieder in Angst ausbricht, was nicht zuletzt ein spannungssteigerndes Moment ist. Da sich in den Strophen mit der Äußerung des Affekts durchgehend Bitten an die Götter verbinden, ist der Chor hier simultan zu seiner Rollenidentität auch als ritueller corÒj , der immer wieder Stoßgebete durchführt, erkennbar (vgl. 417f., 481, 484f., 566f., 626-30). Der Dochmier, für die Septem geradezu ein leitmotivisches Versmaß, tritt kontinuierlich in diesen Strophen auf. Gleich die Strophe a stellt in der Kombination von Dochmiern (417-19) und Iamben mit Ithyphallikus (420f.) den innigen Wunsch ( ™peÚcomai ) nach einem von den Göttern gewährten, gerechten Sieg des kernigen Sparten Melanippos - k£rta d' œst' ™gcèrioj (413) - der eigenen Angst ( tršmw , 419) gegenüber, allerdings in gerade umgekehrter Kombination von äußerer Form und Inhalt, so dass sich die Ambivalenz noch potenziert. Nach dem vierten Redenpaar ist in Antistrophe b mit pšpoiqa (521) ein gewisses Maß an Zuversicht erreicht, das jedoch in der Strophe g einem gleichermaßen starken neuen Anfall des fÒboj weicht, wo mit explizitem Vokabular das psychosomatische Innenleben des beunruhigten Chores vorgeführt wird - wobei diese Strophe nicht an beliebiger Stelle steht, sondern auf das Zwitterwesen Parthenopaios mit seinem provokativem Schildzeichen, der Sphinx mit einem Kadmeier in den Klauen, reagiert: ƒkne‹tai lÒgoj di¦ sthqšwn, tricÕj d' Ñrq…aj plÒkamoj †statai meg£la megalhgÒrwn kluoÚsai ¢nos…wn ¢ndrîn: e„ qeoˆ qeo…, toÚsd' Ñlšseian ™n g´. (563-67) Die „Kunde“ ( lÒgoj ) von der Sphinx ist eine Reminiszenz an die wohl im Oidipus behandelte massive frühere Bedrohung Thebens; sie dringt dem Chor durch die Brust und lässt ihm die Haare zu Berge stehen: Mithilfe dieser Affektdarstellung wird auch das Vorgeschehen der Septem kurz zitiert. Zugleich aber ist mit dieser emotionalen Klimax der Szene, die nun auch die Oidipus-Geschichte bedrohlich näherrücken lässt, nach dem fünften der Redenpaare vom Standpunkt des Chores aus ein gewisser Endpunkt erreicht: Nicht mehr auf die individuellen Gegner wird reagierend eingegangen (wie noch in 416, 521, 452), sondern zusammenfassend werden die „prahlerischen, frevlerischen Männer“ den Göttern direkt gegenübergestellt. Was folgt, ist Amphiaraos, auf dessen nicht ins bisherige Schema passende Erscheinung ( ¥ndra swfronšstaton , 568) der Chor anders, aber erneut allgemein und den Vorgang scheinbar wiederum abschließend reagiert (626- 30): Seine die Verteidigungsmaßnahmen insgesamt doch stark unterstützenden Gebete (hier als dika…ouj lit£j bezeichnet, 626), die eine positive, stabilisierende Reaktion darstellen auf den zuvor so stark empfundenen und sogar jetzt noch kontinuierlich ausbrechenden fÒboj , enden mit einer letzten <?page no="202"?> Septem 188 Anrufung der Götter und des Zeus (630) nach Art der ¢popomp» ; die Schlüsselbegriffe eÙtuce‹n, qeo…, pÒlij und d…kaioj schließen die letzte Antistrophe g eng an die erste Strophe a an, womit sich zusätzlich ein festes Ineinander der Redenpaare und der lyrischen Einwürfe des Chores ergibt. Damit scheint für den Zuschauer erneut ein deutlicher Abschluss erreicht, auf den nun eigentlich endlich der Kampf beginnen könnte, und das mit einigem Vertrauen auf einen Erfolg der Verteidiger. Umso stärker muss nun für den Zuschauer die Erkenntnis des Eteokles wirken, dass er jetzt gegen Polyneikes kämpfen wird. 5. Eteokles im Affekt und die Angst des Chores vor dem Miasma Es ist richtig, dass die Entwicklung der Septem auf den Kampf der beiden Brüder und somit die Erfüllung des Fluches zuläuft, der über dem Genos liegt. Das Bild, das der Bote von Polyneikes entstehen lässt, ist jedoch eingebettet in den Kontext vom Kampf um die Polis. Polyneikes tritt mit dem Anspruch auf, über Eteokles zu siegen und die seiner Meinung nach ihm zukommende Herrschaft über Theben anzutreten, ein für den Zuschauer zunächst nachvollziehbarer Anspruch: Auf dem Schild ist Dike zu sehen, deren grundsätzliche Definition es ist, eine Störung ins rechte Lot zu rücken. Die Störung, die den Septem zugrunde liegt, ist offenkundig verursacht durch die Vertreibung des Polyneikes, aus der Polis ebenso wie aus dem „väterlichen Haus“ (648). So fällt ein Schatten auf Eteokles, der im Folgenden seine schwerwiegende Identität als Sohn des Oidipus vollauf verinnerlicht. Dike, die für Polyneikes swfrÒnwj (645) wirken soll, wird umgekehrt von ihm beansprucht ( ™ndikèteroj , 673), wohingegen er Polyneikes eine für die aischyleische Tragödie typische krankhafte Sinnverwirrung in den fršnej zuspricht (661, 663, 671). Wenn nun beide Dike für sich beanspruchen, so handelt es sich auch bei diesem tragischen Konflikt um das Aufeinanderprallen zweier konkurrierender Rechtsansprüche: Jeder sieht vereinseitigend nur ‚seine’ Dike. Die folgende Auseinandersetzung zwischen Eteokles und dem Chor, Angelpunkt dieser Tragödie, hat die Forschung durchweg unter dem Signum der tragischen Figur Eteokles gesehen. Welche Intention hingegen der Chor hat, voller Angst Eteokles vom Kampf zurückzuhalten, wurde noch kaum gefragt: Der Chor ist nun einmal da und wird nur als eine Art Resonanzboden gedeutet, um die Haltung der Einzelfigur verständlich zu machen und um Spannung zu erzeugen. 70 70 Dort, wo man den Chor explizit betrachtet, attestiert man ihm, wie C AMERON (1971) 44, das Unverständnis einer ‚tatsächlichen’ Situation: Eteokles werde von der Gottheit angetrieben, doch der Chor sehe fälschlich nur den Kampftrieb; ähnlich VON F RITZ (1962) 214f. und, auch auf das II. Stasimon ausgreifend, O TIS (1960) 166f. Dagegen W IN - NINGTON -I NGRAM (1983): „ ... but it is surely likely that their view of the mind of Et. is <?page no="203"?> Eteokles im Affekt und die Angst des Chores 189 Zunächst einmal ist festzuhalten - gerade gegen die bisweilen gemachte Annahme, der Chor wandele sich gegenüber dem I. Epirrhema zu einem bedächtigen Mahner der swfrosÚnh -, 71 dass der Chor hier nach wie vor Angst zeigt: Eine direkte Fortsetzung auf der Ebene des Affektes, womit gerade k e i n tiefgreifender atmosphärischer Wechsel vorliegt. In psychologischer Sichtweise kann man dem Chor jetzt Angst bescheinigen, weil nun auch noch der oberste Stratege Eteokles hinauszugehen und aufgrund des Vaterfluches getötet zu werden droht. Damit aber wäre eine Eroberung der Polis mit den vom Chor befürchteten Folgen sehr wahrscheinlich. Aber noch über diesen leicht erklärbaren Zusammenhang hinaus eröffnet sich, achtet man auf die Intention des Chores, eine bislang kaum berücksichtigte Perspektive zur Beantwortung der Frage, warum denn der Chor Eteokles vom Bruderkampf zurückhalten will: Es ist die Angst vor einem Miasma, das durch das Vergießen von verwandtem Blut den Boden der ganzen Polis zu beflecken droht. Damit brächte das Genos der Labdakiden, offenkundig schon belastet durch das Miasma des Vatermordes und der Inzestehe, aufs Neue ein Desaster über Theben. Dieses Miasma ist in seiner Dimension noch gar nicht absehbar, da vergossenes verwandtes Blut bei Aischylos eine unheilbare Befleckung ersten Ranges ist. 72 Die vollauf berechtigte Angst des Chores vor einem Miasma, das auch in der ‚aufgeklärten’ Zeit des 5. Jahrhunderts als real existierende Kraft eine hohe soziale Bedeutung hatte und in der Verarbeitung durch die Tragiker (Orestie, Oidipus Tyrannos) nicht als archaisches Relikt anzusehen ist, 73 fungiert als Antriebsfaktor, Eteokles davon abzuhalten, nun seinerseits affektiv zu handeln. Mit dieser argumentativen Verknüpfung geht der Chor in die Auseinandersetzung: m», f…ltat' ¢ndrîn, O„d…pou tškoj, gšnV Ñrg¾n Ómoioj tù k£kist' aÙdwmšnJ: ¢ll' ¥ndraj 'Arge…oisi Kadme…ouj ¤lij ™j ce‹raj ™lqe‹n: aaŒma g¦r kaq£rsion: ¢ndro‹n d' Ð Ðma…moin q£natoj ïd' aÙtoktÒnoj, oÙk œsti gÁraj toàde toà mmi£smatoj . (677-82) Bemerkenswert hierbei ist, dass der Chor sofort den Tod b e i d e r Brüder zusammen als Möglichkeit ins Spiel bringt, während aus den vorherigen Worten des Eteokles zu schließen ist, dass er, der im Verbund mit ‚seiner’ correct. (Why should Aeschylus make them mislead the audience on such a point? Why should we presume to know better than they? ).“ (33). 71 Sh. die oben S.156 Anm.1 zitierten Beiträge. 72 Vgl. Hik. 366f., 472f., Ag. 1018-24, Cho. 47 und 66-69, Eum. 261-63. 73 Sh. die einschlägige Monographie von P ARKER (1983), bes. 104-46; für die Septem verweist P ARKER 137 auf die Ausführungen zu Mord und Totschlag unter Verwandten bei Plat.Leg. 868c, 869 c-d und 873 a-b. Bemerkenswert allerdings ist die Tatsache, dass Leg. 869 c6-d3 die Tötung eines Bruders ™n st£sesi m£chj genomšnhj ½ tini trÒpJ toioÚtJ folgenlos bleibt (der Tötende ist kaqarÒj ) und der Tötung eines pol…thj durch einen anderen, oder der eines xšnoj durch einen anderen entspricht. <?page no="204"?> Septem 190 Dike antreten will, zunächst ein eigenes Überleben voraussetzt, ebenso wie dies Polyneikes zumindest für möglich hält, der v.634 einen Siegespaian im eroberten Theben und v.637f. die Vertreibung des bezwungenen Bruders ankündigt. 74 Insofern verschärft der Chor durch diese Perspektive, die Eteokles im Folgenden ebenfalls einnimmt (684, 690f., 703), für den Zuschauer die Situation beträchtlich und vereindeutigt sie. Diese ungewöhnlich lange Rhesis des Chores in sechs Trimetern, der sonst in den Septem nirgends so lange spricht, markiert für den Zuschauer die Besonderheit der Lage. Es beginnt dann eine Diskussion, die eigentlich keine ist, weil Eteokles, auch vom Chor jetzt deutlich als „Sohn des Oidipus“ identifiziert, zu diesem Zeitpunkt de facto schon längst entschieden ist und dem Zuschauer vom Dichter nur noch Beweggründe und Faktoren nachgereicht werden. Die für das Verständnis der Tragödie zweifellos zentrale Frage nach der Entscheidung des Eteokles steht für uns hier nicht als solche zur Debatte. 75 Doch sollte die affektive Komponente aufseiten des Eteokles, und dies gerade in Relation zum Chor, Berücksichtigung finden. Denn der Chor, von der Angst vor einem Miasma befallen, konzentriert sich ganz darauf, Eteokles davon abzuhalten, sich von Affekt und Ate übermannen zu lassen. Entsprechende Formulierungen finden sich zuhauf, so gleich anfangs: t… mšmonaj, tšknon; m» t… se qumoplh q¾j dor…margoj ¥¥ta ferštw: kakoà d' œkbal' œrwtoj ¢rc£n . (686-88) Eteokles, der Chor und der Zuschauer befinden sich hier nur scheinbar in einer „tragique minute de l’option“ 76 , denn Eteokles kann gar nicht mehr zurückgehalten werden. Insbesondere die Bewegungsverben - ™pispšrcei (689, von der Gottheit), ‡tw kat' oâron (690, vom ganzen Vorgang), ferštw (687, von der Ate), ™xotrÚnei (692f., vom çmodak¾j †meroj ), 'potrÚnou (698, von Eteokles selbst), œxeisi dÒmwn (699f., von der Erinnye), paršstaken (705, zum Text sh. unten) und œlqoi (707, beide vom da…mwn ) - zeigen den momenthaften Charakter dieser bewegungs- und spannungsreichen Situation an, in der der Chor den „Beginn der schlechten Begierde“ verhindern möchte. Die sprachliche Gestaltung lässt Eteokles als von äußeren Faktoren 74 Mit C AMERON (1971) 47f. anzunehmen, die Angst vor dem Miasma sei nur dann berechtigt, wenn einer der beiden Brüder überlebe, woraus geschlossen werden müsse, Eteokles und der Chor seien beide von einem Sieg und Überleben von Eteokles überzeugt, wäre eine zu rationalistische Auseinanderlegung dieser Szene: Dem Zuschauer wird vom Chor das Faktum einer gegenseitigen Tötung verdeutlicht und zugleich die Dimension eines möglichen Miasma. Sh. aber unten S.206-08 zum Verschwinden der Miasma-Problematik am Schluss, die im Endeffekt natürlich dann im doppelten Wortsinn aufgehoben ist. 75 Sh. die Referate bei F ÖLLINGER (2003) 139-45, VON F RITZ (1962) 193-99 und C ONACHER (1996) 69f. 76 D ELCOURT (1932) 30. <?page no="205"?> Eteokles im Affekt und die Angst des Chores 191 fremdgesteuert erscheinen: Von Affekten ( Ñrg», kakÕj œrwj, †meroj ), Ate, der Erinnye und dem Daimon. Im Vokabular bemerkt man auch, dass sich die emotionale Disposition des kampf-, ja blutgierigen Eteokles derjenigen des zuvor an erster Stelle beschriebenen Angreifers Tydeus annähert. 77 Auch davor, seinem eigenen, ‚verrückten’ Bruder in der Ñrg» ähnlich zu werden, warnt ihn der Chor - vergebens. Auf die krankhaft-affektive Sinnverwirrung b e i d e r wird später mehrfach ausdrücklich hingewiesen. 78 Die auf die gegenseitige Tötung zusteuernde Dynamik des Geschehens impliziert eine Reziprozität und Identität, die in Ómoioj (678), aÙtoktÒnoj (681) und ¢ndro‹n Ðma…moin (ebd.) zum Ausdruck kommt. Bemerkenswert bei alledem ist, dass dieser vom Affekt übermannte Eteokles selbst lediglich im Trimeter s p r i c h t , wie überall in dieser Tragödie. Dies ist Ausdruck seines q£rsoj und unterscheidet ihn nicht nur diametral vom Chor und dessen fÒboj , sondern auch von anderen Figuren bei Aischylos, die vor oder nach ihren ‚Wahnsinnstaten’ im Kontakt mit dem Chor höchst emotional s i n g e n (Xerxes, Klytaimestra, Orest). Wenn aber nun diesem entschlossenen, selbstbeherrschten, ja rationalen Eteokles, der sich möglicherweise im Verlauf der Szene wappnet und unaufhaltsam auf den Kampf vorbereitet, 79 vom Chor über fast 50 Verse hinweg immer wieder der zum Bruderkampf drängende Trieb attestiert wird, so erzeugt diese Technik ein affektives Ensemble mit hohem Wirkpotential: Im Gesang des Chores, der selbst Angst vor einem Miasma hat, wird der blutlüsterne Kampftrieb des Eteokles als ein von außen wirkender Affekt überhaupt erst sichtbar gemacht, entfaltet und erzeugt, während der entschlossene Eteokles schon ganz auf den Bruderkampf fixiert ist und in seinen gesprochenen Trimetern weiterhin den ihn von Anfang an charakterisierenden Affekt q£rsoj an den Tag legt. 80 77 margîn (380) ~ dor…margoj (687), sa…nein mÒron (383) ~ sa…noimen Ñlšqrion mÒron (704), m£chj ™rîn ( 3 92) ~ œrwtoj (688). Insofern ist die äußere Bedrohung jetzt auch direkt in der Polis in Gestalt des Eteokles präsent. Zur ‚Fleischwerdung’ des Eteokles in Bezug auf Tydeus und Polyneikes vgl. O TIS (1960) 168, T HALMANN (1978) 118 und W IN - NINGTON -I NGRAM (1983) 34. 78 dÚsfronej (875), Ñxuk£rdioi (906), œridi mainomšnv (935), ¢sebe‹ diano…v (831, wohl korrupt). 79 Sh. in v.676f. die Anweisung, die Beinschienen herbeizubringen. Für S CHADEWALDT (1961) hat Aischylos diese Szene „über einer ‚typischen’ homerischen Wappnungsszene entwickelt“ (114), die bekanntlich mit dem Anlegen der knhm‹dej beginnt. Anstatt jedoch einen ausgefallenen Vers nach dem Muster kaˆ t¾n ¤pasan sèmatoj panteuc…an (so der Vorschlag von S CHADEWALDT , 110) anzunehmen, sollte man eher der Auffassung von S OMMERSTEIN (1996) 107f. folgen, das Anlegen der übrigen Rüstungsteile sei in vv.677-711 etappenweise während der Gesänge des Chores erfolgt, ohne dass noch explizit darauf verwiesen wurde. Damit nämlich käme effektvoll Eteokles’ Entschlossenheit und die Wirkungslosigkeit der Beeinflussungsversuche des Chores sinnfällig zum Ausdruck; ähnlich R OSE (1957) 217f. 80 Dabei schließen sich der triebhafte Affekt und das planvolle Vorgehen nicht gegenseitig aus; nur wenn man beide Bereiche trennt, muss man dem Chor mit K IRKWOOD <?page no="206"?> Septem 192 Die doppelte Verfasstheit des Eteokles, der sich einerseits jegliches furchtsame Zögern verbietet, andererseits vom Kampftrieb erfüllt wird, umschließt äußerlich diese Szene und wird auch von ihm selbst evoziert: Gleich zu Beginn (656f.) heißt es: ¢ll' oÜte kla…ein oÜt' ÑdÚresqai pršpei / m¾ kaˆ teknwqÍ dusforèteroj gÒoj . Am Ende bezeichnet er sich selbst als einen teqhgmšnon , einen „Angestachelten“, den der Chor durch Argumente ( lÒgJ ) nicht mehr „abstumpfen“ könne (715). Obwohl der väterliche Fluch äußerlich „auf trockenen, tränenlosen Augen sitzt“ (695f.), 81 zeigt auch die Formulierung ™xšzesen g¦r O„d…pou kateÚgmata (709) die enge Korrelation zwischen dem nun wie eine Krankheit „ausgebrochenen“ Fluchgeschehen und der starken inneren Affizierung von Eteokles. Sein ebenfalls mit g£r eingeleiteter Verweis auf den Fluch (695), mit dem er die Vorhaltung des Chores, er sei gierig nach „nicht erlaubtem Blut“, beantwortet, bestätigt für den Zuschauer die Richtigkeit dieser Einlassung. Ganz im Gegenteil zur communis opinio, der Chor habe sich hier gewandelt und mahne bedächtig zur swfrosÚnh , 82 erweist sich in diesem II. Epirrhema, dass sich weder Eteokles noch der Chor gegenüber dem auch formal ähnlich angelegten I. Epirrhema nach der Parodos wesentlich verändert haben: 83 fÒboj versus q£rsoj auch hier. Zum ä u ß e r e n q£rsoj des Eteokles tritt aber nun die vom Geschlechterfluch und von der Erinnye diktierte Ate als i n n e r e r Kampftrieb, der nun sein früheres swfrone‹n anscheinend verdrängt hat; und der fÒboj des Chores - Dochmier dominieren auch hier seinen Gesang - richtet sich nun auf die körperliche Integrität von Eteokles. Dies allerdings wiederum im miasmatischen, auf den Bestand der Polis bezogenen Kontext. Das eigentlich Bemerkenswerte an diesem II. Epirrhema ist, dass das Wirken der Erinnye im Inneren von Eteokles durch den fÒboj des Chores zum Ausdruck kommt. Die von vornherein nutzlose Mahnung zur swfrosÚnh (dieser Begriff fällt allerdings gar nicht und ist von den entsprechenden Forschungspositionen offenbar aus v.186 extrapoliert) entspringt zwar als eine auf ‚Heilung’ der saviour-Figur gerichtete Reaktion dem eigenen Affekt des Chores; tatsächlich aber erzeugt der Chor durch Form und Inhalt seiner lyrischen Strophen für den Zuschauer eine Zuspitzung der Situation - rezeptionsästhetisch auch eine Art tragischer Ironie. Die Rollenidentität des Chores als parqšnoi tritt hier, wie im I. Stasimon, aber anders als im I. Epirrhema, fast völlig zurück hinter seine Repräsenta- (1969) ein Missverständnis der „purposefulnes“ und „deliberateness“ (21) von Eteokles unterstellen. 81 Für dieses Verständnis der Verse, dass hier die Augen von Eteokles selbst und nicht diejenigen der ¢r£ gemeint sind, sh. B ROWN (1977) 309f. Anm.33. 82 Vgl. die eingangs (Anm.1) zitierten Positionen. Anders VON F RITZ (1962), der angesichts des Entsetzens des Chores zu Recht keine wesentliche Änderung erkennt (214). 83 Auf trimetrische Rhesis - dort nur Eteokles, hier auf Eteokles und den Chor verteilt - folgt ein epirrhemates Gebilde (hier zwei Strophenpaare à drei und vier Versen, statt drei à fünf, vier und drei Versen), in dem Eteokles immer je drei Trimeter hat, was seine unerschütterliche Konstanz hier wie dort zum Ausdruck bringt. Es schließt sich eine Stichomythie an, die hier deutlich kürzer ausfällt, mit dem signifikanten Unterschied, dass nun der Chor anführt und Eteokles reagieren muss. <?page no="207"?> Eteokles im Affekt und die Angst des Chores 193 tivfunktion für die Polis, von der sich Eteokles unhaltbar löst. Der Vers 712 pe…qou gunaix…, ka…per oÙ stšrgwn Ómwj verweist zwar zurück auf die Misogynie des Eteokles in der früheren Szene, hat aber keine spezielle Bedeutung: Der Misserfolg der Peitho des Chores, den Eteokles ganz anders als im I. Epirrhema ja auch nicht mehr direkt anspricht, liegt nicht in dessen weiblicher Identität begründet, sondern ist eine geradezu naturgesetzliche Folge der Wirkung des Geschlechterfluches. Zwischen dem Sohn des Oidipus und der Polis Theben besteht keine Einheit. Die Anrede tšknon an den unmittelbar vor dem Eintritt in den verhängnisvollen Ablauf der Ate stehenden Eteokles gleich zu Beginn der lyrischen Strophen (686) braucht nicht mit Erklärungsversuchen verkompliziert werden, die einem naturalistischen Gattungsverständnis entspringen, 84 sondern lässt sich zunächst mit einem Blick auf das I. Stasimon des Agamemnon begreiflich machen, wo ein eindringliches Bild erscheint: Derjenige, der der Ate erliegt, wofür es im Nachhinein kein ¥koj mehr gibt, wird mit einem pa‹j verglichen, der einen Vogel verfolgt, ohne ihn je fangen zu können. Damit fügt das unvernünftige, vom Affekt angetriebene ‚Kind’ (aufzuschlüsseln als Paris respektive Agamemnon und Menelaos) seiner Polis unerträglichen Schaden zu. Eben dieses unaufhaltsame Fortgetriebenwerden wird im ferštw der „kampfgierigen Ate“ (Sept. 687) angezeigt, und es gibt keinen Anlass, die Anrede tšknon eindimensional auf eine bloß altersmäßige Qualifizierung hin zu lesen. Ganz entsprechend wird der ebenfalls der Ate und der Sinneskrankheit erlegene Xerxes als unreifer junger Heißsporn charakterisiert ( nšoj œt' ín nš' ¢frone‹ , 782) und schlicht als tšknon und pa‹j bezeichnet. 85 - Cho. 324 spricht der in dieser Tragödie altersmäßig nicht definierte Frauenchor Orest als tšknon an, der hier zuallererst der Sohn seines zu rächenden Vaters ist. Überhaupt kann die Anrede in Sept. 686 auch einfach als Ausdruck der Sorge verstanden werden, weil Eteokles, mit dem sich der Chor immerhin auf der Bezugsebene der fil…a befindet, nun beginnt, unüberlegt zu handeln. Und schließlich ist für v.686 unbedingt auch der Zusammenhang zu v.677 zu beachten, wo mit O„d…pou tškoj eine Fortsetzung der ‚Fingerzeig-Benennungen’ von v.203 und v.372 vorliegt: Nun wird die Bedeutung des Oidipus für das Schicksal seiner beiden Söhne explizit offengelegt. Insofern kann im ersten Gesangsvers des Chores in diesem Epirrhema das Wort tšknon eine besondere Note haben: Eteokles’ Identität definiert sich nun wesentlich dadurch, dass er ein Kind ist - ein Kind des Oidipus. In Eteokles wirkt also eine stark affektive Komponente, deren Bedeutung für den Verstehensprozess aufseiten des Zuschauers gerade in der Interdependenz von Einzelfigur u n d Chor herauskommt. Die von Aischylos explizierten Faktoren und Beweggründe, die dem Entschluss des Eteokles zugrunde liegen, befinden außerhalb unseres thematischen Skopus, dürften 84 Vgl. die absonderliche Konstruktion von D ELCOURT (1932), auf die oben Anm.5 schon hingewiesen wurde: „Il est inadmissible que des jeunes filles appellent Etéocle ‚enfant’ [.]“ (26), und deshalb könnten nur „femmes d’âge“ (28) solchermaßen ermahnend Eteokles gegenübertreten (und im Trimeter sprechen), wohingegen in der Parodos und im I. Stasimon der andere Bestandteil des Chores, eben parqšnoi , lyrisch singe. 85 Vgl. mit etwas anderer Akzentuierung (und ohne Bezug auf die Parallelen in den Persern und im Agamemnon) VON F RITZ (1962), der in der Anrede „die Einsamkeit des Eteokles unter seinem Volke sehr wirksam zum Ausdruck“ gebracht sieht (215 mit Anm.22); zustimmend zitiert von D ILLER (1975) 36. <?page no="208"?> Septem 194 jedoch ebenfalls die Distanz zwischen Genos und Polis reflektieren. Es ist insbesondere das Streben nach der eigenen tim» , das sich aus der überkommenen homerischen Adelsethik und der shame culture speist, von dem Eteokles ebenso wie Polyneikes angetrieben wird; dieses Streben impliziert eine gewisse egoistische Selbstbezogenheit mit notwendig negativen Folgen für die untergeordnete Gemeinschaft. 86 Nimmt man diesen archaischen tim» - Trieb als Eteokles’ Movens ernst (womit auch der eigene Anteil des Individuums am tragischen Schicksal und der Erfüllung des Fluches konturiert wird), so ist auch damit die - von der jüngeren Forschung schon aus anderen Gründen abgelehnte - ‚Opfertod-Theorie’ hinfällig, nach der Eteokles als treusorgender Landesvater Theben durch seinen Kampfentschluss retten wolle. 87 Dass das Überleben Thebens objektiv gesehen t a t s ä c h li c h die Folge der Entscheidung von Eteokles ist (wie auch seiner vorherigen taktischen Maßnahmen), darf nicht zu einer Verwechslung von Ursache und Wirkung führen: Denn Eteokles lässt nach v.652, wo der Bote markant mit pÒlin endet, nirgends mehr seine zuvor so deutlich artikulierte Intention erkennen, Theben vor den Angreifern zu retten. 88 Ganz im Gegenteil ist aus der Angst des Chores vor dem Miasma zu schließen, dass das individuelle Streben nach tim» , das heißt die Vermeidung des kakÒn und der a„scÚnh - und sei es im eigenen heroischen Tod als letzter Konsequenz des väterlichen Fluches - die Polis in Gefahr bringt. Bezeichnend ist, dass Eteokles auf die Vorhaltung des Chores: oÙk œsti gÁraj toàde toà mi£smatoj (682), mit der an vorderster Stelle die tief verwurzelte Furcht der Gemeinschaft evoziert wird, gar nicht eingeht, sondern mit den Kernbegriffen kakÒn, a„scÚnh, a„scrÒn, kšrdoj, eÙkle…a (683-85) sofort das Verhaltensmuster der shame culture abspult. Zwei unvereinbare Positionen stehen sich hier gegenüber, die eine Heilung der Krise für die Polis unmöglich machen. 89 86 Sh. dazu ausführlich F ÖLLINGER (2003) 161-70, bes. 168. 87 So S NELL (1928) 83 und 87; P OHLENZ (1954) 94-96; D AWE (1974) 210-12 Anm.30; K IRK - WOOD (1969) 17-22. Zur Ablehnung sh. schon S OLMSEN (1937) 205f. 88 In vv.674-76 ¥rconti t' ¥rcwn kaˆ kasign»tJ k£sij, / ™cqrÕn sÝn ™cqrù st»somai erscheinen Polis und Genos zwar zusammen, aber hier geht es schon nur noch um die gegenseitige, reziproke Eliminierung im Wirken der Dike. Zwischen v.652 und v.749 fällt das Wort pÒlij nicht ein Mal, wie W INNINGTON -I NGRAM (1983) 50 bemerkt. Doch halten die Präsenz des Chores und dessen dezidiert ‚öffentliches’ Thema Miasma (das ja Eteokles überhaupt nicht interessiert) den äußeren Rahmen der Polis aufrecht. Man vergleiche auch die zuvor so breit entwickelte Metaphorik des Steuermanns, der sein Staatsschiff umsichtig lenkt, mit der Aussage des Eteokles, jetzt quasi auf dem Schiff des Genos vom qeÒj zum Kokytos hin getrieben zu werden (689-91). 89 Auch die affektgeladene Gier, mit der Eteokles im Sinne der ‚doppelten Motivation’ die anscheinend unausweichliche Situation akzeptiert, ja noch verschärft, können ihn in den Augen des Publikums in gewissem Sinne als „morally culpable“ (B ROWN (1977) 314) erscheinen lassen, so wie seinen ‚verrückten’ Bruder. Ähnlich S OMMERSTEIN (1996): Das Publikum „thought both that Eteocles in 653-719 was insane, or possessed, or under the influence of a delusion, and that he was resolved to commit a terrible crime for which it was right to hold him responsible.“ (114). Dies steht nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass zuvor die Fronten zwischen Verteidigern (Dike) und An- <?page no="209"?> Eteokles im Affekt und die Angst des Chores 195 Die allgegegenwärtige Angst des Chores (vgl. etwa v.693f. ... pikrÒkarpon ¢ndroktas…an tele‹n / a†matoj oÙ qemistoà ) kulminiert kurz vor dem Abgang des Eteokles in der ungläubigen, die außerordentliche Monstrosität des Vorganges umreißenden Frage: ¢ll' aÙt£delfon aŒma dršyasqai qšleij; (718). Wird so eine faktische Gefahr kontinuierlich im Gedächtnis des Zuschauers wachgehalten, so entbehren die Alternativvorschläge des Chores zwar nicht einer gewissen Naivität, stehen jedoch fest auf der Grundlage traditioneller und somit vom Publikum akzeptierter Religiosität, der eine vorsichtig optimistische Haltung zu eigen ist. Die - gegenüber dem nicht nach Theben passenden Genos des Laios - echten, quasi normalen Kadmossöhne sollten alleine antreten (679-82), denn für deren Blut gebe es ein aŒma kaq£rsion , im Unterschied zur ewigen Befleckung des Bodens von Theben im Falle eines blutig endenden Bruderkampfes; somit könne ein Opfer an die Erinnye diese dazu bewegen, das Haus - mithin die Polis - zu verlassen (699-701); und der Daimon, der jetzt im Moment „brodle“ ( nÙn d' œti ze‹ , 708), werde „vielleicht“ ( ‡swj ¨n œlqoi - so sicher ist das aber alles nicht) auch wieder aufhören. B ROWN hat für den korrupten v.705 ( nàn Óte soi † paršstaken † , ™peˆ da…mwn ktl. ) eine ingeniöse, bedenkenswerte Konjektur vorgeschlagen: nàn œti soi p£rest' ¥koj . 90 Hierzu passt, dass das den Ausbruch des Fluches kennzeichnende Verbum ™xšzesen in v.709 den Affekt des Eteokles als eine Krankheit erscheinen lässt. 91 Nach der Meinung des Chores würde ein ‚unheroisches’ ¥koj , das in einem Zurückfahren des Affektes bestünde, den Bruderkampf und somit das ex eventu unheilbare Miasma für die Gemeinschaft vermeiden. Auch wenn eine zusammenfassende Beschreibung der Haltung des Chores hier nicht auf einer Konjektur basieren soll, lässt sich das Ansinnen des Chores und seine Einwirkungsversuche, Eteokles vom krankhaften Affekt abzubringen und zum gesunden Denken zugunsten der Polis zu lenken, mit dem Schlagwort ‚Heilung’ etikettieren. Das Gefühl der Bedrohung durch greifern (Hybris) klar abgesteckt waren. - Zur jeweils unterschiedlichen Rhetorik der Gesprächspartner am Beispiel von vv.683-85 vgl. L UPAS / P ETRE (1981): „La forme sententieuse de sa réplique fait contraste avec les exhortations très personnelles du choeur et suggère l’opacité du héros qui oppose les formules abstraites d’une rhétorique du discours public au problème tout à fait privé qui se dresse devant lui.“ (218); sh. ebenda 219 zum homerischen Kolorit von Eteokles. 90 Zuerst vorgeschlagen in der von uns eingesehenen maschinenschriftlichen Cambridger Dissertation von B ROWN (1975): Óte statt œti „would be an easy uncial error, and a scribe who took PARESTAKOS for a participle might well substitute the indicative to give a semblence of grammar.“ (270). Die Konjektur wurde dann aufgenommen in den Apparat der Ausgabe von H UTCHINSON und daraus wiederum von W EST in seinen Apparat. 91 Zu ( ™k -) ze‹n in medizinischem Sinn und in übertragener Bedeutung („brodeln, überkochen“) sh. S TANFORD (1942) 55 und 94 und bes. G EISSER (2002) 71f.; das Verb wird Soph.OC 434 für den aktuellen Affekt des Oidipus verwendet: Ðphn…k' œzei qumÒj, vgl. weiter Her. 4,205 über den Tod der Pheretime: ¢penÒsthse ™j t¾n A‡gupton, ¢pšqane kakîj: zèousa g¦r eÙlšwn ™xšzese („ging lebendig in Würmer auf“, also „wimmelte vor Würmern“), Her. 7,13 ¹ neÒthj ™pšzese („wallte auf“). Weitere Belege von ™kzšw und œkzema : Arist.Probl. 954 a25 und 861 b10, Anton.Lib. 19,2 und Diog.Laert. 4,4. <?page no="210"?> Septem 196 ein Miasma angesichts des Affektausbruches in Eteokles stellt die Septem an die Seite der anderen überlieferten aischyleischen Tragödien, in denen medizinische Vorstellungen und Krankheitsmetaphorik geläufig sind. 92 Doch dieser Pragmatismus einer n…kh kak» - womit dem Zuschauer immerhin die Möglichkeit eines Sieges der Thebaner auch ohne den Bruderkampf vorgestellt wird, der ja erst n a c h der vertrauenerweckenden Präsentation der sechs im Verbund mit Dike und den Göttern kämpfenden Heroen ins Blickfeld kommt - widerstrebt der Hoplitentim» (vgl. 717) eines Eteokles. Insofern überrollt das tragische Geschehen, das im Moment stark auf das Genos hin fokussiert ist, jeglichen Heilungsversuch des Chores auf der Basis eines ‚normalen’ Verständnisses einer solchen Konfliktsituation. Auch in der ersten Konfrontationsszene mit Eteokles hatte der Chor eine sehr ähnliche, auf der intuitiven Frömmigkeit des Durchschnittsmenschen beruhende Haltung gezeigt, die in der Relation zwischen Göttern und menschlicher Gemeinschaft auf der Grundlage der fil…a eine positive Einflussnahme weitgehend ohne aktives, potentiell tragisches Handeln des Menschen für möglich hält (vgl. bes. 211-15, 226-29). Während dort aber die - die Wirksamkeit eines mÒrsimon akzeptierende - Aktivität eines Eteokles unbedingt z u s ä t z l i c h nötig war, um die Gefährdung von der Polis abzuwenden (und den Plot weiterzutreiben), ist es hier ebendiese ‚fatalistische’ Entschlossenheit, die in den Augen des Chores die Polis ihrerseits gefährdet, weil er die zusätzliche Dimension des Genos und der Gefahr eines Miasma erkennt. 93 Und so nimmt es nicht wunder, dass die Einwirkungs- und Heilungsversuche des Chores an der Rüstung des Eteocles homericus, der sich in eine beachtliche Verbindung aus q£rsoj und Kampftrieb eingehüllt hat, abprallen. 92 Damit unterliegt O’C ONNOR (1974), der in den Septem keine „disease imagery“ (61) erkennt, einer Fehleinschätzung, nicht zuletzt wegen der zentralen Stellung der Miasma-Thematik. 93 Auch insofern haben sich die beiden Parteien nicht gewandelt; sh. B ROWN (1977) 315f.: „All that has changed is the situation“. - H UTCHINSON (1985) bewertet die gutgläubige Haltung des Chores in vv.698ff. mit Blick auf den Zuschauer: „Rather, the confidence of the chorus’s statement here should arouse uncertainty in us, which will be confirmed by the chorus’ own uncertainty in the next stanza. The wickedness of the fratricide is not of course affected by the truth or falsity of these opinions. But Eteocles’ action is made to seem the more comprehensible, from his point of view, and the optimism of the chorus serves as a foil to his despair.“ (157). 6. Die Entkoppelung von Genos und Polis und die ‚Stunde Null’ Thebens 6.1 Das II. Stasimon als Erfüllung des Fluchgeschehens Der Zuschauer erwartet nun zum einen den Bruderkampf, zum anderen das II. Stasimon. Dramentechnisch kommt es diesem Chorlied zu, die ‚hinterszenische’, nicht inszenierbare Handlung zu überbrücken und zu ersetzen. Doch wird man der Leistung des Liedes allein mit dieser Diagnose nicht ge- <?page no="211"?> Die Entkoppelung von Genos und Polis 197 recht. Denn das II. Stasimon erstreckt sich nicht nur auf die Gegenwart des Kampfes, auch nicht nur auf die Zukunft der möglichen negativen Folgen in Form des Miasma, sondern eröffnet - und dies ist seine primäre Funktion - dem Zuschauer eine weite Perspektive der vergangenen, aber mit dem hic et nunc kausal verknüpften Geschehnisse um Laios und Oidipus. Damit stellt dieses Lied, das also eine eigene Zeitstruktur hat, auch eine Referenz zu den beiden vorangegangenen, hier also ‚eingeblendeten’ Tragödien her (womit angesichts von deren Verlust zumindest einige Aussagen über die Makrostruktur der Trilogie getroffen werden können). Wie sehr es Aischylos auf die Verknüpfung von Genos und Polis angekommen ist, zeigt die Tatsache, dass, obwohl der Fluch des Oidipus und die Familiengeschichte gleich mit Strophe a nunmehr stark in den Mittelpunkt zu rücken scheinen, der Chor nicht einfach ein bloß kommentierendes und referierendes Sprachrohr des Dichters für die Genos-Problematik ist, sondern nach wie vor um die Polis fürchtet. Zwar mag man nun aufgrund der thematischen Schwerpunktbildung, dass nun das Genos im Mittelpunkt steht, vom „chorus of the trilogy“ 94 sprechen, doch bleibt die ‚politische’ Dimension erhalten, die diesem parqšnoi -Chor von Anfang an zu eigen war. Vor allem ist es der eigene Affekt, die Angst, der dieses Chorlied atmosphärisch an den vorherigen Geschehensablauf angleicht und der weiterhin als Indikator der sozialen Krise fungiert. Die explizit benannte Angst des Chores vor der „hauszerstörenden“ Erinnye und ihrer teleologischen Kraft umrahmt ringkompositorisch das Lied: pšfrika t¦n çles…oikon ... patrÕj eÙkta…an 'ErinÚn telšsai t¦j pperiqÚmouj kat£raj O„dipÒda blay…fronoj: paidolštwr d' œœrij ¤d' ÑtrÚnei . (720-26) So wie der Affekt im Verbund mit einem Erkenntnisvorgang das Lied direkt beginnen lässt, so endet es. Die beiden letzten Verse lauten: nàn d tršw m¾ telšsV / kamy…pouj 'ErinÚj (790f.). Der „kindertötende Kampf h i e r “, der quasi simultan mit dem Chorlied beginnt, wird zunächst als die unmittelbare Folge der „überzornigen Flüche des geistgeschädigten Oidipus“ präsentiert. Mit einer derartig massiven Kennzeichnung des affektiven, unbeherrschten Handelns von Oidipus - warum er den Fluch aussprach, ist nicht sicher zu klären, doch interessiert hier offenbar nur die Tatsache 95 - erscheint dem Zuschauer der zuvor so stark evozierte Affekt des Eteokles, 94 C AMERON (1971) 46. 95 Für die möglichen Sagenversionen (Verfluchung wegen eines falschen Fleischstückes oder wegen Ehrengeschenken von Laios in der Thebais) sh. F ÖLLINGER (2003) 154-60, die in trof©j (786) die Zeugung des Oidipus selbst als Beweggrund der Verfluchung sieht. <?page no="212"?> Septem 198 mithin die blutige Raserei b e i d e r Brüder, als eine identische Fortsetzung davon. Auch an weiteren entsprechenden Charakterisierungen von Vater und Söhnen fehlt es nicht, so dass es ein zwingender Schluss ist, hier eine genosinterne Kontinuität zu sehen: par£noia sun©ge / numf…ouj frenèlhj (756f.) heißt es von der Heirat des Oidipus mit seiner Mutter Iokaste; mainomšnv krad…v (781) habe er danach das „zweifache Übel“ der Selbstblendung und des Fluches (diesen als ein ™p…kotoj , 786) vollzogen. Der Inhalt dieses Fluches, der wohl im Oidipus ausgesprochen wurde, wird vom Chor in Antistrophe a zitiert. Und genau dort, wo es dann konkret um den Boden Thebens geht (nur so viel an Land teilt der Stahl der Schwerter, der Richter- ‚Obmann’ aus der Fremde, 96 den Brüdern zu, dass sie in der Erde ruhen können, und damit sind sie tîn meg£lwn ped…wn ¢mo…rouj (733)), rekurriert der Chor auf seine Angst vor einem unheilbaren Miasma, mit dem in Umkehrung des natürlichen Besäens der Nährmutter Erde (vgl. 14-20), die für den Chor schon zuvor in Sterilität abzusterben drohte (356-62), eine zivilisatorische Katastrophe droht: ™peˆ d' ¨n aÙtoktÒnwj aÙtod£ ktoi q£nwsi, kaˆ ga a kÒnij p…V melampag j aaŒma fo…nion, t…j ¨n kaqarmoÝj pÒroi; t…j ¥n sfe lÚseien; ð pÒnoi dÒmwn nšoi palaio‹si summige‹j kako‹j . (734-40) Die neuen und doch nur alten „Leiden des Hauses“ werden nicht beklagt als solche nur des Genos, sondern in Interdependenz mit der Polis gesehen, so dass mit dieser Strophe auch eine enge Anknüpfung an das vorherige Epirrhema vorliegt. Wie freilich im Detail dieses neuerliche Miasma eine Hypothek für Theben darstellen kann, das bleibt offen. Soweit sind unmittelbare Gegenwart, mögliche Zukunft und faktische Vergangenheit in Form der Vatergeneration schon präsent. Der Chor blendet aber auch noch die Vorvergangenheit mit ein: In Antistrophe b wird - auf die „alten Übel“ mit palaigenÁ (742) bezugnehmend - die „uralte Überschreitung“ des Laios referiert, die sich bis jetzt auswirkt: a„îna d' ™j tr…ton / mšnei<n> (744f.). Gegen die eindringliche Warnung Apollons hat Laios doch einen Sohn gezeugt und damit die Voraussetzung für das sózein pÒlin (vgl. 749) beseitigt. 97 Dass der Antrieb zu dieser Zeugung als affektives Han- 96 Zu dieser ausgereiften Metaphorik, hinter der die Schlichtung von Besitzstreitigkeiten durch einen ‚Mediator’ im zeitgenössischen Athen zu sehen ist, vgl. M ANTON (1961) 78 und H UTCHINSON (1985) 163f. Natürlich kommt auch hier wieder die Opposition ‚innen - außen’ zum Tragen, denn der noch von jenseits der Skythen, der unzivilisatorischen Wildnis schlechthin, kommende s…daroj markiert wieder die äußere Bedrohung Thebens durch die wilden Angreifer. 97 Allerdings folgt daraus nicht zwingend der Untergang der Stadt (so W ILAMOWITZ - M OELLENDORFF (1914) 80); vgl. M ANTON (1961) 80, W INNINGTON -I NGRAM (1983) 20 und sh. unten S.204f. <?page no="213"?> Die Entkoppelung von Genos und Polis 199 deln expliziert wird - krathqeˆj ™k f…lwn ¢bouli©n (750) und dusboul…aj (802) sind einschlägige Formulierungen - vermag den Zuschauer nicht mehr zu verwundern. Die par£noia (756) von Oidipus und Iokaste, die eine weitere Zeugung mit derselben Frau verursacht, ist die Fortsetzung davon. 98 Der Chor expliziert dann im Strophenpaar g den Kausalzusammenhang zwischen diesem Vergehen des Laios und der augenblicklichen Krise der Polis in einer beachtenswerten Engführung, die dem Zuhörer dieser Liedstrophen durch die sprachliche Gestaltung eine eindeutige Interpretation liefern dürfte: Der Einleitungsvers krathqeˆj ™k f…lwn ¢bouli©n wird nämlich mit einer mšn-dš -Antithese über die beiden Teilstrophen hinweg fortgeführt. Zum einen hat die Missachtung des Orakels seitens des Laios durch die Zeugung von Oidipus die bekannten Folgen für das Genos: ™ge…nato mm n mÒron aØtù (751). Zum anderen aber - und hier erfolgt eine überraschende Kehrtwendung - erscheint die momentane Gefahrensituation der Polis, die in das eingängige und gewohnte Bild des sich überschlagenden Wogenschwalls gefasst wird, als direkte Folge davon, dass Laios sich von seiner Begierde übermannen hat lassen: kakîn dd' ésper q£lassa kàm' ¥gei (758). 99 So wird in der performance des Chores vom jetzigen Augenblick aus, der insbesondere auch durch die direkte Deixis auf den Wehrturm in v.761f. ( Ód' ... pÚrgoj ) zum Ausdruck kommt, zum Uranfang des tragischen Konfliktes dieser Trilogie zurückgegangen. Die Folgerung, die der Chor aus dieser Engführung von Genos und Polis zieht: dšdoika d sÝn basileàsi / m¾ pÒlij damasqÍ . (764f.) ist relevant für die Haltung des Chores nach diesem Lied und für die Bewertung des Schlusses der Trilogie, wo allem Anschein nach das gerettete Theben in einem ‚voroidipodeischen’ Zustand sein wird. Für den Zuschauer steht jetzt, zumal mit der zuvor evozierten Befürchtung eines neuen Miasma, das Faktum einer manifesten Gefahrensituation. Die explizite Affektäußerung an dieser zentralen Stelle ergänzt die beiden das Lied umrahmenden Bekundungen, die in engster Verbindung mit dem Wirken der Erinnye stehen ( pšfrika - tršw ). Ähnlich wie im I. Stasimon bringt der Chor im II. Stasimon sein eigenes Ich zwar durchaus ein, um 98 Der als dramatis persona zwar fehlenden Iokaste (vgl. F ÖLLINGER (2003) 152f.) dürfte durch dieses Verständnis von numf…ouj als „both partners“ und „bridal pair“ (H UTCHINSON (1985) 168; vgl. M ANTON (1961) 80f., der es auch ablehnt, dass in v.756f. Laios und Iokaste zu sehen seien) ein gewisser Anteil am Geschehen zuzuschreiben sein. Das weite Feld der Diskussion um ‚tragische Schuld’ gerade im Oidipus-Mythos kann hier nicht betreten werden, doch sollte für Aischylos nicht befremden, dass die Inzestehe vom Chor als par£noia frenèlhj qualifiziert wird, dass also eine affektive Komponente ‚schuld’ war, die nun als Ergebnis konstatiert wird (vgl. oben S.100 Anm. 234 zur results culture der Griechen). 99 Es ist sogar denkbar, dass die ersten beiden Verse (758f.) nach dem Inhalt der Strophe g im kontinuierlichen Gedankenablauf vom Rezipienten zunächst weiterhin auf das Genos bezogen werden (so T HALMANN (1978) 36), womit sich eine noch engere Verschränkung ergäbe. Allerdings war bislang diese zentrale Metapher so stark auf die Polis ausgerichtet, dass ein plötzlicher Umschlag als wahrscheinlich erscheint. Oder ist vielleicht sogar eine koinzidierende, doppelt auffassbare Aussage intendiert? <?page no="214"?> Septem 200 durch die Evokation des eigenen Betroffenseins eine sympathetische Haltung beim Zuschauer zu erzeugen. Doch steht auch hier nicht der Chor als Personengruppe im Mittelpunkt, sondern die von ihm repräsentierte Polis und das Genos. Wie zuvor bei prolšgw (336) liegt mit lšgw (742) auch hier ein Verweis auf die Kraft des eigenen Erzählens und Deutens vor. In dieser Hinsicht sind sich also I. und II. Stasimon ähnlich, und auch dies widerstrebt der Annahme eines Wandels im Auftreten des Chores: Hier wie dort vertritt er die Polis, fürchtet um sie und nimmt sich selbst zurück. Anders als zuvor im Stück hat der Affekt Angst nun keine Bittgebete an die olympischen Götter, Theben beizustehen, als Reaktion zur Folge: Gegen die entfesselte und jetzt im Augenblick wirkende Erinnye, qeÕn oÙ qeo‹j Ðmo…an (721), gibt es im Nachhinein keinerlei Einflussmöglichkeit. Chor und Zuschauer sind der Erfüllung des Fluchgeschehens passiv ausgeliefert. Während in der fehlgeschlagenen ‚Heilung’ des in seiner Affizierung vorgeführten Eteokles der persönliche Anteil des Individuums zum Ausdruck kam, erlebt der Zuschauer nun die autonome, nicht beeinflussbare Wirkung der anderen Seite der ‚doppelten Motivation’. Die Angst des Chores, die zuvor primär vom Gedanken des Miasma bestimmt war, richtet sich nun auf eine Eroberung Thebens im Falle des Todes von Eteokles, dem dritten König Thebens aus diesem Genos, 100 das dann die Polis vollkommen in seinen eigenen Untergang mithineingezogen haben würde. Insofern ist das Zittern vor der „das H a u s zerstörenden Erinnye“ vom Standpunkt der Polis - des Chores - aus völlig gerechtfertigt. Ausgehend von dieser Angst schwenkt der Chor in Str. d zunächst zum Fluch zurück, der jetzt im Moment das Paradoxon verursacht, dass die „schlimme Aussöhnung“ ( bare‹ai katallaga… , 767) der Brüder, mithin eine Konfliktlösung eigener Art, die Polis aufs Extremste gefährdet, nachdem der Heilungsversuch des Chores im Epirrhema gescheitert war, ja der Chor dort Ate und die Erinnye für den Zuschauer sogar erst ‚herbeizitiert’ hat. Das Verderbliche, das schon geschehen ist, vergeht nicht einfach, sondern hat eine lebendige, in der Gegenwart sich auswirkende Kraft: t¦ d' Ñlo(¦) {teloÚmen'} oÙ paršrcetai (768) belegt eindrucksvoll die Unheilbarkeit von der aktuell durch die Flüche des Oidipus wirkenden Ate. Es folgt ein Gedanke, der in den Septem neu, im Werk des Aischylos jedoch von zentraler Bedeutung ist und eine solche möglicherweise auch für die ganze Trilogie hatte: Ein übermäßiges Wohlergehen ( Ôlboj ¥gan pacunqe…j , 771) führt zwangsweise zum Verlust der Ladung und zum Kentern des überladenen Schiffes (768-71). Dies meint nicht nur das königliche Haus des Genos, sondern - nicht zuletzt aufgrund der spezifischen Schiffs- und Meeresmetaphorik der Septem - das Staatsschiff Theben. Obwohl die Antistrophe d das Ôlboj -Thema dann am Beispiel des Oidipus konkretisiert, ist unverkennbar, dass der Streit seiner Söhne um Theben gerade den mate- 100 Für das Verständnis von basileàsi v.765f. als der ganzen Königsreihe sh. H UTCHIN - SON (1985) 169. <?page no="215"?> Die Entkoppelung von Genos und Polis 201 riellen Aspekt von Besitz, Reichtum und Glück ins Blickfeld des Zuschauers rückt, dem diese Thematik, die im Zentrum der popular morality steht, aus der Bandbreite frühgriechischer Dichtung bekannt ist. Oidipus also stand seinerseits als Retter Thebens an der Spitze der Polis und in seinem Ôlboj im Rampenlicht der Öffentlichkeit: ... ™qaÚmasan / qeo… te xunšstioi {pÒlewj} / polÚbatÒj t' ¢gën brotîn (772-74). Wie Antistrophe a den Fluch aus dem Oidipus zitiert und Antistrophe b und Strophe g den Kurzinhalt des Laios und des Oidipus referieren, so stellen Antistrophe d und Strophe e eine weitere Referenz zum zweiten Stück her. Hier dürfte Oidipus zunächst scheinbar erfolgreich als rechtmäßiger Herrscher Thebens nach der Beseitigung der Sphinx - kÁr' ¢felÒnta cèraj (777) - aufgetreten sein, dann aber, nach seiner schrecklichen Selbsterkenntnis, sich die Augen ausgestochen und die Söhne verflucht haben. Diese Geschichte von hohem Aufstieg und jähem Sturz erscheint hier für den Zuschauer als ‚nur’ die zweite Station innerhalb dieses Genos, das dreimal in je verschiedener Weise versuchte, sich seinen Ôlboj in Theben zu erhalten und dreimal scheiterte. 101 Die abermalige Erwähnung des Fluches (785-90 - solche Wiederholungen lassen sich gerade auch aus der Tatsache des linear fortschreitenden Nacheinanders der Aufführung erklären) und der doppeldeutigen Aufteilung der kt»mata verbindet sich am Liedende mit der Angst vor der schon eingangs evozierten Vollendungskraft der Erinnye. Das hier anklingende Telos der ganzen Trilogie hat zwar gegenüber der Parodos, wo bereits ein Telos des Plots bewusst gemacht wurde, eine andere Qualität bekommen. Doch es ergibt sich für den Zuschauer der konstante Eindruck der Gefährdung der Polis, der durch den Affekt des Chores, der als ‚Boden’ von Theben ja auch das Objekt des Kampfes ist, zustande kommt. Anstatt dass der Chor in diesem Lied, während dessen der Bruderkampf stattfindet, die vergangenen Ereignisse des Laios und des Oidipus für den Zuschauer einblendet, könnte er auch nach Art der Parodos die momentane hinterszenische Handlung in den Bühnenraum übertragen. Wenn ihn Aischylos dies nicht vornehmen lässt, so bedeutet das keineswegs, dass dieses Lied nun von einer höheren Warte aus einfach nüchtern ‚reflektierend’ oder ‚kommentierend’ sei. Denn die Angst des Chores ist das affektive Substrat dessen, was nach Maßgabe einer eigenen Zeitstruktur erzählt und gedeutet wird. Allerdings schreitet der Chor anders als in der Parodos hier logisch argumentierend fort (vgl. das häufige g£r ), und doch ist die brennende Aktualität der tragischen Handlung in beiden Fällen für den Zuschauer 101 Zur Bedeutung dieser Thematik in der Trilogie sh. B ALDRY (1956) 31. In allen drei Generationen handele es sich jeweils um „energetic and well-intentioned efforts“, so T HALMANN (1978) 27 mit Bezug auf die Septem; ähnlich F INLEY (1966): „[Eteocles] is in the position of his grandfather in wanting the safety of the city to be compatible with himself and his line [.]“ (240). - Für das Bild des kenternden, überladenen Schiffes vgl. Ag. 1001-17; dort ist mangelnde Voraussicht des allzu erfolgreichen Schiffers die Ursache. <?page no="216"?> Septem 202 sicht- und hörbar gemacht: 102 Ein Kampf um die Polis ist es dort und bleibt es hier. Der intendierte Effekt des II. Stasimons liegt darin, während der Minuten seiner performance den wohl als ähnlich lang zu denkenden Kampf draußen als Ergebnis der Geschichte von Laios und Oidipus begreiflich zu machen, in das generationenübergreifende Wirken der Erinnye einzuordnen und deren unaufhaltsames und unheilbares Wüten regelrecht zu generieren. Insofern wäre dieses Lied eine präsentische Vorstufe des zweifachen Ephymnions (975-78, 986-88), das als eine Art „Erinnyen-Hymnos“ (vgl. 868) die Trilogie beendet. 6.2 Das offene Ende für die Polis und der Ab-Gesang auf das Genos Steht am Ende des II. Stasimons die Angst, so möchte der Bote, der den Sieg der Thebaner verkündet, dem Chor Zuversicht einflößen: qarse‹te, pa‹dej mhtšrwn teqrammšnai: / pÒlij pšfeugen ¼de doÚlion zugÒn (792f.). Die auf den ersten Blick nicht leicht verständliche Anrede an den Chor - mit dem überlieferten Text zu übersetzen als: „Kinder, hervorgewachsen aus Müttern“ - kann als ein Hinweis auf das Wohlergehen des gesunden Polisbodens gesehen werden, auf dem nun eine natürliche und normale Fortpflanzung möglich ist, dies in diametralem Gegensatz zur eben erzählten Familiengeschichte des Genos. 103 Das weitere Verhalten des Chores, der trotz der scheinbar klaren Situation Angst vor einem frischen Unheil für die Stadt empfindet ( parafronî fÒbJ lÒgou , 806), soll dem Zuschauer die unbegreifliche Dimension der gegenseitigen Tötung luzide machen. Diese stellt, ganz wie in v.764f. das Schicksal der Labdakiden-Könige eng verbunden mit dem der Polis war, offenbar weiterhin eine Gefahr für Theben dar - ein erster, unerwarteter Umschlag in dieser Passage, die überleitet zu einem Goos. Hier nun ist der 102 Ausgerechnet im Strophenpaar g , das den Urgrund der Trilogie, die Zeugungstat des Laios, mit dem Augenblick des Wogenschwalls so eng verknüpft, häufen sich wieder Dochmier. Für T HALMANN (1978) ist der Beginn dieses II. Stasimons, „the vision born of sudden understanding“ in „wild Ionics“, sogar „the high point of the chorus’s fear.“ (104). Doch sollte dieses plötzliche Bewusstwerden nicht psychologisierend allein auf den Chor als Person hin gedeutet, sondern primär bezüglich des Verstehensprozesses des Zuschauers gesehen werden. 103 Mit Blick auf Soph.Phil. 3 ... ð krat…stou patrÕj `Ell»nwn trafe…j (von Neoptolemos) kann man das bloße mhtšrwn als genetivus originis fassen, der die rechtmäßige, den natürlichen Fortpflanzungszyklus weiterführende Abstammung anzeigt; vgl. L UPAS - P ETRE (1981) 248. Zur Annahme einer Lücke sh. H UTCHINSON (1985) 174 und die Ausgabe von W EST , der selbst vorschlägt: qarse‹te pa‹dej eÙgenîn teqrammšnai / tîn ™n pÒlei Q»baisin eÙgenest£twn / pÒlij ktl. , ähnlich W ECKLEIN : qarse‹t' ¢r…stwn mhtšrwn teqrammšnai , ohne zusätzlichen Vers. Dass in dieser Weise die edle Herkunft der Chormädchen qualifiziert werden sollte, hat freilich in den Septem keinen Anhaltspunkt; hiermit würde dann der aristokratische Kontext der pindarischen Partheneia durchschimmern. <?page no="217"?> Die Entkoppelung von Genos und Polis 203 Chor durch Selbstreferenzen durchgehend als ritueller corÒj erkennbar, doch bleibt seine weibliche Identität simultan wahrnehmbar. 104 Für die ganze Schlusspartie ab v.792 stellt sich die - von der Forschung kontrovers beurteilte - Frage, ob auch diese Trilogie, wie die Orestie und wohl auch die Danaiden-Trilogie, einen fest definierten Abschluss hat, der vielleicht sogar als ‚versöhnlich’ erscheinen kann, oder ob im Gegenteil eine gewisse Offenheit am Ende steht (die von einer dialektisch geschulten Philologie, die von der Warte der Orestie aus urteilt, als unbefriedigend empfunden würde). Die Spekulation eines open end nährt sich zum einen, ausgehend von v.902f., aus dem bekannten Epigonen-Mythos (den Aischylos auch eigens zumindest in einer gleichnamigen Tragödie Epigonoi und wohl auch einer Trilogie behandelt hat), 105 zum anderen aus der spezifischen Gestaltung der Verquickung von Genos und Polis in Bezug auf das Orakel des Apollon an Laios. Die Ambivalenz der momentanen Situation bringt der Chor selbst in einer kurzen anapästischen Partie zum Ausdruck, deren Echtheit jedoch in Zweifel gezogen worden ist und die daher kein solides Beurteilungskriterium für das Folgende abgeben kann. 106 Bemerkenswert ist hier der 104 In v. 854 ¢ll¦ gÒwn, ð f…lai ist beides zugleich erkennbar. Selbstreferenzen in vv.825- 28 (falls authentisch), 835 ( mšloj ), 854-56, 900 (die ganze Stadt klagt), 917f. ( gÒoj ), 953f. (Siegesgesang der 'Ara… ); feminine Formen: 792, 808, 854, 920. Vgl. oben S.157f. 105 Das Verspaar 902f. in Antistrophe b lautet e.g. bei W EST : mšnei / ktšana d' ™pigÒnoij , doch handelt es sich wahrscheinlich um eine Interpolation, da keine Responsion zur Strophe b möglich ist, so dass W EST zuvor, nach v.890, eine Lücke annimmt; außerdem ist der von W EST übernommene Text bereits eine Zurechtschneidung der handschriftlichen Überlieferung. Während man in der neueren Forschung nicht mehr geneigt ist, hier spezifisch ‚die Epigonen’ zu verstehen, wie etwa W ILAMOWITZ -M OELLENDORFF (1914) 84, ist auch der Kompromiss, den Text zu halten und inhaltlich mit einem offenen Ende der Trilogie in Übereinstimmung zu bringen, abzulehnen: ™p…gonoi „allgemein als ‚Nachkommen’ “ zu verstehen, und zwar als „eine Anspielung darauf ... , daß die Schwierigkeiten für Theben nicht vorbei sind, sondern auch noch der nächsten Generation drohen“, weil „die Zuschauer ... aus der mythischen Tradition ... von der Zerstörung Thebens durch die Epigonen“ wussten (F ÖLLINGER (2003) 173f.), ist mit Blick auf den unsicheren Text ein interpretatorischer Zirkelschluss. Im Mythos von Eteokles und Polyneikes die Vokabel ™p…gonoi zu verwenden wäre bei jedem Dichter eine höchst eindeutige Evokation, der man eine bewusste Intention unterstellen müsste und die nicht eine „vage Anspielung“ sein kann, an der „sich kaum ein Zuschauer ... gestört haben“ (ebd. 176) solle. Auch ist dem Text, sollte er echt sein, nicht zu entnehmen, dass hier von einem „Streit um die ktšana “ (ebd. 175) die Rede ist: Vielmehr wäre die Aussage ein Paradoxon - irgendwelche ‚Nachkommen’ in Theben bekämen später ganz problemlos das, worum die Brüder bis zum Tode gekämpft hätten, während diesen selbst ihr Kampfobjekt entginge: ... tîn meg£lwn ped…wn ¢mo…rouj (733). Zur Ablehnung der ‚Epigonen-These’ sh. H UTCHINSON (1985) 185f. Über die Epigonen-Trilogie des Aischylos sind kaum Aussagen möglich; vgl. M ETTE (1963) 43. Dass beim selben Autor einmal der Mythos mit dem Tod der Brüder zu Ende ist, das andere Mal aber noch nicht wäre, würde nur von der Variabilität des antiken Mythos zeugen. 106 Nach V ERRALL von P AGE athetiert, von H UTCHINSON (1985) 184-86 und W EST unter einigen Konzessionen verteidigt. Doch berührt die Echtheitsfrage unsere weitere Inter- <?page no="218"?> Septem 204 selbstreferentielle Bezug des corÒj in der dichotomischen Wahlfrage: pÒteron ca…rw k¢pololÚxw ... À toÝj ... klaÚsw polem£rcouj; (825-28). Ein Freudenlied über die Rettung der Polis, wie die abschließende Ololyge der Eumeniden, hätte den Zuschauer wohl vor den Kopf gestoßen. 107 Die Entscheidung für das Weinen ist, ob die Anapäste nun echt sind oder nicht, mit dem wieder genuinen Strophenpaar unmittelbar vor dem Hereinbringen der Leichname jedenfalls gefallen: ð mšlaina kaˆ tele…a gšneoj O„d…pou t' ¢r£, kakÒn me kard…an ti perip…tnei kkrÚoj . œteuxa tÚmbJ m mšloj qui¦j aƒmatostage‹j nekroÝj kluoàsa dusmÒrwj qanÒntaj: à ddÚsornij ¤ de xunaul…a dorÒj . (832-39) Der selbstreferentiell angekündigte, im Moment beginnende Grabgesang stellt eine Reaktion dar auf den schockartigen Schauder, welcher Affekt als Folge der Erkenntnis des Fluches von Oidipus eintritt. An drastischer Anschaulichkeit lassen die Bilder der rasenden Mänade, mit der sich der Chor selber vergleicht, und der blutbesudelten Leichname nichts zu wünschen übrig. Es folgt die Antistrophe, in der nun diejenigen Bemerkungen fallen, die für die Beurteilung des Schlusses der Septem, so wie ihn offenkundig auch der Zuschauer gemäß der vom Chor vorgegebenen Perspektive rezipieren soll, relevant sind: ™xšpraxen, oÙd' ¢pe‹pen patrÒqen eÙkta…a f£tij: boulaˆ d' ¥pistoi La ou di»rkesan. mšrimna d' ¢mfˆ ptÒlin: qšsfat' oÙk ¢mblÚnetai. „ë polÚstonoi, tÒd' ºrg£sasq' ¥piston: Ãlqe d' a„akt¦ p»mat' oÙ lÒgJ. (840-47) Die entscheidende Frage ist hier, wie v.843f. - im Rückblick auf die Reflexion des Chores vv.742-52 - zu interpretieren ist: „Jammer ist ringsum in der Stadt“, oder aber: „Ich sorge mich um die Stadt“. Den v.844, „Göttersprüche werden nicht stumpf“, muss der Zuschauer eindeutig auf das Orakel Apollons beziehen, gegen das Laios ungehorsam war ( boulaˆ ¥pistoi ). Mit der schon von der älteren Forschung vertretenen und von S IER wieder verteipretation weniger, da diese nirgends zwingend von diesem anapästischen Auftakt (ähnlich vor lyrischen Versen Ag. 355-67 und Pers. 623-32) abhängig ist. 107 Der Chor könnte ja auch, so S EECK (1984) 28, sich über den Tod von Polyneikes freuen (oder nur den von Eteokles betrauern). <?page no="219"?> Die Entkoppelung von Genos und Polis 205 digten Auffassung würde der Chor nun trotz des Unterganges des Genos weiterhin für die Stadt fürchten. In der Tat sind vv.742-52 das Orakel und die Strafe für dessen Übertretung deutlich geschieden; Apollon hatte explizit lediglich die Bewahrung der Polis durch Kinderlosigkeit des Laios prophezeit, nicht aber den Untergang des Genos, der erst „als eine im Handlungsverlauf schrittweise sich abzeichnende Folge der Mißachtung des Orakels gesehen war.“ S IER folgert weiter: „So eng aber auch das Schicksal Thebens mit dem des Herrscherhauses verflochten ist, unterliegen beide doch jeweils eigenen Bedingungen. Die Sorge des Chors um die Stadt ist durch das O r a k e l an Laios (748f.) genährt, während sich im Untergang der Brüder die V e r f e h l u n g des Laios auswirkt, vermittelt durch die Kausalität des Oedipus-Fluches.“ 108 Die unkalkulierbare Zukunft Thebens sei damit eine Kontrastfolie zur Abgeschlossenheit der Katastrophe des Genos. Obwohl auch der sehr schlechte Textzustand (abgesehen von dem unechten Ende nach v.1004) die philologische Sachlage noch verkompliziert, sollten sich die intentionalen Überlegungen des Aischylos rekonstruieren lassen. Gerade im Rahmen unserer methodischen Vorgaben kann sich die - aus verschiedenen Gründen überzeugende - Auffassung von S IER , dass nämlich mšrimna hier die (weitere) S o r g e des Chores meint, zusätzlich untermauern lassen. 109 Doch werden auch darüber hinaus noch Fragen zu stellen sein, die diese Interpretation modifizieren können. Dass ein Chor als Mittel der Rezeptionssteuerung seine Meinung ändern kann, auch rasch, ist völlig natürlich und plausibel: Wird dem Zuschauer zunächst, vom Boten und möglicherweise in den Anapästen auch vom Chor selbst, die Rettung der Stadt durch den frischen Sieg der Thebaner luzide als ein im hic et nunc unwiderlegbares Faktum vermittelt, so entfernt sich der Chor im Zuge seines Grabgesanges von dieser präsentischen Situation wieder und erinnert den Zuschauer erneut an Laios und das Orakel. Diese Mitnahme des Zuschauers kulminiert in der über nur zwei Verse gehenden Schlussfolgerung, dass für die Polis doch nicht alles im Reinen ist: Ein Mechanismus von Affekt und Reaktion (in Form einer Fokalisation), der innerhalb von 50 Versen (Botenauftritt - Grabgesang) eine neuerliche, völlig unerwartete Zuspitzung der tragischen Handlung bedeutet. 108 S IER (1991) 2f.; zuerst W ILAMOWITZ -M OELLENDORFF (1914) 83; im Ansatz S OLMSEN (1937) 207; weiter R OSE (1957) 232, S EECK (1984) 34 und F ÖLLINGER (2003) 174f. (allerdings mit wenig überzeugender Stoßrichtung in Bezug auf die ‚Epigonen’, sh. oben Anm.105). 109 Schon allein der Beginn des I. Stasimons mit v.290 mšrimnai legt die Bedeutung ‚Sorge’ auch hier nahe - dieser Affekt ist eben typisch für diesen Chor; vgl. bei Aischylos weiter Pers. 165 und Ag. 99, 460, 1531. Die Befürworter der anderen Bedeutung ‚Jammer’ (zuerst K LOTZ (1917-19) 619f., gefolgt von D AWE (1974) 212 Anm.31, D ILLER (1975) 36f., L UPAS / P ETRE (1981) 257, H UTCHINSON (1985) 187) müssen für örtliches ¢mf… im Sinne von ‚rundum, überall in’ auf Homer zurückgreifen (Il. 11,706); bei Aischylos mit Akkusativ sonst entweder circa (so Sept. 152) oder ad (vgl. I TALIE s Index s.v. ¢mf… ); sh. weiter im Detail S IER (1991) 5f., auch zu dem ansonsten nur schwer erklärbaren Asyndeton in v.843f. <?page no="220"?> Septem 206 Stilistisch betrachtet entspricht die Gestaltung der umstrittenen Verse den von großer Unsicherheit zeugenden Äußerungen des Chores im Agamemnon, wo vv.248-57 Vers für Vers mehrere einzelne Aussagen jeweils mit dš parataktisch aufeinander folgen: Mit diesen immer nur im Ansatz durchgeführten Abwägungen, Feststellungen und Überlegungen soll jeweils die unklare Situation erfasst werden, doch steigern sie für den Zuschauer nur den Eindruck der Unbestimmtheit der Zukunft: 110 tÕ mšllon d' / ™peˆ gšnoit' ¨n klÚoij: prÕ cairštw (Ag. 251f.) könnte auch der Chor der Septem mit Blick auf die Polis singen. Wenn dergestalt mšrimna die Sorge des Chores bezeichnet, so markieren das von den Brüdern vollbrachte ¥piston („Unglaubliches! “) und das „nicht mit Worten zu beklagende Unglück“ eben diese Unfassbarkeit und Unsicherheit. 111 Der Bruderkampf w a r nicht nur dÚsornij (838), „Unglück bedeutend“, für den eigenen Tod, sondern i s t es auch für die Zukunft der Polis. Das krÚoj (834) meint nicht bloß Trauer um das vollendete Schicksal des Genos („grief“), sondern ist als schreckhafter „horror“ der Auftakt zu einer plötzlichen Erkenntnis künftiger, doch unbestimmter Bedrohung. 112 Aber es ist nur eine diffuse, relativ kurze, jedoch höchst affektiv vermittelte Andeutung. Denn bis zum nahen Ende der Tragödie singt der Chor nirgends mehr von dieser weiteren, möglichen Gefährdung der Polis - aber ebensowenig von deren zumindest im Moment offenkundiger Rettung. Angesichts seiner zuvor so breit ausgesponnenen Angst vor einem Miasma, das doch jetzt eingetreten sein müsste, wäre diese Thematik perfekt geeignet gewesen, dem Zuschauer eine in der Zukunft auf Theben lastende Hypothek zu vermitteln. Aber über das Miasma fällt kein direktes Wort - es sei denn, man sieht in der sprachlichen Gestaltung Reminiszenzen an die Miasma- Problematik von zuvor. Die mit der bedeutungsschweren Vorsilbe aÙtogebildeten Formen aÙtoktÒnoj (681), aÙt£delfon aŒma (718), aÙtoktÒnwj (734) und aÙtod£ ktoi (735) fallen zuvor allesamt in miasmatischem Kontext und werden von aÙtoktÒnwn (805, Bote) und aÙtÒfona (850) fortgesetzt; weiter in diese Richtung weisen aƒmatostage‹j (836) und ™n d ga…v ... fonorÚtJ (937f.). 110 Sh. unten S.309f. 111 Was S IER als Dichotomie von Abgeschlossenheit im Genos und Offenheit für die Polis sieht, lässt sich auch sprachlich nachweisen: ™xšpraxen, oÙd' ¢pe‹pe, di»rkesan, e„rg£sasq' , Ãlqe für das Genos stehen präsentisch ¢mblÚnetai und mšrimna gegenüber. ¥pistoi in v.842 und ¥piston in v.846 vorderhand mit „illoyal“ übersetzen (so F ÖLLINGER (2003) 174f.), um damit das polisschädigende Verhalten des Laios und seiner beiden Enkel bezeichnet zu sehen, überzeugt nicht: Einmal ist es der „Ungehorsam“ des Laios gegenüber Apollon (vgl. parbas…an , 743), was nicht von vornherein eine Illoyalität bedeutet; das andere Mal, in einem bewussten Wortspiel, meint es die Monstrosität des Brudermordes (vgl. R OSE (1957) 232), eben dessen „Unglaublichkeit“. In v.876 kann f…lwn ¥pistoi dann auch den ‚Ungehorsam’ des Eteokles im II. Epirrhema gegenüber dem Chor bedeuten, der ja dem König durch fil…a verbunden ist. 112 So die Übersetzung und Erläuterung von R OSE (1957) 231; vgl. für entsprechende Ambivalenzen Prom. 695 ( pšfrik' , der Chor über Io) und Aristoph.Ach. 1191 ( stuger¦ t£de ge kruer¦ p£qea ). <?page no="221"?> Die Entkoppelung von Genos und Polis 207 Eine explizite Wiederaufnahme der Miasma-Problematik fehlt jedoch. Stattdessen augenfällig ist der Eindruck der völligen Abgeschlossenheit der Genos-Problematik, deren Auflösung sich im Detail direkt neben diejenigen Signale stellt, die beim Zuschauer Argwohn hinsichtlich des Miasma erwecken könnten: So ist ™n d ga…v ... fonorÚtJ eingerahmt durch pšpautai d' œcqoj und pikrÕj lut¾r neikšwn ktl. (937-46). Im vergossenen Blut sind beide Brüder als Ómaimoi vereinigt. Und als die Leichen gebracht werden, beginnt der Chor: t£d' aÙtÒdhla: preptÕj ¢ggšlou lÒgoj: dipla‹n mmer…mnain d…dum' † ¢norša † kak£: aÙtofÒna d…mora tšlea t£de p£qh. t… fî; t… d' ¥llo g' À pÒnoi ddÒmwn ™fšstioi; (848-51) Dem ‚gefährlichen’ aÙtofÒna folgt tšlea . Auf diese Weise wird das neutralisiert, was eine rein logische Erklärung ohnehin schlussfolgern muss: Für ein durch die Tötung eines Bruders eingetretenes Miasma kann der andere nicht einstehen (und somit seine Gemeinschaft nicht betroffen sein), weil er sogleich und zugleich gebüßt hat. 113 Und die unschlüssige Frage: t… fî; scheint zunächst die Unsicherheitssituation und die t…- Fragen der Parodos zu repetieren (99, 156; vgl. 297), denn der Chor steht noch unter dem Eindruck seiner ‚ mšrimna -Strophe’: Wohl nicht umsonst fällt gleich ein zweites Mal dieser, stets eine emotionale Involvierung des Sprechers anzeigende Begriff, nun als Adresse an die sichtbaren Leichen der Brüder, die der „doppelte Gegenstand der Sorge“ sind - der mšrimna um die Stadt, die ja schon in der nur scheinbar so naiv geäußerten Angst des Chores nach der Botennachricht angeklungen war. Aber mit der nun rhetorischen Frage in v.851 bahnt sich ein folgenschwerer Umschwung an: Es ist „Nichts anderes als Leid, das auf dem Herd d e s H a u s e s sitzt“ 114 - dieses Haus ist aber jetzt zerstört. Bezeichnend ist nun 113 Vgl. C AMERON (1971) 43 und 47f. sowie L ENZ (1981): „Die Ara verlangt das Miasma und läßt es dann büßen. Das ist hier tragisch.“ (436). Allenthalben finden sich Hinweise auf die Reziprozität und gegenseitige Aufhebung des somit völlig gleichen Brüderschicksals (849f., 894, 899, 906f., 930f., 933, 940; man beachte den Dual ™rx£thn 922), die vor allem auch in der vermutlichen Aufteilung des Chores in zwei Halbchöre, auch noch in der lyrischen Stichomythie nach dem formalen Ende des Goos höchst sinnfällig wird (sh. hierzu die detaillierte Analyse von D ILLER (1975) 37-39). Die gemeinsame, sich jeweils ergänzende Betrauerung durch Antigone und Ismene (961-74, 989-1004) ist aller Wahrscheinlichkeit nach interpoliert, doch dürfte auch dieser gegenstrebige und doch in sich zusammenstimmende Gesang nach Art einer coincidentia oppositorum ursprünglich auf Halbchöre verteilt gewesen sein (vgl. die Bemerkungen von W EST im Apparat). Das gemeinsame Geleit in zwei doch getrennten Zügen bringt S EECK (1984) 29 im Rahmen seiner Strukturanalyse zu dem paradoxen, aber insgesamt zutreffenden Fazit, das Stück ende weder offen noch geschlossen. - Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist der Rückgriff auf die Ôlboj -Thematik des II. Stasimons in v.949f.: ØpÕ d sèmati g©j / ploàtoj ¥bussoj œstai. 114 Für diesen Text (anstatt pÒnoi pÒnwn ) sh. H UTCHINSON (1985) 188 mit Verweis auf Ag. 427. Für v.848f. ist hier der Text von P AGE gewählt. <?page no="222"?> Septem 208 das weitere Vorgehen des Chores: In deutlicher Absetzung, ja vielleicht Ablenkung von der eigenen Unruhe beginnt mit ¢ll¦ gÒwn, ð f…lai ktl. (854) das chorische Ritual des Goos (875-960), in dem der Chor auf seine ‚Ruder-Gestik’ verweist, welche die beiden quasi auch als Tote bedrohlichen Brüder über den Acheron hinüber in das dunkle Abseits des Hades befördert. In vv.915-20 wird dann diese propomp» im Goos mit dem Affekt Trauer verknüpft. 115 Dieser Fergendienst gestaltet sich für den Zuschauer im konkreten Sinn als Ab-Gesang auf das Genos, das aus der Polis entfernt wird - sinnfälliger Ausdruck der Entkoppelung beider Sphären. Das Überleben der Polis offenbart sich im Ritual des Chores, dem das letzte Wort bleibt, indem er sozusagen die übliche Praxis der Entfernung eines Blutbefleckten selbst vornimmt. Obwohl die negativen Auswirkungen des Genos auf die Polis noch vereinzelt anklingen, 116 ist der für den Zuschauer unüberhörbare Haupteindruck doch derjenige eines vollkommenen Abschlusses, womit das Genos sein Telos erreicht hat: „ë pollo‹j ™panq…santej pÒnoisi gene£n: { pÒnois… ge dÒmouj } teleut´ d' a†d' ™phl£laxan 'Araˆ tÕn ÑxÝn nÒmon, tetrammšnou pantrÒpJ fug´ gšnouj: ›stake d' ”Ataj trÒpaion ™ ™n pÚlaij ™n aŒj ™qe…nonto, kaˆ duo‹n krat»saj œlhxe da…mwn . (951-60) Man kann nun sagen, dass der Chor, der am Ende der Septem dieses Resümee zieht, den schrillen Siegesgesang der Flüche und die komplette Verjagung des Genos in seinem Goos selbst durchführt. Nach der ausführlichen, nochmaligen Evokation des Fluchgeschehens kommt der Chorgesang zu einem Ende, so wie der Daimon siegreich zum Ruhen gekommen ist. Ein Telos, wie vom Chor in der Parodos vorausgesehen, und eine ‚Auflösung’, wie dort erhofft (134), ist also in der Tat auch im Plot eingetreten (vgl. lut»r , 941). Dass Ate ihr Siegeszeichen am Tor des Kampfes aufgestellt hat, ist ein plastisches Bild dafür, dass ihre Zerstörungskraft eben n i c h t in die Polis eingedrungen ist, sondern gerade an der Scheidung zwischen Außen und dem heil gebliebenen Innen zum Stehen gekommen ist. Andererseits eignet dieser Tatsache auch eine gewisse Ambivalenz - bedroht die Ate nicht viel- 115 Vgl. die Kapitel Ausstoßungsimpuls und Angst vor der Leiche in der Studie zu Exkommunikation und Reintegration in der frühgriechischen Kultur von B AUDY (1980), 129-32 und 132-34. 116 f…lwn ¥pistoi kaˆ kakîn ¢trÚmonej (876, wohl das Ungehorsam gegenüber dem Chor und Bezeichnung einer Unersättlichkeit im Leid, das auch die Mitbürger betrifft); di»kei d kaˆ pÒlin stÒnoj ... stšnei / pšdon f…landron (899-901, wohl die Kriegsverluste); vgl. D ILLER (1975): „Das Leid, das ... nun über seine Nachkommen [sc. des Oidipus] und damit über die ganze Stadt gekommen ist, wird dadurch ... endgültig festgestellt.“ (39). <?page no="223"?> Die Entkoppelung von Genos und Polis 209 leicht die Polis weiterhin, wenn sie ihr so nahe beigerückt ist? -, die die mšrimna des Chores, der mit diesem Genos ‚fertig’ ist, weiterhin nähren mag: Es handelt sich um eine ‚Stunde Null’, in der ein bestimmtes Stadium der Geschichte Thebens nun völlig zu Ende ist, in der aber Unsicherheit über den Neuanfang herrscht. Gleichwohl ist dieser Neuanfang weder belastet von einem Miasma noch von der Existenz der Epigonen: Sie werden ebenso wenig im Mythos nachgeboren wie weitere Nachkommen der Labdakiden. Den Goos, den Ab-Gesang auf die Labdakiden, hat wohl ein Interpolator, von der Orestie beeinflusst, als Ûmnon 'ErinÚoj (868) gesehen - nicht zu Unrecht. 117 Denn am Ende intoniert der Chor in einem zweifachen Refrain in pointierter Form die immense Wirkkraft der Erinnye, der Moira und des Vaterfluches, wo keinerlei Heilung möglich ist: „ë Mo‹ra barudÒteira moger¦ pÒtni£ t' O„d…pou ski£, mšlain' 'ErinÚj, à megasqen»j tij e . (975-78 = 986-88) Im Chorgesang wird diese Macht- und Kraftentfaltung der außerolympischen, dämonischen Herrschaftssphäre generiert, 118 und vielleicht um diese Wirkkraft in einheitlicher, definierter und geschlossener Wucht auf den Zuschauer einschlagen zu lassen, hat Aischylos das eher diffuse Ergebnis für die zunächst einmal g e r e t t e t e , aber offenbar nicht unbedingt in alle Zeit b e w a h r t e Polis schon am Beginn des Goos abgehandelt, dann aber auf diese Offenheit nicht weiter explizit hingewiesen. Die olympischen Götter, die zuvor als Schutzgottheiten Thebens angerufen wurden, fehlen am Ende völlig. Von den Schlussworten der Orestie her betrachtet - ZeÝj pantÒptaj / oÛtw Mo‹r£ te sugkatšba: / - ÑlolÚxate nàn ™pˆ molpa‹j (Eum. 1045-47) - ist die hier am Ende stehende Dissoziation augenfällig: Nicht die freudige Ololyge, vermittels derer die chthonischen Erinnyen integriert werden und in welche die Polis Athen, wie sie im Theater versammelt ist, einstimmen kann, wird hier am Ende gesungen, sondern der durch und durch düstere Erinnyen-Hymnos erklingt in Theben, über dessen Zukunft offenbar keine definitive Aussage möglich ist. 117 Vgl. Ag. 991, 1191, Eum. 306, 331f., 344. 118 Damit ist der Chor auch von seinem Glauben abgerückt, die Erinnye sei durch Opfer zu besänftigen, das heißt aufzuhalten (699-701); vgl. schon t¦ d' Ñlo¦ oÙ paršrcetai (768). Für S OLMSEN (1937) überlassen die olympischen Götter, besonders Apollon, Eteokles „to the powers of the old religion“ (204). <?page no="224"?> 210 III. Hiketiden 1. Die Danaiden in der Forschung: Ein vergessener Chor Die Tatsache, dass in den Hiketiden das persönliche Schicksal der Töchter des Danaos auf dem Spiel steht und der aus ihnen gebildete Chor dementsprechend stark in die Handlung eingebunden ist, hat in der Forschung nahezu unisono dazu geführt, den Chor einfach so zu behandeln, als sei er eine weitere dramatis persona. Ob die einzelnen Interpretationen ihre jeweiligen thematischen Schwerpunkte in jüngerer Zeit auf Hikesie, Ritual, Rhetorik, Politik, Ideologie oder Zeitgeschichte legen 1 - die spezifische Qualität auch dieses Chores im Hinblick auf die Rezeptionshaltung des Zuschauers wird nur wenig berücksichtigt. Es wird deshalb mit unserer Methodik zu fragen sein, was der Chor für die Entwicklung und die Darbietung des tragischen Konfliktes leistet. Hierbei ist schon vorab darauf hinzuweisen, dass die tragische Figur der Hiketiden zweifellos Pelasgos ist, der durch die Hikesie der Danaiden in eine Entscheidungssituation von großer Tragweite auch für die Polis Argos gezwungen wird. Dabei steht Pelasgos in einem Spannungsverhältnis zu nicht weniger als drei Gruppen: Zu den Töchtern des Danaos, zu den Söhnen des Aigyptos und zu seiner eigenen Polis, welche als large off-stage group im Hintergrund präsent ist. Eine gewisse Schwierigkeit betrifft die Frage, wer in den Hiketiden eigentlich der ‚Protagonist’ ist, beziehungsweise, mit welchem literaturwissenschaftlichen Terminus man diesen sicherlich besonderen Chor weiter definieren soll. 2 Der Terminus ‚Protagonist’ ist in Anwendung 1 B ERNEK (2004) 45-67: Hikesie, Dramaturgie und Ideologie; F ÖLLINGER (2003) 181-235: Genealogierelation; G ÖDDE (2000): Ritual und Rhetorik (wo der Chor einfach eine Person ist und nicht auf die spezifische Verbindung von Chor qua corÒj und Ritual eingegangen wird, wie dies zu Recht M URNAGHAN (2005) unternimmt); G RETHLEIN (2003) 45-107: Asylbeziehungen im Stück, Darstellung der Demokratie und historischer Hintergrund; R OHWEDER (1998): Der Ehekonflikt als Machtkonflikt und die Zeitgeschichte. Als Geschlechterkonflikt deuteten die Hiketiden eine Reihe von Arbeiten seit den Sechziger Jahren, so VON F RITZ (1962), L LOYD -J ONES (1964), S TOESSL (1979), K RAUS (1984), Z EITLIN (1992). Vgl. auch den kritischen Forschungsüberblick bei F ÖLLINGER (2003) 191-94. 2 Als repräsentativ sei aus zwei zentralen Monographien zitiert: „In den Hiketiden ist das Schicksal des Chores das Drama selbst. Wie sehr er die Hauptperson ist, wird nirgends klarer als in seinem Ringen mit Pelasgos: sein Vater Danaos steht stumm dabei, nicht viel anders als Joseph bei der Anbetung des Kindes.“ (K RANZ (1933) 167); „The chorus is virtually the protagonist, more than half of the play consists of lyrics“ (G ARVIE (1969) 88); vgl. aber auch G ARVIE s Differenzierung: „If in the dramatic sense the Chorus is the protagonist of this play, in the purely technical sense it must be Pelasgus.“ (130), da dieser sozusagen dem ersten Schauspieler des Thespis entspreche. Auf die Problematik hat auch C ONACHER (1996) hingewiesen: „Is it possible for a play to have more than one ‚protagonist’, in the sense of that dramatic personality (whether of individual or of <?page no="225"?> Ein vergessener Chor 211 auf einen Chor geradezu paradox, berücksichtigt man die fachsprachliche Verwendung von Ð prwtagwnist»j. 3 Eher könnte man unter Berücksichtigung von Modellen der neueren Dramenforschung dazu neigen, die Danaiden als die ‚Hauptperson’ zu bezeichnen, um die sich das Stück (das heißt zugleich auch der Mythos, wie er außerhalb des Theaters existiert) dreht - andererseits handelt es sich aber nicht um ein einzelnes Individuum, sondern um eine kollektive Personeng r u p p e , welche wiederholt explizit als eine solche identifiziert wird. 4 Zweifellos kommt aber den Danaiden schon qua Chor die ‚dominante Figurenperspektive’ zu, mit der sie gleichsam als ‚Zentralfigur’ den Zuschauer stärker lenken als jede der dramatis personae. 5 a group) with which the dramatic action of the tragedy is most concerned? “ (77). In diesem Zusammenhang hat I RELAND (1974) die Theorie von der Doppelrolle des tragischen Chores zu bemühen versucht: In den Trimeterpartien und im Epirrhema 348-437 sei der Chor „protagonist of the action“, um die Handlung voranzutreiben, in den Stasima mit „emotional content“ hingegen fungiere er als „chorus proper“ (17). Die zentrale Stellung des Chores galt vor der Entdeckung von POxy 2256 fr. 3 im Jahre 1952, als eine Datierung auf die späten Sechziger Jahre möglich wurde (wahrscheinlich auf das Jahr 463; für einen neuen, allerdings spekulativen Vorschlag, nämlich 461, sh. S OMMERSTEIN (1997) 74-79: Gespiegelt würden die Ereignisse um Kimon und den spartanischen ‚Flüchtling’ Perikleidas), als Ausweis der Urform der Tragödie: Das vermeintlich älteste Exempel, noch vor den Persern angesetzt, wurde in Nähe zum handlungsarmen Dithyrambos gesehen; dessen fünfzig Choreuten - dieselbe Anzahl wurde auch grundsätzlich für die frühe Tragödie angenommen - konnten natürlich gut mit der gleichen Anzahl der Töchter des Danaos, wie sie im Mythos überliefert ist, identifiziert werden (so etwa L AMMERS (1931) 20f.; vgl. die weiteren Nachweise bei G ARVIE (1969) 207f. Anm.9). M URRAY konstruiert in seiner OCT-Ausgabe von 1955 (zuerst 1937) die Personenkonstellation der Hiketiden als Zusammenfügung dreier Chöre jeweils mit Exarchos: Danaos und die Danaiden, Pelasgos und die Argiver (diese stumm), der Herold und die Aigyptiden (deren Auftritt vv.825-71 in der Tat wahrscheinlich ist); hinzu komme am Schluss ein Nebenchor der Dienerinnen (was in der Forschung umstritten ist). 3 Zur Semantik und Wortgeschichte von Ð prwtagwnist»j sh. P ICKARD -C AMBRIDGE (1968) 132-35. Es bezeichnet den einzelnen Schauspieler, der die Hauptrolle hat und der sich im Agon der Theateraufführung anstrengen muss, und übertragen den Anführer ebenfalls in ‚Wettkampfsituationen’; beides auch gegenüber einem als deuteragwnist»j bezeichneten Unterstützer. 4 Sh. unten Anm. 19. 5 Zur Terminologie sh. H OSE (2000) 29-32. Allerdings rechnet H OSE die Hiketiden zu einem „Typ 2“ von Tragödien, der „nicht um eine bestimmte Person gelegt ist“ (31), anders als etwa die Choephoren, wo Orest im Mittelpunkt stehe. - Ausgehend von der Terminologie von H OSE (der diesbezüglich die Verwendungsweisen der Figurenperspektiven bei Sophokles untersucht, einschließlich derjenigen des Gegenspielers), seien hier kurz einige Überlegungen zu Aischylos gemacht, die zum Teil unseren Einzelinterpretationen vorgreifen müssen. Wie schon bemerkt (sh. oben S.66 mit Anm.152), ist für Aischylos zunächst einmal davon auszugehen, dass dem Chor die ‚dominante Figurenperspektive’ zukommt. In den Persern ist Xerxes die Hauptperson - die Perspektive auf ihn, der erst am Schluss auftritt, wird aber völlig dominiert vom Chor. Nicht anders in den Septem, wo freilich Eteokles seine Ansichten von Anfang an kundtun kann, dies aber weitgehend antagonistisch zum Chor. Im Agamemnon steuert die dramatische Bewegung wie in den Persern auf die Ankunft der Hauptperson zu, die sich <?page no="226"?> Hiketiden 212 Dieses Fokalisationspotential des Chores erhält aber in den Hiketiden eine besondere Note dadurch, dass die Danaiden selbst so stark in das Geschehen involviert sind und möglicherweise - so steht zu vermuten - eine sehr einseitige, subjektiv-beschränkte Sichtweise der Dinge an den Tag legen. Gleichwohl wird zu sehen sein, dass auch dieser Chor eine kommentierende, deutende Funktion hat, die die Perspektive des Zuschauers in eigener Weise lenkt. Und wie sonst auch bei Aischylos bildet der Chor den ‚Boden’ der Tragödie, hier allerdings so, dass sich die tragische Handlung direkt um ihn herum entwickelt, ja sich ‚auf ihm’ abspielt - denn es geht konkret um den Körper der Danaiden. Ohne den Chor wäre die Handlung der Hiketiden natürlich nicht möglich, doch leistet der Chor für die Darbietung dieser tragischen Handlung vor dem Zuschauer auch wieder mehr. In der Gesamtkonstellation weist der Chor einen passiven Status auf, der die Hikesie überhaupt erst erforderlich macht: Hilflose Mädchen, in ihrer körperlichen Unversehrtheit bedroht, müssen sich an einen Schutzherren wenden. Es gilt also deutlich zu unterscheiden zwischen der auf eigene Rettung bedachten Gruppe auf der einen und Pelasgos auf der anderen Seite, der saviour-Gestalt, die zur tragischen Figur wird. 6 Hinzukommt, dass der Chor nicht allein über See aus Ägypten nach Argos kommt, sondern zusammen mit dem Vater Danaos. Der Chor steht also in einer doppelten vertikalen Beziehung zu zwei dramatis personae, die in je verschiedener Weise saviour-Gestalten für ihn sind: Pelasgos als Asylgewährer, Danaos als Stratege des Fluchtplanes, wie mehrfach zum Ausdruck kommt, so gleich zu Beginn: DanaÕj dš, ppat¾r kaˆ boÚlarcoj kaˆ stas…arcoj, t£de pessonomîn kÚdist' ¢cšwn ™pškranen, feÚgein ¢nšdhn di¦ kàm' ¤lion ktl. (11-14) Im weiteren Verlauf tritt Danaos dreimal als Instrukteur für seine Töchter auf, deren ‚Gruppenführer’ und quasi Exarchos er ist, damit der Chor jeweils durch eine Vermeidung von überbordenden Affekten aus einer Haldann aber nur verhältnismäßig kurz zeigt. Der dominierenden Perspektive des Chores, der insbesondere kontinuierlich die Vorgeschichte einblendet, tritt vor allem nach dem Mord diejenige Klytaimestras gleichrangig gegenüber, Gegenspielerin sowohl für Agamemnon als auch für den Chor. In den Choephoren steuert der Chor in hohem Maße die Perspektive des Zuschauers zugunsten der Hauptperson Orest. Für die Eumeniden wird man ebenfalls von Orest als Hauptperson ausgehen müssen - um sein Schicksal geht es ja über zwei Drittel des Stückes hinweg. Der Chor dominiert aber auch hier den Blick des Zuschauers, weil er trotz seiner persönlichen Involvierung, wegen der er zum Gegenspieler Apollons, Athenes und Orests wird, vor allem in den beiden Stasima eine kommentierende Funktion für das Sinnganze der Trilogie hat. 6 Die Danaiden selbst als tragische Figuren mit einem Entscheidungskonflikt hinsichtlich ihrer Bluthochzeit zu deuten (so S ICHERL (1986) 101-10, der für Pelasgos nur ein „Dilemma der zweitrangigen Figur“ (109) behauptet), beruht auf Spekulationen über den weiteren Verlauf der Trilogie. Die grundsätzliche Passivität des Chores der Hiketiden wird richtig betont von B ARTHOUIL (1984/ 85) 209. <?page no="227"?> Ein vergessener Chor 213 tung der swfrosÚnh heraus mit seinen Integrationsbestrebungen zur Überwindung der ihn direkt betreffenden Krise Erfolg hat - vor Pelasgos, bei der Ankunft der Aigyptiden und im Hinblick auf die Zukunft in Argos. Aufgrund dessen hat denn auch die jüngere Forschung zu Recht die Rolle von Danaos, dessen mÁtij (971) durchweg hervorsticht, aufgewertet. 7 Damit aber stellt sich weiter die vieldiskutierte Frage, warum der „Schachbrettspieler“ ( pessonomîn ) Danaos seine Töchter dem Heiratsansinnen ihrer Cousins, der Söhne des Aigyptos, entziehen will, respektive warum die Danaiden selbst die Aigyptiden nicht heiraten wollen. Gegenüber einer Vielzahl früherer Erklärungsversuche, die insbesondere um Bedeutung und Textgestaltung von v.8 aÙtogenÁ fuxanor…an kreisen (wozu unten, S.218), hat S ICHERL (1986) durch die Auswertung von Scholien den geradezu revolutionären Vorschlag gemacht, dass der Grund für die Flucht ein an Danaos ergangener Orakelspruch sei, der ihm die Tötung durch einen Schwiegersohn prophezeit habe. Hintergrund sei ein Herrschaftsstreit zwischen Aigyptos und Danaos. Nach e x p li z i t e n Hinweisen auf dieses Orakel sucht man in den Hiketiden allerdings vergebens, auch wenn einige Stellen mit dieser Annahme einen neuen Sinn bekommen können. Am problematischsten dürfte jedoch, setzt man wie S ICHERL die Hiketiden an den Beginn der Trilogie, die Frage sein, woher der Zuschauer vom Orakel wissen soll, um implizite Anspielungen dahingehend zu verstehen. Einfach die Kenntnis des Mythos vorauszusetzen verbietet sich. Unweigerlich betritt man nun ein schon seit jeher viel beackertes Forschungsterrain: Was ist der Inhalt der beiden anderen Stücke dieser Inhaltstrilogie, der Aigyptioi und der Danaides? 8 Trotz einer Reihe von mehr oder weniger probablen Rekonstruktionsvorschlägen ist keine Lösung absolut stichhaltig und unwiderlegbar. 9 Nicht einmal die Reihenfolge der Stücke kann als gesichert gelten: Während die Forschung lange Zeit von den 7 So F ÖLLINGER (2003) 208-12; G ARVIE (1969) 136 mit Blick auf den weiteren Verlauf der Trilogie - gerade was auch die Planung der Morde in der Hochzeitsnacht betrifft (vgl. W EST (1990) 171). Etwa für W ILAMOWITZ -M OELLENDORFF (1914) ist Danaos nur ein „Annex seiner Töchter“ (13). M URNAGHAN (2005) 190f. sieht in Danaos, nach v.11 stas…arcoj der Danaiden, den Reflex des corhgÒj , ebenso (188) in Hypermestra, die später eine isolierte Sonderstellung gegenüber dem Chor einnehme. 8 Das Satyrspiel Amymone folgte wohl dem auch sonst bekannten Mythos, dass eine Tochter des Danaos beim Wasserholen von einem Satyrn bedrängt und dann von Poseidon gerettet wurde. Aufschlussreich für die thematische Nähe zu den Tragödien ist F 13 (vom Satyrn oder von Poseidon zu Amymone gesprochen): soˆ m n game‹sqai mÒrsimon, game‹n d' ™mo… . Amymone hat in der Gesamtschau auf den Mythos unter den 50 Schwestern eine Sonderstellung wie Hypermestra. - Angemerkt sei, dass schon für Phrynichos die Tragödientitel Aigyptioi und Danaides belegt sind. 9 Für einen Überblick über die schon mit A.W. S CHLEGEL im Jahre 1811 beginnenden Rekonstruktionsvorschläge sh. G ARVIE (1969) 163-233; danach weitere Versuche und Erwägungen von K RAUS (1984), S ICHERL (1986), S TOESSL (1979), W EST (1990) 169-72, R ÖSLER (1993), S OMMERSTEIN (1995), C ONACHER (1996) 104-11, S ANDIN (2005) 9-12 (der neueste Kommentar zu den Hiketiden, der vv.1-523 behandelt); vgl. auch H OSE (2006). <?page no="228"?> Hiketiden 214 Hiketiden als dem ersten Stück, gefolgt von Aigyptioi und Danaides, ausgegangen ist, hat R ÖSLER (1993), später gefolgt von S OMMERSTEIN (1995), auf der Grundlage der Prämissen von S ICHERL die schon im 19. Jahrhundert verbreitete Auffassung vertreten, die Aigyptioi seien das erste Stück gewesen; thematisiert worden sei der Bruderzwist zwischen Aigyptos und Danaos in Ägypten und der Orakelspruch. Dass dann in den Hiketiden von diesem, dem Zuschauer also bereits bekannten, Orakel nicht mehr explizit die Rede ist, insbesondere in der Diskussion des Chores mit Pelasgos (vgl. 333-47, 386-96), führt dann für R ÖSLER zu der zwingenden Annahme von „Feinheiten des Textes“, die nur „für den, der zu hören weiß - die Töchter und mit ihnen der informierte Zuschauer“, für „Eingeweihte“ also, zu entschlüsseln seien; 10 vor allem in der Schlusspartie mit den Ermahnungen des Danaos ergebe sich ein anspielungsreiches Informationsgefälle gegenüber dem anwesenden Nebenchor der argivischen Leibwache (so R ÖSLER ), der dann aber als potentieller Heiratskandidat der Danaiden den Danaos in neue Sorge hinsichtlich des Orakels stürze. In den Danaides werde dann Hypermestra, die anders als ihre 49 Schwestern ihren Bräutigam Lynkeus nicht tötete (so der Mythos), von Danaos angeklagt, aber auf Intervention der Aphrodite hin, aus deren Rede über die Macht des Eros bekanntlich einige Zeilen überliefert sind (F 44), freigesprochen. Diese Interpretation beruht wie alle anderen auf Hypothesen. Was den Effekt auf den Zuschauer betrifft, so dürfte es auch sehr wirkungsvoll sein, wenn der wahre Grund der Flucht im ersten Stück (Hiketiden) zunächst verborgen bleibt und dann im zweiten (oder sogar erst dritten) Stück nachgereicht wird. Dass der letztgültige Grund für Eheverweigerung und Flucht sogar b e w u s s t zurückgehalten wird, darauf hat schon VON F RITZ hingewiesen, womit im Grunde vielen Spekulationen der Forschung bereits der Boden entzogen ist. 11 Zurückgehaltene Kausalitäten, die im Nachhinein das tragische Geschehen erklären, finden sich auch in den Persern (die Aufklärung des Chores durch Dareios über menschliche Hybris und die Erwähnung eines Orakels), im Agamemnon (der erst nach dem Mord zutage tretende Geschlechterfluch) und, ebenfalls im Rahmen einer ganzen Trilogie, in den Septem (der Fluch des Oidipus und der Orakelverstoß des Laios). Vor allem aber wäre es für die Annahme eines Informationsgefälles zwischen den „Eingeweihten“ auf der einen Seite und den Nicht-Eingeweihten auf der anderen Seite (zu denen auch Pelasgos zu zählen wäre) doch wohl erheblich effektvoller, wenn noch v o r dem Auftritt des Pelasgos mit v.234 während der Parodos und insbesondere in der ‚strategischen’ Instruktionsrede des Danaos an den Chor das Orakel erwähnt würde, das es vor Pelasgos zu verschweigen gälte - so würde nicht nur eine orientierende Anknüpfung an den angenommenen Inhalt der zuvor präsentierten Aigyptioi geschaffen, sondern gerade auch die spannungserzeugende Einweihung des Zuschauers vollzogen. Und damit läge eine Art Intrigenhandlung wie in den Choephoren vor; ein zu überlistender Pelasgos entspräche dann Klytaimestra. Bezüglich des weiteren Geschehensverlaufes nach der erfolgreichen Hikesie ist wohl von einem Krieg zwischen den Aigyptiden und Argos auszugehen, in dem Pelasgos - die tragische Figur der Hiketiden - fällt. Dass Danaos dann eine wichtige politische Rolle gespielt haben muss, sieht man daran, dass er sich schon in den Hiketiden mit einer Leibwache ausstaffieren lässt und unterschwellig von Feinden in Argos die Rede ist (983-90, vgl. 492-99); die Leibwache erinnert übrigens an den Tyrannenstatus des Argivers Aigisthos (Ag. 1650f., Cho. 768f.). Danach mag aufgrund der Niederlage 10 R ÖSLER (1993) 11f. 11 VON F RITZ (1962) 160-65 und 181f. <?page no="229"?> Ein vergessener Chor 215 der Argiver Danaos der Hochzeit zugestimmt haben (vielleicht nach einer Auseinandersetzung mit dem Chor der Aigyptiden in den Aigyptioi), mit dem bekannten Ausgang. Mit der Annahme, die Hiketiden seien das zweite Stück, stellt sich die drängende Frage, wie Krieg, Bluthochzeit und die Folgen zusammen in nur noch e i n e m Stück, den Danaides, behandelt werden konnten. - Hinsichtlich Anklage und Freispruch Hypermestras besteht keine communis opinio in der Forschung: Vielleicht wurden umgekehrt die Danaiden angeklagt, dann verurteilt oder aber entsühnt und ein zweites Mal verheiratet. Aber eine bloße Analogie zur Orestie mit einem Prozess im dritten Stück ist kein zwingendes Argument. 12 Was die Gestaltung der anderen beiden Chöre betrifft, so liegt es nahe, in einem als Aigyptioi betitelten Stück die Aigyptiden - mithin einen im Gesamtspektrum des Genos eher seltenen Chor aus jungen Männern (sh. oben S.53) - oder deren wohl schon in den Hiketiden auftretenden Helfer (825-71) zum Chor zu machen. Vielleicht haben dann die Aigyptiden in gleicher Weise wie die Danaiden ihren einseitigen Anspruch geltend gemacht, ohne dass sie aber nun als dermaßen schlecht - triebgesteuert und geistesgestört - erschienen sind, wie sie in den Hiketiden dargestellt werden. 13 Damit könnte ein Zusammenprall der beiden vereinseitigten Standpunkte der Danaiden und der Aigyptiden Kern des Konfliktes sein, dessen Dialektik am Ende beseitigt würde. 14 Den Chor der Danaides müssen nicht zwangsläufig die Töchter des Danaos selbst gestellt haben; auch Argiver als die Leidtragenden des ganzen Konfliktes und, im Falle der Darstellung eines Prozesses, als Juroren wären denkbar. In rezeptionsästhetischer Sicht ist es angeraten, dem Kontinuum des Textes des einen aus der Trilogie erhaltenen Stückes so zu folgen, wie es sich dem Zuschauer darbietet, ohne sich bei der Interpretation auf Hypothesen über ein Vorher und Nachher stützen zu müssen. Der ‚benannte’ Danaidenchor hat im Vergleich mit den anderen ‚anonymen’ Chören des Aischylos zweifellos eine stark individuelle Zeichnung seiner akzidentiellen Rollenidentität, was einhergeht mit seiner Handlungsbeteiligung und dem Faktum, dass die Danaiden in hohem Maße persönlich bedroht sind. Dieser Chor ist auch nicht Segment einer umfassenderen large off-stage group, sondern muss erst in eine solche integriert werden. 15 Die physische Bedrohung der Danaiden und ihr Bestreben, dieser Krise zu entgehen, äußert sich in Affekten, vor allem in dem Gegensatzpaar fÒboj und q£rsoj . Affekte, und besonders die beiden genannten, sind nun aber Spezifikum eines j e d e n aischyleischen Chores und gehören zu dessen essenti- 12 Der Stil der Hiketiden ist aber in manchem näher an der Orestie als an den früheren Stücken, so G ARVIE (1969) 84. - Zu Pindar Pyth. 9, 112-25 sh. unten S.261. 13 So G ARVIE (1969) 196. 14 Vgl. B URIAN (1971) 77f., der die Konfliktlösung darin sieht, dass die Danaiden das männliche Prinzip und ihre natürliche Rolle als Frauen und Mütter akzeptieren; sh. auch unten S.268f. zu Hik. 1071 d…kv d…kan. 15 Bedenkenswert ist die Vermutung von G ARVIE (1969) 139, dass in den Sechziger Jahren des 5. Jahrhunderts das Bedürfnis aufgekommen sei, einen dritten Schauspieler auf die Bühne zu bringen. Dies habe Aischylos zunächst dazu geführt, schon den Chören der Septem und des Prometheus „a life and character of their own“ (139) zu geben, was in den Hiketiden und den Eumeniden noch gesteigert worden sei. <?page no="230"?> Hiketiden 216 ellem Wesen, denn auf diese Weise wird dem Zuschauer die Störung einer Ordnung vermittelt. Die Betrachtung der Affekte des Chores soll sich also im Folgenden nicht darin erschöpfen, hierin einfach den Ausdruck des Charakters panischer und auch wieder zu beruhigender Mädchen zu sehen, als sei diese Gruppe bloß eine weitere dramatis persona (auch als das weibliche other); sondern es gilt, die Affekte in ihrer rezeptionsästhetischen Relevanz daraufhin zu untersuchen, was sie für die Darstellung des tragischen Konfliktes in den Hiketiden leisten. Gegen die Annahme, der Chor sei nur eine dramatis persona, spricht insbesondere auch hier die stark entwickelte Performativität dieses Jungfrauen-Chores, der sich allzu oft als singender, rituell agierender corÒj präsentiert, häufiger als etwa die Chöre der Perser und der Septem. 16 Gemäß unserer Annahme eines Begründungszusammenhanges zwischen Affekt und Reaktion beim aischyleischen Chor ist dann weiter zu fragen, inwiefern sich im persönlichen Kontakt mit den Einzelfiguren und in den Reflexionen der Chorlieder das Bestreben auch dieses Chores abzeichnet, zu einer Beseitigung der schon vor Beginn des Stückes offenliegenden Krise zu gelangen. Die Hikesie mit dem Ziel einer Aufnahme in Argos stellt für das persönliche Schicksal der Danaiden eine Überwindung der Krise, eine Wiederherstellung der Ordnung und ein Heilungsgeschehen dar (das als ein solches auch metaphorisch zum Ausdruck kommt). Aber diese im Plot der Tragödie gemäß dem pattern der Hikesie ablaufende Handlungsstruktur wird überlagert von einer abstrakteren Reflexionsebene, auf der für den Zuschauer seitens des Chores, der durchaus die gewohnte Kommentarfunktion ausüben kann, kontinuierlich deutlich wird, wie sich die erwünschte positive Fortentwicklung in einen theologischen, zeitlich weiter gefassten Rahmen fügt: Es geht hier wesentlich um die Einwirkung von Zeus, dessen Weltgesetz eines gerechten Ausgleichs in den Hiketiden in einer prominenten Weise ähnlich wie im Agamemnon präsent ist. Die zentrale Rolle hierbei spielt die genealogische Verbindung der Danaiden mit Zeus über Epaphos und Io. Deren auf Heilung und Erlösung zulaufende Lebensgeschichte ist der zentrale Orientierungspunkt für den Chor (und für den Zuschauer), was die von den Danaiden angestrebte Lösung betrifft. Diese intensiv verfolgte Intention zieht aber Pelasgos, die tragische Figur der Hiketiden, und die ganze Polis Argos erst in den Konflikt hinein. Hierbei wiederum droht der Boden von Argos, in den der Chor inkorporiert werden will, von einem Miasma befleckt zu werden, das Pelasgos zu vermeiden bestrebt ist. 16 Wie in den Interpretationen zu den relevanten Passagen in der Parodos, im II. Stasimon und in der Verfolgungsszene kurz vor Schluss zu sehen sein wird, hängt diese Wesensmäßigkeit als corÒj nicht in erster Linie zusammen mit dem R i t u a l der Hikesie, das als Substrat dem gesamten Plot zugrunde liegt und dem Stück auch den Titel gibt (vgl. hingegen den Titel Danaides), sondern mit der ‚Hellenisierung’ der Danaiden, die zunächst einmal als b£rbaroi gelten, aber durch ihre performative Präsenz als corÒj der song-and-dance culture die vom Zuschauer empfundene Fremdheit zu überwinden suchen. <?page no="231"?> Das ambivalente Wesen des Chores in der Parodos 217 2. Das ambivalente Wesen des Chores in der Parodos: Hellenisierung und Be-Fremden 2.1 Der Chor zwischen Ägypten und Argos (anapästischer Teil) Falls die Hiketiden das erste Stück der Trilogie sind, so bietet die Parodos dem Zuschauer sogleich in ihrem anapästischen Teil (1-39) alle notwendigen Informationen, um die Situation des Chores zu verstehen. 17 Das allererste Wort gilt Zeus, der in dieser Tragödie so oft genannt wird wie sonst nirgends bei Aischylos. 18 Hier erscheint er zunächst als ZeÝj ¢f…ktwr , als Schutzgottheit der Hikesie - er soll jedoch auch als Ahnherr der Danaiden und überhaupt als die oberste, gerechte Gottheit das Heilsgeschehen für den Chor garantieren. Dieser wird für den Zuschauer sogleich als geschlossene, aber sich bewegende Gruppe erkennbar: stÒlon ¹mšteron (2). 19 In keinem anderen aischyleischem Stück sind Gruppen auf der Bühne und im Hintergrund so präsent und wichtig wie in den Hiketiden, in denen ein ständiges Kommen und Gehen von Gruppen vor sich geht: Neben den Danaiden, die als Boden auch dieser Tragödie natürlich durchgehend anwesend sind, sieht der Zuschauer Pelasgos mit Gefolge, den ägyptischen Herold mit seinen Schergen, Danaos mit einer Leibwache - und die Dienerinnen der Danaiden, die wohl schon von Anfang an mit in der Orchestra sind, aber erst ganz am Schluss zum Leben erwachen. 20 Sogleich angeschlossen wird der Herkunftsort der Danaiden-Schar, die sich in geordneten Anapästen formiert: Das Nildelta in dem an Syrien grenzenden Ägypten (3-5). Der Zuschauer wird erst in v.15 erfahren, dass der Schauplatz dieser Tragödie, an dem der Chor im Moment ankommt, eine griechische Polis, Argos, ist. Zunächst öffnet sich ihm der geographische Blick auf einen fremden Boden, dessen Angehörige auch visuell als dunkelhäutige b£rbaroi erkennbar sind (vgl. 121f., 132f., 154f.), wie es dann auch der erste Grieche auf der Bühne, Pelasgos, später beschreibt (234-37). Diese Spannung zwischen Griechischem und Fremdem wird das ganze Stück 17 Vgl. S ANDIN (2005) 41. 18 F RIIS J OHANSEN / W HITTLE [fortan FJ-W] (1980) II 5 zählen 55 Belege, das heißt im Durchschnitt alle 20 Verse ein Beleg; übertroffen nur noch im Prometheus (63 Belege, alle 17 Verse einer); die weiteren Stücke: Perser 5 (nur alle 215 Verse), Septem 25 (alle 44), Agamemnon 28 (alle 60), Choephoren 17 (alle 63), Eumeniden 23 (alle 46 Verse). 19 Vgl. weiter 28, 234, 324 (auch in Bezug auf einen stÒloj aus Argos), 461, 933, 944, 1031; stÒloj von Pelasgos und seinem Gefolge: 187 (Argos); von den Aigyptiden: 487; vgl. auch po…mnan (642). Für G ÖDDE (2000) 150 Anm.408 zeigt diese Bezeichnung für den Chor, „wie zentral das Moment der Bewegung für ihre Charakterisierung ist“. Es bewegt sich freilich jeder Chor auf der Bühne. 20 Die große Bedeutung, die Personengruppen für die Konstellation und das Geschehen der Hiketiden haben, gibt Anlass zu Interpretationen des Stückes hinsichtlich einer ‚Barbaren-Griechen-Antithese’, denen die Theorie des Ethnozentrismus zugrunde liegt, wonach sich eigene Gruppenidentität durch die Abgrenzung von anderen Gruppen konstituiere. Vgl. die Hinweise bei G RETHLEIN (2003) 49f. - Zum Nebenchor der Dienerinnen sh. ausführlicher unten S.263-67. <?page no="232"?> Hiketiden 218 durchziehen, und wie in den Persern kommt es dem Chor zu, für den Zuschauer diese Divergenz erfahrbar zu machen: In dieser speziellen Tragödie hat der Chor das äußere Gewand von Nicht-Griechinnen an, doch handelt es sich zugleich um den corÒj der Polis Athen, der sich da vor dem Zuschauer bewegt. Die Szenerie der Bühne versinnbildlicht den Status des Chores zwischen Ägypten und Griechenland: Es handelt sich um einen heiligen Hain mit Götterbildern, direkt an der Küste (189); die beiden Eisodoi sind als Wege hin zum Meer und zur Polis Argos zu denken. 21 Damit steht der Chor zwischen dem ortlosen Draußen und dem festen Drinnen. Sogleich wird angeschlossen, dass und warum die Danaiden auf der Flucht sind: ... cqÒna sÚgcorton Sur…v feÚgomen, oÜtin' ™f' a a†mati dhmhlas…an y»fJ pÒlewj gnwsqe‹sai, ¢ll' a aÙtogenÁ fuxanor…an, g£mon A„gÚptou pa…dwn ¢ ¢sebÁ t' ÑnotazÒmenai <d di£noian>. (5-10) Das Verständnis von aÙtogenÁ fuxanor…an , auch abhängig von der Textgestaltung, ist sicherlich wichtig für die Suche nach der Ursache der Flucht. 22 Anstatt aber zu weit ausgreifenden, psychologisch oder kulturgeschichtlich fundierten Theorien zu greifen, sollte man die Tatsache akzeptieren, dass diese Leerstelle im Geflecht des Plots der Hiketiden von Aischylos offensichtlich bewusst intendiert ist. Vergleichbar ist die Frage nach dem Grund des 21 Für Näheres, auch was die Diskussion um die Bühne als solche betrifft, vgl. FJ-W (1980) II 3f. und S ANDIN (2005) 13-19. 22 Überliefert ist in M: aÙtogšnhton fu […] xanor£n , ersteres wurde von T URNEBUS korrigiert in aÙtogenÁ , letzteres von einem Anonymos in fulax£noran , wozu die Variante fux£noran in margine steht. Die Konjektur fuxanor…an von A HRENS wurde, in Verbindung mit aÙtogenÁ , von den jüngeren Editoren akzeptiert (so P AGE , FJ-W, W EST , S ANDIN ); H ERMANN s und B AMBERGER s Konjekturen, die zum dativus modi aÙtogene‹ fuxanor…v führten, fanden bei W ILAMOWITZ -M OELLENDORFF und M URRAY Zustimmung. Doch ergibt sich ein glattes Verständnis, wenn man aÙtogenÁ fuxanor…an als inneren Akkusativ zu feÚgomen zieht. Ganz wörtlich also: „Wir fliehen eine selbstgewählte Flucht vor Männern.“ - dies gemäß dem gewöhnlichen Wortgebrauch von aÙtogen»j (entsprechend aÙtogšnnhtoj ), auf den vor allem VON F RITZ (1962) 183 aufmerksam gemacht hat. Vgl. ausführlich FJ-W II (1980) 12-15 und S ANDIN (2005) 42-44. Die Deutung der Junktur als „angeborene Männerscheu“ durch W ILAMOWITZ -M OEL - LENDORFF (1914) 15 legte den Grund für eine Reihe von Missdeutungen. Beispielsweise hätten sich die Danaiden als Verehrerinnen der Artemis zu ewiger Jungfräulichkeit verpflichtet; oder wollten Inzest vermeiden; oder sie befänden sich noch auf der Stufe des Matriarchats (dies im Gefolge von B ACHOFEN - vgl. S ICHERL (1986) 84); oder seien eine Art ägyptischer Amazonen (welche Interpretation sich auf den kurzen Vergleich beruft, den Pelasgos vv. 287-89 im Irrealis zieht). Vgl. im Einzelnen den Überblick von S ICHERL (1986) 82-88, der zu dem überzeugenden Schluss kommt: „Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Aischylos an psychologischen, charakterologischen oder gar pathologischen Sonderfällen interessiert gewesen ist und sie zum tragenden Fundament einer Tragödie gemacht haben würde.“ (87). <?page no="233"?> Das ambivalente Wesen des Chores in der Parodos 219 Zornes der Artemis in der Parodos des Agamemnon, wo der Chor keine Ursachenforschung unternimmt und die Sachlage dadurch undurchschaubar wird - was trefflich auf die Grundstimmung des Stückes vorbereitet. 23 An die Stelle einer stringenten Kausalität kat¦ tÕ e„kÕj À tÕ ¢nagka‹on , die niemand vom Dichter einzufordern hat, tritt eine Offenheit, die die Aufmerksamkeit und das Verständnisvermögen des Zuschauers herausfordert. Und um wie viel effektvoller ist es, wenn diese Erwartungshaltung im - vermutlich - ersten Stück der Trilogie dann nicht einmal erfüllt wird (zumal bei diesem Chor eine objektive Selbst-Kommentierung recht schwierig ist). 24 Hier kommt hinzu, dass v.8 nicht allein steht, sondern den - für den Zuschauer akzeptablen - Gegensatz zu einem anderen möglichen Grund der Flucht bildet, nämlich Verbannung aus der Polis aufgrund von Blutschuld. Dass hier überhaupt eine ägyptische Polis im Hintergrund schwebt, und dass der Chor das griechische Ritual der Hikesie formgemäß durchführt (21f., vgl. kat¦ nÒmouj 241f.), sichert ihm zunächst die sump£qeia des Publikums: Sie sind die schwachen, hilflosen Verfolgten, für die der Vater die Flucht planen muss, auch wenn diese mit dem freiwilligen Entschluss der Töchter zusammenfällt. Das Ansinnen der Söhne des Aigyptos wird v.10 als ¢seb»j bezeichnet und das ganze Stück über in stereotyper Manier als affektgesteuerte, sinnverwirrende Hybris gebrandmarkt. 25 Die Fronten scheinen also klar abgesteckt; ebenso deutlich scheint der Kausalzusammenhang zwischen Mühsal ( kÚdist' ¢cšwn , 13) und erwünschter Erlösung durch die von Zeus beschirmte Hikesie zu sein, womit schon ganz am Anfang die Relation zwischen negativem Affekt und Reaktion (Flucht) des Chores zu Tage tritt. Die Fremdheit des Chores wird für den Zuschauer vor allem überwunden durch seine Abstammung, für den späteren Erfolg der Hikesie das schlagende Argument: kšlsai d' ””Argouj ga‹an, Óqen d¾ ggšnoj ¹mšteron, tÁj o„strodÒnou boÕj ™x ™pafÁj k¢x ™pipno…aj DiÕj eÙcÒmenon tetšlestai. t…n' ¨n oân ccèran eÜfrona m©llon tÁsd' ¢fiko…meqa ktl. (15-20) Nachdem der Name des Vaters schon in v.11 genannt worden ist, beginnt nun der Stammbaum der Danaiden sichtbar zu werden: Sie stammen von Zeus ab, der durch „Berührung“ und „Anhauchen“ der „bremsengetriebenen Kuh“ Io den Epaphos zur Welt brachte. Die Namen dieser beiden Urahnen werden noch nicht genannt (obwohl ™pafÁj etymologisch auf Epaphos anspielt); der Mythos wird nur kurz anzitiert, ehe in der lyrischen Pa- 23 Sh. unten S.289f. 24 Vgl. aber das I. Stasimon, wo im Io-Mythos implizit das Verhalten der Danaiden problematisiert wird (sh. unten S.249-52), und die Kritik des recht objektiv eingestellten Nebenchores ganz am Schluss (sh. unten S.265-67). 25 Die Ergänzung < di£noian > von W EIL wurde allgemein akzeptiert, zumal v.109 überliefert ist: di£noian mainÒlin . Zur Hybris der Aigyptiden vgl. 81, 104-11, 426, 487, 817. <?page no="234"?> Hiketiden 220 rodos mit v.40 die breitere Darstellung der Zusammenhänge beginnt, die auch im weiteren Verlauf von zentraler Bedeutung sind. Die kurze Einführung, die der Chor schon vorab dem jetzt in seinem kulturellen Gedächtnis geforderten Zuschauer bietet, dient ebenfalls der ‚Hellenisierung’ des Chores. Dass dieser Chor im Unterschied etwa zum anonymen Chor der Septem, welcher hinsichtlich seiner speziellen Identität als parqšnoi nur umrisshaft gezeichnet ist, 26 eine individuelle Prägung und ein mythologisches Leben auch außerhalb dieser Tragödie hat, dafür ist die Existenz von Eigennamen (Zeus, Io, Epaphos) ja überhaupt erst die Voraussetzung. Wenn der Chor von seinem eigenen gšnoj spricht, so ist die Ähnlichkeit zum Chor der Erinnyen in den Eumeniden unverkennbar, dem ebenfalls eine starke Individualität eignet, auch dies in Verbindung mit der Existenz eines Stammbaumes, der für den Plot des Stückes und die Konfliktsituation wichtig ist. 27 Allerdings erwähnen die Danaiden in den Hiketiden nie ihre Mütter, wie umgekehrt die Erinnyen keinen Vater haben: Diese Eigentümlichkeiten verursachen einen Sonderstatus beider Gruppen, die schließlich beide in eine männlich dominierte Ordnung integriert werden. Bemerkenswert bei diesen beiden Chören ist auch der notwendig freie Umgang des Dichters mit der im jeweiligen Mythos überlieferten Personenzahl: Die fünfzig Danaiden werden auf zwölf Choreuten reduziert, während die drei Erinnyen vervierfacht werden. Der Boden von Argos, Ziel der Integrationsbemühung des Chores, wird in umfassender Weise sichtbar: Die Polis, das Land, das Wasser, ober- und unterirdische Götter und natürlich Zeus stellen die feste Ordnung dar, in die diese weibliche Schar ( qhlugenÁ stÒlon , 28) aufgenommen werden will. Dagegen sollen die ebenfalls als geschlossene Gruppe identifizierten Söhne des Aigyptos ( ˜smÕn Øbrist¾n A„guptogenÁ , 30) im wilden Draußen des tosenden Meeres versinken. Die Verhinderung dieser anderen Ankunft durch die geballte Schutzkraft der Götter ist identisch mit der Verhinderung der Eheschließung (dem Betreten des Bettes), die wider qšmij sei: ... Ôlointo, pr…n pote lšktrwn ïn q qšmij e‡rgei sfeterix£menoi patradelfe…an t»nd' ¢¢ekÒntwn ™pibÁnai . (36-39) Für den Zuschauer entsteht in den letzten Worten der anapästischen Parodos, an exponierter Stelle, lediglich der Eindruck, dass der Wunsch der Aigyptiden nach der Ehe mit ihren Cousinen, die sie sich als Besitz aneignen wollten, wider eine qšmij sei. Dieses Recht wird aber nicht näher definiert: Vage bleibt die Aussage des Chores auch hier. Zweifellos aber ist qšmij ein alter und gewichtiger Wertbegriff, der die Grundfesten menschlichen Le- 26 Sh. oben S.157f. 27 Sh. unten S.430f. <?page no="235"?> Das ambivalente Wesen des Chores in der Parodos 221 bens berührt; und wenn die Danaiden hier von Verwandtenehe, Besitzaneignung und eigenem Nicht-Wollen sprechen, so lenken sie die Sympathie des Zuschauers zu ihren Gunsten. 28 Im weiteren Verlauf wird deutlich werden, dass die Aigyptiden ihrerseits offenbar gerade wegen ihrer Verwandtschaft und nach ägyptischem Recht einen B e s i t z a n s p r u c h auf ihre Cousinen erheben (387-91, 916-37). Es kann mit Fug angenommen werden, dass die ¢kous…a der Danaiden, die ihr Vater vv.222-31 außerdem mit der Furcht vor einem Miasma aufgrund einer inzestuösen Ehe verbindet, erst zum höchst gewaltsamen Auftreten der Aigyptiden führt und nicht umgekehrt schon die befürchtete Unterjochung die letzte Ursache der Flucht ist. Vor allem wird später auch durchscheinen, dass sich der Konflikt aus dem Zusammenprall von Rechtsansprüchen entwickelt und dass sich auch die Danaiden der Hybris schuldig machen werden. Von alldem ist an dieser Stelle freilich nicht die Rede, und das wohl ganz bewusst. Der Zuschauer muss sich zufrieden geben mit der Opposition von qšmij und Ûbrij (30): Eine Offenheit, die Spannung dahingehend erzeugt, welche Kausalitäten später zu Tage treten können. Wie eine Abbruchformel klingt denn auch das nàn d' ™pikeklomšna , mit dem in v.40 der lyrische Teil der Parodos eingeleitet wird. 2.2 Affekt und Rhetorik - Zeus (lyrischer Teil) Nur noch der lyrische Teil der Parodos des Agamemnon mit seiner ausführlichen Erzählung der vergangenen Ereignisse in Aulis ist bei Aischylos länger als die acht Strophenpaare, die sich nun an die Anapäste anschließen. Es handelt sich, grob gesehen, um ein Gebet des bedrohten Chores, in welchem 28 Im allgemeinsten Sinne ist qšmij die „natürliche Ordnung“, das „Naturgesetz“, so W OLF (1950) 83f., der die entsprechenden, schon bei Homer zu findenden Seinsbereiche nennt: Gemeinschaft von Mann und Frau, Heeresversammlung, Wettkampf, Gastfreundschaft (vgl. Hik. 360 ƒkes…a Qšmij ), Totenehrung und Scheu vor den Göttern. Vorliegende Stelle ist der Ausgangspunkt für die schon erwähnte (sh. oben S.213) Orakel-Theorie von S ICHERL (1986): qšmij meine die Verpflichtung der Töchter gegenüber ihrem Vater, durch Nichtheirat seinen Tod zu vermeiden. So das Scholion zu v.37 (S MITH 67,37): di¦ tÕ m¾ qanatwqÁnai tÕn patšra , was nach S ICHERL bedeute: „weil = damit der Vater nicht getötet werden soll“ (92); analog dazu ein Scholion zu Prom. 853. Vgl. weiter R ÖSLER (1993) 6: Das Eintreten der Kinder für das Wohl der Eltern sei qšmij . In rezeptionsästhetischer Perspektive ist es, sofern die Trilogie hier erst beginnt, freilich unwahrscheinlich, dass der Zuschauer ein diesbezügliches Wissen bekommt. Sollte aber vom Orakel und dergleichen in den Aigyptioi zuvor schon die Rede gewesen sein, so wäre hier ein kurze und völlig ausreichende Reminiszenz zu sehen. Das Vorgehen des Scholiasten, „der gewiss noch die ganze Trilogie vor Augen hatte“ (S ICHERL (1986) 92), besteht freilich in gut philologischer Verfahrensweise darin, anhand des Kausalfaktors, der ihm also wohl in expliziter Ausformulierung aus den Aigyptioi oder den Danaides bekannt war, entsprechende Passagen in den Hiketiden aus der Retrospektive zu kommentieren - was aber nicht heißen muss, die Aigyptioi seien zwangsläufig das erste Stück gewesen. <?page no="236"?> Hiketiden 222 auch die typischen Elemente der Hikesie auftreten: 29 Vor allem ein Gebet an Zeus, der sowohl als Vater des Urahnes der Danaiden, Epaphos, als auch - in allgemeinerer Funktion - als Garant einer gerechten Weltordnung den Chor vor dem Zugriff der Aigyptiden bewahren soll, einerseits durch eine erfolgreiche Hikesie, andererseits durch die Vernichtung der im Moment aus dem gefährlichen Draußen ankommenden Øbrista… . Die Relevanz dieses Wunsches wird dem Zuschauer durch eine expressive Äußerung eigener Affekte vermittelt, während die Anapäste lediglich der Grundinformation dienten. Als erstes ruft der Chor aber nicht Zeus direkt, sondern Epaphos als ØperpÒntion tim£or' (41f.) an. Obwohl also selbst in Übersee, soll er seinen Nachkommen in der Fremde, die wiederum die Heimat des Zuschauers ist, beistehen. Es bleibt aber offen, inwiefern speziell Epaphos jetzt helfen soll - trotz des programmatischen Auftaktes nàn d' ™pikeklomšna , der einen Gebetsanruf darstellt, folgt keine konkrete Bitte. Dafür entrollt der Chor seinen Stammbaum, in dem auch Zeus seinen Platz hat. Hierbei handelt es sich nicht um eine statische Aufzählung, sondern eine Dynamik des Werdens: Die Nomina actionis ™p…pnoia (vgl. schon v.17) und œfayij vergegenwärtigen den wundersamen Vorgang der Zeugung des Epaphos, den Zeus durch Anhauchen und Berühren der kuhgestaltigen Vorfahrin ans Licht gebracht hat. Aber nicht eigentlich Zeus ist hier der Erzeuger, sondern der mÒrsimoj a„èn bringt die Berührungshandlung zur Erfüllung, indem der Eigenname Epaphos daraus ‚erzeugt’ wird, welcher hier zum ersten Mal genannt wird (44-47). Dem Ursprung der Danaiden liegt also ein Vorgang zugrunde, dessen Sinnhaftigkeit, die sich im Wirken von Zeus und den Moiren 30 gestaltet, dem Zuschauer hier erklärt wird, zugleich eine Einstimmung auf das Paradigma für die Erlösung des Chores: Die Heilung der Io, die ja einhergeht mit der Geburt des Epaphos. Hier aber erscheint dieser genealogische Mythos noch nicht als entsprechende Präfiguration von Leid und Erlösung, sondern es handelt sich um eine Fortspinnung des v.15-18 begonnenen thematischen Fadens, der aus dem mythologischen Horizont des Zuschauers in das hic et nunc der dramatischen Situation führt. Dreimal fällt in diesem ersten Strophenpaar nàn (40, 50, 53), womit das Verhältnis zwischen Vergangenheit (dem kulturellen Gedächtnisraum von fremdem Chor und griechischem Zuschauer) und Gegenwart (der Notlage der Danaiden) deutlich wird. Bemerkenswert ist nun, dass die Bedeutung dieser Kausalbeziehung für die folgende Handlung, für Hikesie und Heilung, dem Zuschauer zwar schon angedeutet wird, nicht aber im Detail expliziert wird: ... tîn prÒsqe pÒnwn mnasamšna, t£ te nàn ™pide…xw, pist¦ tekm»ria gaionÒmoisi d' ¥- 29 Vgl. hierfür die detaillierte Interpretation von S CHNYDER (1995) 73-80. 30 mÒrsimoj dürfte auf die Moiren als Geburtsgottheiten anspielen, so FJ-W (1980) II 45f. <?page no="237"?> Das ambivalente Wesen des Chores in der Parodos 223 elpt£ per Ônta fane‹tai: gnèsetai d lÒgou tij ™n m£kei. (52-56) Der Chor „erinnert sich an früheres Mühsal“ (diejenige von Io), wird etwas „aufzeigen“, was den ansässigen Bewohnern als „sicherer Beweis erscheinen wird“, obwohl es „unerwartet“ kommt: Hier kommt eine ganze Reihe von selbstreferentiellen Verweisen auf eigenes sprachliches Handeln in einer k ü n f t i g e n argumentativen Auseinandersetzung mit Pelasgos und den Argivern, die die Hikesie gewähren sollen - ein dezidiert r h e t o r i s c h e r Aussagegestus, der die Glaubwürdigkeit des Sachzusammenhanges zwischen genealogischem Mythos und momentaner Situation vermitteln soll. Adressat dieser Worte ist der Zuschauer, mit dem sich der Chor, welcher ja die Perspektive des Zuschauers hier ganz allein steuert, schon vorab zu einer Wissensgemeinschaft zusammenschließen will: Eine bewusste Bezugnahme auf die Kraft eigener Rhetorik und die Wahrheit einer Vorgeschichte, die frappant an die ebenso autoritative Bezugnahme des Greisenchores im Agamemnon (ebenfalls zu Beginn der lyrischen Parodos) auf die eigene Peitho erinnert, die für die Richtigkeit der vergangenen Ereignisse in Aulis bürgen soll. „Es wird aber einer in der Breite der Erzählung verstehen“, so der Chor im letzten Vers dieses Strophenpaares, das ebenso auf das Epirrhema mit Pelasgos vorbereitet wie auf das I. Stasimon, in dem die Geschichte von Io erzählt werden wird. 31 Von Epaphos und Io wird denn auch nicht weiter berichtet. Der Chor schließt einen anderen Mythos an, der nichts mehr mit seiner Genealogie zu tun hat, sondern nun der vertieften Darstellung des Affektes dient - und dabei die Perspektive des Zuschauers dahingehend lenkt, dass hier nicht irgendeine Personengruppe innerhalb einer fiktionalen Bühnenwelt singt und tanzt, sondern ein corÒj seiner Lebenswelt: Galten selbstreferentielle Verweise eben noch der (künftigen) zweckbestimmten Rhetorik, so rücken jetzt Affekt und Gesang ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die der Zuschauer diesem vorderhand fremden Chor entgegenbringen soll. Ein Gleichnis behandelt über drei Strophen hinweg (58-76) den Mythos von Prokne, die um den eigenhändig getöteten Itys trauert, und dann die Übertragung auf den Chor, der ebenfalls einen Klagegesang - dies also eigentlich innerhalb seines Gebetsliedes - vollführt. Dabei wird die Bekanntheit dieses Mythos in Argos vorausgesetzt: e„ d kure‹ tij pšlaj o„wnopÒlwn / ™gg£ oj o kton ¢…wn, / dox£sei ktl . (58-60). Der einheimische Vogelseher, ein tij , entspricht dem tij von Antistrophe a , der „sichere Zeugnisse erken- 31 Dabei kann lÒgou ™n m£kei als Gegensatz zu den bei Aischylos nicht seltenen Verweisen auf die erzwungene Kürze chorischen Sprechens in Rhesis und Stichomythie gegenüber den dramatis personae aufgefasst werden; vgl. hier v.273 (Pelasgos zum Chor): makr£n ge ·Ásin oÙ stšrgei pÒlij ; vgl. insgesamt M ICHELINI (1974) und oben S.83 Anm.193. Zum ‚rhetorischen’ Charakter dieser Verse vgl. auch G ÖDDE (2000) 188f., allerdings ohne Berücksichtigung der rezeptionsästhetischen Dimension und der Auswirkung auch auf die Pelasgos-Szene, wo sich ein Spannungsverhältnis zwischen Wissen, Andeuten und Verschweigen eröffnen wird. <?page no="238"?> Hiketiden 224 nen wird“ - also eine Fortsetzung der Peitho des Chores, jetzt aber mit Bezug auf das eigene, gegenwärtige Singen, das gewissermaßen hermeneutisch entschlüsselt werden muss. Freilich gibt der Chor auch wieder die Interpretation vor ( dox£sei ). Wenn der Zuschauer zunächst Strophenpaar b , welches die Bildebene des Gleichnisses enthält, hört, so ergibt sich für ihn als Übereinstimmung des Tuns der Nachtigall Prokne mit der Lage des Danaiden- Chores viererlei: Beider Gesang kann gehört werden; beide werden verfolgt (der Habicht Tereus entspricht den Aigyptiden); beide sind getrennt von der Heimat; und natürlich, dass beide trauern und klagen ( o kton 59, penqe‹ o kton 64). Als Überschuss im Gleichnis ist hingegen anzusehen, dass sich die Trauerklage der Nachtigall auch - und vielleicht eigentlich - darauf richtet, dass ihr eigenes Kind Opfer des „bösen Mutterzorns“ ( dusm£toroj kÒtou , 67) geworden ist. 32 Der dann mit tëj kaˆ ™gè (69) angeschlossene ‚So-Teil’ lokalisiert die eigene Klage im Körper des Chores: Das Zerfleischen von weicher Wange und Herz (70f.) gehört mit zur typischen Symptomatik des Affektes der schmerzhaften Trauer, die auf das Mitleid des Zuschauers abzielt. Doch klagt der Chor hier ausschließlich um sich selbst, ja er wird sich später gar den eigenen Grabgesang komponieren: zîsa gÒoij me timî (116) - anders als die anonymen Chöre am Ende der Perser und der Septem, deren threnodisches Klagen primär dem Schicksal anderer gilt: Xerxes, Persien, den toten Brüdern. Und während die Threnoi der beiden früheren Stücke der Katastrophe als - durchaus versöhnliche - Schlussgesänge im Inneren der Polis folgten, steht die Entscheidung hier noch aus. Deshalb verbindet sich die Klage mit Angst hinsichtlich der labilen Situation, aber auch mit der Hoffnung auf einen saviour: goedn¦ d' ¢nqem…zomai deima…nous', ¢f…lou t©sde fug©j ¢er…aj ¢pÕ g©j e‡ tij ™stˆ kkhdemèn . (73-76) 33 32 Es dürfte ausreichen, hier eine Fortsetzung der homerischen Gleichnistechnik zu sehen, bei der die Bildebene eine gewisse inhaltliche Autarkie bekommen kann und sich nicht in allem mit dem ‚So-Teil’ des zu verdeutlichenden Wirklichkeitsbereiches deckt (vgl. P ATZER (1996) 118-30). Der Übergang beginnt in v.65 mit xunt…qhsin d paidÕj mÒron , der ‚Komposition’ der Nachtigall; bei diesem Überschuss handelt es sich bezeichnenderweise um die letzten Verse des Gleichnisses, ehe die Sachebene einsetzt. Es ist natürlich verlockend, das blutige Familiengeschehen des Prokne-Mythos auf die spätere Bluthochzeit der Danaiden zu projizieren (vgl. R OHWEDER (1998) 122-24 und G ÖDDE (2000) 153-56). - Nachtigall und corÒj zusammen begegnen in einem fragmentarisch überlieferten Prosodion mit Refrains (POXy 2625 = SLG 460), in denen wohl die Nachtigall singt und den Chor auffordert, voranzuschreiten: ‡tw ‡tw corÒj , was sich lautmalerisch an ihren Itys-Ruf anschließt: Sh. detailliert R UTHERFORD (1995). 33 khdemèn hat hier die gewöhnliche Bedeutung „Helfer, Beschützer“, doch spielt wohl auch herein, dass die Danaiden mit Argos verwandt sind (auch wenn kÁdoj sich sonst immer auf Verwandtschaft durch Verschwägerung bezieht); vgl. FJ-W (1980) II 74. <?page no="239"?> Das ambivalente Wesen des Chores in der Parodos 225 Dabei singt der Chor explizit in „ionischer Weise“ ( 'Iaon…oisi nÒmoisi , 69), um sich auch auf diesem Wege dem Zuschauer anzunähern. 34 Die Verse 40-76, fünf Strophen, dienen insgesamt dazu, die Distanz des Zuschauers zu diesem zunächst fremdländischen Chor, der da auf griechischem Boden ankommt, zu überwinden. Auf dieser Grundlage ist es glaubwürdig, wenn der Chor nun damit beginnt, innerhalb eines dem Zuschauer wohlvertrauten theologischen Orientierungsrahmens eine Lösung seiner Notlage anzustreben, die vor allem von Zeus erhofft wird. Der ebenfalls fremde Chor der Perser musste demgegenüber von Dareios erst aufgeklärt werden über die Zusammenhänge von Dike und Hybris. Die Danaiden kennen dieses System schon und evozieren es zu ihren eigenen Gunsten in einer Weise, die in diesem Frühstadium des Plots als kaum hinterfragbar erscheint. Die Antistrophe g ist zwar das formale Pendant zu der ‚Affekt- Strophe’ vv.69-76, leitet aber einen plötzlichen thematischen Wechsel ein: ¢ll¦ qeoˆ genštai, klÚet' eâ ttÕ d…kaion „dÒntej: ¼ban m¾ tšleon dÒntej œcein par' a san, Ûbrin d' ™tÚmwj stugÒntej, pšloit' ¨n œœndikoi g£moij. (79-82) Die Reaktion auf die Darstellung des eigenen Affektes besteht in einem Gebet an die Stammgötter, welche in dem für die Danaiden jetzt so aktuellen Wirklichkeitsbereich, an der Schwelle zum Erwachsensein, Dike walten lassen sollen: Sie mögen die Danaiden nicht den Aigyptiden zur Hochzeit geben und so deren junge Weiblichkeit zur Erfüllung bringen, was par' a san wäre, also gegen ein universelles Gesetz verstöße. 35 Also die Normalität von naturgesetzlicher Kausalität (Heranreifen) und soziokultureller Praxis (Herausgeben der Braut) ist gebrochen durch die Disposition der Aigyptiden, durch deren Hybris - so der Chor. Die in der Forschung intensiv diskutierte Streitfrage, ob sich die Danaiden jeder Ehe verweigern oder nur der mit ihren Vettern, lässt sich anhand dieser Verse nicht im Sinne eines ‚entweder - oder’ entscheiden: Sicherlich steht die konkrete dramatische Situation im Vordergrund, 36 die diese Verse auf die momentane Bedrohung an- 34 Überliefert ist in v.69 nÒmoisi , das von W HITTLE , gefolgt von P AGE und FJ-W (1980) II 65, ohne Not als nomo‹si akzentuiert wird, womit nochmals auf die neue Heimat Bezug genommen würde. In v.71 scheint das überlieferte NeiloqerÁ (Attribut zu parei£n) als Gegensatz zur Ortsangabe 'Iaon…oisi zunächst attraktiv, doch ist dieses Kompositum nur schwer erklärbar (vgl. S ANDIN (2005) 86), so dass die einfache Konjektur von B OTHE eƒloqerÁ , „sonnengebräunt“, erforderlich sein dürfte. 35 Zu Text und Verständnis von v.80 sh. S ANDIN (2005) 88f. Die Verbindung didÒnaiœcein für Verheiratung ist geläufig (so Eur.El. 34f., IT 696, Aristoph.Av. 1536), ebenso wie tšloj das Hochzeitsritual oder die Ehe selbst meint; vgl. 1050 g£mwn ¤de teleut£ und weiter Aisch.Eum. 799, Soph.Ant. 1226. 36 So S ANDIN (2005) 90f. mit völlig berechtigter Kritik, aufgrund einer vorgefassten Interpretation sogar in den Text einzugreifen, wie dies FJ-W (1980) II 78f. vornehmen: Da die Danaiden nur diese spezielle Hochzeit ablehnten, müsse der Text mit O BERDICK korrigiert werden in: pšloit' ¨n œndikoj g£moj . Zur Diskussion insgesamt sh. G ARVIE <?page no="240"?> Hiketiden 226 wendbar machen lässt. Doch eröffnet sich hier dem Zuschauer durch die ins Allgemeine weisende Gedankenführung eine weitere Perspektive auf die Grundkonstanten einer „gerechten“, das heißt richtigen Ehe, mithin auf ein sicheres soziales Ordnungsgefüge, von dem der Chor in seinem Zwischenstatus weit entfernt ist - dies rührt zweifellos an die in der Trilogie verhandelte Hauptthematik. Und schon im weiteren Verlauf der Hiketiden wird sich im Zuge der ‚Einhausung’ der Danaiden nach Argos die Frage, wohin sie denn eigentlich gehören, gerade im Lichte ihrer Heiratsfähigkeit drängend stellen. 37 Die Rettung, die die Danaiden hier von den qeoˆ genštai (79) und da…monej (85) wie kriegsbedrängte Flüchtlinge erhoffen, hängt aber am wesentlichsten von Zeus ab. Ihm gilt nun im Folgenden ein Gebet, das in Strophe und Antistrophe d sowie Strophe e nach Art eines Hymnos die umfassende Wirkkraft des Zeus evoziert, welcher, so der Wunsch in Antistrophe e , die Hybris der Verfolger bestrafen soll. Sinngehalt und sprachliche Gestaltung dieser Verse weisen deutliche Parallelen zum - ebenfalls dreistrophigen - Zeus-Hymnos im Agamemnon (160-83) auf. Doch hat die Forschung den Hymnos der Hiketiden weitgehend vernachlässigt. 38 Beide Hymnen werden aus einer Situation der Sorge heraus gesungen und haben zum Ziel, im Zuge einer Vergewisserung über das universale, gerechte und für den Menschen gute Wirken von Zeus den eigenen negativen Affekt des Chores zu beenden. 39 Diese Form der Reaktion soll dem Zuschauer eine potentielle Heilungsstruktur als Kontrastfolie zum tragischen Geschehen erkennbar machen. Anders als im Agamemon aber - wir müssen der Interpretation etwas vorgreifen - 40 sorgt sich hier der Chor um sich selbst persönlich, und die erwünschte ‚Heilung’ liegt nicht darin, dass demjenigen, der falsch gehandelt hat (Agamemnon), ein positiv konnotiertes (1969) 221f. Vielleicht sollte man berücksichtigen, dass im Leben der Danaiden die Aigyptiden wohl die ersten Männer sind, die ihnen im Kontext der Ehe gegenübertreten. 37 Zum Begriff ‚Einhausung’ sh. unten S.464 mit Anm.74 38 Auf diese Diskrepanz hat R OHWEDER (1998) 90-94 hingewiesen und, nach F RAENKEL (1931) und B OOTH (1955), erstmals wieder eine im engeren Sinne eigens dem Zeus- Hymnos der Hiketiden gewidmete Interpretation gegeben (95-100). Die Geringschätzung der Passage begann mit W ILAMOWITZ -M OELLENDORFF (1914) 31f., für den der Chor der Mädchen hier aus der Rolle falle. Über diese Forschungsrichtung sh. oben S.6. Im Weiteren scheint die Vernachlässigung der im Hymnos eröffneten theologischen Perspektive damit zusammenzuhängen, dass die „dominanten Erklärungsweisen des Ehekonfliktes … keinen Anhaltspunkt für eine inhaltliche Verknüpfung des Gesangs mit dem Drama“ (R OHWEDER (1998) 92) bieten. - Zur ‚Gattungsproblematik’ der Passage, die ja eigentlich als Gebet beginnt, dann aber das Wirken des Zeus nach Art eines Hymnos beschreibt und erst v.104 wieder einen Wunsch bringt, sh. D ORSCH (1983), der die Partie als „hymnische Prädikation im weiteren Sinn“ (13) bezeichnet, und R OHWEDER (1998) 90 Anm.13. Demgegenüber beinhaltet der Zeus-‚Hymnos’ im Agamemnon keinen expliziten Wunsch. 39 Diese Kontextbezogenheit - der Affekt des Chores als Movens - wird richtig gesehen von F ISCHER (1965) 122; ähnlich B OOTH (1955) 22 und S MITH (1980) 39. 40 Sh. unten S.292ff. <?page no="241"?> Das ambivalente Wesen des Chores in der Parodos 227 p£qei m£qoj mit dem Ziel des swfrone‹n widerfährt, sondern dass die Aigyptiden schlichtweg bestraft werden: Dies ist der gegenüber dem Konzept des p£qei m£qoj simplere Mechanismus des bloßen dr£santi paqe‹n (Cho. 313). Der Greisenchor des Agamemnon lässt seinem dreimal wiederholten Ruf: a‡linon a‡linon e„pš, tÕ d' eâ nik£tw (Ag. 121, 138, 159), in dem rituelle Klage und die Hoffnung auf den Sieg des Guten zu einer spannungsreichen Einheit gefügt sind, den Hymnos auf Zeus folgen. Dieser evoziert aus der Gewissheit über die Universalmacht des Zeus heraus eben dieses Gute, das in der c£rij b…aioj der da…monej besteht (Ag. 182f.). Und auch in den Hiketiden steht dem Hymnos eine ausführliche Präsentation der eigenen Klage im Gesang voran. Ebenso fällt das Signalwort eâ , einmal schon v.79, und dann im ersten Vers des Hymnos: eâ qe…h DiÒj, e„ panalaqîj DiÒj, ††meroj. oÙk eÙq»ratoj ™tÚcqh: daàloi g¦r prap…dwn d£skio… te te…nousin pÒroi, katide‹n ¥frastoi. p…ptei d' ¢sfal j oÙd' ™pˆ nètJ, koruf´ DiÕj e„ kranqÍ pr©gma tšleion. p£ntv toi flegšqei k¢n skÒtJ kelainù xÝn tÚcv merÒpessi lao‹j. „£ptei d' ™lp…dwn ¢f' ØyipÚrgwn panèleij brotoÚj, b…an d' oÜtin' ™xopl…zei: p©n ¥ponon daimon…wn: ¼menoj Ön frÒnhm£ pwj aÙtÒqen ™™xšpraxen œmpaj ˜dr£nwn ¢f' ¡gnîn. „dšsqw d' e„j ÛÛbrin, B»leioj o†v ne£zei puqm»n di' ¡mÕn g£mon teqalèj dusparaboÚloisi fres…n kaˆ di£noian mainÒlin kšntron œcwn ¥fukton † ¥tv d' ¢p£tv † metagnoÚj . (86-111) Der Wunsch des Chores steht unter einem Vorbehalt: Seine Rettung muss einhergehen mit dem Verlangen ( †meroj ) von Zeus, dessen Pläne im Dunkeln liegen und nicht zu durchschauen sind. 41 Diese Einschränkung ent- 41 Das Wort †meroj ist in Bezug auf Zeus auf den ersten Blick merkwürdig, haftet dem Wort doch etwas Irrationales, Emotionales an. Gemeint sein dürfte aber nur soviel, dass die menschliche Erkenntnisfähigkeit unzureichend ist für die dunklen Wege von Zeus (vgl. FJ-W II (1980) 83). Ein Bezug auf das sexuelle Begehren für Io (so neben an- <?page no="242"?> Hiketiden 228 spricht vollauf der labilen Situation im Anfangsstadium des Plots, dessen Fortgang für den Zuschauer erst angesehen werden muss - insofern verweisen die unergründlichen Wege von Zeus, seine pÒroi katide‹n ¥frastoi , über den Moment hinaus. Gewiss aber ist für den Chor soviel, dass im Falle der Entscheidung einer Angelegenheit Zeus durch sein Nicken ( koruf´ ) diese ihrem sicheren tšloj zuführt, und dies zum Glück ( xÝn tÚcv ) für die sprechenden Menschen. 42 W e n n also der im Moment dunkle †meroj des Zeus „ganz wahrhaft“ ( panalaqîj ) - und das heißt auch „in vollständiger Unverborgenheit“ - das Gute für die Danaiden, die sich im Moment in der Ungewissheit des schwarzen Dunkels befinden, zur Erfüllung bringt, so wird sich dieses ‚heilende’ Eingreifen in einer Entscheidungssituation offenbaren und dabei einer Lichtwerdung ( flegšqei ) gleichkommen: Diese Licht- Dunkel-Metaphorik antizipiert die ausgereifte Bildlichkeit der Orestie, wo die erwünschte Wiederherstellung der Ordnung durchweg mit einer Lichtwerdung identisch ist. 43 Das vom Chor für sich selbst ersehnte pr©gma tšleion steht aber konträr dem drohenden tšloj der Hochzeit entgegen (vgl. 80) - er äußert kurze Zeit später seinen Wunsch nach einer Rettung in eben dieser ‚teleologischen’, auf den weiteren Geschehensablauf der Trilogie in der Zeit gerichteten Perspektive: teleut¦j d' ™n crÒnJ pat¾r Ð pantÒptaj / preumene‹j kt…seien (139f.). Die Spannung auf das tšloj zu ist bei Aischylos in dieser Tragödie wohl am stärksten entwickelt. 44 Nachdem also im Strophenpaar d ringkompositorisch ( eâ qe…h - xÝn tÚcv ) das ersehnte Heil für die Danaiden behandelt wurde, folgt im Strophenpaar e das, was der Chor sozusagen als tšloj für seine Verfolger will. Über deren erwünschtes Schicksal, den Untergang im Meer, hatte der Chor schon vv.29-36 gesprochen; der Allseher Zeus soll auf die „menschliche Hybris“ blicken (104f.). Diese Hybris ist Folge einer geradezu krankhaften geistigen Disposition: Überbordende sexuelle Gier - der Affekt - führt regelrecht zu Verrücktheit und Raserei. Trotz der schwer korrupten Überlieferung in v.110f. lässt sich hier doch der für Aischylos so typische Sachverhalt einer zur Ate führenden Fehlentscheidung im frone‹n erkennen. 45 Von diederen H ILTBRUNNER (1950) 13) ist auszuschließen. In v.599 wird, in enger Anlehnung an den Hymnos, in ganz ähnlicher Weise die boÚlioj fr»n des Zeus genannt; insofern ist †meroj hier durchaus im Sinne des willentlichen Planens zu definieren. 42 Für v.89f. wird hier, abweichend von W EST , statt mela…nv die Konjektur kelainù von S CHMIDT , überzeugend verteidigt von S ANDIN (2005) 97, akzeptiert: ™n skÒtJ erhält so ein passendes Attribut, wohingegen xÚn tÚcv für sich alleine stehen kann. 43 Vgl. bei Aischylos besonders die Spannung vor dem Auftritt Agamemnons, als neue Hybris ans Licht zu kommen droht: Óte tÕ kÚrion mÒlV f£oj tÒkou (Ag. 766f.). Zu dieser Lichtmetaphorik sh. B REMER (1976) 362f. und 383f. 44 Vgl. S NELL (1928) 41f., 45-47, F ISCHER (1965) 122-25 und B URIAN (1971) 72-74. 45 F RAENKEL (1962) paraphrasiert Hik. 110f. als direkte Parallele zu Agamemnons Fall so: „ … he has changed his mind, to his own infatuation and destruction, because he is deceived (has let himself be deceived, cf. Pers. 93 ¢p£tan qeoà , but also Ag. 385 bi©tai d' ¡ t£laina peiqè )“ (128). Gerade der Klammer-Zusatz ist das eigentlich Wichtige: Das eigenverantwortliche Nachgeben gegenüber der Täuschung. <?page no="243"?> Das ambivalente Wesen des Chores in der Parodos 229 sem Wahnsinn (Antistrophe e ) hebt sich das Bild, das der Chor von seiner Stamm- und Schutzgottheit Zeus zuvor in der Strophe e (96-103) gezeichnet hat, um so stärker ab: Bei der definitiven, zielsicheren Ausführung eines pr©gma tšleion , exemplifiziert am Herabstürzenlassen der broto… von ihren hochgetürmten Hoffnungen, bringt Zeus sein frÒnhma irgendwie ( pwj ) ganz mühelos zur Ausführung; er bedarf dabei keiner b…a wie die Aigyptiden und muss sich nicht auf instabilem Boden bewegen, sondern sitzt auf erhabenem Thron. 46 Nach diesem Hymnus muss es den Zuschauer frappieren, wenn der Chor mit v.112 nun nicht etwa Zuversicht hegt, sondern plötzlich - und höchst effektvoll - seine Angst durchbrechen lässt, und dies in wesentlich unruhigerer Form: toiaàta p£qea mšlea qreomšna lšgw ligša barša dakruopetÁ, „», „», „hlšmoisin ™mprep»j {qreomšnh mšlh} zîsa ggÒoij me timî . ƒleîmai m n ' 'Ap…an boànin - karb©na d' aÙd¦n eâ g© konne‹j - poll£ki d' ™mp…tnw xÝn lak…di linosine‹ Sidon…v kalÚptrv . (112-21) Dass der Chor jetzt von „derartigem Leid“ singt, ist unmittelbare Folge davon, dass er zuvor die affektiv-sexuell bestimmte Hybris seiner Verfolger ausgesprochen hat. Schlagartig sieht sich auch der Zuschauer von den Reflexionen über die Allmacht des Zeus zurückversetzt in die aktuelle Situation, deren Brisanz und Unberechenbarkeit eine ähnliche Bedrohung für den Chor darstellt wie in der Parodos der Septem, wo die jungen Mädchen in höchster Panik anheben mit: qreàmai fober¦ meg£l' ¥ch (78) und ebenfalls schreien (84, 87 u.ö.). Dem Hymnos der Danaiden folgen Klage- und gar Grabesgesänge, die auch dem befürchteten Hochzeitsritual ( di' ¡mÕn g£mon , 106) diametral entgegengesetzt sind. Es hieß nun freilich im Hymnos, dass der Wille von Zeus nicht durchschaubar sei; diese Unwägbarkeit mag dazu beitragen, dass sich der Chor nicht positiv affizieren kann. Und vergegen- 46 Die sprachlichen Parallelen dieser dritten Strophe des Hymnos zu derjenigen des Zeus- Hymnos im Agamemnon, hier v.182f., sind sehr deutlich: daimÒnwn dš pou c£rij b…aioj / sšlma semnÕn ¹mšnwn , man beachte vor allem auch das textlich umstrittene pou (Enklitikon oder Fragepartikel? ), dem Hik. 101 das eindeutig enklitische pwj entspricht. Hiermit lässt sich ein (weiteres) Argument zugunsten des Enklitikons pou finden (sh. unten S.297 Anm.57). Die Gewaltlosigkeit von Zeus’ Wirken, die Hik. 99-103 so sehr betont wird, bezieht sich auf die Allmacht des Gottes, nicht auf den Effekt auf die Menschen (so R OHWEDER (1998) 99) - anders bei der c£rij b…aioj , der „gewaltsamen Gunst“, die b e i d e s für den Menschen enthält: Leid und Gutes. - Für die Leichtigkeit des Wirkens von Zeus, welche auch Gewalt für die Menschen bedeuten kann, vgl. Hes.Erg. 6: ... ·e‹a d' ¢r…zhlon minÚqei kaˆ ¥dhlon ¢šxei (vgl. F RAENKEL (1931) 13). <?page no="244"?> Hiketiden 230 wärtigt man sich den weiteren Verlauf der Hiketiden, so ist für die Bewertung des Wunsches nach Hilfe, wie ihn der Chor in der Parodos äußert, eines von entscheidender Bedeutung: Die Aigyptiden werden n i c h t im Meer zerschmettert, sondern kommen an Land und werden den Danaiden auch weiterhin zusetzen, ja später wahrscheinlich sogar ihr Ziel, die Hochzeit, erreichen. Wie immer sich im Plot der verlorenen Stücke eine Einflussnahme durch Zeus offenbart haben mag - die Eros-Rede der Aphrodite zeigt auch ex eventu deutlich die Vereinseitigung der Danaiden schon im ersten Stück auf. Das extreme Zurückfallen in die Verzweiflung direkt nach dem Zeus-Hymnos, der doch als Reaktion auf die ‚Nachtigall-Klage’ gekommen war, erzeugt ein Spannungsverhältnis zwischen göttlichem Willen und menschlichem Anspruch. Die selbstreferentielle Aussage: zîsa gÒoij me timî , das Singen des eigenen Goos als Reaktion auf die p£qea , ist auch als Auftakt für den Rest der Parodos zu sehen, in dem nunmehr die Relation des Chores zu den Göttern (vor allem zu Zeus) durch stark p e r f o r m a ti v e s Agieren zu expressivem Ausdruck kommt. Dies ist ein deutlicher Kontrast zu der demgegenüber verhältnismäßig ruhigen Gebetshaltung, die nach den Anapästen eingesetzt hatte und die für den Zuschauer ein sympathetisches Potential aufgebaut hatte: Die genealogische Lokalisierung der Danaiden im Boden von Argos, die Eröffnung eines mythologischen Erinnerungsraumes (Epaphos und Prokne), der chorische Klagegesang nach Art der griechischen Nachtigall - all dies gehört zur Rhetorik des fremdländischen Chores, dessen Notlage und berechtigten Anspruch auf die Hikesie der Zuschauer akzeptieren soll und kann. Auf dieser Grundlage baut zwar, nachdem der Chor durch die Evokation der Hybris der Verfolger die Krisensituation in ihrer Brisanz sozusagen selbst erzeugt und aktualisiert hat, die mit den Signalworten p£qea und gÒoj einsetzende chorische performance auf. 47 Doch offenbart sich hier eine ganz neue Sphäre von Trauer, Tod und Selbstmord, die in Verbindung mit einer sehr expressiven Affektdarstellung als neues Charakteristikum dieses Chores eine völlig andere Seite zeigt: Angst und Hysterie sind der Gegenpol zur Zuversicht bezüglich der Überwindung der Krise. Diese Ambivalenz entspricht in ihrer Grundstruktur dem Schwanken zwischen furchtsamer Sorge und Hoffnung (zwischen fÒboj / front…j und q£rsoj / ™lp…j ), wie es etwa an den Altmänner-Chören der Perser und des Agamemnon in den Parodoi zum Ausdruck kommt. Anders als dort aber ist diese affektive Polarität bei den Danaiden im g e s a m t e n Stück aufs Extremste gespannt und stellt in ihrer vereinseitigten Direktheit immer wieder eine neue Herausforderung an die sump£qeia des Zuschauers. Dass ausgerechnet ein Hymnos an Zeus den Übergang von Hoffnung zu Angst erzeugt, mag 47 Für die threnodischen Elemente vgl. S CHNYDER (1995) 74-80, die auf den diametralen Gegensatz zu dem „anfangs entworfenen Programm eines Hikesiegebets“ (78) und auf eine „Steigerung des Pathos“ (80) hinweist; das Gebetslied gerate im Verlauf der Parodos aus den Fugen. <?page no="245"?> Das ambivalente Wesen des Chores in der Parodos 231 auch auf emotionaler Ebene die Unberechenbarkeit von Zeus’ Wirken offenbaren: D a s s ein tšloj näherrückt, ist sicher, nur w i e , dies ist die Frage, die sich in der Offenheit der Lage stellt: „ë, dus£gkritoi pÒnoi: / po‹ tÒde kàm' ¢p£xei; (126f.), fragt der eben auf festem Boden angelangte Chor. Diese Spannung zwischen vorläufig glücklicher Ankunft und ungewissen teleuta… gliedert auch Strophe h . Rein äußerlich ist die Wendung ins Performative nach dem Zeus-Hymnos durch das Auftreten von wiederholten Ephymnien zu erkennen, die sich jeweils zwischen Strophe und Antistrophe schieben und dem affektiven Drängen Nachdruck verleihen. Hierbei bricht auch die ethnische Fremdheit der Danaiden durch, was sich an dem vom Chor verwendeten Wortmaterial zeigt: ƒleîmai m n 'Ap…an boànin / karb©na d' aÙd¦n eâ konne‹j (117f.). Aber als Kontrapunkt findet sich auch wieder die Berufung auf den eigenen Stammbaum - hier in der Adressierung des „apischen Hügellandes“, die auf die Kuh Io weist und in dem Namen Apis eine überaus eigentümliche Vernetzung der ägyptischen und der griechischen Wurzeln der Danaiden enthält; 48 später im Ephymnion b in der Selbstanrede als spšrma semn©j mšga matrÒj (141, 151). Diesem „hehren Sproß der heiligen Mutter“ soll Zeus, pat¾r Ð pantÒptaj (139f.), beistehen, die eÙn¦j ¢ndrîn (141f.) zu vermeiden, ebenso wie dem Chor die jungfräuliche Artemis, die ¡gn£ ... DiÕj kÒra , zur Rettung verhelfen soll, unbezwungen vom Mann: ¢dmÁtoj ¢dm»ta / ·Úsioj genšsqw (145-49). Die Danaiden gehen hier noch über ihren eigentlichen Stammbaum hinaus (Zeus und Io werden zu ihren Eltern) und appellieren an Artemis, die als Identifikationsfigur dient: Ebenfalls Tochter des Zeus, aber unverheiratet. Der Chor ordnet sich so in eine Art Familienverband ein, widerstrebt dabei aber doch entschieden dem institutionellen Zentrum der Familie an sich, der Ehe, die neues Leben hervorbringt. Dazu aber steht in schärfster Opposition die Todesthematik, die der Chor im Zuge seiner Gebete nach dem Hymnos durchgehend erklingen lässt, um seinem Rettungswunsch allen möglichen Nachdruck zu verleihen. Das wiederholte Zerreißen der Kleidung in Ephymnion a ist hier nicht einfach konventionelles Ritual der Trauer, sondern antizipiert die in Strophe q gegen Zeus ausgestoßene Drohung, Selbstmord zu begehen - ein singuläres Vorgehen eines Chores, der doch in jeder Tragödie überleben muss. Der Selbstmord als letztes Druckmittel wird in der Szene mit Pelasgos wieder Verwendung finden und dort den Zuschauer nicht weniger befremden als hier, erscheinen doch die Danaiden jetzt - all ihrer ‚Hellenisierung’ zuvor zum Trotz - als qeom£coi , die sich in diesem heiligen Hain, Zielort der Hikesie, umbringen wollen und dabei gar die wollbekränzten Zweige (21f.) als Schlingen benutzen wollen 48 Zu der in v.117f. offensichtlich intendierten etymologischen „obscurity“ vgl. S ANDIN (2005) 104-06. Hinter dem Adjektiv ”Apioj stehen zwei verschiedene mythologische Figuren: Der Sohn Apollons, den Pelasgos später als Heiler und Reiniger von Argos nennen wird (260-70), und der Gottkönig von Ägypten, der nach der Tradition identisch ist mit Epaphos; dieser ägyptische Apis wird aber in den Hiketiden nicht genannt. <?page no="246"?> Hiketiden 232 (159f.): 49 Eine selbst vorgenommene Integration in den Hades ( tÕn g£ on, tÕn poluxenètaton / ZÁna , 156-58) und den Boden von Argos, der unweigerlich miasmatisch befleckt würde. Nach dieser unerhörten Drohung stellt sich der Chor wieder in seiner Opferrolle dar, wobei er die schon v.52f. gemachte Ankündigung, an die früheren Leiden der Io zu erinnern, zumindest in wenigen Versen wahrmacht: Die mÁnij der Zeus-Gattin Hera sei es in der Konsequenz, die die Danaiden jetzt noch verfolge (163-66), so wiederholt nachdrücklich Ephymnion g . Wird so Zeus quasi zum prîtoj eØret»j für das Leid des Chores, so erscheint auch, ganz im Gegensatz zum Beginn der lyrischen Parodos (40- 47), die Vaterbeziehung zu Epaphos in negativem Licht: Wenn Zeus die Gebete von dessen Nachkommen nicht erhört, so bedeutet das eine Entehrung seines Sohnes ( tÕn t©j boÕj pa‹d' ¢tim£saj , 170). Diesen Kausalzusammenhang schwächt der Chor zwar in Gestalt einer rhetorischen Frage ab, doch dürfte dies für den Zuschauer einer aischyleischen Tragödie eine fürwahr ‚himmelschreiende’ Drohgebärde darstellen, mit der dieser Chor durch seinen überbordenden Affekt vieles von dem sympathetischen Potential einbüßt, das er zuvor beim Zuschauer aufgebaut hat. Der Chor hat am Ende der Parodos gerade die Offenheit erzeugt, die seiner eigenen Diagnose vom unergründlichen Willen des Zeus entspricht. Es entsteht somit in der Parodos ein ambivalentes Bild vom Chor: Einerseits die Verfolgten, Hilflosen, die qšmij auf ihrer Seite zu haben glauben und sich durch genealogische Identität und corÒj -Sein für den Zuschauer ‚hellenisieren’; andererseits der Missbrauch des Hikesie-Rituals im übersteigerten Affekt, aus dem heraus sie sogar Zeus ihren Willen aufzwingen wollen. Letzteres ist ein Kennzeichen der Hybris. 49 Zur Motivik vgl. B URIAN (1971) 44; zum Affront der Selbstmorddrohung N ESTLE (1934) 17f. <?page no="247"?> Hikesie, Miasma, Heilung 233 3. Hikesie, Miasma, Heilung 3.1 Die Instruktionsrede des Danaos an den Chor: frone‹n und Reinheit Auf den expressiven Affekt des Chores, den dieser nun in seiner performance gezeigt hat, reagiert Danaos, der wohl bereits von Anfang an präsent war: 50 pa‹dej, frone‹n cr»: xÝn fronoànti d' ¼kete / pistù gšronti ktl. (176f.). Besonnenheit in Wort und Tat soll den Erfolg der Hikesie garantieren, wie Danaos expliziert: Die Aufforderung, die Zweige fromm in der Hand zu halten ( semnîj , 193) und die a„dèj beim Sprechen zu wahren (a„do‹a ... œph , 194), inbesondere ein qrasustome‹n (203) zu vermeiden, klingt für den Zuschauer wie eine Zurechtweisung angesichts dessen, was der Chor eben noch ‚aufgeführt’ hat. Das ‚gesunde Denken’, sw-frone‹n , ist die bei Aischylos stets anzutreffende mentale Disposition, die konträr gegen das vom Affekt bestimmte, oft geradezu wahnsinnige Handeln steht, das die Ordnung der Gemeinschaft bedroht. Was den Chor betrifft, so hatten wir eingangs aus seiner Ratgeberfunktion abgeleitet, dass ein Chor durch Einflussnahme auf eine dramatis persona, die potentielle saviour-Figur, seine Intention einer ‚Heilung’ der ihn mehr oder weniger intensiv affizierenden Krise erkennen lässt. 51 Dareios fordert den Chor auf, den ‚geisteskranken’ Xerxes zum swfrone‹n zurückzuführen, was bis zu einem gewissen Grad im Kommos unternommen wird. In den Septem versucht der Chor, Eteokles zurückzuhalten, als dieser sich affektiv in die Kampfgier hineinsteigert. In der Orestie bildet der Wunsch aller drei Chöre nach dem swfrone‹n von Individuum und Gemeinschaft den gesunden Zustand der Polisordnung ab. In den Hiketiden ist nun umgekehrt zu beobachten, dass die dramatis persona Danaos dem Chor Ratschläge zum swfrone‹n - zur Vermeidung affektiven Auftretens, besonders aus zu großer Angst heraus - gibt, um die Integration seiner Töchter in die Haus- und Polisordnung von Argos zu erreichen. Beim Chor aber kommt mehrfach die Tendenz zur Hybris zum Vorschein: In den Erpressungsversuchen Zeus und später Pelasgos gegenüber und in der Gleichsetzung des eigenen Willens mit dem des Zeus; der Nebenchor ermahnt dann gar den Hauptchor in v.1061: ... t¦ qeîn mhd n ¢g£zein . Mit dem Mord an den Bräutigamen, die in den Hiketiden selbst als Øbrista… gezeichnet werden, wird dann wohl der Gipfel der Hybris erreicht werden. Sind also die Danaiden auf dem Wege, zu tragischen Figuren vom Schlag einer Klytaimestra zu werden? Ihre Individualität und ihr im Mittelpunkt des Stückes stehendes persönliches Schicksal unterscheidet die Danaiden sicherlich von den anderen, anonymen Chören bei Aischylos, die ihrerseits Einfluss nehmen auf die dramatis personae, um die Ordnung der Gemein- 50 So T APLIN (1977) 193f. 51 Sh. oben S.91f. <?page no="248"?> Hiketiden 234 schaft wiederherzustellen oder zu bewahren. Aber mit dem Mädchenchor der Septem und dem Greisenchor des Agamemnon, die von Eteokles und von Klytaimestra und Aigisthos zum swfrone‹n ermahnt werden, 52 teilen die Danaiden doch auch wieder das Merkmal der vertikalen Unterordnung und der Abhängigkeit. Immerhin muss ja auch der Chor der Hiketiden erst Einfluss auf Pelasgos nehmen, um die Rettung für sich zu erreichen: Die Ambivalenz von Aktivität und Passivität des Chores hinsichtlich der Einflussnahme auf und durch eine dramatis persona ist parallel zur Konstellation der Septem und des Agamemnon, ja auch der Perser (Ratschlag des Dareios an den Chor, der weitergegeben werden soll an Xerxes) und der Choephoren, wo der Chor zwar selbst durchgehend Einfluss nimmt, aber umgekehrt Anweisungen zum passenden Verhalten in der Intrigenhandlung bekommt (Cho. 581f.). - Grundsätzlich freilich ist unbekannt, ob die Danaiden in den Aigyptioi oder den Danaides nun als Mörderinnen nochmals in persona auf der Bühne und damit in eigentlichem Sinne als schuldige Verbrecherinnen und Øbrista… wirklich sichtbar waren. Das von den Danaiden eingeforderte swfrone‹n hat aber noch einen spezifischeren Sinn: Es ist die von Frauen erwartete Kardinaltugend, die ihrem Status im Oikos entspricht und auch das Verbot sexueller Aktivität beinhaltet, die außerhalb der normalen Ehe stattfindet. 53 In diesem Sinne wird Danaos kurz vor Ende seine Töchter ermahnen, in Argos züchtig im Haus zu bleiben und nicht Männerblicke auf sich zu ziehen: ... tÕ swfrone‹n timîsa toà b…ou plšon (1013). In dieser Form der swfrosÚnh - der Absage an den affektiven Eros - tritt auch und gerade n a c h der Integration das Grundproblem der Danaiden zutage: Sie sind heiratsfähig und befinden sich in einem Übergangsstatus zwischen Jugend und Erwachsensein. Auch von hieraus stellt sich die Frage: „Ablehnung nur dieser Verwandtenehe oder jeder Ehe? “ nicht in dieser strikten Form. Die vor der Integration von den Mädchen geforderte swfrosÚnh besteht vorwiegend darin, den übermäßigen fÒboj in der noch labilen Situation zu ersetzen durch q£rsoj (600, 724, 732, 740, vgl. 710); nach dem aus hysterischem fÒboj geborenen Affront gegen Zeus am Ende der Parodos gibt Danaos dem Chor eine Schulung in angemessenem Auftreten und passender Rhetorik. Aber gegenüber diesen Versuchen, den Affekt des Chores einzudämmen, bricht der fÒboj immer wieder durch, es wird auch mit der Selbstmorddrohung zu einer gewaltigen Provokation des Pelasgos und seiner Polis Argos kommen - all dies zeigt dem Zuschauer die Brüchigkeit der durch die Hikesie nur scheinbar erreichten ‚Heilung’. Hier nun willigt der Chor sofort ein: p£ter, fronoÚntwj prÕj fronoàntaj ™nnšpeij (204). Wenn Zeus jetzt wieder als unterstützender genn»twr (206) 52 Sh. oben S.173 und unten S.298. 53 Vgl. etwa Eur.Hkld. 476f. gunaikˆ g¦r sig» te kaˆ tÕ swfrone‹n / k£lliston, e‡sw q' ¼sucon mšnein dÒmwn , Hipp. 413f. misî d kaˆ t¦j sèfronaj m n ™n lÒgoij, / l£qrv d tÒlmaj oÙ kal¦j kekthmšnaj . <?page no="249"?> Hikesie, Miasma, Heilung 235 eingebunden werden soll, so wie er in der Parodos als Erfolgsgarant erschien, so zeichnet sich hier eine gerade, teleologische Linie des von Zeus erhofften Eingreifens ab: ke…nou qšlontoj eâ teleut»sei t£de (211). 54 Im Lichte des Zeus-Hymnos ergäbe sich eine gemeinsame Ebene von göttlichem und menschlichem Handeln, denn Zeus setzt sein frÒnhma ohne b…a durch - so soll auch vor Pelasgos die Kraft der Peitho siegen. Dem Zuschauer eröffnet sich aber noch ein weiterer Sachzusammenhang, der in der Diskussion mit Pelasgos über die Aufnahme der Danaiden von großer unmittelbarer Bedeutung für den Plot ist, darüber hinaus aber, durch stete thematisch-motivische Präsenz, dem Zuschauer die Opposition von Heilung und Verschärfung des gesamten Konfliktes für den Chor und die Polis Argos vor Augen führt: Es ist die Angst vor einem Miasma, die zum Antriebsfaktor der Aktanten wird, denn durch das Vergießen verwandten Blutes droht der Boden von Argos über Generationen hinweg befleckt zu werden. Gegenüber den Septem ist die Situation hier um einiges komplizierter. Die Danaiden tragen keine Blutschuld mit sich (196, vgl. 6) und wollen zugleich, was die Ehe mit ihren Cousins betrifft, „rein“ bleiben, wie ihr Appell an Artemis zeigt, wo das Signalwort ¡gn£ (144f.) gefallen ist. Als nun die argivische koinobwm…a abgegangen wird, wird auch Apollon, wegen seines einst temporären Flüchtlingsstatus, als „reine“ Schutzgottheit angerufen: ¡gnÕn g' 'ApÒllw, fug£d' ¢p' oÙranoà qeÒn (214). Dann weist Danaos seine Töchter an, den Usus der Hikesie zu befolgen und sich an diesem „reinen“ Ort zu setzen: p£ntwn d' ¢n£ktwn tînde koinobwm…an sšbesq': ™n ¡gnù d' ˜smÕj ìj pelei£dwn †zesqe k…rkwn tîn Ðmoptšrwn fÒbJ, ™cqrîn Ðma…mwn kaˆ miainÒntwn gšnoj . Ôrniqoj Ôrnij pîj ¨n ¡gneÚoi fagèn; pîj d' ¨n gamîn ¤kousan ¤kontoj p£ra ¡gnÕj gšnoit' ¥n; ; oÙd m¾ 'n “Aidou qanèn fÚgV mata…wn a„t…aj pr£xaj t£de . k¢ke‹ dik£zei t¢<m>plak»maq', æj lÒgoj, ZeÝj ¥lloj ™n kamoàsin Øst£taj d…kaj . skope‹te, k¢me…besqe ttÒnde tÕn trÒpon, Ópwj ¨n Øm‹n pr©goj eâ nik´ tÒde . (222-33) Diese Passage gibt einen neuen Ansatzpunkt dafür, warum Danaos und seine Töchter die Hochzeit vermeiden wollen, aber wieder keine vollständige Erklärung: Auch hier ist die Offenheit intendiert. Die Gewalttätigkeit der Aigyptiden, die als Habichte den Taubenschwarm verfolgen (eine Fortentwicklung des Nachtigall-Gleichnisses, wo Tereus ja ein Habicht war), ist 54 Mit P AGE und S ANDIN (2005) 25 und 131f. ist hier v.211, gegen W EST , dem Chor gegeben. <?page no="250"?> Hiketiden 236 nicht das eigentliche Movens der Flucht: Es handelt sich um Blutsverwandte, die den Danaiden Feind sind und „das Genos besudeln“. Mit letzterem kann nicht nur die Verfolgung und Gewalttätigkeit gemeint sein. Denn dass ein Vogel vom anderen frisst und somit unrein wird, deutet, zusammen mit dem Parallelismus von fagèn und gamîn , doch sehr auf unmittelbaren körperlich-fleischlichen Kontakt hin, der sowohl dem Kannibalismus als auch der Verwandtenehe zugrunde liegt und zu einer Verunreinigung führt. Bei der Heirat ist es dann aber nicht das Faktum der Blutsverwandtschaft an sich, sondern das Nicht-Wollen von Töchtern und Vater, das zur Nicht- Reinheit der Bräutigame führt, die sich auch im Hades nicht abwaschen lässt; die schon v.225 befürchtete Verunreinigung des Genos ist im Rahmen der Befriedigung fleischlicher Lust (so könnte man das Gemeinsame von Fressen und Heiraten definieren) auch auf das ‚Opfer’ zu beziehen, das heißt, auch die Danaiden würden miasmatisch befleckt. In diesem Kommentar des Danaos, der von einiger Länge und folglich von Bedeutung ist, könnte ein Bestreben erkennbar sein, einen Inzest zu vermeiden, welcher die Folge einer zuvor (37-39) als Besitzaneignung gegen den Willen der Danaiden und gegen qšmij gebrandmarkten Ehe zu sein scheint - so stellt es jedenfalls Danaos dar. 55 Es bleiben aber zu viele Leerstellen, nicht nur hier, sondern auch später, um hier wirklich eindeutige Antworten geben zu können, und Vorsicht ist angebracht, die sprachliche Textur überzustrapazieren. Weder der Chor noch Danaos klären den Zuschauer über die Beweggründe der Flucht und der Vermeidung der Verwandtenehe wirklich auf. Dies erzeugt Spannung, setzt aber Danaos und seine Töchter - der durch Affekte erzielten sump£qeia zum Trotz - ins Zwielicht. Für den Zuschauer ist hier wesentlich, dass die Gefahr eines Miasma heraufbeschworen wird, respektive, dass diese Thematik überhaupt erst eingeführt wird, die dem Konflikt innerhalb des Genos 55 Nur auf die gewaltsame Verfolgung beziehen FJ-W II (1980) das Gleichnis: „i.e. contravening the ties of kinship by persecuting their own kind“ (181); nur darauf weise auch der v.226 angesprochene Kannibalismus. Aber die Verbindung zwischen verbotenem sexuellen Kontakt und Essen ist gängig „throughout the world“ (98), so P ARKER (1983), der auf die Mythen von Thyest, Tereus und Clymenus hinweist, die alle nach ihren sexuellen und insbesondere gewaltsamen Übergriffen das Fleisch ihrer Kinder zu essen bekommen. Inzest sprenge sogar jede Vorstellungskraft, so P ARKER , da keine Reinigung möglich sei (vgl. Plat.Rep. 571 c3-d4). Für vorliegende Passage aus den Hiketiden hält P ARKER die Furcht vor inzestuöser Ehe zumindest für möglich. Dass Tereus v.62 entgegen der Tradition als Habicht (und nicht als Wiedehopf) erscheint, hängt natürlich mit dem Gleichnis hier zusammen, könnte aber durch die Besonderheit seines Mythos noch größeres Sinnpotential enthalten. Vgl. weiter den Bericht des Prometheus über die Danaiden: ... feÚgousa s suggenÁ g£mon / ¢neyiîn: oƒ d' ™ptohmšnoi fršnaj, / k…rkoi peleiîn oÙ makr¦n leleimmšnoi, / ¼xousi qhreÚontej ooÙ qhras…mouj / g£mouj ktl. (Prom. 855-59). Hier dürfte suggenÁ mehr als bloß deskriptiv sein, und oÙ qhras…mouj beinhaltet geradezu ein Verbot: „die Heirat, die nicht erjagt werden darf.“ Für die weiteren Forschungsmeinungen zur Verwandtenehe, allerdings im sozialen Kontext (Endogamie versus Exogamie, Status der Danaiden als ™p…klhroi ), sh. den Überblick bei G ARVIE (1969) 216-21. <?page no="251"?> Hikesie, Miasma, Heilung 237 und der bislang vorgenommenen Schwarz-Weiß-Malerei weitere Kontur verleiht: 56 Eine erfolgreiche Hikesie wird die Reinheit der Danaiden garantieren, die sich schon ™n ¡gnù niedergelassen haben. Dass sie gleich selbst ein Miasma an diesem reinen Ort androhen und dieses später durch die Morde an den Bräutigamen (worauf vv.228-31 mit der Verfrachtung der Unreinen in den Hades vielleicht schon dunkel hingewiesen wird) für Argos verursachen, steht auf einem anderen Blatt. Das Miasma-Problem, das hier nur in Bezug auf das Genos eingeführt wird, erweitert sich im Folgenden auf eine ganze Polis. Argos ist für die Danaiden Ursprungs- und Integrationsland zugleich. Nach der Instruktionsrede des Danaos kann der Zuschauer erwarten, dass bei der Durchsetzung des Wunsches des Chores zum einen das geforderte frone‹n , welches insbesondere eine Vermeidung von unschicklichem, affektgesteuertem qrasustome‹n (203) beinhaltet, wichtig ist, und zum anderen der von Danaos umrissene miasmatische Kontext. 3.2 Die Argumente des Chores vor Pelasgos: Affekt und Miasma 3.2.1 Apis und der gesunde Boden von Argos Pelasgos blickt als Grieche auf die fremde Schar: toàto qaumastÕn pšlei (240) und gibt Auskunft über seine Identität: Er ist Sohn des „erdgeborenen Palaichthon“ (250) und Eponymos des Genos der Pelasger (252), welches über ein ansehnliches Gebiet herrscht. Immer wieder treten in dieser Rhesis die Begriffe gÁ , cqèn und cèra auf und verweisen ähnlich emphatisch wie in den Septem auf die Bedeutsamkeit dieser Thematik für die tragische Handlung: Denn diesen Boden gilt es rein zu halten von einem Miasma, nachdem ihn einst Apis, der Sohn des Heilers Apollon, gereinigt hatte. Die ganze zweite Hälfte der Auftrittsrhesis gilt diesem Mythos, mit dem Pelasgos, so wie die Danaiden, weit zurückgeht in die eigene Geschichte. aÙtÁj d cèraj 'Ap…aj pšdon tÒde p£lai kšklhtai ffwtÕj „atroà c£rin: ’Apij g¦r ™lqën ™k pšraj Naupakt…aj „atrÒmantij pa‹j 'ApÒllwnoj cqÒna t»nd' ™kkaqa…rei knwd£lwn brotofqÒrwn, t¦ d¾ p palaiîn aƒm£twn mi£smasi cranqe‹s' ¢nÁke ga‹a † mhne‹tai ¥kh † drakonqÒmilon dusmenÁ xxunoik…an . toÚtwn ¥¥kh toma‹a kaˆ lut»ria pr£xaj <¢>mšmptwj ’Apij 'Arge…v cqon… mn»mhn tot' ¢nt…misqon hÛret' ™n lita‹j . (260-70) 56 Hierbei lässt sich auch insofern eine Kontinuität erkennen, als der „freigewählten Männerflucht“ und dem vom Chor geforderten frone‹n die „unfromme Gesinnung“ ( ¢sebÁ diano…an , 9f.) und Hybris gegenübergestellt werden. <?page no="252"?> Hiketiden 238 Offensichtlich hat einst die Erde wegen einer Blutschuld ( mi£smata ) Ungeheuer entstehen lassen, von denen dann der Boden durch Apis in der Funktion eines „atrÒmantij gereinigt wurde. 57 Was hier äußerlich der eponymen Erklärung des Namens „Apisches Land“ dient, ist rezeptionsästhetisch gesehen eine eindringliche, obgleich völlig unabhängig - von Pelasgos - durchgeführte Fortsetzung der eben erst eingeführten Miasma-Thematik: Möchte Danaos sein Genos rein halten, so Pelasgos den Boden seiner Polis. Dass Apis wegen seiner Gründungstat in Gebeten verehrt wird, bedeutet für den jetzigen König auch Verantwortung für den gesunden Boden von Argos. Dies ist die zentrale Komponente der späteren Auseinandersetzung zwischen Pelasgos und dem Chor. Dann hört der Zuschauer, der vom rhetorischen Programm des Chores schon Bescheid weiß, wie Pelasgos über das Genos der Danaiden informiert wird. 58 Das Widerspiel von ‚barbarischem’ Fremdsein und Zugehörigkeit zu Argos wird hier für den Zuschauer fortgesetzt, der sich wie Pelasgos (der der Fragende in der Stichomythie vv. 291-323 ist) detailliert informieren lässt. 3.2.2 Die Taktik des Chores: Vermeidung der Ursachenforschung Die sich anschließende Bitte der Danaiden um Aufnahme in Argos führt in eine neue Stichomythie, in der der Chor den wahren Grund der Flucht nicht preisgibt: <Pe.> t… fÊj ƒkne‹sqai tînd' ¢gwn…wn qeîn, leukostefe‹j œcousa neodršptouj kl£douj; <Co.> æj m¾ gšnwmai d dmw j A„gÚptou gšnei. Pe. ppÒtera kat' œcqran, À tÕ m¾ qšmij lšgeij; <Co.> t…j d' ¨n filoàs' Ônoito toÝj kekthmšnouj; <Pe.> sqšnoj m n oÛtw me‹zon aÜxetai broto‹j. <Co.> kaˆ dustuco<Ú>ntwn g' eÙmar¾j ¢pallag». Pe. pîj oân prÕj Øm©j e eÙseb¾j ™gë pšlw; ; Co. a„toàsi m¾ 'kdoÝj paisˆn A„gÚptou p£lin. Pe. barša sÚ g' e paj, pÒlemon ¥rasqai nšon. Co. ¢ll' ¹¹ D…kh ge xumm£cwn Øperstate‹. Pe. ee‡per g' ¢p' ¢rcÁj pragm£twn koin<wn>Õj Ãn. Co. a„doà sÝ prÚmnan pÒleoj ïd' ™stemmšnh<n>. <Pe.> p pšfrika leÚs<s>wn t£sd' ›dra<j> katask…ouj: barÚj ge mšntoi ZhnÕj ƒkes…ou k kÒtoj. (333-47) 57 In den Persern spielt Dareios die Figur eines „atrÒmantij , sh. oben S.131ff. - Als eine „Folie für die Danaiden-Handlung“ interpretiert auch G ÖDDE (2000) 238-44 (Zitat 239) die Apis-Geschichte, mit Schwerpunkt auf den Vorstellungsbereichen ‚Überschreitung’, ‚Ausgrenzung’ und ‚Mischung’. 58 Vgl. v.277 ¥pista muqe‹sq' mit v.55 pist¦ tekm»ria (zuvor hatte Pelasgos seine eigenen tekm»ria (271) aufgezeigt). <?page no="253"?> Hikesie, Miasma, Heilung 239 Die Frage des Pelasgos nach dem Grund der Flucht soll zu einer entsprechenden, klaren Antwort der Danaiden führen - sowohl für den König als auch für den Philologen. Da dies aber nicht der Fall ist und sich auch nicht mit Hilfe der anderen einschlägigen Stellen ein wirklich deutliches Gesamtbild erstellen lässt, was der tatsächliche Impuls gewesen ist, die Ehe abzulehnen und Asyl zu beantragen, liegt der Schluss nahe, auch hier eine Verschweige- und Verzögerungstaktik am Werke zu sehen: Sowohl was Pelasgos betrifft, der mit anderen Mitteln dazu gebracht werden soll, die Danaiden aufzunehmen, als auch mit Blick auf den Zuschauer, mit dessen Erwartungshaltung weiterhin gespielt wird. Die letztgültige Erklärung, vielleicht das Orakel an Danaos, wird wohl erst jenseits der Hiketiden nachgereicht. Auffallend ist ja, dass Danaos bei seinen Instruktionen lediglich auf den M o d u s der Rede und auf das A u f t r e t e n der Töchter Bezug genommen hatte, nicht aber darauf, dass sie den wahren Grund der Flucht Pelasgos gegenüber offenlegen sollten; allein die „blutschuldfreie Flucht“ zu erwähnen - mithin das Argument der Reinheit der Flüchtlinge - war dort eine auf den I n h a l t gerichtete Anweisung, die jedoch für den eigentlichen Grund nichts hergibt, ja offensichtlich nichts hergeben soll: torîj lšgousai t£sd' ¢naim£ktouj fug£j (196). Diese Explizitheit ( torîj ) steht zusammen mit der Nennung der Herkunft - ein torÕj màqoj (274), in dem alles wahr ist ( ¢lhqÁ p£nta , 276) - in einer geradezu provozierenden Spannung zum Verschweigen dessen, was offenbar problematisch ist. 59 Zum einen scheint dies zu sein die Furcht vor miasmatischer Befleckung innerhalb des Genos, über die Danaos zuletzt, an exponierter Stelle vor dem Auftritt von Pelasgos, gesprochen hatte. Darüber aber wird der Chor niemals reden, obwohl es sich zuvor zweifellos um eine wichtige Information für den Zuschauer handelt. 60 Zum anderen ist in den Hiketiden insgesamt mit hinreichender Deutlichkeit zu erkennen, dass es bei Forderung und Verweigerung der Ehe um ein - im weiteren Sinne - rechtliches Problem geht: Die Ehe sei von qšmij verboten (37-39), so der Chor kurz zum Zuschauer - vielleicht wegen des inzestuösen 59 Die vv.291-324 vorgenommene Entrollung des Stammbaumes der Danaiden ist voll von Vokabular, das auf Wissen und die Wahrheit dieser Vorgeschichte weist: e„de…hn (289), fas… (291), f£tij poll» (293), lÒgoj tij (295), fas…n (301), œlexaj sugkÒllwj (310), ¢lhqîj (315), ¢fqÒnJ lÒgJ (322), e„dèj (323); vgl. auch schon ¢yeudÁ lÒgon (246) vom sichtbaren Erscheinungsbild der Danaiden. - Orest gibt in den Choephoren dem Chor eine überaus deutliche Anweisung, um der Intrigenhandlung, in die der Zuschauer von vornherein voll eingeweiht ist, zum Erfolg zu verhelfen: ... sig©n q' Ópou de‹ kaˆ lšgein t¦ ka…ria (582). 60 Das Verspaar 232f.: skope‹te k¢me…besqe tÒnde tÕn trÒpon / Ópwj ¨n Øm‹n pr©goj eâ nik´ t£de scheint besser nach v.203 zu passen, als Abschluss der Instruktionen, das qrasustome‹n zu vermeiden (vgl. überzeugend S ANDIN (2005) 140f.). Ohne Umstellung könnte man sagen, die Redestrategie des Chores solle sich nach Danaos’ Wunsch auf die Miasma-Thematik beziehen: Auf den Wunsch, rein zu bleiben, und sei es um den Preis der Befleckung von Argos. - Auch im Agamemnon ist es, wie zu sehen sein wird, typisch für den Chor, dass man nie genau sagen kann, was er weiß, was nicht, was er verschweigt oder nur ahnt. <?page no="254"?> Hiketiden 240 Miasma, vielleicht (auch? ) wegen des Orakels, sofern man S ICHERL folgen will. In der Stichomythie wird nun zunächst die ¢kous…a der Danaiden wiederaufgenommen, allerdings nicht wieder in Verbindung mit dem befürchteten Miasma im Genos ( ¤kousan ¤kontoj p£ra , so Danaos noch in v.227), sondern dahingehend, dass die Aigyptiden als gewaltsame Sklavenhalter ihrer Frauen in spe erscheinen. In v.335 fällt das Wort dmw…j auf, später v.392f. heißt es: Øpoce…rioj kr£tesin ¢rsšnwn . Aber die befürchtete Unterordnung ist nicht die eigentliche Ursache der Verweigerung - sonst würde Pelasgos nicht noch weiter nach dem Grund der Ablehnung fragen: pÒtera kaq' œcqran, À tÕ m¾ qšmij lšgeij ; (336) - „Aus Hass? Oder sprichst du von Unrecht? “ Die Antwort der Danaiden besteht in einer rhetorischen Frage: t…j d' ¨n filoàs' Ônoito toÝj kekthmšnouj; (337) - „Welche (Frau) sollte denn ihre Herren, wenn sie sie liebt, von sich stoßen? “ Sofern man W EST s Textgestaltung dieser im Verständnis überaus schwierigen Passage zustimmt, 61 dürfte diese Reaktion der Danaiden auf Pelasgos’ Wahlfrage anzeigen, dass sie nicht willens sind, sich überhaupt auf eine Diskussion über eine Rechtsfrage einzulassen - sie rekurrieren zwar auf die erste Möglichkeit, den Hass, dies aber in der Form der rhetorischen Frage, die ja erst ihrerseits entschlüsselt werden muss. Dies ist für die Gesprächssituation umständlich und verunklart das ‚entweder - oder’ des Sachverhaltes. Man hat den Eindruck, als weiche der Chor der Beantwortung der Wahlfrage grundsätzlich aus. Auf die Frage der qšmij , die zweite von Pelasgos genannte Möglichkeit, geht der Chor überhaupt nicht ein, obwohl er selbst, als er noch allein mit dem Zuschauer war (37-39), von qšmij gesprochen hatte - aber ohne näher auszuführen, wieso denn qšmij die Heirat verbiete: Dort, wo es um Informationsvergabe für den Zuschauer geht, deuten die Danaiden etwas an, geben es aber nicht preis; hier, wo es um sachliche Klärung geht, weichen sie aus. Mit v.340 beginnt schlagartig eine andere thematische Linie. Als Pelasgos versucht, eine Diskussion offenbar über die Vorteile einer Ehe, nämlich zunächst den durch sie gewonnenen Machtzuwachs, anzustoßen (338, man beachte das einleitende mšn , das eine Fortsetzung erwarten lässt), bemerken die Danaiden bitter, er wolle sie wohl jetzt loswerden. Pelasgos fragt klein- 61 Überliefert ist: t…j d' ¨n f…louj ênoito toÝj kekthmšnouj . Das Hauptproblem liegt in ênoito , das zunächst geändert werden kann in Ônoito („schmähen“) oder çne‹to respektive çno‹to („kaufen“). P AGE liest (nach R OBORTELLO ): f…louj Ônoito , FJ-W und W EST lesen (nach M ARKSCHEFFEL ) filoàj' Ônoito , beides bezöge sich also auf die nicht vorhandene fil…a . Hingegen brächte eine Form von çne‹sqai den Aspekt der Mitgift ins Spiel (vgl. die Bezeichnung der mit anwesenden Dienerinnen als fern» , 981), mit der sich die Danaiden ihre Herren erkaufen würden - eine Aussage voll bitterer Ironie (so von F ÖLLINGER (2003) 195f. gedeutet). Allerdings kommt der Aspekt des Kaufens nirgends sonst im Stück vor; im Gegenteil wollen sich die Aigyptiden ja ihren Besitz raubtierhaft greifen (vgl. R OHWEDER (1998) 51f. Anm.71). S ANDIN (2005) 181 erinnert an P ORTUS ’ Vorschlag o‡oito , der von W EST nicht in den Apparat aufgenommen wird: „who would think their owners to be friends? “ Probleme bereitet das Verständnis der gesamten Passage vv.335-40, in der Verse ausgefallen sein könnten, da sich nur v.336 und 340 Sprecherbezeichnungen im Manuskript finden; vgl. S ANDIN (2005) 180f. <?page no="255"?> Hikesie, Miasma, Heilung 241 laut, wie er an ihnen zum eÙseb»j werden könne - dieser abrupte, von den sich als hilflos darstellenden Danaiden emotional bewirkte Wechsel erstickt die Frage nach dem Recht endgültig im Keim. Dazu passt, dass der Chor später noch zweimal ausweicht. Als Pelasgos auf den Bestärkungsversuch des Chores, Dike sei mit ihren xÚmmacoi , suspekt bemerkt: „Ja, wenn denn Dike wirklich von Anfang an einen Anteil an eurer Sache hatte.“ (344), weicht der Chor aus und pocht auf die religiöse Verpflichtung des Schutzherren: a„doà ktl. Diese Vokabel weist in die Sphäre der eÙsšbeia . Und als dann Pelasgos einen neuen Anlauf unternimmt und nach dem ägyptischen nÒmoj fragt (387-96), wird er nur ein emotionales Aufbrausen verursachen. Der Chor lässt also Pelasgos gar nicht nach möglichen tiefer liegenden Ursachen schürfen, lässt ihn die konkurrierenden Rechtsansprüche nicht abwägen, sondern insistiert ausschließlich auf dem Anspruch, der Dike der Schutzflehenden zur Durchsetzung zu verhelfen. Damit eröffnet sich im Rahmen der Hikesie auch eine religiöse Dimension. Nur noch auf dieser Ebene versucht der Chor auf Pelasgos einzuwirken, und dies über den Weg des Affektes, im Medium lyrischer Strophen. Dabei kombiniert der Chor Bitten mit Drohungen: Eine Ambivalenz, die der Zuschauer schon aus der Parodos kennt. 3.2.3 Pathos und Logos - Die Furcht vor dem Miasma Der Ansatzpunkt dafür, dass der Chor nun die Ebene des Pathos betritt und eine auf den Affekt zielende Strategie zum bloßen Logos hinzutreten lässt, ist Pelasgos’ Bekenntnis, er schaudere ( pšfrika ) beim Anblick des Hikesie- Tableaus und fürchte den kÒtoj von Zeus (346f.). Daraufhin singt der Chor in Dochmiern, d e m Metrum des fÒboj , und stellt in Strophe a die ‚Bodenhaftigkeit’ und Macht des Pelasgos seiner eigenen hilflosen Notlage gegenüber: Wie das vom Wolf verfolgte Kalb am Abgrund, im wilden Draußen, zum Hirten blökt, so singt der Chor vor Pelasgos, dem Sohn des Palaichthon und Herrscher der Pelasger, von seinen mÒcqoi (353). Dieser also auf Mitleid abzielenden Strophe setzt Pelasgos aus seiner Innenperspektive die Sorge um die Polis entgegen: Er ist die saviour-Gestalt sowohl für die Danaiden als auch für seine Untergebenen. Dies ist Bestandteil seiner Tragik. Seinem rationalen Abwägen und Planen, der promhq…h (vgl. 357) gegenüber steht die im Folgenden in stets wechselnden lyrischen Metren ausgedrückte emotionale Expressivität des Chores. Dieser beschwört nun durchweg die Gefahr eines Miasma herauf, sollte ihm die Hikesie versagt werden. Also um die e i g e n e Reinheit zu bewahren, welches Bestreben die Appelle an Artemis ¡gn£ (144f.) und Apollon ¡gnÒj (214) sowie die Ausführungen von Danaos (222- 31) über das drohende Miasma für das Genos noch vor Pelasgos’ Auftritt dem Zuschauer immer wieder nahegebracht haben, argumentiert der Chor jetzt gerade mit dem, was als unumstößliche Wahrheit das religiöse Empfinden auch des Zuschauers aufs stärkste berührt. Andererseits dürfte den Zuschauer Unbehagen darüber beschleichen, dass der Chor den von Danaos <?page no="256"?> Hiketiden 242 gewiesenen Weg der a„do‹a œph (194) und des frone‹n verlässt. Und Pelasgos mit einem Miasma zu drohen, davon war in Danaos’ Instruktionen nie die Rede. Die einander widerstrebenden Zielsetzungen offenbaren sich in der Wiederaufnahme von Wertbegriffen. So gleich in Antistrophe a , wo ¥naton fug£n (359) als das Schutzobjekt der ƒkes…a Qšmij den Wunsch des Pelasgos nach einem ¥naton pr©gma (356) für die Polis aufnimmt. 62 Die vom Chor verwendete Miasma-Thematik beginnt eher versteckt damit, dass er - der Text v.363f. ist leider korrupt - zunächst positiv die Belohnung des ¢n¾r ¡gnÒj , der einem Schutzflehenden a„dèj erweist, durch die Götter hervortut. Pelasgos aber zeigt die gewichtige Tatsache auf, dass es sich hier nicht um seine private ˜st…a handelt, sondern sich die Gefahr einer miasmatischen Verunreinigung auf den ganzen Boden der Polis richtet und entsprechend der gesamte laÒj am Finden eines Heilmittels beteiligt werden muss: ... tÕ koinÕn d' e„ m mia…netai pÒlij, xunÍ melšsqw laÕj ™kpone‹n ¥¥kh . (366f.) Gegenüber den Septem stellt diese Haltung einen bemerkenswerten Unterschied dar, hatte sich dort doch Eteokles über die Bedenken des sich um die Polis sorgenden Chores hinweggesetzt, der Bruderkampf würde den Boden von Theben beflecken. Der Demokratie in Argos, die in den Hiketiden präsent ist, hat die Forschung zu Recht viel Aufmerksamkeit geschenkt. 63 Doch lässt sich die Rezeptionshaltung des Zuschauers wohl nicht auf ein eindeutiges Für und Wider festlegen - dergestalt, dass der demokratische Grieche Pelasgos die Zustimmung auf seiner Seite habe gegenüber dem ‚barbarischen’ Chor, dem entsprechende demokratische Gepflogenheiten fremd sind, wie er ja in Strophe b deutlich zu erkennen gibt: sÚ toi pÒlij, sÝ d tÕ d»mion (370). Denn der Chor macht sowohl Pelasgos als auch den Zuschauer durch seinen Affekt fortwährend auf die eigene Notlage aufmerksam. Sein fÒboj ist eine eigenständige Größe, ebenso wie die Gefahr eines Miasma: ¥goj ful£ssou (375) warnt der Chor prononciert am Ende von Strophe b . Dies muss der Zuschauer ernst nehmen (Angst und Miasma sind thematisch auch im II. Epirrhema der Septem verknüpft) - andererseits kann er sich ebenso in die tragische Lage von Pelasgos hineinversetzen, der sein Dilemma prägnant zum Ausdruck bringt: ¢mhcanî d kaˆ fÒboj m' œcei fršnaj / dr©sa… te m¾ dr©sa… te kaˆ tÚchn ˜le‹n (379f.). Die Selbstdiagnose der Affizierung mit fÒboj im Zwerchfell ist eine probate Methode, wie sie sonst 62 Vgl. weiter dwm£twn ™fšstioi (365) - ˜st…an cqonÒj (372), ¥goj (375) - ¥goj (376), kratoàsi (387) - kr£tesin (392), kr‹ne (396) - oÙk eÜkriton tÕ kr‹ma: m¾ m' aƒroà krit»n (397), front…doj (417) - frÒntison (418). 63 Vgl. bes. B ERNEK (2004) 45-76 und G RETHLEIN (2003) 48-84 und 97-107, jeweils mit weiterer Literatur; zuvor etwa S OMMERSTEIN (1997), bes. 74-76. - Im II. Stasimon vv. 698-703 scheint der Chor die absolute Gewalt des Volkes (an)erkannt zu haben: tÕ d£mion, tÕ ptÒlin kratÚnei, / promaqˆj eÙkoinÒmhtij ¢rc£ (698f). <?page no="257"?> Hikesie, Miasma, Heilung 243 der aischyleische Chor verwendet, um eine sympathetische Haltung des Zuschauers zu erzeugen. 64 Um eine Entscheidungshilfe zu geben, evoziert der Chor daraufhin den kÒtoj von Zeus, der Pelasgos träfe, sollten die Danaiden ihre Dike nicht bekommen: d…kaj oÙ tugc£nousin ™nnÒmou (384). Die auf eine allgemeinere Gesetzmäßigkeit abzielende Ausformulierung dieser Antistrophe b , in der das Ich des Chores fehlt, soll der Konstellation den Anstrich der Objektivität geben; und doch tragen Begriffe aus dem affektiven Wortschatz wie polupÒnwn und o‡ktoij dazu bei, den hilflosen Status gerade d i e s e r Schutzbedürftigen zu verdeutlichen. Dass die Umsetzung der Dike aber nun einem nÒmoj gemäß sein soll, gibt Pelasgos Anlass dazu, nochmals - und ein letztes Mal - nach der Legitimität der Flucht und damit auch nach deren Ursache zu fragen: e‡ toi kratoàsi pa‹dej A„gÚptou sšqen nÒmJ pÒlewj, f£skontej ™ggÚtata ggšnouj e nai, t…j ¨n to‹j ¢ntiwqÁnai qšloi; de‹ to… se feÚgein kkat¦ nÒmouj toÝj o‡koqen, æj oÙk œcousi k kàroj oÙd n ¢mfˆ soà . (387-91) Nachdem der Chor eben noch auf die Umsetzung der d…kaj ™nnÒmou im Rahmen von Hikesie und Zeus-Ordnung gedrängt hatte, und dies in scheinbar nicht zu hinterfragender objektiver Formulierung, lenkt Pelasgos den Blick des Zuschauers erstmals darauf, ob die Danaiden mit ihrer Eheverweigerung und Flucht nicht ihrerseits nach ä g y p ti s c h e m nÒmoj einen R e c h t s b r u c h begangen haben, falls nämlich die Aigyptiden auf ihre Cousinen gerade aufgrund ihrer Verwandtschaft einen Anspruch haben. Dies steht in krassem Widerspruch zu der Position des Danaos, dass eine solche - gegen den Willen von Vater und Töchtern geschlossene - Ehe ein Miasma für das Genos bedeuten würde. Die höchst emotionale Reaktion des Chores, wieder in Dochmiern, und das Ausweichen vor der sachorientierten Erwägung des Staatsmannes signalisieren deutlich, dass hier in der Tat eine Grundsatzfrage angestoßen wird: m» t… pot' oân geno…man ØØpoce<…>rioj kr£tesin ¢rsšnwn: Ûpastron dš toi mÁcar Ðr…zomai g£mou dÚsfronoj fug£n. xÚmmacon d' ˜lÒmenoj DD…kan 64 Wenn man sich interpretatorisch auf den Gegensatz ‚griechisch’ versus ‚fremd’ konzentriert und daraus eine Charakterisierung des Pelasgos und der Danaiden ableitet, ohne jeweils die affektive Komponente der Beteiligten in ihrer Bedeutung für den Zuschauer zu berücksichtigen (der gerade dem hilflosen Chor sump£qeia entgegenbringen kann), kommt man möglicherweise zu dem Schluss, Pelasgos sei die „Identifikationsfigur für das athenische Publikum“, zumal er „zu Beginn gleichsam die Funktion einer ‚internal audience’ “ übernehme (G RETHLEIN (2003) 89). Diese Deutung dürfte aber die perspektivische Steuerung, die der Chor in der Parodos ganz alleine vornimmt, unterschätzen. <?page no="258"?> Hiketiden 244 kr‹ne ssšbaj tÕ prÕj qeîn. (392-96) Erneut also die Äußerung der ¢kous…a , der Macht von Männern untertan zu werden - aber kein Eingehen auf die von Pelasgos angesprochene Nomos- und Genos-Thematik. Stattdessen ein neuer Appell an Pelasgos, sich mit Dike zu verbünden. Als dann der König wiederum auf seine tragische Ausweglosigkeit (und auf die seines miteinzubeziehenden Volkes) aufmerksam macht ( oÙk eÜkriton tÕ kr‹ma , 397), kommt der Chor Pelasgos in der heiklen Frage der Blutsverwandtschaft mit den Aigyptiden immerhin entgegen: ¢mfotšroij 65 ÐÐma…mwn t£d' ™piskope‹ ZeÚj, ˜terorrep»j, nšmwn e„kÒtwj ¥dika m n kako‹j, Ósia d' ™nnÒmoij . t… tînd' ™x ‡sou ·epomšnwn † metal ge‹j † tÕ d…kaion œrxai; (402-06) Jedoch wird diese familiäre Nahbeziehung in der Sprachhandlung aufgelöst und das Verhältnis zwischen Aigyptiden und Danaiden in antithetischer Eindeutigkeit nach Maßgabe der gerechten Weltordnung von Zeus definiert. Auffallend ist hier wiederum die Verwendung von œnnomoj , womit der Chor suggeriert, eben doch seinem eigenen, ägyptischen nÒmoj treu geblieben zu sein. Aber dies zielt auch auf Pelasgos, der den g r i e c h i s c h e n nÒmoj der Hikesie befolgen soll und deswegen Heilsgüter ( Ósia ) von Zeus bekomme. Die Umsetzung des d…kaion , des Anspruches der Danaiden auf Asyl, scheint zu allseitiger Stabilität zu führen. Gegenüber diesem positiven Zustand, den der Chor sowohl für sich selbst als auch für Pelasgos in Aussicht stellt, bleibt der König auf der sachlichen Ebene des Nachdenkens: de‹ toi baqe…aj front…doj swthr…ou (407). Dass er dabei klaren Blickes und nicht vom Wein getrübt (409) in die unwägbare Tiefe der Tragik eintauchen will, kennzeichnet auch seinen fortwährenden Widerstand gegen die Peitho des Chores, der zentrale, aber divergierende Rechtsbegriffe in einer Weise verwendet, für deren Einordnung in den Kontext in der Tat ein klarer Blick vonnöten ist: Themis (360, 436, vgl. 336), Dike (343, 384, 395, 404-06), Nomos (384, 388, 390) - und dies alles vor dem Hintergrund eines drohenden Miasma, dessen Potential affektiv vermittelt wird. 66 Für Pelasgos steht an erster Stelle das Wohl der Polis (410); er lässt sich nicht auf eine Argumentation mit den genannten Begriffen ein, die auf deren exakte Definition führen könnte. 65 So die Konjektur von S CHÜTZ gegen das überlieferte ¢mfotšrouj (von W EST akzeptiert); Ðma…mwn ist dann ein genetivus partitivus, der Danaiden und Aigyptiden bezeichnet. Vgl. S ANDIN (2005) 195f. 66 Näheres zu dieser Begrifflichkeit in den Hiketiden bei W OLF (1950) 345-56, der von einem „verworrene[n] Bild der Rechtslage des Menschen“ (348) spricht. Die nur r e l a t i v e Bedeutung der Dike der Danaiden, welcher umgekehrt eine Dike der Aigyptiden entgegentritt (sh. unten S.259), verkennt G AGARIN (1976) 129, der Dike offenbar absolut - als ‚die’ Dike schlechthin - versteht. <?page no="259"?> Hikesie, Miasma, Heilung 245 Entscheidend wird aber nun, dass seine Sorge um die Polis gegründet ist auf die Furcht vor dem Miasma, das einen schrecklichen Mitbewohner hereinbrächte: barÝn xÚnoikon qhsÒme<s>q' ¢l£stora (415). Während hier noch die Herausgabe der Schutzflehenden und die Verweigerung der Hikesie das Miasma begründen, wird vom Chor gleich eine Steigerung hin zur Blutschuld erfolgen. Zuvor bringt der Chor aber noch in geballter Form, in zwei nun nicht mehr von Pelasgos unterbrochenen Strophen, alle zentralen Aspekte der Situation zum Ausdruck. Zunächst tragen sehr regelmäßige Creticer in Strophenpaar d dazu bei, eine Art Ruhepause vor der zu erwartenden Entscheidung zu erzeugen; jedes Wort hat hier seinen eigenen ‚Wert’: frÒntison kaˆ genoà / pand…kwj eÙseb¾j prÒxenoj (418f.). Es folgen die Begriffe kr£toj , Ûbrij , kÒtoj (425-27), die sich mit einem dreimaligen m» (420, 423, 429) zu einem objektiven System von Gebot und Verbot aufbauen, dem der Zuschauer nun nicht leicht seine Zustimmung verweigern kann. Und auch die in Strophe e wieder durchbrechenden Dochmier, als die Danaiden sich und dem Zuschauer den Moment vor Augen stellen, da sie wie Pferde vom Altar fortgerissen werden, dürften ihre Wirkung nicht verfehlen, dem Anspruch auf Rettung Gültigkeit zu verleihen: Dann stünde b…a gegen d…kh . Aber gegen die körperliche Schwäche steht die Kraft der Peitho, die nun ganz am Schluss des Epirrhemas, in Antistrophe e , die Dimension der Tragik von Pelasgos aufzeigt, der zu einer Entscheidung gedrängt wird: ‡sqi g£r: paisˆ t£de kaˆ dÒmoij, ÐpÒter' ¨n kt…sVj, mšnei: de‹ 'kt…nein Ðmo…an qšmin. t£de fr£sai: d…kaia DiÒqen kr£th. (434-37) 67 Diese Diagnose eröffnet eine weite auf das G e n o s von Pelasgos gerichtete Perspektive und evoziert eine noch w e i t e r e Verschärfung des Konfliktes, die schon fast auf einen Geschlechterfluch weist. Das de‹ nimmt hier das von Pelasgos zuvor ringkompositorisch verwendete de‹ (407, 417) auf, mit dem er eindringlich die Notwendigkeit einer front…doj swthr…ou von sich einforderte: Schaden von der Polis und sich selbst abzuwenden und zugleich den Alastor als Mitbewohner zu vermeiden, sollte er die Schutzflehenden nicht aufnehmen; von hier aus wird auch deutlich, dass der in v.415 als xÚnoikoj bezeichnete Rachegeist sowohl für die Polis als auch das Genos des Pelasgos eine Gefahr darstellt. Gegenüber diesem Anspruch, den gordischen Knoten irgendwie zu durchschlagen und zu einer untragischen Lösung zu gelangen, zeigt der Chor die in Wahrheit unlösbare Verstrickung des Pelasgos auf, ja er verstrickt ihn förmlich in die Tragik. Dies könnte nun für die Peitho des 67 Die Aussage von v.435 ist insgesamt klar erkennbar; für das korrupte dreikt…nein macht die Konjektur von FJ-W II (1980) 340-42 Sinn, die einen Einschnitt nach mšnei erfordert. Mit bloßem de‹ wird auch vermieden, in den Text eine klare Aussage hineinzulegen, die Nachkommen des Pelasgos würden zwangsläufig durch K r i e g büßen müssen ( ”Arei 'kt…nein S EIDLER , dorˆ t…nein B OISSONADE ). <?page no="260"?> Hiketiden 246 Chores als kontraproduktiv erscheinen, wenn man nach einheitlicher Gedankenführung oder auch psychologischer Wahrscheinlichkeit sucht. Aber für den Zuschauer ist dies eine zentrale rezeptionssteuernde Aussage, die vergleichbar ist mit dem letzten Strophenpaar des Kommos der Choephoren (466-75): Auch dort kommen die notwendig negativen Aspekte des tragischen Geschehens in den Blick, welches doch der Chor selbst, affektiv und rhetorisch, so aktiv vorangetrieben hat. 68 Dort wie hier, jeweils am Ende eines langen Amoibaions, handelt es sich nicht um einen psychologischen Bruch im Charakter des Chores als einer dramatis persona, sondern um eine Brechung der Perspektive für den Zuschauer: Die von beiden Chören angestrebte ‚Heilung’ (hier die Hikesie, dort die Morde an Klytaimestra und Aigisthos) bedeutet t a t s ä c h li c h eine weitere V e r s c h ä r f u n g . Man hat Grund zu der Annahme, dass Pelasgos im Verlauf der Trilogie getötet wird. Daraufhin bekundet Pelasgos nochmals, wie schon v.379f., dass er sein Dilemma voll erkannt habe (438-40), aber eine Entscheidung trifft er immer noch nicht. Es scheint, als habe die Peitho des Chores bislang ihre Wirkung verfehlt; insbesondere der zuletzt nochmals pointiert vorgebrachte Appell des Chores, im Rahmen der Hikesie Dike zur Geltung zu verhelfen, ist anscheinend nutzlos. Dann aber gibt Pelasgos dem Chor selbst den entscheidenden Ansatzpunkt: Gerade die Sorge des Königs um die Polis und sein Bestreben, deren gesunden Zustand zu bewahren, macht sich der Chor zu Nutze. Von hier aus gesehen bekommt der Exkurs des Pelasgos in die Frühgeschichte des Landes seine volle Sinnhaftigkeit: Er sieht sich ja in der Nachfolge von Apis und möchte den von diesem Heiler einst hergestellten krankheitsfreien Grundzustand erhalten. Und eine Dimension von Heilung in concreto bringt Pelasgos nun selbst als Reflexion seiner Lage: Heilbar ist Vermögensverlust und ein falsches Wort, unheilbar ist Blutvergießen; deshalb müsse man im Vorhinein opfern: 69 Ópwj d' Ómaimon aŒma m¾ gen»setai de‹ k£rta qÚein kaˆ pese‹n crhst»ria qeo‹si pollo‹j poll£, phmonÁj ¥¥kh . (449-51) Schon zuvor ist zweimal das Signalwort ¥kh gefallen (v.268 von der Tat des Apis, v.367 von der Einbeziehung des Volkes), so dass sich für den Zuschauer permanent der Eindruck ergibt, dass der tragische Konflikt ein Un-Heilsgeschehen ist. Während aber zuvor in den Worten des Chores die Gefahr eines Miasma für Argos nur im Versagen der Hikesie bestand, so kommt aus der Sichtweise von Pelasgos die viel schlimmere - gleichwohl 68 Sh. unten S.407ff.; ähnlich steht es mit der ansonsten nicht leicht erklärbaren Selbstaufforderung des Chores während der Todesschreie von Aigisthos, zur Seite zu treten, damit man gegebenenfalls an den kakîn (Cho. 873) als unschuldig erscheint: Diese eigentlich unlogische Distanzierung zeigt die Ambivalenz der Situation auf und bereitet die Isolation Orests vor. 69 Diese Dichotomie findet sich in sehr ähnlicher Form im III. Stasimon des Agamemnon wieder, wo Agamemnons multiple Schuld entsprechend differenziert wird. <?page no="261"?> Hikesie, Miasma, Heilung 247 euphemistisch nicht ausgesprochene - Tatsache zum Vorschein, dass im Falle eines Krieges „verwandtes Blut“ vergossen würde: Denn auch die Aigyptiden sind über Io mit den Argivern blutsverwandt, haben also die gleiche enge Beziehung; dabei würden die Argiver in der kriegerischen Austragung des Konfliktes mit den Aigyptiden die Danaiden sozusagen ersetzen. Dass Pelasgos das Blutvergießen erwähnt, ist nun für den Chor Anlass, seine Selbstmorddrohung auszustoßen. Man sieht, dass Pelasgos selbst, wie zuvor mit dem Eingeständnis seiner Furcht angesichts des Hikesie-Tableaus, dem Chor die Grundlage für seine Argumentation gibt: Dort Peitho, hier Bia; beide Male obsiegt der fÒboj (346, 479): Der Affekt führt zur Entscheidung. Weist dies auf eine tragische Schuld von Pelasgos hin? Auf ein p£qei m£qoj , wie es Xerxes noch möglich war, möchte er jedenfalls gerne verzichten: qšlw d' ¥ drij m©llon À sofÕj kakîn / e nai (453f.). Die Ankündigung, nun die a„do‹oi lÒgoi zu beenden (455) und die Drohung, sich an den Götterbildern im Hain zu erhängen (465), bringt in der Stichomythie eine rasche Entscheidung. Damit erscheint retrospektiv das Epirrhema, in dem die heterogenen Ansprüche aller Beteiligten entwickelt wurden und Pelasgos durchweg den Primat des Wohles seiner Polis evoziert hatte, zwar für den Plot als ineffektiv, da es nicht die Entscheidung gebracht hat. Für den Zuschauer aber hat sich hierin ähnlich wie in den Septem (203-44) der nicht aufzulösende Antagonismus zweier Haltungen aufgebaut: Die unbedingte Ausrichtung am Göttlichen aufgrund persönlicher Bedrohung (die Chöre) und die Sorge um das Wohl der Polis, das gerade durch den Chor in Gefahr ist (Eteokles und Pelasgos). Hier ist es nun das Miasma in unübertreffbarer Extremität: m…asm' œlexaj oÙc ØpertoxeÚsimon (473), das den Boden von Argos auf ewig beflecken würde. Dieses Miasma, das den Groll des Zeus (478) erwecken würde, wiegt für Pelasgos schwerer, als sich in die genosinterne Auseinandersetzung der Blutsverwandten involvieren zu lassen. Die unumstößliche Prämisse des Königs macht sich der Chor zunutze, um zu einer Bewältigung der ihn selbst betreffenden Krise zu gelangen und in Argos integriert zu werden. Aber ob dies auch das tšloj darstellt, das Zeus verfolgt, diese Frage bleibt noch offen; sie wird auch gar nicht gestellt. Andererseits lässt auch die Erkenntnis, immerhin das Blut der eigenen Bürger zu vergießen ( aƒm£xai pšdon , 477), über die bloße Kriegsgefahr hinaus nichts Gutes verheißen, was die Reinhaltung des Bodens betrifft. Dem Zuschauer bietet sich weiterhin ein ambivalentes Bild vom Chor: Einerseits das dringende und aufgrund der Affektdarstellung nachvollziehbare Bestreben hilfloser, verfolgter und stammverwandter Jungfrauen, aufgenommen zu werden; andererseits die den vorherigen Affront gegen Zeus (168-74) fortsetzende, sehr befremdende Erpressung des Pelasgos, die diesen schwachen Chor zum gewalttätigen Sieger über den Monarchen macht, welcher selbst tragisch handeln muss. 70 70 B URIAN (1974) zeigt, dass im Epirrhema die Danaiden „the real wielders of power“ (8) sind; je verzagter Pelasgos werde, um so penetranter der Chor. <?page no="262"?> Hiketiden 248 3.2.4 Die Volksversammlung: Pelasgos’ Peitho als Exekutivkraft Danach scheint die Gewährung der Hikesie auch durch Volksbeschluss eine bloße Formalie zu sein, obwohl durch die Einbeziehung der ganzen Polis als Schutzmacht der Konflikt nun seine wahre Größe bekommt. Das supponierte Empfinden des argivischen Jedermann gegenüber den schwachen Danaiden klingt wie eine Kurztheorie der Relation von Tragödienchor und Rezipient: to‹j ¼ssosin g¦r p©j tij eÙno…aj fšrei (489). Mit diesem tij , der Mitleid mit den Danaiden haben und die Hybris der Aigyptiden hassen soll (486f.), kann auch jeder im Zuschauerraum gemeint sein. Auffällig ist dann, mit welcher Ausführlichkeit Danaos bei seinem Gang in die Stadt einheimische Begleiter fordert: fÚlaxai m¾ qr£soj tškV fÒbon (498). Ein unbedachter xenophober Ausbruch von Einheimischen könne zu einer Katastrophe führen. Kurz vor Schluss wird Danaos in der Tat mit einer Leibwache erscheinen (985-88), die ein t…mion gšraj darstellt und auch einem Miasma vorbeugen soll, falls Danaos getötet würde: cèrv d' ¥cqoj a„e…zwn pšloi . Ob irrtümliche oder intendierte Tötung - hier deuten sich mögliche Brüche bei der Integration der Halbfremden an, die für den Zuschauer den Gedanken an die Gefahr für Argos wachhalten, die anscheinend nicht nur seitens der Aigyptiden kommt. Vor allem aber antizipiert die Ausstaffierung mit einer Leibwache die - vermutlich - spätere Rolle von Danaos in Argos als Nachfolger des Pelasgos. 71 Die Anweisung des Pelasgos, beim Gang in die Stadt Passanten keine Auskunft zu geben (502f.), ist im Zusammenhang mit seiner Taktik zu sehen, das Volk in der Versammlung durch Peitho (523) zu gewinnen. Dies heißt nichts anderes, als dass sich Pelasgos vor den Argivern, um der Hikesie zum Erfolg zu verhelfen, derselben Kraft bedient wie zuvor die Danaiden ihm gegenüber, respektive wie der Chor und Danaos noch vor dem Erstauftritt des Pelasgos gegenüber dem Zuschauer: Es war hier jeweils immer wieder etwas verschwiegen worden, was auf die wahre Ursache der Eheverweigerung führen hätte können. Pelasgos kann denn auch nicht anders argumentieren als der Chor vor ihm: Er gibt, so der spätere Bericht des Danaos, einen unmissverständlichen Hinweis auf den Groll von Zeus Hikesios (616) und warnt sein Volk vor einem sogar doppelten Miasma (bedingt durch den Doppelstatus der Danaiden als Landeskinder und als Fremde), das unheilbar sei (vgl. ¢m»canon , 620). Der nochmalige Verweis auf Peitho (615, 623) unterstreicht den Erfolg dieser Wirkkraft bei der large off-stage group von Argos, als deren saviour Pelasgos in der Nachfolge des Heilers Apis handeln möchte. 71 Vgl. G ARVIE (1969) 199 und H ALL (1989) 156. <?page no="263"?> Hikesie, Miasma, Heilung 249 3.3 Ungewissheit und Sicherheit: q£rsoj, fÒboj und die Einhausung der Danaiden 3.3.1 Io, die Präfiguration für Leid und Heilung (I. Stasimon) Diesem kurzen Bericht geht aber das I. Stasimon des Chores voran, das äußerlich als ein Gebetslied an die qeoˆ ™gcèrioi motiviert ist - so die Anweisung von Pelasgos an den Chor, dessen rituelle Verfasstheit als singender corÒj also hier sichtbar wird. Der Chor nennt das Gegensatzpaar der Affekte q£rsoj und fÒboj (505, 513). Zwar steht die eigentliche Entscheidung in der Volksversammlung noch bevor, doch richtet sich die Ungewissheit des Chores nicht so sehr hierauf, sondern, trotz des Aufenthalts im heiligen Hain (508), auf eine zwischenzeitliche Ankunft der Aigyptiden. Es kommt also wieder die Labilität der Situation zum Vorschein, die insbesondere auf die in diesem Stück noch zu erwartende Auseinandersetzung zwischen Schutzherren und Verfolgern vorbereitet. Diese aber folgt noch n a c h der erfolgreichen Hikesie, welche sich somit als nur scheinbar glückliches Ende entpuppt: ZeÝj d' ™pškranen tšloj (624), meint Danaos fälschlich. Entgegen der Anweisung des Königs betet der Chor jedoch nicht zu den einheimischen Göttern, sondern allein zu Zeus, während hinterszenisch die Volksabstimmung abläuft. 72 Thematisch greift das Stasimon zurück auf die Parodos: Zeus als Begründer des Genos und als Erlöser der Io, die folglich als Präfiguration des Leidens der Danaiden fungiert und die Sympathie des Zuschauers nun wieder, nach dem Epirrhema, eindeutig zugunsten des Chores lenkt. Demgegenüber fällt nicht ein Wort über Argos oder Pelasgos, die doch jetzt das Schicksal der Danaiden in der Hand haben. Es wird also hier wieder die andere, ‚höhere’ Ebene sichtbar, auf der sich das Heilungsstreben des Chores in einer anderen Weise offenbart als durch die Hikesie. Die Hintergrundhandlung wird völlig überlagert vom Lied, welches im Io- Mythos zudem eine eigene Zeitdimension eröffnet. Der Chor zweifelt nicht etwa daran, die Hikesie könnte scheitern; Zeus wird in diesem Lied auch nie gebeten, Einfluss auf die Entscheidung der Argiver zu nehmen - denn nicht mehr Zeus Hikesios, dessen kÒtoj eben noch als Damoklesschwert über Pelasgos hing, hat der Chor im Blick, sondern den ‚anderen’ Zeus der Parodos. Seine Allmacht kann und soll ein tšloj herbeiführen, das die Danaiden, so wie Io, von ihrem Leid erlöst. Diese ‚Heilung’ für den Chor liegt aber weit jenseits einer erfolgreichen Hikesie und weist über dieses eine Stück hinaus auf das Ende der Trilogie. Die Beschaffenheit dieser Konfliktlösung, die gegenüber der die Situation ja sogar erheblich zuspitzenden Hikesie endgültig und vollständig sein soll, lässt sich vornehmlich aus der Darstellung des eigenen Affektes bestimmen. 72 Diese Abweichung von einer Anweisung für chorisches Singen ist vergleichbar mit dem I. Stasimon der Septem, das von Eteokles - der sich gleichfalls um die Belange der Polis kümmert - als stabilisierender, paianartiger Ololygmos befohlen wird, jedoch in eine ganz andere Richtung geht; vgl. weiter das II. Stasimon der Perser, das der Chor eigenständig gestaltet. <?page no="264"?> Hiketiden 250 Dieser aber ist identisch mit demjenigen der Io: Denn nur ihr Leid wird im I. Stasimon geschildert, das Ich des Chores fehlt hier fast völlig, so dass man dieses Chorlied, äußerlich als Gebet motiviert, als eine Art Selbstreflexion anhand des mythologischen Modellfalles Io deuten kann. Die Omnipotenz des Zeus, ein Telos herbeiführen zu können, kommt kraftvoll in Strophe a zum Ausdruck. Nur noch hier wird auf das hic et nunc eingegangen: Die Øbrista… sollen im Meer versinken, eine motivische Wiederaufnahme von vv.104-11, wo dieser konkrete Gebetswunsch ebenfalls unmittelbar nach der Anrufung des Zeus geäußert wurde - ein rezeptionssteuernder Auftakt des Chorliedes also. Bekannt ist auch das Weitere: Die Verwandtschaft mit Zeus, dem ™f£ptwr 'Ioàj (535). Neu ist aber das Leid der Io, deren langer, geographisch breit geschilderter Irrweg der Flucht der Danaiden zunächst insoweit entspricht, als es sich um das Faktum an sich handelt. Unterschiedlich ist aber die Richtung - die Danaiden kehren zurück nach Argos (538) - und der Umstand, dass ihnen in Danaos eine bewusst planende Leitfigur zur Seite steht (die zudem offensichtlich auch im eigenen Interesse handelt). Die zentrale Analogie zwischen den Danaiden und Io aber besteht im Affekt: Nicht nur in dem der Verfolgten, sondern auch der Verfolger. Bei Io substanzialisiert sich der eifersüchtige Hass Heras in der verfolgenden Bremse, was nicht nur die Irrfahrt in Raum und Zeit zur Folge hat, sondern auch eine affektive Disposition, die einer mentalen Sinnesstörung gleichkommt: œnqen 'Iè / o‡strJ ™reqomšna / feÚgei ¡mart…nooj (540-42). Der Chor geht sogar soweit, eine nÒsoj bei Io zu diagnostizieren, die dann in zweifacher Form geheilt wird: Zum einen durch die Ankunft in der neuen Heimat, zum anderen durch die dort von Zeus vorgenommene Handauflegung. Dabei ist Ägypten ein gesunder und geordneter Raum: ƒkne‹tai d', e„siknoumšnou bšlei boukÒlou pterÒentoj, D‹on p£mboton ¥lsoj, leimîna cionÒboskon, Ónt' ™pšrcetai Tufî mšnoj Ûdwr te Ne…lou nnÒsoij ¥qikton, mainomšna pÒnoij ¢t…moij ÑdÚnaij te kkentrodal»tisi, qui¦j “Hraj. (556-64) Gluthitze und Schnee bilden eine harmonische Ordnung; das sich aus der Schneeschmelze speisende Wasser des Nil ist „von Krankheiten unberührt“. Ganz Ägypten ist sogar ein dem Zeus heiliger ¥lsoj - hier ist die Parallelität zum ¥lsoj von Argos (508) unverkennbar, in dem sich der Chor ja beim Singen dieses Liedes gerade befindet: Der Ort, der vom Miasma rein bleiben soll und deswegen den Danaiden eine (vorläufige) Erlösung gebracht hat. 73 73 Quasi eine umgekehrte Analogie dürfte darin liegen, dass sich auch Io im Status der ¢tim…a befindet, was fester Bestandteil der Typik der Hikesie ist; vgl. B ERNEK (2004) 54. <?page no="265"?> Hikesie, Miasma, Heilung 251 Deshalb wird auch der gesunde Zustand von Argos Gegenstand des II. Stasimons sein. Aufschlussreich für das Analogieverfahren des Chores ist auch sein Bericht über die affektive Reaktion der Einheimischen auf die Erscheinung des Zwitterwesens Io, halb Kuh, halb Frau: ... clwrù de…mati qumÕn / p£llont' Ôyin ¢»qh, / botÕn † ™sorîntej † ... tšraj d' ™q£mboun (566-70). Dies kann als eine Kommentierung der vorherigen Bühnenszene aufgefasst werden, wo die Problematik von Xenophobie und Gefährdung der Verfolgten auch seitens der Bürger der Schutzmacht angesprochen wurde. Umgekehrt ist aufseiten der Danaiden (halb Fremde, halb Griechinnen) der überbordende Affekt ein Problem - und dass sie die Blicke der (männlichen) Einheimischen auf sich ziehen könnten. Auf Begriffsidentität beruht auch das verursachende Movens für die Flucht: Raserei und Schmerz der Io sind verursacht durch das kšntron der Bremse - zugleich das hervorstechende Merkmal der Aigyptiden: kšntron œcwn ¥fukton (110). Diese sind gesteuert von einem regelrecht krankhaften Wahnsinn, der sie zur Verfolgung anstachelt und der - so hat es der Zuschauer seit Beginn vorgeführt bekommen - zum Affekt der Danaiden führt: Zu Angst, Hysterie und gar erpresserischer Aggression. Insofern gibt der Chor eine Selbstdiagnose ab, wenn er die von Hera gegen Io verhängten Qualen als „verfolgende Krankheiten“ bezeichnet - die jedoch durch die Handauflegung von Zeus geheilt wurden: t…j g¦r ¨n katšpausen “Hraj nnÒsouj ™piboÚlouj; DiÕj tÒd' œrgon. kaˆ tÒd' ¨n gšnoj lšgwn ™x 'Ep£fou kur»saij. (586-89) Der Heilungsvorgang führt für Io sowohl zur Beendigung der nÒsoj als auch, parallel, zur Geburt des Epaphos. 74 Die Heilung der Io ist für den Chor auch hier das Argument dafür, Zeus im letzten Strophenpaar e zu Recht anzurufen. Aber wozu? Die Formulierung, wie oder wobei Zeus helfen soll, bleibt auffallend offen: ™p' œrgoij (591). Dass er für alles einen Ausweg weiß, ist bekannt: tÕ p©n mÁcar (594), ebenso wie die mühelose und sofortige Umsetzung eines Planes ins Werk: p£resti d' œrgon æj œpoj / speàsai. t… tînd' oÙ DiÕj fšrei fr»n; (598f.) - damit endet dieses Lied in Unbestimmtheit, worin dieses ti besteht. Eine gewisse Sorge wird man dem Chor also nicht absprechen können, auch wenn Danaos sogleich Zuversicht wegen des positiven Volksbeschlusses verkündet: qarse‹te, pa‹dej (600). Denn wie bemerkt, liegt die letztgültige ‚Heilung’ der Krise, die Beendigung der Gefahr, nicht einfach im Erfolg der Hikesie, sondern jenseits dieser Tragödie. Mit einiger 74 Für G ÖDDE (2000) ist der Wahnsinn der Io, der auf seinem Höhepunkt vv.562-64 mit der Raserei einer Mänade verglichen wird, „ … auch als Teil oder aber zumindest Vorstufe des Heilungsvorgangs, im Sinne einer katharsis, zu deuten [.]“ (173). <?page no="266"?> Hiketiden 252 Sicherheit lässt sich nun, vor allem vom Ende der Hiketiden aus, zumindest soviel sagen, dass in spezieller Weise die Ehe dasjenige tšloj für die Danaiden ist, das im Verlauf der Trilogie näherrückt. Und genau hierbei zeigt sich im Analogieverfahren dieses Liedes der entscheidende Bruch: Die Heilung der Io besteht darin, dass sie zur Mutter wird - was der Chor durch seine Eheverweigerung für sich vermeiden will. 3.3.2 Die Segenswünsche für Argos, eine gesunde Polis (II. Stasimon) Nachdem Danaos seinen überaus kurzen Bericht über den Erfolg der Hikesie mit dem Befund: ZeÝj d' ™pškranen tšloj (624) abgeschlossen hat, formiert sich der Chor zum II. Stasimon, das in einem anapästischen Vorspruch explizit als Segenslied zugunsten von Argos angekündigt wird: ¥ge d lšxwmen ™p' 'Arge…oij / eÙc¦j ¢gaq¦j ¢gaqîn poin£j (625f.). Hier erscheint der dr©n-paqe‹n -Mechanismus in positiver Weise (dies ist auch bei der versöhnlichen Wendung der Eumeniden zentral). Denn auch der Erinnyen-Chor singt im Zuge seiner Integration nach Athen ganz ähnliche Segenswünsche, die - in durchaus topischer Weise - auf einen gesunden Zustand sowohl des Bodens der Polis als auch der kognitiven Struktur der Bürger abheben. Das swfrone‹n eines jeden einzelnen garantiert die Stabilität von Oikos und Polis gleichermaßen, was einhergeht mit der Fertilität eines von Seuchen freien Bodens. 75 Während nun in den Eumeniden die Erinnyen diesen Segen insofern für Athen wünschen können, als sie s e l b s t das swfrone‹n durch ihre präventive Straffunktion garantieren, so ist hier die Beziehung der Schutzflehenden zu Zeus Hikesios dafür von Bedeutung, ob dieser schwache, fremdländische Frauenchor einen guten oder aber schlechten Einfluss auf Argos nimmt. Markant ist der Unterschied zum gerade erst verklungenen I. Stasimon, in dem der ‚andere’ Zeus als Heiler der Io und als Vater von Epaphos angerufen wurde. Diese Thematik ist nun hier von keinerlei Bedeutung mehr: Nur Zeus Hikesios (Xenios) steht im Mittelpunkt (646-55, 671f.); um ihn gruppieren sich andere olympische Gottheiten, deren Statuen zum Teil ja auf der Bühne sichtbar sind: Aphrodite, Artemis, Apollon und auch Ares. Es s c h e i n t allein auf der Ebene der Hikesie das tšloj vollgültig erreicht worden zu sein. Aber dies ist offenbar nicht das, was die undurchschaubare 75 Sh. unten S.466ff. Die Vorprägung beider Segensgesänge findet sich in Hesiods Beschreibung der gerechten Polis Erg. 225-37; vgl. S OLMSEN (1949) 211-14, der als mögliche Quellen auch volkstümliche rituelle Gesänge annimmt. Der rituelle Charakter dieses Chorliedes wird durch die Form betont, da sogenannte rhythmische Ephymnien - zwei Pherekrateer, ein Priapeus - am Ende jeder Strophe und Antistrophe (in den Strophen a, b, g ) eine leicht erkennbare Wiederholungsstruktur in den Gesang legen; Strophenpaar d hat dann keine solchen Ephymnien mehr. Dass allerdings mit solchen Elementen nicht unbedingt Rituelles untermalt werden muss, zeigt das I. Stasimon des Agamemnon, das fast nur reflektiert und erzählt, aber dieselben rhythmischen Ephymnien aufweist (dort dann in der Epode nicht mehr). Vgl. FJ-W III (1980) 4 und W ILAMOWITZ -M OELLENDORFF (1914) 38. <?page no="267"?> Hikesie, Miasma, Heilung 253 boÚlioj fr»n (599) von Zeus wirklich plant. Denn mit der Landung der Aigyptiden, die sofort nach diesem ‚Stabilitäts-Lied’ den Plot weitertreibt, wird wieder das offensichtlich wahre - oder wahrere - tšloj dieser Trilogie näherrücken, das in Verbindung steht mit der Hochzeit der Danaiden. Im Moment freilich ist die Unsicherheit des I. Stasimons gewichen zugunsten von q£rsoj und swfrosÚnh : Die jeweils ersten Worte des Danaos nach dem I. und II. Stasimon interpretieren die Disposition des Chores ( qarse‹te, pa‹dej , 600; eÙc£j ... sèfronaj , 710), dessen affektiver Paroxysmus nun einer Balance gewichen ist. Dem Chor ist hier nicht nach dem Muster der tragischen Ironie ein eklatantes Missverstehen seiner momentanen Situation zu unterstellen, über das sich der allseitig informierte Zuschauer erheben könnte. Im Gegenteil kann sich der Zuschauer - gemäß der von uns auf die Rezeptionslenkung angewendeten Theorie des Gorgias von der affektiv wirkenden ¢p£th - ohne weiteres dahingehend lenken lassen, dass Stabilität erreicht, die ‚Heilung’ also gelungen ist. Der Chor ersetzt die bisherige Darstellung seiner negativen Affekte - Furcht, Aggression, Unsicherheit - jetzt erstmals durch positiv konnotierte Segenswünsche, die als tima… gesungen werden (628). Dies zeigt eine stabile reziproke Beziehung zwischen den Schutzflehenden, denen tim» zuteilgeworden ist, und den Argivern an. Wenn gleich darauf die Brüchigkeit dieses Modells zutage tritt, so ist dieses tatsächliche Scheitern der intendierten Herstellung einer (neuen) Ordnung ein immenser Effekt für den Zuschauer. Damit ist entwicklungsgeschichtlich dieses Stasimon als das erste Exempel eines Typus von Liedern zu deuten, die die nur s c h e i n b a r e ‚Heilung’ vermitteln, womit das neue Unglück dann um so stärker konturiert wird. 76 Hier entsteht der Eindruck der positiven Wendung vor allem auch durch die Selbstbezüge des Chores auf sich als singenden corÒj , der wie in der Lebenswelt des Zuschauers eine die Polisordnung stabilisierende performance vollzieht. 77 Angesichts des vv. 694-97 an prominenter Stelle (es handelt sich um das letzte der rhythmischen Ephymnien) gezeichneten Bildes einer Choraufführung, die wohl eine Art Erntedankfest darstellt, könnte man sogar sagen, dass dort die Danaiden als die ¢oido… (695) dieses argivischen corÒj fungieren. 76 Vgl. besonders das III. Stasimon der Choephoren und später die sogenannten Hyporchemata des Sophokles: OT 1086-1109, Ai. 693-717, Trach. 633-62, Ant. 1115-54. - Ex eventu kann man freilich dieses II. Stasimon voller Ironie lesen: Für M URRAY (1958) 79-82 zerstören die Danaiden durch ihre Mordtat den von ihnen selbst gezeichneten Friedens- und Reinheitszustand. 77 lšxwmen ... xen…ou stÒmatoj (625-28), eÙkta‹a gšnei ceoÚsaj (631), ¥coron ¢k…qarin dakruogÒnon ”Arh (681), ¡gnîn t' ™k stom£twn (696f.). Vgl. hierzu B IERL (2001): „Auch dieses Lied ist ein ritueller Sprechakt, der die Wirklichkeit durch die illokutionäre Kraft und Rolle des Wunsches zu beeinflussen versucht.“ (83f.). E ASTERLING (1989) 11 weist darauf hin, dass die Segenswünsche für Argos vom athenischen Zuschauer auf seine eigene, dem fiktionalen Argos ähnliche Polis bezogen werden können. <?page no="268"?> Hiketiden 254 Der Chor singt selbst aus einer Haltung der swfrosÚnh (vgl. 710) heraus und erstellt das Idealbild einer gesunden Polis. Die Vorstellung der Reinheit findet sich hier allenthalben: Die Altäre sind rein ( kaqaro‹si , 654), da frei von einem Miasma; 78 Zeus ist ebenso ¡gnÒj (652) wie die Stimme der Chorsänger (694-97); keine Epidemie möge die Stadt entleeren ( m»pote loimÕj ¢ndrîn ktl ., 659); der Boden soll nicht durch Bürgerblut befleckt werden ( aƒmat…sai pšdon g©j , 662) - dies freilich in stärkstem Gegensatz zur Befürchtung des Pelasgos in v.477, die sich ja später bewahrheiten wird. In Strophe g wird dann der erwünschte positive Zustand der in sich harmonischen Polis ex negativo in ausgereifter Krankheitsmetaphorik expliziert: mhdš tij ¢ndrokm¾j loigÕj ™pelqštw t£nde pÒlin da zwn, ¥coron ¢k…qarin dakruogÒnon ”Arh b…an t' œ<n>dhmon ™xopl…zwn. noÚswn d' ˜smÕj ¢p' ¢stîn †zoi kratÕj ¢terp»j: eÙmen¾j d' Ð LÚkeioj œstw p£sv neol£iv. (678-87) Dass der Krankheiten-Schwarm nicht in die Nähe gerade des Kopfes der Bürger kommen soll, dürfte gerade in diesem Kontext auf die erwünschte swfrosÚnh im sozialen Miteinander hinweisen, die eine ‚En-Demie’, eine Stasis verhindert, in der die b…a wirkt. 79 Bemerkenswert ist, wie sehr hier die Realität der song-and-dance culture zusammen mit dem Wesensmerkmal des corÒj , gemeinschaftliche Stabilität zu erzeugen, präsent ist. Ares, der „chorlose, kitharalose“, erzeugt den negativen Affekt der Trauer; über die Jungmannschaft dagegen, die Sänger des griechischen corÒj , wacht Apollon, Heiler und Musengott zugleich. 80 Die Jugend ist aber auch in biologischem Sinn die Grundlage für die Fortexistenz der Gemeinschaft: Deshalb die Bitte an Artemis, den Geburten gnädig zu sein (676f.), eine allgemeine Fertilität analog zu derjenigen des Acker- und Weidebodens (689-92). Gerade aber die Fruchtbarkeits- und Fortpflanzungsthematik trifft wieder den Konfliktkern der Trilogie, ist es doch die Ehe, die die Danaiden um 78 Zum Verständnis von v.654f. sh. FJ-W III (1980) 25; das Miasma, dessen Nichtexistenz die Reinheit der Altäre garantiert, ist v.650 explizit erwähnt: mia…nonta (von Zeus, der auf dem Haus hockt), so die Überlieferung von M. 79 So die Konjektur von H ERMANN für das in M überlieferte bo£n . - Die Vorstellung des nousîn ˜smÒj kommt offenbar von Hesiod Erg. 102-04 her, wo im Anschluss an die Pandora-Geschichte von den noàsoi die Rede ist, die die Menschen Tag und Nacht heimsuchen; die sonst im Genos Tragödie nicht belegte ionische Form noÚswn weist stark auf das hesiodeische Vorbild. Vgl. FJ-W III (1980) 47f. 80 Die Anrufung speziell von Apollon Lykeios dürfte in Verbindung mit seinem Kult gerade in Argos stehen; in der Tragödie (für Aischylos vgl. Sept. 145f. und Ag. 1257-60) ist Apollon Lykeios Zerstörer- und Heilergott zugleich (letzteres freilich nicht unbedingt in dezidiert medizinischem Kontext). Vgl. FJ-W III (1980) 49f. <?page no="269"?> Hikesie, Miasma, Heilung 255 jeden Preis verhindern wollen; dass es in der Lebenswelt des Zuschauers gerade der corÒj der jungen Mädchen ist, in dem die entsprechende Vorbereitung auf das Erwachsensein erfolgt, gibt den Referenzen auf die song-anddance culture eine besondere Nuance. Die Ehe-Problematik wird auch durch die Integration in den festen Polisverbund nicht aufgehoben; im Gegenteil verlagert sie sich sogar ins Innere der Polis, wie die Ermahnungen des Danaos zur swfrosÚnh , zum züchtigen Anstand, am Schluss andeuten, wenn die Mädchen ihre Häuser beziehen. 4. Wohin gehören die Danaiden? - Die Brüchigkeit der neuen Ordnung 4.1 fÒboj I: Danaos und die intendierte Rolle der Töchter im Oikos Die Ankunft des Schiffes der Aigyptiden, die Peripetie des Stückes, beweist, dass Zeus dem Wunsch der Danaiden, ihre Freier im Meer zu vernichten, nicht stattgegeben hat, dass mithin das erwünschte tšloj mitsamt der endgültigen Überwindung der Gefahr wieder in die Ferne rückt. Der nun mit v.734 in extremer Form durchbrechende fÒboj des Chores zerstört den im II. Stasimon breit ausgemalten Zustand der Stabilität und repliziert die Labilität der Parodos, als die Danaiden erst festes Land erreicht hatten. Die Ankunft nun auch ihrer Cousins wird von Danaos in einer Sprachhandlung Chor und Zuschauer vor Augen gestellt: ... ¢prosdok»touj toÚsde kaˆ nšouj lÒgouj (712). Dabei versucht Danaos, beim Chor die Kontinuität der swfrosÚnh zu wahren, welche Disposition dem Stasimon zugrunde lag, indem er auf die Götter und die Kampfkraft der Argiver verweist (724f., 740, 746f. u.ö.). Auffallend ist, dass hier weder ein Wort über Zeus noch über Pelasgos fällt; schon im II. Stasimon war ja nur noch von der vorbildlichen gemeinschaftlichen ¢rc£ (700) der Bürger die Rede, nicht von Pelasgos. Also nur Danaos ist hier jetzt als saviour im Blick des Zuschauers. Dieses Ausblendungsverfahren ermöglicht eine Konzentration ganz auf Vater und Töchter, die am Ende des Chorliedes schon vorbereitet wurde: Das tekÒntwn sšbaj ist ein Gesetz der Dike (707-09). Im Epirrhema nach der Rhesis des Danaos finden sich dann häufig die Begriffe pat»r und tškna (734, 738f., 748, 753, 756), die die Vater-Kind-Relation weiter stark hervortreten lassen. Der Sinn dieser Fokalisation liegt vor allem darin, schon im Hinblick auf das Ende des Stückes Danaos als für- und vorsorgenden Vater n e u einzuführen. Als saviour möchte er nicht nur jetzt fungieren, als die Gruppe der Aigyptiden im Begriffe ist, nach Argos nachzurücken, sondern auch in Bezug auf die Zukunft in Argos: Deshalb die Ermahnungen zur swfrosÚnh am Schluss, die darauf abzielen, dass die Mädchen in einem Balancezustand der Rollenerwartung im Oikos, der ihnen zugewiesen wird (1009-11), genügen. Hier versucht Danaos ihren fÒboj durch q£rsoj (740) zu ersetzen, um Stabilität in der neuen Krise zu erzeugen - vergebens, wie die immer neuen <?page no="270"?> Hiketiden 256 Angstausbrüche des Chores im Epirrhema zeigen, in dem den ruhigen Trimetern des Danaos Dochmier-Verse gegenüberstehen. Die momentane Zwischenstellung der Danaiden zwischen dem wilden Draußen, verkörpert von den tierhaften Aigyptiden (751, 758, 762), und dem festen Drinnen der Polis, dem Integrationsort, legt v.749 offen: gun¾ monwqe‹s' oÙdšn: oÙk œnest' ”Arhj . Ex negativo ist hier das konventionelle Rollenbild der in den Oikos gehörenden Frau zu erkennen, in den die Danaiden in der Tat einrücken werden. Jetzt besteht freilich die akute Gefahr des Zugriffs der Aigyptiden, die zwar durch ihr kriegerisches Auftreten (vgl. etwa 745) das Rollenbild des Mannes erfüllen, jedoch durch ihre - auch hier zur Genüge drastisch gezeichnete - affektive Sinnverwirrung und Gewalttätigkeit als die Störfaktoren einer Polisgemeinschaft schlechthin anzusehen sind. In welche Ferne im Augenblick die ‚Heilung’ gerückt ist, offenbart sich in der Junktur ·us…wn ™f£ptorej (728) und der Befürchtung, die Freier würden Hand anlegen ( oÙ m» ... ce‹r' ¢pÒscwntai , 755f.), die der ägyptische Herold wahr machen wird: Das Ziehen am Haar (884) und das Zerreißen des Kleides (904) ist die glatte Konterkarierung des Wunschgedankens von der heilenden Handauflegung durch Zeus, der in dieser Passage nicht ein Mal genannt wird. 81 Über rein dramaturgische Zwecke hinaus dient der fÒboj in dieser Passage dazu, als ein Katalysator den gefahrvollen Zwischenstatus der Danaiden zu vermitteln, die über die bloße Gewährung der Hikesie in einem weiteren Sinne in die Polis - und das heißt in den Oikos - integriert werden müssen. Danaos’ Intention hier und am Schluss ist es, den Chor zu q£rsoj und swfrosÚnh anzuleiten, doch die jeweils durchbrechende affektive Unsicherheit des Chores zeigt dem Zuschauer, dass weitere Komplikationen zu erwarten sind. 4.2 fÒboj II: Entgrenzung und Tod (III. Stasimon) In noch gesteigerter Form begegnet der fÒboj im III. Stasimon, in dem der Zwischenstatus des Chores, der sich wieder alleine im Theater befindet, in völlige Entgrenzung und Ortlosigkeit überführt wird. 82 Gleich am Anfang verwendet der Chor wieder die ‚fremden’ Ortsbezeichnungen aus der Parodos. „ë g© bboàni, p£ndikon sšbaj, t… peisÒmesqa; ppo‹ fÚgwmen 'A Ap…aj cqonÒj, kelainÕn e‡ ti keàqÒj ™sti pou; mšlaj geno…man kapnÒj ktl. (776-79) 81 Zur Motivik von Berührung und Handauflegen vgl. M URRAY (1958) 32-37, B URIAN (1971) 74f. Anm.59, G ÖDDE (2000) 219-38. 82 Möglicherweise bewegt sich der Chor in diesem Lied intensiv in der Orchestra, um sein Fluchtverhalten als physischen Ausdruck der Angst in Szene zu setzen: Sh. S CHNYDER (1995) 82f. <?page no="271"?> Wohin gehören die Danaiden? 257 Die t…- Frage: „Was werden wir erleiden? “, die sich bei Aischylos typischerweise in der Parodos findet, 83 negiert ebenso wie die Frage nach dem Wohin (vgl. 126) die reale Existenz des Asyls. Zwar ist für den Zuschauer rein sprachlich die Topographie von Argos noch präsent, auch die Stammverwandtschaft mit Io klingt im Weheruf „è an, aber diese Töne dienen nur der Kontrastierung mit Entfremdung und Entgrenzung: Der Chor siedelt sich nur noch im wilden Draußen an, so besonders in Strophe b , und rekurriert insbesondere auf seinen in der Parodos und vor Pelasgos geäußerten Todeswunsch (787-91, 796-807): Der Selbstmord, die Reaktion der Hilflosen, ist das einzige Heilmittel, das Erlösung von der Ehe bringt ( g£mou lutÁra , 807). Hier also wieder die beiden Extrema, zwischen denen die Danaiden ihr Leben eingespannt sehen, nichts aber von Argos, Pelasgos, Danaos. Erst im Strohenpaar g beginnt die Heilsstruktur der Hikesie wieder lose verfolgt zu werden, in einem Appell an die Götter und an Vater Zeus ( oÙr£nia mšlh / litan¦ qeo‹si , 808f.), den Schutzflehenden gegenüber sšbaj zu zeigen (811- 16). Doch bleibt die Frage nach dem von Zeus verfolgten Telos offen, ja sogar zweideutig: sÕn d' ™p…pan zugÕn tal£n- / tou: t… d' ¥neu sšqen qnato‹s<i> tšleiÒn ™stin; (822-24). Denn diese Worte fallen nach der Erwähnung der gewaltsamen Verfolger, so dass es dem Zuschauer überlassen bleibt, zu überlegen, ob Zeus nicht gerade den Aigyptiden den Erfolg zuwägt (man kann auch sagen, deren Dike zur Durchsetzung verhilft). Unmittelbar darauf betritt der Herold die Bühne, womit nun endgültig zum Vorschein kommt, dass Zeus die Cousins nicht vernichtet hat. Ob dies bewusst sein Wille ist, bleibt offen; immerhin jedoch ist mit der Ankunft der Aigyptiden ein pr©gma tšleion (92) umgesetzt, das die Hybris (817) und Bia (812, 821) der Cousins zumindest vorläufig zum Erfolg führt. 4.3 Das q£rsoj der Danaiden: Die männliche Haus- und Polisordnung Der Text der nach dem III. Stasimon einsetzenden Szene ist stark verderbt: „825-902 foedissime depravati; hic illic versus sani, ut ait Tucker, apparent rari nantes in gurgite vasto“, so das Urteil von P AGE in seinem Apparat. Es lässt sich aber eine Szene von starker dramatischer Dynamik erkennen, in der der Chor ab v.872 den Herold der Ägypter in epirrhematischer Form zum Widerpart hat und zuvor ein rein lyrischer Austausch zwischen dem Chor und einem Gegner stattfindet - entweder ebenfalls dem Herold oder aber einem aus Ägyptern bestehenden Nebenchor: Dann wohl nicht die Aigyptiden selbst, sondern deren Häscher. Die nicht dem Hauptchor zuzuschreibenden Gesangspartien erinnern stilistisch an das Satyrspiel, in dem sich Such- und Verfolgungsszenen finden, wie auch in der Tragödie; 84 und 83 Vgl. Pers. 93-96, Sept. 99, 104, 156, Ag. 85-87. 84 Vgl. Soph.Ichn. 64-78, 100-23, 176-202, Eur.Rhes. 675-721, Aisch.Eum. 254-75, Soph.Ai. 866-78, Aristoph.Ach. 204-36 und Thesm. 655-88 (hierzu B IERL (1999) 201-13); vgl. R ODE (1965) 25-41 zu solchen sogenannten astrophisch-mimetischen Chorliedern. <?page no="272"?> Hiketiden 258 eine solche bewegungsreiche Szene wird von den Danaiden schon in Antistrophe g des III. Stasimons angekündigt: met£ me drÒmoisi diÒmenoi / fug£da (819f.). Weitere Argumente lassen das Auftreten eines Nebenchores als wahrscheinlich erscheinen. 85 Hybris und Bia (845, 849, 863, 880f.) werden hier als physisch-körperliche Handlungen in Szene gesetzt, nicht mehr nur wie zuvor als Sprachhandlung, die den fÒboj der Danaiden aus der Distanz (und doch schon spannungsreich) erzeugte. Man kann mit Fug annehmen, dass das bewegungsreiche Gegeneinander zweier Chöre beim Zuschauer ein Höchstmaß an œkplhxij erzielt. Dem Suchen und Verfolgen der Ägypter entspricht die Flucht der Danaiden, die nur durch den Auftritt von Pelasgos gerettet werden: Er - und nicht Danaos, der auch den fÒboj nicht eindämmen konnte - fungiert hier in einem sehr konkreten Sinn als saviour, wie sonst kein anderes Mal bei Aischylos. 86 Wenn nun auch das Gefolge des Königs mit auf die Bühne kommt (vgl. 954), so wird die Stellung der Danaiden zwischen den zwei Gruppen, die jeweils Ägypten und Argos repräsentieren, unmittelbare szenische Realität. Die heftige Auseinandersetzung um die Danaiden kann sicherlich als ein Aufeinanderprallen von griechischem und ‚barbarischem’ Naturell interpretiert werden, in welchem eine kulturelle Überlegenheit der Schutz gewährenden, frommen griechischen Polis als Ideologie dramatisiert wird. 87 Aber im Lichte der Wiederherstellung der Ordnung, die eine Integration der Danaiden in Argos zum Ziel hat, dient der Schlagabtausch nicht nur dazu, den Gegensatz zwischen griechisch-männlichem und barbarisch-verweichlichtem Wesen herauszustellen, wie er vor allem vv.911-13 und vv.949-53 zum Ausdruck kommt. Denn Zwischenstatus und Ortlosigkeit der Danaiden drängen per se auf eine so oder so geartete Eingliederung in ein männlich dominiertes Ordnungssystem: 85 Zur Diskussion sh. FJ-W III (1980) 172-74, die vorsichtig einen ägyptischen Nebenchor annehmen; so zuerst W ILAMOWITZ -M OELLENDORFF (1929) 461 („Chor ägyptischer Schergen“; vgl. ders. (1914): „ein übermächtiger Haufen gelber und schwarzer Teufel“ (8)); K RANZ (1933) 16 (der im Übergang vom rein lyrischen Austausch hin zur epirrhematischen Form die Urform der Tragödie verwirklicht sieht), und auch W EST in seiner Ausgabe. Zu Aufbau und szenischer Aktion sh. S CHNYDER (1995) 88-95, die für die ganze Passage vv.825-910 einen ägyptischen Nebenchor zusammen mit dem Herold, der sich ja mit v.872 einschaltet, annimmt. - Zur Kennzeichnung der Sänger als b£rbaroi durch Sprache und Stil sh. L AMMERS (1931) 23-31, P ERETTI (1939) 87-90 und G ARVIE (1969) 56f., der davor warnt, hierin in einem weiteren Schritt Elemente der lšxij gelo…a zu sehen, die auf die satyrhafte Frühform der Tragödie hinwiesen (so W ILAMOWITZ -M OELLENDORFF (1914) 240). 86 Noch am ehesten vergleichbar ist vielleicht Athene in den Eumeniden, da hier Orest ebenfalls einer tatsächlichen Verfolgung ausgesetzt ist, die sich vor allem im Bindehymnos als körperliche Bedrohung substanzialisiert. 87 Vgl. etwa B ERNEK (2004) 62-66; zum Ehekonflikt als Machtkonflikt sh. R OHWEDER (1998) 79-89. <?page no="273"?> Wohin gehören die Danaiden? 259 Co. „ë ppÒlewj ¢goˆ prÒmoi, d d£mnamai. (905) ... diwlÒmesq': ¥ept' ¥¥nax p£scomen. (908) Kh. polloÝj ¥¥naktaj, pa‹daj A„gÚptou, t£ca (906) Ôyesqe: qqarse‹t', oÙk ™re‹t' ¢¢narc…an. (907) Mit d£mnamai spricht der Chor vorderhand seine Befürchtung aus, fortgerissen zu werden, doch meint das gerade durch dieses Verbum ausgedrückte Bezwungenwerden auch die Heirat im Sinne einer Zähmung. 88 Dazu passt der Anspruch des Herolds, die „Kinder des Aigyptos“ würden zu den „Herren“ der Danaiden. Diese Konstruktion einer durchgehend vertikalen Hausordnung (Aigyptos, seine Söhne, deren Frauen) ist aus dieser Perspektive „keine Nicht-Herrschaft“: Also eine patriarchalische ¢rc» , in der die Danaiden nun gar das q£rsoj empfinden könnten, das ihnen ihr Vater in den Hiketiden durchgehend vermitteln will. Die gegenwärtige Anarchie und damit der fÒboj wären beendet, ein stabiler Boden wäre errichtet, wenn der verlorengegangene Besitz zurückerlangt sein würde: t¥m' ÑlwlÒq' eØr…skwn ¥gw (918). Gerade die Verwandtschaft ist für die Aigyptiden das Argument für ihren Besitzanspruch: ... prÕj t…noj t' ¢faireqe…j / ¼kein gunaikîn aÙtanšyion stÒlon; (932f.). Demgegenüber sehen sich die Danaiden der Polis Argos, ihren Führern und insbesondere dem ¥nax Pelasgos untertan, der sie denn auch vor dem Zugriff der Ägypter bewahrt. Insofern geht es bei der Durchsetzung der ‚wahren Männer’ im Krieg, Ägypter oder Argiver, nicht einfach darum, verlorenen Besitz zurückzugewinnen oder das Recht der Hikesie zu verteidigen, sondern dahinter steht die Eingliederung der Danaiden, die von Herold und Pelasgos gleichermaßen als stÒloj , als Gruppe, identifiziert werden (933, 944), in ein männliches Ordnungsgefüge. Für den Zuschauer dürften nun die Fronten zumindest nicht mehr so eindeutig abgesteckt sein wie zuvor. Denn es kommt hier gerade der Besitz- und Rechtsanspruch der Aigyptiden, die auch eigene Götter verehren ( da…monaj seb…zomai , 922), zum Vorschein, den der Chor gegenüber Pelasgos (und dem Zuschauer) verschwiegen hat: Hier wird die Antwort gegeben auf Pelasgos’ Skepsis, ob die Aigyptiden nÒmJ pÒlewj , nämlich aufgrund ihrer Verwandtschaft innerhalb des Genos, nicht doch ein eheliches kàroj über ihre Cousinen ausüben dürfen (387-91). Jetzt verficht Pelasgos freilich nur noch die Dike der Danaiden, deren ¢kous…a der Vetternehe gegenüber (940f.) nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass hier Dike gegen Dike steht (vgl. 1071). Wenn dann dieses Gegeneinander im Krieg entschieden werden wird, in dem aller Wahrscheinlichkeit nach Pelasgos fallen wird, woraufhin die Aigyptiden zumindest kurzzeitig ihre Dike in Gestalt der Hochzeit durchsetzen können, so offenbart sich aus diesem - vermutlichen - weiteren Verlauf der Trilogie, dass das Telos des Zeus, der übrigens erst wieder v.1048 erwähnt wird, nicht im Erfolg der Hikesie besteht. 88 Vgl. ¥gamon ¢d£maton (143 = 153) und ¥dmhtoj (149); weiter so schon Hom.Il. 18,432; 3,301; Od. 3,269. <?page no="274"?> Hiketiden 260 Für jetzt aber sind die Danaiden in Sicherheit. Ihre Integration wird im Anschluss an die Abweisung der Ägypter von Pelasgos dergestalt angeordnet, dass sie unter Begleitung in die als Bollwerk bezeichnete Polis einziehen und dort fortan in Häusern leben sollen (955-61). Die Ausdifferenzierung dieser verschiedenartigen Häuser, die die Danaiden nach Belieben wählen können - öffentliche oder solche des Königs, Wohnanlagen oder Einzelwohnungen -, dient dazu, die intendierte Harmonie der Asylsuchenden mit ihrer Gastgeber-Polis zu demonstrieren, 89 in der König und Bürger in ihrer Schutzfunktion eins sind. In prononciertem Gegensatz zur ‚Herr-schaft’ der Aigyptiden stehen die ¢sto… von Argos: t… tînd' kuriwtšrouj mšneij ; (965), so fragt Pelasgos. Die Danaiden aber warten auf ihren Vater mit der Begründung, er müsse ihnen Anweisung über die neuen Wohnungen geben: ¢ll' ¢nt' ¢gaqîn ¢gaqo‹s<i> brÚoij, d‹e Pelasgîn: pšmyon d prÒfrwn deàr' ¹mšteron patšr' eÙqarsÁ DanaÒn, prÒnoon kaˆ boÚlarcon: toà g¦r protšra mmÁtij, Ópou cr¾ dèmata na…ein. < . . . . . . . . . . > kaˆ tÒpoj eÜfrwn. p©j tij ™peipe‹n yyÒgon ¢lloqrÒoij eÜtukoj: e‡h d t¦ lùsta. < . . . . . . . . . . > xÚn t' eÙkle…v kaˆ ¢mhn…tJ b£xei laîn ™gcèrwn. t£ssesqe f…lai dmw dej oÛtwj æj ™f' ˜k£stV diekl»rwsen DanaÕj qerapont…da ffern»n. (966-79) Es schließt sich hier der Kreis zur Parodos, sowohl inhaltlich als auch formal: Dort wurde ebenfalls in Anapästen Danaos als boÚlarcoj des Fluchtplanes vorgestellt, hier soll er in gleicher Funktion hinsichtlich der Entscheidungsfindung der richtigen Wohnungen wirken, um etwaigen Widerständen gegen die Flüchtlinge seitens des argivischen Volkes vorzubeugen. Danaos wird dann allerdings keine Anweisung für oder wider einen bestimmten Wohnungstyp geben (vv.1009-11 bleibt die Sache unentschieden), sondern in seiner Rhesis auf die Besorgnis der Töchter eingehen, dass nun schlecht geredet werden könnte. Gerade im jetzt erreichten Stadium der Stabilität stellt sich also weiterhin die Frage nach dem Standort der Danaiden in der Polis, zumal sich nun auch das Faktum der von der Natur gegebenen Heiratsfähigkeit in den Vordergrund schiebt: Völlig unerwartet erfährt der Zuschauer, dass die - in der Orchestra wohl schon seit Beginn des Stückes sichtbare - Dienerinnenschaft eine fern» , eine Mitgift ist, die die Töchter vom Vater durchs Los zugeteilt 89 Im Gegensatz pollîn met' ¥llwn - monorrÚqmouj dÒmouj könnte sich - dies ist ein rein spekulativer Vorschlag - die Abspaltung Hypermestras von der Gruppe ihrer Schwestern abzeichnen. <?page no="275"?> Wohin gehören die Danaiden? 261 bekommen haben. 90 Die ‚Einhausung’ der Danaiden nach Argos, auf die der Plot nun schon längere Zeit zugelaufen ist, erscheint jetzt in einem ganz anderen Licht, beziehungsweise es stellt sich diese Frage neu, nämlich im Blick auf die Zukunft. Möchte Danaos durch eine Verheiratung seiner Töchter mit Argivern den entscheidenden Schachzug ( pessonomîn , 12) machen, um sie den Aigyptiden zu entziehen und eine politische Allianz mit den Argivern zu schließen? Dies ist natürlich Spekulation; immerhin aber begegnet bei Pindar (Pyth. 9, 112-25, zu datieren auf 474) eine zweite Hochzeit der dann noch 48 Danaiden in Argos - Danaos arrangiert einen çkÚtaton g£mon vermittels eines Wettlaufes der argivischen Bewerber. Die bloße Existenz der Dienerinnen und ihre sehr spezifische Bezeichnung als fern» (979) sind eine - plötzlich durchgeführte, dann aber offen gehaltene - Rezeptionsvorgabe für den Zuschauer, dass sich das Thema ‚Ehe’ für die Danaiden noch nicht erledigt hat. Ihnen stehen ja auch schon Männer zur Seite, nämlich das Gefolge des Pelasgos, mit dem er gegen die Ägypter angerückt war und das jetzt die Mädchen in die sichere Polis geleiten soll: Øme‹j d p©sai xÝn f…loij Ñp£osin / qr£soj laboàsai ste…cet' 90 Dieser Aspekt ist in der Forschung merkwürdig wenig beachtet worden; vgl. auch in letzter Zeit lediglich die kurze Bemerkung von F ÖLLINGER (2003) 201. Stets meint fern» „Mitgift“ (oder deren Teil), nämlich das, was die Frau in die Ehe mitbringt (von fšrein , ganz wie dos), nicht aber - zumindest nicht in erster Linie - pars attributa, officium („zugeteilte Dienerinnenschaft“), welche Vermutung I TALIE im Index s.v. fern» äußert. Vgl. die Nachweise bei FJ-W III (1980) 273, darunter nicht wenige aus der Tragödie (dort gleichwohl ohne inhaltliche Interpretation für das Verständnis der Hiketiden); für Aischylos vgl. Ag. 406 von Helena: ¥gous£ t' ¢nt…fernon 'Il…J fqor£n . - T APLIN (1977) 230-38 hat entschieden gegen die Möglichkeit argumentiert, dass hier in den Anapästen ein Nebenchor aus Dienerinnen aufgestellt wird und möchte die ganze Passage vv.966-79 athetieren - „a desperate remedy“ (238), wie er selbst zugibt; es erscheint T APLIN untragbar, dass sich die Dienerinnen von Anfang des Stückes an mit in der Orchestra befänden, dort nicht identifiziert würden und dann keinerlei Aufgabe hätten, bis kurz vor dem Schluss. An Befürwortern dieser Annahme hat es freilich nicht gefehlt (so etwa H AMMOND (1972) 420 Anm.60 und P ICKARD -C AMBRIDGE (1968) 236), und mit dem Nebenchor der Kinder in Euripides’ Hiketiden liegt eine Parallele vor: Dieser befindet sich von Anfang an mit auf der Bühne, bleibt dann stumm, geht mit Theseus v.954 ab, um v.1123 mit ihm zurückzukehren und dann vv.1123-64 zusammen mit dem Hauptchor zu singen. Der einzige Unterschied zu Aischylos’ Hiketiden besteht darin, dass die Kinder bei Euripides gleich in v.106f. identifiziert werden, während die Dienerinnen (sofern sie zusammen mit ihren Herrinnen anfangs einziehen) anonym blieben - freilich nur, weil dem Text kein expliziter Hinweis zu entnehmen ist. Immerhin kann eine stumme Präsenz weiteren Personals, das sich gegebenenfalls am Rand der Orchestra halten kann, per se Spannung erzeugen, wie es für die aischyleischen Figuren Niobe und Achilleus bezeugt ist (sh. oben S.73). Eine Alternative ist es natürlich, den Nebenchor erst hier in den Anapästen in der Orchestra auftreten zu lassen, zumal er ja explizit ‚angefordert’ wird - so L LOYD -J ONES (1964) 366 und G ARVIE (1969) 194. Wie aus unseren weiteren Überlegungen hervorgehen wird, kommt den Dienerinnen sehr wohl eine Aufgabe zu, die am Schluss die Grundproblematik mit einem Mal wieder hervorbrechen lässt - ebenso plötzlich, wie der Nebenchor jetzt auftritt beziehungsweise zum Leben erweckt wird. <?page no="276"?> Hiketiden 262 eÙerkÁ pÒlin ktl. (954f.). 91 Könnte da nicht dieser von Pelasgos angeordnete Einzug, gerade in Verbindung mit seinem Spruch, die ¢sto… seien kÚrioi (Ausspruch oder Anspruch? ), eine symbolische Bedeutung haben? Wie der Herold den Danaiden das qarse‹te im Hinblick auf die Etablierung einer männlichen ¢rc» in Ägypten vermitteln wollte, so sollen sie jetzt, unter Begleitung des argivischen Gefolges, q£rsoj fassen: Jeweils der Komplementäraffekt zum fÒboj , der Ausdruck der Ortlosigkeit war. Dass die Danaiden nun aber doch erst auf ihren patšr' eÙqarsÁ warten und sich von ihm, dem boÚlarcoj , (ge-)leiten lassen wollen, dürfte dieser Konstellation, in der sie selbst nach wie vor unsicher sind, weitere Kontur verleihen. Die abrupte In-Szene-Setzung der Dienerinnen hat aber nicht nur rein thematische Bedeutung, sondern dient auch der Einführung eines Nebenchores - als corÒj im engeren Sinne. Denn die Anordnung der Danaiden (des Hauptchores) an ihre Untergebenen, sich zusammen mit ihnen zu formieren ( t£ssesqe ), bedeutet nichts weniger, als dass hier die Ordnung des corÒj , die t£xij , vollzogen wird. Hier bekommt die Verwendung des Anapästs, des Marschmetrums eines sich formierenden Chores, und die inhaltliche Rückbindung an die Parodos (durch die Erwähnung des boÚlarcoj Danaos) ihren vollen Sinn: Was am Anfang, im Einzug in die Orchestra, die Ankunft an der Küste war, das setzt sich jetzt im Einzug in die Polis fort. Nimmt man nun aber die hier vorgenommene Aufstellung der Dienerinnen als eines zweiten corÒj an, so kann sich von hierher ein Weg eröffnen, um die Frage zu entscheiden, welche Personengruppe es ist, die ab v.1034 mit den Danaiden über die Zukunft zu diskutieren beginnt, wo wieder die Grundprobleme aus der vermeintlichen Sicherheit auftauchen. Zuvor aber tritt Danaos auf, mit einer Leibwache. Um Begleitung hatte er bekanntlich schon v.492f. beim Gang in die Volksversammlung gebeten. Was nun zum t…mion gšraj (986) geworden ist, erhöht seine Machtposition in Argos und bereitet den Zuschauer auf die weitere Rolle des Danaos in der Trilogie vor. Pragmatisch geht es nur um die Vermeidung eines Miasma im Falle eines Mordanschlages aus dem Hinterhalt heraus (987f.). Doch weist beides, die Ausstaffierung mit der Leibwache und die Furcht vor einem Anschlag, in verklausulierter Form auf eine durchaus gefährdete Stellung des Danaos hin - wie auch die Befürchtung, ein unsittliches Verhalten der Töchter brächte den Fremden Schande und den Feinden des Danaos Freude: ... mhd' a scoj ¹m‹n, ¹don¾n d' ™cqro‹j ™mo‹j / pr£xwmen (1008f.). 91 Das überlieferte f…loij wurde von S CHÜTZ in f…laij geändert und fand breite Zustimmung (so auch P AGE und W EST ), glaubte man hier doch einen Hinweis auf die f…lai dmw dej zu sehen, die der Chor selbst v.977 anspricht. Vgl. die Gegenargumente bei M C C ALL (1976) 119f. und FJ-W III (1980) 256f.: Ñp£wn bezeichnet nie eine Dienerin, der Plural bezieht sich immer auf Männer (so in v.492 vom Geleit für Danaos); f…loij ist vom Standpunkt des Sprechers aus zu sehen und ist nicht abgeschwächt possessiv zu verstehen, sondern meint „lieb, vertraut“ - wie v.977. Für die damit verknüpfte Frage nach der Identität der Diskussionspartner des Chores am Schluss sh. unsere weitere Interpretation. <?page no="277"?> Wohin gehören die Danaiden? 263 Diese Besorgnis ist auch das Movens für die swfron…smata patrÒj (992), mit denen Danaos - in Argos im Moment offensichtlich nur durch Macht, noch nicht aber durch Ansehen gesichert - seine Töchter ermahnt, nach ihrer Einhausung die weibliche Kardinaltugend der swfrosÚnh zu üben: tÕ swfrone‹n timîsa toà b…ou plšon (1013). 92 Diese Mahnung hat im gegenwärtigen Stadium zum Ziel, kein a scoj über Vater und Töchter zu bringen (vgl. kataiscÚnein , 996). Das schon vom Chor selbst befürchtete Gerede xenophober Argiver wird nun dahingehend spezifiziert, dass die natürliche Reife ( Ñpèra , 998, 1015) der Mädchen Anlass geben könnte zu einem ‚Übergriff’ seitens der Argiver, der rein triebhaften, wilden Charakters wäre (999-1005), was dann zur verderblichen fama führte. Es handelt sich hier keineswegs um eine Predigt zu ewigem Klosterleben, sondern Danaos blickt auf einen längeren Zeitraum, innerhalb dessen sich die Fremden sozusagen bewähren müssen: ... ¢gnîq' Ómilon, æj ™lšgcetai crÒnJ ... (993). Ob dann am Ende eine ordnungsgemäße Hochzeit mit Argivern stehen soll, das ist, wie gesagt, nur Spekulation. Aber die Problematik an sich, d a s s die Danaiden heiratsfähig sind, steht sehr deutlich im Raum und wird durch diese Rhesis noch vertieft. Diesem Schwebezustand gegenüber steht der hier nochmals, auch von Danaos, angesprochene Einzug in die bereitgestellten Häuser (1009-11). So soll einer ‚Übermannung’ vorgebaut werden, die Vater und Töchter um den Lohn der erfolgreichen Flucht brächte. 93 Wie für Danaos die Leibwächter, so fungieren für seine Töchter die Wohnungen als Sicherheit gegen die in v.1008 nicht näher identifizierten ™cqro… des Danaos, die im Falle einer vorehelichen Verführung der Töchter wegen des daraus resultierenden a scoj eine ¹don» empfänden. 4.4 Die Verschärfung des Konfliktes durch den Nebenchor der Dienerinnen Die Danaiden sind einverstanden und bestärken den Vater im q£rsoj (1015). Danach setzt der Chor fort, was sich vor Danaos’ Auftritt mit der Formation des Nebenchores schon angebahnt hatte. In deutlichem Bezug auf sich selbst als corÒj gestaltet der Chor den gemeinschaftlichen Einzug aller Beteiligten nach Argos, bei dem er selbst ein Loblied auf das neue Zuhause singen will: 92 Die ‚Predigt’ des Danaos wurde bisweilen gründlich missverstanden, so von K ITTO (1961) 14: Es handele sich um einen überflüssigen Zusatz, um der Figur des Danaos noch irgendeine Funktion zu geben; vgl. die Kritik an solchen Positionen von B URIAN (1971) 67f., der zu Recht die thematische Relevanz geltend macht. - In v.1013 muss keine Antizipation der späteren Bluthochzeit hineingelesen werden, da es sich um eine durchaus übliche, hyperbolische Ausdrucksweise handelt; vgl. Eur.Her. 200f., Soph.OT 93f., Xen.Kyr. 6,4,5; ebenso konventionelle Diktion ist v.1016: e„ g£r ti m¾ qeo‹j beboÚleutai nšon (vgl. FJ-W III (1980) 303). 93 Gemeint ist hier nicht die Vermeidung einer jeden Ehe an sich, sondern die Eingliederung nach Argos, dem für seine Schutzfunktion quasi als Gegenleistung ein ordnungsgemäßes Verhalten zu erbringen ist. <?page no="278"?> Hiketiden 264 ‡te m¦n ¢stu£naktaj m£k<a>raj qeoÝj ganÒontej polioÚcouj te kaˆ o‰ ceàm' 'Eras…nou perina…ousin palaiÒn. Øpodšxasqe <d'> > Ñpadoˆ mšloj: a noj d pÒlin t£nde Pelasgîn ™cštw: mhd' œti Ne…lou proco¦j ssšbwmen Ûmnoij, ... ™p…doi d' ” ”Artemij ¡gn¦ stÒlon o„ktizomšna, mhd' Øp' ¢n£gkaj tšloj œlqoi KKuqere…aj: StÚgion pšloi tÒd' «qlon. (1018-33) Die Aufforderung ‡te m¦n - voranzuschreiten und die Exodos zu beginnen 94 - kann sich nicht, wie das maskuline Partizip ganÒontej zeigt, allein an die Danaiden richten, sondern integriert auch die Leibwächter des Danaos, wie auch den Vater selbst und natürlich die Dienerinnen: Alle sollen geschlossen in die Polis ziehen und mit dieser Prozession Argos „rühmen“; s i n g e n aber wollen nur die Danaiden: sšbwmen Ûmnoij , nicht die dann noch genannten Ñpado… : Sie sollen das Lied „annehmen“, das heißt anhören und rezipieren. 95 Wer nun diese „Begleiter“ sind, ist auch von Bedeutung für die Frage nach der Identität des Widerparts der Danaiden, der mit v.1034 zu singen beginnt: Sind schon hier die Dienerinnen oder aber die Angehörigen der Leibwache des Danaos angesprochen? Und singt nachher eine dieser beiden Gruppen, oder teilen sich die Danaiden gar selbst schon hier in zwei Halbchöre auf? 96 Danaos hat seine Leibwache erst v.985 sehr spezifisch als ÑpadoÚj bezeichnet und die von ihm gewünschten Begleiter in die Stadt v.492 als Ñp£onaj . So nennt auch Pelasgos v.954 die Männer aus seinem Gefolge, die die Mädchen in die Polis geleiten sollten ( sÝn f…loij Ñp£osin ). Aufgrund dieser Begrifflichkeit ist anzunehmen, dass hier einfach die Begleiter des Danaos - mehr oder minder auch wieder diejenigen seiner Töchter - gemeint sind, die diese ‚Integrations-Hymnen’ anhören sollen, ein Loblied auf ihre eigene Polis. 94 Vgl. Pers. 1038 (Xerxes zum Chor) und Eum. 1007 (Athene zum Hauptchor) und 1041 (der Nebenchor zum Hauptchor). 95 Die Auffassung, Øpodšcomai meine „annehmen, übernehmen“ und damit „sukzessive fortführen“, nämlich den Gesang (so etwa W ERNER in seiner Übersetzung: „Gebet Antwort, Schar der Mägde, Unserm Sang! “), wurde von der Forschung als irrig erwiesen; dafür müsste diadšcomai stehen (sh. G ARVIE (1969) 194f., M C C ALL (1976) 123); vgl. die enge Parallele Hes.Theog. 419 Øpodšxetai eÙc£j . Zur weiteren Diskussion über das maskuline Partizip, die Konjektur ganÒontej (überliefert ist gan£entej ) und den Gebrauch von Ñpado… sh. FJ-W III (1980) 306-13. 96 Für einen instruktiven Überblick über die Forschungsmeinungen sh. M C C ALL (1976) 117; T APLIN (1977) 232 erscheint sogar Danaos als Gesangspartner seiner Töchter möglich. <?page no="279"?> Wohin gehören die Danaiden? 265 Mit der Annahme der expliziten Aufstellung der Dienerinnen als eines Nebenchores in vv.977-79, das heißt als eines tatsächlichen corÒj , der ordnungsgemäß positioniert wird ( t£ssesqe ), dürfte nun derjenigen Forschungsmeinung, die mit v.1034 einen Nebenchor der Dienerinnen annimmt, ein weiteres gewichtiges Argument gegeben sein. Es ist nun aber auch inhaltlich zu fragen, ob das in Frage stehende Strophenpaar vv.1034-51 und die weiteren, zu den Aussagen der Danaiden respondierenden Verse besser zu den ihnen vertrauten, ägyptischen Dienerinnen passen oder zu dem der ihnen fremden, argivischen Begleiter - oder aber, ob sich der Chor schon mit v.1018 gar in zwei Halbchöre aufspaltet, womit eine ihm inhärente Widersprüchlichkeit zum Vorschein käme: Die eine Hälfte (1018-33) preise Argos und schwöre dabei nach wie vor Kythereia-Aphrodite zugunsten von Artemis ¡gn£ ab, die andere (1034-51) anerkenne nun, da in Sicherheit, doch die Prärogative der Aphrodite: KÚpridoj <d'> oÙk ¢mele‹<n>, qesmÕj Ód' eÜfrwn , so die ersten Worte der Anonymi, die dann weiter über die Wirkkräfte Aphrodites, der mächtigsten Göttin neben Hera, singen, über Pothos und Peitho, über Harmonia und die Eroten. 97 Solche ganz neuen Worte über die zarte, nicht gewaltsame Seite der Liebe passen kaum zu Soldaten, noch weniger die folgenden Aussagen, mit denen dem Zuschauer plötzlich wieder der undurchschaubare Wille des Zeus in Erinnerung gerufen wird, der den Verfolgern eine glückliche Fahrt geschenkt hat: fug£des<sin> d' ™ ™pipno…aj kak£ t' ¥lgh polšmouj q' aƒmatÒentaj pprofoboàmai. t… pot' eÜploian œpraxan tacupÒmpoisi diwgmo‹j; Óti toi m mÒrsimÒn ™stin, tÕ gšnoit' ¥n. DiÕj oÙ parbatÒj ™stin meg£la f fr¾n ¢pšratoj: met¦ poll©n d g g£mwn ¤de teleut¦ proter©n pšlei gunaikîn. (1043-51) Hier weicht das scheinbar erreichte positive Ende einer befürchteten Verschärfung des Konfliktes, der im Zusammenwirken von Zeus und Moira ( mÒrsimon ) auf eine Heirat mit den Cousins zusteuert: Diese teleut£ überbietet das gegenwärtig erreichte tšloj . Das ist ein scharfer Kontrast zu vv.44-47, wo die Danaiden ihren Heilungswunsch auf die im Zusammen- 97 ¢mele‹n, qesmÒj ist die Konjektur von N AUCK für das überlieferte amele‹ qesmÒs , wofür des Öfteren ¢mel¾j ˜smÒj (W EIL ) geschrieben wird; damit bezöge sich diese chorische Gruppe auf sich selbst (vgl. ˜smÒj in v.30 für die Aigyptiden und in v.223 für die Tauben, also die Danaiden). - Für die Aufspaltung der Danaiden plädiert vor allem M C C ALL (1976) in einer sensiblen Interpretation (bes. 125-27), doch sind die Argumente für die Ablehnung des Dienerinnen-Chores nicht zwingend, besonders nicht „that lowly handmaidens are hardly more fitting than Argive bodyguards to debate with their noble mistresses over Aphrodite.“ (126). <?page no="280"?> Hiketiden 266 wirken von Zeus und dem mÒrsimoj a„èn vollbrachte Erlösungstat für Io projiziert hatten. Tröstlich sei aber immerhin, dass die Danaiden unter einem allgemeinen Gesetz stünden. 98 Diese Gedanken und insbesondere die Reminiszenz an den Zeus-Hymnos der Parodos können kaum von einem argivischen Nebenchor gesungen werden, der keinen Grund hätte, für sich selbst eine Kriegsniederlage gegen die Ägypter zu prophezeien, die ja Voraussetzung für eine Heirat wäre (und in der Tat sein wird). 99 Neben dem Inhalt spricht auch das Versmaß dafür, dass das Strophenpaar aus dem Kreis der Danaiden gesungen wird: Es handelt sich durchgehend um Ioniker, die die Sänger ebenso als Fremdlinge charakterisieren wie die vv.1018-33 singenden Danaiden. Dies träfe nun sicherlich auch zu, wenn vv.1034-51 von einem Halbchor der Danaiden gesungen würden (und vv.1018-33 vom anderen), der also einer Heirat mit den Aigyptiden nicht mehr abgeneigt sei. Ein derartiger Widerspruch zu der vorher einheitlichen Haltung des Gesamtchores scheint aber sogar derjenigen Forschungsrichtung, die bei Aischylos ganz bewusst nach Inkohärenzen sucht, zuviel zu sein. 100 Vom weiteren Verlauf des Mythos her ist es völlig unwahrscheinlich, dass eine Hälfte der Danaiden der Hochzeit, gar noch im Sinne der Aphrodite, freiwillig zugestimmt hätte: Es wird lediglich Hypermestra gegen ihre 49 Schwestern stehen. Die Parallele zum Schluss der Septem mit der Aufspaltung des Chores in Halbchöre ist nur scheinbar, 101 da das dortige Gegeneinander ein Miteinander ist, welches die gegenseitige Tötung der Brüder verarbeitet und im Sinne einer Versöhnung aufhebt. Vielmehr handelt es sich bei dem Strophenpaar b um einen K o m m e n t a r zur tatsächlichen Lage der Danaiden. Sie selbst haben sich eben auf ihre 98 Zu Verständnis und Textgestaltung von v.1050f. sh. FJ-W III (1980) 332-34; insbesondere ist pšloi mit B OTHE zu ändern in pšlei , da hier kaum ein Wunsch seitens der Sprecher (FJ-W nehmen allerdings die Argiver an) vorliegen kann, sondern eine Vorhersage. 99 Auf den ersten Blick besticht die Interpretation von S EAFORD (1987) 114f. (gefolgt von R ÖSLER (1993) 14f.), dass die Schlusspartie der Hiketiden nach dem Muster eines „wedding song“ gestaltet sei: Wie Catull c.62 nähmen die jungen Argiver als Nebenchor die von den Danaiden geäußerten Gedanken und Worte in reversibler Weise auf, um sie durch Peitho zur Heirat zu bewegen. Aber allein Technik und Form dürften nicht ausreichen, um hier speziell einen Hochzeitsgesang zu sehen: Lyrischer Austausch, ob zwischen zwei Chören oder Chor und dramatis persona, basiert sehr häufig auf der Wiederaufnahme oder Neudefinition von Inhalten. Dass die Argiver die Erwähnung der „kinderreichen Flüsse“ ( potamoÝj d' o† ... polÚteknoi , 1026-28) „as an indication of the girls’ interest in Aphrodite despite their explicit rejection at 1031-2“ (114) auffassen, ist eine gewagte psychoanalytische Interpretation (obwohl natürlich auch hier ein Spannungsverhältnis zwischen Verweigerung und Erfordernis der Ehe vorliegt, das aber überall in der Tragödie zum Vorschein kommt). Es ist auch nicht einzusehen, wie sich zu der von S EAFORD angenommenen heiteren Stimmung („almost playfully picking up the praise of fertility“, ebd.) die dann in der Antistrophe geäußerten höchst sinistren Töne fügen. 100 Keine Erwähnung bei D AWE (1974) und C OURT (1994). 101 So etwa D ILLER (1975) 42. <?page no="281"?> Wohin gehören die Danaiden? 267 eigene Gesamtheit als stÒloj (1031) bezogen und in ihrem Strophenpaar a , dem ‚Integrationsmšloj ’, das ihnen vom Vater aufgetragene swfrone‹n bekannt. Die bereits zutage getretene Problematik ihrer naturgegebenen Heiratsfähigkeit ist freilich gerade jetzt präsent, wenn sie sich selbst als einheitliche Gruppe zwischen Artemis und Kythereia-Aphrodite stellen (1030- 33). Auf den qesmÒj (1034) der Kypris nehmen nun die schon zuvor explizit als corÒj formierten und positionierten Dienerinnen Bezug und spitzen für den Zuschauer und für den Hauptchor die Konfliktsituation beträchtlich zu - in Gestalt einer Kommentierung des Status quo, die die Danaiden verständlicherweise selbst nicht durchführen wollen. Diese Perspektive von außen zeigt sich in der Adressierung fug£dessin , „für die Flüchtlinge“. Denn die Dienerinnen selbst haben nichts zu befürchten - wohl aber fürchten sie um ihre Herrinnen, deren Schmerz und Gefährdung im Vorhinein prognostiziert werden: profoboàmai . Es passt ferner, dass die Dienerinnen als Frauen Aphrodite zur Sprache bringen; dass sie als fremde Ägypterinnen in Ionikern singen; und dass sie als Nahestehende der Danaiden selbst die Reminiszenz zum Zeus-Hymnos der Parodos durchführen (in der sie wohl schon auf der Bühne anwesend waren) - dies ebenfalls in Form der hymnischen Prädikation, mit der nun Aphrodite gepriesen wird. 102 Und nicht zuletzt in ihrer Funktion als fern» , als Mitgift, verkörpern sie ja förmlich den Boden der auf die Danaiden zukommenden Oikos-Ordnung. Der Gegensatz zwischen der zarten Seite der Aphrodite (mit Pothos und Peitho) und der gewaltsamen Hybris der Aigyptiden lässt die grundsätzliche Problematik nur um so schärfer hervortreten. Der danach einsetzende Schlagabtausch zeigt die Danaiden als unerbittlich. Wenn v.1055: sÝ d qšlgoij ¨n ¥qelkton („Du möchtest jemanden (= mich) erweichen, der nicht zu erweichen ist“) ihnen zu geben ist, 103 so sagen sie hiermit der qšlktori Peiqo‹ (1040) ab, die der Nebenchor als Wirkkraft Aphrodites ins Spiel gebracht hatte. Zugleich aber lassen sie sich nicht von der rhetorischen Peitho ihrer Dienerinnen überzeugen. Diese nehmen freilich die Danaiden nur beim Wort: Der Wille des Zeus ist undurchschaubar. Und in ihrer kommentierenden Funktion zeigen sie für den Zuschauer auch die Unmäßigkeit der Danaiden auf, die zuvor unmittelbar und direkt im Affekt zum Ausdruck gekommen war: mštriÒn nun œpoj eÜcou ... t¦ qeîn mhd n ¢g£zein (1059, 1061). Die Mahnung, sie sollen ein „moderates Wort als Gebet sprechen“, richtet sich im näheren Kontext dagegen, Artemis der Aphrodite vorzuziehen (1030-33), im weiteren wohl auch gegen den vorherigen Erpressungsversuch sogar Zeus gegenüber. Wenn dann gar der mhd n- ¥gan -Diskurs anzitiert wird, so weist dies schon in die Sphäre der Hybris, 102 D ORSCH (1983) 21-29, der ebenfalls von den Dienerinnen als Nebenchor ausgeht, arbeitet die hymnischen Elemente der Passage 1034-42 detailliert heraus und weist auf den Gegensatz zwischen Artemis und Aphrodite hin, der ja in den Anrufungen einmal durch den geschlossenen Haupt- und dann durch den Nebenchor konträr zum Ausdruck kommt. 103 So FJ-W und W EST , nicht P AGE . <?page no="282"?> Hiketiden 268 der sich die Danaiden schuldig zu machen drohen und, wie man aus dem Mythos weiß, auch machen werden. Nachdem also der Nebenchor den Konflikt wieder aufbrechen hat lassen - das Stück hätte ja auch mit dem Lobpreis auf Argos und dem Gebet an Artemis zu Ende sein können -, ist seine Aufgabe erfüllt. Der Hauptchor evoziert im letzten, metrisch deutlich abgesetzten Strophenpaar seine eigene Lage, der jetzt doch eine wesentlich größere Offenheit und Unsicherheit eignet, als es noch kurz zuvor den Anschein hatte. So kommt denn auch der am weitesten entfernte Zielpunkt der ‚Heilung’ ins Blickfeld - Zeus als Erlöser der Io. Dies war fast 500 Verse lang ausgeblendet worden: ZeÝ<j> ¥nax ¢postero…h g£mon dus£nora d£ on, Ósper 'Iè phmon©j ™lÚsat' eâ ceirˆ paiwn…v katasceqèn, eeÙmenÁ b…an kt…saj: kaˆ kr£toj nšmoi gunai x…n. tÕ bšlteron kakoà kaˆ tÕ d…moiron a„nî , kaˆ dd…kv d…kan ›pe sqai xÝn eÙca‹j ™ma‹j, luthr…oij macana‹j qeoà p£ra . (1062-73) In dem Oxymoron eÙmenÁ b…an , das frappant an die c£rij b…aioj des Zeus- Hymnos im Agamemnon erinnert (Ag. 182), ist die Erlösung Ios durch die heilende Hand von Zeus ein Akt wohlmeinender Gewaltanwendung. Hatte der Chor diesen Erlösungsvorgang zuvor als ein sanftes Anhauchen durch Zeus dargestellt, der bei seiner mühelosen Ins-Werk-Setzung keine b…a anzuwenden braucht, so ist nunmehr eine b…a Bestandteil der Heilung der Io. Dieser Wechsel hatte sich schon v.1043f. angedeutet, als der Nebenchor in Fortsetzung der Wind- und Hauchmotivik für die Danaiden künftige ™pipno…aj befürchtete: Im Kontext von Schmerz und Krieg ist dies nicht mehr ein sanftes Anwehen, sondern ein gewaltsamer Sturm. 104 Handgreiflichkeiten und der gewaltsame Übergriff auf die Danaiden wurden soeben auf der Bühne dargestellt, und Gewalt, so sehen es die Danaiden jetzt, gehörte auch wesentlich zur Heilung der Io. Wenn auch sie wünschen, Zeus solle für sie Partei nehmen, so ist der eigene aktive Anteil an der gewaltsamen Lösung, die zum Heil führen soll, hier schon präsent. In pointierter 104 Überliefert ist in v.1043 ™pipno…v , womit der Nebenchor über seine ahnende Inspiration spräche. Aber ein in den Hiketiden derart spezifischer Begriff muss die Motivik des Io- Mythos fortführen, nur eben in neuer Manier; also ist die einfache Konjektur von T URNEBUS ™pipno…aj angebracht; vgl. H ILTBRUNNER (1950) 31 und M URRAY (1958): „The result is a clever and subtle unification of the extended image … and a suggestive ambiguity.“ (41). <?page no="283"?> Wohin gehören die Danaiden? 269 Gegenüberstellung zu v.951: e‡h d n…kh kaˆ kr£toj to‹j ¥rsesin bittet der Chor darum, dass sich die Frauen durchsetzen. Dies ist im Lichte der Auseinandersetzung zwischen Pelasgos und den Ägyptern, in der hinter dem Zusammenprall der beiden männlichen Mächte die jeweils intendierte Einhausung der Danaiden stand, ein fürwahr gewaltiger Anspruch, stellen sich die Mädchen hier doch wieder außerhalb der ‚normalen’ Polis- und Hausordnung. Der Mord an den Aigyptiden wird die - selbst erst durch Gewalt erreichte - männliche Hausordnung zerbrechen und den Boden von Argos mit Blut beflecken. Wenn „der Dike Dike folgen möge“, so eröffnet sich ganz am Ende die beunruhigende Perspektive einer dialektischen Rechtsverletzung seitens b e i d e r Parteien. 105 Mit der Einforderung „erlösender Mittel von der Gottheit“ - ominös antizipieren diese mhcana… Machenschaften, die in der Bluthochzeit ihren Höhepunkt erreichen dürften - stellen die Danaiden ihr eigenes kr£toj der Erlösungstat des Zeus an Io gleich. Um ein moderates Gebet, wie von den Dienerinnen gefordert, handelt es sich hier nicht: Es ist vielmehr Ausdruck der Hybris, die die Danaiden schließlich auf eine Stufe mit ihren Cousins stellen wird. 105 Überliefert ist d…ka d…kaj , die Konjektur d…kv d…kan von H AUPT macht guten Sinn (vgl. Cho. 461 ”Arhj ”Arei xumbale‹, D…kv D…ka ). <?page no="284"?> 270 IV. Agamemnon 1. Der Chor in der Forschung: Person, Pathos, Wissen Der Chor der schon im Gesamtverständnis wohl komplexesten aischyleischen Tragödie, dem Agamemnon, hat im Vergleich zu den anderen Chören des Aischylos eine erhöhte Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen. Auf die entsprechenden Beiträge wurde bereits im Forschungsüberblick hingewiesen - geradezu paradigmatisch für den Chor bei Aischylos insgesamt kulminieren in der Interpretation des Agamemnon-Chores die so heterogenen Positionen der Forschung. 1 Den erkannten Schwierigkeiten der Ausdeutung von Drama und Chor steht eine auffallende Tendenz gegenüber, in je verschiedener Weise eine e i n d e u t i g e Interpretation des Chores im Agamemnon zu versuchen. Dabei befremdet, dass bei den vergleichsweise vielen Arbeiten zu diesem Chor eine rezeptionsästhetische Perspektive so gut wie gar nicht eingeschlagen wurde. Zweifellos äußert der Chor des Agamemnon, bestehend aus Greisen der Polis Argos, in seinen Reflexionen über das Wirken von Zeus und Dike zentrale Gedanken eines theologischen Weltverständnisses, die man auf den ersten Blick gerne dem Dichter und Denker Aischylos selbst zuschreiben möchte. Die Vereinnahmung des Chores für diese ‚Sprachrohr-Theorie’ durch vor allem ältere Arbeiten wurde zu Recht kritisiert; 2 darauf folgte dann eine ähnlich einseitige Forschungsrichtung, die sich auf den Chor als dramatis persona konzentrierte 3 - als deren gleichsam teleologischer Schlusspunkt kann die Monographie von T HIEL (1991) gelten, die trotz des eher unspezifischen Titels (Chor und tragische Handlung im ‚Agamemnon’ des Aischylos) in einer zum Absolutum der Interpretation erhobenen Methodik a ll e Äußerungen des Chores dahingehend deuten möchte, dass Aischylos in diesem Chor eine dramatis persona mit einem konsistenten Charakter und einem jeweiligen, von der Handlung diktierten Wissensstand präsentieren wolle: „Dabei steht der Versuch im Vordergrund, das Verhalten des Chores immer auch aus seiner Person, seiner Situation in den verschiedenen Phasen des Stücks und seinem jeweiligen Wissen verständlich zu machen. Dies ist ohne den Versuch einer Deutung der Bühnenhandlung, auch soweit der Chor daran nicht oder nur am Rande teilnimmt, unmöglich und setzt voraus, daß der Chor sowohl in den Liedern als auch in den Dialogpartien als wesentlich einheitliche dramatis persona verstanden werden darf. … Ich hoffe … zu zeigen, daß der Chor in seinen Liedern seinen Charakter 1 Sh. oben S.3-11. 2 R EINHARDT (1949), P OHLENZ (1954), D ENNISTON / P AGE (1957), K ITTO (1961), L EBECK (1971); Kritik von S MITH (1973). 3 P ODLECKI (1972), G ANTZ (1983), V ELLACOTT (1983), S CHENKER (1991); vgl. auch das Kapitel zu den Chören der Orestie bei F ÖLLINGER (2003) 120-29. <?page no="285"?> Der Chor in der Forschung 271 ebensowenig wie seine Maske ablegt, daß seine Äußerungen als diejenigen einer Person verstanden werden können, die bei aller situationsbedingten Verschiedenheit doch durchgängig dieselbe bleibt, in den lyrischen Partien ebenso wie in den Dialogen, wenn man nur dem jeweiligen Wissen und der dramatischen Situation des Chores innerhalb der Bühnenhandlung Rechnung trägt.“ 4 T HIEL s Sichtweise presst den Chor in einem naturalistischen Verständnis der Griechischen Tragödie als eines „realistic drama“ 5 zu sehr in die fiktionale Bühnenhandlung hinein und kappt die für das Phänomen Chor so charakteristische Kommunikationsleitung zum Publikum. Die Folge der Annahme eines beschränkten Horizontes des Chores als einer dramatis persona ist bei T HIEL eine Reihe von Einzelinterpretationen, die - wie jeweils zu zeigen sein wird - der Aussageintention von Aischylos oft nicht gerecht werden dürften. Allerdings ergibt sich durch die Forderung T HIEL s nach einer Berücksichtigung der jeweiligen Bühnensituation und des entsprechenden Wissens des Chores eine Berührung mit der von uns grundsätzlich für Aischylos betonten Punktualität und Aktualität des einzelnen dramatischen Moments im Plot. Dies ist jedoch für die Beschreibung der Relation von Chor und Z u s c h a u e r nutzbar zu machen, denn durch die Betonung des hic et nunc, in dem beide Gruppen in der Position dessen, der erst informiert werden muss, ‚passiv’ gefangen sind, kann zum einen der weit verbreiteten Auffassung von einem allseitigen Vorwissen des Zuschauers entgegengetreten werden. Zum anderen aber kann gerade die e m o t i o n a l e Komponente bei der Erzeugung dieses hic et nunc durch den Chor der Rezeptionssteuerung des Zuschauers dienen. Insofern ist T HIEL s Forderung nach der Beachtung des jeweiligen, situationsbedingten Wissens des Chores zutreffend, doch ist eine Adaption nötig: Zu berücksichtigen sind der Publikumsbezug, der bei T HIEL fehlt, und die Affekte des Chores, die nicht einfach als gewissermaßen monologische Äußerungen des Chores als einer weiteren dramatis persona der Charakterzeichnung dienen dürfen. Die bei den genannten Interpretationen nur wenig berücksichtigten Affekte des Chores des Agamemnon, sein p£qoj , sind in dem mehrbändigen Kommentar von B OLLACK und J UDET DE LA C OMBE in ganz eigener Weise in den Mittelpunkt gerückt. Es gebe ein eigenes, zusätzliches, zweites Drama des Chores, das die eigentliche Bühnenhandlung vorwegnehme und als interner „discourse monologique“ (! ) einen für den Chor selbst schmerzhaften Erkenntnisprozess („découverte douloureuse“) über das Wirken der Dike in Gang setze und durchführe: „ … cette vérité est ‚pathétique’ au sens moderne, c’est-à-dire liée aux affects de celui qui la chante. En réfléchissant, le choeur lyrique n’est pas moins dramatique que dans les épisodes [.] … c’est le droit … qui sur scène devient une passion [.]“ Damit aber wird nichts weniger versucht als die Anwendung des p£qei m£qoj auch auf den Chor, der so eine „catastrophe symbolique“ erlebe. 6 Die tatsächliche Bühnenhandlung sei nur noch eine Folie und bestenfalls Exekutive angesichts der Antizipation aufseiten eines auto- 4 T HIEL (1991) 1 und 9. 5 Vgl. die Ausführungen von S IFAKIS (1971) 7-15; sh. oben S.6 Anm.7. 6 J UDET DE LA C OMBE (2001) 27-33, und weiter: „[L]es résultats de la réflexion se retournent contre leur auteur de manière analogue à la catastrophe qui vient changer brutalement le devenier du héros agissant.“ (31). Wie bei den aktiv handelnden Einzelfiguren ziehe auch die ‚Urheberschaft’ („auteur“) der Reflexion aufseiten des Chores ein p£qoj nach sich. <?page no="286"?> Agamemnon 272 nomen Chores, der sowohl als handelnde Person als auch als Verkünder einer theologischen Lehre oder Wahrheit des Dichters zurücktrete. 7 So wichtig die Betrachtung der Affekte des Chores gerade aufgrund seines Erkenntnisbedürfnisses ist: Der entsprechende Bezug zum Zuschauer fehlt bei B OLLACK / J UDET DE LA C OMBE ebenso wie bei T HIEL und ist somit ein implizites gemeinsames Merkmal beider Positionen, die deren Differenzen in anderer Hinsicht dann wieder überlagert; 8 wenn die Position des Chores sogar ganz explizit als „discourse monologique“ definiert wird, so berücksichtigen B OLLACK / J UDET DE LA C OMBE trotz der Anwendung moderner linguistischer Theorien gerade den entscheidenden, spezifischen Aspekt des Chores der Griechischen Tragödie als eines rezeptionssteuernden Instrumentes nicht. - Den gravierendsten Einwand gegen die Behauptung, die Tragik läge ausschließlich beim oder im Chor und sei mehr oder weniger synonym mit dessen affektiver „souffrance“ (J UDET DE LA C OMBE (1982) 275) hat N ESCHKE (1984) formuliert: Wie immer man ‚Tragik’ definieren mag, so hat der Begriff in den Raum eigenen, persönlichen, aktiven Handelns und Entscheidens zu weisen 9 - das aber können nur dramatis personae wie Agamemnon, Klytaimestra oder Orest. Unbedingt zustimmen wird man jedoch B OLLACK / J UDET DE LA C OMBE darin, dass sich der Diskurs des Chores mit einer stabilen gesellschaftspolitischen Ordnung befasse: „ … la tentative des vieillards argiens de construiere un discours à la fois rationnel et fondateur d’un ordre social possible“ 10 . Denn hier kann eine Interpretation ansetzen, die auf unserer These basiert, dass sich der aischyleische Chor mit einer ‚H e il u n g ’ der von ihm empfundenen Krise beschäftigt und dass ein entsprechendes Bestreben in engem Zusammenhang mit seinen A f f e k t e n steht. Die Schwierigkeiten der Forschung, die offenkundig für das Verständnis gerade dieser Tragödie zentralen Reflexionen des Chores - die wir ja grundsätzlich neben der Ratgeberfunktion als wichtigen Bestandteil einer auf die 7 Vgl. B OLLACK (1981), bes. I, XIII, XVIII und XCI-CXXV. 8 T HIEL (1991) sieht bei seiner kurzen Besprechung der bis dato erschienenen Bände nur zu den lyrischen Partien (1981/ 82) von B OLLACK / J UDET DE LA C OMBE zu Recht die Gefahr einer „Disintegration der Tragödie, ihre Spaltung in Chorlied und Bühnenhandlung“ (8), wohingegen er selbst, seiner Grundannahme einer einheitlichen dramatis persona des Chores gemäß, die Chorlieder nicht aus der Bühnenhandlung herauslösen will, weil ansonsten der „Verlust der Einheit der Chorrolle“ (9) unumgänglich sei. Schon allein durch die Anlage des Gesamtwerkes, das erst 2001 mit dem Commentaire des dialogues, nun von J UDET DE LA C OMBE allein, nach 20 Jahren abgeschlossen vorlag, lässt sich der - durch die verzögerte Edition noch verstärkte - Eindruck einer Dissoziation in der Tat nicht leugnen: Ganz programmatisch wurden 1981/ 82 zunächst nur die Parodos und die drei Stasima, wo sich das ‚Drama des Chores’ abspiele, für sich alleine behandelt. In seiner Entgegnung auf T HIEL gibt J UDET DE LA C OMBE (2001) dann die Existenz zweier „langages différents“ (30) zu, betont aber erneut die Autonomie des Chores in den Stasima. Bei der Hervorhebung der Punktualität der Situation, an deren jeweilige Beschaffenheit die Reflexion des Chores gebunden sei, treffen sich dann beide wieder. 9 Vgl. N ESCHKE (1984) 359, die weiter auf den Widerspruch zwischen der prinzipiell ‚untragischen’ Reflexion des Chores und dem Postulat eines ‚Dramas des Chores’ hinweist. 10 J UDET DE LA C OMBE (2001) 27. <?page no="287"?> Der Chor in der Forschung 273 Wiederherstellung der Ordnung gerichteten Intention des aischyleischen Chores postuliert hatten - in einer eindeutigen Weise zu interpretieren, sind zweifellos von der besonderen Qualität des Agamemnon verursacht, in dem die eigentliche Mordtat erst nach vier Fünfteln der Handlung eintritt (v.1343 die Todesschreie). Zuvor wird vom Chor, dem sich positiv entwickelnden Heimkehrergeschehen zum Trotz, eine düstere Stimmung produziert, indem der Chor vergangene, gegenwärtige und zukünftig m ö g li c h e Faktoren und Fakten expliziert und offensichtlich versucht, mit theologischen Reflexionen der sich im Plot entwickelnden Realität Herr zu werden. Hierbei besteht das Hauptproblem für die philologische Erschließung darin, dass der abstrakte, theoretisierende Modus dieser Reflexionen breiten Spielraum lässt für Spekulationen, wen oder was der Chor jeweils im Auge hat - wie zu sehen sein wird, weiß ‚man’ (ob als Zuschauer oder Philologe) in vielen Fällen letztlich nie exakt, was der Chor weiß oder woran er denkt. Aber gerade die Frage nach dem definitiven Wissensstand des Chores und der Versuch einer entsprechenden Fixierung läuft tendenziell auf eine Charakterdeutung des Chores als einer dramatis persona zu und verkennt womöglich etwas ganz Wesentliches: Die weithin gerade n i c h t eindeutige Stellungnahme des Chores zum tragischen Geschehen zwingt den Zuschauer um so mehr zu eigenständigem Entschlüsseln - zumal immer wieder auf die Bedeutsamkeit und Schwierigkeit des Verstehens selbst hingewiesen wird. Die Affekte auch dieses Chores - Sorge, Angst, Trauer, aber auch Hoffnung, Zuversicht und Freude - sollen eine entsprechende ‚Antwort’ aufseiten des Zuschauers hervorrufen helfen, um einen Verständnisvorgang zu aktivieren und zugleich zu plausibilisieren. E ASTERLING hat, gerade im Blick auf den Zuschauer, die Haltung des Chores des Agamemnon als diejenige eines selbst emotional betroffenen ‚Zeugen’ und zugleich Ausdeuters der tragischen Handlung umrissen und auf die spezifische Schwierigkeit hingewiesen, die sich aus der Spannung zwischen Wissen und Interpretationskompetenz dieses Chores ergibt. 11 11 E ASTERLING (1997) 163f. 2. Der Prolog als motivischer Nucleus der Orestie Im Gegensatz zu den Persern und den Hiketiden folgt die Parodos des Chores hier, wie in den Septem, erst auf eine Prologszene. Während es sich in den Septem allerdings um eine relativ lange, wirkliche Bühnenszene handelt, die den Protagonisten Eteokles zusammen mit dem Boten und wohl einer stummen Menschenmenge in der hellen Öffentlichkeit der Polis präsentiert, ist der kürzere Prolog des Agamemnon als reiner Monolog auf eine nicht wieder auftretende Nebenfigur reduziert: Einen Wächter, der auf dem Dach des Herrscherhauses seit langem auf eine durch Feuerzeichen übermittelte Botschaft aus dem fernen Troja wartet. Es wird hier eine Reihe von Motiven <?page no="288"?> Agamemnon 274 angestimmt, die für die gesamte Orestie und auch die Präsentation der drei Chöre von zentraler Bedeutung sind. Der Wunsch nach einer ¢pallag¾ pÒnwn (1, 20) richtet sich nicht nur konkret auf die Beendigung der leidvollen, den natürlichen Ordnungsrhythmus von Tag und Nacht verwirrenden Nachtwache, sondern offenbart eine viel tiefer liegende Störung sowohl der häuslichen als auch der öffentlichen Ordnung: Erst durch die Rückkehr der saviour-Figur Agamemnon, zugleich Hausherr und König, nach einer Eroberung Trojas scheint dem Wächter eine Beendigung seines fÒboj (14) möglich, ein wirklich effektives ¥koj (17). Der Zuschauer kann sich aus den ominösen Andeutungen des Wächters erschließen, dass diese Angst in Verbindung steht mit dem beklagenswerten unnatürlichen Zustand eines ‚Weiberregiments’ im Herrscherhaus, in dem im Gegensatz zu „früher“ eine Veränderung zum Schlechteren hin eingetreten ist (10f., 19). Aber was hier genau in Unordnung ist, wird nicht explizit ausgesprochen: gšnoito d' oân molÒntoj eÙfilÁ cšra ¥naktoj o‡kwn tÍde bast£sai cer…. t¦ d' ¥lla sigî: boàj ™pˆ glèssV mšgaj bšbhken. o koj d' aÙtÒj, e„ fqogg¾n l£boi, safšstat' ¨n lšxeien: æj ˜kën ™gè maqoàsin aÙdî koÙ maqoàsi l»qomai. (34-39) Wer im Publikum den Mythos kennt, kann sich seine Gedanken machen - über den Ehebruch Klytaimestras mit Aigisthos oder sogar über den Mordplan beider gegen den Heimkehrer, motiviert von blutigen Vorgängen, die schon generationenübergreifend in diesem Genos wüten: Die Opferung Iphigenies und die cena Thyestea noch länger zuvor. Und worauf könnte sich wohl die Hoffnung des ‚Mannweibes’ Klytaimestra (11) und ihr präsumptiver, individueller Ololygmos (28) richten - wirklich nur auf die Eroberung Trojas und die Heimkehr des Gemahls Agamemnon? 12 Wer hingegen die Vorgeschichte oder den m ö g li c h e n weiteren Verlauf nicht oder nur vage kennt (die Orestie des Aischylos bringt 458 den Atridenmythos wohl erstmals auf eine Theaterbühne), 13 der wird auf das mit Wissen und Nicht-Wissen, Aussprechen und Verschweigen verbundene hermeneutische Problem, das strukturbildend für die ganze Tragödie ist, explizit hingewiesen (38f.): „Denn bewusst spreche ich für diejenigen, die schon Kunde haben - wer aber nicht, für die bleibe ich stumm.“ Wenn sich diese ungute Stimmungslage für den Zuschauer gerade n a c h dem so lange erwarteten Lichtzeichen, das doch in der Konsequenz ein ¥koj zu sein verspricht, erneut einstellt, so offenbart sich neben dem auf Rationalität beruhenden Wissens- und Interpretationsproblem auch ein labiler Zustand im Affektiven gleich zu Beginn. 12 Zum freudigen Ololygmos im Kontext von Mord und Vergeltung sh. Ag. 587, 1118, 1236 und Cho. 386, 942 - in der Schlussprozession der Eumeniden geht die Auflösung des tragischen Konfliktes dann mit einem unverfälschten, gesamtgemeinschaftlichen Ololygmos einher (1043 und 1047). 13 Zur Behandlung des Stoffes vor Aischylos sh. F ÖLLINGER (2003) 60-83. <?page no="289"?> Der Prolog als motivischer Nucleus 275 Der zuvor evozierte positive Affekt der Freude wegen des Lichtzeichens wird nun im Rahmen der song-and-dance culture auf die Bühne gebracht, womit die Lebenswelt des Zuschauers in kaum zufälliger Weise reflektiert wird: corîn kat£stasin (23) meint die regelgerechte Aufstellung und Durchführung freudiger ritueller Reigentänze in der Polis ebenso wie, auf einer metaphorischen Ebene, die Wiederherstellung der normalen Ordnung. 14 Und dies stellt gegenüber dem einsamen, individuellen ¢e…dein À minÚresqai (16) in der Nacht, das dann doch im kla…w (18) endet, ein ¥koj für die g a n z e Gemeinschaft dar. 15 Polis und Oikos, der gesamte Boden, wären somit in einem normalen Zustand. Insofern könnte der Zuschauer für die folgende Parodos, die gemäß der Konvention jetzt nach dem Prolog einsetzen muss, sogar ein Jubellied erwarten - so wie in der Antigone, wo der Chor (ebenfalls alte Männer) nach der Bewahrung der Polis freudig singend einzieht. Wie also wird sich der Chor präsentieren - hat er nun schon den gleichen Wissensstand wie der Zuschauer nach dem Prolog? Welche Affekte legt er an den Tag? Wie steht e r zu den schon erwähnten Einzelfiguren Agamemnon und Klytaimestra? Und aus welchem speziellen Segment der large offstage group, die in diesem Prolog gerade in den coro… schon präsent ist, wird der Chor überhaupt bestehen? Mit diesen Fragen sieht sich der Zuschauer am Ende des Prologes konfrontiert. 14 Vgl. oben S.35 zur kat£stasij der politischen Ordnung in Sparta durch Lykurg und Terpander vermittels der Etablierung einer Chorkultur. 15 Zu ¥koj als Leitbegriff für ein Heilsgeschehen in der Orestie vgl. Z IERL (1994) 153. 3. Die Parodos - eine lange Geschichte und unsichere Hoffnungen Die Komplexität der Parodos gebietet vorab einen kurzen strukturellen Überblick: In Anapästen (40-103) berichtet der Chor vom Kriegszug der Atriden mit dem Ziel, die von Paris geraubte Helena zurückzuholen und Rache an ganz Troja zu üben (40- 71); die Alten selbst sind damals vor zehn Jahren in Argos zurückgeblieben (72-82) und fragen nun wegen plötzlicher Opfer in der Stadt die Königin Klytaimestra, ob es Neuigkeiten vom Heerzug gebe, die ihre Sorge um Agamemnon, Menelaos und das Heer beenden könnten (83-103). Der lyrische Teil (104-257) zerfällt in drei große Abschnitte: 1) Zunächst (104-59) referiert der Chor nach einer Bekundung seiner göttlichen Autorität im Erzählen ein aus der Tötung einer trächtigen Häsin durch zwei Adler bestehendes Omen damals bei der Ausfahrt gen Troja (104-21) sowie dessen Ausdeutung durch Kalchas, der ein Miteinander von Glück und möglichem Unglück für die Atriden prophezeit hatte (122-59). 2) Dadurch in Unruhe geraten, stimmt der Chor den sogenannten Zeus-Hymnos an, der eine relativ optimistische Weltsicht evoziert (160-83). <?page no="290"?> Agamemnon 276 3) Danach fährt der Chor mit der Erzählung der schlimmen Ereignisse bei der Ausfahrt fort, welche sich nun um Agamemnons tragische Entscheidung drehen, seine eigene Tochter zu opfern, um endlich aufbrechen zu können (184-246), ehe der Chor abschließend seine Ungewissheit über die Zukunft bekundet (247-57). 3.1 Unruhe und unerfüllte Hoffnung auf ‚Heilung’ durch Klytaimestra Der Chor, der visuell gleich als schwache, auf Stöcke gestützte Greise (75) erkennbar ist, stellt sich explizit erst mit v.72 vor. Es handelt sich um derart alte Männer, dass diese schon zehn Jahre zuvor bei Beginn des Heerzuges als nicht mehr wehrfähig in Argos zurückgeblieben waren: ¹me‹j d' ¢t…tai sarkˆ palai´ tÁj tÒt' ¢rwgÁj Øpoleifqšntej m…mnomen, „scÝn „sÒpaida nšmontej ™pˆ sk»ptroij: Ó te g¦r nearÕj mmuelÕj stšrnwn ™ntÕj ¢¢n®sswn „sÒpresbuj, ”Arhj d' oÙk œni cèrv, tÒ q' Øpšrghrwn, full£doj ½dh katakarfomšnhj, tr…podaj m n ÐdoÝj ste…cei, paidÕj d' oÙd n ¢re…wn Ônar ¹merÒfa<n>ton ¢la…nei. (72-82) Die körperlich bedingte Nichteinlösung der Verpflichtung gegenüber Agamemnon ( ¢t…tai ) 16 führte zu einem Zurückbleiben in Argos, das zu einem kontinuierlichen Warten auf gerade die Nachricht wurde, die der Zuschauer schon aus dem Prolog kennt. Aber diese Differenz im jeweiligen Wissensstand von Chor und Zuschauer ist nicht weiter von Bedeutung, da es nun dem Chor zukommt, eine perspektivische Lenkung großen Ausmaßes vorzunehmen, welche den Plot erst wirklich in Gang setzt und hierbei eine Tiefenstruktur in Raum und Zeit sichtbar macht. Noch weit über den Altmänner-Chor der Perser hinaus, der dort für den Gegensatz ‚Alt - Neu’ zentral ist, führt im Agamemnon das sogar „Steinalte“ ( tÕ q' Øpšrghrwn , wie verwelktes Laub), das dieser Chor im wahrsten Sinne des Wortes verkörpert, für den Zuschauer zu dem Eindruck, dass eine weit zurückreichende Vergangenheit für den Plot von grundlegender Bedeutung ist. Denn damit setzt die Parodos unmittelbar ein, in der der Chor in den Augen des Zuschauers zunächst scheinbar völlig unmotiviert einzieht und noch vor seiner autonomen Selbstvorstellung 17 zunächst über 30 Verse hinweg rezitiert, wie damals vor zehn Jahren Menelaos und Agamemnon gegen Priamos mit ihrem Heer auszogen, um einen Rechtsanspruch durchzusetzen, wie die juristischen Termini ¢nt…dikoj (41), stratiîtin ¢rwg»n (47, vgl. 16 Eigentlich ‚zahlungsunfähig’, in aktivischem Sinn zu ¢pot…nein (vgl. H EADLAM / T HOMSON (1966) 15 und F RAENKEL (1962) 45f.). 17 In den Choephoren und Eumeniden erfolgt demgegenüber bereits im Prolog ein expliziter Hinweis seitens einer dramatis persona auf den Chor. <?page no="291"?> Die Parodos - eine lange Geschichte 277 74) und parab©sin (59) anzeigen. 18 Bekannter Hintergrund ist die Rückholung der von Paris geraubten Helena. Die Verlusterfahrung ihres Gatten Menelaos, der von Anfang an in völliger Harmonie mit seinem Bruder Agamemnon handelt, wird in einem Gleichnis evoziert (50-59), das die überbordende und zu einer außergewöhnlichen Aktion führende Klage zweier Geier über die räuberische Entleerung ihres Nestes zum Gegenstand hat. 19 Der Schrei der Klage ( gÒon ÑxubÒan , 57) korrespondiert mit einem solchen der Rache, wobei sich Sach- und Bildebene implizit ergänzen: meg£l' ™k qumoà kl£zontej ”Arh (47), schreien die beiden Atriden, deren o koj -‚Nest’ einen defektiven Zustand aufweist. Dieses vom qumÒj diktierte a f f e k t i v e aktive Handeln, das auf Schmerz Zorn folgen lässt, ist zunächst einmal beschirmt von Zeus Xenios, dessen Aussendung der Erinnye (59, 61; vgl. 748f.) gegen die Nesträuber offenkundig das Gefüge einer gerechten Weltordnung aufrechtzuerhalten verspricht, in der zudem olympische und chthonische Gottheiten zusammen agieren. 20 Kann der Zuschauer in der Perspektive des eingängigen Gleichnisses dem von Zeus unterstützten Rechtsanspruch der beiden Atriden vollauf zustimmen, so wird aus dem Mund des Chores dieses Handlungsprinzip auf menschlicher Ebene sogleich problematisiert: Denn für diese Rückholungsaktion muss das gesamte eigene Heer ausziehen, und dies letztlich doch nur polu£noroj ¢mfˆ gunaikÒj (62), welcher Passus unmittelbar neben ZeÚj im gleichen Vers steht. Dies ist zweifellos eine Problematisierung, der jedoch auch wieder eine Offenheit eignet, da der Chor nicht eindeutig Stellung bezieht. 21 18 Für eine juristische Interpretation der Parodos sh. D AUBE (1939) 97-102. 19 Das Hapax ™kpat…oij (sc. ¥lgesi , 49f.) wird von G OLDHILL mit „off the beaten track“ (69) übersetzt, das heißt, der Schmerz „schlägt aus der gewöhnlichen Bahn“ und bringt so die Geier auf den Kurs der Rache. - Der Vergleich hinkt freilich insofern, als im Gleichnis an ein physisches Umkommen der geraubten Jungen (zudem ja mehrere) zu denken ist (vgl. D ENNISTON / P AGE (1957) 73), was nicht im Sinne von Paris wäre. 20 Bekanntlich ist diese doppelte göttliche Ebene von Bedeutung für den Geschehensablauf der Orestie, vor allem in den Eumeniden, wo die Dissoziation beider Bereiche Konfliktstoff bietet. Sh. unten S.432f. mit Anm.7. Moira, nahezu Synonym für die Erinnyen (zur Verbindung sh. Eum. 335, 392, 723-28 und 962), tritt in der Parodos dann gleich bei der Prophezeiung der unwiderruflichen Zerstörung ganz Trojas auf (130). Für eine Verhältnisbestimmung von Zeus and the Erinyes sh. den so betitelten Beitrag von W INNINGTON -I NGRAM (1983) 155-74; Moira sei „the rigid, the intractable, the violent, the blind, the primitive, aspect of divine operation“ (171). Für das Zurückschlagen der Moira auf den, der als Rächer in eigener Sache handelt, sh. N ICOLAI (1988) 27 und 29. 21 Es bedarf keiner weiteren Analyse des Argumentationsablaufes, wie sie T HIEL (1993) 39-43 vornimmt: Der an Bild- und Sachebene manipulierende Chor wolle sich (! ) „der Berechtigung des Feldzuges trotz des zweifelhaften Kriegszieles ... versichern“ (43). Hier ist die Grenze zu einer psychologisierenden Interpretation schon überschritten, die den Zuschauerbezug außer Acht lässt. - Unter den Versuchen, das Verhältnis zwischen Zeus und der bereits wieder problematischen Racheaktion näher zu bestimmen, ist der von W INNINGTON -I NGRAM (1983) hervorzuheben, der von einem „contingent command“ (85) für die Atriden und einem bloßen „backing“ (86) durch die Götter spricht und es ablehnt, die Atriden hätten „a specific command from Zeus to go against Troy“ (85) bekommen, wie es etwa R EEVES (1959/ 60) 165 annimmt; vgl. D OVER <?page no="292"?> Agamemnon 278 In einer äußerst knappen intertextuellen Reprise der Ilias (63-67) erweitert der Chor den Fokus des Zuschauers auf das über „Danaer“ (66) und Trojaner gleichermaßen gebrachte Kriegsleid seit zehn Jahren, spiegelt also zwei affizierte large off-stage groups auf einmal herein. Dass Zeus es ist, der dies „festgesetzt“ ( q»swn , 66) hat, ist nicht der Versuch einer Theodizee, sondern eine Feststellung, so wie diese ganze ‚epische’ Erzählung zunächst einmal nur einen konstatierenden Charakter hat: Eine Interpretation oder Bewertung dieses Vorganges wird dem Zuschauer n i c h t an die Hand gegeben. Das, was da in der Schwebe bleibt, wird allerdings auf ein sicher eintretendes Telos hin gesehen: œsti d' ÓpV nàn / œsti · tele‹tai d' ™j tÕ peprwmšnon · (67f.). Eine eigene affektive Beunruhigung zeigt der Chor hier zumindest nicht explizit, sondern macht eine gnomenähnliche Feststellung, die als approximative, aus einem kulturell-religiösen Erfahrungsschatz schöpfende Mutmaßung über den weiteren Verlauf der Handlung für den Zuschauer vollkommen akzeptabel ist - „unerbittlichen Zorn“ kann man durch Brand- oder Trankopfer nicht besänftigen: ... Ñrg¦j ¢tene‹j (oÙ) paraqšlxei (71). Über diesen im Detail nicht leicht verständlichen Passus vv.69-71 kann mit einiger Sicherheit doch soviel gesagt werden, dass der Zorn der strafenden Erinnye, in welchem der entsprechende menschliche Affekt wirkt, zu einer Unheilbarkeit der Ereignisse führt. 22 Bezeichnenderweise für die gerade mit dem Chor des Agamemnon verbundene Grundproblematik von Wissen und Nicht-Wissen bricht daraufhin die komprimierte Ilias Aeschylea ab, und der Chor stellt sich dann selbst vor. Sein Greisenalter vergleicht der Chor drastisch mit dem Zustand eines Kindes, der die Nicht-Präsenz einer wirklichen Körperkraft und ein unnatürliches „dreibeiniges“ Gehen beinhaltet (75-81). Die männliche Kernkraft aber, das damals ausgezogene und in der Zwischenzeit vor Troja aufgeriebene Heer, fehlt: ”Arhj d' oÙk œni cèrv . 23 Wenn zwar insofern der Auftritt (1973): „Again, reference to Zeus Xenios in no way implies that Zeus must necessarily have approved every act performed in furtherance of the expedition.“ (65). Anders B OLLACK (1981), der für Agamemnon einen Erfüllungszwang der Gerechtigkeit des Zeus gegeben sieht, verstärkt noch durch einen „impératif social“ (278) der aristokratisch-heroischen Kultur. Die Schwierigkeiten der Forschung, zu denen sich die Theorie der ‚doppelten Motivation’ bei Aischylos gesellt (vgl. auch den Definitionsversuch zu Dike von B OLLACK (1981) 60), sind das Ergebnis einer ganz bewussten Offenheit dessen, was der Chor zum Zuschauer spricht. 22 Für eine Bezugnahme des Ausdrucks ¢pÚrwn ƒerîn in v.70 auf Moira und die Erinnyen sh. das Scholion S MITH 5,70: tîn qusiîn tîn Moirîn kaˆ tîn 'ErinÚwn, § kaˆ nhf£lia kale‹tai (vgl. Schol. S MITH 101,70b); vgl. Eum. 107 nhf£lia meil…gmata . Konkret auf den Krieg als Dienst an den Erinnyen bezogen B OLLACK (1981): Die ¥pura ƒer£ seien die „guirrers qui tombent sous les coups des assailants“ (82). - Zur Unmöglichkeit einer Besänftigung der Erinnyen vgl. etwa Eum. 384 duspar»goroi broto‹j . Ag. 1167-71 beklagt Kassandra die Wirkungslosigkeit der von Priamos veranstalteten Opfer, die das paqe‹n ganz Trojas nicht heilen ( ¥koj , 1169) haben können. 23 Für dieses Verständnis von v.79 ”Arhj d' oÙk œni cèrv sh. F ÖLLINGER (2003) 122 gegenüber der Auffassung, hier eine zusätzliche Selbstaussage der Alten über das Fehlen ihrer eigenen Kampfkraft zu sehen (sh. die Auflistung der Erklärungsversuche bei <?page no="293"?> Die Parodos - eine lange Geschichte 279 des Greisenchores dem eines förmlich entsubstanzialisierten Gespenstes (82) gleicht, so fehlt dem Chor gleichwohl nicht d a s charakteristische zentrale Merkmal, das einem jeden Chor zu eigen ist: Der Affekt, der nunmehr innerhalb der Selbstvorstellung eine wichtige Rolle spielt. Denn lässt schon die detaillierte, metaphernreiche Deskription des eigenen schwachen Körpers eine sympathetische Annäherung des Zuschauers zu, so ermöglicht der Chor eine noch viel stärkere emotionale Involvierung durch die Evozierung seiner Anteil nehmenden Sorge. Darauf als Klimax steuert der anapästische Teil der Parodos zu: Das „junge Mark“ ( nearÕj muelÒj ) ist zwar „greisenähnlich“, regt sich aber doch noch in der Brust (76-78), und zwar wegen des Fehlens des Heeres. 24 Ohne tatsächliche physische Teilnahme am Krieg wird durch den Affekt des Chores eine innere Anteilnahme an den topographisch so weitab spielenden Vorgängen expliziert. Nachdem durch diese Affektdarstellung des Chores eine Rezeptionsvorgabe für den Zuschauer durchgeführt worden ist, wird in einer relativ unerwarteten, das Tempo des performativen Ablaufes erhöhenden Wendung in das hic et nunc der Situation zurückgelenkt, nachdem sich bislang die ‚epische’ Erzählung narrativ in einem eigenen, weit geöffneten Zeitfenster bewegt hatte. Diese Wendung besteht in einer Apostrophe an die „Königin Klytaimestra“ (84) aufgrund einer offensichtlich neuen, überraschenden Sachlage in der Polis, die bestimmt ist vom visuell wahrnehmbaren Faktum umfassender Opferhandlungen in der ganzen Polis. Wenn nun der Zuschauer aus seinem durch den Prolog aufgebauten Vorwissen über die Ein- F RAENKEL (1962) 48-50). Gerade auch das Wort cèra ist bei dieser Interpretation zutreffend (M URRAY verweist im Apparat auf Aristoph.Lys. 524 oÜk ™stin ¢n¾r ™n tÍ cèrv ). Das in den Anapästen vorgenommene wohl mehrmalige Herumgehen des auf Stöcke gestützten Chores in der Orchestra dürfte in einer ganz eigenen Weise den Auszug des Heeres konterkarieren. - Man könnte sogar sagen, dass die Durchführung der freudigen corîn kat£stasij (23) schon aus rein pragmatischen Gründen, aufgrund des Fehlens junger Choreuten in Argos, gar nicht möglich ist. 24 Statt des handschriftlichen ¢n£sswn akzeptieren wir hier mit der Mehrzahl der Kommentatoren H ERMANN s Konjektur ¢n®sswn (so auch P AGE , anders W EST ; vgl. die Diskussion bei F RAENKEL (1962) 47f.); dasselbe Problem ergibt sich Pers. 96. Allerdings verstehen wir, anders als F RAENKEL , ¢n®sswn nicht als attributives Partizip und als bloße Deskription des muelÒj zusätzlich zu nearÒj und „sÒpresbuj , womit der defektive Zustand nochmals zusätzlich betont würde (die vv.72-75 und 79-82 explizieren den Sachverhalt bereits ausführlich, wobei im Übrigen jeweils vier Verse den in Frage stehenden Passus 76-78 umrahmen), sondern prädikativ-konzessiv: O b w o h l sich „das jugendfrische Mark“ (ein zusammengehöriger, deskriptiver Ausdruck) zwar in der Brust regt ( ¢n®sswn ), ist es nach wahrscheinlicher Einschätzung des Chores „g l e i c h einem Greis“ (aber nicht selbst von vornherein notwendig alt und vergreist, deshalb ja der Vergleich); und das ist der Grund für das Wartenmüssen respektive Zurückbleiben - „die Kampfkraft (des Heeres) ist nicht im Lande“ wird dann parenthesenartig eingeworfen (das dš ist fortführend); dann folgt nochmals die physische Schwäche. Diese Interpretation lässt sich wesentlich stützen durch die Wiederaufnahme des Gedankens durch sÚmfutoj a„èn in v.106, wo die Doppelbedeutung von a„èn , das eben neben ‚Alter’ auch ‚Rückenmark’ bedeuten kann, zu berücksichtigen ist (sh. unsere weitere Interpretation unten S.286f.). <?page no="294"?> Agamemnon 280 nahme Trojas heraus die Fragen des Chores: t… cršoj; t… nšon (85) an Klytaimestra eigentlich schon selbst beantworten kann, so war es gewiss nicht das Ziel von Aischylos, hier einen ‚dummen’ Chor auf der Bühne zu präsentieren. Sondern die vom Zuschauer gerade aufgrund seines Wissensvorsprunges erkennbare Differenz zwischen dem Chor und der dramatis persona Klytaimestra ermöglicht ihm ein nun wesentlich vertieftes Verständnis der bereits explizierten Störung im Ordnungsgefüge dieser Polis: Die Anfrage des Chores, der wohl eine exponierte Stellung in der Polis als ein dem Agamemnon loyales Beratergremium hat (dem er sich zudem auf der Ebene der fil…a verbunden zeigt), 25 wird n i c h t beantwortet; Klytaimestra kommt n i c h t aus dem ominösen Haus heraus, um über die neue Lage zu informieren. 26 Das eigenständige, vorderhand nicht zu erklärende Agieren der Frau, die als Herrscherin den König ersetzt, im Hintergrund - ohnehin ein stark handlungstragendes Moment im weiten Vorfeld der Mordtat - hat jedoch in dem anfangs als unmotiviert erscheinenden, autonomen Auftritt des Chores sein Komplement gefunden. Obwohl nun im Nachhinein die Motivation für das Erscheinen dieses also schlichtweg neugierigen Chores klar wird, ist doch die narratio vom trojanischen Krieg und die Explikation des eigenen Affektes ein autonomes Moment, das zudem in rezeptionsästhetischer Perspektive unabdingbare Verstehensvoraussetzungen bietet. Darüber hinaus offenbart sich in den Fragen und Feststellungen des Chores, die nun als Reaktionen auf den eigenen Affekt aufzufassen sind, das Bedürfnis nach einer Beseitigung der empfundenen Störung: Die ausführliche Beschreibung der Brandopfer (89-96) für sämtliche Gottheiten der Polis - genannt werden qeoˆ ¢stÚnomoi, Ûpatoi, cqÒnioi, qura‹oi und ¢gora‹oi - zeigt deutlich die Fixierung dieses Chores auf das religiöse Ordnungsgefüge der Polis. Und noch ein Punkt fällt ins Auge: Die detaillierte, pyrotechnische Darstellung der Opferhandlungen, insbesondere die Nährung der Flamme 25 Der Chor wird von Klytaimestra als pršsboj 'Arge…wn angesprochen (855, 1393); er ist es, der Agamemnon als erster begrüßt und der sich von ‚falschen’ Elementen im Volk absetzt, um die Position des heimgekehrten Königs zu stützen (449, 456-60, 788-98, 806- 09); vor ihm muss sich Klytaimestra nach dem Mord wie vor Gericht verantworten, wobei sie dem Chor vorwirft, er hätte doch Agamemnon wegen der Opferung Iphigenies aus dem Land treiben müssen, was ein entsprechendes Potential voraussetzt; und schließlich muss Aigisthos den Chor zur Botmäßigkeit zwingen. Zur fil…a vgl. 805, 1452, 1491=1515; zum Chor als einer boul» vgl. D AUBE (1938) 45-64, P ODLECKI (1972) 195f., B LASINA (2003) 176 Anm.52. Die Loyalität gegenüber Agamemnon schließt offene Kritik wie vv.799-804 nicht aus. 26 Der Zeitpunkt des Auftrittes von Klytaimestra sollte mit T APLIN (1977) 280-85 erst mit v.258 angesetzt werden (vgl. K ÄPPEL (1998) 49). Zweifellos hätte ein ‚stummer’ Auftritt und eine entsprechende konstante Präsenz Klytaimestras während der weiteren Parodos den Effekt, dass diese Figur im Zuge der Reflexionen des Chores bedrohlich wirkte. Doch ein ‚monologisches’ Singen des Chores, gewissermaßen heimlich und inoffiziell (vgl. das I. Stasimon der Perser), übertrifft dies noch und steht in Einklang mit der weiteren Praxis in diesem Stück, den Chor autonom reflektieren zu lassen. <?page no="295"?> Die Parodos - eine lange Geschichte 281 direkt aus dem Königspalast heraus. Dabei wird eine medizinisch-metaphorische Ausdrucksweise verwendet: ¥llh d' ¥lloqen oÙranom»khj lamp¦j ¢n…scei farmassomšnh cr…matoj ¡gnoà malaka‹j ¢dÒloisi pparhgor…aij, pelanù mucÒqen basile…J . (92-96) Die hier eingenommene Perspektive auf die Opferflamme, die durch Klytaimestra in einer bestimmten Weise bearbeitet, also angefeuert, ja „bezaubert“ ( farmassomšnh ) wird, korreliert engstens mit dem Wunsch des Chores nach einem glücklichen Ende des Feldzuges, impliziert aber seitens der dramatis persona Klytaimestra ein völlig anderes, folgenschweres Handlungsmotiv. Vom Chor aus gesehen könnte es sich um Dankesopfer für die endlich erfolgte Einnahme Trojas handeln, auf die die baldige Rückkehr der beiden Könige folgte (zusammen mit Helena) - womit auch die legitime Herrschaft zurückkehrte. Der Zuschauer weiß demgegenüber schon s i c h e r von der Eroberung Trojas, hat aber aus den Worten des Wächters auch schon ein Unbehagen wegen Klytaimestra und des Atriden-Hauses gespürt. Für ihn werden dann im Hin- und Herschwanken des Chores zwischen Sorge und Hoffnung verschiedene soziale Relationen klar: Jeweils zwischen dem Chor, der large off-stage group - differenziert in das damals für Helena geopferte Heer und die jetzt auf Anweisung Klytaimestras opfernde Polis -, der dramatis persona im Haus des Atridengenos, und schließlich der Götterwelt. Auffallend hierbei ist, dass der Chor sogar gegenüber der doch eher anonym bleibenden Polisgemeinschaft eine gewisse Eigenständigkeit hat. Klytaimestra könnte, so der Chor weiter, durch eine positive Informationsvergabe ( lšxasa ) zu einer „Heilerin“ ( paièn ) der Sorgen des Chores werden und dessen ™lp…j erfüllen: toÚtwn l lšxas' Óti kaˆ dunatÕn kaˆ qšmij, a‡nei ppaièn te genoà tÁsde mmer…mnhj, ¿ nàn tot m n kakÒfrwn telšqei, tot d' ™k qusiîn §j ¢nafa…neij ™lpˆj ¢mÚnei ffront…d' ¥plhston kaˆ qumobÒron frenˆ llÚphn. (97-103) Was das rein Sachliche betrifft, so wird die Opferflamme von Klytaimestra als glückverheißendes Zeichen durch den „milden und reinen Zuspruch ( parhgor…a ) des heiligen Öls“ in den Götterhimmel emporgeführt ( oÙranom»khj , 92). Wenn nun aber der Chor eine aktive Rolle Klytaimestras bei der kontinuierlichen Hege der pflegebedürftigen Flamme anerkennt, so ist auch die präsumptive Bezeichnung der Königin als paièn der Sorge des Chores kein Zufall: Denn vermittels der Durchführung einer positiv wirksamen Sprachhandlung gegenüber dem Chor könnte Klytaimestra „aus ihren Opfern heraus“ ( ™k qusiîn ) gewissermaßen die parhgor…a , die der Flamme als fomentum förderlich ist, auch als Zu-Sprechen im tatsächlichen <?page no="296"?> Agamemnon 282 Sinne auf den Chor überspringen lassen und dessen Sorge beenden. 27 Dann aber ergäbe sich eine harmonische Geschlossenheit von menschlichem Handeln (der siegreichen Atriden und Klytaimestras) und göttlichem Willen (der die Mission gegen Troja zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht haben würde). Und diese Harmonie liegt offensichtlich stark im Interesse des Chores - er hofft inständig auf einen Kausalzusammenhang zwischen Klytaimestras Opfern und dem glücklichen Ausgang der Strafaktion. Dieses Verhaltensmodell des Chores, geboren aus seinem Affekt der ungewissen Sorge heraus, gibt jedem Zuschauer adäquate Verstehensparameter an die Hand. Dabei aber mag den Zuschauer, der sich angesichts der Flammen- und Lichtmetaphorik an den Prolog erinnert, jetzt ein Unbehagen darüber beschleichen, dass Klytaimestra auf eine weitere Konsequenz der vom Chor ja auch schon angedeuteten tragischen Verwicklung (verlustreicher Krieg einer Frau wegen) hinarbeitet: Die Eroberung Trojas und die wohlbehaltene Rückkehr Agamemnons ist für Klytaimestra die Voraussetzung für die Ermordung von Gemahl und König, womit die - dem Chor derzeit noch unerklärlichen und aus dem hinteren Winkel des ominösen Hauses heraus ( mucÒqen , 96) dirigierten - Dankesopfer letztlich eine andere, gewissermaßen subjektive Motivierung aufseiten der dramatis persona Klytaimestra haben, die sich des Wohlwollens der Götter versichern möchte. 28 Der subjektive Wunsch Klytaimestras nach einer ‚Heilung’ für sich selbst a ll e i n äußert sich ganz am Schluss der Tragödie in der Formel mÒcqwn ¥koj (1659) - vokabularisch so ähnlich, aber sachlich so verschieden zu der ¢pallag¾ pÒnwn (1, 20), die der Wächter gegen seinen physischen und der Greisenchor gegen seinen psychischen Schmerz ersehnt. Explizit ausgesprochen wird hier nicht viel - aber aus dem Fragegestus des Chores und der von ihm durchgeführten Sprachhandlung heraus, die das Opferritual in der Wahrnehmung des Zuschauer sozusagen erst entstehen lässt und mit den entsprechenden m ö g li c h e n Implikationen durchtränkt, werden die Möglichkeiten einer - metaphorisch so ausgedrückten - ‚Heilung’ der Schieflage andiskutiert. Doch es bleibt alles in der Schwebe, womit die besondere Qualität dieser Tragödie von Anfang an zumal beim Chor zutage tritt. Explizit und eindringlich gestaltet aber werden in dieser Auskunft fordernden Anrede an Klytaimestra die widerstrebenden Affekte des Chores: 27 Für diesen Zusammenhang vgl. L EBECK (1971) 20f. - tÕ parhgorikÒn meint später in medizinischem Kontext ein verabreichtes Linderungsmittel, so markant Hipp. de diaeta in morbis acutis 15,6 und 17,2f. (Hustenmittel) und 18,26f. (Kurativ gegen Schmerzen in Lunge, Brust und Rücken). 28 Vgl. ihre Anrufung von Zeus tšleioj (973f.) und die Berufung auf Dike (1431-33). Dass die öffentlichen Opfer in der Stadt der hinterlistigen Hinschlachtung des nichts ahnenden Agamemnon ( ›sthken ½dh mÁla prÕj sfag¦j p£roj , 1057) im Inneren des Königspalastes präludieren, zeigt im Rückblick ja fast jedes einzelne Wort in v.95f. (bemerkenswert ¢-dÒloisi ). Von hier aus gesehen ist das zusprechend-nährende Behandeln und Bezaubern der Opferflamme somit als persuasives Moment zum einen in Richtung auf die in ihrer Gerechtigkeit angeflehten Götter und zum anderen auf das zu täuschende Mordopfer hin zu deuten. <?page no="297"?> Die Parodos - eine lange Geschichte 283 Der „übelsinnenden Sorge“ ( mer…mnhj ... kakÒfrwn ) gegenüber steht die ™lp…j . Da für den textlich verderbten, die Anapäste beschließenden v.103 verschiedenste Konjekturen vorgeschlagen wurden 29 und dieser Vers wegen seines Inhaltes, der die für die gesamte Parodos zentralen Affekte des Chores psychosomatisch verortet, auch von grundlegender Wichtigkeit für die Einordnung zentraler Begriffe bei Aischylos ist, sei hier versucht, von Kontext, Semantik und Motivik ausgehend den von W EST unseres Erachtens richtig gedruckten Text zu rechtfertigen - zumal der Vers bislang zumeist isoliert und kaum im Zusammenhang mit den vorangehenden Versen ab v.98b betrachtet worden ist. Zunächst einmal sollte man sich klar sein, dass mšrimna durch den Appell an Klytaimestra, zu einem paièn zu werden, negativ bestimmt ist, was ja auch kakÒfrwn ( ‚übelgesinnt’ und ‚nach außen feindlich sich äußernd’) 30 ausdrückt. In v.101f. ist dann als neues Subjekt ™lp…j zu denken, so dass sich ein Sinneinschnitt nach v.100 und eine stärkere Interpunktion anbietet. Wichtig ist nun, dass das Akkusativ-Objekt zu ™lp…j , nämlich front…d' ¥plhston , als nahezu synonym zu mšrimna angesehen werden kann: Beides, mšrimna und front…j , bezeichnet die „Sorge als eine schmerzhafte Affekzion des Gemütes“, das „Sinnen und Denken über eine Sache deren Zustandekommen oder Gedeihen für uns irgendein Interesse hat“ 31 , hier also das Gelingen des Feldzuges und die Rückkehr der Atriden mit Helena. Die übelgesinnte Sorge wird offenbar als etwas von außen Kommendes, Bedrohliches empfunden, das von der ™lp…j abgewehrt werden kann ( ¢mÚnei ). Letztere kann aber auch nur von außen kommen: ™k qusiîn §j ¢nafa…neij . Mit diesem Rückbezug auf die in ganz bestimmten Worten beschriebenen Opferflammen ergibt sich überdies auch für die Junktur front…d' ¥plhston ein Anhaltspunkt: Die ‚hoffnungsvollen’ Flammen werden genährt, da die Genesung der Polis durch die Rückkehr von Heer und König nahe scheint - dem gegenüber steht die „nicht zu füllende“, endlose Sorge als Ausdruck der Leere und Angst. Was läßt sich hieraus für v.103 sagen? fršna , in MVF ( t) überliefert, ist Hauptgegenstand der Konjekturalkritik. Sieht man von dem kaum haltbaren Vorschlag von B OLLACK ab, darin „une force active“ 32 zu sehen, so besteht stillschweigend darüber Einigkeit, die fr»n als das von der Sorge affizierte Körperorgan zu sehen - so auch in der akzeptablen Lösung von P AUW (von W EST gedruckt), einen lokativen Dativ fren… einzusetzen. Darum gruppiert sich kaˆ qumobÒron ... lÚphn , also parallel zu front…da : „ ... bald aber wehrt Hoffnung ab die unersättliche Sorge und den mutverzehrenden Schmerz im Zwerchfell.“ qumobÒron, in S RF überliefert, statt qumofqÒron in MV kann dabei vor allem wegen des geforderten Metrums als gesichert gelten. In der Tat deckt fr»n immer auch den qumÒj ab 33 , der also hier in einem größeren Rahmen, im gesamten Denken ( fr»n ) nämlich, lokalisiert wird und auffallenderweise das eigentlich affizierte Objekt darstellt, das von der lÚph „aufgezehrt“ wird. Erinnert man sich an Pers. 10f., wo der qumÒj Objekt einer Verwirrung ( Ñrsolope‹tai qumÕj œswqen ) aufgrund äußerer Ereignisse ist, so ergibt sich ein sehr ähnlich gearteter Fall auch hier: Die lÚph und mit ihr die front…j werden als von außen eindringende Affekte emp- 29 Einen instruktiven Überblick über die Möglichkeiten bietet B OLLACK (1981) 106-08. 30 So S CHMIDT (1886) IV 414, der es mit kakÒqumoj gleichsetzt. 31 S CHMIDT (1878) II 628. 32 B OLLACK (1981) 108. 33 Vgl. S CHMIDT (1879) III 628. <?page no="298"?> Agamemnon 284 funden, die abgewehrt werden können, als solche aber auch von äußeren Ereignissen und Handlungen herrühren, wie sie aus dem Bereich der handelnden dramatis personae hervorgehen: Die lÚph ist - kaum anderes empfindet der Chor der Perser - von der momentanen Leere der Stadt verursacht und „zehrt“ am qumÒj der zurückgebliebenen Greise von Argos. Als eigentliches Movens steht dahinter die von Paris verletzte Rechtsordnung, die einer Wiederherstellung harrt: Gerade diese scheint in den von Klytaimestra genährten Opferflammen auf. Der Dativ fren… kann nun freilich auch das ‚verteidigte’ Objekt zu ¢mÚnei abgeben: „ ... bald aber wehrt Hoffnung ab die unersättliche Sorge und den herzverzehrenden Schmerz d e m / v o m Zwerchfell.“ Denn auch so bleibt die fr»n das übergeordnete, durchaus physisch gesehene Körperorgan, innerhalb dessen der qumÒj affiziert wird. Ob man dann statt des überlieferten t»n , das den v.103 zu einer Apposition von front…j macht, ka… schreibt und somit front…j und lÚph parallelisiert, hat kein großes Gewicht mehr; ersteres wäre von der Überlieferung abgedeckt und würde durch Unterordnung lÚph stärker an front…j und somit auch an mšrimna anbinden, womit die Sorge das bestimmende Moment wäre; doch stört bei einer solchen Apposition der Artikel. Die Anfrage des Chores bleibt unbeantwortet; Klytaimestra erscheint nicht vor v.258, wo die Frage des Chores wegen der neuen Situation wiederaufgenommen wird - der qumÒj des Chores wird folglich weiter abgezehrt. Dies wird zum Antrieb für die ausführlichen Reflexionen der lyrischen Parodos, in der es in vertiefter Form um Voraussetzungen und Folgen der Umsetzung von Zeus’ Gerechtigkeit geht. Auch rückwirkend kann der qumÒj , dessen Affizierung jetzt am Ende und Höhepunkt der anapästischen Sektion der Parodos zum Vorschein gekommen ist, bereits als affektives Movens für diesen ersten Teil der Parodos gesehen werden, so wie die Motivation für den Auftritt des Chores nachgereicht wird - insofern ist durch Klytaimestras Opferhandlungen die Hoffnung aufgeflammt, dass der qumÒj positiv ‚behandelt’ wird: Aus der Retrospektive ergibt sich so für den Zuschauer der Eindruck einer nicht plötzlichen, sondern schon viel länger, vielleicht schon seit über zehn Jahren andauernden Beunruhigung, die jetzt aktuell zu einem Ausbruch kommt, welcher sich als Sprechakt über die Vorgeschichte manifestiert - das Vorhandensein dieser Vorgeschichte geht Hand in Hand mit dem affektiven Aussprechen durch den Greisenchor. Der Umstand, dass sich Klytaimestra de facto einer entsprechenden Beruhigung ‚verschließt’ (im Haus), also n i c h t zum paièn wird, reißt gewissermaßen die Wunden dieses steinalten Chores weiter auf und gibt im Plot Raum für eine weitere Entfaltung der Vorgeschichte, die sich im Spannungsfeld von Affekt und Reflexion über eine ‚Heilung’ oder aber Verschärfung der bereits existenten Krise abspielt. Die Evokation der widerstreitenden Affekte Sorge und Hoffnung erfolgt gerade an der Schnittstelle zwischen Anapästen und lyrischen Versen, als der Chor zum Stillstand vor dem Palast kommt. 34 34 Zur Bedeutung der Bewegung sh. K ÄPPEL (1998) 53. <?page no="299"?> Die Parodos - eine lange Geschichte 285 3.2 Optimistisches Ideal und ambivalente Realität: Von Aulis zu Zeus und zurück 3.2.1 Die Stärke des Greisenchores: Ein ‚Drama im Drama’ Nachdem sich Klytaimestra einer Kommunikation mit dem Chor verschlossen hat, verlegt sich der Chor wieder ganz auf den Kontakt mit dem Publikum. Der Wartezwang vor dem Palast ist nur eine sehr äußerliche Motivation für den nun l y r i s c h e n G e s a n g des Chores, der eine relativ kurze Ereigniskette aus der Vergangenheit beinhaltet, die zuvor in die Verse 46-48 ( stÒlon ... Ãran ) komprimiert war: Die durch Artemis verzögerte Ausfahrt des Griechenheeres gen Troja und die Opferung Iphigenies durch Agamemnon, die Hauptursache für Klytaimestras Mordplan. Drei zentrale Merkmale zeichnen diese summarisch als ‚Erzählung’ zu markierenden etwa 150 Verse aus: Erstens werden sie eingeleitet durch einen sehr starken Autoritätsanspruch des Chores, wie er wohl kein zweites Mal in der Griechischen Tragödie zu finden ist. Zweitens - was in der Forschung zu wenig beachtet wurde - gestaltet sich ein großer Teil als ‚Drama im Drama’, womit von der bloßen Erzählung übergegangen wird zu einer internen zusätzlichen performance, die wie ein Relief dieser Parodos Kontur verleiht. Und drittens steht inmitten dieses umfassenden Berichtes der ebenso berühmte wie in seiner Deutung umstrittene sogenannte Zeus-Hymnos. Bis jetzt ist der Chor in seiner ganzen Schwäche gezeigt worden: Seine physische Kraft ist auf das absolute Minimum eines kindähnlichen Greises reduziert; seine Kommunikation mit Klytaimestra und damit der Wunsch nach einer ‚Heilung’ sind gescheitert; das hilflose Hin- und Herschwanken zwischen den Affekten Hoffnung und Sorge (die überwiegt) ist der teleologische Tiefpunkt am Ende der anapästischen Parodos. Demgegenüber war der Bericht über das Kriegsgeschehen vor Troja, mit dem der Chor einfach so, scheinbar ohne Motivation einmarschiert war, ein auffallendes, von der Eigenständigkeit dieses Chores zeugendes Merkmal - hierin scheint eine ‚Stärke’ dieser Greise zu liegen, und gerade darauf zieht sich der Chor für das Folgende wieder zurück. Diese Metamorphose aus einer förmlich körperlosen, nur noch aus Affekten bestehenden Substanz in ein Reflexionsmedium, das seine eigene Autorität und Befugnis im Singen selbstbewusst betont, ist rezeptionsästhetisch von höchster Relevanz: kÚriÒj e„mi qroe‹n Ódion kr£toj a‡sion ¢ndrîn ™ktelšwn - œti g¦r qeÒqen katapneÚei Peiqè, molp©n ¢lk£n, xÚmfutoj a„èn - Ópwj 'Acaiîn d…qronon kr£toj ktl. (104-09) Die negative und positive Kraft der Peitho spielt für den Geschehensablauf der Orestie eine wichtige Rolle: Von ihr lassen sich die Figuren beeinflussen, was überwiegend zu einer weiteren Verschärfung des gesamten Konfliktes führt; erst am Ende siegt Athenes auf Wahrhaftigkeit hin angelegte Peitho <?page no="300"?> Agamemnon 286 bei den Erinnyen. 35 In v.106 handelt es sich allerdings um eine singuläre Erscheinung: Peitho ist hier kein implizites Wirkungsprinzip innerhalb des Plots zwischen zwei Kommunikationspartnern - so wie sich zum Beispiel Klytaimestra und Athene der Peitho im argumentativen Gespräch mit Agamemnon und den Erinnyen bedienen, um ein Ziel durchzusetzen und somit konsequent die Handlung fortzutreiben -, sondern der Chor ist es, der hier a ll e i n z u m Z u s c h a u e r singt und die Peitho als göttliches Inspirationsmedium evoziert. 36 Und dies erfolgt in explizitem Bezug auf sich selbst als corÒj der song-and-dance culture. Um so bemerkenswerter ist die Berufung auf Peitho hier so kurz nach v.85f., wo der Chor gegenüber Klytaimestra skeptisch war hinsichtlich des Wahrheitswertes der neuen Situation: t…noj ¢ggel…aj / peiqo‹ per…pempta quoske‹j; War zwanzig Verse zuvor dem Zuschauer das problematische Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Klytaimestra bewusst geworden, das aus der chorischen Fokalisation heraus von Unwissen, Unaufrichtigkeit und Unheimlichkeit geprägt ist, so führt der Chor bei seinem für den Zuschauer gesungenen, auftaktartigen Autoritätsanspruch die von der höchsten Instanz, nämlich „von Gott“ ( qeÒqen ), herrührende und folglich auf Wahrheit gegründete Peitho an. Sein zusätzlicher deutlicher Bezug auf sich selbst als singenden Theaterchor - die Junktur molp©n ¢lk£n erläutert den Akkusativ Peitho näher - enthebt den Chor nicht seiner spezifischen Rolle im Agamemnon als uralte Greise, sondern ergänzt diese: Es ist für den Rezipienten durch und durch wahrscheinlich, dass gerade d i e s e r Chor über die nun gesanglich berichtete Vorgeschichte bestens Bescheid weiß. Zusätzlich autorisiert den Chor sein sÚmfutoj a„èn , das „(mit ihm) mitgewachsene Alter“ 37 - aber eben auch, so die zweite Bedeu- 35 Zu Peitho im Genos Tragödie sh. die Monographie von B UXTON (1982); ausgehend von Ag. 385f. G EISSER (2002) 268-71. 36 F RAENKEL (1962) bezieht bei der Bestimmung von peiqè in v.106 stets einen „hearer“ (64) mit ein; K ÄPPEL (1999) sieht „im chorischen Selbstbezug eine direkte Beziehung zum Zuschauer“ hergestellt und bezeichnet dies - im Fortsetzung der Theorie von P FISTER (2001) 112-21, bes. 114f. über ‚Episierung’ und ‚Exposition’ - als ein „Episierungssignal“ (74). Überinterpretiert ist die selbstreferentielle Deutung von B OLLACK (1981), wonach der Chor durch seine kritische Haltung innerhalb der Polis isoliert sei und folglich eine „autopersuasion“ (132) durchführen müsse. Obwohl bei der Beschreibung der Opfer eine Sonderstellung des Chores auffällt und er sich später von den Agamemnon gegenüber kritischen Elementen im Volk distanziert (449-60, 788- 809), dürfte doch im Gesamtkontext der Tragödie der eigentliche Spalt zwischen dem Chor als ‚Boden’ der Polisgemeinschaft und Klytaimestra (und Aigisthos) liegen, wie die von gegenseitiger Aggressivität geprägte Schlusspartie zeigt. Das Spannungsverhältnis zur momentanen Herrschaft war auch schon im Prolog angeklungen. 37 So die Auffassung von W EST , wonach sÚmfutoj a„èn als Subjekt zu nehmen ist (er druckt allerdings peiqè und nicht Peiqè ); das überlieferte molp©n ¢lk£n kann so unangetastet bleiben. Anders D ENNISTON / P AGE (1957), die folgenden Vorschlag machen: ... peiqè (Subjekt) , molp´ d' ¢lk©n sÚmfutoj a„èn , womit sÚmfutoj den Dativ regiert. Für den parabatischen Charakter dieser Verse jedoch hat die Auffassung der peiqè als einer durch das Alter und von der Gottheit dem Chor dargebrachten ‚Gabe’, die ihre Wirkung auf den Zuschauer ausüben soll, mehr für sich. Vgl. Eur.Her. 678f.: <?page no="301"?> Die Parodos - eine lange Geschichte 287 tung von a„èn , 38 wieder das „Rückenmark“ als Sitz der noch vorhandenen Lebenskraft, die sich in einer affektiven Anteilnahme an den Vorgängen rund um die Atriden und in einer entsprechenden gesanglichen Äußerung manifestiert: Der a„èn - Alter u n d Affekt - garantiert die Inspiration durch w a h r h a f ti g e göttliche Peitho und die Kraft des Gesanges, welche die fehlende physische „scÚj (74) ersetzt. Essentielles Wesen und akzidentielle Rolle dieses Chores sind hier simultan präsent. Die Vorgeschichte wird dem Zuschauer aber nicht einfach rein narrativ berichtet, sondern in einer ganz eigenen Art und Weise als Drama im Drama vorgeführt. Die performance des Chores ermöglicht alleine durch den lÒgoj eine affektiv wirkende Imagination für den Zuschauer, in gorgianischer Terminologie ein ¢krÒama kaˆ qšama . Denn diese ganze lyrische Parodos beinhaltet neben einem kommentierenden und bewertenden Erzählen des Chores zwei wörtliche Reden von Kalchas (126-37; 140-55) und eine von Agamemnon (206-17), die alle drei vom Chor zitiert, das heißt re-zitiert und vorgetragen werden. Damit aber erscheinen auf der Bühne, die sich nun zur Szenerie von Aulis verwandelt, gewissermaßen zwei dramatis personae, die vom Chor ‚gespielt’ werden - dass jeweils ein Choreut diese wörtlichen Reden vorsang, ist weder zu beweisen noch zu widerlegen, liegt aber doch im Bereich des Möglichen. Den ‚Auftritten’ der beiden imaginierten Figuren, die sich wie in der Urform des Dramas in der Ablieferung einer monolithisch dastehenden ‚Rhesis’ (freilich lyrischer Art) manifestieren, steht in typischer Weise ein kommentierender, reflektierender und dabei emotional affizierter Chor gegenüber. Dem dreifach wiederholten ritualartigen Formelvers: a‡linon a‡linon e„pš, tÕ d' eâ nik£tw (121; 138; 159) als jeweiliger Reaktion auf die beiden Reden von Kalchas und zuvor auf den eigenen Bericht des Chores folgt der Zeus-Hymnos, der auch in einer normalen Tragödie als Stasimon auf eine epeisodische Szene folgen könnte; der Entscheidungsrhesis Agamemnons, die zum Entschluss der Opferung Iphigenies führt, folgt eine scharf verurteilende Strophe (218-27) des Chores. Gewiss - auch der bloße, narrative Bericht durch den Chor ist in dieser lyrischen Parodos breit entwickelt (Adler-Omen 109-20; Wartezeit in Aulis aufgrund des Zorns der Artemis 184-204; Opferung Iphigenies 228-47). Doch ermöglicht die spezifische Gestaltung im Verbund mit wörtlicher Figurenrede und chorischer Reaktion ein wirklich ‚dramatisches’ In-Szene-Setzen: Dem in Echtzeit minutiös geschilderten Omen am Anfang und der Opferung am Ende steht die wochenlange ( palimm»kh crÒnon , 196) unerträgliche Stagnation œti toi gšrwn ¢oidÕj kelade‹ mnamosÚnan , wozu F RAENKEL (1962) unter Annahme einer direkten Abhängigkeit dieser Verse von Ag. 106f. „ … the thought in both passages is substantially the same.“ Ein Vergleich der beiden Greisenchöre im Agamemnon und im Herakles, wo die Motive ‚Alter’ und ‚Gesang’ intensiv diskutiert werden, wäre eine eigene Untersuchung wert. 38 Darauf weist einzig S METHURST (1972) 92 hin; die poetologische Interpretation ( kr£toj meine auch die Sangeskraft und Ódion den „path ... of the trilogy“ (ebd.)) dürfte allerdings zu weit gehen. <?page no="302"?> Agamemnon 288 gegenüber. Auf welche Weise sich nun im Verlauf der lyrischen Parodos die Vorgeschichte offenbart, soll im Folgenden im Kontinuum der performance dieses ‚Dramas im Drama’ nachvollzogen werden. 3.2.2 Das Adler-Omen und Kalchas: Ein Chor verzichtet auf Reflexion Mit dem Autoritätsanspruch des Chores wird zugleich der Inhalt seines Gesanges angegeben: Wahr und insofern die eigene ™lp…j (103) nährend ist ein Adler-Omen damals vor zehn Jahren bei der Ausfahrt in Aulis 39 , dessen Deutung durch Kalchas zunächst einmal ein Gelingen des Feldzuges absichert. Der im Omen zu sehende „glückverheißende Befehl bei der Ausfahrt“ (104) für Agamemnon und Menelaos impliziert zugleich „the power possessed by the omen and the power with which the omen endows those who receive it.“ 40 Zunächst also ist diese Wahrheit der positiv beginnenden Vorgeschichte für den Chor ein verlässlicher Haltepunkt gegenüber der von Klytaimestras Verhalten nicht beseitigten, sondern sogar noch verschärften labilen Gegenwartssituation, von der der Chor mit Ópwj ... (109) nun weit abrücken möchte. Der Autoritätsanspruch des Greisenchores erhält eine besondere Note, ja eine Potenzierung dadurch, dass Kalchas den Topos des unbedingt glaubwürdigen alten Sehers ( kednÕj stratÒmantij, 123) in idealtypischer Weise verkörpert. 41 Jedoch - und auch dies ist charakteristisch für die gesamte Tragödie - folgt auf das kurzzeitig Gute sogleich wieder das Negative: Kalchas’ Deutung des Omens, eines Vorganges aus der Tierwelt, in dem zwei Adler eine trächtige Häsin reißen, beinhaltet in erweiterter Form gerade wieder diejenige Problematisierung, die der Chor zuvor schon selbst anklingen hat lassen: Nämlich eine der Sache selbst inhärente, nicht aufzulösende Ambivalenz, die in der offenbar zwangsläufigen Vermischung von Positivem und Negativem eine Grundstruktur dessen, was man als ‚das Tragische’ bezeichnen kann, sichtbar macht: Der Gewissheit einer Eroberung Trojas als Folge einer vollauf gerechtfertigten Aktion steht die Unverhältnismäßigkeit in der Durchführung gegenüber, die nach einem überlangen, höchst verlustreichen Kampf insbesondere auch die exzessive Vernichtung der Bewohnerschaft, also der ‚Leibesfrucht’ Trojas zur Folge hat. 42 In eigener Weise bemer- 39 Die Frage des Schauplatzes der Verse 109-59, Argos oder Aulis, ist umstritten. F RAEN - KEL (1962) bezieht den entscheidenden Passus ‡ktar mel£qrwn (116) unverbindlich auf „the dwelling-place of the Atridae“ (70). Zuletzt hat H EATH (2001) entschieden für Aulis plädiert, da damit das Geschick des Atriden-Hauses, auf das in den Versen 208, 237 und 243-47 ohnehin verwiesen wird, in einem viel größeren sozialen Kontext stehe: „What happens here affects the soldiers, their families and cities, and the entire structure of human justice - it has, quite simply, cosmic implications.“ (22). 40 L EBECK (1971) 12; ¢lk» sei sogar ein „equal rank with the kings and warriors“ (18). 41 Vgl. G RIFFITH (1995) zu Kalchas, Teiresias und Greisenchören in der Griechischen Tragödie. 42 Detailliert könnten die entsprechenden Implikationen bei der Auflösung des Adler- Omens beziehungsweise -Gleichnisses interpretiert werden, so der Rückbezug von <?page no="303"?> Die Parodos - eine lange Geschichte 289 kenswert ist die gegenüber vv.63-67 nochmals ausgeweitete Explikation der Involvierung zweier large off-stage groups in Form des Griechenheeres und Trojas. Damit wird die problematische Relation zwischen dem eher privaten Kontext der beiden Königshäuser - auf dasjenige der Atriden war ja schon stark die Aufmerksamkeit des Zuschauers gerichtet worden - und dem öffentlichen Rahmen klar (vgl. die Formulierung Pri£mou pÒlin ). Für die Atriden, nun besonders Agamemnon, und ihr Heer entsteht eine verwickelte Extremsituation durch den Zorn der Artemis, die durch eine verheerende Windstille das bereitstehende Heer zu vernichten droht. Dies führt in der Konsequenz zur Opferung Iphigenies. Die spezielle Motivation dieses Zorns der Artemis wirft ein offenbar unlösbares Problem für die Forschung auf, die auf eine absolute innere Stringenz fixiert ist und somit nach einem Ersatz für die bei Aischylos fehlende, von Agamemnon getötete Hirschkuh sucht. Aber ist nicht gerade die Offenheit, ja die anscheinend ganz bewusst vom Dichter so dargestellte Un-Erklärlichkeit dieses Vorganges hier wichtiger als der Nachvollzug einer lückenlosen, streng logischen Ereigniskette? Zeigt sich nicht gerade auch hier die für den Agamemnon so charakteristische Differenz zwischen Faktizität und Ausdeutung? Denn höchst auffallend ist, dass gerade der Chor, dem doch eine Interpretation und Kommentierung des Omens und insbesondere der ihrerseits interpretierenden Kalchas-Rede prima facie zukäme, genau auf diese seine Deutungskompetenz verzichtet (woraus die philologische Interpretation ihrerseits schöpfen könnte). 43 Stattpšmpei (111) auf das Geier-Gleichnis (59, 61) oder die Ambivalenz schon von Rechts und Links beim Erscheinen der Adler cerÕj ™k dorip£ltou (116), wozu M ÜLLER (1994). Zur Deutung von p£nta d pÚrgwn / kt»nh prÒsqe t¦ dhmioplhqša Mo‹ra lap£xei sh. N EITZEL (1979) 11-14: Das „Vieh der Türme“ sind die Bewohner innerhalb der Stadtmauern. Die Tiermetapher schafft also eine Verbindung zum Omen. 43 Für einen Forschungsüberblick sh. K ÄPPEL (1998) 81-85; seine eigene Theorie (78-93) folgt zum Großteil F URLEY (1986) und bezieht sich auf die Tötung der Kinder des Thyest (vgl. auch schon C ONACHER (1987) 10f.): sÚmfuton und das Präsens m…mnei meinen, so K ÄPPEL , dass die MÁnij teknÒpoinoj „mit dem Haus verwachsen“ (89) und schon damals existent sei. Damit steht, wohl zu Recht, der oft von vornherein in diese Verse hineingelesene Bezug auf Klytaimestra (so D ENNISTON / P AGE (1957) 83) nicht mehr an erster Stelle. Stattdessen gelte, so K ÄPPEL : „Die Schlachtung der Kinder des Thyestes ist die Ursache der Forderung der Artemis nach dem Opfer Iphigenies. ... Der g£r -Satz ist also auch auf Klytaimestras Tat beziehbar, aber in viel tieferem Sinne als man bisher gemeint hat. Es ist dieselbe Wurzel, aus der das Opfer Iphigenies entsteht wie die Ermordung Agamemnons ... : Rache für Kinder (einmal für Iphigenie, einmal für die Thyesteskinder). Diese Ursache ist in diesem Haus sÚmfutoj ... In beiden Fällen führt ‚Heimtücke’ [ dol…a ] zur Katastrophe: ... [I]n der Situation in Aulis ist es ... Artemis, die heimtückisch das Heer und Agamemnon in eine Zwangslage manövriert.“ (90f.). Es stellt sich jedoch bei all dem die Frage, warum Kalchas nicht gleich diesen Sachverhalt expliziert und den Rezipienten - Chor, Zuschauer, Philologen - überhaupt in solch große Verständnisprobleme bringen soll: Von der affektiven Wirkung her gesehen bringen Unklarheit und Offenheit viel mehr als ein lückenlos zu rekonstruierender Plot. <?page no="304"?> Agamemnon 290 dessen belässt der Chor es bei der dreimaligen, reflexartigen Wiederholung einer in Bezug auf die konkrete Situation eher unspezifischen Ritualformel. Nur beim dritten Mal gesellt sich dieser affektiv allerdings durchaus wirksamen Reaktion eine gleichermaßen allgemein gehaltene Bewertung über die Doppeltheit von Gut und Böse bei: „ ... „» on d¾ kalšw PPaiîna, m» tinaj ¢ntipnÒouj Danao‹j cron…aj ™cenÍdaj ¢plo…aj teÚxV, speudomšna qqus…an ˜tšran, ¥nomÒn tin', ¥daiton, neikšwn tšktona sÚmfuton, oÙ deis»nora: m…mnei g¦r fober¦ pal…nortoj o„konÒmoj ddol…a, mn£mwn MMÁnij teknÒpoinoj. “ toi£de K£lcaj xÝn meg£loij ¢ ¢gaqo‹j ¢pšklagxen mÒrsim' ¢p' Ñrn…qwn Ðd…wn o‡koij basile…oj: to‹j d' ÐmÒfwnon a‡linon a‡linon e„pš, tÕ d' eâ nik£tw. (146-59) Den näheren Zusammenhang zwischen dem Adler-Omen, das heißt der grausamen Eroberung Trojas, und dem zu Iphigenies Opferung führenden Zorn der Artemis explizieren weder Kalchas noch der Chor selbst. Die Offenheit und Unberechenbarkeit dieser zum Plot gehörenden Vorgänge generieren im Verbund mit der von Ratlosigkeit und Unruhe zeugenden affektiven Reaktion des Chores Spannung und Unsicherheit beim Zuschauer. Aus der Retrospektive freilich bewahrheitet sich zumindest ein Teil der Prophezeiung darin, dass die Windstille durch die Opferung Iphigenies beendet worden ist - diese Ereignisse, hier in acht Verse komprimiert, wird der Chor später noch breit berichten (184-247). 44 Darüber hinaus aber geht Kalchas noch viel weiter, indem dieses „andere“ (da gänzlich ungewöhnliche, ruchlose) 45 Opfer als „Erzeuger des Streites, der mitwächst“ bezeichnet wird: „Denn es bleibt der furchtbare, sich wieder erhebende, im Hause wohnende listige, sich erinnernde Groll, der das Kind rächt.“ Ein Leser des Agamemnon mag am Ende hierher zurückblättern und unschwer einen Vorverweis auf die Ermordung Agamemnons durch Klytaimestra als Rachehandlung sehen, oder gar, nach der Lektüre der gesamten Orestie, auf den Doppelmord Orests. Der Zuschauer hingegen, der sich im hic et nunc kaum 44 Damit liegt hier dasselbe antizipatorische Verfahren vor wie zuvor bei dem nur summarischen Hinweis auf die Ausfahrt (45-47), die dann letztlich die gesamte lyrische Parodos ausfüllt. 45 E ASTERLING (1988) sieht diese Formulierung vom „anderen“ Opfer als eine Art metatheatralischen Hinweis auf die gängige Praxis der Tragödie, nicht einfach reale Rituale zu übernehmen, sondern je nach Bedarf abzuwandeln: „ … we should however note that the texts themselves often draw explicit attention to divergence from ‚normal’ ritual patterns …“ (101). <?page no="305"?> Die Parodos - eine lange Geschichte 291 Gedanken über den weiteren Verlauf des Plots machen kann, sieht sich in diesem Stadium alleine gelassen mit dieser Bemerkung, die an Konkretem und Explizitem nicht viel aussagt: Der Chor antwortet auf Kalchas’ Rede lediglich mit der Konstatierung einer Verbindung von „Schicksalhaftem zusammen mit großem Segen für das königliche Haus“, die die gleichermaßen allgemeine Aussage von Kalchas selbst: dexi¦ m n kat£momfa d f£smata (145) über die der Sache inhärente Ambivalenz repliziert. Wenn sich der Chor aus seiner ureigensten Aufgabe einer wirklichen, tiefgreifenden, eigenständigen Reflexion über Bühnenvorgänge - denn als solche kann man das vom Chor selbst ‚inszenierte’ Omen mitsamt der Kalchas-Rede bezeichnen - zurückzieht, so negiert er damit implizit seinen so kraftvoll evozierten Autoritätsanspruch von vv.104-06 über die Wahrheit der Vorgeschichte. Dies ist wesentlich auch davon motiviert, dass dieses vom Chor aufgeführte, mit einem glückverheißenden Omen beginnende Miniaturdrama - pointiert gesagt: eine aischyleische Iphigenie in Aulis - eine derart ins Negative führende Eigendynamik entwickelt, die durch den ominösoffenen damaligen Ausblick in eine ambivalente Zukunft dem Chor wieder das Heft aus der Hand nimmt: Denn so kommt er in die instabile Gegenwart zurück, die offensichtlich weiterhin von den ominösen mÒrsima definiert ist, wenn auch in einer noch unklaren Weise. 46 Akzeptiert man die Existenz eines aulischen Miniaturdramas innerhalb der Parodos, so kann man auch in diesem kleinen ‚Sekundärplot’ eine zwischen ‚Heilung’ und Zuspitzung changierende Struktur, die typisch zu sein scheint für Aischylos, erkennen: Kalchas ruft den Heilgott Paian (146) an. Dieser Wunsch nach einer positiven Bewältigung der d a m a li g e n verfahrenen Situation hat sich vom Wissensstand des Chores aus und objektiv gesehen nicht erfüllt. Denn es kam tatsächlich, durch den Zorn der Artemis, zu der von Kalchas befürchteten Krisensituation, die drastisch als eine Krankheit geschildert ist, die die Heeresgemeinschaft durch Hunger aufzehrt und in hilfloser Stagnation verharren lässt (188-98). Das dann von Kalchas für beide Anführer verkündete und von Agamemnon aufgegriffene „schlimmere Hilfsmittel“ ( mÁcar briqÚteron , 199) - die Opferung Iphigenies als Heilmittel! - verwickelte den Vater in den tragischen Konflikt gerade im Sinne der vorherigen Befürchtung (146-55): Die erwünschte ‚Heilung’ verschärft die Lage noch. 47 Noch vor dieser äußerst bedenklichen Fortentwicklung der Ereignisse innerhalb des Miniaturdramas steht jedoch der Zeus-Hymnos, dem die For- 46 B OLLACK (1981) 191f. meint, mÒrsimoj sei nicht von vornherein negativ gemeint; H EADLAM / T HOMSON (1966) 19 sprechen zutreffend von einer euphemistischen Bezeichnung. - Im Werkkatalog des Aischylos erscheint eine IFIGENEIA , die allerdings auch in Taurien gespielt haben kann; nur ein Vers ist erhalten (F 94). 47 Rein strukturell entspricht dies dem - vom Chor tatkräftig vorangetriebenen - Geschehensablauf der Choephoren, wo am Ende alles um so schlimmer ist. Für einen entsprechenden Beschwichtigungsversuch eines auf wirklichen Ausgleich bedachten Chores vgl. Soph.Ai. 362f.: m¾ kakÕn kakù didoÝj / ¥koj plšon tÕ pÁma tÁj ¥thj t…qei. <?page no="306"?> Agamemnon 292 schung unter allen Chorpartien bei Aischylos wohl die höchste Aufmerksamkeit zukommen lässt. 3.2.3 Der Zeus-Hymnos: Eine optimistische Weltordnung Der Zeus-Hymnos darf nicht aus dem vom Chor des Agamemnon aufgeführten Miniaturdrama herausgelöst werden, um die darin enthaltenen religiösen Gedanken nach Art einer Generalformel zur Erklärung der aischyleischen Tragödie für sich zu betrachten, ohne auf Kontext und Sprecher zu achten. Sprecher ist hier der corÒj , der sich in einer bestimmten Situation befindet, die dem Zuschauer vor allem auf einer affektiven Ebene nahegebracht wird. Der Chor sieht sich durch die Reden von Kalchas und durch sein eigenes Wissen (welches er gleichwohl nicht vollständig preisgibt, vgl. 248) über die dann tatsächlich erfolgte Opferung Iphigenies konfrontiert mit den prophezeiten mÒrsima . Seine Erzählung der weiteren Vorgänge in Aulis unterbricht er nun mit einem Hymnos auf Zeus. Angesichts der schrecklichen Realität und der verständlichen Sorge des Chores ist es um so bemerkenswerter, wie er schon während der Reden von Kalchas doch den eindringlichen Wunsch nach einem abschließenden Sieg des Guten kundgetan hat - ganz in Fortsetzung seiner in v.102 geäußerten ™lp…j : Einerseits macht in dem Ambivalenzausdruck: a‡linon a‡linon e„pš: tÕ d' eâ nik£tw die erste Hälfte für den Zuschauer eine Rezeptionsvorgabe auf der affektiven Ebene. Zu dem bekannten Ritualruf, der seinerseits eine Art kurzer Anzitierung des Linosliedes ist, tritt ein zusätzlicher Imperativ („Sprich …! “) 48 - offenkundig eine Fortsetzung des eigenen, sich auf Peitho berufenden Anspruches auf Autorität im Singen. Die enge Anbindung dieser nicht nur in ihrer Angemessenheit, sondern auch speziellen Qualität (einer gesanglichen Äußerung eines corÒj ) unterstrichenen emotionalen Reaktion an das Geschehen wird durch ÐmÒfwnon , „im Gleichklang“, prägnant gezeigt. Andererseits aber zeugt der nicht weniger autoritative, einen bloßen Wunsch übersteigende Imperativ: „Das Gute s o ll siegen! “ von einem entsprechenden Verlangen des Chores nach einer Überwindung aller negativen Aspekte. 49 Dieser dreifach wiederholte, die Ambivalenz des Gesamtgeschehens umgreifende Ruf, der nach Art einer Formel eine adäquate Reaktion versucht, klingt dem Zuschauer noch im Ohr, als sich der Chor völlig unerwartet auf das Singen eines Hymnos auf Zeus verlegt. Deutlich markiert wird dieser Umschlag durch den metrischen Wechsel vom Daktylus in ein schlichtes Lekythion. Die Tatsache, dass nun die oberste Gottheit Zeus angerufen wird, sollte zunächst einmal als unmittelbare Fortsetzung des Wunsches nach einem 48 Der Ruf erscheint in der Tragödie auch Soph.Ai. 627 (Chor) und Eur.Or. 1395 (der Phryger), aber nur als ein einfaches, unmittelbares a‡linon a‡linon gesungen, was die Besonderheit der Verwendung durch Aischylos hier anzeigt. 49 Vgl. B OLLACK (1981), der vom „bien moral en général“ (144) spricht. <?page no="307"?> Die Parodos - eine lange Geschichte 293 Sieg des Guten gesehen werden. Der Hymnos beinhaltet dann allerdings keinen konkreten Gebetswunsch (anders als der sogenannte Zeus-Hymnos der Hiketiden), sondern evoziert das Weltgesetz des Zeus, das v e r s t a n d e n werden soll - vom Chor nicht weniger als vom Zuschauer. Mit dem Singen eines Hymnos konzentriert sich der Chor, nachdem ihn die Eigendynamik des von ihm selbst berichteten Geschehens in Aulis überwältigt hat, wieder auf das, was nur ihn auszeichnet: Auf das Sein als corÒj . Dies ist nach dem vorherigen impliziten Verlust der zuvor so stark bekundeten eigenen Autorität im Singen und der Abgabe der eigenen Kommunikationsfähigkeit an Kalchas als neuerlicher Ansatz zu deuten, Herr der Lage zu werden: Den Inhalt eines selbstbewusst vorgetragenen Hymnos auf die oberste Gottheit rezipiert der Zuschauer sicher als ‚wahr’ und im Sinne der durch Peitho erzeugten „Kraft der Gesänge“ (106). Zeus ist nun freilich schon länger im Fokus des Chores, nämlich als diejenige Gottheit, die durch die Aussendung der geschädigten Atriden gegen Troja die Gerechtigkeit innerhalb seiner Weltordnung umzusetzen verspricht. Dem gegenüber stehen die - am Anfang des Unternehmens vor allem von Artemis ausgehenden - Schwierigkeiten in der praktischen Durchführung. Die Anbindung des Zeus-Hymnos an diesen Kontext muss zu der wichtigen Einsicht führen, dass es die S o r g e des Chores ist, die dem Gesang als Movens zugrunde liegt: Der Affekt führt zu einer dezidierten Reaktion, die nun, so meinen wir, mit der Vorstellung einer ‚Heilung’ verknüpft ist. In der ersten Strophe des Zeus-Hymnos kommt zunächst der Affekt Sorge klar zum Ausdruck: ZeÚj, Óstij pot' ™st…n, e„ tÒd' aÙtù f…lon keklhmšnJ, toàtÒ nin prosennšpw: oÙk œcw proseik£sai 50 p£nt' ™pistaqmèmenoj pl¾n DiÒj, e„ tÕ m£tan ¢pÕ front…doj ¥cqoj cr¾ bale‹n ™thtÚmwj . (160-66) Das unmittelbare Ziel wird also vom Affekt des Chores bestimmt, von seiner sorgenvollen, störenden front…j . Beachtet man diesen Zusammenhang, so muß man in v.165f. Tmesis ansetzen und front…doj ¥cqoj zusammenneh- 50 Obwohl man im Kontext der Suche nach dem Wesen des Zeus in dieses Verbum viel hineingelesen hat (vgl. als problematisches Exempel S MITH (1980) 8-18, der hierin den Ausdruck einer Unvereinbarkeit zwischen der Vorstellung vom höchsten Gott und der grausamen Opferung sieht), reicht die Paraphrase von F RAENKEL (1962) 102 aus: t…ni tÕn D…a m£lista e„k£zw; oÙdenˆ pl¾n DiÒj . In der vorsichtigen Annäherung kommt die absolute Unvergleichlichkeit des obersten Gottes zum Ausdruck; ähnlich K IEFNER (1965), der von p£nta ausgeht und hinter der „negativen Charakterisierung des Allbegriffs“ die „Unerforschlichkeit des Allgotts“ (130) sieht. Sicher soll so das ¥cqoj des Chores, das der „contradiction de tel état de la réalité“ (B OLLACK (1981) 220) entspringt, in einer höheren „superiorité“ (ebd.) aufgehen. <?page no="308"?> Agamemnon 294 men: „Die Last der Sorge“. 51 Es kommt noch hinzu, dass ¥cqoj mit ¥coj verwandt ist, also einen ‚belastenden Seelenschmerz’ bezeichnet - dieses Symptom entspricht also vollauf der Selbstdiagnose des Chores in vv.99-103, wo ja lÚph , die innerhalb der fr»n den qumÒj angreift, mit front…j parallelisiert wird. m£tan wird autosuggestiv hinzugesetzt, sozusagen im vernünftigen Anreden gegen das eigene ungute Gefühl. Nach der erfolglosen Anrufung Klytaimestras als paièn (98) gegen die Sorge kann der neue Wunsch nach dem „Abwerfen“ dieses ¥cqoj hier nur bedeuten, dass jetzt der Zeus- Hymnos gewissermaßen ein ersatzweiser Heilsgesang, ja ein Paian sein soll, den der Chor - in noch gesteigerter Unruhe - eben nun selbst singt. Die Antistrophe rekurriert auf die Inthronisation des Zeus. Hier fällt die Kennzeichnung des jetzt wie Kronos völlig verschwundenen Uranos auf: pamm£cJ qr£sei brÚwn (169). Denn so wird auf die Überwindung einer älteren, von Gewalt und Gegengewalt, allein von Tun und Leiden geprägten archaischen Herrschaftsform hingewiesen, die aus Hesiods Theogonie bekannt ist. Das unter Zeus erreichte neue Stadium wird mit einer zentralen Feststellung markiert: ZÁna dš tij profrÒnwj ™pin…kia kl£zwn teÚxetai frenîn tÕ p©n, ktl. (174f.) kl£zein ist augenscheinlich das, was der Chor jetzt gerade macht - ein selbstreferentieller Akt, in dem mit ™pin…kia ein ganz deutlicher Rückverweis auf das dreimalige tÕ d' eâ nik£tw vorliegt. Das vollständige Erlangen der (richtigen) fršnej in deren limitiertem Bereich, eine verbreitete Vorstellung, 52 muss im Zusammenhang der Parodos, vor allem im Rückblick auf die in v.103 affizierte fr»n des Chores, und auf der selbstreferentiellen Ebene zunächst bedeuten, dass die angreifende, belastende front…j vertrieben wird und die fršnej somit in ihrem ungestörten, heilen Zustand w i e d e r e r l a n g t werden, dass mithin der negative Affekt beendet wird. Somit sind zunächst einmal die fršnej des Chores gemeint: Die vollständige Rückgewinnung des richtigen Denkens geht einher mit der Orientierung (vgl. pro-frÒnwj , „mit nach vorne gerichtetem Sinn“, hier dann „freudig“) an Zeus beim Singen des Hymnos. Damit wird die dritte, wichtigste Strophe des Zeus-Hymnos vorbereitet, die mit frone‹n anhebt und als Resultat des von Zeus ausgehenden p£qei m£qoj das sw-frone‹n postuliert. tÕn frone‹n brotoÝj Ðdèsanta, tÕn p£qei m£qoj qšnta kur…wj œcein. 51 Also als genetivus subiectivus. Schon W ECKLEIN (1888) 43 formulierte so um: tÕ m£tan front…doj ¥cqoj ¢pobale‹n , so neben anderen auch D ENNISTON / P AGE (1957) 84. 52 Vgl. F RAENKEL (1962) 105 und Ag. 380 eâ prap…dwn lacÒnti . Für das Gegenteil, das Verfehlen, vgl. Ag. 1664 sèfronoj gnèmhj d' ¡marte‹n und Theogn. 1,408 gnèmhj oÙk ¢gaqÁj œtucej . <?page no="309"?> Die Parodos - eine lange Geschichte 295 st£zei d' œn g' ÛpnJ prÕ kard…aj mnhsip»mwn pÒnoj: kaˆ par' ¤kontaj Ãlqe swfrone‹n. daimÒnwn dš pou c£rij b…aioj sšlma semnÕn ¹mšnwn . (176-83) „ … er, der die Menschen auf den Weg zum vernünftigen Denken gelenkt hat, und der festgesetzt hat, dass der Satz: „Durch Leiden Lernen“ gültig sei. Und es träufelt sogar im Schlaf vor dem Herzen die an Leid erinnernde Mühsal: Auch zu denen, die sich sträuben, kommt das gesunde Denken. Irgendwie ist das eine gewaltsame Gunst der göttlichen Wesen, die auf der erhabenen Ruderbank sitzen.“ Die Lenkung der Menschen auf den (richtigen) Weg hin zum (richtigen) Denken durch Zeus setzt implizit ein entsprechendes vorheriges Abirren durch falsches frone‹n und falsches Handeln voraus. Dies weist nun in den Bereich der dramatis personae, die bei Aischylos einer regelrecht krankhaften Sinnverwirrung erliegen können (wir erinnern nur an die nÒsoj frenîn des Xerxes und den ‚Ausbruch’ des väterlichen Fluches bei dem geradezu kranken Eteokles). Das p£qei m£qoj nun führt nach dieser Aberration auf den richtigen Weg zurück und ermöglicht eine Gesundung der fršnej , die dann im Zustand des sw-frone‹n resultiert. Dieser Heilungsvorgang erfolgt selbst dann, wenn der irrende Mensch sich dagegen sträubt. Schon frone‹n in v.176 wird nicht nur deskriptiv, sondern mit einer positiven Valenz verwendet und deckt sich mit dem nachfolgenden swfrone‹n , welches seinerseits durch die Vorsilbe sweinen vorherigen ‚kranken’ Zustand impliziert. 53 Das p£qei m£qoj hat Zeus „festgesetzt“ ( tÒn ... qšnta ), und es gilt durchgehend, so die vom Chor mit dem Partizip des Aorist verkündete Gnome, die den Eindruck eines feststehenden und bereits seit langem gültigen Gesetzes erzeugt. Gegenüber dem reflexartigen dreifachen Formelvers des Chores soll dieses Gesetz nun Orientierung ermöglichen. Exakt in der Mitte dieser Strophe steht dann das Regulativum, durch welches das m£qoj vermittelt wird: „Es träufelt sogar im Schlaf vor dem Herzen die an Leid erinnernde Mühsal.“ Ein mächtiger pÒnoj repliziert also gerade nachts als psychischer Faktor das tatsächlich (körperlich oder geistig) erfahrene p£qoj und erinnert an das pÁma (das Leid als Gegenstand). Damit 53 Die beiden Grundbedeutungen von frone‹n - „meinen, denken, gesinnt sein“ und „bei Sinnen sein, Einsicht haben, vernünftig sein“ - können schon bei Homer unterschieden werden, so F RAENKEL (1962) 105; dort 108 auch weitere Belege für den Gedanken der Unfreiwilligkeit wie Thuk. 6,87, Aisch.Eum. 550 und bes. Eur. F 524 TrGF ( tÕ fîj d' ¢n£gkhn prost…qhsi swfrone‹n ). F RAENKEL vermutet weiter sogar, dahinter könnte die später in der Stoa entwickelte Auffassung vom freiwilligen deum sequere (Sen.dial. 7,15,5f.) stecken. Zur Identität von frone‹n und swfrone‹n hier sh. auch N ORTH (1966) 46, F URLEY / B REMER (2001) Bd. 2, 252, W ILLINK (2004) 44. DI B ENEDETTO (1978) lässt das m£qoj gleich „nella sostanza“ (140) mit frone‹n und swfrone‹n koinzidieren. Doch dürfte das gesunde Denken als noch längeres Kontinuum n a c h einem Erkenntnisvorgang stehen. <?page no="310"?> Agamemnon 296 aber wird eine überdauernde Konstanz des m£qoj gewährleistet, womit sich eine Präventivfunktion für aktives Handeln am Tage, mithin überhaupt in der Zukunft ergibt. 54 Diese beiden Verse, die - in aller Vorsicht - mit dem modernen Begriff ‚Gewissen’ zu umschreiben sind, sind von großer Relevanz für die ganze Trilogie, wie bei der Besprechung der Eumeniden zu sehen sein wird. 55 Ebenso die beiden den Zeus-Hymnos beschließenden Verse: Der Chor singt vorsichtig vermutend ( pou ), aber dennoch optimistisch von einer „gewaltsamen Gunst“ der da…monej . Mit dieser Kollektivbezeichnung für göttliche Wesenheiten kann nun nicht mehr nur Zeus allein gemeint sein. Abgesehen von einer Integration der für die Atriden so gefährlichen Artemis legt es der aischyleische Sprachgebrauch nahe, dass mit da…monej gerade auch die (schon v.59 genannten) Erinnyen gemeint sind, 56 dass diese also ebenfalls 54 „[L]a vérité d’un savoir diurne adéquat, et donc pathétique, est garantie par la conscience nocturne qui, se remémorant le mal passé, est elle-même le mal ( pÒnoj ); face aux représentations figées du jour, la nuit réactive toujours le pathos.“ (B OLLACK (1981) 230). Ähnlich H EADLAM / T HOMSON (1966): „ ... could mean both reminding of the past and warning of the future.“ (21). Das œn q' ÛpnJ der Codices braucht mit P AGE nur minimal in œn g' geändert zu werden (im Apparat die Erklärung: „ … sed sensus est ‚etiam dum dormit, vexatur’). Für eine vehemente Verteidigung der von E MPERIUS vorgenommenen Änderung in ¢nq' Ûpnou sh. F RAENKEL (1962) 107f. (dessen eigene Formulierungen hier ungewöhnlich gereizt wirken). Der Verweis von W EST im Apparat auf v.14 fÒboj g¦r ¢nq' Ûpnou parastate‹ ist nicht stichhaltig, weil fÒboj eine ganz andere Qualität als pÒnoj hat und in der Tat den Schlaf gänzlich vertreiben kann. Jüngst hat W ILLINK (2004) 46 eine neue, bedenkenswerte Konjektur vorgeschlagen: st£zei d' eÙqÚpnou prÕ kard…aj , ‚straight-blowing or -breathing’, dies vor allem ausgehend von v.187 und v.219, wo pne‹n für die Bewegung des denkenden Geistes gebraucht wird, welcher in die falsche oder korrekte Richtung ‚wehen’ kann. Damit sei nun derjenige, der aufgrund der Leiderfahrung durch den mnhsip»mwn pÒnoj bereits freiwillig richtig denkt, zu unterscheiden von demjenigen, zu dem als Unwilligem das swfrone‹n dann doch komme. Folge dieser Differenzierung ist dann freilich, dass W ILLINK den v.182f. über die daimÒnwn c£rij negativ als Frage auffasst (vgl. unten Anm.57), weil die Götter unbarmherzig auf den Unwilligen einschlagen, im Unterschied zum freiwillig Besonnenen. Zweifellos aber lässt sich sagen, dass das freiwillige Besonnensein natürlich den beschriebenen Leidens- und Erkenntnisvorgang überflüssig macht. In diesem Sinne könnte auch schon v.174f. verstanden werden: Wer Zeus preisend anruft, sich also an der olympischen Weltordnung im Bewusstsein um richtiges und falsches Handeln orientiert, der wird das richtige Denken vollgültig erlangen. Damit ließe sich ein eâ pr£ttein im doppelten Sinne als Hauptgegenstand des Hymnos definieren: Dem emotionalen Wohlergehen des Chores ohne negative Affekte komplementär ist das richtige, dem gesunden Denken entspringende Handeln. 55 Wichtig in diesem Zusammenhang ist die zuerst bei Hesiod (Erg. 90f.) auftretende Vorstellung, dass pÒnoj ein Merkmal der neuen, im Endeffekt aber doch positiv bestimmten Zeus-Ordnung ist, welche das ‚Goldene Zeitalter’ des Kronos ablöst und das Leid eigentlich erst auf die Welt bringt; sh. S OMMERSTEIN (1993a). 56 Während im Agamemnon mit da…mwn konkret der sich im Wüten der Erinnyen offenbarende Fluchgeist des Hauses gemeint ist (Ag. 1175, 1468, 1477, 1482, 1569, 1660, 1663, 1667), werden in den Eumeniden die Erinnyen zuhauf als da…monej bezeichnet (150, 302, 802, 920, 929, 948, 963, 1016; vgl. Cho. 125 und sh. unten S.430). <?page no="311"?> Die Parodos - eine lange Geschichte 297 in eine letztlich doch positive Weltordnung implementiert werden sollen. Denn das Oxymoron c£rij b…aioj bedeutet, dass es die Gottheiten letztlich doch gut meinen mit den Menschen, die sie auf einem zwar steinigen (da über p£qoj und pÒnoj führenden), aber dennoch sicheren Weg hin zum swfrone‹n führen. 57 Da es sich beim sšlma semnÕn Âsqai um die Beschreibung einer lenkend-dirigierenden Tätigkeit handelt, äquivalent etwa zu kubern©n, 58 liegt hier, nach Art einer Ringkomposition, eine Bezugnahme auf den Anfang der dritten Strophe vor ( Ðdèsanta ): Der Mensch wird (wieder) auf den richtigen Weg gebracht. Zu berücksichtigen für das korrekte Verständnis dieser Strophe ist unbedingt noch v.250, wo gegen Ende der Parodos der Gedanke, dass durch Leiden ein Lernen erfolgt, wiederaufgenommen wird: D…ka d to‹j m n paqoàsin maqe‹n ™pirršpei . Hier ist nun von Dike als regulierender Kraft die Rede, woraus deutlich ersichtlich wird, dass der Prozess des p£qei m£qoj n a c h einem falschen frone‹n in Gang kommt. Denn Dike rückt das wieder zurecht, was in eine Schieflage geraten ist. 59 Dass diese Störung durch einen Akt der Hybris zustande gekommen ist, wird zwar nicht ausgesagt, ist aber in dem Gedanken impliziert. Für die hier vorgeschlagene Interpretation des Zeus-Hymnos, dass dieser nämlich eine Verhaltensänderung und -regulierung des Menschen themati- 57 Die Forschungsdiskussion, ob erstens mit T URNEBUS b…aioj oder aber mit den Codices bia…wj zu lesen ist, sowie ob zweitens mit enklitischem pou (so FTr) ein Aussagesatz steht oder aber mit der Fragepartikel poà (so MV) ein Fragesatz, hat in ihrer Relevanz für eine optimistische oder aber pessimistische Sicht des Zeus-Hymnos letztlich Auswirkungen für die ganze Trilogie. Das gravierendste Argument g e g e n bia…wj ist seine Verbindung mit dem Zustands-Perfekt ¹mšnwn : „a man may sit down forcibly, he cannot be seated forcibly, i.e. be in a state of sitting down by force. Nor is bia…wj Âsqai conceivable Greek for ‚sit, using force’[.]“ (D ENNISTON / P AGE (1957) 85). Die Schreibung von o und w im attischen Alphabet führt ohnehin zu einem ununterscheidbaren BIAIOS (vgl. T HIEL (1993) 93), und die Verwechslung von w und o ist gängig: Vgl. Ag. 477 ™thtÚmwj statt des hier zweifellos richtigen ™t»tumoj . Die unter dem provokativen Aufsatztitel: Merciful heavens? vorgebrachten sprachlichen Argumente von P OPE (1974) für die unbedingte Beibehaltung von poà und bia…wj hat C ONACHER (1976) vor allem mit Blick auf Kontext und Sinngehalt der Passage überzeugend widerlegt. Insbesondere aber ist noch auf den Zeus-Hymnos der Hiketiden hinzuweisen, wo v.111 ein enklitisches pwj exakt die Funktion des pou hier hat, nämlich die des „nur ahnungsweise[n] Sprechen[s] von den letzten Geheimnissen“ (F RAENKEL (1931) 365). - Für eine antike Anspielung auf das aischyleische Oxymoron c£rij b…aioj verweisen H EADLAM / T HOMSON (1966) 21 auf Porph. de abst. 1,51: t¾n d c£rin bia…an e cen kaˆ tacÝ tù ™nant…J mignumšnhn . 58 Vgl. hierfür B EATTIE (1955) 19. 59 Dass in v.250 mit paqoàsi maqe‹n zwei Verbalformen verwendet werden, ist nicht weiter von Bedeutung, doch ist mit D ÖRRIE (1956) „das temporale und das kausale Nacheinander“ (327 Anm.1) unbedingt zu beachten. Zum transitiven Gebrauch von ™pirršpein vgl. in ähnlichem Kontext Bakchyl. 17(16) 25: Ó ti m n ™k qeîn mo‹ra pagkrat¾j ¥mmi katšneuse kaˆ D…kaj ·špei t£lanton . - Das Zuwägen des Lernens könnte freilich auch als Belohnung für das Leiden aufgefasst werden. <?page no="312"?> Agamemnon 298 siert, welche nach einer Aberration in einem (neuen) swfrone‹n resultiert, lassen sich aus der Orestie zwei gewichtige Parallelstellen anführen. 1) Zum einen handelt es sich um die heftige Auseinandersetzung zwischen dem Chor und dem neuen Herrscherpaar Klytaimestra und Aigisthos am Ende des Agamemnon. Aigisthos droht dem widerspenstigen Chor, der sich mit der Tyrannis nicht arrangieren möchte, körperlichen Zwang und Schmerz an, um ihn zu belehren: sÝ taàta fwne‹j, nertšrv ppros»menoj kèpV, kratoÚntwn tîn ™pˆ zugù dorÒj; gnèsV gšrwn ín æj ddid£skesqai barÚ tù thlikoÚtJ, sswfrone‹n e„rhmšnon: desmoˆ d kaˆ tÕ gÁraj a† te n»stidej dÚai d did£skein ™xocètatai ffrenîn „atrom£nteij. oÙc Ðr´j Ðrîn t£de; prÕj kšntra m¾ l£ktize, m¾ pa…saj mogÍj. (1617-24) Die Anklänge an den Zeus-Hymnos sind offensichtlich - swfrone‹n , die zu heilenden fršnej , das maritime Bild mit dem Sitzen der Beteiligten auf der Ruderbank (welche eine Hierarchie anzeigt). 60 Für die Vorstellung einer Heilung besonders aussagekräftig ist hier die Bezeichnung der Schmerzen als „atrom£nteij , eigentlich „Seherärzte“, die zugleich heilen und prophezeien, also Einsicht vermitteln. 61 Freilich handelt es sich hier um eine säkularisierte Pervertierung des p£qei-m£qoj -Gedankens, ja um eine in die Sphäre der Hybris reichende Anmaßung des Aigisthos, wie ein Zeus zu verfahren. Doch bleibt das Grundmodell deutlich erkennbar. Was aber im Hymnos eine c£rij , wenn auch eine b…aioj , der Gottheiten ist, die am Ruder sitzend den Weg zum swfrone‹n weisen, ist hier Ausdruck brutaler Gewaltanwendung in der Vertikale der Tyrannis. Ebenso hatte bereits zuvor Klytaimestra dem Chor gedroht: ™¦n d toÜmpalin kra…nV qeÒj , / gnèsV didacqeˆj Ñy goàn tÕ swfrone‹n (1424f.). 2) Zum anderen lässt sich im II. Stasimon der Eumeniden die Antistrophe b als Kommentar zum Zeus-Hymnos lesen: œsq' Ópou tÕ deinÕn eâ, kaˆ ffrenîn ™p…skopon de‹m' ¥nw kaq»menon: xumfšrei swfrone‹n ØpÕ stšnei. 60 Die Junktur swfrone‹n e„rhmšnon hat im Vers dieselbe Position wie das sprachlich und textlich umstrittene, für die Interpretation aber grundlegende swfrone‹n kecrhmšnoi Pers. 829; beide Male handelt es sich um eine dringende Empfehlung einer dramatis persona an den Chor. 61 Sh. F RAENKEL (1962): „The sufferings are called „atro… since they will cure an obstinate presumption by means of a starvation diet; they are m£nteij because they will reveal to the old men what so far has been hidden from them.“ (767). Vgl. oben S.133f. zu Dareios als „atrÒmantij. <?page no="313"?> Die Parodos - eine lange Geschichte 299 t…j d mhd n ™n f£ei kard…aj d dšoj tršfwn - À pÒlij, brotÒj q' Ðmo… wj - œt' ¨n sšboi D…kan; (Eum. 517-25) Der genauen Interpretation dieser Verse, gerade auch im Sinnganzen der Orestie, wollen wir hier nicht vorgreifen. Leicht ersichtlich ist, dass der Erinnyen-Chor hier vom Vorteil des „gesunden Denkens unter Zwang“, nämlich im Bewusstsein um die sicher eintretende Strafe, singt. Es handelt sich, wie zu zeigen sein wird, um eine antizipierte Form des p£qei m£qoj , bei der ein beständiges de‹ma („Furcht“ im Sinne von „Ehrfurcht“), das über den fršnej sitzt, ein konstantes swfrone‹n garantiert. Hier steht also die permanente Verhaltensregulierung im Vordergrund, die im Vorhinein falsches Handeln und somit auch eine Bestrafung verhindert, während für den Zeus-Hymnos zunächst von einem leidvollen Lernvorgang im Nachhinein auszugehen ist. Dass auch der Eumeniden-Stelle in concreto die Vorstellung eines gesunden, heilen Zustandes, der sowohl dem Individuum als auch der Gemeinschaft den Segen ( Ôlboj ) bringt, zugrunde liegt, zeigt dann v.535f. über die gesunde mentale Disposition, die als Øg…eia frenîn markiert wird - wohingegen Hybris, dusseb…aj tškoj , Ausfluss krankhaften Denkens ist. Zusammenfassend kann man sich der Bewertung von D ÖRRIE in seiner Untersuchung des griechischen p£qei-m£qoj -Gedankens anschließen - das radikal Neue bei Aischylos ist, dass im Unterschied zu früheren archaischen Vorstellungen (das simplere dr©n-paqe‹n -Modell mit Gewalt und Gegengewalt wird ja im Hymnos selbst als überwunden dargestellt) jetzt „die lehrende Wirkung des Leides ... so nachhaltig [ist], daß es die Haltung des Menschen zu ändern vermag.“ 62 Leiden und Lernen des Menschen ist komplementär zu Gewalt und Gunst der Götter, der c£rij b…aioj . 63 62 D ÖRRIE (1956) 325. Bei Prometheus sei eine Abwandlung dieses Konzeptes zu finden, weil dieser in seiner „unbeugsame[n] Verstocktheit“ (328) gegen das Lernen um so mehr Leid auf sich ziehe; dies zeige sich nicht zuletzt schon am direkten Auftritt von Kratos und Bia. Zutreffend auch F RAENKEL (1962): „With frone‹n as the goal of man’s journey we are on a much higher plane of ideas than is reached by the traditional verdict paqën dš te n»pioj œgnw or in proverbial expressions such as paq»mata maq»mata and the like.“ (106). Jedoch wird man im m£qoj nicht nur „an insight into the evervalid principle dr£santi paqe‹n “ (112) sehen dürfen. Für die grundlegende Unterscheidung dr©n-paqe‹n und paqe‹n-maqe‹n sh. auch C ONACHER (1987) 12. Vgl. auch unsere Interpretation der Perser (S.140 und 145ff.), wo das bloße kakîj dr£santej ... p£scousi (Pers. 813), welches zunächst über Xerxes und die Perser als Strafe kommt, um die Perspektive eines ‚Danach’ erweitert wird. 63 Vgl. R EINHARDT (1949) 20-22, auch zur Übersetzungsproblematik von c£rij (teils „Dank“, teils „Gnade“, teils „Huld“). <?page no="314"?> Agamemnon 300 3.2.4 Der Fall Agamemnon: Gewaltsame Gunst der Götter für eine ‚Wahnsinnstat’? Die nächste Schwierigkeit bei der Ausdeutung des Zeus-Hymnos besteht nun in der Frage, auf welche der Figuren eine entsprechende Anwendung der vom Chor vorgetragenen Gedanken zum p£qei m£qoj erfolgen könnte. Ein Teil der Forschung bezieht den Zeus-Hymnos auf den Trojaner Paris: Der Chor versichere sich autosuggestiv über ein sinnvolles Wirken von Zeus, der Paris bestrafe und zur Raison bringe, und folglich über das Gelingen des Feldzuges und die baldige Rückkehr Agamemnons. 64 Damit wird der Hymnos völlig aus dem Zusammenhang gerissen, denn von Paris/ Alexandros war zuvor lediglich in v.61f. die Rede, und nach dem Hymnos fehlt er völlig in der Parodos. Kaum nachvollziehbar auch die Auffassung, sw-frone‹n sei negativ im Sinne einer Bestrafung konnotiert (so auch W ILLINK (2004) 44f., ohne Bezug auf Paris) - es handelt sich bei Aischylos immer um das ‚gesunde’, maßvolle Denken (Pers. 829, Hik. 1013, Ag. 1620, Eum. 520 und 1000; vgl. entsprechend die Verwendung von sèfrwn Sept. 186 und 610, Hik. 710, Ag. 351, Cho. 140). Paris wird nur bestraft, wofür die Vokabel swfrone‹n fehl am Platze ist: ... P£rij g¦r oÜte suntel¾j pÒlij / ™xeÚcetai tÕ dr©ma toà p£qouj plšon (532f.). Dies evoziert die noch archaische Doktrin, den einfachen dr©n-paqe‹n -Mechanismus unter der Herrschaft von Uranos und Kronos, von der das unter Zeus etablierte Gesetz des p£qei m£qoj ja gerade abrücken will. Hier wäre auch eher der Zeus-Hymnos der Hiketiden am Platz, in dem ja ausdrücklich um die erwünschte Bestrafung der von Hybris angetriebenen Aigyptiden gebeten wird. Zudem wird die Wiederaufnahme des p£qei-m£qoj -Gedankens unmittelbar nach dem Ende des Berichts von den genannten Interpreten nicht miteinbezogen: D…ka d to‹j m n paqoàsin maqe‹n ™pirršpei (250). Würde man diesen Passus weiterhin auf Paris beziehen (was ja methodisch erforderlich wäre, da es sich doch um eine deutliche Reminiszenz handelt), so müsste der Chor nach rund 60 Versen, die sich ausschließlich mit der schrecklichen Schlachtung der leiblichen Tochter durch Agamemnon beschäftigen, plötzlich wieder zu Paris und der zuletzt kurz in v.61f., also vor weit über 180 Versen, erwähnten Entführung Helenas zurückkehren. Die am Ende der Parodos nochmals anzitierten tšcnai K£lcantoj (249) hatten sich nur in fünf Versen (126-30) mit der Bestrafung Trojas beschäftigt (also nicht einmal mit Paris persönlich). Wer sich hingegen durchgehend im Fokus des Chores aus Argos befindet, ist diejenige dramatis persona, nach der die Tragödie benannt ist. Es ist Agamemnon, um dessen Wohlergehen sich der Chor sorgt. Diesen Bezug des Hymnos auf Agamemnon hat eine Reihe von Interpreten in je eigener Weise hergestellt. Dabei herrschen drei Auffassungen vor, die zum Teil kombiniert werden. 64 So G AGARIN (1976) 139-50, S MITH (1980) 26-30, V ELLACOTT (1984) 99, T HIEL (1993) 103- 10 und K ÄPPEL (1998) 94 Anm.131. kaˆ tÒq' in v.184 fungiere damit also nur unterstützend für eâte in v.188, nicht aber als kontextbezogener Anschluss an den Zeus-Hymnos (sh. unten S.301f.). <?page no="315"?> Die Parodos - eine lange Geschichte 301 1) Es handele sich um einen schmerzhaften Erkenntnisvorgang, den Agamemnon bei der Opferung seiner Tochter durchmachen müsse (D ENNISTON / P AGE (1957) 86, DI B ENEDETTO (1978) 156). 2) Das paqe‹n sei mehr oder weniger identisch mit Tod und Bestrafung Agamemnons; mithin sei das p£qei m£qoj gleichzusetzen mit dem simpleren paqe‹n tÕn œrxanta (Ag. 1564) und dem dr£santi paqe‹n (Cho. 313). So ebenfalls noch von D ENNISTON / P AGE (1957) 83-86 vertreten; dann N EITZEL (1980) 287-90, W EGLAGE (1991) 277-79 und vorsichtig R ADEMAKER (2005) 108. 3) Das Schicksal Agamemnons insgesamt sei Anlass für einen Erkenntnisprozess im Sinne des p£qei m£qoj , welcher in irgendeiner Weise auf den Rezipienten zu beziehen sei (F RAENKEL (1962) 112-14, W EGLAGE (1991) 279-81); Überlegungen dieser Art erstrecken sich dann auch auf das Verständnis der Orestie insgesamt, für welches also der Zeus-Hymnos eine Interpretationsgrundlage bilden müsse. 65 Alle Lösungen berücksichtigen die Bedeutung des swfrone‹n zu wenig, welches die - durch Zeus und Dike zu vollbringende - Heilung des kranken frone‹n meint. Vielfach rührt das Fehlverständnis, das swfrone‹n sei negativ im Sinne einer - gar noch tödlich endenden - Bestrafung zu deuten, von der Dike-Paränese Hes.Erg. 213-18 her, die mit dem berühmten paqën dš te n»pioj œgnw endet. Doch ist dieses „Erkennen“ etwas vom „gesunden Denken“ doch kategorial Verschiedenes (beispielsweise erwähnt N EITZEL den v.179f. des Hymnos, wo auf eine dauerhafte Verhaltensänderung eines ü b e r l e b e n d e n Schuldigen hingedeutet wird, im Laufe seiner Interpretation nicht ein Mal). - Eine Art gemischter Interpretation in Bezug auf Paris und Agamemnon bietet T HIEL (1993) 102-07: Die Kategorie frone‹n treffe zwar auf Agamemnon zu, doch denke der Chor beim Zeus-Hymnos gar nicht an ihn, sondern eben an Paris (dessen Verletzung des Gastrechtes ein mangelndes frone‹n zeige) und an die Trojaner, um sich selbst zu beruhigen. Diese Lösung erscheint schon allein in rezeptionsästhetischer Perspektive viel zu kompliziert. T HIEL s Argument gegen die Anwendung auf Agamemnon allein, der Chor würde sein ¥cqoj „noch verschärfen, indem er [es] durch eine theologische Betrachtung ... untermauert“ (103) und er würde „niemals so offen und sicher die Auffassung [aussprechen], Agamemnon könne zu Tode kommen, gar noch als Strafe für einen Frevel“ (104), erledigt sich, wenn man die Voraussetzungen unvoreingenommen betrachtet und vor allem nicht das „ swfrone‹n in Gestalt einer gerechten Strafe“ (ebd.) sieht. Gegenüber diesen weitgehend unbefriedigenden Lösungsversuchen sei der Problemkomplex im Folgenden unter zwei Prämissen betrachtet. 1) Für den Zuschauer ist ein Zusammenhang zwischen dem Hymnos und der Person Agamemnons schon durch die Fortführung der Erzählung über die weiteren Ereignisse damals in Aulis hergestellt: kaˆ tÒq' ¹gemën Ð pršsbuj neîn 'Acai kîn, m£ntin oÜtina yšgwn ™mpa…oij ttÚcaisi sumpnšwn, eât' ¢plo…v ktl. (184-88) kaˆ tÒq' leitet eine Exemplifizierung der eben vorgetragenen allgemeinen Lehre ein, den konkreten Einzelfall („Und so denn auch hat der ältere An- 65 Sh. unten S.455-57, wo wir einen rezeptionsästhetischen Lösungsvorschlag erbringen. <?page no="316"?> Agamemnon 302 führer damals …“). Einsichtig wird der Konnex zum Hymnos vor allem durch die Beibehaltung der metrischen Form: Durch das Lekythion wird die Passage vv.184-91 (Agamemnons Involvierung aufgrund der Windstille in Aulis) zur Antistrophe des dritten Abschnittes des Zeus-Hymnos (176-83), der zentralen p£qei-m£qoj- Strophe - dieser schon rein formal überdeutlich erkennbare enge Anschluss, ja diese Fortsetzung macht die ganze Passage zu einem guten Beispiel für die spezifische Transformation und Integration einer kultischen Gesangsform aus der Lebenswelt in die Kunstform der Tragödie. 66 Und mit einem Male ist der Zuschauer wieder in der verfahrenen Situation in Aulis: Kalchas hat - natürlich - Recht. Im Ablauf dieser vom Chor dargebotenen Miniaturtragödie ist also der Zeus-Hymnos als eine typisch chorische Reaktion auf ein krisenhaftes Stadium des (hier erzählten) Plots gesungen worden. Nach dieser - im Übrigen ja auch die Spannung erhöhenden - Unterbrechung der Handlung nach Art eines Chorliedes entwickelt sich das Geschehen wieder weiter. 67 Es stellt sich nun für den Zuschauer die Frage nach dem Verhältnis der über Agamemnon „hereinbrechenden Schicksalsschläge“ (187) zur positiven Doktrin des Zeus-Hymnos. 2) Geradezu provozierend explizit offenbart sich für den Zuschauer eine entsprechende Verbindung zwischen dem Hymnos und Agamemnon durch die spezifische Gestaltung, die der Chor bei der Schilderung der Entscheidung Agamemnons und vor allem bei seiner eigenen Bewertung vornimmt, denn hier liegen starke wörtliche Responsionen zum Hymnos vor. Auf die eingetretene Windstille, die im Rahmen des aulischen Miniaturdramas eine regelrechte Krankheit über die Heeresgemeinschaft der Atriden bringt und von Agamemnon das in der Konsequenz seine Situation noch verschlimmernde mÁcar (199) erfordert, folgt eine vom Chor ‚in Szene gesetzte’ Entscheidungsrede Agamemnons. Dessen tragische Zwangslage ( t… tînd' ¥neu kakîn; 211), welche den Zuschauer zunächst durchaus in eine sympathetische Haltung bringt, wird in der Forschung heftig diskutiert. 68 Für uns soll hierbei vor allem wichtig sein, dass die Entscheidung gegen das Leben der Tochter und für die Gemeinschaft vom Affekt diktiert ist: 66 Sh. oben S.60 Anm.133. 67 Die Wiederaufnahme der Erzählung eines negativen Leidenszustandes nach einem zur Hilfe vorgebrachten Gebet sieht C LINTON (1979) bei Homer vorgeprägt: Hom.Il. 16,514- 27 (Glaukos’ eigene Not); 16,233-48 (Achill für Patroklos); Od. 2,262-66 (Telemachos); in der Tragödie auch Aisch.Cho. 132-37 (Elektras momentane Stellung) und 246-63 (Orest) und Soph.OT 167-89 (Leiden des Chores und ganz Thebens). 68 Sh. K ÄPPEL (1998) 93-137 für eine umfangreiche Diskussion der bis dato vorliegenden Forschung. Man kann K ÄPPEL Recht geben, wenn er, ganz im Sinne der aischyleischen ‚doppelten Motivation’, für Agamemnon trotz der „konsequente[n] Realisierung eines vorgegebenen patterns, das die Handlung in diese Richtung trieb ... durchaus eine Entscheidungsalternative“ (136) gegeben sieht; so mit Nachdruck auch S ANSONE (1975): „[H]is course of action ... is his own and not one imposed from the outside.“ (32); ganz ähnlich zuletzt F ÖLLINGER (2003) 70f. - H EATH (1987) 19 sieht angesichts des Dilemmas Agamemnons sogar die Möglichkeit von Mitleid („pity“) aufseiten des Rezipienten. <?page no="317"?> Die Parodos - eine lange Geschichte 303 „ ... pausanšmou g¦r qus…aj parqen…ou q' a†matoj Ñrg´ periÒrgwj ™™piqume‹n qšmij. eâ g¦r e‡h. “ (214-17) Der qumÒj bricht hervor und treibt Agamemnon auch hier an - nicht anders hatte der Chor den ganzen Vorgang der Rachehandlung gegen Troja schon v.48 ( ™k qumoà kl£zontej ”Arh ) und v.71 ( Ñrg¦j ¢tene‹j ) expliziert; in der Kampfgier mit inbegriffen ist auch das ganze Heer. 69 Die dermaßen pervertierte qšmij verbindet Agamemnon mit der abschließenden Formel: eâ g¦r e‡h . Mithin glaubt er, nun ein mÁcar gefunden zu haben. Tatsächlich aber verschärft dieses (Heil-)Mittel die Situation beträchtlich: Die Problematik, auf diesem Wege eine gute Wendung herbeizuführen, erkennt der Chor klar und unterscheidet sie deutlich von seinem eigenen Wunsch nach einem Sieg des Guten ( tÕ d' eâ nik£tw ). Denn auf diese wörtlich zitierte Entscheidungsrede Agamemnons reagiert der Chor, ganz anders als noch bei Kalchas, mit einem selbständigen Kommentar und einer eindeutigen, scharfen Verurteilung: ™peˆ d' ¢n£gkaj œdu lšpadnon frenÕj pnšwn dussebÁ ttropa…an ¥nagnon ¢n…eron, tÒqen tÕ pantÒtolmon f frone‹n metšgnw. brotoÝj qrasÚnei g¦r a„scrÒmhtij t£laina pparakop¦ pprwtop»mwn: œtla d' oân qut¾r genšsqai qugatrÕj, gunaikopo…nwn polšmwn ¢rwg£n kaˆ protšleia naîn. (218-27) Ein Vergleich mit dem Zeus-Hymnos liefert eindeutige Responsionen im Vokabular: frenÒj ( 219) zu frenîn (175); frone‹n (221) zu frone‹n (176); brotoÝj qrasÚnei (221) zu tÕn frone‹n brotoÝj Ðdèsanta (176) und auch qr£sei brÚwn (169); prwtop»mwn (223) zu mnhsip»mwn (180). 70 Einschlägig 69 Die Lesart von W , ™piqume‹n , fügt sich somit vorzüglich in den Sinngehalt der Stelle ein, zumal das Fehlen eines expliziten Subjekts einen Teil der Verantwortung auf das Heer abzuschieben scheint (vgl. F RAENKEL (1962) 126), wenn man nicht gleich mit K ÄPPEL (1998) 119 Anm.188 ™piqume‹ qšmij unpersönlich faßt. W EST (1990) 178-81 interpungiert nach periÒrgwj und konjiziert dann etwas frei ¢pÕ d' aÙd´ , womit die Qšmij (Majuskel) in Agamemnons Augen seine Entscheidung ‚verbietet’; Ñrg´ sei nicht Dativ Singular, sondern Verbum mit dem Subjekt xummac…a aus v.213: Allein das Heer würde also nach dem Opfer verlangen. Aber so würde Agamemnon zu einem bloßen Erfüllungsgehilfen äußerer Kräfte. 70 Diese deutlichen Responsionen werden in ihrer Konkretheit von der Forschung, auch wenn Agamemnon als Bezugsfigur des Zeus-Hymnos genommen wird, merkwürdig wenig beachtet. Zuerst hat N EITZEL (1978) auf den engen Zusammenhang hingewiesen. Allerdings geht N EITZEL dann in eine ganz eigene Richtung der Interpretation: Zeus handele durch Artemis, deren Gegenwinde und Forderung nach der Opferung <?page no="318"?> Agamemnon 304 auch der Rückverweis auf den Hymnos durch die Vorstellung der örtlichen Aberration ( tropa…a ) und des „Verschlagens“ ( parakop£ , das dann auch „Wahnsinn“ meint). Denn im Hymnos ist das richtige frone‹n auf einem von Zeus abgesteckten, eng limitierten Weg ( Ðdèsanta , 176f.) angesiedelt. Mit der Attribuierung prwtop»mwn , „zuerst Schaden bringend“, markiert der Chor zudem die Gefahr weiterer Verfehlungen. Ganz offensichtlich unterliegt Agamemnons Entscheidung dem Mechanismus der Ate und ist ein Akt der Hybris. Wie bei der nÒsoj frenîn des Xerxes wird hier eine mentale Krankheit aufgrund der Entscheidung für Ate diagnostiziert. Agamemnon „atmet den Wechselwind seines Geistes“ (219): Die Lebendigkeit und Vitalität, die hier evoziert wird, zeigt an, dass dieser Ablauf kein Zurück mehr erlaubt. Und allein schon dadurch, dass Agamemnon Subjekt zu pnšwn (im Übrigen eine Kohärenz stiftende Aufnahme von sumpnšwn in v.187) ist, dürfte sich seine persönliche Verantwortung für eine freie Entscheidung offenbaren. Die Parallele zum Handeln von Xerxes ist auffallend. Denn auch in der Parodos der Perser wird der Vorgang des Hereinfallens auf die Ate in einer zeitlichen Dimension zwischen einem tÕ prîton (Pers. 97) und einem tÒqen (99) aufgespannt. Bei Agamemnon übt Ate (hinter der offensichtlich im Wesentlichen Artemis steht, vgl. 201f.) ihren hinterlistigen Einfluss dahingehend aus, dass die Opferung als das Angebot eines mÁcar erscheint, welches im irrationalen Affekt die Gier nach dem Blut zur qšmij werden lässt. Die Vorspiegelung einer Lösung der Situation entspricht dem potisa…nein und par£gein (Pers. 98), also der Stufe des tÕ prîton . Weil Agamemnon diese Lösung nahe sieht, sagt er auch: eâ g¦r e‡h. Das an beiden Stellen in den Persern und im Agamemnon und sonst im erhaltenen Aischylos nicht mehr zu findende tÒqen bezeichnet den eigentlichen Beginn der Ate als falsches frone‹n , vor allem aber auch - von der Perser-Stelle ausgehend - die Unmöglichkeit, den unweigerlich negativen Folgen zu entkommen, da durch ein wie auch immer geartetes p£scein der Täter bestraft wird. Darauf bezieht sich auch das vom Chor genannte „Joch der Notwendigkeit“, das das unabänderliche ‚Abspulen’ des Programms der Ate n a c h der Entscheidung des Menschen für sie ( œdu - „schlüpfte hinein“) meint, wenn er also wie Pers. 99 schon in ihrem Netz gefangen ist. 71 Der von der Ate Betörte überschreitet den Bereich des Natürlichen: War es bei Xerxes eine konkrete Grenzüberschreitung nach Westen über das Meer hin, so zeigt im Agamemnon das Löwengleichnis (717-36), dass das eigenmächtige Importieren des Un- „Entscheidungshilfen“ seien, „mit deren Hilfe Zeus und Artemis den Sterblichen vor Hybris und dem ihr folgenden Leid bewahren möchten“ (412). Andernfalls würde der Mensch - was auch bei Agamemnon zutreffe - „durch Leid zur Einsicht gezwungen“ (415). Vgl. jetzt auch, allerdings auf das Sprachliche beschränkt, W ILLINK (2004) 49-54. 71 Die Bedeutung von ¢n£gkh hier ist Gegenstand einiger Diskussion (einen Überblick gibt K ÄPPEL (1998) 123-25), doch hat S NELL (1928) wohl schon den Kern des Richtigen getroffen: „Mit der Entscheidung ist er unter die Notwendigkeit getreten - und der Notwendigkeit verfallen.“ (130). Es geht also um die F o l g e n aufgrund der freien Entscheidung: „It is by his decision that he takes on the yoke-strap of necessity and loses his freedom.“ (W INNINGTON -I NGRAM (1983) 83). - Für die Verbindung von ¢n£gkh und der durch die Vorsilbe para ausgedrückten Verstandesverrückung vgl. auch Bakchyl. 11(10) 44-46 t¦j ™fÒbhsen ... “Hra ... paraplÁgi fršnaj karter´ zeÚxas' ¢n£gkv . <?page no="319"?> Die Parodos - eine lange Geschichte 305 natürlich-Wilden im Desaster endet (wozu unten, S.331-33). Allerdings sieht Agamemnon durchaus das Widernatürliche seiner Entscheidung, wie seine Worte mia…nwn ... pšlaj bwmoà (209-11) anzeigen: Dieses Wissen um das Richtige, dem dann doch die höchst leichtfertige Entscheidung für das Falsche folgt, hier sogar mit der Qualifizierung, dies sei qšmij , wird sich auch in der Stichomythie mit Klytaimestra offenbaren (sh. unten, S.349). Die vom Chor nochmals deutlich kritisierte Unverhältnismäßigkeit der Mittel ( gunaikopo…nwn / polšmwn ¢rwg£n ) zeigt die hybride Übersteigerung von Agamemnons leidenschaftlichem, mithin vom Affekt diktierten Anspruch, der ihn schon anfangs aus dem qumÒj heraus „Ares“ hat rufen lassen. Dem gegenüber zeigt Pers. 766f. die Möglichkeit einer Beherrschung des qumÒj - Dareios vom Sohn des Medos: fršnej g¦r aÙtoà qumÕn òakostrÒfoun . Ein wesentliches Kennzeichen der Ate ist Peitho, wie das I. Stasimon ausführt, wo Peitho das Kind der Ate ist (385-87). 72 Wenn Agamemnon gleich am Anfang seiner Entscheidungsrede das Verbum piqšsqai (206) verwendet, so dürfte dieses „gehorchen“ nicht nur seine Bündnisverpflichtung bezeichnen, sondern, im unmittelbaren Anschluss an den von Kalchas vorgebrachten ‚Vorschlag’ der Artemis (198-201), offensichtlich auch ein weitergehendes Gehorsam der Göttin gegenüber - allein ihre Forderung lässt Agamemnon nämlich das Bündnis aufrechterhalten. Als vorläufiges Fazit ist zu ziehen, dass das sowohl im Hymnos als auch in der ‚Bewertungs-Strophe’ benutzte spezifische Vokabular rund um frone‹n den Zuschauer dazu bringt, einen entsprechenden Zusammenhang herzustellen - ebenso wie die in v.184 mit kaˆ tÒq' beginnende Exemplifizierung (deutlich hörbar wegen der Beibehaltung des Metrums). Eine explizite Interpretation des Einzelfalles Agamemnon mit Blick auf die Theorie des Hymnos nimmt der Chor nun allerdings nicht vor. Stünde der Zeus-Hymnos n a c h dem Bericht über die Entscheidung Agamemnons, nämlich nach v.217, wie D AWE vorgeschlagen hat, 73 dann könnte man (ohne dass dies D AWE nun so weiterentwickelt) von einer optimistischen Weltsicht des Chores im Zusammenhang mit Agamemnon sprechen: Auf die geschilderte Verirrung im frone‹n erfolgte eine direkte Reaktion des Chores in Form des Hymnos, und der Chor äußerte die Hoffnung, dass Agamemnon durch das p£qei m£qoj auf den richtigen Weg des swfrone‹n gebracht würde - eine c£rij b…aioj , zwar unausweichlich mit Leid verbunden, aber doch eine fortwährende Konstanz des gesunden Denkens gewährleistend, wie es für einen guten König, von dessen Heil die Gemeinschaft abhängig ist, eben notwendig ist. Damit wäre das vom Chor befürchtete, in irgendeiner unbestimmten Weise mit den von Kalchas prophezeiten mÒrsima zusammenhängende Leid für Agamemnon in eine positive Weltordnung integriert und 72 Diese Verse bezieht F RAENKEL , so wollen wir schon im Vorgriff anführen, zu Recht auf „the situation of Agamemnon as it is shown in his words 206ff. and subsequently explained (217ff.).“ (201). Auch B ERGSON (1974) 192 und Z IERL (1994) 159f. Anm.39 sehen in Aulis Ate am Werk. 73 Sh. D AWE (1966) und nochmals (1999). Das Hauptargument von D AWE , Agamemnon habe einen „point of ¢mhcan…a “ erreicht, woraufhin mit dem Hymnos dann doch eine Art Sinnhaftigkeit produziert würde, ist insofern hinfällig, als sich Agamemnon mit v.217 schon entschieden hat - während die tatsächliche ¢mhcan…a beim Sänger des Hymnos, dem Chor also, anzusetzen ist. Vgl. B ERGSON (1974) 189-91. <?page no="320"?> Agamemnon 306 aufgefangen. Dieses Leid bestünde, so kann gemutmaßt werden, im langen Krieg um Troja, in der gefahrvollen Rückkehr, aber auch, gemäß der Aussage im Zeus-Hymnos, in dem nachts fortwährend nagenden schlechten Gewissen wegen der Opferung der eigenen Tochter. Für das m£qoj und das swfrone‹n wäre ein Überleben Agamemnons vorausgesetzt, Bedingung für die Heimkehr des Königs, die dann das unnatürliche und unheimliche ‚Weiberregiment’ Klytaimestras und ihres Liebhabers Aigisthos ablöste. 74 Aber die Entscheidungsrede Agamemnons, seine affektive Sinnverwirrung, die schreckliche Tat und die scharfe Verurteilung des Chores stehen n a c h dem Zeus-Hymnos. Insofern ist zunächst einmal gerade umgekehrt eine Bewegung hin zum Negativen anzunehmen. Der Hymnos dient, wie bemerkt, offenkundig dazu, nach dem Adler-Omen und nach Kalchas’ Prophezeiung über die drohenden mÒrsima eine affektive Beruhigung durch die Orientierung an einer stabilen, berechenbaren Weltordnung zu erzielen: Es wird das theoretische Modell einer zum swfrone‹n führenden ‚Heilung’ aufgestellt, das Zur-Einsicht-Kommen in die eigene Verfehlung. Dieses Modell dient nun, so meinen wir, für den Zuschauer als R e z e p ti o n s v o r g a b e ante eventum, als ein B e u r t e il u n g s k r i t e r i u m für Agamemnons Verhalten. Es wird zunächst eine Art Diskussionsvorlage in den Raum gestellt, ehe der Einzelfall Agamemnons besprochen wird. Der ¹gemèn Agamemnon aber, so geht es mit v.184 nahtlos weiter, verlässt dann den Weg des swfrone‹n , stellt sich also im Zuge seiner Wahnsinnsentscheidung auf gerade diejenige Stufe, die eine ‚Heilung’ erforderlich macht. Natürlich kann man jetzt aus der Retrospektive sagen, dass der Chor beim Singen des Zeus-Hymnos bereits an Agamemnon und dessen Fehlverhalten denkt, welches einer entsprechenden Heilung bedarf; und dass dies noch über die ominöse Prophezeiung des Kalchas hinaus die Sorge des Chores begründet hat. Doch wichtiger als dieser psychologische Rückschluss ist das Faktum, d a s s das Konzept des p£qei m£qoj überhaupt evoziert wird. Im weiteren Fortgang stehen sich nun aber konstruierte Weltordnung und konkrete Realität gegenüber. Mit v.192, wo der Bericht über die ‚Krank- 74 Eine solchermaßen rein optimistische Ausdeutung hat C LINTON (1979) vorgenommen und hierbei zu Recht den kategorialen Unterschied des p£qei m£qoj zum dr£santi paqe‹n betont (3). Der Wunsch des Chores wird von C LINTON dahingehend ausgelegt „that Zeus causes Agamemnon to learn from whatever suffering will come - which of course implies that they do not want Agamemnon to suffer death“ (11). Denn hier, noch vor dem Bericht über die Opferung, gelte: „What they are about to tell is the most painful part, a dilemma for which Zeus’s help is urgently needed in the form of p£qei m£qoj . The exact form that they hope this help will take they cannot foresee but they clearly hope that it will be a m£qoj and a c£rij, with the implication that it will allow Agamemnon to be spared and his house saved.“ (14). Allerdings ist die Furcht des Chores wohl kaum schon konkret auf den Geschlechterfluch, der ein „fatal result“ (10) erwarten lasse, gerichtet. - Für eine optimistische Sichtweise vgl. auch B OLLACK (1981): „Garant de l’ordre pacifié et non contradictoire, Zeus se présente alors comme le seul terme capable de contrebalancer l’angoisse suscitée par la contradiction interne aux choses.“ (329). <?page no="321"?> Die Parodos - eine lange Geschichte 307 heit’ des Heeres weitergeht, wechselt der Chor unvermittelt in ein ganz überwiegend von Iamben bestimmtes Metrum, das bis zum Ende der Parodos durchgehalten wird. Dieser Wechsel im Ausdruck geht einher mit einem Abrücken von der positiven Theologie des Zeus-Hymnos: Zusammen mit der immer schlimmer werdenden Ereigniskette von der Krankheit der Gemeinschaft hin zur Entscheidung Agamemnons, mit einem eindeutig negativen Urteil des Chores, und dann hin zu der fast sekundengenau dargestellten Vorbereitung der brutalen Schlachtung der jungen, hilflosen Tochter wie einer Ziege sieht und hört (für eine auch akustische Inszenierung vgl. 242-47) der Zuschauer, wie der Chor erneut von der Eigendynamik der von ihm selbst berichteten Geschehnisse überrollt wird - ganz wie im Zuge des Berichts über das Adler-Omen und dessen Deutung durch Kalchas: Dort hatte der Chor höchst selbstbewusst mit der Bekundung seiner göttlichen Autorität im Singen über das anfangs scheinbar „glückverheißende Zeichen bei der Ausfahrt“ (104) begonnen und war dann wieder in große Unsicherheit (oder bestenfalls Ambivalenz) zurückgefallen; hier beginnt der Chor mit dem Singen eines den eigenen Affekt beruhigenden Hymnos auf Zeus und wird dann erneut ins Negative hinabgezogen. Der Zuschauer muss jeweils miterleben, wie eine vom negativen Affekt ausgehende Reaktion, welche einen singenden, sich am Göttlichen orientierenden corÒj auf sicheren Boden zurückführen soll, von der Realität wieder überrollt wird und zurück ins Instabile und Unberechenbare führt. Dieser geradezu zwangsmäßige Abstieg vom erwünschten Positiven in das befürchtete Negative war als Rezeptionsvorgabe schon im Prolog vorgeführt worden, wo die im allerersten Vers der Trilogie ersehnte ¢pallag¾ pÒnwn nicht wirklich funktioniert hat. Und um diesen beunruhigenden Wechsel vorzuführen, steht der für sich selbst genommen ja positive Zeus-Hymnos v o r der katastrophalen Fehlentscheidung Agamemnons, nicht danach. Nach dem Bericht über die ‚Wahnsinnstat’ Agamemnons könnte der Chor freilich in einer neuen Aufwärtsbewegung nochmals seinen Wunsch nach dem Sieg des Guten kundtun. Tatsächlich aber verfällt er - ein drittes Mal, nach Klytaimestras Verweigerung und nach Kalchas’ Prophezeiung - in neue Ratlosigkeit. t¦ d' œnqen oÜt' e don oÜt' ™nnšpw: tšcnai d K£lcantoj oÙk ¥krantoi. D…ka d to‹j m n paqoàsin maqe‹n ™pirršpei: tÕ mšllon <d'> ™peˆ gšnoit' ¨n kklÚoij: prÕ cairštw: ‡son d tù prostšnein: torÕn g¦r ¼xei xÚnorqron aÙga‹j. (248-54) Der erste Vers bezieht sich zunächst auf die schreckliche Opferung selbst - gleich als ob der Chor durch eine Schilderung des finalen Stadiums nicht auch noch seinerseits den Teufel an die Wand malen möchte, nachdem Agamemnon befohlen hat, Iphigenie zu knebeln, um einen Fluch gegen sein <?page no="322"?> Agamemnon 308 Königshaus zu verhindern (235-38). Diese erzwungene Sprachlosigkeit wird in einen starken Kontrast gesetzt zum vorherigen Singen des Paians durch Iphigenie immer nach dem einheitsstiftenden Mahl im Königspalast (243- 47): Wenn der Chor mit dieser auf die song-and-dance culture rekurrierenden Feststellung eines vorherigen h e il e n Zustandes des Hauses Agamemnons ebenso wie der Polis Argos den narrativen Teil der Parodos abschließt, so vervollständigt sich für den Zuschauer der Eindruck eines im Moment ‚kranken’ Gesamtzustandes - nachdem der Appell des Chores an Klytaimestra, zum Paion zu werden, gescheitert ist, nachdem in Aulis das Finden eines vermeintlichen mÁcar durch Agamemnon dessen Lage katastrophal verschärft hat, und nachdem die optimistische Lehre des Zeus-Hymnos mit der Realität nicht so leicht zu harmonieren, sondern von ihr gar konterkariert zu werden schien. In weiterer Konsequenz ist mit dem, „was hierauf“ ( t¦ d' œnqen ) folgt(e) und was der Chor weder sehen konnte noch aussprechen kann - und will? - aber auch alles gemeint, was noch nach Aulis geschehen ist, und was fortan geschehen kann, wovon aber jeweils der Chor kein sicheres Wissen hat. 75 Immerhin ist für ihn sicher, dass „die Seherkünste des Kalchas nicht ohne Vollendung sind“ - einerseits in Bezug auf die ominösen mÒrsima , andererseits aber auch auf die Eroberung Trojas und vielleicht sogar noch mehr Positives ( xÝn meg£loij ¢gaqo‹j ), so dass zumindest hier kein Übergewicht eines nur sinistren Zukunftsbezuges vorliegt. 76 Aber das ist nur e i n Vers und e i n e Aussage. Es folgt ein Rückverweis auf den Zeus-Hymnos: „Dike wägt denen, die leiden, ein Lernen zu.“ An dieser für das Verständnis des ganzen Gedanken- und Geschehensverlaufes und dessen Bewertung durch den Chor unbedingt notwendigen Stelle schließt sich für den Zuschauer der Kreis zwischen dem Hymnos und Agamemnon, obwohl, ganz in Übereinstimmung mit dem Grundtenor des Chores, Augen und Mund zu schließen (oder aus Unwissen schließen zu m ü s s e n ), erneut keine wirklich konkrete Aussage getroffen wird: Einerseits könnte man hier den Wunsch nach einer positiven Wendung der Dinge im Sinne des Zeus-Hymnos und des tÕ d' eâ nik£tw sehen (wobei allerdings Agamemnon nicht genannt wird). Andererseits ist nun aber plötzlich von Dike die Rede, die im Hymnos gar nicht vorgekommen war, wohingegen Zeus verschwunden ist. Der durch ™pirršpei angezeigte Gedanke einer Gleichgewichtsstörung lässt das Negative der ganzen Situation deutlicher 75 D OVER (1973) 62 sieht hier zu Recht eine große temporale Spannweite, die von der tatsächlichen Opferung über das Ende des schlechten Wetters hin zum Fall Trojas und zu den dunkel angedeuteten Konsequenzen für Agamemnon reicht. Etwas zu deterministisch F RAENKEL (1962) 141: „ ... and also the inevitable consequences of the sin which hound the sinner on to punishment[.]“ (141). 76 Vgl. - wenngleich sehr definitiv - D ENNISTON / P AGE (1957): „Here they confine themselves to the safe general statement that Calchas does not make mistakes: he said that Troy would fall (126ff.), and the Chorus is confident that the Trojans are now getting their deserts.“ (91). <?page no="323"?> Die Parodos - eine lange Geschichte 309 hervortreten, als dies im Zeus-Hymnos (wo nur implizit ein vorheriges Abirren des frone‹n vorausgesetzt ist) geschehen ist. Wenn Agamemnons Hybris v i e ll e i c h t durch Dike bestraft wird, k ö n n t e diese Zurechtrückung ein maqe‹n beinhalten - oder auch nicht, denn bezeichnenderweise ist vom swfrone‹n in Gestalt einer dauerhaften Verhaltensänderung keine Rede mehr. Die Orientierung an der Erfahrungstatsache vom ausgleichenden Wirken der Dike ist so sicher wieder nicht. Das Konzept des p£qei m£qoj steht aber immerhin noch im Raum. Keinesfalls ist aus den Worten des Chores hier ein sicherer Vorverweis auf Agamemnons Ermordung herauszulesen: maqe‹n setzt ein Überleben derjenigen Person voraus, der ein paqe‹n widerfährt, 77 ebenso wie im Zeus-Hymnos das swfrone‹n nur der, der trotz seines Leides (weiter-)lebt, lernen kann. Und zweifellos lässt sich mit den Worten des Hymnos sagen, dass Agamemnon zur Gruppe der par' ¤kontaj gehört, zu denen, die sich dem gesunden Denken verschlossen haben und deswegen - ganz wie Prometheus! - gewaltsam auf den richtigen Weg zurückgeführt werden müssen. 78 Insofern beinhaltet die Reminiszenz an den Hymnos hier in v.250 durchaus eine, wenn auch nur vage, Hoffnung auf eine mentale Heilung Agamemnons. Auch wenn der Hymnos äußerlich einem „optimistische[n] Trostargument“ und „kindlich-treuherzigen Theodizeegedanken einer harmonischen Verbindung von göttlicher Gerechtigkeit ... und göttlicher Güte“ 79 gleichen mag, so macht der Chor mit dieser Bezugnahme am Ende dem Zuschauer doch ein neuerliches Deutungsangebot, dessen Offenheit aber einen gewissen Spielraum bereithält, in welchem der Chor seinen Affekt der grüblerischen Unruhe auf den Zuschauer zu übertragen vermag. Doch stehen hier am Ende der Parodos Kalchas, Zeus, Dike letztlich ohne klare Beziehung gegenüber. 80 Die häufige Verwendung von dš , das fast jeden der Verse einleitet (248, 249, 250, 251, 253), markiert die Unsicherheit des Chores gegenüber der Realität und deren Ausdeutung. Denn durch diese sprachliche Gestaltung wird immer ein Vers letztlich inkohärent an den anderen gereiht, was zu einer bloßen Evokation verschiedener Aussagen führt. 81 Für den Zuschauer erzeugen die jeweiligen Feststellungen eine ganze Palette von Rezeptionsvorgaben; definitiv aber ist hier kaum etwas. 77 Zutreffend B OLLACK (1981): „A ce stade de la pièce, le pathos que se représente le Choeur ne peut encore être identifié avec le châtiment particulier que va subir Agamemnon[.]“ (245f.). D ENNISTON / P AGE (1957) haben durchaus recht, wenn sie - in allgemeiner Formulierung - „the danger which impends over Agamemnon on his return“ (83) als Grund des Besorgnis des Chores zu Beginn des Hymnos sehen. 78 In diesem Sinne D ÖRRIE (1956) 324-27, zum Prometheus 327f. Agamemnon und Prometheus seien beide Øbrista… , hinzufügen dürfen wird man Xerxes, der ja durchaus zur Besinnung kommt. 79 N ICOLAI (1988) 30f. 80 Auch noch Moira (130) und die Erinnyen (59) könnte man hier subsumieren. 81 Das einzige mšn in v.250 kann man mit F RAENKEL (1962) 142 als „emphatic“ deuten; es steht ganz bewusst im ‚Dike-Vers’ und betont hierbei das offensichtlich zu erwartende paqe‹n . <?page no="324"?> Agamemnon 310 Schließlich bleibt nur wieder das hilflose Verharren in der Gegenwart - die Zukunft erfährt man erst dann, wenn sie eintritt (dann allerdings, so meint zumindest der Chor, hell und klar wie das Morgenlicht); ein vorheriges Jammern ist sinnlos. Vor allem in klÚoij liegt für den Zuschauer ein Hinweis auf seine eigene Situation beim Betrachten des Plots dieser Tragödie, deren Telos so oder so eintreten wird - aber w i e , das ist die Frage. Am Ende bleibt nur die Wiederholung des vagen Wunsches nach einem Sieg des Guten: pšloito d' oân t¢pˆ toÚtoisin eâ pr©xij ktl. (255). Nach den Reden des Kalchas hatte sich der Chor jeweils zurückgezogen auf eine dreifache Ritualformel; hier, nach dem Hymnos und nach seiner eigenen, Agamemnon verurteilenden Forterzählung, werden dem Zuschauer immerhin verschiedene Versatzstücke zur Entschlüsselung des tragischen Geschehens angeboten. Die Verweigerung des Jammerns leitet zugleich vom emotionalen lyrischen Singen des Chores über zur gesprochenen Rhesis. 4. Alle Möglichkeiten offen: Information, drohende Ate, Menelaos 4.1 Informationsvergabe durch den lÒgoj Klytaimestras Der Zuschauer mag ahnen, dass die Aussage des Chores, auch Klytaimestra wolle einen guten Handlungsverlauf (255-57), voller Ambivalenz ist. War beim ‚inoffiziellen’ Singen des Chores ein Unbehagen gegenüber der Vertreterin Agamemnons deutlich geworden, so bekommt der Zuschauer nun vorgeführt, wie sich diese Gemeinschaft ‚offiziell’ gegenüber dem Alleinherrschaftsanspruch ( monÒfrouron ›rkoj , 257; kr£toj , 258) verhält. Die Grundstruktur im Verhältnis zwischen Chor und weiblicher Königin gleicht derjenigen in den Persern: Nach der von Hoffnung und Sorge erfüllten Parodos wird der Plot durch Atossa, gÁj ¥nassa tÁsde (173), durch neue Informationen in Gestalt ihres Traumes vorangetrieben; die Katastrophe bricht dann im Botenbericht von außen herein. Herrscherin und Chor sind eng in ihrer gemeinsamen Sorge um Persien und Xerxes vereint. Zwar gibt es auch in den Persern ein - für die Rechenschaftsablage des Xerxes grundlegendes - inoffizielles herrschaftskritisches Singen (548-57, siehe oben S.128ff.), doch ist der Chor durchweg ein unbedingt vertrauenswürdiges Beratergremium (170-75). Im Agamemnon aber liegt die alleinige Macht über die Nachrichtenlage in der Polis in den Händen Klytaimestras. Die beiden möglichen Alternativen der gegenwärtigen Situation ( e‡te kednÕn e‡te m» , 261) hatte der Chor affektiv seit Beginn internalisiert. Äußerlich gesehen wiederholt er beim so lange ersehnten Auftritt Klytaimestras seine Anfrage von vv.97-103. Zwar hatte durch den Prolog ein Wissensvorsprung aufseiten des Zuschauers gegenüber dem Chor bestanden, doch kann man nach der Parodos mit ihren vielfältigen, verschlungenen Informationen, die verschränkt waren mit einem Höchstmaß an emotionaler Erregung, nun von einer gemeinsamen, auf die <?page no="325"?> Alle Möglichkeiten offen 311 konkrete Fortsetzung des Plots fixierten spannungsgeladenen Erwartungshaltung ausgehen - nicht zuletzt, weil nun die Nachrichten unmittelbar durch den lÒgoj vermittelt werden sollen: klÚoim' ¨n eÜfrwn (263) könnte auch der Zuschauer von sich selbst sagen. Auch Klytaimestra bezieht sich explizit auf diese gemeinsame Ebene der Wahrnehmung: peÚsV d c£rma me‹zon ™lp…doj klue‹n (266). Die ambivalente Reaktion des Chores auf die Nachricht von der Eroberung Trojas kann der Zuschauer vollauf nachvollziehen: Der spontane Affekt, der auch physiologisch greifbar ist (aufrichtige car£ rührt zu Tränen, was Ausweis des eâ frone‹n ist), folgt gleich die misstrauische Frage nach dem pistÒn und dem tškmar (270-72). Damit wird eine erste Rhesis Klytaimestras (281-316) in Gang gesetzt, die nun die Fackelpost erläutert. Mit dem plastisch vor Augen gestellten Näherrücken der frohen Botschaft durch die Lichtzeichen tritt genau das ein, worauf sich als Minimallösung der Chor zuletzt zurückgezogen hatte: Das zwangsläufige Hereinbrechen neuer Ereignisse, so klar wie das Morgenlicht. Zum Vorschein kommt aber auch, gemäß dem Wunsch von Chor und Zuschauer nach weiterer Information ( lÒgouj d' ¢koàsai ... / qšloim' ¥n, æj lšgoij p£lin (318f.)), sogleich wieder der problematische Aspekt der Angelegenheit in einer zweiten Rhesis Klytaimestras (320-49). Einerseits muss die Lage der besiegten Trojaner, aufgezeigt vor allem an den pa‹dej , zu denken geben; andererseits unterliegen die Sieger, endlich vom pÒnoj der Schlacht befreit, der typischen Gefährdung durch Hybris: Nach Tempelschändung und -plünderung könnte die Heimfahrt über See zur Strafe werden (326-47). Sollten sie, so Klytaimestra, keine Verbrechen begehen, so würde auch „das Leid derer, die umgekommen sind“, ruhen: œrwj d m» tij prÒteron ™mp…ptV stratù porqe‹n t¦ m¾ cr», kšrde