«Comment savoir? Comment dire ? »
Metafiktionale, metanarrative und metahistoriographische Diskurse über Referenz und Repräsentation in Claude Simons Romanen 'La Route des Flandres' (1960), 'Triptyque' (1973) und 'Les Géorgiques' (198
0318
2009
978-3-8233-7485-5
978-3-8233-6485-6
Gunter Narr Verlag
Sabine Zufelde
Das Werk des Nobelpreisträgers Claude Simon ist geprägt durch die Referenz auf die äußere, vor allem aber auf die eigene Realität sowie durch die Repräsentation dieser Realität mit den Mitteln fiktionaler Erzählliteratur. Die vorliegende Arbeit untersucht in ausgewählten Romanen Simons die metafiktionalen, metanarrativen und metahistoriographischen Diskurse - die selbstbezüglichen Kommentare des Textes zur Erfundenheit der erzählten Geschichte und der diese hervorbringenden Erzählerrede, zum eigenen Erzählen sowie zu den mit dem Schreiben von Geschichte verbundenen epistemologischen und narratologischen Problemen.
<?page no="0"?> Gunter Narr Verlag Tübingen « Comment savoir? » - « Comment dire? » Metafiktionale, metanarrative und metahistoriographische Diskurse über Referenz und Repräsentation in Claude Simons Romanen La Route des Flandres (1960), Triptyque (1973) und Les Géorgiques (1981) von Sabine Zufelde <?page no="1"?> études littéraires françaises · 74 <?page no="2"?> études littéraires françaises collection fondée par Wolfgang Leiner directeur: Rainer Zaiser <?page no="3"?> « Comment savoir? » - « Comment dire? » Metafiktionale, metanarrative und metahistoriographische Diskurse über Referenz und Repräsentation in Claude Simons Romanen La Route des Flandres (1960), Triptyque (1973) und Les Géorgiques (1981) von Sabine Zufelde Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Titelabbildung: Jean Dubuffet, La vie de famille © VG Bild-Kunst, Bonn 2009 (schwarz-weiß Reproduktion) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2009 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 0344-5895 ISBN 978-3-8233-6485-6 <?page no="5"?> Für Rebecca und Gabriel <?page no="6"?> 6 Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2007 von der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenommen. Die Schrift wurde erst durch die fachliche Kritik und die hilfreichen Ratschläge all derer möglich, die ihren Entstehungsprozess mit Geduld und Interesse begleitet haben. So gilt mein besonderer Dank meinem Doktorvater Prof. Hans-Günter Funke, der mir nicht nur in zahlreichen anregenden und kritischen Gesprächen wertvolle Hilfestellungen geleistet hat, sondern mir darüber hinaus die Möglichkeit eröffnet hat, die Arbeit als seine wissenschaftliche Mitarbeiterin in den Jahren zwischen 2002 und 2005 wesentlich voranzubringen. Herzlich danken möchte ich darüber hinaus Prof. Wilhelm Graeber für die Übernahme des Korreferats sowie Prof. Frank Rexroth, der die Arbeit als Drittgutachter kritisch gelesen hat. Prof. Rainer Zaiser danke ich herzlich für die Aufnahme der Arbeit in die von ihm herausgegebene Reihe Études littéraires françaises und für das große Interesse, das er meiner Studie entgegengebracht hat. Fernerhin danke ich Prof. Maria Moog-Grünewald als damaliger Sprecherin für die Bewilligung eines Promotionsstipendiums des von der DFG geförderten Graduiertenkollegs „Pragmatisierung / Entpragmatisierung: Literatur im Spannungsfeld autonomer und heteronomer Bestimmungen“ sowie für ihre konstruktive fachliche Kritik, die der Arbeit wesentliche Impulse gegeben hat. Auch dem Land Niedersachsen danke ich für die Bewilligung eines Promotionsstipendiums nach dem niedersächsischen Graduiertenförderungsgesetz. Bedanken möchte ich mich außerdem bei allen akademischen Lehrern und Kollegen, die mir neue Sichtweisen nicht nur auf die französische Literatur eröffnet haben: Prof. Elisabeth Arend, Dr. Hilke Behrens, Dr. Martin Biermann, Dr. Tanja Hupfeld, Annika Spilker, den Kollegen aus dem Tübinger Graduiertenkolleg und aus dem Doktorandenkolloquium in Göttingen. Besonders dankbar bin ich meinen Eltern, die mich die Welt des Wissens und der Bücher haben entdecken lassen und die an die Vollendung des Projekts geglaubt haben, wenn ich dessen nicht mehr gewiss war. Mein größter Dank gilt jedoch meinem Mann: seine Unterstützung in jeder Hinsicht und sein Zuspruch haben die Arbeit erst Wirklichkeit werden lassen. <?page no="7"?> 7 Alles, was sich bloß der Erinnerung verdankt, hat prinzipiell als falsch zu gelten. Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung Les lieux que nous avons connus n’appartiennent pas qu’au monde de l’espace où nous les situons pour plus de facilité. Ils n’étaient qu’une mince tranche au milieu d’impressions contiguës qui formaient notre vie d’alors ; le souvenir d’une certaine image n’est que le regret d’un certain instant ; et les maisons, les routes, les avenues, sont fugitives, hélas, comme les années. Marcel Proust: Du côté de chez Swann <?page no="9"?> 9 Inhalt Verzeichnis der Siglen ............................................................................. 14 1 Einleitung: Der Nouveau Roman Claude Simons im Spiegel postmoderner Autoreferentialität ..................................... 15 1.1 Das Thema: ‚Referenz’ und ‚Repräsentation’ bei Claude Simon.............................................................................................. 15 1.2 Der Kontext: autoreferentielle Diskurse über Fiktion und Narration im französischen Nouveau Roman und in der Literatur der Spät- und Postmoderne ............................ 21 1.3 Forschungsbericht: ‚Metafiktion’, ‚Metanarration’ und ‚Metahistoriographie’ im Werk Claude Simons ...................... 27 1.4 Ziel und Gang der Untersuchung.............................................. 33 Teil I Theoretische Entwicklung eines neuen Beschreibungsmodells metafiktionalen Erzählens ..................... 37 2 ‚Metafiktion’ und ‚Metanarration’ - Bisherige Definitions- und Typologisierungsansätze........................................................... 37 2.1 R. Jacobsons Kommunikationsmodell und die Konzepte literarischer Autoreflexivität und Metatextualität .................. 38 2.2 ‚Metafiktion’ - Geschichte, Definitionen und Typologisierungen ....................................................................... 47 2.2.1 Geschichte des literarischen Phänomens ‚Metafiktion’ ........................................................................ 47 2.2.2 1970-2006: Geschichte des literaturwissenschaftlichen Begriffs ‚Metafiktion’ ............................................. 50 2.2.3 Drei Typologisierungen metafiktionalen Erzählens: L. Hutcheon, S.E. Lauzen und W. Wolf ..... 67 2.2.4 Sonderformen: historiographische, autobiographische und epistemologische Metafiktion ................... 86 2.3 ‚Metanarration’ - Definitionen und Typologisierungen ........ 94 2.4 Zusammenfassung ....................................................................... 97 <?page no="10"?> 10 3 Ein narratologisches Modell der Metafiktion: ‚Metafiktivität’ und ‚Metafiktionalität’.......................................... 101 3.1 ‚Fiktion’, ‚Fiktionalität’, ‚Fiktivität’ - Definitionen und Signale ............................................................................................ 103 3.1.1 Etymologie .......................................................................... 103 3.1.2 Definitionsansätze: Alltagssprache, Sprachphilosophie, Narratologie ................................................. 105 3.1.3 Textuelle und paratextuelle Fiktionssignale (nach F. Zipfel)............................................................................... 118 3.2 Ein neues Modell der Metafiktion: ‚Metafiktionalität’ und ‚Metafiktivität’ als narratologische Analysekategorien........................................................................ 125 3.2.1 Definitionen......................................................................... 127 3.2.2 Typologie ............................................................................. 130 3.3 Zusammenfassung ....................................................................... 134 Teil II Metafiktion, Metanarration und Metahistoriographie in ausgewählten Texten Claude Simons ........ 135 4 « Comment savoir ? » - Metafiktion und Erkenntnisskepsis in La Route des Flandres (1960) ...................... 135 4.1 Einführung .................................................................................... 135 4.2 Vorbemerkung: ‚Wahrnehmung’ und ‚Erkenntnis’ als zentrale Themen des Romans im Spiegel von Psychologie und Phänomenologie ............................................ 137 4.2.1 ‚Wahrnehmung’ und Wahrnehmungspsychologie ...... 139 4.2.2 ‚Wahrnehmung’ und Gedächtnispsychologie ............... 141 4.2.3 ‚Wahrnehmung’ und Phänomenologie .......................... 145 4.3 Rekonstruktion und Destruktion der Erkenntnis vergangener Wirklichkeit............................................................ 149 4.3.1 Visuelle, auditive, olfaktorische und haptischtaktile Sinneswahrnehmungen als Quellen des individuellen Gedächtnisses ............................................ 150 4.3.2 Schrift- und Bildzeichen als Quellen des kollektiven Gedächtnisses ................................................ 152 <?page no="11"?> 11 4.3.3 Problematisierung der Repräsentationsfunktion von Sinneswahrnehmungen, Sprache sowie Schrift- und Bildzeichen .................................................... 162 4.4 Erkenntnis als Fiktion - Metafiktionale Thematisierung und Inszenierung der Fiktivität und Fiktionalität erinnerter Wirklichkeit ................................................................ 184 4.4.1 „Comment savoir? “ - Georges zwischen Wissen und Nicht-Wissen .............................................................. 186 4.4.2 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung von Fiktivität: Imaginationen, Inventionen und Träume......................................................................... 188 4.4.3 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung von Fiktionalität ......................................... 218 4.5 Zusammenfassung ....................................................................... 240 5 Metafiktion und Metanarration als metapoetischer Diskurs über Repräsentation in Triptyque (1973) ......................... 245 5.1 Einführung .................................................................................... 245 5.2 Die metafiktive Thematisierung und Inszenierung von Nicht-Referenz .............................................................................. 248 5.2.1 Die Kontamination des Realen durch das ‚Imaginäre’: Imaginationen und Modalisationen.......... 248 5.2.2 Die Kontamination ontologischer Ebenen: Metalepsen und fiktionsgenerierende Deskriptionen ........... 254 5.2.3 Die Entwertung der histoire durch Banalität, hypertrophe Deskription und zentrale Ellipsen............ 280 5.2.4 Fremddetermination der histoire durch latente Verweisungssysteme: Motive und mots-carrefour ......... 290 5.3 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung der gescheiterten fiktional-narrativen Repräsentation ........... 296 5.3.1 Die Camera-eye-Erzählinstanz......................................... 297 5.3.2 Die Dekonstruktion linearen Erzählens durch Anachronien und Fragmentierungen ............................. 300 5.4 Metanarration als metapoetischer Kommentar zur Referenz- und Repräsentationsfunktion des Textes ............... 307 <?page no="12"?> 12 5.4.1 Motive als Metaphern für die Poetik des Romans: „la fente“/ „le labyrinthe“/ „le cadre“/ „se déformant sans cesse“ ....................................................... 307 5.4.2 Die ludische Inszenierung der Poetik: das geometrische Problem und das Puzzle........................... 311 5.4.3 Die intermediale Inszenierung der Poetik: Malerei, Photographie und Cineastik............................................. 318 5.5 Zusammenfassung ....................................................................... 325 6 De-/ Rekonstruktion historischen Erzählens: Metafiktion und Metahistoriographie in Les Géorgiques (1981) ...................... 327 6.1 Einführung .................................................................................... 327 6.2 Vorbemerkungen: Geschichte und Historiographie als zentrale Themen des Romans..................................................... 330 6.2.1 Zwei Auffassungen von Geschichte: zyklisches und teleologisches Geschichtsmodell ............................. 331 6.2.2 Die schriftliche Repräsentation vergangener Wirklichkeit: Historischer Roman, Historiographie, Autobiographie und Biographie ...................... 343 6.3 Spuren historiographischer und auto-/ biographischer Diskurse in Les Géorgiques ........................................................... 357 6.3.1 Historikerfiguren................................................................ 358 6.3.2 Das gescheiterte auto-/ biographische Projekt: Die Aporien der Vergangenheitsrepräsentation .................. 389 6.4 Historisches Erzählen als Fiktion: Metafiktionale Diskurse über Fiktivität und Fiktionalität ................................ 412 6.4.1 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung von Fiktivität: Imaginationen und Mythen .......... 413 6.4.2 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung von Fiktionalität........................................................ 442 6.5 Schluss und Ausblick: ‚Historiographische Metafiktion’ als eine alternative Poetik historischen Erzählens .................. 470 7 Zusammenfassung: eine Typologie der Metafiktion im Werk Claude Simons .......................................................................... 475 <?page no="13"?> 13 8 Bibliographie........................................................................................ 485 8.1 Texte von Claude Simon ............................................................. 485 8.2 Andere Texte ................................................................................. 485 8.3 Essays und Interviews von Claude Simon ............................... 485 8.4 Forschungsliteratur zu Claude Simon ...................................... 486 8.5 Forschungsliteratur zur Literaturtheorie, Erzähltheorie und Geschichtstheorie ................................................................. 495 8.6 Lexika, Hilfsmittel ........................................................................ 509 9 Abbildungsverzeichnis ...................................................................... 511 Sachregister ................................................................................................ 512 Anhang: Gemälde und Nachweise ........................................................ 515 <?page no="14"?> 14 Verzeichnis der Siglen Sofern nicht anders ausgewiesen, werden Claude Simons Werke nach folgenden Ausgaben jeweils mit Sigle und Seitenzahl zitiert: CR = La Corde raide. Paris: Sagittaire, 1947. V = Le Vent. Tentative de restitution d’un rétable baroque. Paris: Minuit, 1957. He = L’Herbe. Paris: Minuit, 1958. (= Collection « double » ; 9) RF = La Route des Flandres. Paris: Minuit, 1960. (= Collection « double » ; 8) P = Le Palace. Paris: Minuit, 1962. BPh = La Bataille de Pharsale. Paris: Minuit, 1969. T = Triptyque. Paris: Minuit, 1973. G = Les Géorgiques. Paris: Minuit, 1981. A = L’Acacia. Paris: Minuit, 1989. JP = Le Jardin des Plantes. Paris: Minuit, 1997. Tr = Le Tramway. Paris: Minuit, 2001. Œ = Œuvres. Éd. établie par Alastair B. Duncan, avec la collaboration de Jean H. Duffy. Paris: Gallimard, 2006. (= Bibliothèque de la Pléiade) <?page no="15"?> 15 1 Einleitung: Der Nouveau Roman Claude Simons im Spiegel postmoderner Autoreferentialität 1.1 Das Thema: ‚Referenz’ und ‚Repräsentation’ bei Claude Simon 1 Nach der spezifischen Modernität seiner Texte gefragt, beschrieb der spätere Literaturnobelpreisträger in einem Interview mit der französischen Zeitschrift L’Humanité die Ästhetik der literarischen Moderne allgemein: Maintenant, si vous me demandez de préciser ce qui distingue plus exactement notre modernité, je hasarderai peut-être, qu’en gros, elle me paraît dominée par deux caractéristiques principales (chacune, à y bien réfléchir, découlant d’ailleurs de l’autre) qui sont, d’une part, la fragmentation, l’éclatement des formes ; d’autre part, l’abandon du « trompe-l’œil », du « faire-semblant », au profit de la mise en évidence du médium ou, si l’on préfère, du « matériau », je veux dire le tableau s’offrant comme peinture, le roman se donnant et se dénonçant comme texte et fiction en procès. 2 Die von Simon genannten Tendenzen zur „fragmentation“ und zur „mise en évidence du médium“ sind nicht nur typische Merkmale des modernen Romans, sondern prägen in bemerkenswerter Weise auch sein eigenes Werk: so problematisieren die Auflösungserscheinungen auf der Ebene des Erzählens und auf der Ebene der erzählten Geschichte die überkommenen Darstellungstechniken des realistischen Romans aus dem 19. Jahrhundert, während die Offenlegung der fiktionalen und narrativen Struktur der Texte ihre Referenz auf eine außerliterarische Realität zugunsten eines auffallenden Selbstbezugs untergräbt - sei es auf die Nicht-Realität der Romanwelt oder auf das eigene Medium. Simons Werk zeichnet sich durch ein Spannungsfeld, gebildet einerseits aus textueller Hetero- und Autoreferenz - gemeint ist das Oszillieren des Textes zwischen dem Bezug auf die äußere ‚reale’ Welt und der Thematisierung der eigenen Textualität und Fiktionalität - und andererseits aus der Repräsentation dieser Realität mit fiktionalen Erzählverfahren aus, die zugleich dekonstruiert werden. Die vorliegende Arbeit untersucht in diesem 1 In der vorliegenden Arbeit soll der Terminus ‚Referenz’ die Bezugnahme von Literatur auf eine extratextuelle ‚reale’ Welt bezeichnen, während der Begriff ‚Repräsentation’ im Sinne ihrer „narrativen Darstellung“ verwendet wird (P. Wolf: „Referenz.“ (2001) und A. Nünning: „Repräsentation.“ (2001) sowie A. Thiher: Words in Reflection: Modern Language Theory and Postmodern Fiction. (1984), S. 188.) 2 C. Simon: „Claude Simon, romancier, [Haroche, C.].“ (1981), S. 15; Hervorhebungen S.Z. <?page no="16"?> 16 Kontext metafiktionale, metanarrative und metahistoriographische Diskurse im Werk des Nouveau Romancier Claude Simon; diese selbstbezüglichen Äußerungen lassen die Fiktionalität des Textes im Sinne der Irrealität der erzählten Geschichte, das eigene Erzählen sowie die mit dem Schreiben von Geschichte verbundenen epistemologischen und narratologischen Probleme thematisch werden. Ein besonderer Stellenwert kommt der Frage nach der Funktion der genannten autoreferentiellen Verfahren im Hinblick auf die von Simon im modernen Roman beobachteten Tendenzen zur Nicht-Referenz und zur Problematisierung der fiktional-narrativen Repräsentation zu: Comment savoir - Inwiefern stellt die Literatur ein Mittel der Erkenntnis von Realität dar? Comment dire - Wie kann diese Wirklichkeit mit den spezifischen Verfahren fiktionaler Erzähltexte erzählt werden? Simons berühmte Romane La Route des Flandres (1960), Triptyque (1973) und Les Géorgiques (1981) bilden das Textkorpus der vorliegenden Arbeit; sie lassen sich stilistisch differenten Schaffensphasen Simons zuordnen und stellen nach allgemeiner Einschätzung einen Höhepunkt der jeweiligen Phase im Hinblick auf ihre charakteristischen Vertextungsverfahren dar, so dass die zu erwartenden Ergebnisse der Textanalyse als paradigmatisch bewertet werden können. Die Beschränkung auf drei Texte erklärt sich dabei aus der Zielsetzung, diese möglichst detailliert zu interpretieren. Die Rezeption des Simon’schen Werks ist geprägt durch das Paradox aus einerseits seiner Wertschätzung durch Schriftstellerkollegen wie Jean Améry 3 und Serge Doubrovsky 4 und andererseits seiner Geringschätzung durch die Feuilletons und die breite Masse der Leser, die seine Texte als „illisibles“ bewerteten. Entgegen der weitverbreiteten Meinung sind jedoch die frühen Romane Simons aus seiner ersten Schaffensperiode (1946-1954) noch relativ konventionelle, einfach zu rezipierende Erzählungen; erst mit der Veröffentlichung von L’Herbe (1958) vollzieht sich nach seiner eigenen Aussage in seinem Werk die Wende vom traditionellen zum avantgardistischen Roman. 5 Höhepunkt dieser zweiten Phase, in welcher Simon mit seinen Texten in das Umfeld des Nouveau Roman eintritt, ist zweifellos La Route des Flandres (1960), dessen autobiographisches Substrat Simons eige- 3 J. Améry rechnet zu den „Zeitgenossen und Kollegen“ Claude Simons Autoren wie Proust, Joyce, Faulkner und auch Beckett und erklärt, dass Simon „[…] zu messen […] nur nach der Größenordnung solcher Autoren […]“ sei. (Zitiert nach H. Mayer: „Im Bannkreis der Bilder. Über Simon.“ (2003), S. 159.) 4 S. Doubrovsky betont, dass Simon der einzige der Nouveaux Romanciers sei, der die französische Sprache insbesondere im Bereich der Syntax, der Interpunktion, der Bezüge sowie der Lexik angegriffen habe und damit zu einem „deconstructor of the language“ geworden, dabei stets jedoch ein „lover of words“ wie schon Balzac geblieben sei. (S. Doubrovsky: „Why Simon? [Préface].“ (1981), S. 13f., 15.) 5 C. Simon: „Interview with Claude Simon. [DuVerlie, Claud A.].“ (1974), S. 13. <?page no="17"?> 17 ne Erlebnisse während des sogenannten ‚Flandern-Debakels’ im Zweiten Weltkrieg bilden. 6 Die leitmotivisch wiederkehrende ‚Beschwörungsformel’ „Comment savoir? “ des Protagonisten Georges prägt den Roman von Beginn an: Das Streben nach Erkenntnis und ‚sicherem’ Wissen, das Ringen um die zuverlässige Erinnerung früherer Wahrnehmungen zählen zu den wichtigsten thematischen Aspekten des Werks. Mit dieser epistemologischen Thematik präsentiert sich der Text als typischer Vertreter der sogenannten phänomenologischen Phase des Nouveau Roman, in der die wahrnehmungstheoretischen Überlegungen E. Husserls und insbesondere M. Merleau-Pontys an Einfluss auch auf die Poetik Claude Simons gewannen. Aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und ihrer poetischen Qualitäten wird La Route des Flandres von der Forschung zu den wichtigsten Werken Simons sowie des Nouveau Roman überhaupt gezählt. Der Text präsentiert in Form eines autonomen inneren Monologs den Bewusstseinsstrom der fiktiven Figur Georges; dieser erinnert sich an einem unbestimmt gelassenen Punkt seines Lebens - vermutlich einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - an seine Erlebnisse während des Krieges bzw. aus der Vor- und Nachkriegszeit. Die den Roman beherrschende Erinnerungsthematik hat dazu geführt, dass der Text von der Literaturwissenschaft als „Gedächtnisroman“ 7 , als „Roman der Erinnerung“ 8 oder „Erinnerungsroman“ 9 bzw. als „stream-ofconsciousness-novel“ 10 bezeichnet wurde, in dessen Zentrum weniger die logische Ordnung oder die rationale Kontrolle der Erinnerungen stehe als die Übertragung der „pre-speech levels of consciousness“ in einen autonomen inneren Monolog. 11 In einer früheren Arbeit konnte ich jedoch bereits nachweisen, dass La Route des Flandres nur bedingt die narratologischen Konventionen eines autonomen inneren Monologs erfüllt: Vielmehr wird in weiten Teilen des Romans die Illusion eines Gedächtnisstroms 6 Vgl. Simons Bemerkung „From L’Herbe on, all my novels verge on the autobiographical.” (A.B. Duncan: „Interview with Claude Simon.“ (1985), S. 12.) Dennoch weist A. Duncan darauf hin, dass es sich bei Simons Texten keineswegs um Autobiographien handele, da stets die innovative Form den autobiographischen Stoff der Texte von der ursprünglichen Realität ‚entfremde’ (A.B. Duncan: „Introduction.“ (2006), S. XIf.). 7 W. Scheller: „‚Geschichte machen, heisst: Sie ertragen’: Claude Simon und der ‚Nouveau roman’.“ (1979), S. 64. 8 H. Pfeiffer: „Claude Simon.“ (1986), S. 362. 9 J. Mecke: Roman-Zeit. Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart. (1990), S. 144; R. Warning: „Claude Simons Gedächtnisräume: La Route des Flandres.“ (1991), S. 363. 10 R.L. Sims: „Memory, structure and time in La Route des Flandres.“ (1976), S. 43. 11 Ebd., S. 43f.; T.R. Kuhnle: Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des ‚nouveau romancier’ Claude Simon. (1995), S. 364, betont, dass es sich bei La Route des Flandres eher um einen ‚Erinnerungsroman’ als um einen ‚Gedächtnisroman’ handele, da der Text den dynamischen Aspekt des Erinnerungsprozesses unterstreiche. <?page no="18"?> 18 zugunsten einer relativ konventionellen Erzählung aufgegeben, während zugleich eine metafiktionale Thematisierung und Inszenierung der eigenen Fiktionalität und Textualität erfolgt. 12 Mit der Veröffentlichung von La Bataille de Pharsale (1969) tritt Simon in eine neue Phase seines Schaffens ein, in der seine Texte scheinbar zu formalistischen Experimentierfeldern werden und sich von Jean Ricardous skripturalistischer Theorie beeinflusst zeigen. 13 Höhepunkt dieser dritten Phase ist Triptyque, der als Simons technisch vollkommenster 14 und zugleich als sein radikalster 15 Roman gilt; er wird von der Forschung zusammen mit Les Corps Conducteurs (1971) und Leçon des Choses (1975) als ein Triptychon und zugleich als Höhepunkt seiner ‚skripturalistischen’ Phase - auch Nouveau Nouveau Roman simonien genannt - interpretiert. 16 Ein Charakteristikum dieser Schaffensphase ist, dass „[l]e récit perd l’ancrage d’une conscience et la fiction s’égrène alors ‘mot à mot’ […].“ 17 Schienen die Fiktionen der vorangegangenen Texte noch einem mehr oder minder identifizierbaren Bewusstsein zu entspringen, das als „je“ die Handlung vermittelt, ist es in Triptyque nur noch eine unpersönliche Wahrnehmungsinstanz, aus deren Perspektive der Leser die fiktiven Ereignisse miterlebt. Diese unbestimmt bleibende Instanz hat große Ähnlichkeit mit dem unbelebten, mechanischen Auge einer Kameralinse, das die fiktive Welt der Geschichte nur von Außen wahrnimmt. Bei einer ersten Lektüre von Triptyque steht darüber hinaus vor allem auch der fragmentarische Eindruck des Erzählten im Vordergrund sowie die durch die vielfachen narrativen Kurzschlüsse zwischen den ontologischen Ebenen ‚innerfiktional real’ und ‚innerfiktional fiktiv’ bewirkte Gleichrangigkeit von Ereignissen, die in der Welt des Romans ‚wirklich’ stattgefunden haben, und solchen, die bloß imaginiert oder medial repräsentiert sind und die daher eine Realität zweiter Ordnung innerhalb der fiktionalen Welt bilden. Zugleich entsteht als gegenläufige Tendenz durch die Wiederkehr bestimmter Motive und von bereits aus früheren Romanen 12 Sabine Waltemate: Die erzähltechnische Gestaltung des Gedächtnisstroms in Claude Simons La Route des Flandres. Unveröffentlichte Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien. (1999) 13 Im Konzept der écriture scripturale ist der Schriftsteller nicht mehr „[…] le maître d’une fiction établie préalablement qu’il agence au moyen des signes du discours appropriés mais l’artisan d’un texte auquel il confère l’existence en se soumettant aux lois spécifiques de son fonctionnement[.]“ (M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987), S. 15.) 14 So z.B. M. Evans: Claude Simon and the Transgressions of Modern Art. (1988), S. 191. 15 A.B. Duncan: „Introduction.“ (2006), S. XXXVIII. 16 Nach Bertrand umfasst die ‚skripturalistische’ Phase im Werk Simons den Zeitraum von 1969, dem Jahr des Erscheinens von La Bataille de Pharsale, bis zur Veröffentlichung von Les Géorgiques im Jahre 1981. (M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987), S. 18.) 17 M. Léonard: „Préface.“ (2001), S. X. <?page no="19"?> 19 bekannten Themen wie ‚erotische Liebe’, ‚Eifersucht’ und ‚Tod’, aber auch von neuen wie ‚Natur’ und ‚Voyeurismus’ der Eindruck einer gewissen unterschwelligen Kohärenz des Textes. Mit der Veröffentlichung von Les Géorgiques (1981) tritt Simon in eine weitere Phase seiner Poetik ein, die zunächst eine Rückkehr zu den Themen und zur Ästhetik seiner Romane aus den 1960er Jahren zu sein scheint. Der Text selbst wird von der Kritik als „roman total“ 18 , als „roman polyphonique“ 19 , als „roman-somme“ 20 oder als „œuvre de synthèse“ 21 bzw. als Simons „longest and most significant novel“ 22 bewertet. Herrscht zwar Einigkeit unter den Kritikern in der Einschätzung der allgemeinen literarischen Qualitäten des Romans, werden Les Géorgiques jedoch ganz unterschiedlich in den größeren Werkzusammenhang eingeordnet; dabei lassen sich zwei Extrempositionen unterscheiden: Während die einen in diesem Text Simons „retour à la représentation“ 23 der 1950er und 1960er Jahre wahrzunehmen glauben bzw. Les Géorgiques als Vollendung der damals entwickelten Erzählstrategien betrachten, vertritt insbesondere M. Bertrand die Gegenposition: Er ordnet diesen Text wie die unmittelbar vorangehenden Werke in Simons ‚skripturale’, autoreflexive und antireferentielle, Phase ein. 24 Zwar rekurriert Simon in seinem Roman auf zentrale Themen seiner ‚vorskripturalistischen’ Schaffensperiode wie Tod, Krieg, Natur und Geschichte und greift z.T. auch auf das Figurenpersonal der Romane aus den späten 1950er und frühen 1960er Jahren zurück. Doch erreichen vor allem die in Les Géorgiques anzutreffenden Erzählverfahren ein neues Stadium der Vollendung: es mischen sich die noch aus Romanen wie La Route des Flandres bekannte perspektivische Vielfalt mit den allein auf dem sprachli- 18 L. Dällenbach: „Les Géorgiques ou la totalisation accomplie.“ (1981), S. 1239. 19 Ebd.; J.-C. Gateau: „Topologie du mouchoir froissé dans Les Géorgiques.“ (1993), S. 132. 20 N. Piégay-Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 5. 21 A.B. Duncan: „Introduction.“ (2006), S. XL: Laut Duncan integriert Simon in Les Géorgiques und in L’Acacia die in der vorhergehenden Schaffensperiode entwickelten narrativen Strategien. 22 R. Sarkonak: „The Georgics (Les Géorgiques).“ (1990), S. 168. An anderer Stelle wertet R. Sarkonak Les Géorgiques als „[…] un des plus importants textes de la littérature du XXe siècle.“ (R. Sarkonak: „Comment fait-on un cocktail simonien? Ou, Les Géorgiques relues et corrigées.“ (1990), S. 236.) 23 Diese Ansicht vertreten z.B. C. Reitsma La Brujeere: Passé et présent dans Les Géorgiques de Claude Simon. Étude intertextuelle et narratologique d’une reconstruction de l’Histoire. (1992), S. 1; A.B. Duncan: „Claude Simon, le projet autobiographique.“ (1990), S. 49; N. Piégay-Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 31, und führen als Begründung Simons Rückgriff auf seine persönliche Geschichte bzw. auf die seiner Familie sowie auf altbekannte Themen wie insbesondere den Krieg an. 24 M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987), S. 18. <?page no="20"?> 20 chen Material basierenden Überblendungstechniken aus Triptyque. Doch im Gegensatz zu der formalistischen Phase des Nouveau Nouveau Roman simonien werden die experimentellen Schreibverfahren nun erstmals in den Dienst einer kritischen autoreferentiellen, metahistoriographischen, Reflexion über die Möglichkeiten einer schriftlichen Repräsentation der Vergangenheit gestellt. 25 Bereits der Titel des Romans - Les Géorgiques - situiert den Roman in einen historischen Kontext, verweist er doch explizit auf die Georgica Vergils, die dieser im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung für Augustus’ Veteranen als Lobpreisung der Landarbeit gegenüber der ‚Kriegsarbeit’ verfasst hat. 26 Auch wenn sich keine weiteren direkten Zitate des lateinischen Prätexts in Simons Werk finden, so ist doch das Vorgängerwerk thematisch stets präsent: Es sind die Virulenz der Themen ‚Krieg’ und ‚(Land)Arbeit’ und ihre ambivalente Bewertung in Les Géorgiques, welche die beiden Texte sowohl verbinden als auch trennen. 27 Der kurze Überblick über die verschiedenen Phasen im Werk Claude Simons und den sich immer wieder neu vollziehenden Wandel in seiner Poetik, den unsere Texte paradigmatisch illustrieren, hat die Bedeutung der Autoreferenz in seinen Texten aufgezeigt. Die ausgewählten Romane verhandeln einerseits ihren - mindestens seit der Spätmoderne problematisch gewordenen - Bezug auf eine außertextuelle Realität und ziehen in Zweifel, dass jene überhaupt ‚objektiv’ erkennbar ist. Andererseits setzen sie sich mit der spezifisch sprachlichen bzw. narrativ-fiktionalen Repräsen- 25 Dies macht Simons Roman auch für die Geschichtswissenschaft bzw. die Geschichtstheorie interessant: So bildet ein Auszug aus Simons Les Géorgiques den Epilog eines von Christoph Conrad und Martina Kessel herausgegebenen Überblicks über aktuelle theoretische Diskussionen in der Geschichtswissenschaft. (C. Conrad und M. Kessel (Hgg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. (1994)) Innerhalb der Simonforschung weist bisher allein A. Duncan in seiner Bewertung des Romans auf die metanarrative, metafiktionale bzw. metahistoriographische Qualitäten des Werks hin: „In making visible its own processes of generation, [the work] raises questions about representation and reference, about genre, about the writing of fiction, history or biography.“ (A. Duncan: „Les Géorgiques and intertextuality.“ (1994), S. 68.) 26 Das lateinische Adjektiv georgicus (= „den Landbau betreffend“, „vom Landbau“) stammt aus dem Griechischen: gê = „Erde“ und ergon = „Arbeiten“ und meint das „Bearbeiten der Felder“, im übertragenen Sinne auch der Kampffelder des Krieges. In Simons Roman gewinnt Georgica auch noch eine dritte - selbstreflexiv auf den eigenen Text verweisende - Bedeutung: das ‚Bearbeiten’ der zunächst leeren Seiten durch den Autor. (Vgl. hierzu auch R. Sarkonak: „The Georgics (Les Géorgiques).“ (1990), S. 172f.) 27 Darüber hinaus finden sich in Les Géorgiques häufig der Name ‚Georges’ bzw. Derivate von diesem: die die „Cahiers“ des Generals durchblätternde Hand des alten Mannes ähnelt der „crêpe georgette“ (G, 24), der tunesische Premierminister ist ein „georgiano grasso“ (G, 48f.) und bei dem mysteriösen „O.“ des vierten Kapitels handelt es sich um George Orwell. <?page no="21"?> 21 tation dieser Realität auseinander und vergleichen das mimetische Potential von Sprache mit dem anderer Medien wie vor allem der Malerei, der Photographie und dem Film. Diese autoreferentiellen, die eigene Referentialität und Repräsentation thematisierenden Diskurse werden auf verschiedenen Ebenen der Texte verbalisiert: sowohl auf der Geschichtsebene als auch auf der Ebene der narrativen Vermittlung. 1.2 Der Kontext: autoreferentielle Diskurse über Fiktion und Narration im französischen Nouveau Roman und in der Literatur der Spät- und Postmoderne Simons hier aufgezeigte Poetik der Areferentialität und Anti-Repräsentation gliedert sich ein in die Ästhetik des spätbzw. postmodernistischen Romans 28 und seiner französischen Variante, dem (Nouveau) Nouveau Roman, 29 dessen wichtigste Merkmale sowohl die Kritik der realistischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts als auch die autoreferentielle Bezugnahme auf die eigene Fiktion und die eigene Narration sind. Insbesondere der französische Nouveau Roman bezieht sich kritisch auf den ‚traditionellen’, realistischen Roman 30 des 19. Jahrhunderts mit seiner Doktrin von der wirklichkeitsgetreuen Abbildung zeitgenössischer gesellschaftlicher Realität; 31 im Visier der Nouveaux Romanciers stehen insbesondere die narrativen Kategorien des ‚Helden’ und der Figuren bzw. die 28 Mit ‘Postmoderne‘ bezeichne ich die auf die (Spät-)Moderne folgende literarische Epoche der Nachkriegszeit (der Begriff verbreitet sich gegen Ende der 1950er Jahre in der amerikanischen Literaturwissenschaft; dieser Zeitpunkt bestimmt auch den Beginn der postmodernen (angloamerikanischen) Literatur), die v.a. geprägt ist durch „Textoffenheit […], epistemologische[n] Zweifel […], metasprachliche[n] Kommentar […] und Berücksichtigung der Leserrolle […]“. (P.V. Zima: Moderne/ Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur. (2001), S. 244.) 29 Die Bezeichnung dieses ‚Bündnisses’ von Schriftstellern als Nouveau Roman - die Nouveaux Romanciers wehrten sich vehement gegen die Betitelung ihrer Gemeinschaft als „groupe“ oder „école“ (A. Robbe-Grillet: „À quoi servent les théories. [1955 et 1963].“ (1961), S. 8f.; A. Robbe-Grillet: „Nouveau Roman, homme nouveau.“ (1961), S. 114; C. Simon: „Entretien avec Jo van Apeldoorn et Charles Grivel, 17 avril 1979.“ (1979), S. 87f.) - geht auf einen Zeitungsartikel von Émile Henriot aus dem Jahr 1957 zurück, der damit die sich unter dem Dach der Éditions de Minuit versammelnde Konstellation verschiedener Schriftsteller benannte (R.-M. Allemand: „Débuts et fins du „Nouveau Roman“.“ (2002), S. 21.). 30 W. Wehle unterstreicht den ablehnenden Bezug des Nouveau Roman auf die „[…] Schreibweise eines ‚roman à succès facile’, meist abgekürzt ‚traditioneller Roman’ genannt.“ (W. Wehle: „Protheus im Spiegel. Zum „reflexiven Realismus“ des Nouveau Roman (statt einer Einleitung).“ (1980), S. 3.) 31 Vgl. hierzu U. Dethloff: Französischer Realismus. (1997), S. 38ff. <?page no="22"?> 22 histoire insgesamt. 32 Diese werden in ihren Texten auf verschiedene Weise dekonstruiert und ihr Status als ein fiktionales Konstrukt wird offenbart. Der spät- und postmodernistische Nouveau Roman zeigt im Gegensatz zu seinem realistischen Antipoden nun offen seine genuin wirklichkeitskonstituierende Funktion: 33 innerfiktionale Realität wird stets aus den Träumen, Illusionen, Phantasien und ‚wahren’ Wahrnehmungen eines Subjekts synthetisiert. Im postmodernistischen Nouveau Nouveau Roman 34 wird die eigene Fiktionalität noch deutlicher aufgedeckt und neben einem fundamentalen epistemologischen Zweifel 35 an der objektiven Erkennbarkeit der Welt auch die Referenz des Textes auf eine außersprachliche Realität - scheinbar - endgültig unmöglich. 36 Die Welt des Romans präsentiert sich nun nicht einmal mehr als Ausfluss eines wahrnehmenden Bewusstseins, sondern allein als „jeu de signifiants“ ganz im Sinne von F. de Saussures strukturalistischer Konzeption der langue als „un système de renvois“. Die aus der kreativen Kraft des sprachlichen Materials erwachsende Fiktionalität der 32 So konzipiert N. Sarraute ihren Helden als „[…] un être sans contours, indéfinissable, insaisissable et invisible, un ‚je’ anonyme qui est tout et qui n’est rien […]“, während die übrigen Romanfiguren „[…] privés d’existence propre, ne sont que des visions, rêves, cauchemars, illusions, reflets, modalités ou dépendances de ce ‘je’ toutpuissant.“ (N. Sarraute: „L’ère du soupçon. [1950].“ (1987), S. 61f.) Auch A. Robbe- Grillet begründet in seinen theoretischen Schriften die Ablehnung der Formen des traditionellen Romans - vor allem der „analyse psychologique“ - und setzt diesen seine eigene, innovative Poetik entgegen, vgl. A. Robbe-Grillet: „Sur quelques notions périmées.“ (1961), S. 27ff. D. Schmidt: Schreiben nach dem Krieg. Studien zur Poetik Claude Simons. (1997), S. 63f., konstatiert einen Verstoß des Nouveau Roman gegen folgende Kriterien realistischer Romane: die Privilegierung der histoire-Ebene gegenüber der discours-Ebene, die Kohärenz der erzählten Handlung, die Stimmigkeit der Charaktere und des raumzeitlichen Rahmens sowie die Möglichkeit für den Leser, das Gelesene als Wiedergabe eines Wirklichkeitsausschnitts auffassen zu können, ohne sich dabei in Widersprüche zu verwickeln. 33 W. Wehle: „Protheus im Spiegel. Zum „reflexiven Realismus“ des Nouveau Roman (statt einer Einleitung).“ (1980), S. 8ff. 34 Damit wird allgemein die zweite, sich an das berühmte Colloque de Cerisy von 1971 anschließende und bis zum Ende der 1970er Jahre erstreckende Phase des Nouveau Roman bezeichnet. (B. Dauer: „Nouveau Roman, Nouveau Nouveau Roman: Literarische Avantgarde um 1960 (Alain Robbe-Grillet: Dans le labyrinthe; Claude Simon: La Route des Flandres).“ (1982), S. 271; A. Duncan: „Introduction.“ (1994), S. 6.) Dagegen interpretiert L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 52, den französischen Nouveau Nouveau Roman als ein Beipiel für „late modernist extremism“. 35 So hat auch für A. Robbe-Grillet die Welt des Romans „[…] jamais de présence en dehors des perceptions humaines, réelles ou imaginaires […]“. (A. Robbe-Grillet: „Nouveau Roman, homme nouveau.“ (1961), S. 116.) 36 So auch E. Wesseling: Writing History as a Prophet: Postmodernist Innovation of the Historical Novel. (1991), S. 4, welche die fundamentale Infragestellung der „[…] very existence of a paramount reality“ im postmodernen Roman beschreibt. Ebenso R. Sukenick: „The death of the novel.“ (1969), S. 41. <?page no="23"?> 23 Texte wird in dieser Zeit verstärkt auch autoreferentiell thematisiert; 37 auch die problematische Referenzfunktion der Literatur und die spezifische narrativ-fiktionale Konstruktion von Wirklichkeit wird nun zum Gegenstand der Texte. Diese ausgeprägte Tendenz zur Autoreferentialität ist nicht nur ein herausragendes Merkmal des französischen Nouveau Nouveau Roman der 1970er Jahre, sondern der literarischen und kulturellen Postmoderne allgemein. Die inhaltliche Neuorientierung postmoderner Texte auf die Problematik des eigenen Wirklichkeitsbezugs und ihrer sprachlichen Repräsentation schlägt sich auch in der Begriffsbildung nieder: So wurde für die am häufigsten untersuchte selbstthematisierende Erscheinung in den Texten - die metafiktionale Kommentierung der eigenen Fiktion(alität) - in Konkurrenz zum korrekten Begriff ‚Metafiktion’ eine Vielzahl anderer Termini geprägt wie z.B. ‚Metanarration’, ‚Selbstreferenz’, ‚Metatextualität’, ‚Metaroman’, und im englischen Sprachraum auch self-conscious novel oder self-begetting novel. Im Vergleich zu anderen Begriffen zur Bezeichnung ‚meta’- oder ‚intertextueller’ Phänomene hat jedoch allein der Terminus ‚Metafiktion’ seit seiner ersten dokumentierten Verwendung in der angloamerikanischen Literaturwissenschaft Ende der 1960er Jahre bis heute eine ans Inflationäre grenzende Verbreitung erfahren. Der Anglist W. Wolf spricht deshalb in begrifflicher Anlehnung an den linguistic turn gar von einem metafictional turn und zielt damit auf das „Selbstbespiegeln der Literatur im Verein mit dem ständigen illusionsbrechenden Hervorheben ihrer Fiktionalität.“ Auch wenn dieses Schlagwort zunächst sehr eingängig zu sein scheint, wirft es doch einige Fragen auf. So impliziert der Begriff „metafiktionale Wende“ ein ‚Davor’, das sich von dem ‚Danach’ wesentlich zu unterscheiden scheint: Beginnt die Auseinandersetzung mit der eigenen Fiktion tatsächlich erst im postmodernen Erzählen, 38 während die davor entstandenen Texte ausschließlich den pro-illusionistischen, fiktionsverschleiernden Konventionen realistischen Erzählens folgen? Nicht zuletzt scheint auch die von Wolf vorgeschlagene wirkungsästhetische Definition des metafictional turn fragwürdig zu sein. Geht dieses „Selbstbespiegeln der Literatur“ tatsächlich mit dem „ständigen illusions- 37 Dieser Selbstbezug hat insbesondere dem Nouveau Roman der ersten Phase (von der Mitte der 1950er bis zur Mitte der 1960er Jahre) auch die Bezeichnungen ‚subjektiver Realismus’ bzw. ‚reflexiver Realismus’ eingetragen. (D. Carroll: The subject in question. The languages of theory and the strategies of fiction. (1982), S. 10, v.a. S. 13; W. Wehle: „Protheus im Spiegel. Zum „reflexiven Realismus“ des Nouveau Roman (statt einer Einleitung).“ (1980), S. 10.) 38 Und nicht nur dort, vgl. ähnliche Phänomene auch in anderen Kunstformen wie z.B. das Metadrama oder Metatheater, die Metalyrik oder den Metafilm. <?page no="24"?> 24 brechenden Hervorheben ihrer Fiktionalität“ einher? 39 Oder anders gefragt: Impliziert Metafiktion immer auch schon eine Zerstörung der ästhetischen Illusion auf Seiten des Lesers, bedingt durch das Aufdecken der Künstlichkeit der im Text dargestellten Welt? Das Auftreten von metafiktionalen Phänomenen ist - wie zahlreiche Einzeltextanalysen aus allen Epochen der europäischen Literaturgeschichte eindrucksvoll beweisen - eben kein Kennzeichen allein des postmodernen Romans, sondern stellt eine wesentliche Tendenz im Erzählen seit Beginn der Gattungsgeschichte dar. 40 Sie sind daher in begrenztem Maße auch in illusionistischen bzw. realistischen Texten anzutreffen, ohne dass es durch die punktuelle Kommentierung der Künstlichkeit der dargestellten Welt zu einer vollständigen Suspendierung der ästhetischen Illusion käme. Ebenso wie die Geschichte des literarischen Phänomens ‚Metafiktion’ liefern auch die bisherigen Definitionsversuche Anlass zur Kritik: So findet sich bis heute in der Literaturwissenschaft keine Übereinkunft darüber, welche Teile des Textes eigentlich den Gegenstand des metafiktionalen Kommentars darstellen und von welchen anderen autoreferentiellen Phänomenen ‚Metafiktion’ abzugrenzen sei. Diese uneinheitliche Begriffsverwendung bleibt nicht ohne negative Wirkung auf eher anwendungsorientierte Arbeiten, die Werke aus verschiedenen Literaturen im Hinblick auf Metafiktion untersuchen. Ein Beispiel für eine unreflektierte Begriffsverwendung ist S. Setzkorns Arbeit zur Metafiktion in zeitgenössischen italienischen und französischen Texten: In ihrer einleitenden Gegenstandsbestimmung der Metafiktion vermengt sie völlig unterschiedslos fiktionale und narrative Phänomene, wodurch die Bestimmung der spezifischen Funktion metafiktionalen Erzählens an Aussagekraft verliert. Dennoch verdient Setzkorns Arbeit eine Erwähnung als eine der wenigen Untersuchungen zur Metafiktion in der französischen Literatur. 41 Dieses Defizit in der Forschung zum französischen Roman ist in ihrem Ausmaß erschreckend, da ihr doch eine vergleichsweise gut bearbeitete spanischsprachige 39 W. Wolf: „Metafiktion. Formen und Funktionen eines Merkmals postmodernistischen Erzählens. Eine Einführung und ein Beispiel: John Barth, Life-Story.“ (1997), S. 45. Hervorhebungen S.Z. 40 B. Richardson: „Narrative Poetics and Postmodern Transgression: Theorizing the Collapse of Time, Voice, and Frame.“ (2000), S. 38, beschreibt zwei Haupttraditionen der Literatur, von denen die eine mimetisch und die andere nichtbzw. antimimetisch ist; zu letzterer zählt er Texte von Aristophanes, Rabelais, Ariost, Shakespeare und Sternes Tristram Shandy. 41 Andere Arbeiten sind J. Bernard: „De l’autocommentaire à la métafiction: Les romanesques d’Alain Robbe-Grillet.“ (1997), G. De Ferrari: „Representing Absence: The Power of Metafiction in Jacques Roubaud’s Le Grand Incendie de Londres.“ (1996), D.P. Guenin-Lelle: „Framing the Narrative: The roman bourgeois as Metafiction.“ (1989), dies.: Self-Referential Play gone wild: a case for the ‘Roman bourgeois’ as Metafiction. (1989) und S. Zebouni: „La mimésis en question: Métafiction et auto-référentialité au XVIIème siècle.“ (1989). <?page no="25"?> 25 Literatur gegenübersteht; eine Erklärung könnte die bisher vernachlässigte Rezeption wichtiger Theoriebildungen der anglistischen und amerikanistischen Literaturwissenschaft sein. Nicht zuletzt zeichnen sich auch die bisherigen Typologieentwürfe metafiktionaler Textstrategien einerseits durch eine unzureichende Ausdifferenzierung und andererseits durch eine einseitige Funktionalisierung aus. Insbesondere W. Wolf liefert in seinen Arbeiten 42 zur Metafiktion als Variante illusionsstörenden Erzählens eine umfassende Typologie ihrer expliziten Formen, ohne zu einer genauen Bestimmung der impliziten, verdeckten, Formen zu gelangen. Diese einseitige Gewichtung lässt sein Modell daher nur unzureichend in der Praxis bestehen, da ihm die Begriffe für eine Benennung indirekt wahrnehmbarer fiktionsentlarvender Tendenzen in den betreffenden Texten fehlen. Darüber hinaus analysieren Theoretiker wie L. Hutcheon, S. Lauzen und insbesondere auch W. Wolf ‚Metafiktion’ stets aus wirkungsästhetischer Perspektive unter dem Aspekt ihres Effekts auf die ästhetische Illusion. So subsumiert Wolf Metafiktion unter seine Verfahren des „Illusionsabbaus“, betont jedoch zugleich etwas widersprüchlich, dass Metafiktion nicht per se mit Illusionsstörung gleichzusetzen sei. 43 Auch ist es vor dem Hintergrund der langen Tradition metafiktionalen Erzählens und seiner nun ebenfalls schon länger andauernden Theoretisierung überraschend, dass metafiktionale Phänomene bislang kaum eine Berücksichtigung seitens der Narratologie erfahren haben. 44 Diese ‚Leerstelle’ ist dadurch begründet, dass sich die klassischen narratologischen Modellentwürfe, die sich in die Tradition des französischen Strukturalismus stellen, lange Zeit allein auf realistische Textkorpora bezogen haben: Diese „Typologien des Erzählens“, wie sie von F.K. Stanzel oder G. Genette entwickelt wurden, können vor allem die Texte erklären, auf deren Basis sie konstruiert wurden, und sind daher häufig inadäquat für viele avantgardistische, spät- und postmodernistische fiktionale Erzähltexte. 45 Seit den 42 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), ders.: „Metafiktion. Formen und Funktionen eines Merkmals postmodernistischen Erzählens. Eine Einführung und ein Beispiel: John Barth, Life-Story.“ (1997) und ders.: „Metafiktion.“ (1998). 43 W. Wolf: „Metafiktion.“ (1998), S. 362. 44 Eine Ausnahme stellt B. Richardson: „Narrative Poetics and Postmodern Transgression: Theorizing the Collapse of Time, Voice, and Frame.“ (2000), S. 35, dar. 45 E.v. Alphen: „The Narrative of Perception and the Perception of Narrative.“ (1990), S. 483f.; B. Richardson: „Narrative Poetics and Postmodern Transgression: Theorizing the Collapse of Time, Voice, and Frame.“ (2000), S. 23. Dennoch ist der Einfluss dieser Arbeiten nicht nur auf die Erzählforschung, sondern auch auf die Literaturwissenschaft insgesamt enorm, wie M.-L. Ryan mit ihrer Bewertung der von G. Genette entwickelten narratologischen Terminologie als „lingua franca for narratologists“ demonstriert. (M.-L. Ryan: „Allegories of Immersion: Virtual Narration in Postmodern <?page no="26"?> 26 1980er Jahren haben diese ‚weißen Flecken’ in der narratologischen Theoriebildung, die angesichts der ästhetischen Weiterentwicklung des Romans umso mehr ins Auge fallen, die Herausbildung neuer Ansätze angeregt. Diese beziehen nun auch widersprüchliche Aspekte der Erzählung - wie beispielsweise metafiktionale Kommentare - verstärkt in ihre Modelle ein und tragen damit der Tatsache Rechnung, dass in den spät- und vor allem postmodernistischen Erzähltexten oftmals keine stabile Textbedeutung mehr auszumachen ist. 46 Eine Synthese der bisherigen wirkungsästhetischen Konzeptionalisierungen der Metafiktion 47 und der genannten neueren narratologischen Beschreibungsmodelle hat bisher jedoch noch nicht stattgefunden: Ein Modell der Metafiktion, das seine praktische Anwendbarkeit insbesondere durch die Verwendung narratologischer Analysekategorien unter Beweis stellt, ist nach wie vor ein Desiderat. Im Vergleich zur Metafiktion stellt sich die Forschungslandschaft zur Metanarration als noch wenig ausdifferenziert dar. Bis auf die Arbeiten von A. Nünning und vereinzelt auch von G. Prince und M. Fludernik wurde die Selbstthematisierung des Erzählens bislang nur in Ansätzen erforscht; dies gilt insbesondere im Hinblick auf diachronische bzw. komparatistische Analysen. A. Nünning hat eine erste Typologisierung der Metanarration vorgeschlagen, die er am Beispiel des englischen Romans entwickelt hat. Grundsätzlich ist zu vermuten, dass ebenso wie das metafiktionale auch das metanarrative Erzählen keine Erscheinung allein im Fiction.“ (1995), S. 279.) Zugleich zeigt Ryan, dass Genette in seinem Modell nur verschiedene diegetische Ebenen in Erzähltexten unterscheidet, ohne jedoch die damit möglicherweise einhergehende paradoxe Überschreitung der Grenze zwischen intraontologischen und extraontologischen Ebenen, welche die Funktion einer Problematisierung der „relation between the narrator and the reference world“ besitzt, in sein Konzept einzubeziehen (M.-L. Ryan: „Allegories of Immersion: Virtual Narration in Postmodern Fiction.“ (1995), S. 279f.). B. Richardson: „Narrative Poetics and Postmodern Transgression: Theorizing the Collapse of Time, Voice, and Frame.“ (2000), S. 24, führt aus, dass Genettes Modell zur Beschreibung der Zeitgestaltung in narrativen Texten neben realistischen und modernistischen Erzähltexten auch auf nichtfiktionale Erzählungen anwendbar ist, jedoch bei der Analyse spätmodernistischer und postmodernistischer Texte scheitert. Er ergänzt daher Genettes Modell um sechs weitere temporale Kategorien: circular temporality, contradictory temporality, antinomic temporality, differential temporality, conflated oder antiteleological temporality, dual oder multiple temporality und antimimetic narrative temporality. (Ebd., S. 24-30.) Ferner entwirft er fünf Kategorien zur Beschreibung der typischerweise instabilen Erzählerstimme mit nicht-mimetischer Funktion in postmodernen Texten: fraudulent narrators, contradictory narrators, conflated narrators, incommensurate narrators, dis-framed narrators. (Ebd, S. 32ff.) Auch unterscheidet er zwei Verfahren der Überschreitung ontologischer Grenzen in den genannten Textkategorien: metafictional commentary und ontological framebraking. (Ebd., S. 35.) 46 M. Currie: Postmodern Narrative Theory. (1998), S. 2f. 47 Zu nennen sind hier vor allem die Modelle metafiktionalen Erzählens von L. Hutcheon, S.E. Lauzen und W. Wolf. <?page no="27"?> 27 modernistischen bzw. spät- und postmodernistischen Roman darstellt, sondern in allen Literaturen und literarischen Epochen anzutreffen ist. 1.3 Forschungsbericht: ‚Metafiktion’, ‚Metanarration’ und ‚Metahistoriographie’ im Werk Claude Simons Angesichts der eingangs skizzierten Bedeutung, welche die metafiktionale Beschäftigung mit der eigenen Fiktionalität und die metanarrative Thematisierung von Aspekten, die mit der eigenen Narrativität zusammenhängen, in Simons Texten besitzen, ist es überraschend, dass bis jetzt noch keine Studien zu dieser Thematik vorliegen. 48 Zwar gelangten insbesondere im Zuge von J. Ricardous poststrukturalistischer Theorie des scripturalisme die spezifische Autoreferentialität der Romane, später auch ihre Intertextualität, Intermedialität und Heteroreferentialität, in den Blick der Simonforschung, doch beschränken sich alle im Umkreis von J. Ricardou entstandenen Studien auf die Beschreibung sprachlicher, durch Phänomene auf der Signifikanten- und Signifikat-Ebene der Wörter produzierte Strukturen. Diese generieren eine unterschwellige Bedeutung des Textes und gleichen so die an seiner Oberfläche wahrnehmbare Fragmentierung aus. Im Folgenden werden die Arbeiten genannt, die im Rahmen unserer Thematik bereits wertvolle Vorarbeiten für eine Analyse der ausgewählten Romane auf metafiktionale, metanarrative oder metahistoriographische Strategien geleistet oder Ergebnisse auf angrenzenden Forschungsfeldern geliefert haben, an die sich im Rahmen einer erstmaligen Typologisierung und Funktionalisierung dieser Phänomene im Werk Simons anknüpfen lässt. Im Hinblick auf Aspekte, die mit dem Erzählverfahren zusammenhängen, sind die Studien für uns von Interesse, welche die problematische Referenz der Texte auf eine außerliterarische Realität untersucht und die 48 Da sich mit unserer begrenzten Fragestellung kaum ein umfassender Überblick über die umfangreiche Simonforschung vereinbaren lässt, sei an dieser Stelle auf die folgenden kritischen Forschungsüberblicke verwiesen: S. Sykes: „‘Parmi les aveugles le borgne est roi’: A Personal Survey of Simon Criticism.“ (1985), T.R. Kuhnle: „Claude Simon und der Nouveau Roman. Erträge und Desiderate der Forschung aus literatursoziologischer Perspektive.“ (1991), T.R. Kuhnle: „Anthropologie und Literaturwissenschaft - die Wiederbelebung eines Paradigmas? Überlegungen am Beispiel einiger Studien zu Simon.“ (1993), C. Britton (Hg.): Claude Simon. (1993), S. 11ff., sowie J.H. Duffy und A. Duncan: „Introduction.“ (2002), S. 2ff. K. Gould bemerkt, dass die „ernsthafte“ Forschung zu Simons Werk erst relativ spät - seit Beginn der 1970er Jahre - einsetzt; die Gründe liegen ihrer Ansicht nach nicht nur in der Unzugänglichkeit seiner Texte sondern vor allem in Simons Absenz im theoretischen Diskurs nicht nur der Feuilletons, sondern auch der universitären Literaturwissenschaft; dies unterscheidet ihn von seinen ‚Kollegen’ A. Robbe-Grillet und N. Sarraute. <?page no="28"?> 28 Dominanz des autoreferentiellen Modus in Simons Erzählen beschrieben haben. Zu nennen sind insbesondere die Arbeiten zur mise en abyme, welche die Auswirkungen dieser paradoxen Strukturierung der Inhaltsebene auf die erzählte Geschichte analysieren 49 oder aber welche wie die Arbeit von S. Lotringer den „vertige“ beschreiben, der durch die wiederholten metaleptischen Rahmenbrüche zwischen innerfiktionaler Realität und ihren verschiedenen Repräsentationen entsteht. 50 Anknüpfen im Rahmen einer Typologisierung und Funktionalisierung der Metafiktion im Werk Simons lässt sich auch an die Studien, die sich mit der problematischen Erzählinstanz und ihrem Diskurs vor allem in La Route des Flandres auseinandergesetzt haben: So interpretiert A. Goulet „the subject-less function of sight“ vor allem gegen Ende des Romans im Hinblick auf die Erzeugung eines Effekts typischer „anti-representationality“ bzw. „appearent self-referentiality“. 51 Auch im Hinblick auf die für das Werk Simons so typische Problematisierung der Wahrnehmung sowie der möglichen sprachlichen Repräsentation der Wahrnehmungsprozesse und ihres retrospektiven Wiederaufrufs in der Erinnerung wurden bereits einige Vorarbeiten für eine Typologisierung der Metafiktion geleistet. 52 In einer „étude lexicologique“ zu La Route des Flandres untersucht J.A. Kreiter zunächst die verschiedenen Begriffe, die „l’hésitation du narrateur devant la réalité extérieure“ 53 ausdrücken, um im Anschluss die narrativen Verfahren vorzustellen, welche für eine gewisse „dé-réalisation du récit“ 54 sorgen und damit die Referenz des Textes auf eine extratextuelle Wirklichkeit in Frage stellen. In ihrer Arbeit zur möglichen Referenz der Texte kommt J. Duffy bei ihrer Analyse von La Route des Flandres aus dezidiert phänomenologischer Perspektive zu dem Ergebnis, dass es für Simon keine definitive, exakte Beschreibung der Welt geben könne, die Gültigkeit jenseits der subjektiven 49 F. Jost: „Simon, Topographies de la description et du texte [Triptyque].“ (1974), S. 1031-40; S. Lotringer: „Cryptique.“ (1975), S. 334-47 ; L. Dällenbach: „La fin des illusions totalisantes [Triptyque].“ (1977), S. 193-200; M. Zupan i : Lectures de Claude Simon. La polyphonie de la structure et du mythe. (2001). Hierbei handelt es sich in Teilen um eine Wiederveröffentlichung ihrer Dissertation aus dem Jahr 1977. Vgl. auch M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987). 50 S. Lotringer: „Cryptique.“ (1975), S. 324. 51 A. Goulet: „Blind Spots and Afterimages: The Narrative Optics of Claude Simon’s Triptyque.“ (2000), S. 296. 52 Vgl. z.B. P. Schoentjes: „De Conrad à Simon, l’esthétique du ‘faire voir’.“ (2005). 53 J.A. Kreiter: „Perception et réflexion dans La Route des Flandres: Signes et sémantique.“ (1981), S. 489. Hierzu zählen u.a. Verben wie „sembler“, „paraître“ oder „avoir l’air“ sowie Präpositionen und Konjunktionen wie „sorte de“, „espèce de“, „comme“, „quelque chose comme“, „comme si“, „peut-être“ und „sans doute“. 54 Zu nennen sind die „techniques du glissement, de la dé-temporalisation, du dédoublement, de la répétition d’images et de thèmes, de la mise en représentation, du double registre“. (Ebd., S. 491-494.) <?page no="29"?> 29 Wahrnehmung des Autors besitze: „[…] the notion of representation cannot exist in a perceptual vacuum.“ 55 Doch erscheint nicht nur die unmittelbare Sinneswahrnehmung als unsicher in Simons Texten, auch der retrospektive Zugriff auf vergangene Erfahrungen und persönliche Erinnerungen wird zunehmend prekär; „[…] the décalage between perception und intellection, and the partial and intermittent nature of perception“ 56 wird sichtbar. So lösen sich die Erinnerungen in verschiedene assoziative, heterogene Sinneseindrücke auf; das Erinnerungssubjekt erscheint als unpersönliches Bewusstsein. 57 R. Burden hingegen weist in seiner Studie auf den „profound epistemological doubt“ 58 hin, der konstitutiv für viele Romane Simons sei. Darüber hinaus bleibt die in den Texten vertretene Prämisse von der prinzipiellen Nicht-Erkennbarkeit der Vergangenheit nicht ohne Folgen für das Konzept des Erzählers: dieser präsentiert sich ebenso wie die Figuren nicht länger als stabile Instanz, sondern zersplittert in mehrere Facetten. 59 Verschiedene Studien, die sich seit Mitte der 1970er Jahre mit den intermedialen Bezügen in Simons Texten beschäftigt haben, berühren ebenfalls unsere Fragestellung: Sie identifizieren entweder die verschiedenen, in den Romanen als fiktionsauslösende générateurs fungierenden, Kunstwerke v.a. aus der Malerei, 60 oder zeigen, inwiefern sich Simons Poetik durch fremdmediale Erzähl- und Textkonstitutionsstrategien beeinflusst zeigt. 61 Neuere Veröffentlichungen betonen zudem den oftmals imaginären, fikti- 55 J.A. Kreiter: „Perception et réflexion dans La Route des Flandres: Signes et sémantique.“ (1981), S. 35. 56 Ebd., S. 46. 57 Ebd., S. 49f. 58 R. Burden: John Fowles, John Hawkes, Claude Simon: Problems of Self and Form in the Post- Modernist Novel: A Comparative Study. (1980), S. 112. 59 Ebd., S. 113f. 60 Vgl. z.B. M. Zupan i : „Les Générateurs picturaux dans l’écriture simonienne.“ (1982); C. Rannoux: „Claude Simon: La Confusion créative.“ (1995). 61 Hierzu u.a. R.L. Sims: „L’influence du cinéma et ses techniques sur quelques romans de Simon.“ (1975), F.v. Rossum-Guyon: Le Cœur critique: Butor, Simon, Kristeva, Cixous. (1997), Kap. 6; G. Prignitz: „Le modèle plastique dans La Route des Flandres: Jalons stylistiques d’un traitement de l’image.“ (1997), B. Ferrato-Combe: „Esthétique picturale et poétique romanesque chez Simon.“ (1997), I. Albers: „‘The Shock of the Photographs, the Weight of the Words’: Photographic War Memories in Claude Simon’s La Route des Flandres.“ (1998), B. Ferrato-Combe: Écrire en peintre: Claude Simon et la peinture. (1998), A.-M. Baron: „La Route des Flandres, de Simon, roman filmique.“ (1998), I. Albers: Photographische Momente bei Claude Simon. (2002), S. Bikialo: „Les ‘Tracés sinueux’ de Claude Simon: Une poétique de la pelote de laine.“ (2004), K. Gosselin: „Simon, peindre avec les mots.“ (2004), J. Mecke: „Images-temps: Métaphores, temps et techniques cinématographiques dans La Route des Flandres.“ (2006). <?page no="30"?> 30 ven Status, den die beschriebenen Kunstwerke innerhalb der fiktionalen Welt besitzen, sowie ihre dadurch bedingte a-referentielle Funktion. 62 Schließlich liefern auch die seit Beginn der 1980er Jahre vermehrt veröffentlichten Studien zum Aspekt der Heteroreferenz in Simons Texten 63 vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für eine Systematisierung metafiktionaler Erzählverfahren. Die Simonforschung wendet sich nun von Jean Ricardous Theorie des autoreferentiellen Skripturalismus ab und entdeckt den in den Texten der Nouveaux Romanciers und insbesondere in Claude Simons Werk von Anfang an angelegten Bezug auf die individuelle, autobiographische bzw. auf die kollektive, historische Realität: Die jeweiligen Arbeiten beschäftigen sich einerseits allgemein mit Fragen der sprachlichen ‚Referentialität’ bzw. ‚Mimesis’ 64 und untersuchen andererseits die in den Texten nachweisbaren Bezüge auf Simons Biographie 65 und auf den in den jeweiligen Texten gestalteten übergeordneten historischen Kontext. 66 So setzt sich D. Schmidt in ihrer Dissertation mit dem Referentialitätsparadigma in Simons Poetik auseinander und konstatiert ein „Spannungsfeld widersprüchlicher Schreibintention und Literaturkonzeptionen“, 67 das 62 B. Ferrato-Combe: „Peinture et autobiographie dans La Route des Flandres.“ (1997). Vgl. ebenso M. Zupan i : „Les Générateurs picturaux dans l’écriture simonienne.“ (1982), S. 105; J.H. Duffy: „The artwork as Generator.“ (1998), S. 66 und I. Albers: Photographische Momente bei Claude Simon. (2002), S. 20. 63 Diese nahmen seit dem 1982 in New York veranstalteten Kolloquium zum Thema „Three Decades of the French New Novel“ zu; vgl. die von Lois Oppenheim 1986 veröffentlichten Tagungsakten (L. Oppenheim (Hg.): Three decades of the french new novel. (1986)). 64 R. Sarkonak: „Toward a Simonian Mimetics.“ (1986), R. Sarkonak: Simon, les carrefours du texte. (1986), M.M. Brewer: „(Ré)inventions référentielles et culturelles chez Claude Simon: ‘Les Images les instants les voix les fragments du temps du monde’.“ (1994), C. Britton: „‘Ce paysage inépuisable’: Sens et référence dans la conception simonienne de la langue.“ (1994), A. Duncan: „La Route des Flandres: adventure in words.“ (1994), W. Engler: „Die Aufkündigung der Mimesisvereinbarung im Roman von Claude Simon: Notizen zu La Route des Flandres.“ (1995), A.B. Duncan: „Claude Simon: la crise de la représentation.“ (1997). 65 J. Fletcher: „Simon. Autobiographie et fiction.“ (1981), A.B. Duncan: „Claude Simon, le projet autobiographique.“ (1990), E. Gruber: „Éléments de biographie pour une écriture probable.“ (1993), B. Ferrato-Combe: „La Route des Flandres - une autofiction? “ (1997). 66 D. Carroll: The Subject in Question: the languages of Theory and the Strategies of Fiction. (1982b), Kap. 5, J. Duffy: „The Subversion of Historical Representation in Claude Simon.“ (1987), G. Prince: „How to Redo Things with Words: La Route des Flandres.“ (1988), F. Dugast-Portes: „Claude Simon et l’Histoire.“ (1990), F. Dugast-Portes: „La figure de l’ancêtre dans La Route des Flandres de Claude Simon.“ (1997), F. Dugast- Portes: „Lecture d’une vision de l’Histoire dans La Route des Flandres de Claude Simon.“ (1997), C. Trevisan: „L’Icône blessée: Histoire et filiation chez Claude Simon.“ (2002), R. Sarkonak (Hg.): Le (dé)goût de l’archive. (2005), M.M. Brewer: „Pour un devenir-archives dans l’œuvre simonienne.“ (2005). 67 D. Schmidt: Schreiben nach dem Krieg. Studien zur Poetik Claude Simons. (1997), S. 12f. <?page no="31"?> 31 sein Werk bestimme: einerseits „[…] das Bemühen um die Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen […] im Medium der Literatur […]“ und andererseits „[…] das Programm einer nicht mehr referentiellen Schreibweise, die die Konstruktion eines Texts nicht vom Bezug auf außerliterarische Gegenstände her denkt, sondern nur die Beziehungen der sprachlichen Zeichen untereinander für die Textproduktion furchtbar machen will.“ 68 Hingegen fokussiert N. Piégay-Gros’ Aufsatz zu La Route des Flandres stärker auf das hier propagierte Geschichtsbild: Dieses enthülle sich „[…] loin de tout développement conceptuel, dans les méandres d’une mémoire que délient les hypothèses de l’imagination.“ 69 Die Rekonstruktion der Vergangenheit werde durch den Rückgriff auf mythologische und antike Stoffe 70 sowie durch den fabulierenden Charakter des Gesagten untergraben; 71 statt einer Referenz auf eine außerliterarische Wirklichkeit setzten sich zuletzt die ‚déréalisation’ und die ‚dépersonnalisation’ der fiktiven Realität durch. 72 In das Zentrum des Forschungsinteresses rücken die Themen ‚Geschichte’ bzw. ‚Historiographie’ und damit die Frage nach der literarischen Repräsentation vergangener Realität jedoch erst im Zusammenhang mit Simons epochalem Roman Les Géorgiques; die Perspektiven der Untersuchungen zu dieser Thematik variieren beträchtlich: So untersucht A.C. Pugh die Infragestellung des positivistischen Geschichtskonzepts und betont das Innovationspotential, das Les Géorgiques für die Gattungsgeschichte des historischen Romans liefert: 73 Ebenso wie die postmoderne Historiographie sich kritisch mit dem Positivismus und seinen Repräsentationsformen auseinandersetzt, unternimmt auch Simon in seinem Roman „a subversion of a number of crucial historiographical assumptions“; dazu zählen „the historical name“, „the synthetic concept of the event“, „the synthesis of such historic events into a causally related sequence“ und „his reformulation of the status of the témoignage and the document on which a great many historical deductions are based“. 74 Im Gegensatz zu einer positivistisch fundierten, literarischen Verarbeitung des historischen Substrats arbeitet Simon - so Pugh - in seinem Roman die komplexe Beziehung zwischen Geschichte und Fiktion heraus 75 und liefert in der Verbindung von 68 D. Schmidt: Schreiben nach dem Krieg. Studien zur Poetik Claude Simons. (1997), S. 14. 69 N. Piégay-Gros: „Légende et affabulation dans La Route des Flandres.“ (1997), S. 119. 70 Ebd., S. 119f. 71 Ebd., S. 126f. 72 Ebd., S. 127. 73 A.C. Pugh: „Facing the Matter of History: Les Géorgiques.“ (1985), S. 114. 74 J. Duffy: „The Subversion of Historical Representation in Claude Simon.“ (1987), S. 421. 75 L.S. Roudiez: „History and Fiction in Claude Simon’s Novels.“ (1985), S. 50. <?page no="32"?> 32 „autoreprésentation“ und „représentation“ eine „représentation scripturale de l’Histoire“. 76 Neuere Untersuchungen zur Geschichtsthematik in Simons Text wie beispielsweise S. Kleinerts Arbeit legen das Gewicht noch stärker auf die Analyse der selbstreflexiven Textstrategien, die sich kritisch mit den Möglichkeiten des Romans auseinandersetzen, Vergangenheit sprachlich und erzählerisch zu repräsentieren bzw. zu rekonstruieren. Ohne jedoch eine überzeugende und v.a. ‚saubere’ - im Sinne einer eindeutigen Abgrenzung zur Metanarration - Definition ihrer Arbeit an den Anfang zu stellen, vertritt Kleinert die These, dass Les Géorgiques in Teilen der historiographischen Metafiktion zuzurechnen sei, und bezieht sich dabei sowohl auf die „réflexion sur le problème de la représentation verbale“ als auch auf die „réflexion sur les média, photographie ou textes, pouvant servir de support à la mémoire historique“. 77 Doch bleibt sie mit ihrer Analyse an der Oberfläche eines derart komplexen - auch im Hinblick auf die narrativen Strategien - Phänomens wie die (historiographische) Metafiktion, zumal sie nicht deutlich genug auf die Thematisierung bzw. Inszenierung von Künstlichkeit und Erfundenheit als zentrale Komponenten von Metafiktion verweist und den Begriff unreflektiert auf intermediale Erzählstrategien bezieht. Ähnlich vage beschreibt auch C. Reitsma-La Brujeere „cette dimension métahistorique et métadiscursive“ von Les Géorgiques und bezeichnet damit insbesondere die Infragestellung eines überkommenen, traditionellen historischen Erzählens, ohne jedoch genauer auf die spezifischen - Fiktion und Geschichtsschreibung thematisierenden - metafiktionalen bzw. metahistoriographischen Verfahren einzugehen. 78 In jüngerer Zeit hat sich S. Schreckenberg ausführlich mit der „Problematisierung von Formen, Möglichkeiten und Grenzen historischer Sinnstiftung“ in Les Géorgiques beschäftigt. 79 Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Vergangenheit in diesem Text ‚poetisiert’ werde, wodurch Erzählen als ein kreativer Prozess und Geschichte(n) als das Produkt dieses Prozesses sinnstiftend erfahren werden können. 80 Dabei impliziert die vom Erzähler unternommene ‚Poetisierung’, dass der Roman ausgehend von historisch realen Ereignisfragmenten Geschichte als narratives Produkt 76 C. Reitsma La Brujeere: Passé et présent dans Les Géorgiques de Claude Simon. Étude intertextuelle et narratologique d’une reconstruction de l’Histoire. (1992), S. 237f. 77 S. Kleinert: „La construction de la mémoire dans le nouveau roman historique et la métafiction historiographique des littératures romanes. [Cl. Simon: La Route des Flandres, Les Géorgiques, L’Acacia, Histoire].“ (2000), S. 141. 78 C. Reitsma La Brujeere: Passé et présent dans Les Géorgiques de Claude Simon. Étude intertextuelle et narratologique d’une reconstruction de l’Histoire. (1992), S. 237. 79 S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 20. 80 Ebd., S. 364. <?page no="33"?> 33 konstituiert. 81 Das auffälligste Defizit von Schreckenbergs Studie stellt in diesem Zusammenhang seine fehlende Rezeption der in der Literaturwissenschaft mittlerweile verbreiteten Theoriebildung zum metafiktionalen und metahistoriographischen Erzählen dar; insbesondere das Konzept der in der Anglistik und Amerikanistik entwickelten historiographic metafiction hätte von ihm auf den Roman appliziert werden müssen. Es sind also bereits einige Arbeiten erschienen, welche sich einerseits mit der problematischen Referenz der Texte auf vergangene, individuelle oder kollektive, Realität beschäftigen und andererseits mit ihrer möglichen sprachlich-fiktionalen Repräsentation, und welche dabei auch metafiktionale und metanarrative Aspekte der Werke streifen. Allerdings gilt für die zitierten Arbeiten, dass sie - soweit sie überhaupt genuin metafiktionale oder metanarrative Phänomene beschreiben und in der Literaturwissenschaft geläufige Begriffe zur ihrer Benennung verwenden - in ihren Definitionen äußerst vage bleiben und darüber hinaus die in Simons Texten beobachteten Vertextungsstrategien nicht typologisch ausdifferenzieren, sondern diese insgesamt nur sehr oberflächlich behandeln. 1.4 Ziel und Gang der Untersuchung Die Thematik der vorliegenden Arbeit zeigt sich motiviert durch die eingangs aufgezeigten Lakunen in der Theoriebildung zum metafiktionalen Erzählen sowie in der Simonforschung; letztere hat sein Werk bislang nicht systematisch auf die Ausprägungen der Metafiktion und der Metanarration und ihre spezifischen Funktionen untersucht. In dem hier entworfenen Rahmen verfolgt die Dissertation eine doppelte Zielsetzung: Zum einen soll in kritischer Auseinandersetzung mit den bisherigen Theorieentwürfen von L. Hutcheon, S.E. Lauzen und W. Wolf und unter Verwendung narratologischer Analysekategorien ein neues Modell der Metafiktion entwickelt werden, welches das notwendige Begriffsinstrumentarium für die im Anschluss erfolgenden Analysen der Romane Simons bereitstellen wird. Dieses Ziel macht ein vorgeschaltetes theoretisches Kapitel notwendig, in welchem die Termini ‚Metafiktion’ und ‚Metanarration’ in den größeren Kontext literarischer Autoreferentialität eingeordnet, voneinander abgegrenzt und ihre bisherigen Konzeptionalisierungen vorgestellt werden sollen. Zum anderen werden in Simons Romanen La Route des Flandres, Triptyque und Les Géorgiques die typologischen Varianten metafiktionaler, metanarrativer und metahistoriographischer Diskurse, ihre Funktionen sowie die historische Entwicklung ihres Auftretens im Werkkontext analysiert. Dabei liegt der Schwerpunkt der Ausführungen auf der Metafiktion; dies 81 S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 20. <?page no="34"?> 34 spiegelt sich auch in der Konzeption des Ergebniskapitels, in welchem schließlich eine Typologie der metafiktionalen Erzählverfahren in Simons Werk entworfen werden soll. Das besondere Innovationspotential der Dissertation liegt demzufolge nicht allein in der Ergänzung der Theoriebildung zum metafiktionalen Erzählen, sondern insbesondere auch in ihrem komparatistischen Ansatz: Zum ersten Mal werden die ursprünglich innerhalb der Anglistik bzw. Amerikanistik entwickelten theoretischen Konzepte der ‚Metafiktion’, ‚Metanarration’ sowie der ‚historiographischen Metafiktion’ auf ein französisches Textkorpus angewandt. Die Arbeit schließt somit eine Lücke in der Erforschung von Simons literarischem Werk und schreibt darüber hinaus auch ein neues Kapitel in der Gattungsgeschichte des französischen postmodernen historischen Romans. Die Gliederung der Dissertation in zwei Hauptteile ist Ausdruck ihrer doppelten Zielsetzung: Der vorangestellte theoretische Teil diskutiert zunächst ältere Konzepte metafiktionalen und metanarrativen Erzählens. Die Begriffe der ‚Metafiktion’ und ‚Metanarration’ werden definiert und in den größeren Zusammenhang literarischer Autoreferentialität bzw. Metatextualität eingeordnet; darüber hinaus werden einschlägige Typologisierungsansätze vorgestellt, um auf diese Weise den eigenen theoretischen und begrifflichen Vorschlägen das Feld zu bereiten. Im Anschluss wird ein neues Modell metafiktionalen Erzählens entwickelt, das sich stärker als bisherige Entwürfe an narratologischen Analysekategorien orientiert und das analog zum sprachhandlungstheoretischen Modell der narrativen Fiktion entwickelt wird. Dieses soll erstens untersuchen, auf welchen narrativen Ebenen fiktionale Erzähltexte die eigene Fiktion metafiktional kommentieren, und zweitens, auf welche Weise auch narratologische Aspekte wie die Erzählsituation, die Figurencharakterisierung, die Bewusstseinsdarstellung, die Raum- und Zeitdarstellung und der Stil implizite metafiktionale Funktionen übernehmen können. Der Analyseteil der Arbeit beschäftigt sich schließlich mit den Formen und Funktionen von Metafiktion, Metanarration und Metahistoriographie in Claude Simons Romanen La Route des Flandres, Triptyque und Les Géorgiques. Wie einleitend dargelegt wurde, entstammen diese Texte verschiedenen Schaffensphasen Claude Simons; ihre Wahl bestimmte sich danach, ob sie signifikante metafiktionale und metanarrative Komponenten aufweisen und ob sie zugleich auch paradigmatisch für die jeweilige Phase sind. Bei der Untersuchung der genannten Werke wird auf die im theoretischen Teil entwickelten Analysekategorien der Metafiktion zurückgegriffen; am Ende soll als Ergebnis eine Typologie metafiktionalen Erzählens im Werk Simons stehen. Den Ausgangspunkt bildet der Roman La Route des Flandres (1960), dessen zentrales, durch das Leitmotiv „Comment savoir“ stets präsentes The- <?page no="35"?> 35 ma die individuelle Wahrnehmung von Realität und ihre problematische retrospektive, erinnernde Evokation ist. Diese Wahrnehmungs- und Erinnerungspoetik verweist indirekt auf die Probleme, vor die sich auch die Literatur bei der ‚Abbildung’ von extratextueller Wirklichkeit gestellt sieht. Mit Triptyque (1973) wird der wichtigste Roman aus Simons ‚skripturalistischer’ Phase untersucht, in welcher der Selbstbezug der Texte seinen Höhepunkt erreicht. Simon verarbeitet den zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Textes kursierenden radikalen Erkenntnisskeptizismus in einer metaästhetischen Kritik an den verschiedenen medialen Repräsentationsformen, seien es Film, (literarischer) Text, Photographie oder Malerei. Er stellt auf diese Weise die Referenzfunktion nicht nur der Literatur in Frage und entwirft zugleich eine metapoetische Anleitung zur Rezeption seiner Texte. Simons Alterswerk Les Géorgiques (1981) schließlich stellt mit dem Thema des kollektiven Gedächtnisses die Geschichte und den narrativen Diskurs von Historiographie, Autobiographie sowie Biographie in den Mittelpunkt seiner Reflexion und schließt mit dem erneut auftretenden Leitmotiv „Comment savoir“ an La Route des Flandres (1960) an. Im Zentrum von Simons Kritik an der positivistischen These von der objektiven ‚Abbildbarkeit’ vergangener Realität steht die Aufdeckung der Rolle, welche Fiktion und Imagination als kreative Kräfte im historiographischen Rekonstitutionsprozess spielen. Zugleich werden im Text die Prämissen historiographischen, autobiographischen und biographischen Erzählens kritisch diskutiert und diesen narrativen Modi das fiktionale historische Erzählen gegenübergestellt. Übergeordnetes Ziel des Analyseteils ist, am Beispiel der genannten Texte die Varianten metafiktionaler, metanarrativer und metahistoriographischer Diskurse in Claude Simons Romanwerk zu beschreiben und ihre diachrone Entwicklung nachzuzeichnen. <?page no="37"?> 37 Teil I Theoretische Entwicklung eines neuen Beschreibungsmodells metafiktionalen Erzählens 2 ‚Metafiktion’ und ‚Metanarration’ - Bisherige Definitions- und Typologisierungsansätze Seit den 1960er Jahren erwacht - wie eingangs beschrieben - in der Auseinandersetzung mit den experimentellen Erzählverfahren der literarischen Spät- und Postmoderne das Interesse der Literaturwissenschaft an der Erforschung der verschiedenen, in den Texten nachweisbaren, autoreferentiellen Strategien. So unterschiedliche literarische Phänomene wie in der französischen Literaturwissenschaft die mise en abyme bzw. in der anglistischen und amerikanistischen die self-conscious novel werden systematisch erforscht; allerdings mit dem verwirrenden Nebeneffekt, dass die beobachteten Phänomene mit undifferenziert synonym verwendeten Termini bezeichnet werden. Häufig finden sich in einer einzigen Abhandlung Akkumulationen und Kombinationen von Begriffen wie z.B. ‚Selbstreflexivität’, ‚Selbstreferenz’, ‚Selbstreferentialität’, ‚Autoreflexivität’, ‚Autoreferenz’‚ ‚Autoreferentialität’, ‚Spiegelung’, mise en abyme, ‚Metareflexivität’, ‚Metatextualität’, ‚Metafiktion’/ ’Metafiktionalität’, ‚Metaroman’‚ self-conscious novel oder auch self-begetting novel. 1 Den Versuch einer Begriffsklärung haben in jüngerer Zeit vor allem W. Wolf und M. Scheffel unternommen; das Ziel ihrer Arbeiten zur Selbstreferenz war, diese nicht nur zu definieren und von verwandten Phänomenen 1 So vermengt Peter Freese in seinem Aufsatz zur amerikanischen Short Story die erzähltechnischen Kategorien ‚Metanarration’, ‚Metafiktion’ und ‚Meta-Story’: „Meta- Stories offerieren dem Lesern neben ihrer jeweiligen fiktiven Substanz zugleich auch immer den diese Substanz hervorbringenden schöpferischen Intellekt als in ihr erkennbar anwesend, machen also Erzähler und Erzählakt zum Erzählgegenstand (das ist ‚Meta-Narration’; S.Z.) und sind deshalb statt auf Illusion ausgerichtete Erzählungen von vorgeblicher Wirklichkeit bewußt als künstlich ausgewiesene künstlerische Konstrukte (das ist ‚Metafiktion’; S.Z.) mit vorwiegend ästhetischer Funktion. (P. Freese: „Die Story ist tot, es lebe die Story: Von der Short Story über die Anti-Story zur Meta-Story der Gegenwart.“ (1977), S. 247.) <?page no="38"?> 38 abzugrenzen, sondern vor allem auch erste Ansätze einer Typologisierung zu entwickeln. 2 Im Folgenden soll zunächst Roman Jakobsons Modell verbaler Kommunikation kurz vorgestellt werden, das zum Ausgangspunkt vieler der heute angewandten Konzepte selbstreferentiellen Erzählens wurde. Im Anschluss werden die von M. Scheffel und W. Wolf vorgeschlagenen Typologien der Selbstreferentialität sowie wichtige Termini zur Bezeichnung selbstthematisierender Textphänomene ausführlicher beschrieben. Die Ausführlichkeit, mit der auf bestehende Modelle zum metafiktionalen und metanarrativen Erzählen eingegangen wird, ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung eines neuen Konzepts der Metafiktion und damit auch für eine adäquate Lektüre der ausgewählten Texte Claude Simons. Diese kann nur gelingen, wenn das terminologische Instrumentarium zuvor klar festgelegt und deutlich von verwandten Begriffen abgegrenzt wurde. 2.1 R. Jacobsons Kommunikationsmodell und die Konzepte literarischer Autoreflexivität und Metatextualität Die verschiedenen, heute gebräuchlichen Termini zur Benennung von autoreflexiven bzw. Metaphänomenen in der Literatur haben ihren Ursprung zum einen in R. Jakobsons Weiterentwicklung von K. Bühlers „Organonmodell“ der Sprache 3 und zum anderen in Rudolf Carnaps Konzept der „Metalanguage“. 4 So weist R. Jakobson den Faktoren, die jeden verbalen Kommunikationsakt 5 konstitutieren, verschiedene Funktionen zu: 2 W. Wolf: „Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst: Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur mise en cadre und mise en reflet/ série.“ (2001); M. Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. (1997) 3 Vgl. hierzu Scheffels Überblick über die Weiterentwicklung des Bühlerschen Organonmodells von den Prager Strukturalisten bis zu Umberto Eco. (M. Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. (1997), S. 11- 22.) 4 Carnap definiert ‘Objektsprache’ und ‘Metasprache’ wie folgt: „The language spoken about in some context is called the object language; the language in which we speak about the first is called the metalanguage.” (R. Carnap: Introduction to semantics and formalization of logic. (1959), S. 3.) 5 Dieser lässt sich ganz allgemein wie folgt charakterisieren: Ein Sender schickt einem Empfänger eine Mitteilung über einen bestimmten Kontext (= Referent) mittels eines zwischen ihnen bestehenden Kontakts (z.B. ein physischer Kanal oder eine psychologische Verbindung) und unter Verwendung eines bestimmten linguistischen Codes. <?page no="39"?> 39 Code (metasprachliche Funktion) Kontext (referentielle Funktion) Mitteilung (poetische Funktion) Kontakt (phatische Funktion) Sender (emotive Funktion) Empfänger (konative Funktion) Abbildung 1: R. Jakobsons Modell verbaler Kommunikation Die Orientierung auf den Sender einer sprachlichen Botschaft beschreibt die emotive Funktion, die Ausrichtung auf den Empfänger die konative Funktion, die Einstellung auf die Botschaft als solche die poetische Funktion, die Orientierung auf den Kontext die referentielle Funktion, die Einstellung auf den Kontakt die phatische Funktion und die Ausrichtung auf den Code die metasprachliche Funktion. 6 Es sind insbesondere die poetische und die metasprachliche Funktion, an die literaturwissenschaftliche Beschreibungsmodelle textueller Selbstreflexivität anknüpfen. 7 6 R. Jakobson: „Linguistik und Poetik. [1960].“ (1979), S. 88-93. 7 M. Scheffel hat in seiner Habilitationsschrift detailliert nachgewiesen, wie das Konzept der ‚literarischen Selbstreferenz’ auf der Grundlage von Karl Bühlers ‚Organonmodell’ in den strukturalistischen Ansätzen Jan Muka ovskýs und Roman Jakobsons sowie in Umberto Ecos semiotischem Ansatz weiterentwickelt wurde. Allerdings zeigt Scheffel auch klar die Grenzen dieser formalistisch begründeten Ansätze auf: So unterstellen die genannten Autoren dem besonderen ästhetischen Zeichen aufgrund des von Muka ovský beobachteten gelockerten Praxis- und Gegenstandsbezugs poetischer Sprache eine ‚autoreflexive’ und ‚mehrdeutige’ Struktur. (Damit ist gemeint, dass das ästhetische Zeichen vor allem seine spezifische materielle Organisation bedeutet.) Allerdings sind sie sich - wie vorsichtige Formulierungen verraten - auch der logischen Notwendigkeit bewusst, dass Zeichen definitionsgemäß auch noch etwas Anderes als sich selbst bedeuten müssen (und daher kein Zeichensystem existieren kann, das ausschließlich auf sich selbst verweist) und dass Zeichen auch nicht beliebig mehrdeutig sein können. (M. Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. (1997), S. 11-23.) <?page no="40"?> 40 R. Jakobson nennt als poetische Funktion der Sprache „die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen“: 8 das „Augenmerk [wird] auf die Spürbarkeit der Zeichen“ 9 - auf seinen Signifikanten - gerichtet, ohne dass diese Funktion jedoch allein auf die Dichtung reduziert bliebe. Auf die literarische Sprache übertragen, verweist die poetische Funktion der Sprache auf das literarische Phänomen der ‚Autoreferentialität’, definiert als ‚Bezug eines Textes auf sich selbst’ im Gegensatz zur ‚Heteroreferentialität’ als dem Bezug eines Textes auf Außertextuelles. Allgemein gilt „die Tendenz zu relativ hochgradiger Selbstreferentialität [als] eines der Kriterien“ 10 für die Bestimmung von (Höhenkamm-)Literatur. Nachdem bereits Klaus W. Hempfer zu Beginn der 1980er Jahre den Versuch unternommen hatte, die Abhängigkeiten zwischen den zur Bezeichnung von ‚Autoreflexivität’ verwendeten Begriffen zu klären, 11 hat Michael Scheffel im Rahmen einer Kritik am „verwirrenden Neben- und z.T. Durcheinander scheinbar verwandter Bezeichnungen wie ‚autoreflexiv’, ‚autothematisch’, ‚metanarrativ’, ‚metadiskursiv’, ‚metafiktional’, metanovel, introverted novel, self-conscious-novel [etc.]“ 12 eine präzisere Bestimmung der Termini ‚Selbstreflexion’ bzw. ‚Selbstreflexivität’ vorgeschlagen. Ausgehend von den zwei Bedeutungen des vom lateinischen Verb „reflectere“ abgeleiteten deutschen Verbs „reflektieren“ - 1. zurückstrahlen, (wider)spiegeln; 2. nachsinnen, betrachten, erwägen - unterscheidet Scheffel zwischen zwei Formen literarischer Selbstreferenz: Während der Begriff ‚Selbstreflexivität’ und das dazugehörige Adjektiv ’selbstreflexiv’ „eine Eigenschaft bzw. einen Zustand im allgemein [sic] Sinne von ‚Selbstbezüglichkeit’“ 13 bezeichnen, meint „[…] ‚Selbstreflexion’ eine Tätigkeit, die sich […] wahlweise als ‚Sich-Selbst-Spiegeln’ oder als ‚Sich-Selbst-Betrachten’ 8 R. Jakobson: „Linguistik und Poetik. [1960].“ (1979), S. 92. 9 Ebd., S. 92f. Jakobson liefert verschiedene Beispiele aus der Alltagssprache sowie aus Prosatexten, in denen verschiedene poetische Verfahren ausschlaggebend für die Wortwahl und die Satzkonstruktion sind. 10 W. Wolf: „Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst: Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur mise en cadre und mise en reflet/ série.“ (2001), S. 50. 11 K.W. Hempfer: „Die potentielle Autoreflexivität des narrativen Diskurses und Ariosts Orlando Furioso.“ (1982). Seine Definition beschränkt sich in ihrer Reichweite jedoch allein auf den narrativen Diskurs und begreift ‚Autoreflexivität’ als „[…] prinzipielle Möglichkeit des Erzählens […], das Erzählen selbst und nicht nur die ‚Geschichte’ zum Gegenstand des Diskurses zu machen.“ (S. 136.) Dazu zählt er insbesondere die in Ariosts Orlando furioso beobachteten Phänomene „Thematisierung von Erzählakt, Sprecher-Hörer-Relation und Vermittlungsmedium“, „Selbstthematisierung des Erzählsubjekts“, „Reflexion des Erzählers über die ‚Geschichte’“ sowie „Reflexion des Erzählsubjekts über Bedingungen der Vermittlung der ‚Geschichte’ im Diskurs“. 12 M. Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. (1997), S. 46. 13 Ebd., S. 47. <?page no="41"?> 41 spezifizieren läßt.“ 14 Im besonderen Fall der Erzähltexte, die ja den zeitlichen Verlauf von Handlungen darstellen, muss ‚Spiegelung’ präzisiert werden als „eine Wiederholungsbeziehung […] ein[es] Teil[s] [einer] Erzählung […] zu anderen Teilen oder der Erzählung als Ganzes […].“ 15 Davon zu unterscheiden ist ‚Selbstreflexion’ als „Betrachtungen […], die unmittelbar oder mittelbar Teile der Erzählung oder die Erzählung als Ganzes betreffen.“ 16 Während ‚Selbstreflexion’ als ‚Spiegelung’ also eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Teilen eines Textes impliziert, stellen die von Scheffel genannten selbstreflexiven ‚Betrachtungen’ Kommentare bzw. Reflexionen einer innerfiktionalen Instanz dar. Anschließend nimmt Scheffel drei wichtige Einschränkungen der narrativen ‚Selbstreflexion’ vor: So führe Selbstreflexion nicht notwendig zur Selbst- oder Rückbezüglichkeit einer Erzählung als Ganzes, ferner sei Selbstreflexion in den beiden oben genannten Bedeutungen nicht notwendig an die Fiktionalität einer Erzählung gebunden, 17 und schließlich sei Selbstreflexion ein Phänomen, das zwar markierte intertextuelle Anspielungen einschließen könne, dessen eigentlicher Ort aber im intratextuellen Bereich einer einzelnen Erzählung liege. Mithin bezeichnet der Begriff unterschiedliche Formen der Selbstbezüglichkeit einer einzelnen Erzählung (oder ihrer Teile) und nicht ihr Verhältnis zu anderen Erzählungen. 18 In jüngster Zeit hat W. Wolf den Begriff ‚literarische Selbstreferenz’, aufbauend auf Scheffels Ergebnissen, neu definiert und von verwandten Phänomenen wie ‚Autoreflexivität’, ‚Spiegelung’, ‚Metatextualität’, ‚Metafiktion’ oder ‚Metareflexivität’ abgegrenzt. 19 Zunächst setzt Wolf die Termini ‚Selbst- oder Autoreferentialität’ bzw. ‚-referenz’ äquivalent mit dem Verweis auf die offensichtliche Synonymität der Präfixe ‚Selbst-‚ und ‚Auto-’ sowie auf die nur marginale semantische Differenz zwischen einerseits dem Begriffspaar ‚Selbstreferentialität’/ ’Selbstreflexivität’ zur Bezeichnung einer bestimmten Qualität und andererseits den eine Aktivität implizierenden Begriffen ‚Selbstreferenz’/ ’Selbstreflexion’. 20 Wolf definiert schließlich ‚Selbstreferentialität’ bzw. ‚-referenz’ als 14 M. Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. (1997) 15 Ebd., S. 48. Hervorhebung, S.Z. 16 Ebd. 17 Somit unterscheidet sich der Begriff der narrativen Selbstreflexion schon a priori von dem der ‚Metafiktion’. 18 M. Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. (1997), S. 48. 19 W. Wolf: „Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst: Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur mise en cadre und mise en reflet/ série.“ (2001) 20 Ebd., S. 51f. <?page no="42"?> 42 […] alle jene textuellen Erscheinungen, die […] sich in nachweislicher oder zumindest plausibler Art wieder auf Text/ Texte, Sprache und/ oder (Sprach-) Kunst und Medien (bzw. auf Teile dieser Bereiche), also direkt oder indirekt auf Merkmale, Inhalte, Entstehungs- oder Rezeptionsbedingungen usw. des eigenen Systems beziehen. 21 Diese Definition ist weiter gefasst als die von Scheffel vorgeschlagene, da sie auch intertextuelle, intermediale bzw. ganz allgemein ästhetische Phänomene einbezieht und vor allem den Bereich der (intra-)textuellen Wiederholungen oder Ähnlichkeiten nicht allein auf ‚Spiegelungen’ wie die mise en abyme beschränkt, die auf unterschiedlichen Ebenen eines Textes stattfinden. Im Anschluss an diese Begriffsbestimmungen entwickelt Wolf eine Typologie literarischer Autoreferenz, die er in einem ersten Schritt von der ‚Heteroreferenz’ fiktionaler Texte unterscheidet als die „Referenz auf außerhalb von Sprache, Text, Kunst und Medien Angesiedeltes, also auf eine Welt, die als etwas anderes als das Universum menschlicher Zeichensysteme angesehen wird.“ 22 Demgegenüber basiert der Begriff der ‚Selbstreferenz’ „auf dem Postulat eines abgeschlossenen Systems, innerhalb dessen Selbst-, d.h. Binnenbezüge, als Gegensatz zu Außenbezügen definiert werden.“ 23 In dem Maße wie dieses abgeschlossene System einerseits den Text eines bestimmten Werkes im engeren Sinne, andererseits aber auch den ganzen Komplex der Kunst und Ästhetik umfasst, unterscheidet Wolf zwei Formen literarischer Selbstreferenz mit unterschiedlicher Reichweite: zum einen die direkte / (intra)textuelle und zum anderen die indirekte / transtextuelle Autoreferenz. 24 Als Weiterentwicklung von Scheffels Typologie nennt Wolf zwei Hauptformen literarischer Autoreferenz: einerseits den nichtkognitiven Selbstbezug und andererseits die kognitive Selbstreflexion. 25 Der Typus des nichtkognitiven Selbstbezugs ist formal durch Ähnlichkeiten bestimmt; 21 W. Wolf: „Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst: Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur mise en cadre und mise en reflet/ série.“ (2001), S. 52. 22 Ebd., S. 53. 23 Ebd., S. 54. Unter ‚System’ versteht Wolf nicht allein den ‚Text’ im engen Sinne als Text eines individuellen Werks, sondern bezieht in einem ebenfalls engen Sinne (in Abgrenzung zur ‚Pan-(Inter-)textualität’ im poststrukturalistischen bzw. konstruktivistischen Sinne) den ‚Text’ als „Gesamtmenge der verbalen Zeichen samt deren Signifikaten […], die in einem Werk enthalten sind“, ein (S. 55.). Von dieser engen Begriffsbestimmung unterscheidet Wolf einen weiten Systembegriff, der „die nichtheteroreferentiellen Kontexte eines Textes umfaßt, d.h. zum einen die Elemente des betreffenden Werkes, die nicht ‚Text’ im obigen Sinne sind, sowie darüber hinaus den gesamten Bereich der Literatur, Künste und Medien (z.B. auch des Films) einschließlich der dazugehörigen (z.B. ästhetischen) Reflexion.“ (S. 55.) 24 Ebd., S. 55. 25 Allerdings wählt Wolf im Gegensatz zu Scheffels ‚Selbstreflexion’ den Oberbegriff ‚Autoreferentialität’, um das Verweisen im Sinne einer Aktivität stärker zu betonen. <?page no="43"?> 43 im Zentrum steht ein „selbstbezügliches Verweisen“ im Sinne einer einfachen Ähnlichkeitsrelation. 26 Hingegen meint die Form der kognitiven Selbstreflexion ein „kognitivfunktional definiertes ‚Sich-Selbst-Betrachten’“; hier geht es um „ein [absichtsvolles; S.Z.] Thematisieren (telling) oder ein Implizieren oder ‚Inszenieren’ (showing) von selbstreferentieller Bedeutung, bzw. [um] Verfahren, die zu einer selbstreferentiellen Reflexion im Sinne von ‚Nachdenken’ animieren.“ 27 Dieser Typus besitzt wiederum zwei Unterkategorien, die sowohl im Bereich der direkten/ (intra)textuellen als auch im Bereich der indirekten/ transtextuellen Autoreferenz auftreten können: es handelt sich zum einen um Formen der Selbstreflexion mit Metaimplikationen und zum anderen um solche ohne Metaimplikationen. 28 Das Schaubild präsentiert einige wichtige Unterkategorien literarischer Autoreflexivität mit den von W. Wolf proklamierten Bedeutungen von ‚Ähnlichkeit’ bzw. von ‚Bedeuten’; diese sollen im Anschluss kurz vorgestellt und voneinander abgegrenzt werden. 26 W. Wolf: „Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst: Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur mise en cadre und mise en reflet/ série.“ (2001), S. 59. 27 Ebd., S. 58f. 28 Ebd., S. 69f. Die autoreferentiellen Phänomene mit Metaimplikation zeichnen sich per definitionem dadurch aus, dass die Selbstthematisierung des Textes bzw. der Textteile von einer höheren logischen Ebene aus erfolgt, einer Metaebene. (W. Wolf: „Metatext und Metatextualität.“ (1998), S. 366.) <?page no="44"?> 44 Selbstreferenz Autoreferenz Heteroreferenz Kognitive Selbstreflexion (Bedeuten) Nicht-kognitiver Selbstbezug (Ähnlichkeit) • INTRATEXTUELL • mise en abyme • mise en cadre • mise en reflet/ série • TRANSTEXTUELL • Mit Metaimplikation (= Metareflexivität) • Fremdmetafiktionen • Metareflexionen zur Ästhetik eines anderen Textes/ Mediums • Ohne Metaimplikation • Intertextuelle/ Intermediale Reflexionen über Inhalte eines anderen Textes/ Mediums ohne Reflexion über Kunst-/ Medienhaftigkeit • TRANSTEXTUELL • Intertextualität • Intermedialität (Ekphrasis, ut pictura poiesis, Musikalisierung) • INTRATEXTUELL • Mit Metaimplikation (= Metareflexivität) • Metatextualität • Metadiskursivität • Metanarration • Metasprache • Metafiktion • Metamedialität • Metaästhetik • Metalyrik • Metadrama • Ohne Metaimplikation • Paratextuelle Passagen • Bezug auf inhaltliche Teile des Textes Abbildung 2: Schema literarischer Selbstreferenz (nach W. Wolf) Je nach Reichweite der Ähnlichkeitsbeziehung lassen sich verschiedene Formen literarischer Autoreflexivität, die auf der Ähnlichkeit von Textteilen, Texten oder anderen Kunstformen beruhen, unterscheiden. Typische Phänomene auf der Ebene des Einzeltexts sind z.B. bestimmte rhetorische Verfahren, die auf syntaktischen Ähnlichkeiten oder Rekurrenzen beruhen (z.B. Anapher und Epipher) oder aber die semantischen Isotopien des Strukturalismus. Das bekannteste Verfahren dürfte jedoch die mise en abyme sein, die auf inhaltlichen (z.T. auch formalen) Ähnlichkeiten beruht. Der Begriff mise en abyme wurde in Anlehnung an A. Gide 29 in den 1960er Jahren von J. Ricardou aufgegriffen und als dédoublement definiert. Jedoch legte Ricardou nicht explizit fest, auf welcher Ebene des Textes - ob auf der histoire- oder der discours-Ebene - diese Verdoppelung stattfindet oder ob sie sogar textübergreifend wirksam werden kann. 30 Etwas präziser definiert später Lucien Dällenbach die mise en abyme als „tout miroir interne réfléchissant l’ensemble du récit par réduplication simple, répétée ou spécieuse.“ 31 29 Der Begriff wurde von André Gide aus der Heraldik entlehnt (Vgl. hierzu L. Dällenbach: Le récit spéculaire. Contribution à l’étude de la mise en abyme. (1977), S. 15f.) 30 J. Ricardou: Le Nouveau roman. (1973), S. 50. 31 L. Dällenbach: Le récit spéculaire. Contribution à l’étude de la mise en abyme. (1977), S. 52. Er bestimmt zunächst drei ‚espèces élémentaires’, je nach dem affizierten Objektbe- <?page no="45"?> 45 Im transtextuellen Bereich beruhen nicht-metafiktionale Formen der Intertextualität 32 und der Intermedialität 33 (wie z.B. die Ekphrasis 34 oder die Musikalisierung des Erzählens) ebenfalls auf Ähnlichkeitsbeziehungen. Im Vergleich zu dem sich auf bloßen Ähnlichkeitsbeziehungen begründenden Bereich des Selbstbezugs ist der Bereich der absichtsvollen, eine bestimmte Aussage vertretenden Selbstreflexion ungleich größer. Auf der Ebene des Einzeltextes sind typische Formen der Metareflexivität - also eigenthematisierende Kommentare eines Textes von einer höheren Warte aus - ‚Metanarration’, ‚Metatextualität’, ‚Metamedialität’, ‚Metafiktion’ oder auch ‚Metasprache’. Diese selbstreflexiven Kommentare zielen häufig explizit als Reflexionen einer Erzähler- oder Romanfigur auf das eigene Erzählen, den eigenen Text, die eigene Medialität, die Künstlichkeit der eigenen Fiktion, 35 oder aber auf die eigene Sprachlichkeit. Die von Wolf reich der Spiegelung (Die ergänzten Namen hinter dem Schrägstrich stammen von Mieke Bal. (M. Bal: „Mise en abyme et iconicité.“ (1978), S. 119-121.)): mise en abyme de l’énoncé/ fictionnelle (Reflexion des Inhalts der Diegesis); mise en abyme de l’énonciation/ narrative (Spiegelung des Erzählvorgangs, der Diegesis selbst); mise en abyme du code du récit/ textuelle/ métatextuelle/ transcendentale (Reflexion des Texts, seiner Struktur und seiner Vertextungsverfahren). Eine Sonderform der mise en abyme énonciative ist die von Steven G. Kellman zuerst definierte self-begetting novel: „[it] is an account, usually first-person of the development of a character to the point at which he is able to take up his pen and compose the novel we have just finished reading.” (S.G. Kellman: The Self-Begetting Novel. (1980), S. 3.) Allerdings muss die von Kellman definierte spezifische Form einer „infinite recession of chinese boxes” (Ebd.) nicht unbedingt ein Kennzeichen jeder self-begetting novel sein, da die Enthüllung des Erzählmotivs zwar den Leser unter Umständen zu einer Neubewertung der soeben gelesenen Geschichte veranlasst, ohne ihn jedoch unbedingt zum Zurückgehen an den Anfang des Textes zu zwingen. 32 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 225. 33 J. Helbig definiert ‚Intermedialität‘ „[…] als Verweis eines präsenten (und daher dominanten), bezeichnenden Mediums auf ein absentes (nicht-dominantes), bezeichnetes Medium unter ausschließlicher Verwendung des Zeicheninventars des bezeichnenden Mediums.“ (J. Helbig: „Intermediales Erzählen. Baustein für eine Typologie intermedialer Erscheinungsformen in der Erzählliteratur am Beispiel der Sonatenform von Anthony Burgess’ A Clockwork Orange.“ (2001), S. 132.) Bei dem Phänomen der Intermedialität handelt es sich demnach um eine Überschreitung von Mediengrenzen; allerdings erfolgt diese Überschreitung evokativ und unter Beibehaltung des üblichen Zeicheninventars sprachlicher Texte. (Ebd., S. 131.) Zu einer Typologie intermedialer Verfahren vgl. F. Mosthaf: Metaphorische Intermedialität: Formen und Funktionen der Verarbeitung von Malerei im Roman. (2000) 34 T. Yacobi wertet die ‚Ekphrasis’ „the literary evocation of spatial art“ als eine „antinarrative figure“, da in dieser verräumlichten Beschreibung das Erzählen selbst aufgegeben werde. (T. Yacobi: „Pictoral Models and Narrative Ekphrasis.“ (1995), S. 600, 620.) 35 Bereits in seiner Habilitationsschrift betonte Wolf das für die Abgrenzung der Metafiktion von einer allgemeinen literarischen Autoreferentialität wichtige Kriterium der Intentionalität bzw. Funktionalität: Metafiktional sind „intendierte, selbstbezügliche <?page no="46"?> 46 genannten ‘Meta-Termini’ lassen sich nun ebenfalls wie folgt systematisieren: Während ‚Metatextualität’ 36 eine übergeordnete Kategorie darstellt und alle metareflexiven Kommentare umfasst, die ganz allgemein auf den Text abzielen, handelt es sich bei Phänomenen wie der ‚Metadiskursivität’, 37 der ‚Metasprache’, der ‚Metanarration’ sowie der ‚Metafiktion’ um ihre Subkategorien. Selbstreflexionen des Textes, die keine Metaimplikation enthalten, mithin von keiner übergeordneten Ebene aus vorgenommen werden, sind z.B. die Bemerkungen einer Erzählerfigur über das Verhalten der diegetischen Figuren oder aber bestimmte paratextuelle Passagen wie ausführliche, den Inhalt resümierende Kapitelüberschriften. 38 Aussagen, die den Leser in besonderer Weise […] an Sachverhalte denken [lassen], die mit dem Kunstcharakter, v.a. dem fictio- und dem fictum-Status von Literatur zusammenhängen.“ (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 226f.) 36 Der Begriff ‚Metatextualität ‘ hat seinen Ursprung einerseits in den Überlegungen R. Jakobsons zur metasprachlichen Funktion der Sprache sowie andererseits in R. Carnaps Unterscheidung zwischen einer ‚Objektsprache’, die sich auf außersprachliche Sachverhalte bezieht, und einer ‚Metasprache ‘, die eine Objektsprache zum Gegenstand hat und über diese Aussagen macht. (R. Jakobson: „Linguistik und Poetik. [1960].“ (1979), S. 91f.) Ziel dieser Unterscheidung war, Paradoxien in der Art des Satzes „Alle Kreter lügen“ des Kreters Epimenides zu vermeiden. (R. Carnap: Introduction to semantics and formalization of logic. (1959)) Diese logische Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache wurde später von Roland Barthes auf die Literatur der Moderne übertragen: „Et puis, probablement avec les premiers ébranlements de la bonne conscience bourgeoise, la littérature s’est mise à se sentir double : à la fois objet et regard sur cet objet, parole et parole de cette parole, littérature-objet et métalittérature.“ (R. Barthes: „Littérature et méta-langage [1959].“ (1964), S. 106.) Auf der Grundlage von Barthes’ Definition der ‚Meta-Literatur‘ entwickelte die poststrukturalistische Literaturtheorie wiederum das Konzept der ‚Metatextualität ‘ und bezeichnet damit die „Situation, in der ein Text über sich selbst reflektiert“ bzw. - genauer - „ein literarischer Text wenigstens eine Äußerung enthält, deren Gegenstand derselbe Text oder einer seiner Aspekte ist.“ (Z. Kravar: „Metatextualität.“ (1994), S. 274.) W. Wolf wiederum definiert ‚Metatextualität’ als „[…] ein[en] Text(teil), der sich selbstreferentiell […] wieder auf Text bezieht, im Unterschied zur Intertextualität von einer höheren logischen Ebene aus, einer Metaebene, auf der die Textualität bzw. der Konstruktcharakter des Objekttextes thematisch wird.“ (W. Wolf: „Metatext und Metatextualität.“ (1998), S. 366.) 37 Der Terminus ‚Metadiskursivität’ war von W. Wolf in seinem Schema noch nicht vorgesehen, sondern wurde erst 2003 von M. Fludernik in einer Auseinandersetzung mit Wolfs Ansatz ergänzt. Sie definiert als metadiscursive „[m]etanarrative statements referring to the ordering of discursive elements in the text”; in ihrer Typologie wird die Metadiskursivität damit zu einer Variante des metanarrativen Erzählens. (M. Fludernik: „Metanarrative and metafictional commentary: From metadiscursivity to metanarration and metafiction.“ (2003), S. 23.) 38 W. Wolf: „Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst: Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur mise en cadre und mise en reflet/ série.“ (2001), S. 69. <?page no="47"?> 47 Dagegen handelt es sich bei intertextuellen und intermedialen Reflexionen über die Inhalte anderer Texte oder Kunstwerke, die nicht die Künstlichkeit oder ‚Medienhaftigkeit’ des fremden Texts thematisieren, um typische Formen der transtextuellen Variante der kognitiven Selbstreflexion. 39 2.2 ‚Metafiktion’ - Geschichte, Definitionen und Typologisierungen 2.2.1 Geschichte des literarischen Phänomens ‚Metafiktion’ Nachdem in den ersten Jahren der Erforschung metafiktionaler Phänomene vor allem die britische und angloamerikanische Literatur der Gegenwart im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden haben, sind im Laufe des vergangenen Jahrzehnts verstärkt auch andere Literaturen und andere literarische Epochen ins Blickfeld der Metafiktionsforschung gelangt. Auch wenn der literaturwissenschaftliche Terminus ‚Metafiktion’ noch vergleichsweise jung ist, so ist das damit bezeichnete Phänomen doch wesentlich älter und bereits zu Beginn der abendländischen Literatur anzutreffen. Wie insbesondere W. Wolf, der in seiner Habilitationsschrift unter anderem die wirkungsästhetischen Implikationen der Metafiktion untersucht hat, überzeugend dargelegt hat, ist die große abendländische Tradition des illusionistischen Erzählens um eine kleinere Tradition illusionsstörenden Erzählens zu ergänzen. 40 In der Forschung besteht heute weitestgehend Konsens darüber, dass der Beginn metafiktionalen Erzählens mit dem Beginn des Erzählens allgemein anzusetzen ist: Seitdem im und durch das Erzählen künstliche Welten erschaffen werden, wird immer auch schon über dieses fiktionale Erzählen, über die Produktion dieser fiktiven Realitäten sowie über ihre mögliche Rezeption innerhalb der eigenen textuellen Grenzen reflektiert. Die ersten metafiktionalen Texte sind bereits in der antiken Literatur zu finden, wie z.B. die Komödie Batrachoi des Aristophanes (5. Jahrhundert v. Chr.) und die spätere Parodisierung dieser Komödie, die Batrachomyomachia des Pseudo-Homer (1. Jahrhundert v. Chr.). Auch der Asinus aureus 39 W. Wolf: „Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst: Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur mise en cadre und mise en reflet/ série.“ (2001), S. 75. 40 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993) Auch wenn ‚metafiktionales Erzählen’ keineswegs unkritisch mit ‚illusionsstörendem Erzählen’ gleichzusetzen ist - schließlich können Texte metafiktional sein, ohne die ästhetische Illusion zu beeinträchtigen -, so lassen sich dennoch in den frühen illusionsstörenden Texten metafiktionale Verfahren finden und damit zu Recht von einer bereits früh einsetzenden metafiktionalen Tradition des Erzählens sprechen. <?page no="48"?> 48 des Apuleius (ca. 170-175 n. Chr.) stellt einen frühen metafiktionalen Text dar. 41 Nach diesen antiken Zeugnissen erlebte das metafiktionale Erzählen im Mittelalter und in der (frühen) Neuzeit einen ersten Höhepunkt; zentrale Texte dieser Epoche sind z.B. Ariosts Orlando furioso (1516-1532), Cervantes’ Don Quijote (1605-1615), Henry Fieldings Shamela (1741), Laurence Sternes Tristram Shandy (1759-1767) oder Denis Diderots Jacques le fataliste (1771-1775). Im realistischen Erzählen des 19. Jahrhunderts hingegen waren metafiktionale Strategien - bis auf wenige Ausnahmen wie z.B. Lewis Carrolls „Alice“-Geschichten - in den Hintergrund gerückt; 42 erst in der Moderne erreichte die Metafiktion einen zweiten Höhepunkt. In Texten wie z.B. Aldous Huxleys Point Counter Point (1928), Samuel Becketts Murphy (1938), Flann O’Briens At Swim-Two-Birds (1939), William Faulkners Absalom, Absalom (1936) oder aber James Joyces Finnegans Wake (1939) wird dem traditionellen realistischen Erzählen zunehmend Konkurrenz gemacht; die antiillusionistische Tradition des Erzählens tritt unter dem Einsatz metafiktionaler Erzähltechniken gleichberechtigt neben die große illusionistische Tradition. In der angloamerikanischen Literatur der Postmoderne wird das realistische Erzählen der sogenannten ‚Höhenkammliteratur’ von metafiktionalen Erzählverfahren nun in so hohem Maße in den Hintergrund gedrängt, dass Kritiker wie R. Sukenick den (traditionellen) Roman bereits für tot erklären. 43 Wichtige Autoren dieser Epoche sind Vladimir Nabokov, John Barth, John Fowles, Robert Coover, William H. Gass, Donald Barthelme und David Lodge. Nachdem in diesem kurzen Abriss vor allem die englische, irische bzw. angloamerikanische Literatur im Mittelpunkt standen, 44 soll sich nun ein kurzer Überblick über die Erforschung metafiktionaler Phänomene in der französischen Literatur anschließen. Insgesamt lässt sich feststellen, dass bis heute umfassende Untersuchungen zur Metafiktion in französischen Erzähltexten fehlen, auch wenn in Form von Einzelanalysen wiederholt 41 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 3. 42 Allerdings wird in der Forschung noch diskutiert, ob der für das realistische Erzählen typische auktoriale Erzähler und seine Leseransprachen als genuin metafiktionale Phänomene aufzufassen sind. Ich schließe mich in dieser Hinsicht W. Wolf an, der die Auffassung vertritt, dass auktoriale Kommentare einer Erzählerfigur nur dann als metafiktional zu bewerten sind, wenn diese die Fiktion selbst zum Gegenstand haben. (Ebd., S. 412.) 43 R. Sukenick: „The death of the novel.“ (1969), S. 41-102. 44 Natürlich hat sich die Erforschung der Metafiktion nicht auf die genannten Literaturen beschränkt. Zahlreiche Untersuchungen wurden z.B. auch zur anglo- und frankokanadischen, deutschen, italienischen und spanischen Literatur vorgenommen. <?page no="49"?> 49 einige exemplarische Texte auf verwandte Phänomene untersucht wurden. 45 Für das 17. Jahrhundert sind dies die sogenannten romans comiques wie Charles Sorels La vraye histoire comique de Francion (1623, 1626, 1633) bzw. Le Berger Extravagant (1627). Auch Le Page Disgracié (1643) von Tristan L’Hermite und vor allem Furetières Le Roman Bourgeois (1666) 46 wurden bisher für eine Analyse im Hinblick auf das Vorkommen von Metafiktion herangezogen. Als einer der wichtigsten metafiktionalen Texte der französischen Literatur stand auch Diderots Jacques le fataliste (1771-1775) wiederholt im Zentrum des Forschungsinteresses. 47 Dagegen finden sich im Bereich des realistischen und modernistischen Erzählens nur wenige Studien: Allein Stendhals Le Rouge et le noir (1830) und André Gides Romane Paludes (1895), L’Immoraliste (1902), Les Caves du Vatican (1914) sowie Les Faux-monnayeurs (1925) waren bislang Untersuchungsgegenstand. 48 Ferner werden im Zusammenhang mit als metafiktional klassifizierten anglophonen Texten der Postmoderne wiederholt französische Texte als Vergleichsgegenstand herangezogen. Diese sind in der Mehrzahl im Umfeld des Nouveau Roman und insbesondere des Nouveau Nouveau Roman entstanden. Zu den untersuchten Werken zählen zum einen Alain Robbe- Grillets 49 Le Voyeur (1955), La Jalousie (1957), Le Miroir qui revient (1985), Angélique ou l’enchantement (1988), Les Derniers Jours de Corinthe (1994) und zum anderen die französischsprachigen Werke Samuel Becketts (insbesondere L’Innommable (1953), Mal vu mal dit (1981)). 50 Die einzige Monographie zum metafiktionalen Erzählen in der französischen Literatur stammt von S. Setzkorn, die ihrer Analyse einen komparatistischen Ansatz zugrunde gelegt hat und ausgewählte Texte von 45 Eine Erklärung für dieses fehlende Forschungsinteresse auf französischer Seite dürfte insbesondere in der lange Zeit unterlassenen Rezeption der angloamerikanischen Forschung zur Metafiktion liegen; stattdessen wurden in Frankreich vor allem im Umkreis des (Nouveau) Nouveau Roman eigene Theorien postmodernen Erzählens entwickelt. 46 S. Zebouni: „La mimésis en question: Métafiction et auto-référentialité au XVIIème siècle.“ (1989), S. 161-79. 47 Vgl. z.B. den intermedialen Analyseansatz von A.J. Singerman: „Jacques le Fataliste on film: From metafiction to metacinema.“ (2002). 48 P.C. Percival: „The sawyer and the sawed: metafiction and textual energetics in Le rouge et le noir.“ (1994). Vgl. zur Erforschung des Werks von André Gide unter metafiktionalen Gesichtspunkten A.L. Martin: „Literary Approaches to Criticism: Gide’s Metafiction.“ (1979). 49 Metafiktionale Phänomene bei A. Robbe-Grillet haben erforscht: J. Bernard: „De l’autocommentaire à la métafiction: Les romanesques d’Alain Robbe-Grillet.“ (1997); B. Bloch: „La métatextualité dans Le miroir qui revient d’Alain Robbe-Grillet.“ (2000) 50 Zur Metafiktion im Werk Samuel Becketts: J. Garcia Landa: „‘Till Nohow On’: The Later Metafiction of Samuel Beckett.“ (1993); B.H. Creasman: Flann O’Brien, Samuel Beckett, and the Rise of Metafiction. (1991); S.D. Brienza: Samuel Beckett’s New Worlds: Style in Metafiction. (1987). <?page no="50"?> 50 Jacques Roubaud, Philippe Sollers, Italo Calvino und Antonio Tabucchi auf die Thematisierung des ‚Erzählens’ hin untersucht. 51 Leider bleibt das von ihr auf die Texte applizierte Begriffsinstrumentarium ungenau, wie bereits der Titel deutlich macht: ‚Metafiktion’ bezeichnet nach W. Wolfs und A. Nünnings wegweisenden definitorischen und typologischen Vorarbeiten eben nicht mehr das ‚Erzählen vom Erzählen’, sondern die Thematisierung und Inszenierung der eigenen Fiktion bzw. Fiktionalität. Auch der Gegenstandsbereich der Metafiktion wird von Setzkorn nur sehr vage auf „[a]lle erdenklichen Aspekte vom Entstehen des Textes bis hin zu seiner Lektüre […]“ eingegrenzt. 52 Insgesamt zeigt sich Setzkorns Arbeit geprägt durch eine undifferenzierte Vermischung der inzwischen klar abgegrenzten Termini ‚Metafiktion’ und ‚Metanarration’; diese definitorische Ungenauigkeit bleibt nicht ohne Folgen für ihre Methodik bzw. genauer für die Auswahl der ‚metafiktional’ fungierenden Textphänomene. Auch hier mischen sich erneut metafiktionale mit metanarrativen Phänomenen, so dass der eigentliche Erkenntnisgewinn der Arbeit für eine Geschichte metafiktionalen Erzählens in der französischen Literatur gering bleiben muss. Abschließend bleibt festzuhalten, dass im Gegensatz zur breiten Erforschung metafiktionaler Phänomene in der angloamerikanischen (postmodernen) Literatur eine vergleichbare Forschung zur französischen Literatur bislang nicht stattgefunden hat. Darüber hinaus besitzen die bisher unternommenen Analysen französischer Texte - S. Setzkorns Arbeit ist immer noch die einzige Monographie zum Thema - durch die Aufsatzform eher den Charakter von Fallstudien, zumal die Werke wichtiger postbzw. spätmoderner Autoren wie die anderen Nouveaux Romanciers bislang nicht im Hinblick auf metafiktionale Erzählstrategien untersucht wurden. 2.2.2 1970-2006: Geschichte des literaturwissenschaftlichen Begriffs ‚Metafiktion’ Wie bereits einleitend dargelegt wurde, hat sich der Begriff ‚Metafiktion’ erst vor relativ kurzer Zeit in der literaturwissenschaftlichen Forschung durchgesetzt. Im Folgenden soll ein Überblick über die unterschiedlichen Definitionsansätze von ‚Metafiktion’ gegeben werden, wobei die Theoriebildung in vier Phasen eingeteilt wird. 53 51 So der Titel ihrer Arbeit: S. Setzkorn: Vom Erzählen erzählen. Metafiktion im französischen und italienischen Roman der Gegenwart. (2003). 52 Ebd., S. 1. 53 In meinen Ausführungen stütze ich mich in Teilen auf die von Jutta Zimmermann im Rahmen ihrer Dissertation vorgeschlagene Einteilung. (Vgl. J. Zimmermann: Metafiktion im anglokanadischen Roman der Gegenwart. (1996)) Allerdings bevorzuge ich aus zwei Gründen eine Einteilung in vier Phasen (und nicht, wie Zimmermann, in drei Phasen): Zum einen liegt der Abschluss von Zimmermanns Dissertation schon länger zurück (das Ende ihrer Lektüre dürfte ungefähr mit dem Erscheinen von W. Wolfs <?page no="51"?> 51 Die erste Phase der Theoriebildung, die sich von 1970 bis 1975 erstreckt, ist durch die Suche der angloamerikanischen Literaturwissenschaft nach einem adäquaten Begriff für die als ‚neu’ und anders empfundene Literatur der 1960er und 1970er Jahre gekennzeichnet. Diese unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht vom traditionellen, realistischen Roman, gleichzeitig aber auch von experimentelleren Formen des modernen Romans. Geprägt wird die Diskussion von einer Vielzahl konkurrierender Termini, die jeweils auf ein bestimmtes Merkmal der Texte zielen: fabulation, 54 literature of exhaustion, 55 architectonic novel, 56 superfiction, 57 surfiction 58 oder Bossa Nova. 59 Der Begriff metafiction ist zu diesem Zeitpunkt nur ein Begriff unter vielen: Habilitationsschrift im Jahr 1993 zusammenfallen); seitdem hat die Forschung zur Metafiktion wichtige Impulse erhalten. Zum anderen fokussieren meine Ausführungen gemäß der Zielsetzung der Dissertation vor allem auf die von den jeweiligen Theoretikern vorgeschlagenen Definitionen sowie auf ihre Überlegungen zu einer Typologisierung metafiktionaler Erzählverfahren. Im Zentrum der Betrachtung sollen jene Definitionsversuche stehen, die sich primär mit Metafiktion als erzähltechnischem Phänomen auseinandersetzen. 54 R. Scholes: The Fabulators. (1967) Scholes bezeichnet mit diesem, der mittelalterlichen Gattung der „fables“ entlehnten Begriff „a more verbal kind of fiction […]“ sowie „[…] a less realistic and more artistic kind of narrative: more shapely, more evocative; more concerned with ideas and ideals, less concerned with things.“ (S. 10ff.) Der Terminus wurde später von D. Lodge aufgegriffen, der ebenfalls die Abweichung des „neuen Romans“ von den Konventionen des Realismus unterstreicht. (D. Lodge: „The Novelist at the Crossroads.“ (1977), S. 102.) 55 J. Barth: „The Literature of Exhaustion.“ (1984), S. 62-76. Barth (S. 64.) zielt mit dem Begriff exhaustion jedoch nicht auf eine allgemeine moralische oder intellektuelle Dekadenz des Romans, sondern vielmehr auf die formale ‚Erschöpfung’, auf „the usedupness of certain forms or the felt exhaustion of certain possibilities“. 56 S. Spencer: Space, time and structure in the modern novel. (1971) Spencer untersucht in ihrer Studie die spatiale Organisation des zeitgenössischen Romans: „The goal is the evocation of the illusion of a spatial entity, either representational or abstract, constructed from prose fragments of diverse types and lengths and arranged by means of the principle of juxtaposition […].” (S. xxf.) 57 J.D. Bellamy (Hg.): Super Fiction. (1975). Bellamy beschreibt mit diesem Begriff eine neue Form des Romans, die sich von der als unmöglich erkannten Repräsentation von Realität abwendet und „[…] turned instead to the power of words to stimulate imagination.“ (S. 3.) In diesem Kontext werden vergessen geglaubte Formen wie Neo- Gothic oder die Myth-Parable wiederbelebt. 58 R. Federman (Hg.): Surfiction. Fiction Now... and Tomorrow. (1981) Federman unterscheidet zwischen realistischen Formen des Romans und einem neuen Romantyp: „This I call Surfiction. However not because it imitates reality, but because it exposes the fictionality of reality. Just as the Surrealists called that level of man’s experience that functions in the subconscious SURREALITY, I call that level of man’s activity that reveals life as a fiction SURFICTION.” (S. 7.) 59 R. Sukenick: „The New Tradition in Fiction.“ (1981), 35-45. Laut Sukenick kennzeichnet die so bezeichneten Romane, dass sie „[…] no plot, no story, no character, no chronological sequence, no verisimilitude, no imitation, no allegory, no symbolism, no subject matter, no ‘meaning’” (S. 43f.) enthalten. <?page no="52"?> 52 So bezeichnet R. Scholes in seinem 1970 60 publizierten Aufsatz damit einen neuen Typus des zeitgenössischen Romans, dessen wichtigstes Kennzeichen die Einbettung von verschiedenen Ansätzen der Literaturkritik (z.B. der strukturalistischen, der philosophischen oder der behavioristischen Kritik) in die jeweilige Fiktion darstellt. 61 In dieser ersten Phase der Theoriebildung wird folglich ‚Metafiktion’ als Bezeichnung für eine in den 1960er Jahren neu entstandene literarische Gattung verwendet. 62 Dieser neue Romantypus wird als Alternative oder Ersatz zum traditionellen, den Konventionen des realistischen Erzählens verpflichteten Roman gedacht und ist im Kontext einerseits der postmodernen bzw. poststrukturalistischen Theorien Roland Barthes‘ und Jacques Derridas und andererseits der zeitgenössischen Sprachtheorie entstanden. 63 Die zweite Phase in der Theoriebildung der Metafiktion beginnt 1975 mit dem Erscheinen von Robert Alters in zweifacher Hinsicht wegbereitendem Werk Partial Magic: The Novel As a Self-Conscious Genre: Zum einen weist Alter erstmals auf die lange Tradition - „the other great tradition“ - metafiktionalen Erzählens in der Literaturgeschichte hin; in dieser Tradition stellt der postmoderne Roman mit seinen experimentellen Erzählstrategien nur einen vorläufigen Höhepunkt dar. 64 ‚Metafiktion’ wird also jetzt als ahistorische Schreibweise begriffen, die nicht an eine bestimmte - z.B. die postmoderne - Epoche der Literaturgeschichte gebunden ist. Darüber hinaus liefert Alter eine Definition, die über den zeitgenössischen Roman hinausweist und erstmalig den Begriff der self-consciousness als Kennzeichen metafiktionaler Texte einführt: 60 In der Forschung wird allgemein angenommen, dass Robert Gass den Begriff zuerst in dem Aufsatz „Philosophy and the form of Fiction“ (1971) verwendet hat („Indeed, many of the so-called antinovels are really metafictions“, S. 25). Jedoch ist Scholes’ Aufsatz in der Iowa Review bereits im Jahr 1970 erschienen, so dass ich nun ihn an den Anfang der Theoriebildung zur Metafiktion gesetzt habe. 61 R. Scholes: „Metafiction.“ (1970), S. 106: „Metafiction assimilates all the perspectives of criticism into the fictional process itself. It may emphasize structural, formal, behavioral, or philosophical qualities […].” Später greift auch William H. Gass in seinem Aufsatz Philosophy and the Form of Fiction (1971) diesen Gedanken einer ‚Autokritik’ - d.h. einer Kritik des jeweiligen Kunstwerks oder allgemein der Gattung ‚Roman’ innerhalb der eigenen Grenzen - auf (W.H. Gass: Fiction and the Figures of Life. (1980), S. 24.). 62 M. Fludernik weist auf die unterschiedliche Begriffsverwendung von ‚Metafiktion’ bzw. metafiction im Deutschen und Englischen hin: Während der Terminus im Deutschen ein literarisches „device“ bezeichne, verweist das englische Adjektiv ‚metafictional’ auf „a ‚textual’ meaning, as in metafictional prose.“ (M. Fludernik: „Metanarrative and metafictional commentary: From metadiscursivity to metanarration and metafiction.“ (2003), S. 12.) 63 S. Fogel: „‘And all the little Typtopies’: Notes on Language Theory in the Contemporary Novel.“ (1974), S. 328. 64 R. Alter: Partial Magic: The Novel as a Self-Conscious Genre. (1975), S. ix. <?page no="53"?> 53 A self-conscious novel, briefly, is a novel that systematically flaunts its own condition of artifice and that by so doing probes into the problematic relationship between real-seeming artifice and reality. I would lay equal stress on the ostentatious nature of the artifice and on the systematic operation of the flaunting. 65 Alter betont in seiner Definition die systematische Offenlegung des eigenen Kunstcharakters als charakteristisches Merkmal der jeweiligen Romane; dieses foregrounding des Artefakt-Status zielt darauf ab, das als problematisch aufgefasste, dialektische Verhältnis von äußerer Realität und dem scheinbar realen Kunstwerk zu untersuchen. Auch verweist er wie später Wolf auf die ostentative - intentionale - und systematische Weise dieser Aufdeckung, wobei er jedoch nicht explizit die zu diesem Zweck in den Romanen angewendeten erzähltechnischen Verfahren nennt. 66 In dieser absichtsvollen Offenlegung der eigenen Fiktionalität und damit der eigenen Ontologie liegt der grundsätzliche Unterschied der metafiktionalen zur realistischen Literatur begründet. Nachdem Alter eine erste differenzierte Definition dessen geliefert hat, was ‚Metafiktion’ als Schreibweise ausmacht, sowie einige auffällige metafiktionale Phänomene aufgelistet hat, versuchen in der Folgezeit verschiedene Autoren, die in den Texten beobachteten metafiktionalen Verfahren zu katalogisieren. Im Mittelpunkt zeitgenössischer metafiktionaler Romane steht insbesondere das Thema des ‚Schreibens’: sie präsentieren sich als (fiktionale) Biographien erfundener Autoren, als fingierende 67 autobiographische Reflexionen der Autoren selbst oder aber ein rollenbewusster Erzähler ‚verwickelt’ den Leser in ein ‚Gespräch’ über das Buch, das jener im Begriff zu lesen ist. 68 65 R. Alter: Partial Magic: The Novel as a Self-Conscious Genre. (1975), S. xf. Ähnlich definiert auch Robert Scholes im selben Jahr metafiction als ‘self-reflective fiction’, als „[…] fiction [which] is about other fiction, is criticism in fact.” Vgl. R. Scholes: „The fictional criticism of the future.“ (1975), S. 237, 233. 66 An anderer Stelle verweist Alter jedoch auf bestimmte formale Merkmale des Romans, die von den jeweiligen Autoren in Form eines impliziten metafiktionalen Kommentars häufig manipuliert würden wie z.B. die Typographie, das Erzähltempo oder die Ausgestaltung der Erzählperspektive. Vgl. R. Alter: Partial Magic: The Novel as a Self-Conscious Genre. (1975), S. xii. Im selben Jahr ergänzt Alter an anderer Stelle die genannten Verfahren um weitere formale Experimente wie „narrative manipulation of time, the arbitrariness of narrative beginnings, the writer’s awareness of literary conventions, the maneuvering of language to produce multiple meanings, the expressive possibilities of punctuation, paragraphing, typography”. (R. Alter: „The Self- Conscious Moment: Reflections on the Aftermath of Modernism.“ (1975), S. 211.) 67 ‘Fingieren’ bzw. ‘fingiert’ soll hier mit K. Hamburger definiert werden als „[…] ein Vorgegebenes, Uneigentliches, Imitiertes, Unechtes […]“ im Unterschied zu ‚fiktiv’ als „[…] die Seinsweise dessen, was nicht wirklich ist: der Illusion, des Scheins, des Traums, des Spiels […]“. (K. Hamburger: Die Logik der Dichtung. (1980), S. 273.) 68 Vgl. hierzu L. McCaffery: „The art of metafiction: William Gass’s Willie Masters’ Lonesome Wife.“ (1976), S. 21-35. D.H. Lowenkron bezeichnet diesen besonderen Typus des Romans-im-Roman in Anlehnung an die Termini metalanguage und meta- <?page no="54"?> 54 Mit dem Erscheinen von Linda Hutcheons Aufsatz Modes et formes du narcissisme littéraire 69 im Jahre 1977 setzt die dritte Phase der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem literarischen Phänomen ‚Metafiktion’ ein, in welcher insbesondere die Katalogisierung typischer metafiktionaler Erzählverfahren bzw. die Erarbeitung einer Poetik der Metafiktion sowie die der Metafiktion zugrundeliegenden theoretischen Prämissen im Mittelpunkt der jeweiligen Studien stehen. Einen Vorläufer zu Hutcheons ein Jahr später erscheinender, ausführlicher Studie stellt Margaret A. Roses Untersuchung von Parodie und Metafiktion aus dem Jahr 1979 dar. Sie bietet darin nicht nur einen kurzen Überblick über die Geschichte des Begriffs ‚Parodie’, sondern verfolgt vor allem das Ziel, Parodie als eine metafiktionale Spiegelung von Fiktion bzw. als eine ‚Archäologie’ des Textes zu definieren; angestrebt ist also eine Analyse der Fiktion aus dem Blickwinkel der Fiktion selbst. 70 In ihrer Definition nimmt sie bereits zentrale Elemente späterer Ansätze vorweg: Seeing a work as meta-fiction, as the discussion not just of language but of the whole process of the composition and the reception of literary texts, lead us, however, to join in the game of interpretation mirrored in the text, and to see this game mapped out in the meta-fiction itself. 71 Rose zufolge thematisiert ein metafiktionales Werk nicht allein die eigene sprachliche Verfasstheit, sondern nimmt vielmehr die ihm zugrunde liegenden, umfassenderen Kompositions- und Rezeptionsprozesse in den Blick. Hierdurch wird die eigentlich vom Rezipienten zu leistende Interpretationsarbeit im Text selbst gespiegelt; der Text nimmt seine eigene Kritik vor. Mit ihrem Ansatz steht Rose daher in der Theorietradition von W.H. Gass, der ebenfalls das Vorhandensein von Autokritik als ein typisches Merkmal metafiktionaler Texte betrachtet. theatre als metanovel: „A metanovel is a work in which an inner fiction, narrated by an inner persona, is intercalated in an outer one.” (D.H. Lowenkron: „The Metanovel.“ (1976), S. 343. Allerdings muss betont werden, dass der Begriff ‘Schreiben’ zur Beschreibung der Thematik metafiktionaler Romane nach dem heutigen Stand der Theoriebildung problematisch ist, steht doch per definitionem die Fiktionalität des Textes im Mittelpunkt der metafiktionalen Reflexion. In dieser Begriffsbestimmung klingt die englische Gattungsbezeichnung fiction als Name für fiktionale Erzähltexte an (Vgl. unten Kap. 3.1 ‚Fiktion’, ‚Fiktionalität’, ‚Fiktivität’ - Definitionen und Signale). 69 L. Hutcheon: „Modes et formes du narcissisme littéraire.“ (1977), S. 90-106. Der von Jean-Pierre Richard aus dem Englischen übersetzte Aufsatz stellt eine vorläufige Version des späteren ersten Kapitels in ihrem wegweisenden Werk zur Metafiktion dar (dieses ist wiederum eine Ausarbeitung ihrer Dissertation): L. Hutcheon: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. (1984) 70 M.A. Rose: Parody/ Metafiction. An Analysis of Parody as a Critical Mirror to the Writing and Reception of Fiction. (1979), S. 13. 71 Ebd., S. 65. <?page no="55"?> 55 Das Erscheinen von Hutcheons detaillierter Studie zum metafiktionalen, von ihr ‚narzissistisch’ genannten, Erzählen 72 stellt einen qualitativen Sprung in der Forschung zur Metafiktion dar. Ihr Ziel ist nicht allein eine Einführung in die metafiktionale Literatur, sondern insbesondere auch eine „examination of the formal types of self-reflexivity“, mithin eine Typologie der Metafiktion. 73 Eine differenzierte Definition legt Hutcheon in der 1984 veröffentlichten Neuauflage ihrer Studie vor: The fiction that is discussed in Narcissistic Narrative is, in some dominant and constitutive way, self-referring or autorepresentational: it provides, within itself, a commentary on its own status as fiction and as language, and also on its own processes of production and reception. 74 In dieser Definition wird der Gegenstandsbereich des metafiktionalen Selbstkommentars präzisiert: Thematisiert wird nicht allein die sprachliche Natur des Textes oder seine Eigenschaft, ein (fiktionaler) Erzähltext zu sein, 75 sondern es wird auch auf die ihm innewohnenden Produktions- und Rezeptionsprozesse angespielt. In logischer Hinsicht wird - analog zur Metasprache - der sekundäre Charakter der Metafiktion deutlich: wie die Metasprache eine Objektsprache zum Gegenstand ihrer logischen Aussagen hat, kommentiert die Metafiktion als Sekundärdiskurs einen Primärdiskurs, in diesem Fall eine ‚Primärfiktion’. Die für die Metafiktion typische Autoreferentialität liegt in der fiktionalen Sprache begründet, derer sich sowohl die Primärals auch die Sekundärfiktion bedienen. Wie bereits W. Wolf bemängelt hat, präzisiert Hutcheon nicht die Reichweite ihres Begriffs der ‚Metafiktion’: Stellt die durch Metafiktion thematisierte „fiction“ allein einen bestimmten Einzeltext, eine aus mehreren Texten zu bildende Gattung oder aber ein literarisches Phänomen dar, 72 Hutcheon lehnt den gängigen Begriff postmodernism zur Bezeichnung der zeitlich auf die Moderne folgenden Epoche ab. Stattdessen schlägt sie den Terminus metafiction als Namen für das allgemeine kulturelle Phänomen der Selbst-Reflexivität vor; dieses beschränkt sich nicht allein auf die Literatur. Zur Bezeichnung ‚metafiktionaler Literatur’ wählt sie den Begriff ‚narcissistic’ und spielt damit auf den Mythos von Narziss an, der bei der Betrachtung seiner sich im Wasser spiegelnden körperlichen Schönheit ertrinkt. (L. Hutcheon: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. (1984), S. 2.) 73 Ebd., S. xvii. Vgl. hierzu ausführlich Kap. 2.2.3 Drei Typologisierungen metafiktionalen Erzählens: L. Hutcheon, S.E. Lauzen und W. Wolf. 74 Ebd., S. xii. 75 Auch an Hutcheons Definition zeigt sich die Ungenauigkeit der Bestimmung des Begriffsinhalts von englisch fiction: Der Terminus mag zwar die Fiktionalität eines bestimmten Textes beschreiben, wird im Englischen in einem engen Sinne jedoch vor allem zur Bezeichnung von fiktionalen Erzähltexten (z.B. novels) verwendet. <?page no="56"?> 56 das sowohl Einzeltexte als auch Gattungen, und möglicherweise sogar Epochen überschreitet? 76 Im Jahre 1981 vollendet Rüdiger Imhof seine Habilitationsschrift zur Metafiktion im englischsprachigen Roman seit 1939, in der er ebenfalls eine ungenaue Definition liefert: „A metafiction is a kind of self-reflexive narrative that narrates about narrating.“ 77 Unscharf bleibt erneut der Objektbereich der Metafiktion: Auch Imhof begrenzt den Objektbereich - ebenfalls angelehnt an den englischen Gattungsnamen fiction - auf die Thematisierung der Erzählprozesse und schließt damit metafiktionale Phänomene in anderen Gattungen als nicht zur Metafiktion gehörend aus (z.B. die Metalyrik, das Metadrama oder, in der Kunst, die Metamalerei). Vor allem aber unterschlägt er die für die Metafiktion spezifische Thematisierung der eigenen Fiktionalität und vermischt den Gegenstandsbereich des Begriffs mit dem der Metanarration. 78 Im gleichen Jahr wie die zweite Auflage von Hutcheons Studie Narcissistic Narrative erscheint Patricia Waughs Untersuchung Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious, die eine der detailliertesten Definitionen des Phänomens ‚Metafiktion’ vor dem theoretischen Hintergrund des radikalen Konstruktivismus liefert: 79 Metafiction is a term given to fictional writing which self-consciously and systematically draws attention to its status as an artefact in order to pose questions about the relationship between fiction and reality. In providing a critique of their own methods of construction, such writings not only examine the funda- 76 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 223. 77 R. Imhof: Contemporary Metafiction. A Poetological Study of Metafiction in English since 1939. (1986), S. 9. 78 An anderer Stelle wird Imhofs Ungenauigkeit noch deutlicher, wie bereits Wolf in seiner Rezension der Dissertation zu Recht kritisiert hat: So lässt Imhof die Frage unbeantwortet, ob metafiction nun ein „narrative genre“ - folglich eine historische Gattung - oder aber „an artistic process that aims at overtly thematising conventions of fiction-writing“ und damit eine ahistorische Schreibweise darstellt. (R. Imhof: Contemporary Metafiction. A Poetological Study of Metafiction in English since 1939. (1986), S. 11, 24. Vgl. auch die Rezension von W. Wolf: „Rüdiger Imhof, „Contemporary Metafiction“. [Rezension].“ (1986), S. 373.) 79 P. Waugh: Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. (1984) Es fällt auf, dass zwei so ähnlich angelegte Arbeiten nahezu gleichzeitig erscheinen, noch dazu im selben Verlag, ohne jedoch aufeinander zu verweisen. Wie Robert R. Wilson in seiner Rezension der beiden Studien anmerkt, erfolgte die Erstveröffentlichung von Hutcheons Arbeit nahezu unbemerkt vom Fachpublikum. Auch Waugh zitiert Hutcheon nicht; eine Erklärung dafür könnte die damalige Missachtung kanadischer Arbeiten durch die englische Forschung sein. (Vgl. R.R. Wilson: „This is not a metareview of three books on metafiction. (But what account should be given of a selfreferential title? )“ (1985), S. 305.) <?page no="57"?> 57 mental structures of narrative fiction, they also explore the possible fictionality of the world outside the literary fictional text. 80 Waugh zufolge ist der Gegenstandsbereich der Metafiktion der eigene Text, dessen Artefakt-Status enthüllt wird. Im Einzelnen analysiert der metafiktionale Text seine eigenen Konstruktionsbedingungen, wodurch er eine Kritik seiner selbst liefert (‚Autokritik’). Die Reichweite der Metafiktion weist jedoch über den eigenen Text hinaus, indem grundlegende Strukturen narrativer Fiktion bzw. bestimmte Konventionen der Gattung ‚Roman’ thematisch werden. 81 An anderer Stelle betont Waugh gar, dass „[…] metafiction [is] a tendency of function inherent in all novels.” 82 Unklar bleibt an Waughs Begriffsbestimmung jedoch, inwiefern der literarische Text durch die Selbstthematisierung der eigenen Erfundenheit Rückschlüsse auf die Fiktionalität der außerliterarischen, realen Welt zulässt. In diesem Kontext vertritt Waugh die These, dass in den zeitgenössischen metafiktionalen Texten die (radikal)konstruktivistische Prämisse von der Nicht- Erkennbarkeit der Welt bzw. - noch fragwürdiger - von ihrer Nicht-Existenz jenseits individueller Wahrnehmung aufgegriffen werde. 83 In einer rezeptionsästhetischen Ergänzung ihrer Definition verweist auch Waugh ähnlich wie Hutcheon auf die für das metafiktionale Erzählen typische Opposition zwischen Illusionierung und Desillusionierung und wird damit für zukünftige Ansätze richtungsweisend: […] the construction of a fictional illusion (as in traditional realism) and the laying bare of that illusion. In other words, the lowest common denominator of metafiction is simultaneously to create a fiction and to make a statement about the creation of that fiction. The two processes are held together in a formal tension which breaks down the distinctions between ‘creation’ and ‘criticism’ and merges into the concepts of ‘interpretation’ and ‘deconstruction’. 84 An dieser Stelle muss jedoch betont werden, dass Metafiktion eben nicht von vorneherein die Beeinträchtigung oder gar die Zerstörung der literarischen bzw. ästhetischen Illusion impliziert, sondern dass viele Texte den Leser trotz markanter Metafiktionalität die fiktionale Welt durchaus unbeschadet erleben lassen. 80 P. Waugh: Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. (1984), S. 2. 81 Ebd., S. 4. 82 Ebd., S. 5. 83 „Contemporary metafictional writing is both a response and a contribution to an even more thoroughgoing sense that reality or history are provisional: no longer a world of eternal verities but a series of constructions, artifices, impermanent structures. The materialist, positivist and empiricist world-view on which realistic fiction is premised no longer exists.” (P. Waugh: Metafiction. The Theory and Practice of Self- Conscious Fiction. (1984), S. 7. Die paradoxe Opposition von ‚history’ und ‚reality’ wird von Waugh nicht aufgelöst.) 84 Ebd., S. 6. <?page no="58"?> 58 Schließlich erscheint im Jahre 1986 ein Aufsatz von S.E. Lauzen mit dem etwas nichtssagenden Titel Notes on Metafiction: Every Essay has a Title, dessen großes Verdienst es ist, zum ersten Mal eine Systematik metafiktionaler Verfahren unter teilweiser Berücksichtigung einschlägiger Kategorien des Erzählens vorzustellen. 85 Gleich zu Beginn ihrer Studie schlägt Lauzen eine Definition der Metafiktion vor, die bereits ihre Konzentration auf die formale Seite anklingen lässt: Metafiction is characterized by the prominence of metafictional devices. A metafictional device or element is one that foregrounds some aspect of the writing, reading, or structure of a work that the applicable canons of standard (realistic) practice would expect to be back-grounded; or is such a foregrounded element itself. Metafiction uses techniques to systematically heighten its own status as fiction. 86 Lauzen verwendet demnach den Terminus metafiction zur formalen Bestimmung von Texten, die durch das Vorhandensein besonderer narrativer Verfahren mit metafiktionaler Funktion gekennzeichnet sind. Damit hat der Begriff bei ihr eine doppelte Reichweite: zum einen bezieht er sich allgemein auf bestimmte Werke, zum anderen auf narratologisch isolierbare Passagen innerhalb dieser Werke. Ungenau bleibt jedoch der Objektbereich der Definition: Nach Lauzen wird „some aspect of the writing, reading, or structure of a work that the applicable canons of standard (realistic) practice would expect to be backgrounded” metafiktional thematisiert. 87 Interessant ist der Hinweis auf die Modellfunktion der konventionellen, realistischen Literatur, auf die sich das metafiktionale Erzählen bezieht und deren Konventionen es offenlegt. Eine Einschätzung, ob ein Verfahren als metafiktional gelten kann, muss laut Lauzen also immer vor dem Hintergrund des realistischen Erzählens vorgenommen werden; dieses fungiert stets als Antipode zu den experimentellen und unkonventionellen Erzähltechniken des spät- und postmodernistischen Romans. 88 Den Höhepunkt und gleichzeitig auch den Abschluss der dritten Phase der Theoriebildung zur Metafiktion bildet Werner Wolfs 1993 publizierte Habilitationsschrift zum Thema Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf engli- 85 S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 93-116. Zu Lauzens Typologisierung metafiktionaler Erzählstrategien vgl. unten Kap. 2.2.3 Drei Typologisierungen metafiktionalen Erzählens: L. Hutcheon, S.E. Lauzen und W. Wolf. 86 S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 94. 87 Ebd. 88 Allerdings vernachlässigt Lauzen an dieser Stelle die Historizität des Realismusbegriffs: indem sich die Vorstellungen dessen, was als ‚realistisch’ zu gelten hat, im Laufe der Zeit verändern, zielen auch die metafiktionalen Verfahren in einem Roman - je nach seinem Erscheinungsdatum - auf unterschiedliche Konventionen des realistischen Romans. <?page no="59"?> 59 schem illusionsstörenden Erzählen. 89 Wolfs Arbeit verfolgt das Ziel, „auf der Basis einer partiell neu zu erstellenden Theorie ästhetischer Illusion eine allgemeine Erschließung der Prinzipien, Erscheinungsformen und Wirkweisen des bisher besonders vernachlässigten Phänomens der Illusionsdurchbrechung […]“ 90 zu unternehmen. Er nennt vier Hauptformen, die zu einer Illusionsstörung in narrativen Texten führen können: Metafiktion, die Entwertung der erzählten Geschichte, die Auffälligkeit einer verfremdeten Vermittlung sowie Komik. 91 Zwar nehmen seine Überlegungen zur Metafiktion nicht den größten Raum unter den genannten potentiell illusionsstörenden Verfahren ein, doch liegt - wie bereits M. Fludernik in ihrer Rezension von Wolfs Studie lobend deutlich gemacht hat - Wolfs Verdienst darin, „[…] eine wesentliche Verfeinerung des theoretischen Instrumentariums in der Beschreibung metafiktionaler und illusionsstörender Erzählstrategien anzubieten […].“ 92 In der Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung zur Metafiktion gelangt Wolf zu dem Urteil, dass diese Defizite insbesondere im Bereich der Theoretisierung sowie der Historisierung metafiktionalen Erzählens aufweise. So begnügen sich die bislang vorliegenden Untersuchungen überwiegend damit, metafiktionale Einzeltechniken aufzulisten, ohne diese jedoch in Form einer Typologie zu systematisieren. Auch wird Metafiktion häufig als Merkmal spät- oder postmodernistischen Erzählens aufgefasst und damit die lange - seit der Antike - bestehende abendländische Tradition dieses Erzähltyps ausgeblendet. 93 89 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993). 90 Ebd., S. xi. 91 Ebd., S. 16. Vgl. zu Wolfs Vorschlägen für eine Typologie der Metafiktion unten Kap. 2.2.3 Drei Typologisierungen metafiktionalen Erzählens: L. Hutcheon, S.E. Lauzen und W. Wolf. 92 M. Fludernik: „Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung [Rezension].“ (1995), S. 218. 93 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 5ff. Vgl. auch S. 221: „Der implizite Konsens, der innerhalb dieser literaturwissenschaftlichen Praxis [der Metafiktionstheorie; S.Z.] darüber zu bestehen scheint, was Metafiktion sei, entbehrt jedoch immer noch einer klaren und expliziten theoretischen Grundlage in Form einer umfassenden Definition, die alle unter ‚Metafiktion’ subsumierten Phänomene erfassen würde und gleichzeitig ein Ausufern des Begriffs und seine indifferente Applizierbarkeit auf alles und jedes verhindern könnte.“ Und S. 470: „Im Gegensatz zur dort [in der Forschung zur Metafiktion; S.Z.] vorherrschenden Tendenz, das Metafiktionale - oftmals ohne genaue Definition - auf alle möglichen, mitunter kaum mehr als solche zu erkennenden Textphänomene auszudehnen, wurde Metafiktion nach dem Versuch einer Definition als erstes Charakteristikum illusionsstörender Texte auf ihre explizite Variante eingegrenzt, d.h. auf Passagen, die als Metakommentare einer innerfiktionalen Instanz zitierbar sind.“ Zwar mag die Schärfe dieses Urteils auch der Forderung nach Innovation geschuldet sein, die an die wis- <?page no="60"?> 60 Seinen eigenen Vorschlag einer weiten Definition der Metafiktion - die also sowohl explizite als auch implizite Formen umfasst - entwickelt Wolf in der Auseinandersetzung mit L. Hutcheons Definitionsansatz: 94 Metafiktional sind binnenfiktionale metaästhetische Aussagen und alle autoreferentiellen Elemente eines Erzähltextes, die unabhängig von ihrer impliziten oder expliziten Erscheinung als Sekundärdiskurs über nicht ausschließlich als histoire bzw. (scheinbare) Wirklichkeit begriffene Teile des eigenen Textes, von fremden Texten und von Literatur allgemein den Rezipienten in besonderer Weise Phänomene zu Bewusstsein bringen, die mit der Narrativik als Kunst und namentlich ihrer Fiktionalität (der fictiowie der fictum- Natur) zusammenhängen. 95 Diese Definition bestimmt umfassend verschiedene Eigenschaften von ‚Metafiktion’: den logischen Status des Phänomens, die Textsorte, die Reichweite des Begriffs, den Objektbereich metafiktionaler Aussagen sowie die möglichen Vermittlungsformen. Metafiktionale Aussagen stellen ähnlich wie die Metasprache, die einen Diskurs zweiter Ordnung über einen Primärdiskurs präsentiert, einen „Meta- oder Sekundärdiskurs“ dar: sie haben eine ‚Primärfiktion’ zum logischen Gegenstand. Indem der Metafiktion jedoch dieselbe fiktionale Sprache und Form wie der Fiktion selbst zu eigen ist, ist ihr Diskurs autoreferentiell. 96 Allerdings muss das Phänomen der Autoreferentialität im Zusammenhang mit der Metafiktion weiter eingeschränkt werden, da es per definitionem alle Metaphänomene auszeichnet. Daher begrenzt Wolf im Hinblick auf die Textsorte ‚Metafiktion’ allein auf narrative Teile eines fiktionalen Textes und grenzt sie damit von nicht-textuellen Metaphänomenen z.B. in der bildenden Kunst, von nicht-narrativen Metatexten wie literaturkritischen Essays sowie von autoreflexiven, paratextuellen, Nebentexten eines Erzählwerks ab, die (noch) nicht Teil der eigentlichen Fiktion sind. 97 Die Reichweite des Begriffs ‚Metafiktion’ erstreckt sich laut Wolf zunächst einmal auf das jeweilige Werk selbst; er unterscheidet in diesem Zusammenhang unterschiedliche ‚Grade’ der Metafiktion und geht „[…] zunächst einmal von einer grundlegenden Einheit, dem ‚Metafiktionalen’ als Qualität einer einzelnen Passage oder eines Elements in einem Erzähltext [aus].“ Erst wenn dieses „markant und systematisch“ auftritt, ist das senschaftliche Textsorte „Habilitationsschrift“ allgemein gestellt wird. Dennoch gehen Wolfs Ergebnisse im Bereich der expliziten Metafiktion weit über die bisherige Forschung hinaus, wie auch sein detaillierter Typologieentwurf deutlich macht. 94 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 221f. 95 Ebd., S. 228. 96 Ebd., S. 222. 97 Ebd., S. 222. <?page no="61"?> 61 betreffende Werk als ‚metafiktional’ klassifizierbar. 98 Im konkreten Einzelfall thematisiert die Metafiktion Teile des eigenen Textes, der histoire wie des discours, genauso aber auch andere Texte oder aber die Gattung allgemein. Das eigentliche, von der Metafiktion kommentierte Textelement ist die Fiktionalität des betreffenden Werkes bzw. von Literatur allgemein, wobei Wolf sowohl den fictioals auch den fictum-Status von Literatur meint. Während die fictio-thematisierende Metafiktion Aussagen über die Vermitteltheit der Fiktion trifft, um auf diese Weise die Transparenz des sprachlichen Mediums aufzuheben, diskutiert die fictum-thematisierende Metafiktion die Referentialisierbarkeit der textuellen Sachverhalte auf eine externe Realität; sie stellt also den Wahrheitsstatus der Fiktion in Frage und spielt damit auf die Ontologie des Textes an. 99 Wichtig ist eine Einschränkung, die Wolf hinsichtlich der metafiktionalen Thematisierung von Fiktionalität vornimmt: So sind autoreferentielle Kommentare zur eigenen histoire erst dann metafiktional, wenn diese als Element der Fiktion begriffen und offen gelegt wird. Ferner muss die Thematisierung der Fiktionalität mittels metafiktionale Kommentare, welche sich auf die ästhetische Illusion beziehen, stets als neutral verstanden werden: Metafiktion besitzt nicht von vorneherein eine illusionsgefährdende oder -zerstörende Tendenz und ist daher auch nicht ohne weiteres mit Illusionsdurchbrechung gleichzusetzen. 100 Im Hinblick auf mögliche Vermittlungsformen von Metafiktion unterscheidet Wolf offene bzw. explizite Formen von verdeckten, impliziten Formen. Die explizite Variante der Metafiktion wird über eine „innerfiktionale Gestalt im Modus des ‚telling’“ vermittelt und erscheint dabei als „isolierbare Rede einer fiktionalen Redeinstanz […] über Fiktionales“; diese autoreferentiellen Kommentare sind direkt zitierbar. 101 Hingegen handelt es sich um implizite Metafiktion, wenn diese isolierbare und zitierfähige selbstbezügliche Rede fehlt und nur indirekt, „aus dem ‚showing’ bestimmter Vertextungsverfahren der histoire- oder discours-Ebene […]“, auf das Vorliegen von Metafiktion geschlossen werden kann. In diesem Fall 98 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 223. Mit dieser Einschränkung wendet sich Wolf gegen die Definitionsansätze von Hutcheon und Waugh, die Metafiktion als ein allgemeines Kennzeichen aller Romane und damit aller Romangattungen auffassen. 99 Ebd., S. 38f. 100 Ebd., S. 224. So liegt laut Wolf Metafiktion bereits schon dann vor, „[…] wenn z.B. der fictum-Status eines Werkes im Sinne einer Affirmation von dessen Authentizität thematisch wird.“ (Ebd.) 101 Ebd., S. 225f. <?page no="62"?> 62 wird Metafiktion folglich nicht als verbale Thematisierung, sondern vielmehr als Inszenierung greifbar. 102 Diese weite, auch verdeckte Formen einschließende Definition der Metafiktion, die Wolf in die Tradition von Hutcheon und Waugh stellt, führt jedoch zu einigen Problemen im Hinblick auf die Abgrenzbarkeit vor allem der impliziten Formen von Metafiktion. Zu nennen ist hier zunächst die allgemeine literarische Autoreferentialität, wie sie von Roman Jakobson als wichtiges Charakteristikum poetischer bzw. literarischer Sprache bestimmt wurde. 103 Wolf grenzt die spezifische metafiktionale von der allgemeinen literarischen Autoreferentialität ab, indem er ein „funktionales oder intentionales Kriterium“ in die Definition einführt. Im Gegensatz zur allgemeinen literarischen Autoreferentialität handelt es sich bei Metafiktion um eine „intendierte selbstbezügliche Aussage, die den Leser in besonderer Weise, und selbst wenn dies nur ganz punktuell geschieht, an Sachverhalte denken lässt, die mit dem Kunstcharakter, vor allem dem fictio- und dem fictum-Status von Literatur zusammenhängen.“ 104 Zentral ist hier das absichtsvolle Lenken der Leseraufmerksamkeit durch den Erzähler auf Erscheinungen und Elemente des Textes, die von jenem als Bestandteile der jeweiligen Fiktion erkannt werden sollen. Diese Intention, 105 die der allgemeinen literarischen Autoreferentialität eine spezifische metafiktionale Funktion attribuiert, wird am ehesten durch den Faktor ‚Frequenz’ deut- 102 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 226. 103 Vgl. R. Jakobson: „Linguistik und Poetik. [1960].“ (1979), S. 92: „Die Einstellung auf die Botschaft als solche, die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen, stellt die poetische Funktion der Sprache dar. […] Die poetische Funktion stellt nicht die einzige Funktion der Wortkunst dar, sondern nur eine vorherrschende und strukturbestimmende und spielt in allen andern sprachlichen Tätigkeiten eine untergeordnete, zusätzliche, konstitutive Rolle.“ [Hervorhebung S.Z.] 104 Ebd., S. 226f. 105 Das intentionale bzw. funktionale Kriterium der Metafiktion ermöglicht es ferner, formale Verfremdungen, also Auffälligkeiten der Vermittlungsebene eines Textes, in metafiktionale und nicht-metafiktionale Formen zu scheiden (Es geht hier um den Nachweis impliziter Metafiktion, der im Gegensatz zur expliziten Variante schwieriger zu führen ist.). Diese Verfremdungen sind dann nicht-metafiktional, wenn sie hauptsächlich figurenpsychologisch motiviert und damit auf ein Element der histoire konzentriert sind, ohne absichtsvoll die Fiktionalität zu thematisieren. Hingegen kann die Frage nach dem Vorliegen von impliziter Metafiktion nur dann beantwortet werden, wenn auch der thematische und der Sinnkontext eines Werkes in die Analyse einbezogen wird. Dabei muss geprüft werden, ob das jeweilige Verfahren vorrangig die Artifizialität des Textes und ihre Konsequenzen bewusst machen will, oder ob eine eventuell durchscheinende Künstlichkeit eher ein Nebenprodukt ist und gar nicht in erster Linie der Selbstreflexion dient (Ebd., S. 228). <?page no="63"?> 63 lich: Je häufiger in einem Text explizite Metafiktion anzutreffen ist, desto eher lassen sich auch implizite Verfahren als metafiktional klassifizieren. 106 Da der Nachweis über das Vorliegen impliziter Metafiktion in seinen Augen aber nur schwierig zu erbringen ist, 107 schränkt Wolf für den Fortgang seiner Studie ‚Metafiktion’ allein auf die expliziten Formen ein: „Das methodische Ausgehen von Charakteristika, die als solche bereits auf der Textoberfläche identifizierbar sind, nötigt jedoch zu einer Beschränkung des in der Forschung immer weiter ausufernden Phänomens der Metafiktion auf explizite Formen und zu einem Aussondern verdeckter, impliziter Varianten.“ 108 Diese Eingrenzung muss im Zusammenhang mit Wolfs wirkungsästhetischem Ansatz gesehen werden: Indem die implizite Metafiktion als verdeckte Variante nie selbstständig und primär an der Textoberfläche zu erkennen ist, sondern sich vielmehr immer anderer Oberflächenphänomene wie z.B. der Auffälligkeit des discours oder der Entwertung der histoire bedienen muss, ist sie in Wolfs Augen als gleichrangige wirkungsästhetische Kategorie disqualifiziert. Sie hat allenfalls „[…] als Element einer funktionalen Beurteilung bestimmter Verfahren ihre Berechti- 106 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 227. Weitere Faktoren, die implizit Metafiktion spürbar werden lassen, sind Plausibilität und kompensatorische Mechanismen, Position im Text bzw. Einbindung in den Kontext, Markiertheit, Geltungsbereich sowie die inhaltliche Tendenz. (Ebd., S. 474.) 107 In seinen späteren Arbeiten zur Metafiktion modifiziert Wolf den in seiner Habilitationsschrift vorgestellten Definitionsansatz: So betont er in einem 1997 publizierten Aufsatz noch stärker das intentionale Kriterium und bestimmt ‚Metafiktion’ als „[…] metaästhetische Aussagen und alle autoreferentiellen Elemente eines Erzähltextes, die - unabhängig von ihrer impliziten oder expliziten Erscheinung - folgender Bedingung genügen: Sie müssen den Rezipienten in spürbarer Weise Phänomene zu Bewußtsein bringen, die sich nicht auf den Inhalt von Erzählungen als scheinbare Wirklichkeit beziehen, sondern auf das eigene, fremde oder allgemeine Erzählen als (Sprach-)Kunst und namentlich auf dessen Fiktionalität (im Sinne sowohl der Gemachtheit des Erzähltextes wie der ‚Unwirklichkeit’ oder Erfundenheit der in ihm vermittelten Welt.“ (W. Wolf: „Metafiktion. Formen und Funktionen eines Merkmals postmodernistischen Erzählens. Eine Einführung und ein Beispiel: John Barth, Life- Story.“ (1997), S. 37.) Dagegen allgemeiner seine Definition in Metzlers Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (1998): „Metafiktional sind selbstreferentielle auf (Erzähl-) Lit[eratur] bezogene Aussagen und Elemente einer Erzählung, die nicht auf Inhaltliches als scheinbare Wirklichkeit abheben, sondern den Rezipienten die Textualität und ‚Fiktionalität’ im Sinne von ‚Künstlichkeit, Gemachtheit’ oder ‚Erfundenheit’ des eigenen Textes, fremder Texte oder von (literar[ischen]) Texten allg[emein] zu Bewußtsein bringen.“ (W. Wolf: „Metafiktion.“ (1998), S. 362.) 108 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 212. An anderer Stelle weist er darauf hin, dass dieser engere Begriff der Metafiktion „sich teilweise, aber nicht gänzlich mit dem alten Terminus erzählerischer ‚selfconsciousness’ [deckt]“. (Ebd., S. 228.) <?page no="64"?> 64 gung“. 109 Damit wird deutlich, dass eine Theorie der Illusionsstörung, wie sie von Wolf in seiner Studie entworfen wird, nicht zugleich auch eine Theorie der Metafiktion insgesamt sein kann. Ihm geht es vor dem Hintergrund seiner Fragestellung vielmehr „[…] um den illusionsstörenden Effekt bestimmter Vertextungsverfahren, unter denen die Metafiktion zwar einen bevorzugten, aber nicht den alleinigen Platz einnimmt.“ 110 Die vierte Phase der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem literarischen Phänomen der Metafiktion steht unter dem Zeichen einer Einordnung der bislang entwickelten Konzepte zum metafiktionalen Erzählen in die postmoderne Literaturtheorie. Am Anfang dieser Phase steht der von Mark Currie 1995 herausgegebene Sammelband zur Metafiction, der in Auszügen einen Überblick über die bisher geleistete Forschung bietet. 111 Richtungsweisend für nachfolgende Untersuchungen wird die von Currie in seiner Einleitung nachgewiesene wechselseitige Beeinflussung von Literatur und Literaturtheorie: So setzt er wichtige Strömungen in der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts wie die (angelsächsische) literarische Moderne und Postmoderne mit wegbereitenden Konzepten der Literaturtheorie parallel (hier v.a. der Strukturalismus R. Jakobsons und R. Barthes’, der Post- oder Neostrukturalismus J. Derridas und de Mans, die Diskursanalyse M. Foucaults sowie der amerikanische New Historicism). Er definiert an dieser Stelle ‚Metafiktion’ „[…] as a borderline discourse, as a kind of writing which places itself on the border between fiction and criticism, and which takes that border as its subject.“ 112 Indem Currie mit dieser Definition versucht, den kleinsten gemeinsamen Nenner für die in seinem Sammelband zitierten Definitionen zu finden, geht er doch weit hinter W. Wolfs detaillierte Begriffsbestimmung zurück und knüpft statt dessen an R. Scholes‘ Definitionsansatz aus den 1960er Jahren an. Die auf Currie folgenden Studien zur ‚Metafiktion’ stellen zwei wichtige Entwicklungen in den Mittelpunkt: Zum einen wird in der Forschung vermehrt die Frage nach den theoretischen Hintergründen von Metafiktion gestellt; diese wird nun nicht mehr länger als gleichsam kontextloses literarisches Phänomen betrachtet, sondern in den größeren Zusammenhang v.a. der Postmoderne eingeordnet. Zum anderen erfährt der mittlerweile in der Literaturwissenschaft verbreitete Terminus ‚Metafiktion’ eine immer brei- 109 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 228. 110 Ebd., S. 229. Hervorhebung S.Z. 111 M. Currie (Hg.): Metafiction. (1995) Autoren sind u.a. Robert Scholes, Patricia Waugh, Gerald Prince, Linda Hutcheon, Susana Onega und Hayden White. Das Erscheinen dieses Sammelbandes kann als Zeichen für die Institutionalisierung der Metafiktionsforschung innerhalb des literaturtheoretischen Diskurses gewertet werden: ‚Metafiktion’ ist zu einer gängigen ‚Vokabel’ geworden. Zugleich erfahren die in den Band aufgenommenen theoretischen Texte bzw. Autoren eine Kanonisierung. 112 Ebd., S. 2. <?page no="65"?> 65 tere Anwendung: das Forschungsinteresse zielt nun neben der angloamerikanischen und britischen v.a. auf die lateinamerikanischen Literaturen in spanischer Sprache. 113 J. Sanjinés wiederum integriert in seinem Aufsatz Enchantment and Distance in the Age of Metafiction: The Problem of Duplicity in Art Metafiktion in das von E. Goffmann entwickelte soziologische Konzept der frame analysis. 114 Im Wechselspiel zwischen der Destruktion des Rahmens einerseits - d.h. dem Verschwinden der Grenze zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit -, und andererseits der Hervorhebung dieses Rahmens im Bewusstsein des Lesers wirken metafiktionale Verfahren in einem Text dahingehend, dass sie den Leser über den Prozess der Textkonstituierung sowie über die künstlerischen Verfahren, die schließlich eine Illusion der Realität generieren, nachdenken lassen: „[…] the critical operation [‚Metafiktion’; S.Z.] forces the reader to reflect on the fictionality of any fiction.“ 115 Eine Verbindung zwischen dem literaturwissenschaftlichen Konzept der Metafiktion und der dekonstruktivistischen Theorie J. Derridas stellt E.P. Helleland in seiner knappen Schrift zum Thema Metafiction: Questioning the notion of Literary Self-reflexivity her und definiert ‚Metafiktion’ als „[…] an inherent linguistic effect, an effect in and of language […]“. 116 Dies erklärt - so lautet sein These -, warum sich das Vorkommen von Metafiktion nicht auf einzelne Epochen in der Literaturgeschichte wie z.B. die Postmoderne beschränkt, sondern ihr vielmehr den Status eines allen fiktionalen Texten inhärenten Merkmals zuweist. 117 113 Diesen Befund und eine Zahl von 673 Treffern nach Eingabe des Suchbegriffs Metafiction ergab eine Recherche in der MLA am 27.04.2007. 114 J. Sanjines: „Enchantment and Distance in the Age of Metafiction: The Problem of Duplicity in Art; Proceedings of the 18th Annual Meeting of the Semiotic Society of America, 21-24 Oct. 1993.“ (1995), S. 327-36. Die Rahmenanalyse wurde in der Soziologie von E. Goffman begründet und untersucht im alltäglichen Verhalten jene ‚Rahmen’ für das Verstehen, die dem Handelnden verfügbar sind, um seinem Tun einen Sinn zu geben. Für die Literaturwissenschaft sind diejenigen Passagen in Goffmans Werk relevant, in denen er z.B. für das absurde Theater das Spiel mit den Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit untersucht. (E. Goffman: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Übersetzt v. Hermann Vetter. (1977)) 115 J. Sanjines: „Enchantment and Distance in the Age of Metafiction: The Problem of Duplicity in Art; Proceedings of the 18th Annual Meeting of the Semiotic Society of America, 21-24 Oct. 1993.“ (1995), S. 328. 116 E.P. Helleland: Metafiction: Questioning the Notion of Literary Self-Reflexivity. (1999), S. 12f. 117 In diesem Zusammenhang prägt Helleland den englischen Neologismus metafictionality und meint damit die allgemeine metafiktionale Qualität bzw. das gewisse selbstreferentielle Potential einer jeden Fiktion im Gegensatz zur auf bestimmte Epochen oder Genres beschränkten Metafiction. Diese Unterscheidung ist meines Erachtens jedoch nach nicht überzeugend: Helleland hätte zur Bezeichnung einer allgemeinen Selbstreferenz literarischer Sprache auf das in der Theorie längst erprobte Konzept <?page no="66"?> 66 Im Vergleich zur ausdifferenzierten angloamerikanischen Theoriebildung wurden in der französischen Literaturwissenschaft bislang noch keine nennenswerten Arbeiten zur Metafiktion veröffentlicht; der Terminus ‚Metafiktion’ - französisch métafiction - findet nur ganz vereinzelt Anwendung und dann vorrangig in der französischen Anglistik. 118 Stattdessen hat sich seit den 1960er Jahren in Frankreich eine eigene Tradition der Erforschung autoreferentieller bzw. metatextueller Phänomene entwickelt; dies vor allem unter der Federführung von Roland Barthes (méta-langage), Jean Ricardou (auto-représentation) und Lucien Dällenbach (mise en abyme). 119 Der erste Versuch einer eigenständigen Konzeptionalisierung metafiktionalen Erzählens wurde im Jahr 1999 von Jean Bessière unternommen, der métafiction als „[…] la reprise de la fiction par elle-même […]“ 120 bestimmte. Von dieser Definition ausgehend begreift Bessière Metafiktion im Wesentlichen als exemplarische Realisierung der jeweiligen Fiktion, als ihr eigenes Exemplum, so dass auf der übergeordneten Ebene der Metafiktion die Fiktion ihre eigenen Konstruktionsprinzipien 121 und damit die spezifische Artifizialität des Textes offenlegt. Durch ihre Selbstbezüglichkeit wird die Fiktion somit zugleich dekontextualisiert und entpragmatisiert. 122 Im Gegensatz zu den anderen vorgestellten Ansätzen beschränkt sich Bessières Definition der Metafiktion auf innertextuelle Spiegelungen, 123 die in enger Verwandtschaft zur mise en abyme stehen und deren metafiktionale Funktion - die Aufdeckung der eigenen Künstlichkeit - er im Gegensatz zu L. Dällenbach unterstreicht. der literarischen Autoreferentialität zurückgreifen können (vgl. oben Jakobson). (E.P. Helleland: Metafiction: Questioning the Notion of Literary Self-Reflexivity. (1999), S. 14.) 118 Vgl. z.B. den von Max Duperray herausgegebenen Sammelband Historicité et métafiction dans le roman contemporain des Îles Britanniques. (1994) Ebenso den Aufsatz von C. Bernard: „Pour une métafiction réaliste: La portée du roman anglais contemporain.“ (1997) 119 R. Barthes: „Littérature et méta-langage [1959].“ (1964); J. Ricardou: „La Population des miroirs.“ (1975), S. 212; L. Dällenbach: Le récit spéculaire. Contribution à l’étude de la mise en abyme. (1977). 120 J. Bessière: „Le concept de métafiction. Typologie, stratégies fictionnelles, croyances fictionnelles et partages culturels.“ (1999), S. 21. ‘Eigenständig’ scheint Bessières Ansatz deswegen zu sein, weil er keinen expliziten Bezug auf bereits erschienene Definitionsansätze nimmt. 121 Ebd., S. 21f. 122 Ebd., S. 23. 123 Ebd., S. 24f. <?page no="67"?> 67 2.2.3 Drei Typologisierungen metafiktionalen Erzählens: L. Hutcheon, S.E. Lauzen und W. Wolf In den ersten beiden Phasen der Erforschung metafiktionaler Phänomene beschränkten sich die Autoren vor allem auf ein bloßes Katalogisieren von Elementen, die als metafiktional klassifiziert wurden. Erst mit dem Erscheinen von Linda Hutcheons und Patricia Waughs wegbereitenden Studien werden verstärkt Ansätze einer systematischen Begriffs- und Modellbildung entwickelt, die die Metafiktion differenziert auf ihre Formen und Funktionen hin untersuchen; vorläufiger Abschluss dieser Phase in der Theoriebildung ist W. Wolfs wirkungsästhetisches Konzept metafiktionalen Erzählens. Den ersten Versuch einer systematischen Klassifizierung und Typologisierung der Metafiktion unternahm Linda Hutcheon, 124 die als Grundlage für ihre Überlegungen das von Ricardou vorgeschlagene Modell der autoreprésentation 125 wählt, dessen Gliederung in zwei Oberkategorien mit jeweils zwei Unterkategorien sie übernimmt: je nach der Vermittlungsform der Metafiktion unterscheidet Hutcheon etwas vage zum einen Texte mit einer gewissen „diegetic self-consciousness“ - das sind „[…] texts which are […] conscious of their own narrative processes“ -, von „linguistically self-reflective texts, demonstrating their awareness of both the limits and the powers of their own language.” 126 Zum anderen kann die Vermittlung der Metafiktion auf offene oder verdeckte Weise geschehen: „Overt forms of narcissism are present in texts in which the self-consciousness and self-reflection are clearly evident, usually explicitly thematized or even allegorized within the ‚fiction’.“ 127 In der “covert form” hingegen „[…] this process would be structuralized, internalized, actualized.” 128 Typische Verfahren der offenen / expliziten Form der „diegetic selfconsciousness“ sind explizite Thematisierungen von Fiktionalität durch eine Erzählerfigur, Allegorisierung oder aber auf überkommene narrative Konventionen und Codes anspielende Parodien. 129 In der offenen/ expliziten Variante der „linguistically self-reflective texts“ hingegen präsentiert sich der Text als Erzählung und legt seine eigene Sprachlichkeit offen: So soll durch eine besonders auffällige Gestaltung 124 L. Hutcheon: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. (1984) 125 Jean Ricardou, „La Population des Miroirs.“ (1975), S. 196-226. 126 L. Hutcheon: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. (1984), S. 22f. [Hervorhebungen S.Z.] 127 Ebd., S. 23. [Hervorhebungen S.Z.] 128 Ebd. 129 Ebd., S. 28. <?page no="68"?> 68 der Romanfiguren oder der Handlung (plot) die Inadäquatheit von Sprache zur Vermittlung von Gefühlen oder Gedanken augenscheinlich werden. 130 Der verdeckte / implizite Typus der „diegetic self-consciousness“ ist laut Hutcheon durch die Übernahme verschiedener Erzählmodelle im Text - sogenannte ’Paradigmen’ - gekennzeichnet: zu nennen sind die Detektiv- Geschichte, der Fantasy-Roman, die Spielstruktur der Handlung sowie die erotische Literatur. Ihnen allen ist gemein, dass dem Leser die jeweiligen Produktionsbedingungen des Textes vor Augen geführt werden; in diesen Produktionsprozess ist er zugleich aktiv involviert. 131 Die verdeckten / impliziten „linguistically self-reflective texts“ wiederum schließen den metafiktionalen Selbstbezug in die Struktur des Textes ein; dies geschieht z.B. in der Form des Witzes, Rätsels, Wortspiels oder Anagramms. Die Funktion dieser besonderen Strukturen besteht darin, die Leseraufmerksamkeit auf die sprachliche Verfasstheit des Textes sowie auf die spezifische Polyvalenz literarischer Sprache zu richten. 132 Insgesamt lässt sich Hutcheons Vorschlag für eine Typologie der Metafiktion wie folgt graphisch repräsentieren: Metafiction Covert forms Overt forms Overt forms Covert forms Diegetically self-conscious Linguistically self-reflective • Narrative paradigms: • The detective story •Fantasy •Game structure •The Erotic • Narratorial commentary • Narrative metaphor • Parody • Plot allegory • Characters and plot show the inadequacy of language in conveying feeling, in communicating thought, or even fact. • Self-reflection ist structuralized, internalized within the text: • Riddle • Joke • Pun • Anagram Abbildung 3: L. Hutcheons Modell der Metafiktion 130 L. Hutcheon: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. (1984), S. 29. 131 Ebd., S. 31ff. 132 Ebd., S. 34. <?page no="69"?> 69 Auch wenn Hutcheons Modell zum Ausgangspunkt für spätere Typologisierungsversuche wurde, bleiben doch einige ihrer Überlegungen unklar: So ist z.B. die Subsumierung der Parodie unter die expliziten diegetischen Formen der Metafiktion fragwürdig, da überholte Konventionen oder Gattungen weniger dadurch parodiert werden, dass sie auf explizite Weise durch eine fiktionale Instanz ins Lächerliche gezogen werden, als dass bestimmte narrative oder strukturelle Verfahren auf verdeckte, implizite, Weise in der neuen Fiktion aufgegriffen und als obsolet dargestellt werden. Auch bleibt zur Diskussion gestellt, inwiefern die Unterscheidung verschiedener narrativer Paradigmen eine Hilfe für die Analyse metafiktionaler Texte darstellt: sind bekannte Strukturen wie die der Detektivgeschichte oder des Fantasy-Romans tatsächlich von so großer Bedeutung für die Mehrheit der Romane? Nicht zuletzt bleibt auch Hutcheons Dichtomie ‚diegetische Selbst- Bewusstheit’ vs. ‚linguistische Selbst-Reflexion’ ungenau. Es wird nicht deutlich, welche Teile eines narrativen Textes sie in die Kategorie ‚Linguistik’ einbezieht; sind Konzepte wie die Figuren- oder Handlungsgestaltung nicht eher Elemente der Diegesis? An L. Hutcheon 133 orientiert sich Sarah E. Lauzen bei ihrem Versuch, „local metafictionalities that (with sufficient degree and genuine intent) contribute to a work’s global metafictionality“ zu klassifizieren. 134 Lauzen unterteilt die von Hutcheon vorgeschlagenen vier Kategorien der Vermittlung von Metafiktion noch weiter: Ähnlich wie Hutcheon („overt forms“) nennt Lauzen die explizite Form der Metafiktion „overt self-consciousness“; die impliziten „covert forms“ gliedern sich bei ihr jedoch noch differenzierter in „Overabundance or exaggeration”, „Absence or reduction” und „Eccentric execution” auf. Auf der zweiten Achse der Vermittlung unterteilt sich die diegetische Form der Metafiktion in „Narration and Point of View“, „Content“ (mit den Unterkategorien „Plot / Action“, „Characterization“, „Setting“, „Theme“) und „Structure“. Die linguistischen Formen spalten sich dagegen in „Language“ und „Medi- 133 S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 95f. 134 Ebd., Lauzen unterscheidet hier unterschiedliche Grade der Metafiktion: „local metafictionalities“ vs. „global metafictionality“. Darüber hinaus existieren auch zwischen verschiedenen Romanen unterschiedliche Grade der Metafiktion: ein ‚metafiktionaler Roman’ setzt metafiktionale Verfahren („devices“) ein, um dem Leser die „unnaturalness“ traditioneller realistischer Konventionen vor Augen zu führen. Dienen die (sparsam) eingesetzten metafiktionalen Verfahren jedoch dazu, einen unheimlichen [eerie] Effekt zu erzielen oder auch nur die realistische/ symbolische Handlungskausalität in Frage zu stellen, fungiert dies als abgeschwächte Variante des metafiktionalen Romans. <?page no="70"?> 70 um“ auf. 135 Insgesamt ist eine Kombination der diegetischen und linguistischen Varianten mit jeder offenen bzw. verdeckten Variante möglich; in Lauzens Typologieentwurf sind demnach 32 Varianten der Metafiktion möglich, ohne dass sie jedoch tatsächlich für jede von ihrem Modell vorgegebene Kategorie auch empirisch ein Beispiel in der Literatur gefunden hätte. 136 Diese insgesamt acht Kategorien erfassen laut Lauzen „[…] the familiar facets of the classic well-made realist story.“ 137 Die Bestimmung eines Verfahrens als metafiktional geschieht in der Typologie Lauzens demnach vor dem Hintergrund der realistischen Erzählkategorien; dieses wird dann als metafiktional gewertet, wenn es durch ein hohes Maß an ‚Zuviel’ oder Übertreibung, an ‚Zuwenig’ oder Abwesenheit, an exzentrischer Darbietung oder aber als offene Thematisierung von den Maßstäben, die allgemein an realistisches Erzählen gestellt werden, abweicht. Abbildung 4: S.E. Lauzens Modell der Metafiktion 135 S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 96. Die Übersetzung der englischen Fachtermini ins Deutsche wird von mir im Zusammenhang mit meiner Kommentierung von Lauzens Modell vorgenommen. 136 Dies gilt insbesondere für die Unterkategorien (Plot/ Action, Characterization, Setting, Theme) der Kategorie Content. ‚Leerstellen’ in ihrem System sind die Kombinationen aus den Kategorien Plot/ Action und Overt self-consciousness sowie aus Structure und Overt self-consciousness. 137 Ebd., S. 96. Eccentric execution Suspect narration Overt Self- Consciousness Absence or reduction Overabundance or exaggeration Language Medium Structure •Theme •Setting •Characterization Content •Plot/ Action Narration & Point of View DIEGETIC FORMS LINGUISTIC FORMS COVERT FORMS OVERT FORMS <?page no="71"?> 71 Beispielhaft lassen sich nun einzelne Kategorien der Metafiktion illustrieren: In der Subkategorie ‚Erzählen und Perspektive’ handelt es sich um ein ‚Überangebot’, d.h. ein ‚Zuviel’, an Erzählen, wenn mehrere Erzähler den Bericht der Ereignisse übernehmen. Eine Reduzierung des Erzählens findet statt, wenn die Stimme eines vorhandenen Erzählers seltsam körperlos bleibt oder - wie häufig in den Romanen Robbe-Grillets - die Handlung scheinbar von einem unpersönlichen Kameraauge aufgezeichnet wird. Eine Hybridform, die sich zwischen der scheinbaren Abwesenheit bzw. der Reduktion des Erzählens und einer exzentrischen Erzählweise ansiedelt, ist das ‚suspekte Erzählen’: Der Erzähler scheint sich seiner eigenen Erzählung nicht sicher zu sein und modalisiert die erzählte Geschichte durch die Verwendung von Abtönungspartikeln wie ‚wahrscheinlich’, ‚vielleicht’ oder ‚zweifellos’. 138 Wenn hingegen das Erzählen selbst zum Thema der Erzählung wird, der Erzähler sein eigenes Erzählen kommentiert oder aber der Leser explizit dramatisiert wird - somit einen ‚Leib’ in der fiktionalen Welt erhält -, ist von ‚overt self-consciousness’ oder ‚offener Thematisierung’ zu sprechen. 139 Auf der Inhaltsebene der Erzählung sind in den Unterkategorien Plot / Action, Characterization, Setting und Theme ebenfalls ein Zuviel, ein Zuwenig, genauso aber auch eine exzentrische oder ‚selbst-bewusste’ Darbietung festzustellen. Ein Beispiel für eine Reduktion bzw. Abwesenheit an Handlung ist laut Lauzen die Strukturierung der Erzählung nach bestimmten Strukturmodellen wie z.B. Listen, Wortspielen oder Gedichten. In metafiktionalen Romanen erfahren zudem vor allem auch die Charaktere eine Reduzierung: häufig werden ihnen keine Namen mehr zugeordnet oder aber nur die Initiale genannt (vgl. z.B. ‚O’ in Claude Simons La Bataille de Pharsale). Wenn sich die Romanfiguren hingegen ihres besonderen ontologischen Status, mithin ihrer Erfundenheit und Künstlichkeit, bewusst sind oder aber ihren ‚Autor’ mit Fragen, Vorschlägen und Beschwerden ‚behelligen’, ist von ‚offener Thematisierung’ zu sprechen. Im Bereich der szenischen Hintergrundgestaltung ist ein klassisches Beispiel für eine übertriebene Form der Gestaltung eine (zu) detailgenaue Beschreibung, die die Handlung zunehmend überwuchert (vgl. z.B. Claude Simons Triptyque). Hingegen erfahren thematische Aspekte in metafiktionalen Romanen ganz im Gegensatz zum realistischen Roman eine spürbare Reduktion: das inhaltliche ‚Was’ tritt zugunsten des erzählerischen ‚Wie’ in den Hintergrund. 140 138 S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 98. 139 Ebd. 140 Ebd., S. 98-102. <?page no="72"?> 72 Im Bereich der Kategorie Struktur lassen sich vielleicht die vielfältigsten Abweichungen von den Konventionen realistischen Erzählens 141 beobachten: Beispiele für eine übertriebene oder ausufernde Strukturierung der Handlung sind künstliche Organisationsprinzipien wie die Alphabettechnik, 142 Zahlen, 143 graphische Muster, 144 serielle 145 oder generative Strukturen 146 und die gegenseitige Kontamination ontologisch verschiedener Ebenen 147 im Roman. Hingegen lässt sich eine Reduzierung bzw. die Abwesenheit der Handlungsstruktur konstatieren, wenn die Fragmentierung des Erzählten überhand nimmt und einzelne kurze Szenen ohne verbindenden Erzählbericht disparat nebeneinander stehen. Eine ‚exzentrische’ Strukturierung der Handlung liegt dagegen vor, wenn z.B. ein Autor Rezensionen seiner eigenen Romane in die jeweilige Handlung integriert. 148 Eine offene Thematisierung der Handlungsstrukturierung findet sich schließlich dann, wenn ein Autor es vorzieht, eine gute Idee nur zu beschreiben anstatt sie auszuführen. 149 In der Kategorie Sprache und Stil ist laut Lauzen eine Metafiktionalisierung immer dann anzutreffen, wenn das Gebot der transparenten Sprachverwendung missachtet wird. So können z.B. extensive Ambiguität oder gar Sinnarmut die Sprache opak werden lassen. Hingegen liegt eine exzentrische Sprachverwendung vor, wenn die Sprache zwar gewisse Be- 141 Lauzen zufolge soll im Realismus die Struktur „‘organic,’ given by the content, and not arbitrarily imposed“ sein (S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 102). 142 Lauzen nennt das Beispiel des Romans Alphabetical Africa (1974) von Walter Abish, in dem jedes Wort des ersten Kapitels mit dem Buchstaben ‚A’ beginnt, im zweiten Kapitel mit dem Buchstaben ‚B’ usw. 143 Z.B. kann die materielle Darbietung des Textes in Form von Absätzen durch Zahlen genau vorgegeben sein: In Ronald Sukenicks Roman Out (1973) umfassen alle Absätze im ersten Kapitel zehn Zeilen, im zweiten nur noch neun usw. 144 So ähnelt in Simons La Route des Flandres der von den Soldaten zurückgelegte Weg den drei Blättern eines Kleeblatts, die doch alle einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben. Gleiches gilt für den Roman selbst: die Handlung endet im Grunde dort, wo sie begonnen hat. 145 Bei diesem Organisationsprinzip liefert eine Folge ähnlicher Szenen die Basis für verschiedene Variationen, bei denen die Ursprungsszene jedoch immer erkennbar bleibt. 146 Für diese Form der Strukturierung hat der Nouveau Roman wiederholt Beispiele geliefert: eine Reihe von anfangs ausgewählten Elementen - die sogenannten générateurs - werden in der Folge neu kombiniert und leicht verändert und generieren auf diese Weise einen neuen Text (vgl. auch Claude Simons La Bataille de Pharsale). 147 Dies ist z.B. dann der Fall, wenn sich ein bisher als ‚real’ bewerteter Teil innerhalb der fiktiven Welt des Romans als Inhalt eines Films herausstellt, den eine Romanfigur im Begriff ist zu sehen (vgl. Claude Simons Triptyque). Von W. Wolf wird dieser metafiktionale Typus zu den paradoxen Formen der Metalepse gezählt. 148 So z.B. Claude Simon in Le Jardin des Plantes. 149 S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 102-106. <?page no="73"?> 73 deutungsinhalte besitzt, sie aber insgesamt die Regeln traditioneller Prosa verletzt wie es z.B. in Wortspielen, Anagrammen, Palindromen oder Reimen der Fall ist. 150 Die letzte von Lauzen untersuchte Kategorie Medium - „the physical presentation of the text in a book“ 151 - ist strenggenommen nicht Bestandteil der eigentlichen Fiktion. Im traditionellen Erzählen wird die Transparenz des Mediums uneingeschränkt gefordert. 152 In metafiktionalen Romanen hingegen wird dieses Gebot häufig verletzt oder spielerisch modifiziert: als Überangebot oder offene Thematisierung z.B. wenn die lineare Textpräsentation aufgegeben wird zugunsten von Spalten oder Fußnoten. Ein ähnlicher Effekt wird durch die Variation des typographischen Erscheinungsbildes der Textseite und die Beifügung nicht-illustrativer Graphiken erzielt. 153 Im Gegensatz dazu zählen zur Abwesenheit oder Reduktion des Mediums alle Verfahren, die die Lektüre des Textes erschweren oder sogar vereiteln. Zu nennen sind z.B. weiße Seiten oder extensive sogenannte blanks, weiße Stellen, im Text. 154 Das von S.E. Lauzen entwickelte Schema scheint sich vor allem deshalb für eine Analyse metafiktionaler Werke zu eignen, weil sie ‚Metafiktion’ als Verstoß gegen die Konventionen des Realismus begreift. Ausgehend von den Kategorien des realistischen Erzählens unterscheidet sie fünf narrative Ebenen (narration und point of view, content, structure, language und medium), auf denen metafiktionale Verfahren wirksam werden können, und stellt damit ein Begriffsinstrumentarium bereit, das ‚Metafiktion’ über die explizite Variante hinaus auch implizit im Text nachweisbar werden lässt. Allerdings bleibt in ihrem Konzept ungeklärt, wann ein verdeckt metafiktionales Verfahren vom Leser als metafiktional gedeutet wird. Zwar mögen narrative Strategien wie Handlungsarmut oder eine auffällig symmetrische Struktur eine gewisse Distanzierung des Lesers von seinem Text bewirken. Doch bleibt zweifelhaft, ob er in jedem Fall schon dazu angeregt wird, über Fragen, die mit der Künstlichkeit bzw. der Erfundenheit der Fiktion zusammenhängen, nachzudenken. 155 150 S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 106-108. 151 Ebd., S. 108. 152 Lauzen listet die materiellen Bestandteile des Buches im Einzelnen auf; dazu gehören schwarzfarbige Druckerschwärze, mehr oder weniger weißes Papier, Bindung nach bestimmten Regeln, das Vorhandensein von wenigen, klar festgelegten Elementen auf der Buchseite (z.B. Seitenzahlen, Kopfzeilen oder ‚wahre’ Illustrationen von Charakteren oder Szenen aus der Erzählung) sowie die lineare Präsentation des Textes in Form einer geraden, endlosen Linie (Ebd. S. 108). 153 Auch zu diesem Aspekt bieten die Romane Claude Simons reichhaltiges Material, vgl. z.B. das Seitenlayout in Le Jardin des Plantes. 154 S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 108-110. 155 Die adäquate Rezeption verdeckter Metafiktion hängt auch von der Kompetenz des jeweiligen Lesers ab. <?page no="74"?> 74 Werner Wolf kommt schließlich das Verdienst zu, in seiner Habilitationsschrift die bislang differenzierteste Typologie metafiktionalen Erzählens entwickelt zu haben. 156 Ausgehend von den Überlegungen L. Hutcheons, die er auch ausführlich in seiner Arbeit diskutiert, sowie implizit wohl auch von den Vorschlägen S.E. Lauzens, 157 verfeinert er in entscheidendem Maße das terminologische Instrumentarium zur Klassifizierung und Differenzierung metafiktionaler Phänomene in Erzähltexten. Die entscheidende Veränderung gegenüber Lauzens Ansatz besteht darin, dass Wolf die von der bisherigen Forschung als verdeckt bzw. implizit bestimmte Variante der Metafiktion mit dem Verweis auf ihre geringe wirkungsästhetische Qualität in seiner engen Definition ausschließt und nur die ‚offene’ - explizite - Variante als originär metafiktional begreift. 158 Die implizit metafiktionale Variante subsumiert er hingegen unter die illusionsstörenden Ver- 156 Eingehend gewürdigt wurde dies in den Rezensionen der Habilitationsschrift (W. Füger: „Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. [Rezension].“ (1995); G. Gillespie: „Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. [Rezension].“ (1995); M. Fludernik: „Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung [Rezension].“ (1995)) 157 Es ist erstaunlich, dass Wolf Lauzens Aufsatz nicht explizit zitiert - weder im laufenden Text noch in seiner umfangreichen Bibliographie, wo er ihm doch so manche terminologische Inspiration zu verdanken scheint, wie ein kurzer Vergleich deutlich machen soll: So nennt Lauzen ihre verdeckten - impliziten - Varianten der Metafiktion overabundance or exaggeration sowie absence or reduction von Erzählen / Perspektive, Inhalt (= histoire); Struktur (= discours), Sprache und Medium. Bei Wolf liest sich an gleicher Stelle: ‚Entwertung der Geschichte durch unwahrscheinliche Sinn- und Ordnungsüberschüsse und die Fremddetermination der histoire’, ‚Entwertung der Geschichte durch unwahrscheinliche Sinn- und Ordnungsdefizite’ sowie ‚Auffälligkeit der Vermittlung’. Auch inhaltlich ähneln sich Wolfs und Lauzens Ansätze, vgl. z.B. den Verweis auf die Metafiktionalität einer auffälligen (opaken) Sprachverwendung (vgl. bei Wolf Kap. 3.6.1.), externer künstlicher Organisationsprinzipien (vgl. Kap. 3.3.2.), einer auffälligen Namensgebung der Romanfiguren (vgl. Kap. 3.3) der verschiedenen möglichen Beeinträchtigungen der histoire (z.B. durch wuchernde Deskriptionen; vgl. Kap. 3.4.), einer gegenseitigen Kontamination innerfiktionaler Ebenen (vgl. Kap 3.5.4.), einer auffälligen Vermittlung (vgl. Kap. 3.6.1.) sowie einer illusionsstörenden Perspektivik (vgl. Kap. 3.6.4.). 158 Wolf, der in seiner Habilitationsschrift „[…] auf der Basis einer partiell neu zu erstellenden Theorie ästhetischer Illusion eine allgemeine Erschließung der Prinzipien, Erscheinungsformen und Wirkweisen des bisher besonders vernachlässigten Phänomens der Illusionsdurchbrechung […]“ (S. XI.) unternimmt, betont, dass es in seiner Arbeit „[…] nicht in erster Linie um eine Theorie und Typologie der Metafiktion gehen kann […]“ (S. 230); sein Ziel ist vor allem die Erfassung der wirkungsästhetischen Potentiale metafiktionaler Verfahren. (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993)) <?page no="75"?> 75 fahren der ‚Entwertung der Geschichte’ und der ‚Auffälligkeit des Diskurses’; diese erscheinen auf derselben typologischen Ebene wie die (explizite) Metafiktion. 159 Als Autor des Artikels „Metafiktion“ für das Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie vertritt Wolf jedoch eine etwas modifizierte Auffassung und bezieht auch die impliziten Varianten vollständig in eine Typologie der Metafiktion ein, 160 unter der Voraussetzung, dass „diese Verfahren dem foregrounding des Fiktionscharakters dienen“ 161 bzw. „[…] Phänomene [in den Blick rücken], die mit der ästhetischen und vor allem der fictio- und fictum-Natur des Textes zusammenhängen“ 162 , mithin die bereits erwähnte ‚metafiktionale Intention’ implizieren. Wolf unterscheidet in seinem Entwurf zu einer Typologie der Metafiktion drei Gruppen von Parametern, aus denen „[…] sich unterschiedliche [oppositive] Erscheinungsformen expliziter Metafiktion ergeben, die sowohl getrennt als auch untereinander kombinierbar sind“: 163 nach ihrer Vermittlungsform bzw. -ebene lässt sich Metafiktion einteilen in explizite vs. implizite Formen sowie in discoursvs. histoire-vermittelte Formen. In dem Maße, wie Metafiktion quantitativ und qualitativ unterschiedliche Bezüge zu ihrem nichtmetafiktionalen Kontext besitzt, lassen sich zentrale vs. marginale, verbundene vs. unverbundene, punktuelle vs. extensive, offene vs. verdeckte Formen der Metafiktion unterscheiden. Und nach ihrem Inhalt lässt sich Metafiktion klassifizieren in, fictiovs. fictum-thematisierende, totale vs. partielle, kritische vs. nichtkritische (neutrale und affirmative) Metafiktion, Eigenvs. Allgemein- und Fremdmetafiktion sowie in eigentextvs. kontextvs. autorvs. leserzentrierte Metafiktion. 164 159 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 470. Diese drei Verfahren ergänzt Wolf noch um die Komik. 160 Vgl. W. Wolf: „Metafiktion.“ (1998), S. 362: „Systematisch lassen sich u.a. unterscheiden […]: (a) Vermittlungsformen: wie bei der Metatextualität explizite M[etafiktion], d.h. durch den metatextuellen Wortsinn isolierbare und zitierbare M[etafiktion], vs. implizite M[etafiktion], z.B. auf der discours-Ebene typographische Experimente oder auf der histoire-Ebene Unwahrscheinlichkeiten/ Widersprüchlichkeiten, […].“ 161 Ebd. 162 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 470. 163 Ebd., S. 230. 164 Ebd., S. 231. Die letztgenannte inhaltliche typologische Unterscheidung hat Wolf nachträglich ergänzt. (Vgl. W. Wolf: „Metafiktion. Formen und Funktionen eines Merkmals postmodernistischen Erzählens. Eine Einführung und ein Beispiel: John Barth, Life-Story.“ (1997), S. 43ff.) Wolf argumentiert an dieser Stelle seiner Typologie deutlich aus wirkungsästhetischer Sicht: Ziel ist, das unterschiedliche illusionsstörende Wirkungspotential metafiktionaler Einschübe festzustellen und ein Modell illusionsstörenden Erzählens zu entwickeln. Für die im Rahmen meiner Dissertation angestrebte Konzeptualisierung der Metafiktion ohne Berücksichtigung des wirkungsästhetischen Erkenntnishorizontes handelt es sich bei den kontextuellen Formen daher um eine nachgeordnete Kategorie. Im Folgenden werden deshalb nur die- <?page no="76"?> 76 Die wichtigste Gruppe der nach der Art und dem Ort ihrer Vermittlung unterschiedenen Formen stellen die explizite und implizite Metafiktion dar. Explizite Formen der Metafiktion werden durch eine innerfiktionale Gestalt im Modus des telling vermittelt, sie „[erscheinen] als isolierbare Rede einer fiktionalen Redeinstanz (also nicht unmittelbar des impliziten Autors) über Fiktionales“; dies kann z.B. durch die Kommentare eines extradiegetischen self-conscious narrator oder einer intradiegetischen Figur geschehen. 165 Hingegen wird implizite Metafiktion über eine Inszenierung fassbar, d.h. es kann nur „[…] aus dem showing bestimmter Vertextungsverfahren der histoire- oder discours-Ebene […] geschlossen werden, dass Metafiktion vorliegt“ (z.B. ‚unmögliche’ Elemente der Geschichte oder typographische Spielereien bei ihrer Vermittlung). 166 Hybridformen aus beiden Typen der Metafiktion - autoreferentielles ‚telling’ und ‚showing’ sind miteinander verbunden - liegen dann vor, wenn Figuren der histoire-Ebene die Fiktionalität der Geschichte thematisieren und damit auch ihre eigene. 167 Im Folgenden sollen zunächst Subkategorien der expliziten Metafiktion vorgestellt werden; dieser Typus lässt sich ferner danach unterscheiden, ob die Metafiktion auf der histoire- oder der discours-Ebene vermittelt wird. Ein typisches metafiktionales Verfahren auf der histoire-Ebene stellen z.B. fiktionsironische Bemerkungen einer binnenfiktionalen Figur dar, die auf ein bestimmtes Genre oder auch auf den Roman bezogen werden können, dem sie jeweils entstammen. Wolf betont, dass die histoire-vermittelte Metafiktion immer doppelt codiert ist: Sie lässt neben der metafiktionalen jenigen von W. Wolf vorgeschlagenen Varianten der Metafiktion näher vorgestellt, die als Grundlage für die Weiterentwicklung des von ihm vorgeschlagenen Modells bzw. für ein neues Konzept metafiktionalen Erzählens in Frage kommen. 165 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 226. B. McHale interpretiert diese Kommentare als Diskurs des Autors - „the author’s performance“ -, der sich auf einer ontologisch höheren Ebene als die fiktionale Welt, welche er erzählt, befindet und der nun den Rahmen um diese fiktionale Welt durchbricht. Mit anderen Worten stellt Metafiktion für B. McHale eine Form des superrealism dar. (B. McHale: Postmodernist Fiction. (1987), S. 197.). Meiner Ansicht nach handelt es sich dabei jedoch - gemäß dem kommunikationstheoretischen Modell des literarischen Diskurses - allenfalls um Kommentare des impliziten Autors bzw. eigentlich des Erzählers. 166 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 226. Wolf fasst die implizit vermittelte Form der Metafiktion unter wirkungsästhetischen Gesichtspunkten als die radikalere auf, da durch sie ein ganzer Text als Ganzes als unglaubwürdig und fiktional bloßgestellt werden kann (man denke z.B. an das Ende von Claude Simons La Route des Flandres, das die soeben gelesene Geschichte ‚nur’ als Halluzination oder Traum des Erzählers bzw. eines Reflektors erscheinen lässt.) 167 Ebd., S. 234. Es handelt sich hierbei um eine erzähllogische Unmöglichkeit, da der eigene Status der Romanfigur ‚normalerweise’ nicht bewusst werden kann. <?page no="77"?> 77 Reflexion immer auch eine plausible Leseweise innerhalb der fiktionalen Welt zu. 168 Discours-vermittelte explizite Varianten der Metafiktion sind Kommentare des extradiegetischen Erzählers zur eigenen Geschichte, z.B. wenn er die Wahrheit der von ihm erzählten Geschichte offen dementiert. 169 Darüber hinaus kann die explizite Variante der Metafiktion auch nach ihrem Inhalt typologisiert werden, je nachdem ob sie auf die Thematisierung des fictio- oder des fictum-Status zielt. Während die fictio-thematisierende Variante das sprachliche Medium, die Vermitteltheit der Fiktion, diskutiert (z.B. als Anspielung auf die Form, Gestaltung, Rezeption und Produktion von Literatur oder durch unaufgelöste Rätselhaftigkeiten in der Handlung, zu deren Lösung der Leser im Buch blättern muss), bezieht sich die fictum-thematisierende Variante auf den Wahrheitsstatus der Fiktion, mithin auf die Referentialität der textuellen Sachverhalte (z.B. wenn ein extradiegetischer Erzähler den Wahrheitsstatus der eigenen Geschichte in Frage stellt) und legt auf diese Weise die Erfundenheit der erzählten Geschichte bloß. 170 Abbildung 5: Formen der expliziten Metafiktion (nach W. Wolf) 168 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 237. 169 Ebd., S. 239. 170 Ebd., S. 247. Metafiktion Explizite Metafiktion discours-Ebene vs. histoire-Ebene Implizite Metafiktion Kontext 1 Inhalt 1 • Fictiovs. fictum-thematisierend • Total vs. partiell • Kritisch vs. nicht-kritisch (affirmativ vs. neutral) • Allgemeinvs. Fremdvs. Eigenmetafiktion (eigentextvs. kontextvs. autorvs. leserzentriert • Zentral vs. marginal • Verbunden vs. unverbunden • Punktuell vs. extensiv • Offen vs. verdeckt 1 Die nach ‚Inhalt‘ und ‚Kontext‘ unterschiedenen Varianten der Metafiktion können untereinander kombiniert werden. <?page no="78"?> 78 Im Anschluss an diese Typologisierung der expliziten Metafiktion und ihrer Varianten soll nun ein kurzer Überblick über die Typen der impliziten Metafiktion erfolgen. 171 Im Gegensatz zu den zitierfähigen, expliziten Formen geht implizite Metafiktion „[…] aus einer mehr oder weniger unterschwelligen Tendenz eines Textes [hervor], die Fiktionalität (im Sinne von Gemachtheit oder Erfundenheit) in den Vordergrund zu rücken.“ 172 Metafiktion erscheint hier nicht als ‚Thematisierung’ einer binnenfiktionalen Instanz, sondern vielmehr als ‚Inszenierung’, als showing bestimmter Vertextungsverfahren auf der histoire- oder discours-Ebene. 173 Im Gegensatz zur differenzierten Typologie der expliziten Metafiktion, 174 untergliedert sich bei Wolf die implizite Variante der Metafiktion nur nach dem Ort ihrer Vermittlung: der histoiresowie der discours-Ebene des Textes. Metafiktion erscheint auf der histoire-Ebene in Form von verschiedenen Verfahren, die auf eine Entwertung der histoire abzielen, um so die Artifizi- 171 Wolf selber hat, wie ich bereits dargelegt habe (Fußnote 164), die impliziten Formen aus seiner wirkungsästhetischen Typologie der Metafiktion ausgeschlossen mit dem Hinweis auf ihre „vollständige Aufbewahrtheit […] in anderen Charakteristika illusionsstörender Texte“ sowie darauf, dass sie sich immer anderer Oberflächenphänomene bedienen muss und sich erst durch diese sekundär manifestieren kann. (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 228.) Diese anderen Charakteristika und Oberflächenphänomene sind jedoch nichts anderes als die von Wolf (und zuvor bereits von Lauzen! ) eingeführten Kategorien ‚Entwertung der Geschichte’ und ‚Auffälligkeit der Vermittlung’. Ich werde also im folgenden die unter diese beiden Begriffe subsumierten, metafiktional fungierenden Phänomene als Typen der ‚impliziten Metafiktion’ behandeln, ohne jedoch - wie Wolf es in seiner Studie getan hat - die wirkungsästhetische Implikation der jeweiligen Verfahren in besonderem Maße zu berücksichtigen. Ich schließe mich jedoch Wolfs wichtiger Einschränkung an, dass die Metafiktionalität dieser Verfahren in jedem Einzelfall neu bestimmt werden muss: „Selbst wenn man, ausgehend von einem weiten Metafiktionsbegriff, in vielen Fällen Auffälligkeiten der Vermittlung oder die Entwertung der Geschichte zugleich als Formen impliziter Metafiktion ansehen können wird, so gilt das keineswegs generell. Daher kann gerade bei der Diagnose impliziter Metafiktion nicht schematisch vorgegangen werden, sondern es muss, wie in verschiedenen Einzelfällen zu zeigen sein wird, der thematische und der Sinnkontext eines Werks daraufhin geprüft werden, ob das Bewusstmachen der Artifizialität oder ihrer Konsequenzen vorrangige Funktion [vgl. das Kriterium intendierter ästhetischer Metareflexion] des jeweiligen Verfahrens ist oder ob etwa eine möglicherweise aufscheinende Künstlichkeit eher Nebenprodukt ist und primär anderen Zwecken dient als ihrer Selbstreflexion.“ (Ebd. S. 227f.) Daher werden auch nicht alle potentiell illusionsstörenden impliziten Verfahren vorgestellt, sondern nur diejenigen, denen Wolf zugleich eine bestimmte metafiktionale Qualität zuschreibt. 172 W. Wolf: „Metafiktion. Formen und Funktionen eines Merkmals postmodernistischen Erzählens. Eine Einführung und ein Beispiel: John Barth, Life-Story.“ (1997), S. 36. 173 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 226. 174 Ebd., S. 208-259. <?page no="79"?> 79 alität des Textes bloßzulegen. 175 Die von Wolf untersuchten Verfahren lassen sich folgenden drei Gruppen zuordnen: 1. die Fremddetermination der histoire durch unwahrscheinliche Sinn- und Ordnungsüberschüsse; 2. die wahrscheinlichkeitsneutrale Abkehr von einer ‚interessanten’ und kohärent lesbaren Fabel als Textzentrum; 3. unwahrscheinliche Sinn- und Ordnungsdefizite. 176 Die Fremddetermination der histoire durch unwahrscheinliche Sinn- und Ordnungsüberschüsse kann im Hinblick auf den Inhalt und die Thematik des Textes durch unwahrscheinlich sinnfällige Namen von Lokalitäten und Figuren 177 oder aber durch seine Durchformung gemäß einer bestimmten, deutlich erkennbaren (didaktischen, allegorischen oder satirischen) Botschaft geschehen. 178 Darüber hinaus kann die histoire auch durch nichtsprachliche und sprachliche Sinn- und Ordnungssysteme fremddeterminiert erscheinen. Ein bekanntes nichtsprachliches Verfahren ist z.B. die Strukturierung der Geschichte auf der Grundlage von Spielregeln (z.B. Tarot). 179 Häufiger als nichtsprachliche Ordnungsmuster finden sich sprachliche Sinnsysteme, welche die Geschichte entwerten, wie z.B. metafiktional fungierende Formen der Intertextualität 180 bzw. die Parodie als ihr Sonderfall. 181 Auch Hinweise auf das narrative Medium des Textes können metafiktional fungieren, wenn bestimmte fiktionale Erzählkonventionen ironisch übererfüllt werden (z.B. die auffällige Häufung ‚romanesker’ Zufälle). 182 Ferner kann die Wiederholung eigentextueller Strukturen eine metafiktionale Entwertung der Geschichte durch die Stiftung unwahrscheinlicher Ordnungsüberschüsse bewirken. Hierzu zählen die aus dem Nouveau Roman bekannten générateurs, die den Romantext nach dem Prinzip der Variation entstehen lassen. 183 Ein ähnliches Verfahren ist die Anordnung der Geschichtselemente nach dem Prinzip der Symmetrie (z.B. die Rekurrenz derselben Strukturen innerhalb der einzelnen Erzählabschnitte). 184 Das bekannteste und vielleicht wichtigste Verfahren ist die auf dem Spiegelungsprinzip beruhende mise en abyme. 185 175 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 266ff. 176 Ebd., S. VII. 177 Ebd., S. 270. 178 Ebd., S. 272ff. 179 Ebd., S. 277ff. 180 Ebd., S. 279ff. In der engeren Definition von Referenzen auf fiktionale literarische Texte. 181 Ebd., S. 285f. 182 Ebd., S. 286f. 183 Ebd., S. 293. 184 Ebd., S. 293f. 185 Ebd., S. 295-305. <?page no="80"?> 80 Ebenso ist die Entwertung der histoire durch die Abkehr von einer ‚interessanten’ und kohärent lesbaren Fabel als Textzentrum möglich, und zwar durch quantitativ auffällige (z.B. ein Zuviel oder Zuwenig an Narration) oder durch qualitativ auffällige Verfahren (so beeinträchtigt z.B. die Pluralisierung verschiedener Einzelfabeln oder Fabelebenen ihre Kohärenz oder aber die Reduktion von äußeren Handlungen und Ereignissen entwertet eine Einzelfabel). 186 Bei der quantitativen Entwertung der Fabel werden eine vorhandene Fabel und vor allem ihre narrativen Passagen entweder durch nichtdiegetische und nichtnarrative Elemente verdrängt oder aber sie wird dadurch überdimensional aufgebläht, dass verschiedene Binnenerzählungen als narrative Digressionen die eigentliche Erzählung durchsetzen. 187 Ebenso kann die intradiegetische Ebene von ‚innen’ entwertet werden: durch ein Übermaß der nichtnarrativen Diskurstypen Deskription und Argumentation; durch das Einstreuen vieler intertextueller Zitate in die Fabel sowie durch eine exzessive Vermehrung von Fabeln oder Fabelelementen, wodurch die Handlungsstruktur ihre Hierarchie verliert. 188 Die Techniken einer qualitativen Geschichtsentwertung lassen sich ebenfalls in zwei Gruppen zusammenfassen: auf der einen Seite finden sich Verfahren, die eine Fabel an äußeren Handlungen und Ereignissen verarmen und dadurch uninteressant werden lassen. Auf der anderen Seite stehen Techniken, die eine kohärente Geschichte durch disparat wirkende Fabelelemente zerschlagen, so dass der kausale Zusammenhang der dabei entstehenden Teile im Dunkeln bleibt. 189 Handlungsreduktion und Ereignislosigkeit lassen sich in unterschiedlichen graduellen Ausprägungen in Erzähltexten nachweisen. Relevant für eine mögliche metafiktionale Intention sind v.a. die Texte, die zwar noch Handlung enthalten, ansonsten aber ereignisarm sind (eine zunächst konventionelle verwandelt sich zuletzt in eine sinnlose Erzählung), sowie diejenigen, die sowohl handlungsals auch ereignislos sind (dazu zählen Texte, die nur noch ein eher zufälliges äußeres Geschehen enthalten, wie z.B. einige Romane Samuel Becketts). 190 Die Kohärenzstörung der Fabel kann ebenfalls auf zwei Weisen erfolgen: Einerseits durch ‚horizontale’ Kohärenzstörungen allein auf der diegetischen Ebene (wenn mehrere Fabeln scheinbar ohne inneren Zusammenhang neben- oder durcheinander erzählt werden), andererseits durch ‚vertikale’ Kohärenzbeeinträchtigungen zwischen der diegetischen und der 186 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 306f. 187 Ebd., S. 307ff. 188 Ebd., S. 311ff. 189 Ebd., S. 320. 190 Ebd., S. 325ff. <?page no="81"?> 81 hypodiegetischen Ebene (wenn z.B. eine hochkomplexe Schachtelung verschiedener Erzählebenen nicht durch die Handlung motiviert ist). 191 Abschließend sind diejenigen, auf eine Abwertung der Geschichte zielenden, Verfahren zu nennen, welche die Wahrscheinlichkeit des Erzählens durch ein spürbares Defizit an Ordnung und Sinn unterminieren. In der überwiegenden Zahl der Fälle handelt es sich hierbei um unwahrscheinliche Sinntrübungen, die zumeist einzelne Elemente innerhalb einer histoire- Ebene und eines Handlungsstranges betreffen. 192 Eine erste Variante stellt das Auftreten von Objekten in der Geschichte dar, die vom Leser aufgrund seines lebensweltlichen Wissens eindeutig als irreal identifiziert und die trotzdem innerhalb der Fiktion als ‚Wirklichkeit’ dargeboten werden, ohne dass literarische Konventionen wie z.B. die des Märchens oder allgemein von Fantasy-Literatur dieses lebensweltlich Unmögliche innerfiktional glaubwürdig werden lassen. 193 Ferner kann auch die Nichteinlösung formaler Konzepte - v.a. der Bauformen des Erzählens - zu einer Sinnentleerung führen; dies geschieht z.B. durch Verstöße gegen die Eindeutigkeit der ontologischen Ebenen oder aber gegen die Kontinuität von Raum und Zeit, gegen die Identität der Figuren sowie gegen die relevanzbildende Selektion der histoire-Elemente nach den Kriterien von Kausalität, Teleologie und Einheit der Handlung. 194 Diese Verstöße gegen die Sinnzentriertheit sind einerseits das Resultat von Widersprüchen (z.B. logische Kontradiktionen einzelner histoire-Elemente untereinander) und andererseits von Ambiguitäten. 195 Zu den Verstößen gegen die Sinnzentriertheit sind ferner zwei Sonderfälle zu zählen: zum einen die Kontamination von außerliterarischer Realität und textueller Fiktion, wenn z.B. der ‚reale Autor’ in seinem Roman auftritt. Zum anderen die Kontamination innerfiktionaler Ebenen; 196 beide Formen haben laut Wolf immer - implizit - metafiktionalen Charakter. 197 191 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 321ff. 192 Ebd., S. 334f. 193 Ebd., S. 336f. 194 Ebd., S. 337f. 195 Ebd., S. 338f. Typische Verfahren sind u.a. mehrere Anfänge und Enden einer Geschichte, die Ellipse eines am Ende des Romans erwarteten Ereignisses, die Präsentation mehrerer Versionen einer Erzählung, Instabilitäten der Figurenidentitäten bzw. des Raumes oder aber Verstöße gegen die Linearität der Zeit. 196 Diese werden auch ‚narrative Kurzschlüsse‘ genannt und von Wolf definiert als „[…] ein[e] Kontamination getrennter Ebenen innerhalb eines Erzählwerkes […], die in der Tat zu einem paradoxen Umsturz der logischen Hierarchie oder wenigstens zu einem lebensweltlich unmöglichen logischen Sprung zwischen Realität und Fiktion führt.“ (Ebd. S. 357.) Weitere erzähltechnische Termini sind französisch métalepse (vgl. G. Genette: Figures III. (1972), S. 243ff.) oder court-circuit (J. Ricardou: Nouveaux problèmes du roman. (1978), S. 124ff.) und englisch short-circuit (vgl. D. Lodge: The Modes of Modern Writing: Metaphor, Metonymy and the Typology of Modern Literature. (1977), S. 239- <?page no="82"?> 82 Nachdem bislang Verfahren auf der histoire-Ebene, die eine Abwertung der Geschichte zur Folge haben, im Zentrum standen, werden nun verschiedene Strategien vorgestellt, die für eine Auffälligkeit des discours bzw. der narrativen Vermittlung verantwortlich sind. 198 Diese manifestieren sich als Überschuss oder Defizit in der Präsentation der Vermittlungsebene - also des sprachlichen und narrativen Mediums - und ihrer Funktionen. 199 Das Bloßlegen des sprachlichen Mediums erfolgt entweder über eine besondere grammatische oder stilistische Sprachverwendung (dabei handelt es sich um ein foregrounding der Sprachlichkeit allgemein) oder aber über eine Beeinflussung der besonderen, gerade für die (fiktionale) Narrativik typischen Bedingungen und Möglichkeiten der schriftlichen Materialität von Erzähltexten (dies stellt das foregrounding der Textualität dar). 200 Verfahren einer ungewöhnlichen Sprachverwendung sind z.B. die ungrammatische und sinndefiziente Verwendung des sprachlichen Mediums (z.B. fehlende Interpunktion oder sogenannte blanks), die durch die Sprache bewirkte Produktion eines Überschusses an Ordnung (z.B. die Anordnung der Worte nach rein formalen Kriterien wie dem ABC, Sprachspielen bzw. die intermediale Musikalisierung des narrativen Diskurses) oder die Ein- 245.), Russian babushka dolls, strategies of self-erasure/ self-contradiction bzw. strategies involving recursive structures (vgl. B. McHale: Postmodernist Fiction. (1987), S. 112.). G. Genette hat in einer kürzlich erschienenen Monographie zur Metalepse eine Typologie vorgeschlagen, die je nach dem betroffenen Bereich eine métalepse de l’auteur, eine métalepse figurale sowie eine métalepse fictionnelle voneinander unterscheidet (G. Genette: Métalepse. De la figure à la fiction. (2004), S. 10, 16f.). 197 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 349ff. Wolf unterscheidet innerhalb der Gruppe der narrativen Kurzschlüsse drei Erscheinungsformen: 1. punktuelle Kurzschlüsse zwischen extra- und intradiegetischer Ebene durch grenzüberschreitende Figuren (z.B. eine Anrede des Erzählers oder des Lesers durch eine fiktive Figur, das Eindringen des Erzählers in seine Geschichte unter der Verletzung von eigentlich unüberwindbaren Zeitgrenzen oder aber die Verselbstständigung der Romanfiguren gegenüber ihrem Erzähler); 2. punktuelle Kurzschlüsse zwischen intra- und hypodiegetischer Ebene bzw. zwischen innerdiegetischer ‚Realität’ und ‚Fiktion’ (z.B. die ‚Metamorphosen’ eines zweidimensionalen Mediums (Bild, Kinofilm etc.) in eine dreidimensionale diegetische ‚Wirklichkeit’); 3. Komplexionsformen: die Verbindung aus exta[sic]-/ intradiegetischen und intra-/ hypodiegetischen Kontaminationen [im Sinne einer erzähllogisch unmöglichen Ebenenvermischung] und die unendliche ‚Möbius-Band-ähnliche’ Rekurrentsetzung der Ebenenkontamination. (Ebd., S. 358f.) Diese metafiktionalen Erzählstrategien „[…] have the effect of interrupting and complicating the ontological ‚horizon’ of the fiction, multiplying its worlds, and laying bare the process of world-construction.“ (B. McHale: Postmodernist Fiction. (1987), S. 112.) 198 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 372f. 199 Ebd., S. 377f. Das sind die Bedingungen und Konventionen speziell erzählerischer Textkonstitution. 200 Ebd., S. 379. <?page no="83"?> 83 fügung nichtsprachlicher Zeichensysteme in den Text (z.B. die Kontrastierung oder Parallelisierung des sprachlichen Mediums mit anderen Medien bzw. (ikonischen) Zeichensystemen oder spielerische Experimente in der Typographie). 201 Die Auffälligkeiten des narrativen Mediums lassen sich zunächst in zwei Teilbereiche untergliedern: zum einen in ein Defizit an sinnstiftendem narrativen Diskurs und zum anderen in einen Überschuss bzw. eine Übererfüllung seiner sinn- und ordnungsstiftenden Funktionen. 202 Defizite an Sinnzentriertheit des narrativen Diskurses beeinflussen häufig das Verständnis der Geschichte und besitzen zwei Erscheinungsformen: entweder in Verbindung mit einer ebenfalls sinndefizitären histoire-Ebene (wenn z.B. problematische Elemente der Geschichtsebene nicht durch den erzählerischen Diskurs ausgeglichen werden) oder aber in Zusammenhang mit einer noch plausiblen und intakten Geschichte. 203 Dagegen sind Überschüsse an Sinnzentriertheit auf der inhaltlichen Ebene z.B. symbolhafte Überdeterminierungen alltäglicher Gegenstände und Handlungen. Auf der Ebene der formalen Ordnung des narrativen Diskurses entsteht hingegen ein Zuviel durch eine nicht durch die Erzähllogik motivierte Einteilung in Kapitel oder durch die Strukturierung der Geschichte nach einem künstlich wirkenden Zahlensystem. 204 Schließlich können auch Auffälligkeiten des narrativen Mediums, welche die Erzählsituationen, die Erzählperspektivik oder die Zeitgestaltung betreffen, implizit metafiktional fungieren. 205 Im Bereich der Erzählsituationen erweitert Wolf Stanzels triadisches Modell aus ‚auktorialer Erzählsituation’, ‚Ich-Erzählsituation’ und ‚personaler Erzählsituation’ um die Kategorien der ‚neutralen Erzählsituation’ (von ihm auch Camera-eye-Technik genannt) sowie der ‚Du-Erzählsituation’. So kann der auktoriale Erzähler vor allem als unreliable narrator 206 - als unzuverlässiger oder unglaubwür- 201 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 380ff. 202 Ebd., S. 390. 203 Ebd., S. 395ff. Hier kann sich der Diskurs als defizient erweisen im Verhältnis zur Identität der Figuren, zur Eindeutigkeit und Kontinuität der räumlichen und zeitlichen Koordinaten der Handlung, zur Klarheit der ontologischen Ebenen und damit häufig auch zur Eindeutigkeit der Sprecherinstanzen. 204 Ebd., S. 390ff. 205 Ebd., S. 407. 206 A. Nünning hat das Konzept der von W.C. Booth erstmals definierten unreliability überarbeitet und in Anlehnung an die dramatische Ironie neu definiert, s. A. Nünning: „‘But why will you say that I am mad? ’ On the Theory, History, and Signals of Unreliable Narration in British Fiction.“ (1997), A. Nünning: „Unreliable, compared to what? Towards a Cognitive Theory of Unreliable Narration: Prolegomena and Hypotheses.“ (1999). M. Fludernik benennt darüber hinaus drei Kategorien der unreliability: 1. ‘factual contradiction’; 2. ‘lack of objectivity’; 3. ‘incompatibility of world- <?page no="84"?> 84 diger, offensichtlich fabulierender Erzähler - auf die Künstlichkeit des Textes bzw. auf seine fictum-Natur verweisen. 207 Auch die neutrale Erzählsituation ist aufgrund der radikalen Zurücknahme einer sinn- und kohärenzstiftenden Instanz (insbesondere bei der Camera-eye-Technik) eher gefährdet, die eigene Künstlichkeit durch eine Unterpräsenz des narrativen Mediums offenzulegen. Zuletzt erscheint die Du-Erzählsituation infolge ihrer mangelnden Plausibilität besonders offen für metafiktionale Implikationen zu sein. 208 Im Hinblick auf die Zeitgestaltung durch Tempus und Modus in Erzähltexten legt laut Wolf vor allem die fortgesetzte Verwendung des Potentialis oder des Irrealis deutlich den fictum-Charakter einer Erzählung bloß. 209 Nicht zuletzt wird eine implizit metafiktionale Auffälligkeit des narrativen Mediums auch durch die Verwendung nichtnarrativer Diskursformen erreicht. Im Gegensatz zum bereits untersuchten Effekt einer quantitativen Überwucherung der Narration steht hier das qualitative Moment eines Auftretens anderer Diskursformen im Vordergrund. 210 So können auch Argumentationen metafiktional fungieren, wenn sie Reflexionen über die Fiktion bzw. die eigene Fiktionalität der intradiegetischen Figuren oder des extradiegetischen auktorialen Erzählers präsentieren. 211 Schließlich kann auch das übermäßige Auftreten von Deskription als Kriterium einer impliziten Metafiktionalisierung der Erzählung gewertet werden. Dies geschieht häufig durch eine Herstellung von Sinndefiziten auf der discours-Ebene, wenn eine auf den ersten Blick wirklichkeitsgetreue Deskription durch ein Zuviel oder durch eine metafiktionale Überdetermiview’ bzw. ‘ideological unreliability’ (M. Fludernik: „Defining (In)Sanity: The Narrator of The Yellow Wallpaper and the Question of Unreliability.“ (1999), S. 75.). 207 Im Vergleich zum auktorialen Erzähler scheint der Ich-Erzähler durch seine autobiographische Schreib- oder Erzählsituation eher plausibel zu sein, während die personale Erzählsituation noch weniger anfällig für eine implizit metafiktionale Offenlegung der eigenen Vermitteltheit und Künstlichkeit ist. 208 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 409ff. Während meines Erachtens die verschiedenen Erzählsituationen im Zusammenhang mit Metafiktion nicht sehr relevant zu sein scheinen, wäre eine genauere Analyse z.B. der Dissoziation des Erzählers oder allgemein der unreliability des Erzählens von größerer Bedeutung für eine Typologie des metafiktionalen Erzählens. 209 Ebd., S. 423ff. Wie bereits M. Fludernik in ihrer Rezension kritisiert hat, spart Wolf in seiner Arbeit die wichtige, von der Narratologie gut erforschte Zeitproblematik aus (vgl. G. Genette: Figures III. (1972)) 210 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 425f. 211 Ebd., S. 426ff. Es sind v.a die Argumentationen mit metafiktionalem Inhalt, welche identisch sind mit histoire- und discours-vermittelter expliziter Metafiktion. <?page no="85"?> 85 nierung der beschriebenen Gegenstände zunehmend opak wird, bis sich der Blick des Lesers zuletzt von der histoire auf den discours richtet. 212 Metafiktion Implizite Metafiktion Entwertung der histoire Explizite Metafiktion • Unwahrscheinliche Sinn- und Ordnungsüberschüsse und Fremddetermination der histoire • Inhalt/ Themen • Nicht-sprachliche Sinn-/ Ordnungssysteme • Sprachliche Sinn-/ Ordnungssysteme • Fremddetermination durch das narrative oder sprachliche Medium • Wiederholung eigentextueller Strukturen • Abkehr von einer ‚interessanten‘ u. kohärent lesbaren Fabel • Quantitative Entwertung (Verdrängung durch nichtdiegetische/ nichtnarrative Elemente) • Qualitative Entwertung (Handlungsreduktion, Ereignislosigkeit, Kohärenzstörungen) • Unwahrscheinliche Sinn- und Ordnungsdefizite • Unwahrscheinliche Sinntrübungen • Nichteinlösung formaler Konzepte • Verstöße gegen die Sinnzentriertheit • Auffälligkeit des sprachlichen Mediums • Ungewöhnliche Sprachverwendung • Auffälligkeit des narrativen Mediums • Defizite an Sinnzentriertheit • Überschüsse an Sinnzentriertheit • Erzählsituationen (v.a. auktoriale ES, neutrale ES und Du-ES) • Zeitgestaltung (Verwendung von Potentialis, Irrealis und Futur) • Verwendung nicht-narrativer Diskursformen (Deskription u. Argumentation) Auffälligkeit des discours Abbildung 6: Formen der impliziten Metafiktion (nach W. Wolf) Das von W. Wolf vorgeschlagene Konzept der Metafiktion ist ambivalent zu bewerten: Einerseits bietet es - als Resultat des gewählten wirkungsästhetischen Ansatzes - einen großen Erkenntnisgewinn insbesondere im Hinblick auf das illusionsstörende Potential metafiktionalen Erzählens. 213 212 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 428ff. Vgl. hier die description créatrice im Nouveau Roman. 213 M. Fludernik schlägt auf der Grundlage von Wolfs Typologisierung metafiktionalen Erzählens ein ergänztes Modell vor, das die textuellen Phänomene Metafiktion, Metanarration und Metalepse verbindet und noch deutlicher die metafiktionale Funktion der Autoreferentialität begrenzt „[…] to self-reflexive statements about the inventedness of the story.“ (Dies entspricht Wolfs expliziter Metafiktion.) Hingegen definiert sie die von Wolf typologisierte implizite Metafiktion als ‚non-narrational self-reflexivity’ und nennt als gängige Verfahren das Auftreten von mise en abyme, visuelle paratextuelle Elemente wie Illustrationen oder typographische Experimente oder eine metaleptische Konstruktion des plot. In diesem Zusammenhang sollte betont werden, dass der mise en abyme stets erst im Falle auffälligen, unwahrscheinlichen Auftretens eine metafiktionale Funktion zukommt. (M. Fludernik: „Metanarrative and metafictional commentary: From metadiscursivity to metanarration and metafiction.“ (2003), S. 28f.) <?page no="86"?> 86 So unterstreicht Wolf, dass ‚Metafiktion’ nicht per se mit Illusionsstörung bzw. -zerstörung gleichzusetzen ist, sondern zeigt, dass sich die von Metafiktion hervorgerufene Illusionssuspension in graduellen Abstufungen bis hin zu ihrer vollständigen Destruktion vollzieht. Nicht überzeugend ist meines Erachtens jedoch die von Wolf vorgeschlagene Typologisierung der impliziten Varianten der Metafiktion. Mag der Ausschluss der impliziten Metafiktion aus der Typologie illusionsstörenden metafiktionalen Erzählens in seiner Habilitationsschrift noch dem zugrundegelegten wirkungsästhetischen Ansatz geschuldet sein, so ist die kaum erfolgte Differenzierung dieser Variante der Metafiktion in späteren Texten kaum nachvollziehbar. 214 So bleibt die klare Feststellung, welche illusionsstörenden Verfahren eine implizite metafiktionale Funktion besitzen, auch in seinen späteren Arbeiten ein Desiderat. Ein weiterer Kritikpunkt von Wolfs Konzept ist die bereits von M. Fludernik monierte Vernachlässigung etablierter narrativer Kategorien wie v.a. der Zeitgestaltung oder der reliability des Erzählens. Hier beschreiben insbesondere im Bereich der postmodernen Erzähltheorie neu entwickelte narratologische Modelle ein Arsenal an Techniken, die unter bestimmten Voraussetzungen durchaus implizit metafiktional fungieren können. 2.2.4 Sonderformen: historiographische, autobiographische und epistemologische Metafiktion Seit ihrem Aufkommen insbesondere in der postmodernen fiktionalen Erzählliteratur sind verschiedene Sonderformen metafiktionalen Erzählens entstanden, die sich durch eine besondere Funktionalisierung der Metafiktion in den betreffenden Texten auszeichnen. Neben allgemeinen, nahezu in jedem metafiktionalen Text nachweisbaren Funktionen wie z.B. einer metafiktionalen Autokritik nicht nur des eigenen Textes sondern auch von fiktionaler Literatur allgemein, 215 einem gewissen Spielcharakter 216 sowie der autoreferentiellen Thematisierung 214 W. Wolf: „Metafiktion. Formen und Funktionen eines Merkmals postmodernistischen Erzählens. Eine Einführung und ein Beispiel: John Barth, Life-Story.“ (1997), S. 36. 215 Es handelt sich dabei um die autobzw. literaturkritische, die ludische und die poetologische Funktion. Vgl. zur autobzw. literaturkritischen Funktion der Metafiktion R. Scholes: „Metafiction.“ (1970), S. 106f. An anderer Stelle prägt Scholes für diese spezielle Variante der Metafiktion den Terminus fictional criticism, um den funktionalen Aspekt der Autokritik stärker zu betonen. (R. Scholes: „The fictional criticism of the future.“ (1975), S. 233.) In diese Richtung zielt auch der Terminus criticgraphic metafiction von L. Cazzato, der damit „the assimilation of criticism in the fictional process“ bezeichnet. (L. Cazzato: Metafiction of anxiety: modes and meanings of the postmodern selfconscious novel. (2000) S. 84.) 216 Vgl. hierzu die Definition der playful fiction von R. Detweiler: „ But when I speak of playful fiction, I have a more particular quality in mind. I mean an artistic selfconsciousness whereby the writer, already intensely aware of the illusory nature and <?page no="87"?> 87 und Inszenierung der eigenen Poetik 217 ordnen sich die Sonderformen einem einzigen Thema unter; die Funktion der verschiedenen metafiktionalen Strategien wird gewissermaßen homogenisiert. Zu diesen Formen, die inzwischen den Status von Subgattungen der fiktionalen Erzählliteratur erlangt haben, zählen die historiographische, die autobiographische und die epistemologische Metafiktion. Mit dem Erscheinen von L. Hutcheons wegweisender Studie A Poetics of Postmodernism im Jahr 1988 rückt erstmals eine Variante metafiktionalen Erzählens ins Zentrum der literaturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit: die historiographische Metafiktion. 218 Hutcheon versteht darunter „[…] those well-known and popular novels which are both intensely selfreflexive and yet paradoxically also lay claim to historical events and personages […]”. 219 Wie der Titel der Studie bereits andeutet, begreift Hutchepotential of the novel and story, manipulates the components of narrative to show the reader their artificiality. He constantly reminds himself and his readers of the pretense-nature of the story, and thereby creates a secondary game in the already given context of playfulness characteristic of all fiction.” (R. Detweiler: „Games and Play in Modern American Fiction.“ (1976), S. 51. Siehe auch S. 56.) 217 Vgl. A. Nünnings Überlegungen zur ‚poetologischen Selbstreflexion’. (A. Nünning: „‘Die Kopie ist das Original der Wirklichkeit’: Struktur, Intertextualitat und Metafiktion als Mittel poetologischer Selbstreflexion in Peter Ackroyds Chatterton.“ (1994), S. 46f.) 218 Der Begriff wurde von Hutcheon jedoch bereits 1984 geprägt, als sie im Vorwort zur zweiten Auflage von Narcissistic Narrative vor dem Hintergrund von H. Whites Postulat von der Historiographie als einem poetischen Konstrukt schreibt: „Historiographic metafiction, therefore, works to situate itself in history and in discourse, as well as to insist on its autonomous fictional and linguistic nature.“ (L. Hutcheon: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. (1984), S. xiv.) M. Fludernik präzisiert, dass diese neue Gattung aus dem Zusammenfluss von fabulation, dem lateinamerikanischen ‚magischen Realismus’, der Gattung metafiktionalen Erzählens, der nicht-fiktionalen narrativen Gattung sowie dem autobiographischen new journalism entstanden sei (M. Fludernik: „History and Metafiction: Experientiality, Causality, and Myth.“ (1994), S. 85.). 219 L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 5. Sie betont, dass historiographic metafiction im Gegensatz zur radical metafiction des spätmodernistischen Erzählens „[…] attempts to demarginalize the literary through confrontation with the historical, and it does so both thematically and formally.” (Ebd., S. 108.) Eine spätere terminologische Präzisierung stellt der von P. Deistler geprägte Begriff ‚metahistoriographische Fiktion’ dar, der den definitorischen Schwerpunkt auf die historiographische Dimension dieses Typus von Fiktion legt und Texte beschreibt, die „[…] die Verschriftlichung historischer Realitäten fiktional gestalten und diesen Prozeß gleichzeitig auf einer Metaebene überdenken“. (P. Deistler: Tradition und Transformation. Der fiktionale Dialog mit dem viktorianischen Zeitalter im (post)modernen historischen Roman in Großbritannien. (1999), S. 32.) V. J. Budig wiederum spricht ganz allgemein von der self-reflexive historical novel und bezeichnet mit diesem Begriff „ […] a historical novel, one of a kind whose primary objects of discourse is the writing of a historical novel or the writing of/ about history within a <?page no="88"?> 88 on als zentrale Kennzeichen des postmodernen Romans sowohl seine Selbstreflexivität als auch seine Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen und Persönlichkeiten. 220 Sie schlägt daher den Begriff historiographic metafiction als synonyme Gattungsbezeichnung für den postmodernen Roman vor, um dessen zentrale Zielsetzung begrifflich besser zu fassen: What I want to call postmodernism in fiction paradoxically uses and abuses the conventions of both realism and modernism, and does so in order to challenge their transparency, in order to prevent glossing over the contradictions that make the postmodern what it is: historical and metafictional, contextual and self-reflexive, ever aware of its status as discourse, as a human construct. 221 In Anlehnung an neuere - (radikal)konstruktivistische, diskurstheoretische sowie erzähltheoretisch orientierte - Ansätze der Geschichtstheorie 222 diskutiert und problematisiert ‚historiographische Metafiktion’ das Verhältnis von Historiographie und Literatur: Traditionelle Auffassungen von der klaren Abgrenzung zwischen literarischen und historiographischen Werken aufgrund ihres unterschiedlichen Wirklichkeitsbezugs und Wahrheitsanspruches werden von der Einsicht abgelöst, dass jegliche Form von Wirklichkeitserfahrung und Erkenntnis und damit letztlich auch der Histostructure of fiction.“ (V.J. Budig: The Self-Reflexive Historical Novel: Alejo Carpentier and Claude Simon. (1989), S. 496.) Ebenso E. Wesseling: Writing History as a Prophet: Postmodernist Innovation of the Historical Novel. (1991), S. vii: „[…] strategies that turn epistemological questions concerning the nature and intelligibility of history into a literary theme.” Dagegen schlägt M. Fludernik als alternativen Begriff historical metafiction vor, um die Verwendung historiographischer Erzählstrategien in selbstreflexiven fiktionalen Texten definitorisch klarer zu fassen. (M. Fludernik: „History and Metafiction: Experientiality, Causality, and Myth.“ (1994), S. 82f.) 220 Ebenso E. Wesseling, die im radikalen ontologischen Zweifel das Bindeglied zwischen dem postmodernen (selbstreflexiven) historischen Roman und der Metafiktion sieht. (E. Wesseling: Writing History as a Prophet: Postmodernist Innovation of the Historical Novel. (1991), S. 5.) 221 L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 53. Ihre Gleichsetzung von ‚Postmoderne’/ ’postmodernistischem Roman’ mit historiographic metafiction wurde von der Forschung wiederholt kritisiert. So schlägt A. Nünning den Begriff ‚historiographische Metafiktion’ zur Bezeichnung einer besonderen, inhaltlich definierten Unterform der Metafiktion vor bzw. zur metonymischen Bezeichnung postmoderner Spielarten des historischen Romans, in denen dieser Typus der Metafiktion dominant vorherrscht. (A. Nünning: „Historiographische Metafiktion.“ (2001), S. 252. So auch schon in A. Nünning: „‘Beyond the great story’. Der postmoderne historische Roman als Medium revisionistischer Geschichtsdarstellung, kultureller Erinnerung und metahistoriographischer Reflexion.“ (1999), S. 30f.) 222 Ausgelöst wurde diese Diskussion in den Geschichtswissenschaften von H. White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. (1973) Vgl. ebenso die erzähltheoretisch orientierten Studien von W.B. Gallie, D. LaCapra, L. Gossman, L. Mink, A.C. Danto und P. Ricœur. Eine gute Zusammenfassung der Thematik bietet B. Engler: „The Dismemberment of Clio: Fictionality, Narrativity, and the Construction of Historical Reality in Historiographic Metafiction.“ (1994), S. 13-33. <?page no="89"?> 89 riographie sprachlich bedingt und zeichenvermittelt ist sowie Konstruktcharakter besitzt. 223 Zentrales Merkmal der historiographischen Metafiktion im Vergleich zum traditionellen historischen Roman ist die Akzentverlagerung von der Darstellung des historischen Geschehens auf den Prozess der imaginativen Rekonstruktion von Geschichte sowie auf die Reflexion über Probleme der Historiographie. 224 Diese neue Schwerpunktsetzung erklärt die typischen Verfahren der historiographischen Metafiktion wie explizite Thematisierungen (durch fiktionale Sprecherinstanzen der extra- oder intradiegetischen Ebene) und implizite Inszenierungen (z.B. durch die Auswahl und Gestaltung der Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen oder aber durch die monobzw. multiperspektivische Darstellung des Geschehens) von Problemen der Historiographie und Geschichtstheorie. 225 Sie fungiert daher nicht nur als ein literarisches Medium kultureller und individueller Erinnerung und kollektiver Identitätsbildung, sondern 223 A. Nünning: „Historiographie.“ (2001), S. 251. An anderer Stelle spricht Nünning bezeichnenderweise von der „bi-referential tension” zwischen Fakt und Fiktion (A. Nünning: „Mapping the field of hybrid new genres in the contemporary novel. A critique of Lars Ole Sauerberg, Fact into Fiction and a survey of other recent approaches to the relationship between ‘fact’ and ‘fiction’.“ (1993), S. 298. Vgl. ebenso seine späteren Ergänzungen in A. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. (1995), S. 117.). Vgl. ebenso L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 24, 40. Auch Th. Irmer betont in seiner Definition des (postmodernen) historischen Romans den Konstruktcharakter der Geschichte (Th. Irmer: Metafiction, moving pictures, moving histories: der historische Roman in der Literatur der amerikanischen Postmoderne. (1995), S. 42.). Vgl. ebenso L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 93; F.K. Stanzel: „Historie, historischer Roman, historiographische Metafiktion.“ (1995), S. 117. 224 A. Nünning: „Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion - Prolegomena zu einer Theorie, Typologie und Funktionsgeschichte eines hybriden Genres.“ (2000), S. 24. 225 So beschreibt z.B. L. Cazzato als zentrales Merkmal der historiographischen Metafiktion die Präsenz eines ‚Historikers im Text’, „[who] may use the discourse level to construct [his] historiographic discourse.“ (L. Cazzato: Metafiction of anxiety: modes and meanings of the postmodern self-conscious novel. (2000), S. 80.) Einen guten Überblick über die Typologie und Poetik historiographischer Metafiktion bietet A. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. (1995), Bd. 1, S. 297-343; „Grenzüberschreitungen: Neue Tendenzen im historischen Roman.“ (1993) V.J. Budig situiert die reflexive historical novel im Hinblick auf ihre Poetik an die Schnittstelle zwischen dem Roman der westlichen Moderne und der modernen Historiographie (V.J. Budig: The Self-Reflexive Historical Novel: Alejo Carpentier and Claude Simon. (1989), S. 496.). M. Fludernik weist dagegen auf die besonderen fiktionalisierenden Techniken des ‚metafiktionalen historiographischen Romans’ hin wie z.B. die Introspektion in die Psyche Dritter, die Erfindung beigeordneter Charaktere, Ereignisse, Szenen, Dialoge etc., die fantastische Überformung historischer Episoden, die Darstellung der historischen Ereignisse aus der Sicht individueller Erfahrung (M. Fludernik: „History and Metafiction: Experientiality, Causality, and Myth.“ (1994), S. 95.). <?page no="90"?> 90 hat mit ihren metahistoriographischen Reflexionen auch zu einer Neubewertung des Verhältnisses von Geschichtsschreibung und Literatur beigetragen, indem sie die Frage nach dem epistemologischen Status der narrativen Repräsentation in den Mittelpunkt ihrer kritischen Selbstbefragung stellt. 226 Eine Variante der historiographischen Metafiktion stellt die autobzw. meta-biographische Metafiktion dar: dieser neue Typus der Autobiographie 227 problematisiert die Möglichkeit, ein ‚ganzes’ Leben - das eigene oder ein fremdes - durch die Kombination unzähliger Details in eine einzige Erzählung zu ‚gießen’, und präsentiert zugleich das erinnernde Ich nicht nur als Summe seiner (vergangenen) Handlungen, sondern auch als die seiner Wünsche und Imaginationen. 228 Wie schon im Falle des metafiktionalen Erzählens allgemein steht die Entstehung dieser Variante in einem engen Zusammenhang mit dem unter dem Namen linguistic turn bekannt gewordenen Paradigmenwechsel in der Philosophie und Literaturtheorie: die betreffenden Texte konstruieren Erinnerung und Gedächtnis in ihrer spezifischen sprachlichen Medialität, d.h. in der Art und Weise, wie sie in ihrer sprachlichen Verfasstheit Bedeutungen produzieren: als kulturelle bzw. kulturanthropologische Funktionen. 229 Typischerweise findet auf der Ebene des Textes - sowohl auf der histoireals auch auf der discours-Ebene 226 Vgl. A. Nünning: „Historiographische Metafiktion.“ (2001), S. 252; B. Engler: „The Dismemberment of Clio: Fictionality, Narrativity, and the Construction of Historical Reality in Historiographic Metafiction.“ (1994), S. 13. Vgl. auch L. Hutcheon: „Historiographic metafiction shows fiction to be historically conditioned and history to be discursively structured.“ (L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 120.) 227 Ein Vergleich der Gattungsmerkmale der klassischen und der ‚neuen’ Autobiographie liefert D. Cohn: „Fictional versus Historical Lives: Borderlines and Borderline Cases.“ (1989), S. 13. Sie beschreibt den jeweiligen ontologischen Status des Sprechers als fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Ausprägungsformen: in der traditionellen Autobiographie findet sich die von P. Lejeune beschriebene Identität von Autor, Erzähler und Figur. Dementsprechend zeichnen sich nach A. Jefferson: „Autobiography as Intertext - Barthes, Sarraute, Robbe-Grillet.“ (1990), S. 108f., die (fingierten) Autobiographien des Nouveau Roman durch die „[…] erosion of distinctions between real and imaginary […]“ sowie durch die „[…] subordination of representation to a self-reflexive process of writing […]“ aus. Vgl. ebenso D. Grüter: Autobiographie und Nouveau Roman. Ein Beitrag zur literarischen Diskussion der Postmoderne. (1994), S. 26f.; C. Gronemann: Postmoderne/ Postkoloniale Konzepte der Autobiographie in der französischen und maghrebinischen Literatur. Autofiction - Nouvelle Autobiographie - Double Autobiographie - Aventure du texte. (2002), S. 24. 228 Eine Definition der auto-/ metabiographischen Metafiktion stammt von H. Grabes: „‘Metafiction’ in Nabokov’s Autobiographical Writing.“ (1994); F. Davey: „Autobiographical Metafiction in Some Texts by Daphne Marlatt and Gail Scott.“ (1997), S. 127-34, und A. Nünning: „Grenzüberschreitungen: Neue Tendenzen im historischen Roman.“ (1993), S. 54-73. 229 M. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. (2005), S. 12. <?page no="91"?> 91 - eine Selbstreflexion der Autobiographie statt. Dies können z.B. explizite meta-autobiographische Reflexionen einer innerfiktionalen Instanz über die Unmöglichkeit der ‚unverfälschten’ Wiedergabe von in der Vergangenheit Erlebtem sein. 230 Auch das auto-/ biographische Schreibprojekt sowie die dadurch implizierten philosophischen Fragen (wie die nach dem ontologischen Verhältnis von erinnertem Leben und literarisch-ästhetischem Artefakt bzw. von Autobiographie und Fiktion) können im Mittelpunkt der autobiographischen Selbstbespiegelung stehen. 231 Ferner kann auch erzählerische unreliability ein Hinweis auf die fiktionale Form der Autobiographie sein. 232 Hingegen zählen zu den typischen implizit metafiktionalen Verfahren dieses „new type of autobiographical writing“ 233 , welche auf der strukturellen, narrativen und sprachlichen Ebene des Textes angesiedelt sind, insbesondere die Aufgabe der traditionellen strengen chronologischen Kontinuität zugunsten thematischer Erzähleinheiten, die mit dem zeitlichen Verlauf des berichteten Lebens verknüpft sind und den fiktivassoziativen Charakter der Lebenserinnerungen abbilden sollen. 234 Vor allem die offenkundige Fiktionalisierung und das „selbstreferentielle Spiel mit Sprache“ situieren (post)moderne Varianten der Autobiographie in der Nähe des fiktionalen Pols. 235 Weitere verdeckte metafiktionale Verfahren in fiktionalen Autobiographien sind die Dissoziation der Erzähldistanz/ des autobiographischen ‚Ich’ oder aber eine besondere Opazität der Sprache, welche eine Repräsentation vergangener Wirklichkeit verhindert. Die verschiedenen expliziten und impliziten Erzählstrategien fungieren in dieser Hinsicht als „epistemological disclaimers“; 236 sie bringen nicht nur die Skepsis des Autors gegenüber einer ‚wahren’ Repräsentation der in der 230 M. Holdenried: Autobiographie. (2000), S. 47f. Ebenso A. Finck: „Subjektbegriff und Autorschaft: Zur Theorie und Geschichte der Autobiographie.“ (1995), S. 287, die darauf hinweist, dass der für die fiktionale Autobiographie typische ‚fiktive Entwurf eines Lebens’ dieser Subgattung autobiographischen Erzählens einen „hybriden Charakter […] zwischen Fakt und Fiktion verleiht“. 231 H. Grabes: „‘Metafiction’ in Nabokov’s Autobiographical Writing.“ (1994), S. 177. 232 M. Löschnigg: „Theoretische Prämissen einer ‘narratologischen’ Geschichte des autobiographischen Diskurses.“ (2001), S. 183. 233 H. Grabes: „‘Metafiction’ in Nabokov’s Autobiographical Writing.“ (1994), S. 177. 234 Verschiedene Autoren haben wiederholt darauf aufmerksam gemacht, wie problematisch eine undifferenzierte Kategorisierung der genannten Verfahren als ‚metafiktional’ ist; diese können in einem anderen Zusammenhang auch als gattungskonstitutive Merkmale bzw. als Authentizitätsanspruch gelesen werden im Sinne einer Repräsentation der Gedächtnistätigkeit (So z.B. M. Holdenried: Autobiographie. (2000), S. 39 bzw. S. 14.). 235 D. Grüter: Autobiographie und Nouveau Roman. Ein Beitrag zur literarischen Diskussion der Postmoderne. (1994), S. 28. 236 Am ehesten zu übersetzen mit dem Begriff ‚epistemologische Dementi’. Siehe H. Grabes: „‘Metafiction’ in Nabokov’s Autobiographical Writing.“ (1994), S. 171. <?page no="92"?> 92 Vergangenheit erlebten Ereignisse zum Ausdruck, sondern auch seine Einsicht in die diskursive Konstruiertheit seines autobiographischen Selbst, das sowohl durch den Schreibakt als auch durch die ihn überhaupt erst ermöglichenden (auto-/ biographischen) Codes und Konventionen geschaffen wird. 237 Eine weitere Variante der Metafiktion stellt den jeweils verschiedenen ontologischen Status von Literatur und außerliterarischer Wirklichkeit und ihre objektive Erkennbarkeit in den Mittelpunkt ihrer Reflexion; diese Sonderform zeigt sich geprägt durch einen radikalen epistemologischen Zweifel. 238 Auch die epistemologische Metafiktion ist aus der Abgrenzung zu realistischen fiktionalen Erzählformen entstanden: Während die Autoren des realistischen Romans noch von der Erkennbarkeit und möglichen sprachlichen Repräsentation einer außertextuellen Wirklichkeit überzeugt waren, 239 237 Eng verwandt mit der autobiographischen Metafiktion ist die ‚biographische Metafiktion’ (auch ‚metabiographische Fiktion’ oder ‚fiktionale Biographie’ genannt), die von I. Schabert als „fiktionale Repräsentation eines Lebens“ (I. Schabert: „Fictional Biography, Factual Biography, and their contaminations.“ (1982), S. 4.) definiert wird im Sinne eines „conditional statement“ (I. Schabert: In Quest of the Other Person: Fiction as Biography. (1990), S. 61.) und welche ausschließlich die Imaginationen eines Erzählers präsentiert (Ebd. Vgl. auch I. Schabert: „Fictional Biography, Factual Biography, and their contaminations.“ (1982), S. 8.). Dieser besondere, fiktionale, Typus der Biographie greift explizit auf fiktionale Erzählmodi zurück wie „multileveled first-person narrative“ oder kontrastierende Erzählerperspektiven (I. Schabert: In Quest of the Other Person: Fiction as Biography. (1990), S. 61f.). A. Nünning hat diesen innovativen Typus der traditionellen Biographie ausführlich definiert, von der traditionellen Biographie abgegrenzt, typologisiert sowie funktionalisiert. Er betont, dass über eine imaginative Aneignung des biographischen Materials hinaus in fiktionalen Biographien auch eine „[…] kritische Auseinandersetzung mit vorherrschenden Formen historiographischer Sinnbildung, dem kulturellen Erbe und literarischen Konventionen […]“ stattfindet (A. Nünning: „Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion - Prolegomena zu einer Theorie, Typologie und Funktionsgeschichte eines hybriden Genres.“ (2000), S. 26.). 238 B. McHale dagegen unterscheidet die epistemologischen Fragestellungen des modernen Romans von den ontologischen des postmodernen Romans: Während in modernen Texten die Thematik durch die Frage nach der Erkenn- und Interpretierbarkeit der äußeren Welt durch das erkennende Bewusstsein bestimmt wird, stehen im Mittelpunkt postmoderner Texte die Welt(en) bzw. die Identität(en) des Subjekts selbst (B. McHale: Postmodernist Fiction. (1987). S. 9f.). 239 Vgl. D. Lodges Definition des ‚Realismus‘, D. Lodge: The Modes of Modern Writing: Metaphor, Metonymy and the Typology of Modern Literature. (1977), S. 40: „It is a tradition which depends upon certain assumptions, especially the assumption that there is a common phenomenal world that may be reliably described by the methods of empirical history, located where the private worlds that each individual creates and inhabits partially overlap. Hence the typical narrative method for this kind of novel is the third-person, past-tense narrative in which, whether the narrator chooses to intervene rhetorically or not, the grammar is a constant sign of his presence, and hence <?page no="93"?> 93 stellen die metafiktional geprägten Romane der Postmoderne die sprachlichen und allgemein epistemologischen Grundlagen des Realismus sowie seine narrativen Konventionen in Frage. 240 So wird die poststrukturalistische Prämisse von der fundamentalen ontologischen Grenze, welche die äußere Realität und ihre sprachliche Repräsentation voneinander trennt, von den postmodernen Autoren auf den Roman übertragen: die verschiedenen metanarrativen, metasprachlichen und metafiktionalen Verfahren unterstreichen die Autonomie der (literarischen) Sprache und lassen den Text letztendlich immer nur auf sich selbst verweisen. 241 Im Zentrum dieser epistemologischen Romane steht stets die metafiktionale Offenlegung der „[…] disparity between fiction and the external world […]“. 242 A. Nünning hat in diesem Kontext die insbesondere in historischen Romanen verhandelten epistemologischen Zweifel an der objektiven Natur historiographischer Konstruktionen sowie an der Fähigkeit eines Historikers, die Vergangenheit anders als durch Texte zu erkennen, untersucht. 243 Die Thematisierung von Problemen, die mit der nachträglichen Erkennbarkeit von vergangener Wirklichkeit zusammenhängen, weisen den Leser darauf hin, „[…] that our models of reality and history are as much an intellectual construction as the fictional worlds projected in [the] novel.“ 244 Die anti-mimetische Metafiktion als eine der epistemologischen Metafiktion untergeordnete Variante trägt ebenfalls der Ablehnung des (naiven) Mimesis-Begriffs des Realismus in der Postmoderne Rechnung. Während of some context, some reality larger than that defined by the limits of any character’s consciousness.” 240 So weist I. Hassan bereits 1971 auf die epistemologischen Fragestellungen im französischen Nouveau Roman hin (I. Hassan: The Dismemberment of Orpheus: Toward a Post- Modern Literature. (1979)). 241 Vgl. z.B. A. Thiher: Words in Reflection: Modern Language Theory and Postmodern Fiction. (1984), S. 105ff. Man denke an die selbst-referentiellen Erzählverfahren des Nouveau Roman wie die générateurs, d.h. die ‚Produktion’ einer Erzählung nach dem Prinzip der Variation, sowie die mots-carrefour in der Poetik Claude Simons. 242 I. Christensen: The Meaning of Metafiction: A Critical Study of Selected Novels by Sterne, Nabokov, Barth and Beckett. (1981), S. 22. 243 A. Nünning: „‘Die Kopie ist das Original der Wirklichkeit’: Struktur, Intertextualität und Metafiktion als Mittel poetologischer Selbstreflexion in Peter Ackroyds Chatterton.“ (1994), S. 46; A. Nünning: „‘The Past Is the Fiction of the Present’: Constructivist Reflections on Susan Daitch’s L.C. as a Novel about the Recording of History.“ (1994), S. 297. Ebenso B. Engler: „The Dismemberment of Clio: Fictionality, Narrativity, and the Construction of Historical Reality in Historiographic Metafiction.“ (1994), S. 13. 244 A. Nünning: „‘The Past Is the Fiction of the Present’: Constructivist Reflections on Susan Daitch’s L.C. as a Novel about the Recording of History.“ (1994), S. 298. Mit D. Frank muss in diesem Kontext betont werden, dass der ontologische Zweifel metafiktionaler Romane sich auf die zur Verfügung stehenden Formen der Welterfassung bezieht, jedoch nicht auf die Existenz einer a priori feststehenden Realität (D. Frank: Das Paradox der Metafiktion: Selbstreflexivität in neueren deutschen Erzähltexten. (1995), S. 33.). <?page no="94"?> 94 in der Theorie des Realismus die Referenz von Kunst und Literatur auf Außertextuelles bzw. ihre „Fähigkeit zur Nachahmung einer vorkünstlerischen, außerliterarischen Wirklichkeit“ 245 als ihre primäre Funktion festgelegt war, wird diese Funktion in der Postmoderne zunehmend in Frage gestellt. Metafiktion verweist durch explizite Thematisierung oder implizite Inszenierung auf ihre eigene Textualität, auf ihren Status eines aus Diskursen bzw. aus Sprache konstruierten Artefakts und zieht auf diese Weise die traditionellen Annahmen über die mimetische Funktion des Romans in ihren eigenen Grenzen in Zweifel und betont den eigenen autonomen Status. 246 Statt die außerliterarische Lebenswelt mit den traditionellen realistischen Erzählverfahren auf vertraute Weise narrativ reproduziert zu sehen, soll dem Leser die Erkennbarkeit der Realität und ihre sprachliche Repräsentierbarkeit fragwürdig werden. 2.3 ‚Metanarration’ - Definitionen und Typologisierungen Angesichts der differenzierten Theoretisierung der Metafiktion und ihrer Subgattungen überrascht die relativ geringe Zahl an Veröffentlichungen zur Metanarration, 247 sind doch beide Phänomene als Unterkategorien autoreferentieller Diskurse eng verwandt. Die erste Definition von signes métanarratifs stammt von G. Prince und fügt sich in einen größeren narratologischen Kontext ein: „Chaque fois que le discours narratif (au sens large) renvoie au code qui le sous-tend ou, plus spécifiquement, chaque fois qu’il accomplit (paraît accomplir) une action 245 H. Zapf: „Mimesis.“ (2001), S. 441. 246 L. Hutcheon: „Metafictional Implications for Novelistic Reference.“ (1987), S. 2. Ebenso: C. Burgass: „Reading against Theory: Mimesis and Metafiction in the Postmodern Novel.“ (1996), S. 243. Vgl. auch A. J. Elias, die zwischen der epistemologischen Dominante des modernen Romans (‚Wie ist diese Welt? ’) und der ontologischen Dominante des postmodernen Romans (‚Welche Welt ist das? Was ist Welt? ’) unterscheidet. (A.J. Elias: „Meta-Mimesis? The Problem of British Postmodern Realism.“ (1993), S. 12.) 247 So konstatiert auch M. Fludernik die kaum vorhandene Präsenz des Begriffs nicht nur in der deutschen literaturwissenschaftlichen bzw. narratologischen Terminologie und würdigt in diesem Zusammenhang A. Nünnings Verdienst, die erste Begriffsbestimmung und Typologisierung im deutschen Sprachraum vorgenommen zu haben (M. Fludernik: „Metanarrative and metafictional commentary: From metadiscursivity to metanarration and metafiction.“ (2003), S. 1, 30.). Mittlerweile zeichnet sich jedoch im Anschluss an A. Nünnings Theorieentwurf eine breitere Verwendung des Begriffs ab und seine Übernahme auch von benachbarten Literaturwissenschaften, vgl. z.B. R. Zaiser: „La Mise en abyme au dix-septième siècle: Récit spéculaire et métanarration dans les romans de Sorel, de Scarron et de Furetière.“ (2006). <?page no="95"?> 95 de glose par rapport à l’un de ses propres éléments, nous avons affaire à des signes métanarratifs.“ 248 Während hier die Eingrenzung des discours narratif noch ausbleibt und der Terminus selbst nicht geklärt wird, stammt der nächste Definitionsvorschlag von W. Wolf, der als ‚Metanarration’ die Thematisierung der Bauformen des Erzählens durch implizit metafiktionale Kommentare definiert. 249 Doch erst A. Nünning liefert eine präzisere Begriffsbestimmung, die zugleich auch eine Abgrenzung zur Metafiktion vornimmt: Während ‚Metanarration’ wertneutral das eigene Erzählen bzw. den eigenen Erzählvorgang thematisiert, verweist der Begriff ‚Metafiktion’ autoreferentiell auf die Fiktionalität des Erzählten oder auch des Erzählens. 250 Per definitionem sind metanarrative Äußerungen von binnentextuellen Instanzen nicht allein auf fiktionale Genres beschränkt, sondern sie können auch in faktualen Gattungen wie der Autobiographie bzw. in nichttextuellen Medien erscheinen; metafiktionale Kommentare sind jedoch auf den Kontext der Fiktion begrenzt. 251 A. Nünning unterscheidet in seinem Modell 252 zunächst unterschiedliche Grade narrativer Selbstreflexivität, die er auf einer Skala mit den Polen ‚ausgeprägtes Maß an Selbstreflexivität’ sowie ‚nicht bewusst erzählende Erzähler’ verortet. 253 Anschließend ergänzt Nünning diese Skalierung um formal, strukturell und inhaltlich bestimmte Unterformen von Metanarra- 248 G. Prince: „Remarques sur les signes métanarratifs.“ (1977), S. e-1f. Später definiert er genauer als ‘metanarrative’ „[…] the passages or units in a narrative that refer explicitly to the codes or subcodes in terms of which the narrative signifies.“ (G. Prince: A Dictionary of Narratology. (2003), S. 51.) 249 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 286. 250 A. Nünning: „Metanarration als Lakune der Erzähltheorie: Definition, Typologie und Grundriss einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähleräußerungen.“ (2001), S. 129. In seiner kurzen Skizze der Forschungsgeschichte zur Metanarration weist A. Nünning darauf hin, dass metanarrative Phänomene im englischen literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauch unter metafiction subsumiert werden. Es sei nur das Adjektiv metanarrative geläufig, dieses werde aber wiederum zum Substantiv metafiction gebildet (A. Nünning: „Metanarration als Lakune der Erzähltheorie: Definition, Typologie und Grundriss einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähleräußerungen.“ (2001)). 251 Ebd., S. 130. Darüber hinaus nennt Nünning weitere nicht-metanarrative textuelle Phänomene wie die mise en abyme, Spiegelungsverfahren sowie metasprachliche Kommentare oder Inszenierungen (Ebd., S. 132). 252 Nünnings Typologie orientiert sich an W. Wolfs Systematik metafiktionalen Erzählens (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993)) 253 A. Nünning: „Metanarration als Lakune der Erzähltheorie: Definition, Typologie und Grundriss einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähleräußerungen.“ (2001), S. 133: narrative self-consciousness und narrative unconsciousness. <?page no="96"?> 96 tion, die er darüber hinaus durch wirkungsästhetisch und funktional bestimmte Kriterien ergänzt und differenziert. 254 Die formal bestimmten Formen der Metanarration lassen sich nach der Kommunikationsebene 255 unterscheiden, auf der die textuellen Erzähler ihr Erzählen thematisieren: Figuren der erzählten Welt, übergeordnete Erzählinstanzen, Figuren/ Erzähler auf eingebetteten Ebenen oder z.B. fiktive Herausgeber auf paratextuellen Ebenen. Ebenso lassen sich gleichgeordnete (Subjekt der Äußerung und thematisiertes Objekt befinden sich auf der gleichen Kommunikationsebene) und metaleptische Formen unterscheiden (Transgression der Grenze zwischen extradiegetischer und intradiegetischer Welt). In diesem Zusammenhang differenziert Nünning ähnlich wie Wolf auch zwischen impliziten (hierzu zählen z.B. die strukturbewussten Regiebemerkungen eines Erzählers, die ‚Pose des Nichtwissens’, wie die Geschichte weitergeht, sowie Leseranreden) und expliziten Formen (direkte Thematisierungen des Erzählakts). Zuletzt nennt Nünning mit Blick auf die Kommunikationsebene metaphorische (z.B. Umschreibungen für das Erzählen wie Reise- oder Filmmetaphern) und nichtmetaphorische Formen (die direkte Bezeichnung von Aspekten des Erzählens). 256 Strukturell bestimmte Formen der Metanarration zeichnen sich ihrerseits durch ihre Position im Text aus (im Hinblick auf ihre Lage im Romanganzen, ihre Frequenz, ihren Umfang, ihren Kontext, ihren Grad an kontextueller Plausibilität sowie auf den Grad der Abschweifung vom jeweiligen Geschehen); bei diesen Formen handelt es sich laut Nünning immer um explizite Metanarration. 257 Die inhaltlichen Formen schließlich werden durch das jeweilige Objekt charakterisiert, auf das sich die selbstreflexiven metanarrativen Äußerungen beziehen. Nach dem Gegenstandsbereich der metanarrativen Referenz lassen sich selektive Formen von umfassenden unterscheiden, je nach dem Referenzbezug beziehen sich die Kommentare auf das eigene Erzählen, auf die Erzählweise fremder Texte/ Autoren, auf das Erzählen allgemein, auf Elemente desselben Textes sowie auf jene anderer Texte. Weiterhin lassen sich storybzw. histoire-orientierte Metanarration von discours-zentrierter Metanarration unterscheiden; letztere können sich wiederum auf den Erzähler, auf den Kanal oder auf den Leser beziehen. Darüber hinaus kann sich der Kommentar auf die Gattung bzw. Textsortenzugehörigkeit der 254 A. Nünning: „Metanarration als Lakune der Erzähltheorie: Definition, Typologie und Grundriss einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähleräußerungen.“ (2001), S. 135. 255 In seiner Systematik folgt Nünning dem narratologischen Modell G. Genettes (G. Genette: Figures III. (1972)) 256 A. Nünning: „Metanarration als Lakune der Erzähltheorie: Definition, Typologie und Grundriss einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähleräußerungen.“ (2001), S. 135-138. 257 Ebd., S. 138-141. <?page no="97"?> 97 Erzählung beziehen oder diese unerwähnt lassen. Auch kann der Erzähler bzw. die Erzählinstanz die eigene narrative Kompetenz einschätzen; dabei handelt es sich entweder um eine affirmative oder um eine unterminierende Metanarration. Und schließlich lässt sich Metanarration auch danach unterscheiden, wie die Haltung des jeweiligen Aussagesubjekts zu den thematisierten Erzählformen ist. 258 Die vierte und letzte Kategorie unterscheidet wirkungsästhetisch bzw. funktional bestimmte Formen; dabei steht das Wirkungs- und Funktionspotential der jeweiligen metanarrativen Äußerung im Mittelpunkt. Im Einzelnen sind mündlichbzw. schriftlichkeitsfingierende Metanarrationen zu unterscheiden, distanzverringernde und -vergrößernde metanarrative Kommentare sowie illusionskompatible und -störende Metanarration. 259 Zu den typischen Verfahren metanarrativer Texte gehören z.B. auch extradiegetische Erzähler, deren metanarrative Kommentare durchaus auch über einen metafiktionalen Impetus verfügen können. 260 Nicht zuletzt fungieren metanarrative Reflexionen als Metafiktion, wenn sie hinsichtlich ihrer Erzähllogik inkonsistent sind. 261 2.4 Zusammenfassung Der Überblick über die bislang erfolgten Konzeptualisierungen der Metafiktion hat gezeigt, dass die drei Modelle von Hutcheon, Lauzen und Wolf zwar erstmals die in den Texten beobachteten selbstreflexiven und als metafiktional klassifizierten Phänomene auf einschlägige narratologische Kategorien wie die histoire- und die discours-Ebene des Erzähltextes bezogen haben. Dennoch bleiben die drei Ansätze vor allem im Hinblick auf die Systematisierung der impliziten Metafiktion unvollständig: So schlägt Wolf in seinen Arbeiten zur Metafiktion nur eine ungenaue Definition dieser 258 A. Nünning: „Metanarration als Lakune der Erzähltheorie: Definition, Typologie und Grundriss einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähleräußerungen.“ (2001), S. 142-146. 259 Ebd., S. 146-148. Im Hinblick auf eine Funktionalisierung metanarrativen Erzählens unterscheidet Nünning - ausgehend von den Ergebnissen seiner metanarrativen Analyse des englischen Romans - sieben Funktionen: Zu nennen sind die authentizitätsbezogene Funktion, die kohärenzstiftende F., die mnemotechnische F., die phatische F., die kommunikative F., die spannungserzeugende F., die didaktische F., die komische F., die parodistische F., die poetologische F., die metafiktionale F., sowie die illusionsstörende Funktion. Nünning betont, dass die Funktionen metanarrativen Erzählens historischem Wandel unterliegen und in der Regel gebündelt in fiktionalen Erzähltexten auftreten. (Ebd., S. 150-159.) 260 Ebd., S. 136. 261 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 237. Dies ist z.B. der Fall, wenn ein zunächst scheinbar faktualer Text plötzlich als fiktionaler entlarvt wird. <?page no="98"?> 98 verdeckten Variante metafiktionalen Erzählens vor. Zwar setzt er die von ihm als illusionsstörend bestimmten Verfahren der ‚Entwertung der Geschichte’ sowie der ‚Auffälligkeit der Vermittlung’ mit der impliziten Metafiktion gleich, ohne jedoch genauer zu bestimmen, inwieweit die genannten Verfahren tatsächlich metafiktional fungieren. Darüber hinaus besitzt Wolfs Unterscheidung von fictio- und fictumthematisierenden expliziten Formen der Metafiktion in der textanalytischen Praxis nur einen geringen Erkenntniswert, da die Unterschiede zwischen der Offenlegung der ‚Künstlichkeit im Sinne von erfunden’ sowie der Offenlegung der ‚Künstlichkeit im Sinne von gemacht’ letztendlich nicht deutlich werden. Es fehlt in diesem Zusammenhang der konkrete Bezug auf das Vergleichsobjekt: Es sind ja die fingiert faktualen Texte wie z.B. der realistische Roman des 19. Jahrhunderts, welche die Erfundenheit des eigenen Gegenstands zu verbergen suchen, und deren wirklichkeitsillusionierenden, auf das Vertuschen der eigenen Künstlichkeit abzielenden, Konventionen von metafiktionalen Texten augenzwinkernd und in Form metaästhetischer Kommentare aufgedeckt werden. Eine Schwäche der Theoriebildung ist auch Wolfs völliges Ausblenden etablierter narrativer Kategorien wie z.B. G. Genettes Systematik der Zeitgestaltung in Erzähltexten, F.K. Stanzels Unterscheidung zwischen Erzähler- und Reflektorfiguren oder das in der angloamerikanischen Literaturwissenschaft entwickelte Konzept des unreliable narrator. Diese Missachtung wichtiger narratologischer Modelle hat zur Folge, dass Wolfs Konzept der Metafiktion eine abstrakte Kategorie der Wirkungsästhetik bleibt, aber nicht an elementare narrative Elemente der betreffenden fiktional-narrativen Texte rückgebunden ist. Es ist vor allem diese Lakune in der Theoriebildung zum metafiktionalen Erzählen, die eine Neukonzeptionierung der Metafiktion notwendig macht, sollen praktikable, d.h. im Rahmen einer Textanalyse anwendbare narratologische Kategorien der Metafiktion zur Verfügung stehen. Dabei sollen die metafiktionalen Textstrategien, die sich insbesondere im spät- und postmodernistischen Roman nachweisen lassen, auf narratologische Analysekategorien wie das Erzählerkonzept, die Zeitgestaltung sowie die Struktur von Erzähltexten bezogen werden. Zugleich ist es notwendig, den Terminus ‚Metafiktion’ und seine Derivate ‚Metafiktionalität’ und ‚Metafiktivität’ deutlicher voneinander abzugrenzen. Auch hier scheint Wolfs Unterscheidung zwischen fictio- und fictum-thematisierender Metafiktion - also einerseits der selbstreferentielle Bezug auf die eigene ‚Gemachtheit’, die Qualität des Textes als ein Artefakt, und andererseits der Bezug auf die eigene ‚Erfundenheit’, die Nicht-Referentialisierbarkeit auf eine extratextuelle Welt - das Wesen der ‚Metafiktion’ in fiktionalen Erzähltexten nur unzureichend zu beschreiben. <?page no="99"?> 99 Im Folgenden soll daher der literaturwissenschaftliche Terminus ‚Metafiktion’ auf der Grundlage einer narratologischen Definition des Wortstammes ‚Fiktion’ neu bestimmt werden. Denn per definitionem bezeichnet ja ‚Metafiktion’ den auto- oder heteroreferentiellen Diskurs über die Fiktion entweder des eigenen Textes oder von anderen Texten und Medien; es ist daher naheliegend, zunächst nach dem Gegenstandsbereich von ‚Fiktion’ im Zusammenhang mit fiktional-narrativen Texten zu fragen: Wie manifestiert sich ‚Fiktion’ bzw. ‚Fiktionalität’ in einem Erzähltext, an welchen Orten in der Struktur des Textes wird die ‚A-Referentialität’ beschreibbar? In dem hier skizzierten Rahmen wird ‚Metafiktion’ somit zunächst als Diskurs - als Thematisierung und auch Inszenierung - über die in der narrativen Struktur angelegte Fiktion des Textes definiert. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage nach dem Vergleichsobjekt der Fiktionalität bzw. der Fiktivität: Zu welchen ‚realen’ Kategorien stehen fiktionale Texte durch ihre eingeschriebene Nicht-Wirklichkeit bzw. Künstlichkeit in Opposition? <?page no="101"?> 101 3 Ein narratologisches Modell der Metafiktion: ‚Metafiktivität’ und ‚Metafiktionalität’ Wie der Überblick über die wichtigsten Konzeptionalisierungen metafiktionalen Erzählens gezeigt hat, rekurrieren die bisherigen Modelle der Metafiktion nicht deutlich genug auf narratologische Analysekategorien. Zwar entwickelten sowohl L. Hutcheon als auch W. Wolf differenzierte Typologien der expliziten Varianten, doch bleibt die Verknüpfung der impliziten, verdeckten Formen der Metafiktion mit den narrativen Ebenen des discours und der histoire sowie mit einschlägigen narrativen Kategorien wie z.B. Erzähler und Zeitgestaltung ein Desiderat. Vor allem Wolfs Vorschlag, die impliziten Varianten mit den von ihm als ‚illusionsstörend’ klassifizierten Kategorien der ‚Entwertung der Geschichte’ und der ‚Auffälligkeit der Vermittlung’ gleichzusetzen, ist nicht überzeugend, da sich in seinen Überlegungen deutlich die fehlende Rezeption einschlägiger narratologischer Modelle wie Genettes Überlegungen zur Zeitstruktur narrativer Texte oder das auf Booth zurückgehende Konzept der unreliable narration zeigt. Die vorliegende Arbeit will Metafiktion stärker mit narratologischen Analysekategorien verknüpfen und metafiktionale Phänomene auf die histoire- und discours-Ebenen narrativer Texte beziehen. Dabei soll F. Zipfels sprachhandlungstheoretisches Modell der Fiktion Orientierung bieten: er verortet ‚Fiktion’ einerseits auf der Ebene der Geschichte und zum anderen auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung. ‚Metafiktion’ soll daher definiert sein als autoreferentielle bzw. metatextuelle Rede über Fiktion auf der Ebene der histoire und auf der des discours. Um den übergeordneten metafiktionalen Diskurs über Fiktion jedoch genauer beschreiben zu können, muss zunächst der Begriffsinhalt von ‚Fiktion’ eingegrenzt werden. Die Forschungslage zur ‚Fiktion’ stellt sich ähnlich heterogen dar wie diejenige zur Metafiktion: Eine Vielzahl konkurrierender Begriffsbestimmungen und Konzepte stehen nebeneinander und zielen häufig auf ganz unterschiedliche Phänomene. 1 Dies ist umso er- 1 Z.B. J.H. Petersen: „Es kommt eine kaum verständliche, jedenfalls heillose Begriffsverwirrung, ja Begriffslosigkeit hinsichtlich des Problemfeldes ‚Fiktionalität’, ‚Fiktion’, ‚Fiktivität’ usf. hinzu.“ (J.H. Petersen: Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung. (1996), S. 9. Ebenso: W. Hoops: „Fiktionalität als pragmatische Kategorie.“ (1979), S. 284; J.F. Ihwe: „Sprachphilosophie, Literaturwissenschaft und Ethik: Anregungen zur Diskussion des Fiktionsbegriffs.“ (1979), S. 208; W. Iser: „Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text? “ (1983), S. 121; K.W. Hempfer: „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie.“ (1990), S. 117; F. Zipfel: Fiktion, <?page no="102"?> 102 staunlicher, als die ‚Fiktion’ bzw. ‚Fiktionalität’ von Kunstwerken im Allgemeinen und von literarischen Texten im Besonderen - wohl als ‚Nebenprodukt’ des alle kulturellen Bereiche affizierenden postmodernen Zweifels an der Erkennbarkeit der Welt - in den vergangenen dreißig Jahren 2 zu einem der wichtigsten Forschungsfelder der Literaturwissenschaft geworden ist. 3 Einerseits lässt sich auch hier eine an den alltagssprachlichen Gebrauch angelehnte Begriffsverwendung von ‚Fiktion’ im Sinne von ‚erfunden’ bzw. ‚nicht-wirklich’, folglich im Sinne von „Nichtreferentialisierbarkeit“ 4 , konstatieren. Andererseits werden die Derivate von ‚Fiktion’ - ‚Fiktionalität’ und ‚Fiktivität’ - nicht deutlich genug voneinander unterschieden, sondern häufig synonym gebraucht. Um dennoch den Begriffsinhalt von ‚Fiktion’ so einzugrenzen, dass er im Folgenden als Ausgangspunkt für eine Definition von ‚Metafiktion’ fungieren kann, wird nach einem kurzen Überblick über die Etymologie des Begriffs ‚Fiktion’ narratologisch definiert und von konkurrierenden Begriffsbestimmungen abgegrenzt. Dabei wird der Schwerpunkt der Ausführungen vor allem auf F. Zipfels sprachhandlungstheoretischer Definition fiktionalen Erzählens liegen. Im Anschluss wird auf der Grundlage seines Konzepts von ‚Fiktion’ ein neues Modell metafiktionalen Erzählens entwickelt werden, das Metafiktion einerseits als ‚metafiktiven’ Diskurs über Fiktion auf der Ebene der Geschichte und andererseits als ‚metafiktionalen’ Diskurs auf der Ebene des Erzählens beschreibt. Neu ist in diesem Zusammenhang der Rekurs auf narratologische Analysekategorien, der zu einer wertneutralen Bestimmung führt: ‚Metafiktion’ wird in der vorliegenden Arbeit nicht mehr wie noch bei Wolf wirkungsästhetisch als illusions(zer)störende Abweichung von den Kategorien „illusionistischer Narrativik“ 5 verstanden, son- Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 13.) 2 Seit ca. 1969 ist ein Einsetzen der literaturtheoretischen Diskussion über Fiktionalität in Deutschland zu beobachten, die in den 1970er und 1980er Jahren einen Höhepunkt erreicht und in den 1990er Jahren bereits wieder abflaut. Im französischen Sprachraum erstarkt in dieser Dekade erst das Interesse, während in der angloamerikanischen Literaturwissenschaft dieses seit den Anfängen der sprachanalytischen Philosophie ungebrochen ist. (W. Hoops: „Fiktionalität als pragmatische Kategorie.“ (1979), S. 281; F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 63.) 3 In diesen theoretischen Kontext ist auch die poststrukturalistische „doctrine of panfictionality“ einzuordnen, die auf der These fußt, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion destabilisiert und keine genaue Unterscheidung zwischen beiden Bereichen mehr möglich sei. (Vgl. hierzu M.-L. Ryan: „Postmodernism and the Doctrine of Panfictionality.“ (1997), S. 165.) 4 K.W. Hempfer: „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie.“ (1990), S. 117. 5 W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 199ff. <?page no="103"?> 103 dern vielmehr wertneutral als Thematisierung und Inszenierung von ‚Erfundenheit’ bezogen auf die erzählte Welt sowie auf die Darstellungsform. Dem neuen Theorieentwurf sei die These vorangestellt, dass sich metafiktionale Texte stets vom Modell des realistischen fiktionalen Erzähltexts abgrenzen, dessen narratives Ziel im Sinne einer Verschleierung der eigenen Fiktionalität besonders im Herstellen fingierter Faktizität besteht. Metafiktion dagegen spielt mit den Konventionen des realistischen Romans und deckt die in den Strukturen verborgene Fiktionalität auf. 3.1 ‚Fiktion’, ‚Fiktionalität’, ‚Fiktivität’ - Definitionen und Signale Die Diskussion über narrative Fiktion bzw. narrative Fiktionalität zeigt sich geprägt von der oftmals unreflektiert synonymen Verwendung der Begriffe ‚Fiktion’, ‚Fiktionalität’ und ‚Fiktivität’. Auch kann je nach literaturwissenschaftlicher Provenienz des jeweiligen Benutzers bereits der Terminus ‚Fiktion’ ganz unterschiedliche Phänomene bezeichnen, sei es ‚Erfundenes’ wie im deutschen und französischen literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauch oder ‚Erzähltext’ wie in der anglistischen und amerikanistischen Literaturwissenschaft. 3.1.1 Etymologie Der deutsche Begriff ‚Fiktion’ 6 (englisch fiction, französisch fiction) 7 geht auf das griechische Wort î mit der Bedeutung ‚Lehm’ bzw. ‚die aus Lehm Wolf nennt hier folgende textinterne Prinzipien der Illusionsbildung (diese zielen auf die Erzeugung von Wahrscheinlichkeit und Attraktivität sowie auf die Verhüllung von Künstlichkeit ab): das Prinzip anschaulicher Welthaftigkeit, das Prinzip der Sinnzentriertheit, das Prinzip der Perspektivität, das Prinzip der Mediumsadäquatheit, das Prinzip der Interessantheit der Geschichte sowie das Celare-artem-Prinzip (Ebd., S. 115-199.). 6 Vgl. hierzu U. Japp: „Die literarische Fiktion.“ (1995), S. 47ff. 7 Wie Zipfel deutlich macht, existieren sowohl im Englischen als auch im Französischen von fiction abgeleitete Adjektive: So werden im Englischen neben dem Substantiv fiction auch die Adjektive fictive, fictional und fictitious verwendet, wobei mit Bezug auf literarische Texte fast ausschließlich fictional verwendet wird, fictive dagegen eher selten, fictitious fast nie, wohl auch wegen der Konnotation ‚gefälscht’. Es findet keine semantische Differenzierung zwischen fictive und fictional statt; beide Wörter werden synonym gebraucht. - Im Französischen unterscheidet der Petit Robert hingegen zwischen fictif/ fictive als ‚allégorique’, ‚fabuleux’, ‚imaginaire’, ‚faux’, ‚feint’ und fictionnel/ fictionnelle als ‚qui relève de la fiction’. (F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 19; J. Rey-Debove und A. Rey (Hgg.): Le Nouveau Petit Robert. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française. (1993), S. 917.) <?page no="104"?> 104 geknetete Mauer’ zurück. 8 Diese ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes - ‚eine Mauer bauen’ bzw. ‚aus Lehm bilden, formen’ - ist auch in das lateinische fingere eingegangen; erst später treten die Mauer und der Lehm in den Hintergrund zugunsten der allgemeineren Bedeutungen des Bildens, Formens und Darstellens. Damit wird der Ausdifferenzierung von fingere in eine pejorative und eine meliorative Bedeutung bereits der Boden bereitet: So war das fictum im Sinne von Erdichtung und Lüge zu verstehen, während die fictio eher wertneutral auf Bildung und Gestaltung verwies. 9 Im Laufe der Wortgeschichte gerät diese Unterscheidung zunehmend in Vergessenheit, bis sich in einem allgemeinen Verständnis, aber auch im lexikalischen Grundwissen unserer Zeit, die Gleichung ‚Fiktion’ = ‚Erdichtung’ durchgesetzt hat. Darüber hinaus büßt der Terminus ‚Fiktion’ in der Gegenwart seinen in der Antike angelegten weiten Gegenstandsbereich ein und bezeichnet heute nicht mehr die bildende Kunst, sondern vorwiegend literarische Texte und in einer weiteren Verengung vornehmlich im englischen und amerikanischen Sprachgebrauch allein Erzähltexte. 10 8 Dabei weist der Bedeutungswandel des griechischen Urwortes auf das Entstehungsdatum des Phänomens selbst hin: die Genese der Fiktion wird als Konsequenz der Entstehung der Schrift und des damit einhergehenden Rezeptionswandels gesehen: „Texte“ wurden nun nicht mehr mündlich vorgetragen bzw. -gesungen, sondern der Leser hat den Text allein und im Stillen rezipiert; dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Gestaltung der Texte selbst. (Hierzu W. Rösler: „Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike.“ (1980), S. 285.) In einer anderen Interpretation wird die „Scheidung von Fiktion und Realität“ erst in das 12. Jahrhundert verlegt; sie wird an der auf Platon zurückgehenden, kirchlichen Kritik am Fiktiven (fable) wie z.B. an der Artussage der Matière de Bretagne sichtbar. (H.R. Jauß: „Zur historischen Genese der Scheidung von Fiktion und Realität.“ (1983), S. 427f.) Interessanterweise macht der „Grundtext der Moderne“, Miguel de Cervantes’ Don Quijote, die nun vollzogene Scheidung von Fiktion und Realität zum Thema und kann deswegen als erster „Antiroman“ der Literaturgeschichte aufgefasst werden. (Ebd., S. 430.). 9 Die fiktionskritische Konnotation von fictum verweist natürlich zurück auf den Ursprung des Fiktionalitätsproblems in der Antike mit den Polen von Platons globalem Lügenvorwurf einerseits und Aristoteles’ ebenso emphatischer Wertschätzung der Dichter als Vermittler der ‚wahren Natur’ (W. Hoops: „Fiktionalität als pragmatische Kategorie.“ (1979), S. 281; Platon: Der Staat. (Politeia) Übers. und Hg. v. Karl Vretska. (1982), X, 4; Aristoteles: Poetik. Griechisch/ Deutsch. Übers. u. hrsg. von Manfred Fuhrmann. (2001), 1451a-1451b.) 10 Diese zweifache Verengung der ursprünglichen Bedeutung auf ‚Erfundenes’ und ‚Erzählliteratur in Prosa’ kommt auch in der Verwendung des englischen Begriffs fiction („(branch of literature concerned with) stories, novels and romances“ (A.S. Hornby: Oxford Advanced Learner’s dictionary of current english. (1974), S. 322.)) und des französischen Terminus fiction („création de l’imagination, en littérature“ (J. Rey- Debove und A. Rey (Hgg.): Le Nouveau Petit Robert. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française. (1993), S. 917.)) zur Bezeichnung von Textsorten zum Tragen. Im Deutschen hingegen blieb ‚Fiktion’ auf die Dichtungsbzw. Fiktionstheorie beschränkt und wurde als Gattungsbegriff zuerst in die Volkskunde eingeführt (‚Fikti- <?page no="105"?> 105 3.1.2 Definitionsansätze: Alltagssprache, Sprachphilosophie, Narratologie Wie einleitend bereits dargelegt wurde, existieren in der Literaturwissenschaft bislang keine konsensfähigen und allgemeingültigen Definitionen von ‚Fiktion’, ‚Fiktionalität’ und ‚Fiktivität’. Vielmehr lassen sich zwei Begriffsverwendungen in der deutschsprachigen und in der anglophonen Literaturwissenschaft unterscheiden: zum einen eine auf dem alltagssprachlichen Gebrauch von ‚Fiktion’ basierende Bestimmung des Fiktionalen als etwas ‚Erfundenes’ ohne (verifizierbare) Referenz auf eine reale, außertextuelle Wirklichkeit. Zum anderen der Versuch der sprachphilosophischen und narratologischen Theorie, eine Ineinssetzung von ‚fiktional’ und ‚erfunden’ als falsch nachzuweisen und alternative Begriffsbestimmungen vorzuschlagen. 11 Im heutigen alltagssprachlichen Gebrauch hat sich im Deutschen die pejorative Bedeutung von fictum durchgesetzt: Laut dem neuen Duden bezeichnet ‚Fiktion’ etwas „Erdachtes“ bzw. eine „falsche Annahme“. 12 Diese alltagssprachliche Verwendung hat Eingang gefunden in den fachwissenschaftlichen Gebrauch des Begriffs 13 und führte zu der Gleichsetzung von on’, ‚Fiktionsmärchen’). (Vgl. hierzu N. Würzbach: „Fiktionalität.“ (1984), S. 1106; K.W. Hempfer: „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie.“ (1990), S. 111f.) 11 Einen Überblick über die Forschungsgeschichte zur ‚Fiktion’ liefert G. Gabriel: „Fiktion.“ (1997), S. 597f. Er unterscheidet eine philosophische (hierzu zählen vor allem die analytische Sprachphilosophie und die Sprechakttheorie) von einer literaturtheoretischen Tradition, die im deutschen Sprachraum ihren Anfang mit Käte Hamburgers Logik der Dichtung nimmt. Während erstere das Nachahmungsproblem in das Zentrum ihres Forschungsinteresses gestellt hat - die Frage, wie Dichtung trotz oder gerade wegen ihrer Aufhebung eines direkten Wirklichkeitsbezugs einen Wert und insbesondere einen Erkenntniswert haben kann - zeigt sich letztere durch die Erwartung geprägt, den Begriff der ‚Fiktion’, im Unterschied zu den Begriffen der ‚Dichtung’ oder der ‚Literatur’, leichter zu bestimmen, beispielsweise dadurch, dass Listen mit eindeutigen Fiktionssignalen erstellt werden. Daneben gibt es weitere Definitionsansätze wie z.B. die semantisch-pragmatische Theorie der ‚möglichen Welten’ (Hierzu u.a. M. Orosz: „Fiktionalität in literarischen narrativen Texten.“ (1984)). 12 Dudenredaktion (Hg.): Duden. Die deutsche Rechtschreibung. (2006), S. 405. 13 So auch K.W. Hempfer: „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie.“ (1990), S. 111f. Vgl. z.B. Zipfel, der die für seine Studie grundlegenden Adjektive ‚fiktiv’ und ‚fiktional’ „[…] gemäß den entsprechenden Duden-Definitionen gebraucht.“ (F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 19.) Darüber hinaus beruht auch seine Definition von ‚Fiktion’ - „[die] sprachliche Darstellung von erfundenen, nicht-wirklichen Sachverhalten“ - auf der Duden-Definition. (Ebd., S. 19 und S. 57.) Ebenso definieren Fiktionales als ‚erfunden’ z.B. N. Würzbach: „Fiktionalität.“ (1984), S. 1105; G. Gabriel: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur. (1975), S. 28; D. Cohn: „Narratologische Kennzeichen der Fiktionalität.“ (1995), S. 106. Im Gegensatz dazu kritisieren I. Nickel-Bacon, N. Groeben und M. Schreier: „Fiktionssignale pragma- <?page no="106"?> 106 Literatur mit Fiktionalität bzw. zur Bestimmung von Fiktionalität als notwendiger und hinreichender Bedingung von Literatur. 14 In der neueren Literaturwissenschaft wurde die vormals enge Beziehung zwischen Literatur und Fiktionalität gelockert; der Literaturbegriff wurde auch auf solche literarischen Texte hin erweitert, die über gewisse ästhetische Qualitäten verfügen, ohne jedoch fiktional zu sein, wie z.B. manche Autobiographien, Reiseberichte oder Reportagen. 15 Inzwischen hat sich mancherorts die Ansicht durchgesetzt, Literatur und Fiktion seien zwei völlig unterschiedliche Formen sozialer Praxis: Fiktion ist eine soziale Praxis, in der Texte fiktiven Inhalts unter den Konventionen und Regeln von make-believe-Spielen produziert und rezipiert werden; Literatur ist eine soziale Praxis, in der Texte faktualer und fiktionaler Art unter den Konventionen und Regeln ästhetischer Wertschätzung produziert und rezipiert werden. 16 Auch wenn nun die ‚Fiktivität’ des Inhalts nicht mehr als notwendiges Kriterium literarischer (Erzähl-)Texte gefordert wird, stellt die fehlende überprüfbare und eindeutige Referenz auf eine extratextuelle Wirklichkeit doch das wichtigste Bestimmungskriterium von Fiktionalität insbesondere innerhalb der semantischen Fiktionstheorie dar. 17 Gemeint ist jedoch nicht eine absolute Verschiedenheit von fiktionaler und realer Welt, vielmehr ist trotz der „mangelnden Referenz auf konkrete raumzeitlich und personell bestimmbare Komponenten“ der äußeren Realität eine „mittelbare Beziehbarkeit auf ein Wirklichkeitsmodell über den Modus der Verallgemeinerung, der Allegorisierung oder Symbolisierung, begleitet von anteilnehmender Identifikation möglich“ - „[d]ie sprachlich evozierte ‚fiktionale Welt’ ist niemals eine völlig andere.“ 18 tisch. Ein medienübergreifendes Modell zur Unterscheidung von Fiktion(en) und Realität(en).“ (2000), S. 269, die unkritische Übernahme alltagssprachlicher Definitionen in die Literaturwissenschaft. 14 K.W. Hempfer: „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie.“ (1990), S. 113. Vgl. z.B. die von Culler vorgeschlagene Definition: „The most common notion of fiction, as opposed to non-fiction, is that non-fiction treats real characters and events while fiction treats imaginary ones, makes assertions about characters who don’t exist, events that never occurred, or in short, about fictional worlds.“ (J. Culler: „Problems in the theory of fiction.“ (1984), S. 6.) Vgl. ebenso R. Wellek und A. Warren: Theory of Literature. (1942), S. 25, 214; J.H. Petersen: Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung. (1996), S. 26. 15 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 314f. 16 Ebd., S. 321f. 17 Vgl. zu den Postulaten der semantischen Fiktionstheorie I. Nickel-Bacon, N. Groeben und M. Schreier: „Fiktionssignale pragmatisch. Ein medienübergreifendes Modell zur Unterscheidung von Fiktion(en) und Realität(en).“ (2000), S. 275ff. 18 N. Würzbach: „Fiktionalität.“ (1984), S. 1106f. Warning macht darüber hinaus deutlich, dass die Lebenswelt des (ursprünglich intendierten) Publikums eine zentrale <?page no="107"?> 107 Wie J.W. Petersen betont, birgt eine Begrenzung des Begriffs ‚Fiktion’ auf die Repräsentation erfundener Gegenstände das Problem, dass reale Sachverhalte, die ebenfalls häufig zum Inhalt fiktionaler Texte werden, auf diese Weise nicht definitorisch erfasst werden. Petersen vertritt daher die Ansicht, dass in fiktionalen Texten „[…] empirisch Faktisches […] eben nicht auf sein Wirklichsein hin ausgesagt [wird], sondern sozusagen auf reines, unempirisches Sein hin.“ 19 Der auch in der Literaturwissenschaft - insbesondere in der Texttheorie - verbreitete logisch-sprachphilosophische Definitionsansatz hat seinen Ursprung in einem berühmt gewordenen Aufsatz des Sprachphilosophen J.R. Searle zum Logical Status of Fictional Discourse; Searle hat in diesem Essay seine nur wenige Jahre 20 zuvor entwickelte Sprechakttheorie auch auf fiktionale Texte ausgeweitet und versucht nun, „[…] to explore the difference between fictional and serious utterances […]“. 21 Dieses Erkenntnisziel erklärt sich aus einem Paradox, das Searle im Zusammenhang mit dem fiktionalen Diskurs beobachtet hat: „[…] [H]ow can it be both the case that words and other elements in a fictional story have their ordinary meanings and yet the rules that attach to those words and other elements and determine their meanings are not complied with […]? “ 22 Hinter diesem Paradox verbirgt sich die altbekannte Frage nach der Referenz von Wörtern in fiktionalen Zusammenhängen, mithin die Frage nach dem Wahrheitsstatus fiktionaler Sätze. 23 Searle begreift Fiktionalität im Sinne einer als ob-Sprechhandlung eines Autors, die sich in ihrer Wirklichkeitsabgelöstheit von ‚wirklichen’ Sprechakten unterscheidet. Dies macht deutlich, inwieweit auch der sprachphilosophische Ansatz von der seit Beginn im Fiktionalitätsproblem angelegten Referenzthematik berührt ist. Allerdings schränken Sprechakttheoretiker ihre Definition zugleich mit dem Hinweis auf die Bedeutung der besonde- und doppelte Rolle spielt: Zum einen beziehen sich fiktionale Texte auf diese Lebenswelt, zum anderen kehrt diese im Text selbst wieder in Form modellhafter Konstruktion. Dementsprechend wird der Text betrachtet als „[…] ein ‚sekundäres modellbildendes System’, das heißt als ein semiotisches System, das auf dem primären Zeichensystem der Sprache operiert und eine gegebene soziokulturelle Wirklichkeit modellhaft abbildet.“ (R. Warning: „Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion.“ (1983), S. 201.) 19 J.H. Petersen: Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung. (1996), S. 19. 20 J. Searle: Speech Acts. (1969). 21 J. Searle: „The Logical Status of Fictional Discourse.“ (1975), S. 321. 22 Ebd., S. 319. 23 In seinem Aufsatz vergleicht Searle eine nicht-fiktionale Zeitungsmeldung aus der New York Times mit einem Auszug aus Iris Murdochs The Red and the Green und definiert im Anschluss an diesen Vergleich ‚a work of fiction’ allgemein als „a nondeceptive pseudoperformance which constitutes pretending to recount […] a series of events“. (Ebd., S. 325.) <?page no="108"?> 108 ren Absicht des Autors ein, als ob-Sprechakte überhaupt vollziehen zu wollen. Von Seiten der klassischen Literaturwissenschaft ist Searle und den in seiner Tradition argumentierenden Theoretikern vorgeworfen worden, ihnen gehe es weniger um die texttypologische Bestimmung eines für die Literatur wichtigen Begriffs 24 als um die metafiktionale Analyse des fiktionalen Diskurses und seiner Ontologie. 25 Dies impliziert, dass Searle einige essentielle Eigenschaften von Fiktionen zu verkennen scheint wie z.B. die „presentation of an imaginary object“ in den fiktionalen Sprechakten oder die nicht allein ästhetische Wertschätzung, die dieser Sprechakttypus beim Leser hervorruft. 26 Darüber hinaus ist an Searles Ansatz zu kritisieren, dass er nicht zwischen realem Autor und fiktivem Erzähler unterscheidet; dies führt dazu, dass er die ‚ernste’ Sprechhandlungsabsicht des fiktiven Erzählers übersieht und allein das spielerische, ‚unernste’ Als-ob-Handeln des Autors die Fiktionalität eines literarischen Textes zu bestimmen scheint. 27 Gegen die problematische Anwendung sprechakttheoretischer Konzepte auf literarische, fiktionale, Texte wendet sich dezidiert D. Cohn mit ihrem in der Tradition von R. Barthes’ und G. Genettes formalistischstrukturalistischer Erzähltheorie stehenden Ansatz: „[…] my aim is to develop criteria of fictionality from within the confines of narratology itself […]“. 28 Zugleich wirft sie der Narratologie die kaum zu entschuldigende Vernachlässigung der „[…] question of demarcation between fiction and nonfiction“ vor - diese habe ihren Gegenstand oftmals nicht beschränkt, 24 Die Literatur wird von Searle sogar eher gering geschätzt, spricht er ihr doch jegliche Spezifität ab: „[…] Secondly, I believe […] that ‚literature’ is the name of a set of attitudes we take toward a stretch of discourse, not a name of an internal property of the stretch of discourse, […]. Roughly speaking, whether or not a work is literature is for the readers to decide, whether or not it is fiction is for the author to decide.” Auch eine scharfe Grenze zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten ist für ihn nicht erkennbar. (J. Searle: „The Logical Status of Fictional Discourse.“ (1975), S. 320.) 25 Im Mittelpunkt steht die theoretische Frage, ob beim Sprechen über Fiktionales wahre oder unwahre Sätze gebildet werden und ob diese metafiktionalen Sätze nun selbst fiktional sind (Ebd., S. 329ff.) - es geht demnach um den „Wahrheitswert von Sätzen mit Ausdrücken, die keine Referenz haben“ (K.W. Hempfer: „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie.“ (1990), S. 117.). 26 J.J.A. Mooij: „Fictionality and the Speech Act theory.“ (1989), S. 20. 27 F. Martínez-Bonati: „On Fictional Discourse.“ (1996), S. 68; F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 190. 28 D. Cohn: „Signposts of Fictionality: A Narratological Perspective.“ (1990), S. 776. Sie betrachtet ihren Versuch, Fiktionalität mittels poetologisch-diskursiver Kriterien zu beschreiben, als Ergänzung der sprachphilosophischen Diskussion dieses Problems. (D. Cohn: „Narratologische Kennzeichen der Fiktionalität.“ (1995), S. 106.) <?page no="109"?> 109 sondern scheinbar unterschiedslos sowohl fiktionale als auch nicht-fiktionale Texte in das Korpus ihrer Studien aufgenommen. 29 Während es noch das Ziel der Sprachtheorie war, den Begriff der ‚Fiktion’ sprechakttheoretisch - also gewissermaßen induktiv - zu bestimmen, geht es Cohn pragmatisch um die deduktive „search for narratological criteria of fictionality“. 30 Dabei vergleicht sie fiktionale mit faktualen Erzähltexten und gelangt auf diese Weise ex negativo zu einer Definition von Fiktionalität als ‚Fehlen von Referenz’. Ferner postuliert sie für ihren Untersuchungsgegenstand der historiographischen Erzählungen „a referential level of analysis“ zusätzlich zu den bekannten histoire- und discours- Ebenen, da „[…] history is committed to verifiable documentation and […] this commitment is suspended in fiction […]“. 31 Mit ihrer Suche nach spezifischen Fiktionalitätssignalen bezieht Cohn Position in dem durch H. White auf einen erneuten Höhepunkt gebrachten Streit um die Fiktionalität historischen Erzählens und vertritt die These einer grundlegenden Verschiedenheit von fiktionalen und faktualen, historiographischen, Texten, welche in ihrer unterschiedlichen Referenz begründet liegt. 32 Eine Synthese aus Searles sprachtheoretischem Ansatz und Cohns narratologischem Ansatz entwirft F. Zipfel in seiner Dissertation zum Thema Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (2001): Er legt seinen Analysen zur Rede über 29 D. Cohn: „Signposts of Fictionality: A Narratological Perspective.“ (1990), S. 775. 30 Ebd., S. 776. 31 Ebd., S. 779. An anderer Stelle bestimmt Cohn als ‚Fiktion’ „[…] eine literarische Textsorte ohne Anspruch auf Wahrhaftigkeit oder Richtigkeit.“ Die nur in historiographischen Erzählungen vorhandene referentielle Ebene zeigt sich insbesondere in dem umfangreichen perigraphischen Apparat, der historischen Studien zu eigen ist (z.B. Fußnoten mit Quellenangaben, Zitate aus Quellen, etc.). (D. Cohn: „Narratologische Kennzeichen der Fiktionalität.“ (1995), S. 108.) 32 Prominente literaturwissenschaftliche Kritiker des Historikers H. White sind L. Doležel und M. Fludernik, die beide die empirische Ausgangsbasis historiographischer Texte als ihr wichtigstes Merkmal und zugleich als den fundamentalen Unterschied zwischen ihnen und fiktionalen Texten bestimmen (L. Doležel: „Fictional and Historical Narrative: Meeting the Postmodernist Challenge.“ (1999), S. 252f.; M. Fludernik: „Fiction vs. Non-Fiction. Narratological Differentiations.“ (2001), S. 89ff.). Auch F. Zipfel weist in seiner kritischen Diskussion von Whites Thesen darauf hin, dass allein schon durch den Bezug auf reales Geschehen der Historiographie andere Textstrukturen zu eigen seien als fiktionalen Texten (F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 178.). Als Whites zentrales Problem beschreibt er „[…] die Ineinssetzung von Narrativität, Literarität und Fiktionalität“ (Ebd., S. 176.) und unterstreicht, dass „[e]rzählen nicht automatisch fingieren bedeutet, Narration nicht ohne weiteres mit Fiktion gleichzusetzen ist.“ (Ebd., S. 178.) <?page no="110"?> 110 Fiktion ein sprachhandlungstheoretisches Konzept zugrunde. 33 Im Zentrum steht ein Verständnis von Sprache, welches ‚Sprache’ in der literarischen Fiktion als „[…] Instrument zur Bezugnahme auf Nicht-Sprachliches […]“ 34 definiert. In diesem Kontext definiert er ‚fiktionale Texte’ als „Sachverhaltsdarstellungen, [deren] dargestellt[e] Sachverhalte keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben.“ 35 Als die beiden wichtigsten Formen der Sachverhaltsdarstellung nennt er ‚Erzählen’ und ‚Beschreiben’; dabei bewertet er das von ihm in seiner Studie untersuchte Erzählen im Hinblick auf die Vielfalt seiner Gegenstände sowie im Hinblick auf die Diversität der damit verbundenen Darstellungsformen als das komplexere Sprachhandlungsphänomen. 36 ‚Erzählen’ ist laut Zipfel eine „komplexe Sprachhandlung […], die sich aus Behauptungshandlungen zusammensetzt […]“: der Text behauptet, dass sich etwas so, wie erzählt, zugetragen hat. 37 Zur Konstitution seiner Fiktionstheorie isoliert Zipfel nun verschiedene „Theorieorte“, an denen sich Fiktion manifestiert und an denen sie beschreibbar wird; es handelt sich dabei um die Bereiche der „Text-Produktion“, der „Text-Struktur“, der „Text-Rezeption“ sowie der „Sprachhandlungssituation“. 38 Insbesondere Zipfels Überlegungen zur ‚Text- Struktur’ verdienen im Zusammenhang mit der thematischen Ausrichtung der vorliegenden Arbeit einen genaueren Blick. Er unterteilt dieses Beschreibungsfeld in Anlehnung an die Terminologie G. Genettes in die „E- 33 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 30. Diesem sprachhandlungstheoretischen Ansatz liegt eine Auffassung von Sprache als Mittel kommunikativen Handelns zugrunde; er steht damit in der Tradition einerseits von sogenannten Kommunikationsmodellen und andererseits in der Nachfolge der Sprechakttheorie philosophisch-sprachanalytischer Provenienz. Grundlage kommunikationstheoretischer Modelle ist die Unterscheidung der verschiedenen, den Kommunikationsprozess beeinflussenden Komponenten Sender, Nachricht und die darin enthaltenen Zeichen sowie Empfänger (bzw. Autor, Text, Leser bezogen auf die Literatur). Indem der Text im Mittelpunkt der Kommunikation zwischen Autor und Leser steht, wird Textualität zum grundlegenden Merkmal der „Sprachlichkeit von Literatur“ und der literarische Text zur grundlegenden Kategorie literaturtheoretischer Untersuchungen. Hingegen postuliert die Sprechakttheorie - wie bereits angedeutet wurde - den Handlungsvollzug durch Sprache; Zipfel spricht in diesem Zusammenhang von ‚Sprachhandlungen’ und will damit zum Ausdruck bringen, „[…] daß damit generell eine Handlung mittels Sprache gemeint ist, die nicht unbedingt ein Sprechen darstellt, sondern auch ein Schreiben sein kann (Ebd., S. 30f.). 34 Ebd., S. 56. 35 Ebd., S. 57. Zipfels Definition ist an G. Gabriels Definition angelehnt: „Fiktion [ist ein] erfundener („fingierter“) einzelner Sachverhalt oder eine Zusammenfügung solcher Sachverhalte zu einer erfundenen Geschichte.“ (G. Gabriel: „Fiktion.“ (1997), S. 594.) 36 Zipfel greift mit dieser Beschränkung auf narrative Texte den Begriffsinhalt von englisch fiction auf; dieser Terminus stellt einen Sammelbegriff für Romane, Kurzgeschichten und Novellen dar. (Ebd., S. 57f.) 37 Ebd., S. 60. 38 Ebd., S. 61f. <?page no="111"?> 111 bene der Inhaltsstruktur“ (histoire bei Genette bzw. die ‚Geschichte’) sowie in die „Ebene der Erzählstruktur“ (diese umfasst sowohl Genettes discours als auch la narration; die ‚narrative Vermittlung’) 39 und versucht im Folgenden, die möglichen Manifestationen von ‚Fiktion’ auf diesen Ebenen zu beschreiben: Er bezeichnet als ‚Fiktivität’ das Auftreten von Fiktion auf der Ebene der Geschichte; damit ist gemeint, „[…] daß die dargestellte Geschichte nicht auf tatsächlichen Ereignissen beruht, daß ihr kein Geschehen in der Realität entspricht, daß sie nicht wirklich stattgefunden hat.“ 40 Bei ‚Fiktionalität’ handelt es sich hingegen um „[…] Fiktion auf der Ebene des Erzählens […]“ 41 ; im Mittelpunkt steht die Zugehörigkeit des Textes zur nicht-faktualen Textsorte. Bezogen auf die Alltagswirklichkeit - das ist der Bereich der alltäglichen Erfahrungen des Lesers -, enthalten fiktive Geschichten nicht-wirkliche Ereignisträger bzw. Figuren, nicht-wirkliche Orte bzw. nicht-wirkliche Zeitangaben. 42 Weiter differenziert Zipfel die ‚Nicht-Wirklichkeit’ der Figuren, Orte und Zeitangaben nach der Art und Weise ihrer Abweichung von der (Alltags-)Wirklichkeit in ‚möglich’ und ‚nicht-möglich. 43 So sind mögliche fiktive Ereignisträger menschliche (bisher) nicht-existente Figuren, deren Eigenschaften mit denen realer Personen übereinstimmen; ‚nicht-möglich’ sind dagegen sprechende Tiere, Roboter, Außerirdische oder sonstige personifizierte Entitäten, aber auch - in einer weiten Definition - Gegenstände mit (naturwissenschaftlich) nicht erklärbaren Eigenschaften. 44 Bei den möglichen fiktiven Orten handelt es sich hingegen um Plätze, die es zwar geben könnte, die man aber realiter nicht aufsuchen kann wie z.B. die typischerweise in Fiktionen nicht näher bezeichneten oder nicht genauer situierten Orte. Als nicht-mögliche Orte können Stätten gelten, die entweder mit den 39 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 64f. 40 Ebd., S. 68. 41 Ebd., S. 179. Auch hier besteht eine enge definitorische Nähe zu G. Gabriel, der mit ‚fiktional’ einen spezifischen „Modus des Textes“ beschreibt, mit ‚fiktiv’ hingegen die „Seinsweise“ von Gegenständen (G. Gabriel: „Fiktion.“ (1997), S. 596.). Ähnlich auch I. Nickel-Bacon, N. Groeben und M. Schreier: „Fiktionssignale pragmatisch. Ein medienübergreifendes Modell zur Unterscheidung von Fiktion(en) und Realität(en).“ (2000), S. 270, die ‚Fiktion’ als „Oberbegriff“ verwenden, ‚Fiktionalität’ als „Werkkategorie“ (synonym mit englisch fiction), ‚fiktiv’ oder ‚fingiert’ dagegen für „einzelne Inhalte“: somit definieren sie ‚Fiktionalität’ bzw. fiction als „pragmatische“ und ‚Fiktivität’ als „semantische Kategorie“. 42 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 76. Es muss mit Zipfel betont werden, dass das Konzept dieser Alltagswirklichkeit historisch variabel ist und damit auch das, was konkret als ‚Fiktion’ gilt. 43 Ebd., S. 80. 44 Ebd., S. 80f. <?page no="112"?> 112 heutigen technischen Mitteln für den Menschen unerreichbar sind oder die grundsätzlich als ‚unvorstellbar‘ erscheinen. 45 Im Bereich fiktiver Zeit existiert laut Zipfel nur die Kategorie des Nicht-Möglichen, da „[…] in unserer Zeitvorstellung keine möglichen, aber nicht-wirklichen Zeiträume vorkommen können.“ 46 Hier kann man wiederum zwischen nicht-möglichen Zeitpunkten (Zeitpunkte in der Zukunft: diese sind erkenntnismäßig nicht möglich), nicht-möglichen Zeiträumen (Zeiträume, die mit der gängigen Zeiteinteilung nicht kompatibel sind, wie z.B. zusätzliche Kalendertage oder Tage mit mehr als 24 Stunden) sowie nicht-möglichen Zeitverhältnissen (Zeitverhältnisse, die nicht der gängigen Zeitkonzeption als eindimensionales Kontinuum entsprechen, wie z.B. nicht-linear ablaufende Zeit, Zeitsprünge etc.) unterscheiden. 47 Darüber hinaus betont Zipfel, dass der Gegenstand fiktionaler Texte eben nicht nur ‚Nicht-Wirkliches’ sei, sondern auch die extratextuelle Wirklichkeit auf vielfältige Weise präsent sein könne, entweder in Form einer allgemeinen Präsenz als Hintergrund des Erzählten oder als spezifische Präsenz konkreter realer Entitäten. 48 Schließlich werden fiktive Welten nach dem Realitätsprinzip konstruiert; sie sollen möglichst stark der realen Welt ähneln. 49 Neben der beschriebenen Fiktivität als ‚Fiktion bzw. Erfundenheit der Geschichte’ existiert Fiktion auch auf der Ebene der Textstrukturen bzw. der narrativen Vermittlung der jeweiligen Geschichte; in der Terminologie F. Zipfels handelt es sich dabei um ‚Fiktionalität’. Zum Ziel hat er sich die „[…] allgemein[e] sprachhandlungstheoretisch[e] Beschreibung fiktionalen Erzählens […]“ gesetzt und kombiniert zu diesem Zweck D. Cohns narratologischen Ansatz einer Unterscheidung zwischen Faktualität und Fiktionalität mit dem eingangs skizzierten sprachhandlungstheoretischen Textbegriff. 50 Die Besonderheit fiktionaler Texte besteht im Vergleich mit faktualen Texten in der Verdoppelung sowohl der narrativen Instanzen 45 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 81. 46 Ebd., S. 81. 47 Ebd. 48 Die reale Welt muss notwendigerweise den Hintergrund der fiktiven Geschichte bilden, da man sie sonst weder erzählen noch verstehen, ja sich nicht einmal vorstellen könnte. (Ebd., S. 82.) Auch J. Landwehr übt fundamentale Kritik am häufig unkritisch gebrauchten Begriff der ‚Selbstreferentialität’: dieser impliziere, dass „[…] Literatur ein in sich kreisender Bereich ohne allen Bezug auf Welt und Wissen, besonders ohne Bezug auf menschliches Handeln und Können [sei]“; dadurch werde „‘Selbstbezüglichkeit’ […] gleichbedeutend mit ‚Entpragmatisierung’.“ (J. Landwehr: „Von der Repräsentation zur Selbstbezüglichkeit und die Rückkehr des/ zum Imaginären. Konzepte von Literatur und literarischem (Struktur-)Wandel und ein ‘verkehrtes’ Mimesis-Modell.“ (1991), S. 288.) 49 Ebd., S. 85. 50 Ebd., S. 117. <?page no="113"?> 113 (Autor - Erzähler, Adressat/ impliziter Leser - empirischer Leser) als auch der produzierten Erzähltexte (Erzähltext 1 des Autors, Erzähltext 2 des Erzählers). 51 Abbildung 7: Sprachhandlungsstruktur faktualer und fiktionaler Schrift-Erzähl-Texte 52 51 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 118-122. Erzähltext 1 und Erzähltext 2 sind im Hinblick auf den Wortlaut der Erzählung identisch; sie stehen jedoch in unterschiedlichen Sprachhandlungssituationen und können insofern gemäß dem sprachhandlungstheoretischen Textmodell als zwei unterscheidbare Texte angesehen werden. Das Paradox der Behauptungsstruktur von fiktionalen Erzählungen - „[…] der Autor produziert einen Erzähl-Text, in dem (scheinbar) Behauptungen über nicht existierende Gegenstände aufgestellt werden“ (Ebd., S. 116.) - kann daher auch auf erzähltheoretische Weise gelöst werden: So werden „[…] die Behauptungen der Erzählung […] im Modell dem Erzähler der internen Sprachhandlungssituation zugeschrieben. So verstanden sind die Behauptungssätze des Erzähl-Textes unproblematisch, da sie als assertive illokutionäre Akte eines Textproduzenten über seine textinterne Wirklichkeit angesehen werden. Der Erzähler wird in dieser Konstruktion als Teil der fiktiven Welt der Erzählung angesehen, und er äußert Sätze, die in Bezug auf diese fiktive Welt wahr sind bzw. wahr sein sollen, d.h. er erzählt Geschichten, die sich in dieser Welt ‚tatsächlich’ zugetragen haben bzw. sich zugetragen haben sollen.“ (Ebd., S. 121.) 52 Ebd., S. 119. Ein ähnliches Modell präsentiert auch M. Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. (1997), S. 51ff. Er verweist Zerdehnte Sprachhandlungssituation Produktionssituation Autor Erzähltext Geschichte Leser Rezeptionssituation Zerdehnte Sprachhandlungssituation Produktionssituation Autor Erzähltext 1 Geschichte Leser Rezeptionssituation Erzähltext 2 Adressat Erzähler Faktualer Schrift-Erzähl-Text Fiktionaler Schrift-Erzähl-Text Geschichte <?page no="114"?> 114 Andererseits zeigt sich die interne Sprechsituation des fiktionalen Erzähltextes (Erzähler 2 - Adressat/ impliziter Leser) nach dem Modell der Sprachhandlungsstruktur des faktualen Textes konstruiert: als Erzählung eines Erzählers von tatsächlichen Geschehnissen in der (fiktiven) Text-Welt für einen Adressaten, mithin als „Nachahmung [des faktualen Erzählens] in einem fiktionalen Rahmen“. 53 Dabei kann die interne Sprachhandlungssituation in fiktionalen Erzähltexten ganz unterschiedlich realisiert werden - so kann der Erzähler eine von ihm selbst erlebte Geschichte berichten oder nur unbeteiligter Chronist sein -; die jeweiligen Realisierungen definieren wiederum unterschiedliche Formen fiktionalen Erzählens. 54 Die interne Sprachhandlungssituation, welche den Erzähler, seine Geschichte und den Adressaten umfasst, beschreibt Zipfel nun nach der Art und dem Grad ihrer Übereinstimmung bzw. Abweichung von den Regeln und Bedingungen faktualen Erzählens; 55 das faktuale Erzählen stellt demnach das Vergleichsobjekt zur Bestimmung der Spezifität fiktionalen Erzählens dar. 56 darüber hinaus auf den „imaginären Kontext“, der das fiktionale Erzählen vom faktualen Erzählen trennt. 53 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 122. 54 Ebd. 55 A. Nünning betont, dass die Differenzierung von faktualen und fiktionalen Erzählungen nicht als binäre Opposition, sondern als Skalierung zwischen den Polen ‚faktisch’/ ‚referentiell’/ ‚realistisch’ und ‚fiktiv’/ ‚unrealistisch’ aufgefasst werden müsse; die Unterschiede betreffen wiederum die Beschreibung von Orten und Figuren, den Bericht über Handlungen sowie die Gedanken- und Redewiedergabe der Figuren (A. Nünning: „Mapping the field of hybrid new genres in the contemporary novel. A critique of Lars Ole Sauerberg, Fact into Fiction and a survey of other recent approaches to the relationship between ‘fact’ and ‘fiction’.“ (1993), S. 299.). Hingegen hat Roland Barthes in seinem umstrittenen, den Poststrukturalismus begründenden Essay „Le discours de l’histoire [1967].“ (2002) auf die seiner Meinung nach große Ähnlichkeit, wenn nicht gar Identität, zwischen dem „récit fictif“ und dem „récit historique“ hingewiesen. 56 Folgende Merkmale kennzeichnen laut Zipfel faktuales Erzählen: 1. Faktuales Erzählen stellt eine aus Behauptungsgrundlagen zusammengesetzte komplexe Sprachhandlung dar, so dass für das Erzählen die Sprachregeln des Behauptens gelten - insbesondere die Regel, dass das Behauptete wahr sein muss. (F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 123.) 2. Erzählen zeichnet sich durch Nachzeitigkeit gegenüber dem Erzähltem aus; dies führt in Kombination mit der Behauptungsregel der Wahrhaftigkeit dazu, dass der Erzähler nur das erzählen kann, woran er sich erinnert bzw. nach den Maßgaben menschlichen Erinnerungsvermögens erinnern kann. (Ebd., S. 129.) 3. Erzählen wird in der Regel eingeleitet vollzogen, z.B. durch die Selbstcharakterisierung des Erzählers sowie die explizite Ankündigung der Tatsache, dass erzählt wird. (Ebd., S. 129f.) 4. Es besteht trotz der Differenz an der Textoberfläche kein erzähllogischer Unterschied zwischen faktual homodiegetischem und heterodiegetischem Erzählen, sondern vielmehr „[…] ein gradueller, fließender Übergang <?page no="115"?> 115 Nach der Art und dem Grad ihrer Abweichung von den skizzierten Regeln faktualen Erzählens unterscheidet Zipfel - je nachdem, ob es sich um fiktionale homodiegetische 57 oder um fiktionale heterodiegetische 58 Erzähltexte handelt - sieben Varianten fiktionalen Erzählens: in der Homodiegese fingiertes autobiographisches Erzählen sowie die beiden Sonderfälle des anonymen homodiegetischen Erzählers und der Autofiktion; in der Heterodiegese fingiertes faktuales heterodiegetisches Erzählen. Als allgemeine Sonderformen fiktionalen Erzählens nennt er ferner den autonomen inneren Monolog, das Erzählen im Präsens sowie das Erzählen in der zweiten Person. 59 Das fingierte autobiographische Erzählen stellt - wie der Terminus bereits andeutet - die Nachahmung eines faktualen homodiegetischen Erzähl-Textes dar. Der textinterne Erzähler hält die für faktuale Erzähl-Texte geltenden Sprachregeln ein und folgt den Konventionen der nachgeahmten Textsorte wie z.B. Reisebericht, Tagebuch, Memoiren etc.; dadurch präsentiert sich das fingierte autobiographische Erzählen als ausgesprochen realistisches bzw. illusionistisches Erzählen, und es kann sogar der Eindruck entstehen, es handele sich bei dem fiktionalen Erzähl-Text um einen faktualen. Doch wenn die Fiktionalität des Textes auch auf der Ebene der Geschichte nicht erkennbar sein sollte, so weist doch bereits die im Paratext erkennbar werdende Differenz zwischen dem realen Autornamen und dem Namen des textinternen fiktiven homodiegetischen Erzählers explizit auf die Fiktion der Autobiographie hin. 60 Abweichungen vom fingierten autobiographischen Erzählen stellen insbesondere Unwahrscheinlichkeiten im Bereich der Distanz dar wie eine das menschliche Erinnerungsvermögen übersteigende und nicht durch die Thematisierung von Erinnerungshilfen gerechtfertigte Detailfülle, insbesondere bei der Wiedergabe von Dialogen. 61 Auf diese Weise wird die Fokalisierung des Erzählens auf das der mehr oder weniger starken Präsenz des Erzählers in der Erzählung.“ (Ebd., S. 131f.) 57 Fiktionale homodiegetische Erzähl-Texte zeichnen sich per definitionem dadurch aus, dass der fiktive Erzähler der internen Sprachhandlungssituation ‚mit Leib’ in der Erzählung präsent ist. (F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 133.) 58 Dagegen sind fiktionale heterodiegetische Erzähl-Texte per definitionem dadurch gekennzeichnet, dass der fiktive Erzähler der internen Sprachhandlungssituation nicht als Figur in der Erzählung vorkommt. (Ebd., S. 144.) 59 Im Folgenden sollen nur diejenigen Kategorien vorgestellt werden, die auch auf die ausgewählten Texte Simons appliziert werden können; dies sind das „fingierte autobiographische (= homodiegetische) Erzählen“, das „fingierte faktuale heterodiegetische Erzählen“, das „fiktionale heterodiegetische Erzählen“ sowie der „autonome innere Monolog“. 60 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 133f. 61 Ebd., S. 137. <?page no="116"?> 116 in der Vergangenheit erlebende Ich im Gegensatz zum in der Gegenwart schreibenden Ich zu einem möglichen Fiktionssignal. Eine weitere Abweichung ist der Bericht des homodiegetischen Erzählers von Vorgängen, von denen er keine Kenntnis haben kann (z.B. nicht geäußerte Gedanken fremder Personen). 62 Im Bereich der fiktionalen heterodiegetischen Erzählung ist der Gegenpart des fingierten autobiographischen Erzählens das fingierte faktuale heterodiegetische Erzählen, das sich durch die Einhaltung der Regeln für faktuale narrative Schrifttexte auf der Ebene der internen Sprachhandlungssituation auszeichnet. Allerdings sind fingierte faktuale heterodiegetische Erzähltexte viel seltener als homodiegetische Erzähltexte; ein typisches Beispiel stellt die fiktionale Biographie dar. In diesem seltenen Fall ist die sprachhandlungstheoretische Trennung von Autor und Erzähler am Text nicht nachvollziehbar, allein der Vergleich des erzählten Inhalts mit der Wirklichkeit in Form von Dokumenten oder durch paratextuelle Informationen kann über die Fiktionalität Aufschluss geben. 63 Der Normalfall fiktional heterodiegetischen Erzählens ist durch die Verletzung von sprachhandlungslogischen Regeln, die für faktuale Erzähl- Schrifttexte gelten, charakterisiert. Diese Abweichungen betreffen - wie in homodiegetischen Erzählungen auch - insbesondere Fragen der Distanz und der Perspektive. So stellt eine unwahrscheinliche Detailfülle jenseits der menschenmöglichen Erinnerungsfähigkeit eine Verletzung faktualen Erzählens dar und fungiert dementsprechend als Fiktionssignal für die Fiktionalität des Erzählens. 64 Eine Abweichung vom faktualen Erzählen im Bereich der Perspektive zeigt sich in der internen Fokalisierung, d.h. in der Fähigkeit des Erzählers 65 zur Introspektion in die Psyche Anderer. Dabei ist weder die Art der internen Fokalisierung (eine oder mehrere Figuren, Wechsel zwischen Erzählerperspektive und Figurenperspektive) noch die Form der Gedankenwiedergabe 66 (indirekte Rede, erlebte Rede oder innerer Monolog) fiktionstheoretisch relevant. 67 62 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 138. 63 Ebd., S. 144f. Als Beispiel eines fingierten faktualen heterodiegetischen Erzähltexts nennt Zipfel Wolfgang Hildesheimers Marbot. 64 Ebd., S. 145. 65 Zipfel beschreibt mit derartigen Fähigkeiten ausgestattete Erzähler auch als ‚phantastische Erzähler’ (Ebd., S. 155.). 66 Allerdings könnte die Markierung der Gedankenwiedergabe und damit die Erkennbarkeit der fiktionalen Abweichung vom faktualen Erzählmodell mit der Verstärkung der Unmittelbarkeit der Gedankenwiedergabe (von der indirekten Rede zum inneren Monolog) steigen und damit ihre Funktion als Fiktionssignal deutlicher werden. Ebd., S. 146. 67 Ebd. <?page no="117"?> 117 Einen erzähltheoretischen Sonderfall fiktional heterodiegetischen Erzählens stellt der autonome innere Monolog dar: es handelt sich dabei um Texte, die ausschließlich und ohne Rahmenerzählung in der Erzählform des inneren Monologs verfasst sind. Der Text präsentiert demnach unmittelbar und ohne die Vermittlung eines Erzählers die Gedanken einer fiktiven Person. 68 Das erzähltheoretische Problem besteht darin, dass […] die Illusion der unmittelbaren Gedankenwiedergabe und die Illusion eines durch einen Sprachhandlungsbzw. Schreibprozeß erzeugten Erzähl-Textes sich gegenseitig ausschließen. Die Konzeption des autonomen inneren Monologs ist also nicht mit einer realistisch begründbaren, d.h. mit einer in der Realität möglichen Erzähl-Situation vereinbar. Die Erzähl-Situation ist auf jeden Fall phantastisch. 69 Autonome innere Monologe sind aufgrund ihrer massiven Abweichung vom faktualen Erzählen per se fiktional; das Auftreten dieses Erzählverfahrens wird zum Fiktionssignal im Text. Das folgende Schaubild zeigt zusammenfassend F. Zipfels Definitionen und Typologisierungen von Fiktivität und Fiktionalität: Abbildung 8: Definitionen und Typologisierungen von ‚Fiktivität’ und ‚Fiktionalität’ (nach F. Zipfel) 68 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 155f. 69 Ebd., S. 156. Fiktion Fiktivität Fiktionalität Nicht-reale / fiktive Objekte: • Fiktive Ereignisträger • Möglich: reale Eigenschaften • Nicht-möglich: nicht-reale Eigenschaften • Fiktive Orte • Möglich: könnten existieren, können aber realiter nicht aufgesucht werden • Nicht-möglich: unerreichbare oder grundsätzlich undenkbare Orte • Fiktive Zeit • Nicht-möglich: Zeitpunkte, Zeiträume und Zeitverhältnisse Pseudo-reale Objekte: • Pseudo-reale Orte • Veränderte oder erweiterte Orte • Pseudo-reale Personen • Abweichungen in realen Biographien • Definition: Fiktion auf der Ebene der Geschichte • Zwei grundlegende Formen der Fiktivität: • Realistik = Erzählung einer grundsätzlich möglichen Geschichte (mögliche Ereignisträger, Orte, Zeiten) • Phantastik = Erzählung einer nicht-möglichen Geschichte (nicht-mögliche Ereignisträger und/ oder Orte und/ oder Zeiten) • Definition: Fiktion auf der Ebene der Textstrukturen • Acht Formen fiktionalen Erzählens: • Homodiegese • Fingiertes autobiographisches Erzählen • Anonymer homodiegetischer Erzähler (Sonderfall) • Auto-Fiktion (Sonderfall) • Heterodiegese • Fingiertes faktuales heterodiegetisches Erzählen (Sonderfall, z.B. fiktionale Biographie über fiktive Person(en)) • Fiktionales heterodiegetisches Erzählen (Normalfall) • Sonderformen fiktionalen Erzählens • Autonomer innerer Monolog • Erzählen im Präsens • Erzählen in der zweiten Person <?page no="118"?> 118 Sowohl D. Cohn mit ihrem narratologischen Ansatz als auch F. Zipfel mit seinem sprachhandlungstheoretischen Ansatz versuchen, für die Differenz zwischen faktualen und fiktionalen Texten, „[…] textimmanente Zeichen zu finden, die vom Leser erkannt werden können und normalerweise auch erkannt werden - diskursive characteristica specifica, die ein Autor obligatorisch einsetzen muß, wenn sein Roman als Fiktion und nicht als historischer oder journalistischer Erzähltext rezipiert werden soll.“ 70 Diese spezifischen Eigenschaften fiktional-narrativer Texte - auch ‚Fiktionssignale’ genannt - sollen im Folgenden kurz am Beispiel der von F. Zipfel vorgeschlagenen Systematik 71 vorgestellt werden, um sie dann im Anschluss auf das Vorliegen eines gewissen metafiktionalen Potentials zu überprüfen. 3.1.3 Textuelle und paratextuelle Fiktionssignale (nach F. Zipfel) Eine Definition der ‚Fiktionssignale’ liefert Iser, der mit diesem Begriff ein „[…] Zeichenrepertoire [beschreibt], durch das sich in der Literatur der fiktionale Text als ein solcher entblößt“, woraufhin ein „Kontrakt“ zwischen Autor und Leser abgeschlossen wird, „[…] dessen Regelungen den Text nicht als Diskurs, sondern als ‚inszenierten Diskurs’ ausweisen.“ 72 70 D. Cohn: „Narratologische Kennzeichen der Fiktionalität.“ (1995), S. 106. Vgl. zu dieser wichtigen Funktion der Fiktionalitätsindikatoren auch D. Henrich und W. Iser: „Entfaltung der Problemlage.“ (1983), S. 10. Es war allerdings K. Hamburger: Die Logik der Dichtung. (1980), S. 60-85, die eine Merkmalsbestimmung literarischer (narrativer) Fiktion vorgenommen hat und insbesondere die Präsenz von Verben der inneren Vorgänge und der erlebten Rede als eindeutige Hinweise auf das Vorliegen von Fiktion definiert hat (K. Hamburger: Die Logik der Dichtung. (1980), S. 60-85.) 71 Zipfels Systematik basiert im Grunde auf seinen Überlegungen zur ‚Fiktivität’ und ‚Fiktionalität’ von fiktionalen Erzähl-Texten, doch präsentieren seine ‚Fiktionssignale’ gewissermaßen nur eine Quintessenz der von ihm zuvor genannten fiktionsindizierenden Faktoren auf der Ebene der Geschichte bzw. des Erzählens/ der Textstrukturen. 72 W. Iser: „Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text? “ (1983), S. 135. J.H. Petersen sieht die Funktion der Fiktionalitätssignale darin, dass sie das „Fiktionalbewusstsein“ des Rezipienten in Gang setzen (J.H. Petersen: Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung. (1996), S. 37.). Den Fiktionssignalen stehen als gegenläufige Tendenz ‚Authentisierungsstrategien’ (K.W. Hempfer: „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie.“ (1990), S. 114.) 72 bzw. ‚Realitätssignale’ (I. Nickel- Bacon, N. Groeben und M. Schreier: „Fiktionssignale pragmatisch. Ein medienübergreifendes Modell zur Unterscheidung von Fiktion(en) und Realität(en).“ (2000), S. 292.) gegenüber, die den Text und seinen Gegenstand als die authentische Rede eines realen Autors über Faktisches erkennbar werden lassen. Die Funktion der jeweiligen Signale besteht darin, entweder die Fiktionalität oder die Faktizität bzw. Authentizität des textuellen Diskurses und seines Gegenstands für den Leser offenzulegen und damit seine Rezeptionshaltung zu steuern. Vgl. auch M. Fluderniks Überblick über Authentizitätsmarker wie (Unter-)Titel, Name des Autors, Diskussion der Methodik <?page no="119"?> 119 Diese Fiktionssignale, auch ‚Fiktionsindikatoren’ genannt, erschweren oder verhindern die Referenz der dargestellten Welt; eine extensive Übersicht ohne Systematisierung und Kategorisierung bietet M. Riffaterre: […] authors’ intrusions; narrators’ intrusions; multiple narrators; humorous narrative that acts as a representation of the author or of a narrator or that suggests an outsider’s viewpoint without fully intruding; meta-language glossing narrative language; generic markers in the titles and subtitles, in prefaces, and in postfaces; emblematic names for characters and places; incompatibilities between narrative voice and viewpoint and characters’ voices and viewpoints; incompatibilities between viewpoint and verisimilitude, especially omniscient narrative; signs modifying the narrative’s pace and altering the sequence of events (backtracking and anticipation, significant gaps, prolepsis, and analepsis); mimetic excesses, such as unlikely recordings of unimportant speech or thought (unimportant but suggestive of actual happenings, of a live presence, creating atmosphere or characterizing persons); and finally, diegetic overkill, such as the representation of ostensibly insignificant details, the very insignificance of which is significant in a story as a feature of realism. 73 Diese Liste ist nicht allein aufgrund der fehlenden Systematisierung problematisch, sondern vor allem auch deshalb, weil einige der genannten Phänomene nicht zu den Fiktionsindikatoren zu rechnen sind, da sie auch in nicht-fiktionalen Texten auftreten können. Hierzu zählen insbesondere die von Riffaterre genannten narrativen Verfahren, welche die Chronologie der erzählten Ereignisse verändern (Prolepsen und Analepsen) bzw. Auswirkungen auf die ‚Geschwindigkeit’ des Erzählens haben (z.B. die genannten „gaps“ 74 bzw. Ellipsen). F. Zipfel hat in seiner Studie zum Fiktionsbegriff Riffaterres unsystematische Liste als Ausgangspunkt für eine differenzierte Typologisierung von Fiktionssignalen gewählt, die im Folgenden kurz vorgestellt werden soll. 75 Er unterscheidet zwischen textuellen und paratextuellen 76 Signalen; die textuellen Signale differenziert er wiederum nach ihrem Auftreten entwe- (M. Fludernik: „History and Metafiction: Experientiality, Causality, and Myth.“ (1994), S. 83.). 73 M. Riffaterre: Fictional Truth. (1990), S. 29f. Ebenfalls einen Überblick über typische Fiktionssignale liefern M. Fludernik: „Fiction vs. Non-Fiction. Narratological Differentiations.“ (2001) und N. Würzbach: „Fiktionalität.“ (1984). 74 Doležel definiert ‚gap’ als „zero texture“, die dann entsteht, wenn ein Autor von bestimmten Dingen nichts schreibt, mithin kein fiktionaler Fakt entsteht (L. Doležel: „Fictional Worlds: Density, Gaps, and Inference.“ (1995), S. 202.). 75 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001) 76 Vgl. hierzu G. Genette: Seuils. (1987), S. 7f. Genauer: G. Genette: Fiction et diction. (1991), S. 89. <?page no="120"?> 120 der auf der Ebene der Geschichte bzw. der histoire oder auf der Ebene der narrativen Vermittlung bzw. des discours. 77 Zu den textuellen Fiktionssignalen zählt Zipfel ganz allgemein „[…] jene Merkmale eines Erzähl-Textes […], die sich aus der Phantastik der Geschichte oder der Phantastik des Erzählens […] ergeben.“ Diese Signale führen dem Leser die „[…] Nicht-Möglichkeit der Geschichte und/ oder der textinternen Erzähl-Situation […]“ vor Augen. 78 Zu den Fiktionssignalen auf der Ebene der Geschichte - es handelt sich dabei folglich um Fiktivitätssignale - zählen die bereits beschriebenen „[…] Formen der Phantastik des Ortes, des Raumes und der Ereignisträger […]“. 79 Hier geht es um die Diskrepanzen zwischen der „herrschenden Wirklichkeitskonzeption“, mithin der extratextuellen Realität, und der fiktionalen Welt: F. Zipfel vertritt die These, dass der Leser einen Text als fiktional rezipiert und die darin erzählte Geschichte als fiktiv, wenn diese nicht mit seiner eigenen bzw. der allgemein gültigen Weltsicht übereinstimmt. Ein Beispiel für ein Fiktionssignal auf der Ebene der histoire sind die sogenannten ‚sprechenden’ oder emblematischen Namen in literarischfiktionalen Erzähltexten: So tragen Romanfiguren häufig Namen, die sie in ihrer Persönlichkeit charakterisieren, was in der Wirklichkeit nur selten der Fall sein dürfte. 80 Fiktionssignale auf der Ebene der Erzählung - in der Terminologie Zipfels handelt es sich dabei um Fiktionalitätssignale - sind „[…] spezifische Abweichungen des fiktionalen Erzähl-Textes gegenüber faktualem Erzäh- 77 Eine ähnliche Einteilung schlagen auch I. Nickel-Bacon, N. Groeben und M. Schreier: „Fiktionssignale pragmatisch. Ein medienübergreifendes Modell zur Unterscheidung von Fiktion(en) und Realität(en).“ (2000), S. 291f., vor: Sie unterscheiden eine „pragmatische Perspektive“ von einer „inhaltlich-semantischen Perspektive“ und einer „darstellungsbezogen-formalen Perspektive“. In der ersten Perspektive steht die „Werk- oder Textkategorie“ „Non-Fiction“ bzw. „Fiction“ im Mittelpunkt, in der zweiten der „Produktinhalt des Textes“ und hier die „Wirklichkeitsnähe“ oder „Wirklichkeitsferne“ der erzählten Welt und in der dritten der „Vermittlungsmodus“, welcher „realistisch“ oder „nicht-realistisch“ sein kann. Hingegen unterscheidet A. Nünning drei Kategorien von Fiktionssignalen: kontextuelle, textuelle und paratextuelle Signale (A. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. (1995), S. 153ff.). 78 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 234. 79 Ebd. 80 Hingegen sind sprechende Namen von Orten nicht ungewöhnlich, da viele Ortsnamen auf die Bezeichnung bestimmter Eigenschaften zurückzuführen sind. Ein auffälliges Beispiel ist in Zolas L’Assommoir der Name des Viertels - „le quartier de la Goutte-d’Or“ -, der auf die wichtige Rolle des Alkohols im Leben seiner Bewohner und insbesondere von Coupeau und seiner Familie verweist. (É. Zola: L’Assommoir. Chronologie, présentation, notes, dossier, bibliographie, lexique par Chantal Pierre- Gnassounou. (2000)) <?page no="121"?> 121 len […]“. 81 Hier unterscheidet er zwischen zwei Arten von Fiktionalitätssignalen: Während bei direkten Fiktionalitätssignalen die Abweichung vom faktualen Erzählen tatsächlich durch die spezifische Fiktionalität des Erzählens begründet ist und sie sich daher nur in dieser Textsorte finden, resultiert bei den indirekten Fiktionalitätssignalen bzw. Fiktionsindizien die Abweichung von den Regeln faktualen Erzählens nicht aus der Fiktionalität des Textes; allerdings tritt diese Abweichung hauptsächlich in fiktionalen Texten auf, obwohl sie seltener auch in faktualen Texten anzutreffen sind. 82 Direkte Fiktionalitätssignale kennzeichnen den „[…] Erzähler bzw. die Erzähl-Situation der textinternen Sprachhandlungssituation als phantastisch […].“ Dazu zählen in heterodiegetischen Erzählungen insbesondere die Introspektion sowie die Rede- und Gedankendarstellung in erlebter Rede. Der Hinweis auf die Fiktionalität des Erzählens ergibt sich aus der in der realen Welt unmöglichen Tatsache, dass der Erzähler Zugang zur Psyche seiner Figuren hat. 83 Auch der „mimetische Exzess“ einer Detailfreudigkeit, die jedes menschenmögliche Erinnerungsvermögen übersteigt, ist vor allem in homodiegetischen Erzählungen ein Signal für Fiktionalität. 84 Darüber hinaus ist in diesen Erzählungen die Nicht-Identität der Eigennamen von Autor und Erzähler ebenfalls als Fiktionssignal zu bewerten; sie stellt den zentralen Unterschied zwischen fiktionalen und authentischen Autobiographien dar. 85 Ähnlich deutlich verweist auch die Darstellung der erzählten Welt in 81 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 235. 82 Ebd. 83 Ebd., S. 235f. G. Genette vertritt in diesem Kontext sogar die These, dass „[…] le mode est bien en principe (je dis : en principe) un révélateur du caractère factuel ou fictionnel d’un récit, et donc un lieu de divergence entre les deux types.“ (G. Genette: Fiction et diction. (1991), S. 78.) Dagegen betont D. Cohn in „Signposts of Fictionality: A Narratological Perspective.“ (1990), S. 786, dass der historiographische Diskurs aufgrund der ihm nicht gewährten Möglichkeit zur Introspektion in seinen narrativen Möglichkeiten begrenzt sei: „[…] it cannot present past events through the eyes of a historical figure present on the scene, but only through the eyes of the forever backward-looking historian-narrator.“ Demgegenüber weist M. Fludernik darauf hin, dass das Auftreten von innerem Monolog bzw. erlebter Rede in Erzähltexten kein „waterproof evidence of fictionality“ ist, da beide Erzählstrategien auch in „conversational narratives“ oder in „tabloid press articles“ bei geminderter journalistischer Seriosität auftreten können (M. Fludernik: „Fiction vs. Non-Fiction. Narratological Differentiations.“ (2001), S. 94f.). Ebenso auch G. Genette: Fiction et diction. (1991), S. 92f. 84 Ferner ist hier ebenfalls das Wissen des Ich-Erzählers von Vorgängen in der Innenwelt seiner Figuren ein deutliches Fiktionalitätssignal, da sich Homodiegese und Allwissenheit grundsätzlich widersprechen. 85 So auch D. Cohn: „Signposts of Fictionality: A Narratological Perspective.“ (1990), S. 792f. Sie weist darüber hinaus noch auf ein vergleichbares Fiktionalitätskriterium in heterodiegetischen Erzählungen hin: Hierbei handelt es sich um die typischerweise in <?page no="122"?> 122 der narrativen Form des inneren Monologs aufgrund der real unmöglichen Erzählsituation auf die Fiktionalität der Erzählung. 86 Weiterhin zählt Zipfel unter bestimmten Voraussetzungen einerseits die „Selbst-Thematisierung des Erzählens“ und andererseits die „strukturelle Intertextualität“ zu den Fiktionssignalen. So zeigt laut Zipfel erstere nur dann Fiktion an, wenn die narratologische Reflexion des Erzählers entweder hinsichtlich der Erzähllogik inkonsistent ist 87 oder wenn der Erzähler die Fiktivität der Geschichte bzw. die Fiktionalität des Erzählens kommentiert. 88 Etwas unklar bleibt Zipfels Definition der „strukturellen Intertextualität“ - gemeint ist der Bezug einer Geschichte auf einen anderen fiktionalen Text 89 - und ihre Wertung als ein Fiktionssignal: Zipfel begründet ihr fiktionsindizierendes Potential nicht ganz überzeugend mit der Unwahrscheinlichkeit, dass eine ‚reale‘ Ereignisfolge eine so große Ähnlichkeit mit einer literarischen Vorlage aufweist. 90 Heterodiegesen auftretenden Fälle von „unreliable narration […] that is, where a narrator, though not a character physically present in the fictional world, nonetheless takes on conspicuous mental presence by uttering nonmimetic, ‘opaque’ sentences.” (Ebd., S. 799.) Dieses ‘unzuverlässige Erzählen’ sei ein Zeichen für die spezifische Polyphonie fiktionaler Erzählungen und damit ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen fiktionalen und faktualen Erzähltexten. (Ebd., S. 799.) 86 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 236. 87 In meiner eigenen Terminologie handelt es sich bei diesen ‚wertneutralen’ Bemerkungen des Erzählers zu seinem Erzählen um ‚metanarrative’ Kommentare. 88 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 237. Zipfel nennt hier die Kommentare des Erzählers, die den Erzähltext als Erzählung von nicht-wirklichen Ereignissen bzw. als seine eigene Erfindung darstellen, sowie konventionelle fiktionsanzeigende Formeln wie ‚Es war einmal...’. Allerdings bezeichnet Zipfel diese Phänomene nicht mit den korrekten, und zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Dissertation bereits etablierten literaturwissenschaftlichen Termini ‚Metanarration’ bzw. ‚Metafiktion’. 89 Auch hier bleibt Zipfel hinter dem Forschungsstand zurück, wenn er auf eine Differenzierung der Formen und vor allem auch der Funktionen von Intertextualität verzichtet. 90 Laut Zipfel wird auf diese Weise z.B. die Fiktivität von Figuren in einer Erzählung und damit die Fiktionalität der Erzählung selbst offengelegt. Doch hängt - wie er betont - die Deutlichkeit der strukturellen Intertextualität als Fiktionssignal von der Intensität der intertextuellen Bezüge ab. Hier bleibt Zipfel ungenau und hinter Wolfs Analyse der Intertextualität als metafiktionales Verfahren zurück: Nach Wolf sind nur die ‚kritischen’ Formen der Intertextualität metafiktional, wenn ein Text sich entweder als „bewusst inauthentisches ‚Pastiche’“ offenlegt oder in der Form der Parodie Literatur als Fiktion thematisiert und inszeniert (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 284f.). <?page no="123"?> 123 Im Gegensatz zu den direkten Fiktionssignalen sind die indirekten Fiktionssignale bzw. Fiktionsindizien laut Zipfel „[…] schwieriger zu fassen […], da sie nicht systematisch aus der Fiktivität der Geschichte oder der Fiktionalität des Erzählens abgeleitet werden können“, sich in abgeschwächter Form also auch in faktualen Texten finden lassen. 91 Als Indizien für Fiktionalität können nach Zipfel eine rein externe Fokalisierung, der Romanbeginn in medias res, die grundsätzliche Unbestimmtheit einer Geschichte in Bezug auf Ort und Zeit des Geschehens, sehr ausgeprägte Anachronien bis hin zur Achronie 92 sowie „wirklichkeitsillusionsbildende“ Detailbeschreibungen gelten. 93 Auch der Paratext kann Hinweise auf die Fiktionalität eines literarischen Erzähltextes enthalten. 94 Zu diesen zählen insbesondere Gattungsbezeichnungen wie z.B. ‚Roman’ oder ‚Novelle’ auf der Titelseite, die in der Regel Fiktionalität implizieren. 95 Daneben kann auch der Titel auf die Fiktionalität des Textes hinweisen, ebenso wie die bereits angesprochene Nicht- Identität zwischen dem Namen des Autors und dem Namen des homodiegetischen Erzählers. Nicht zuletzt fungieren auch vom Autor verfasste Vor- und Nachworte, in denen die Fiktivität der Geschichte thematisch wird, als deutliches Fiktionssignal; auch vom Verlag stammende Paratexte können Informationen über die Faktualität oder Fiktionalität des Textes enthalten. 96 Abschließend soll mit Zipfel betont werden, „[…] daß allgemein als Fiktionssignale interpretierte Rezeptionssignale nicht in jedem Fall ein eindeu- 91 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 238. 92 So stellt auch D. Cohn: „Signposts of Fictionality: A Narratological Perspective.“ (1990), S. 783, fest, dass die Zeitstruktur in historiographischen Texten dem Quellenmaterial und der Fragestellung gehorche, während die zeitliche Organisation fiktionaler Erzählungen in einem Zusammenhang mit der „narrative situation“ stehe. 93 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 238-241. 94 Vgl. die von G. Genette genannten Elemente des Paratextes: „le péritexte éditorial, le nom d’auteur, les titres, la prière d’insérer, les dédicaces, les épigraphes, l’instance préfacielle, les préfaces, les intertitres, les notes, l’épitexte public, l’épitexte privé.“ (G. Genette: Seuils. (1987)) Ebenso: G. Genette: Fiction et diction. (1991), S. 89: „Les ‚indices’ de la fiction ne sont pas tous d’ordre narratologique, d’abord parce qu’ils ne sont pas tous d’ordre textuel: le plus souvent, et peut-être de plus en plus souvent, un texte de fiction se signale comme tel par des marques paratextuelles qui mettent le lecteur à l’abri de toute méprise et dont l’indication générique roman, sur la page de titre ou la couverture, est un exemple parmi bien d’autres.“ 95 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 242. Hingegen kann sich der BEgriff ‚Erzählung’ in seltenen Fällen auch auf faktuale Texte, beispielsweise Autobiographien, beziehen. 96 Ebd., S. 242f. <?page no="124"?> 124 tiges und unumstößliches Indiz für Fiktionalität darstellen.“ 97 Vielmehr hängt die spezielle fiktionsindizierende Funktion dieser Signale von jeweils geltenden literarischen und allgemein sprachlichen (auf Erzähltexte) bezogenen Konventionen sowie von ihrer Frequenz ab. Zu den Konventionen zählt z.B. auch - wie Zipfel anschaulich zeigt -, dass sich der im Paratext festgelegte faktuale Status eines Textes durch intratextuell auftretende, eigentlich nur in fiktionalen Texten mögliche Erzähltechniken nicht verändert, sondern diese vom Leser als ungewöhnliche Stilmerkmale interpretiert werden. 98 Das nachfolgende Schaubild präsentiert Zipfels Systematik der textuellen und paratextuellen Fiktionssignale. Fiktionssignale Textuelle Fiktionssignale Paratextuelle Fiktionssignale Fiktionssignale auf der Ebene der Geschichte (= Fiktivitätssignale) • Phantastik der Ereignisträger • Phantastik des Ortes • Phantastik des Raumes Fiktionssignale auf der Ebene der Erzählung (= Fiktionalitätssignale) • Direkte Fiktionalitätssignale • Heterodiegese: Darstellung von Innenwelt Dritter, Rede- und Gedankendarstellung in erlebter Rede • Homodiegese: Detailfülle, Darstellung von Innenwelt Dritter, Nicht-Identität von Autor- und Erzählername, (autonomer) innerer Monolog • Allgemein: Unvollständigkeit oder Nicht- Möglichkeit der textinternen Erzähl-Situation, Erzählen im Präsens, strukturelle Intertextualität • Indirekte Fiktionalitätssignale/ Fiktionalitätsindizien • Allgemein: rein externe Fokalisierung, Romanbeginn ‚in medias res‘, grundsätzliche Unbestimmtheit einer Geschichte in Bezug auf Ort und Zeit des Geschehens, sehr ausgeprägte Anachronien bis hin zur Achronie, ‚wirklichkeitsillusionsbildende‘ Detailbeschreibungen • Gattungsbezeichnungen, die Fiktionalität implizieren (‚Roman‘, ‚Novelle‘) • Titel • Nicht-Identität Autorname und Name des homodiegetischen Erzählers • Thematisierung der Fiktivität der Geschichte in Vor- und Nachworten des Autors • Thematisierung der Fiktivität der Geschichte in Paratexten des Verlags Abbildung 9: Fiktionssignale (nach F. Zipfel) 97 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 244. 98 Ebd., S. 244f. Daneben besteht auch die Möglichkeit, durch Faktualitätssignale wie Herausgeberfiktionen oder Fußnoten einen eigentlich fiktionalen Text als faktual zu präsentieren. (Ebd., S. 246.) <?page no="125"?> 125 3.2 Ein neues Modell der Metafiktion: ‚Metafiktionalität’ und ‚Metafiktivität’ als narratologische Analysekategorien Wie wiederholt in der Forschung angemerkt wurde, gehört es „[z]u den Freiheiten der literarischen Fiktion, daß sie ihre eigene fiktionale Verfasstheit zum Thema machen kann. Die Fiktion wird folglich zur Metafiktion.“ 99 Dabei wirkt - so M.-L. Ryan - die Metafiktion als „defictionalization“, als Suspendierung der Fiktion: den noch in realistischen Erzähltexten gültigen „privileges of fictional communication“ wird insbesondere in der postmodernen Literatur abgeschworen und der textuelle Ursprung der innerfiktionalen Welt offenbart. So wird das sprachliche bzw. fiktionale narrative Medium sichtbar und damit die Fiktionalität des Textes insgesamt. 100 Diese autoreferentielle Kommentierung der eigenen Fiktionalität wurde - dies haben die obigen Ausführungen gezeigt - aus zwei verschiedenen theoretischen Richtungen beleuchtet: Zum einen hat sich ein eher wirkungsästhetisch ausgerichteter Ansatz (Lauzen, Wolf) mit den Konsequenzen auseinandergesetzt, welche die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung der eigenen Künstlichkeit - sowohl des Artefakt-Status als auch der Nicht-Referentialität - für die ästhetische Illusion hat. Und zum anderen haben Erzähltheoretiker wie Cohn und Zipfel versucht, die narrativen Unterschiede zwischen fiktionalen und faktualen Textsorten zu bestimmen. Bei ihren Analysen fiktionaler Erzähltexte entdeckten sie bestimmte Fiktions- und Authentizitätssignale, die entweder ausschließlich oder doch überwiegend eine Eigenschaft der betreffenden Textsorte ist. Während der erstgenannte, wirkungsästhetische Ansatz ‚Metafiktion’ vor allem als Verstoß gegen die Prinzipien ästhetischer Illusionsbildung begreift, interpretiert die Narratologie die für uns relevanten Fiktionssignale als strukturelle Eigenschaften narrativ-fiktionaler Texte, die sich auf der histoire- und der discours-Ebene manifestieren. Mit Blick auf das wirkungsästhetische Modell metafiktionalen Erzählens stellt sich jedoch die Frage, ob ‚Metafiktion’ tatsächlich stets mit einer Suspendierung der ästhetischen Illusion einhergeht. Wie gezeigt werden konnte, äußert sich Wolf in dieser Frage äußerst ambivalent: Zwar macht er das illusionsstörende Potential expliziter Metafiktion von der Häufigkeit ihres Auftretens im Text sowie von ihrem unmittelbaren Kontext abhängig. Doch setzt er zugleich in Ermangelung einer überzeugenden Typologie der 99 U. Japp: „Die literarische Fiktion.“ (1995), S. 57. 100 M.-L. Ryan: „Postmodernism and the Doctrine of Panfictionality.“ (1997), S. 168f. Ähnlich auch W. Petersen, der von der „Sprengung des Rahmens der Fiktionalität durch die Preisgabe des Erzählten als bloße Erfindung“ spricht (J.H. Petersen: Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung. (1996), S. 183.). <?page no="126"?> 126 impliziten Varianten der Metafiktion diesen Typus mit allgemein auf die histoire bzw. den discours zielenden illusionsstörenden Verfahren gleich. Am narratologischen Konzept der Fiktionssignale ist hingegen zu bemängeln, dass nicht unterschieden wird zwischen einerseits in der Tiefenstruktur der Texte eingeschriebenen Fiktionsindizien wie z.B. die implizite Kommunikationssituation und andererseits an der Textoberfläche wahrnehmbaren metafiktionalen Anspielungen auf den eigenen fiktionalen Status, die entweder als Erzähler- oder als Figurendiskurs manifest werden können. Neben den genannten Schwächen bieten die beiden Konzepte dennoch einige Anknüpfungspunkte für das hier neu zu entwickelnde narratologische Modell metafiktionalen Erzählens: Zu nennen sind Wolfs Definition der Metafiktion als ‚intendierte’, absichtsvolle, Kommentierung der eigenen Fiktionalität entweder durch den Erzähler oder die Figuren sowie seine typologische Differenzierung zwischen expliziten, offenen, und impliziten, verdeckten, Formen der Metafiktion. Zipfel hingegen bestimmt mit der histoire und dem discours die Ebenen des Textes, auf denen ‚Fiktivität’ bzw. ‚Fiktionalität’ im Sinne von ‚Nicht- Wirklichkeit’ oder ‚Erfundenheit’ erfahrbar werden. Das in der vorliegenden Arbeit entworfene, narratologische Modell metafiktionalen Erzählens beschreitet nun in mehrfacher Hinsicht neue methodische Wege: Zum einen soll Metafiktion stärker als bei Wolf auf zentrale Ebenen narrativ-fiktionaler Texte rückbezogen werden: auf die histoire und auf den discours und die sich hier manifestierende, von Zipfel eingängig beschriebene Fiktivität und Fiktionalität. Der metafiktionale Kommentar zielt folglich einerseits metafiktiv auf die Erfundenheit von Figuren, Orten und Zeitangaben und andererseits metafiktional auf die fehlende Verankerung der narrativen Vermittlung in der Realität, mithin auf die Zugehörigkeit des Werks zu den narrativ-fiktionalen Texten. In Abgrenzung zu den von Zipfel definierten und typologisierten Fiktionssignalen wird ‚Metafiktion’ von uns als intendierter, absichtsvoller - metafiktionaler oder metafiktiver - Diskurs über Fiktionales und Fiktives definiert; dieser kann explizit in Form von zitierbarer Erzähler- oder Figurenrede geführt werden oder implizit als Inszenierung von Nicht-Realität in Erscheinung treten. Die Intention des Textes bzw. seiner Erzählinstanz zur Offenlegung von Fiktivität und Fiktionalität wird erkennbar vor allem an der Qualität der Metafiktion: dabei handelt es sich in erster Linie um explizite metafiktionale Kommentare des Erzählers oder einer Figur zur Erfundenheit der eigenen Geschichte oder der eigenen Welt. Abhängig von der Qualität und Quantität der expliziten Metafiktion sind dann auch für spät- und postmodernistische fiktionale Texte typische Phänomene wie Auffälligkeiten in der narrativen Struktur und auf der Ebene der Geschichte (z.B. Brüche in der Chronologie oder der Kausalität des Erzählens, Auf- <?page no="127"?> 127 fälligkeiten der narrativen Vermittlung oder Übersemantisierungen von Orten, Personen oder Ereignissen) als implizit metafiktional zu bewerten. Im Folgenden soll zunächst in Auseinandersetzung mit Zipfels sprachhandlungstheoretischem Modell der Fiktion sowie mit Wolfs wirkungsästhetisch orientierter Theorie der Metafiktion der Begriff des ‚metafiktionalen Erzählens’ präzisiert werden. Im Anschluss werden in Form eines vorläufigen Überblicks verschiedene metafiktionale Erzählverfahren präsentiert werden; dabei werden die jeweiligen Phänomene nach den Orten unterschieden, an denen sie im Text erscheinen: der histoire-Ebene und der discours-Ebene. 101 Diese vorläufige Kategorisierung soll am Ende der Arbeit unter Einbeziehung der Ergebnisse aus den Textanalysen in eine Systematik metafiktionalen Erzählens überführt werden, die sich an narratologischen Analysekategorien orientiert. 3.2.1 Definitionen Ein Ergebnis unseres Überblicks über die bisherige Theoriebildung zur Metafiktion war, dass das Ursprungswort des Begriffs - ‚Fiktion’ - bislang nicht klar definiert wurde und dass dementsprechend vielfältig die als ‚metafiktional’ bezeichneten literarischen Phänomene waren. Auch der bislang ambitionierteste Ansatz einer Definition und Systematik metafiktionalen Erzählens - die Theorie der Illusionsstörung von W. Wolf, in welche seine Überlegungen zur Metafiktion eingebettet sind - bleibt bei der Bestimmung des Begriffsinhaltes von ‚Fiktion’ ungenau und unterscheidet nicht sehr überzeugend den fictumvon dem fictio-Status des narrativfiktionalen Textes; Metafiktion kommentiert also die ‚Erfundenheit’ und die ‚Gemachtheit’ fiktionaler Erzähltexte. Zur Bestimmung des Gegenstandsbereichs von ‚Fiktion’ schlägt Zipfel eine Binnendifferenzierung des Begriffs vor und unterscheidet ‚Fiktivität’ 102 von ‚Fiktionalität’ 103 , je nachdem ob die Künstlichkeit des fiktionalen Erzähltextes sich auf der Ebene der Geschichte oder auf derjenigen der narrativen Vermittlung manifestiert. Da sich per definitionem alle mit dem Präfix metagebildeten Wörter dadurch auszeichnen, ein bestimmtes Phänomen von einem übergeordneten 101 Die von mir angewandte Methodik zählt demnach zu den sogenannten top-down methods bzw. den nomothetic procedures, da die Annäherung an die literarischen Texte deduktiv von einer höheren Abstraktionsebene aus erfolgt. (Zu dem Unterschied zwischen bottom-up procedures und top-down procedures siehe H. Bonheim: Literary systematics. (1990), S. 10.) 102 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 68. 103 Ebd., S. 179. <?page no="128"?> 128 Standpunkt aus zu kommentieren, so soll im Folgenden ‚Metafiktion’ 104 als autoreferentieller, absichtsvoller Kommentar eines Textes zur eigenen Fiktivität sowie zur eigenen Fiktionalität definiert werden; im ersten Fall ist er metafiktiv, im zweiten metafiktional. Dieser Kommentar kann entweder explizit als zitierbare Rede eines Erzählers oder einer innerfiktionalen Figur in Erscheinung treten oder implizit als verdeckte Inszenierung von Künstlichkeit. Abgegrenzt werden muss der hier neu definierte Begriff der Metafiktion von zwei verwandten Konzepten: einerseits von den Fiktionssignalen, welche den Unterschied zwischen fiktionalen Erzähltexten und ihren faktualen Antipoden begründen, und andererseits von W. Wolfs wirkungsästhetischem Modell metafiktionalen Erzählens. F. Zipfel hat als erster die seit langem in der Literaturwissenschaft bekannten und vor allem im Zusammenhang mit der Differenzierung zwischen fiktionalen und faktualen Erzählungen diskutierten textuellen ‚Fiktionssignale’ nicht nur überblicksartig aufgelistet, sondern auch nach dem Ort ihres Erscheinens im Text - histoire oder discours - systematisiert. Mag seine Typologie auch sehr differenziert sein, bleibt doch seine Definition der Fiktionssignale wenig aussagekräftig und zielt auf „[…] Phänomene […], die auf mehr oder weniger eindeutige Weise anzeigen oder nahelegen, daß ein Text fiktional ist.“ 105 In dieser Begriffsbestimmung erscheint der autoreferentielle Hinweis auf die eigene Fiktionalität nicht als etwas ‚Absichtsvolles’, sondern beschreibt vielmehr allgemeine, z.T. in die Tiefenstruktur 106 eingeschriebene Merkmale fiktionaler Erzähltexte, wie auch seine Typologie der textuellen Fiktionssignale zeigt: „Phantastik der Ereignisträger, des Ortes, des Raumes, Darstellung der Innenwelt Dritter in der Hetero- und Homodiegese, unwahrscheinliche Detailfülle in der Homodiegese, Unvollständigkeit oder Nicht-Möglichkeit der textinternen Erzähl- Situation sowie ausgeprägte Anachronien.“ 107 Der grundlegende Unterschied zwischen den von Zipfel beschriebenen Fiktionssignalen einerseits und metafiktionalen Kommentaren andererseits liegt in der Intentionalität der Metafiktion: Während es sich bei ‚Fiktions- 104 Dem in der Literaturwissenschaft verbreiteten Terminus ‚Metafiktion’ kommt hier die Funktion eines ‚Oberbegriffs’ ohne spezifische Bedeutung zu: Er bezeichnet allgemein Phänomene, die mit der Fiktion eines Textes zusammenhängen. 105 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 232. 106 H.P. Dannenberg: „Die Entwicklung von Theorien der Erzählstruktur und des Plot- Begriffs.“ (1998), S. 52, definiert als ‚Oberflächenstruktur’ die „[…] erkennbaren Merkmale eines konkreten Textes […]“ und als ‚Tiefenstruktur’ die „[…] Abstraktionsebene für die Formulierung grundlegender Regeln […]“. 107 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 234-243. Vgl. ebenso Abbildung 9: Fiktionssignale (nach F. Zipfel), Seite 124. <?page no="129"?> 129 signalen’ um allgemeine, z.T. in der Tiefenstruktur angelegte, Merkmale der Gattung fiktionaler Erzähltexte handelt, stellen Metafiktivität und Metafiktionalität absichtsvolle Kommentare zur ‚Fiktion’ entweder auf der Ebene der Geschichte oder auf der des Erzählens dar. Die ‚Absicht’ des Textes bzw. der jeweiligen Erzählinstanzen wird insbesondere bestimmt durch die Qualität und Quantität der expliziten Metafiktion. Auf W. Wolf wiederum geht die erste differenzierte Begriffsbestimmung von ‚Metafiktion’ zurück; diese definiert er als […] metaästhetische Aussagen und alle autoreferentiellen Elemente eines Erzähltextes, die - unabhängig von ihrer impliziten oder expliziten Erscheinung - folgender Bedingung genügen: Sie müssen den Rezipienten in spürbarer Weise Phänomene zu Bewußtsein bringen, die sich nicht auf den Inhalt von Erzählungen als scheinbare Wirklichkeit beziehen, sondern auf das eigene, fremde oder allgemeine Erzählen als (Sprach-)Kunst und namentlich auf dessen Fiktionalität (im Sinne sowohl der Gemachtheit des Erzähltextes wie der ‚Unwirklichkeit’ oder Erfundenheit der in ihm vermittelten Welt). 108 Die vorgeschlagene Definition wirft jedoch mehrere Fragen auf, die vor allem mit dem von Wolf bestimmten Gegenstandsbereich der Metafiktion zusammenhängen. Insbesondere der Ausschluss des „Inhalt[s] von Erzählungen als scheinbare Wirklichkeit“ erscheint widersprüchlich und nicht nachvollziehbar: Die Beschränkung des metafiktionalen Kommentars allein auf Phänomene, die mit dem ‚Erzählen’ zusammenhängen, ist zu eng gefasst; offen gelegt wird ja nicht nur die Fiktion des Erzählvorgangs, sondern - und dies weitaus häufiger - der ‚Schein’ der narrativ vermittelten Wirklichkeit. Überhaupt wird nicht deutlich, was genau der doch vage bleibende Begriff „Erzählen als (Sprach-)Kunst“, der nach Wolf das Ziel des metafiktionalen Kommentars darstellt, beschreibt. Die sich anschließende Definition dieses ‚Erzählens’ als ‚fiktional’ „im Sinne sowohl der Gemachtheit des Erzähltextes wie der ‚Unwirklichkeit’ oder Erfundenheit der in ihm vermittelten Welt“ bietet ebenso wenig Aufschluss über das Gemeinte. 109 Zwar impliziert der von Wolf postulierte metafiktionale Bezug auf die ‚Unwirklichkeit’ oder Erfundenheit der narrativ vermittelten Welt unsere Definition von ‚Metafiktivität’ als Kommentar zur Nicht-Wirklichkeit der erzählten Geschichte, auch wenn die Elemente dieser fiktiven Welt nicht genannt werden. 110 Doch bleibt insbesondere Wolfs Bestimmung des fiktionalen 108 W. Wolf: „Metafiktion. Formen und Funktionen eines Merkmals postmodernistischen Erzählens. Eine Einführung und ein Beispiel: John Barth, Life-Story.“ (1997), S. 37. 109 In früheren Definitionsansätzen verwendet Wolf die lateinischen Begriffe „fictio- Status“ bzw. „fictum-Status“ (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 223 bzw. v.a. 228.). 110 Es wird also nicht deutlich - dies ist ein großes Manko von Wolfs Definition der Metafiktion und eine Folge seines nicht genügend ausdifferenzierten Fiktionsbegrif- <?page no="130"?> 130 Erzählens als „(Sprach-)Kunst“ unklar und auch seine Definition von ‚Metafiktion’ als Offenlegung der „Gemachtheit“ dieses fiktionalen Erzählens. Schließlich ist jeder - fiktionale oder faktuale - Erzähltext ‚gemacht’, aber nicht jeder Erzähltext ist fiktional. Auch hier ist die Unschärfe von Wolfs Begriffsbestimmung durch die fehlende Ausdifferenzierung seines Fiktions-Begriffes bedingt: ‚Fiktionalität’, mithin die Fiktion des Erzählvorgangs, konstituiert sich weniger - so lautet meine These - in der ‚Gemachtheit’ des Erzähltextes, als in seiner Spezifität im Vergleich zu seinem jeweiligen (fingiert) faktualen Gegenüber. Der metafiktionale Kommentar zielt somit auf die charakteristische ‚Nicht-Wirklichkeit’ fiktionaler Erzähltexte, z.B. historischer Romane oder fiktionaler Auto-/ Biographien vor dem Hintergrund ihrer faktualen Antipoden wie dem historiographischen, autobiographischen oder biographischen Text. 3.2.2 Typologie Das Hauptziel der folgenden Überlegungen besteht darin, ausgehend von der hier vorgeschlagenen neuen Definition der ‚Metafiktion’ ein Raster deskriptiver Kategorien bereitzustellen, die im Anschluss die Analyse metafiktionaler Textstrukturierungsverfahren im Werk Claude Simons ermöglichen. Unsere Definition von ‚Metafiktion’ als Kommentierung von ‚Fiktion’ auf der Ebene der narrativen Vermittlung wie auf der der erzählten Geschichte impliziert vier Varianten metafiktionalen Erzählens: so lassen sich nach dem jeweiligen intratextuellen Ort, an dem sich die spezifische ‚Nicht-Wirklichkeit’ fiktionaler Erzähltexte manifestiert, ‚Metafiktivität’ als Diskurs über die Fiktivität bzw. Erfundenheit auf der Ebene der histoire von ‚Metafiktionalität’ als Kommentar zur Fiktionalität bzw. Erfundenheit auf der Ebene des discours unterscheiden. Im Hinblick auf ihre Vermittlungsform kann Metafiktion entweder explizit als Thematisierung einer Erzählinstanz bzw. einer Figur oder implizit als Inszenierung von Fiktivität und Fiktionalität in Erscheinung treten. 111 fes -, welche Faktoren die ‚Unwirklichkeit’ der erzählten Welt konstituieren und in Opposition zu welchem Gegenpol sich ihre spezifische Unwirklichkeit konstituiert: Es handelt sich dabei um die ‚Alltagswirklichkeit’ des Rezipienten. 111 Diese Systematik der Metafiktion verdankt wertvolle Anregungen sowohl F. Zipfels Unterscheidung von ‚Fiktivität’ und ‚Fiktionalität’ als auch W. Wolfs Typologie expliziter und impliziter Formen der Metafiktion. Allerdings trennt Wolf nicht deutlich zwischen Phänomenen auf der histoire- und auf der discours-Ebene; häufig werden implizit metafiktionale Textstrategien ganz unterschiedlichen Kategorien zugeordnet, vgl. Wolfs Bemerkungen zur Deskription und Argumentation (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 311-316; S. 426-436.) Vor allem aber bleibt Wolfs Typologisierung der impliziten Variante der Metafiktion unscharf; er definiert sie vage als „[…] ein[e] mehr oder weniger unterschwellig[e] <?page no="131"?> 131 Zu den expliziten, auf die Ebene der Geschichte bezogenen metafiktiven Formen zählen Kommentare des Erzählers zur Erfundenheit der von ihm erzählten Geschichte bzw. der Figuren, Ereignisse, Orte oder Zeitangaben. Dies kann typischerweise auch durch ihre Offenlegung als Produkt seiner Imagination oder als Gegenstand seiner Träume geschehen, aber auch durch explizite Diskurse des Erzählers über sein ‚Nicht-Wissen’. Diese Enthüllung des gleichsam ‚virtuellen’ Status von Teilen der erzählten Welt bedingt eine Verdopplung der innertextuellen ontologischen Ebene des ‚Nicht-Realen’: So können die im Text beschriebenen Elemente einerseits bezogen auf die extratextuelle Welt fiktiv sein; sie sind es - wie im Falle von Träumen oder Imagination - jedoch häufig auch im Hinblick auf die innerfiktionale ‚Realität’: Es soll daher im Folgenden zwischen den ontologischen Ebenen ‚extrafiktional real’ und ‚innerfiktional real’ sowie ‚extrafiktional fiktiv’ sowie ‚innerfiktional fiktiv’ unterschieden werden. 112 Hingegen fungieren Übersemantisierungen von Orten, Personen oder Gegenständen bzw. eine allgemein auffällige Gestaltung der Geschichte und ihrer Bestandteile 113 als implizite, auf die histoire-Ebene bezogene, Tendenz eines Textes, die Fiktionalität (im Sinne von Gemachtheit oder Erfundenheit) in den Vordergrund zu rücken.“ (W. Wolf: „Metafiktion. Formen und Funktionen eines Merkmals postmodernistischen Erzählens. Eine Einführung und ein Beispiel: John Barth, Life-Story.“ (1997), S. 36.) Als Beispiel für typische Verfahren nennt er einerseits das „foregrounding der Textmaterialität in typographical devices“ (als discours-Phänomen) und andererseits - diesmal im Einklang mit F. Zipfels Kategorie der ‚Fiktivität’ - „auffallend[e] Unwahrscheinlichkeiten oder Unmöglichkeiten bei der Konstruktion der histoire.“) Vor allem aber - und dies ist die größte Schwäche seines Modells aus narratologischer Sicht - räumt Wolf unter dem Stichwort ‚Perspektivik’ narratologischen Fragestellungen in einem engeren Sinne nur einen nachgeordneten Platz ein und untersucht unter Ausblendung weiter Teile der Genette’schen Theoriebildung einzig Stanzels Erzählsituationen auf ihr illusionsstörendes Potential, ohne jedoch auf die Spezifität fiktionalen Erzählens im Vergleich zum faktualen Erzählen einzugehen. (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 407ff.) 112 So weist M.-L. Ryan darauf hin, dass die Darstellung von Träumen als „marker of irreality“ fungieren und ontologisch zu einer innerfiktional anderen Welt gehören: Die „[…] private mental worlds [stand] in opposition to the physical reality of the textual world.“ (M.-L. Ryan: „Allegories of Immersion: Virtual Narration in Postmodern Fiction.“ (1995), S. 263.) Diese von ihr ‘virtual narration’ genannte Binnenerzählung „[…] intercepts the reflection of virtual worlds […]“ und stellen „fictions within fictions“ dar. (Ebd., S. 264.) Auf ähnliche Weise unterscheidet U. Margolin zwischen der textuell faktualen Welt einerseits und der subjektiven Welt des Erzählers andererseits; letztere umfasst Glaube, Hypothesen und ‚alternative Welten’ in Form von Wünschen und Imaginationen (U. Margolin: „Reference, Coreference, Referring, and the Dual Structure of Narrative.“ (1991), S. 518.). 113 Z.B. durch mises en abyme, Parallelisierungen, besondere Motiv- und Themenstrukturen, mots-carrefour, Wiederholungen, Instabilität bezüglich der Zeit- oder Raumgestaltung und der Figurenidentität (Vgl. z.B. J. Ricardous Bemerkungen zum „death of the <?page no="132"?> 132 metafiktive Formen. Eine wichtige Variante der impliziten, auf die Ebene der Geschichte zielenden Metafiktivität sind darüber hinaus die verschiedenen Formen der Metalepse: Zu nennen ist einerseits die Überschreitung der Grenze zwischen der extratextuellen und der innerfiktionalen Realität, wenn z.B. der ‚Autor’ in seinem eigenen Werk erscheint oder die Figuren anfangen, das ‚reale Leben’ des Autors zu bevölkern. Andererseits fungiert auch die Grenzüberschreitung zwischen innerfiktionaler ‚Realität’ und Fiktion als Metalepse, wenn sich die Welt des heterodiegetischen Erzählers auf paradoxe Weise mit der seiner Figuren vermischt. Eine weitere Variante dieses innerfiktionalen ‚Bruchs’ zwischen ontologischen Ebenen ist eine paradoxe Form der Intermedialität, z.B. wenn in der ‚realen’ Welt der Geschichte ein unbelebtes Kunstwerk plötzlich ‚animiert’ bzw. narrativisiert wird, also in eine Binnenfiktion bzw. eine hypodiegetische Erzählung übergeführt wird. Die Umkehrung ist ebenfalls möglich: Eine binnenfiktional scheinbar ‚reale’ Szene entpuppt sich als narrativisierte Beschreibung eines Gemäldes und wird damit in ihrer binnenfiktionalen Künstlichkeit enthüllt; der Text gleitet hier vom narrativen in den deskriptiven Modus. 114 Neben der beschriebenen Erfundenheit auf der Ebene der erzählten Geschichte kann Fiktionalität auch auf der Ebene des Erzählens metafiktional kommentiert werden. So zählt zur expliziten Metafiktionalität insbesondere die Dekonstruktion der vom Text imitierten faktualen bzw. fingiertfaktualen Erzählformen: Dies geschieht zum einen, wenn die Illusion eines als autonomer innerer Monolog präsentierten Gedächtnisstroms durch das paradoxe Auftreten von erzähllogisch unmöglichen, das Vorhandensein einer Erzählsituation entlarvenden Verfahren zerstört werden. Zum anderen kann eine (fingierte) Autobiographie als Roman entlarvt werden oder, als weitere Unterkategorie, eine offensichtliche ‚Fiktion’ in die (scheinbar) fictional character“ in den Nouveaux Romans, womit insbesondere der Angriff auf die traditionellen Attribute des „solid Balzacian character” - Name, soziale Rolle, Nationalität, Verwandtschaft, Alter und physische Erscheinung gemeint ist. (J. Ricardou: „Nouveau Roman, Tel Quel.“ (1981), S. 103.)) ebenso wie alternative Schlüsse, Widersprüche und unwahrscheinliche Zufälle. 114 Vgl. hierzu auch W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 359-372. Diese metaleptischen Varianten der impliziten Metafiktivität können in sogenannten ‚Komplexionsformen’ gipfeln, z.B. durch die Kombination mehrerer dieser narrativen Kurzschlüsse in einem einzelnen Werk oder aber durch paradoxe, zirkulare Möbius-Band-ähnliche Erzählungen. Eine Übersicht über diese und ähnliche paradoxe Formen der Metalepse liefert B. Morrissette: „Robbe-Grillet No. 1, 2... x.“ (1972), S. 129f. In Anlehnung an die in der Mathematik entwickelte topologie nouvelle beschreibt Morrissette verwandte Formen in der Literatur, die sich nach den Verdopplungen und den jeweiligen Verortungen des récit auf den verschiedenen narrativen Ebenen unterscheiden. <?page no="133"?> 133 faktische Welt einer (fingierten) historiographischen oder autobiographischen Erzählung eindringen. Der (fingiert-)faktuale Text und seine besonderen Eigenschaften stellen auch im Falle der impliziten Inszenierung von ‚Fiktion’ auf der Ebene des Erzählens den Antipoden und das Vergleichsobjekt dar, auf das sich die metafiktionale Offenlegung von Künstlichkeit bezieht. Im Vergleich mit faktualen Erzähltexten weisen vor allem Auffälligkeiten der narrativen Vermittlung (z.B. erzählerische unreliability oder eine unklare Erzähleridentität 115 , narrative Digressionen, ‚Nicht-Erzählen’ in Form der Camera-eye- Perspektive) auf den fiktionalen Status des Textes hin. Weitere Varianten sind erzählerische Ellipsen bzw. allgemeine Leerbzw. Unbestimmtheitsstellen, paradoxe und unauflösbare Anachronien bzw. Achronie, intertextuelle Inszenierung des Textes nach dem Muster fremder, offensichtlich fiktionaler Gattungen, unwahrscheinliche Deskriptionen (z.B. große Detailfülle in (fingierten) Autobiographien) 116 , die unauflösbare Multiplikation narrativer Ebenen (Hypertrophie des Erzählens) sowie die Parodie überholter Erzählkonventionen anderer fiktionaler Gattungen (z.B. des realistischen Romans). Die folgende graphische Darstellung des hier neu entwickelten narratologischen Modells der Metafiktion bietet einen Überblick über die metafiktiv und metafiktional kommentierten Ebenen des Erzähltexts, auf denen Fiktion im Sinne von Fiktivität und Fiktionalität beschreibbar wird, sowie über die möglichen Vermittlungsformen der Metafiktion. 115 So nennt J. Ricardou das Phänomen der „floating narrators“ - die Präsenz verschiedener, nur schwer unterscheidbarer Erzähler -, welches Ambiguität auf der Ebene der „fiction as a whole“ erzeugt (J. Ricardou: „Nouveau Roman, Tel Quel.“ (1981), S. 123f.). Dazu auch A. Thiher: Words in Reflection: Modern Language Theory and Postmodern Fiction. (1984), S. 120-155; L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 11. 116 Vgl. hierzu R. Barthes‘ Analyse der Beschreibungstechnik A. Robbe-Grillets, deren Funktion seiner Meinung darin besteht, den Leser von der erzählten Geschichte zu distanzieren sowie die Suche nach einem Sinn der Beschreibung aufzugeben (R. Barthes: „Le point sur Robbe-Grillet? [1962].“ (1964), S. 199.). Ebenso D. Lodge: The Modes of Modern Writing: Metaphor, Metonymy and the Typology of Modern Literature. (1977), S. 237f. Auch A. Kablitz wertet die antimimetischen Beschreibungen im Nouveau Roman als Metafiktion im Sinne eines absichtsvollen Aufdeckens von Fiktionalität (A. Kablitz: „Erzählung und Beschreibung. Überlegungen zu einem Merkmal fiktionaler erzählender Texte.“ (1982), S. 83f.). Vgl. ebenso S.E. Lauzen: „Notes on Metafiction: Every Essay Has a Title.“ (1986), S. 101. <?page no="134"?> 134 • Auffällige Struktur der narrative Vermittlung (erzählerische unreliability, unklare Erzähleridentität, Digressionen, ‚Nicht- Erzählen‘ bzw. Camera-eye-Perspektive) • Ellipsen und Leerbzw. Unbestimmtheitsstellen • Paradoxe Anachronien bis zur Achronie • Intertextuelle Inszenierung des Textes nach fremden fiktionalen Gattungen (z.B. Märchen, Mythos) • Unwahrscheinliche Deskriptionen (z.B. Detailfülle in (fingierten) Autobiographien) • Paradoxe Multiplikation narrativer Ebenen (Hypertrophie des Erzählens) • Parodisierung überholter Erzählkonventionen anderer fiktionaler Gattungen (z.B. des realistischen Romans) Metafiktivität (Thematisierung von Fiktion auf der histoire-Ebene) Metafiktionalität (Thematisierung von Fiktion auf der discours-Ebene) Explizit (‚telling‘-Modus bzw. zitierfähige Kommentare einer innerfiktionalen Redeinstanz) Implizit (‚showing‘-Modus bzw. Inszenierung) • Kommentare des Erzählers zur Erfundenheit der von ihm erzählten Geschichte und ihres Inhalts • Geschichte ist Gegenstand der Imagination bzw. von Träumen des Erzählers • Diskurse des Erzählers über sein ‚Nicht- Wissen‘ • Modalisationen des Erzählten • Dekonstruktion (fingiert) faktualer Erzählformen: Entlarvung des autonomen inneren Monologs als Erzählung, der fingierten Autobiographie als Roman, des fiktionalen Anteils in der (fingierten) Historiographie • Übersemantisierungen / unwahrscheinliche Symbolik v. Orten, Personen, Gegenständen • Auffällige Struktur der Geschichte (mises en abyme, Parallelisierungen, Motivu. Themenstruktur, mots-carrefour, Wiederholungen) • Instabilität der Figurenidentität, der Zeitgestaltung, des Raumes • Schablonenhafte Figuren • Alternative Schlüsse, Widersprüche, unwahrscheinliche Zufälle • Metalepsen (extra-/ intradiegetische Ebenen, intra-/ hypodiegetische Ebenen, Kombinationen, Möbius-Band) Abbildung 10: Narratologisches Modell der Metafiktivität und Metafiktionalität 3.3 Zusammenfassung Unsere kritische Analyse bestehender Konzepte metafiktionalen Erzählens, die sich vor allem auf wirkungsästhetischen Kategorien begründeten, hat zum Entwurf eines neuen Modells geführt, welches einerseits ‚Metafiktion’ entweder als metafiktionalen Diskurs über Fiktion auf der Ebene der narrativen Vermittlung oder als metafiktiven Diskurs über Fiktion auf der Ebene der erzählten Geschichte definiert. Andererseits knüpft unser Modell stärker an narratologische Analysekategorien wie ‚Erzähler’ bzw. ‚Erzählsituation’, ‚Figuren’-, ‚Ort’- und ‚Zeitgestaltung’, ‚Struktur der Geschichte’ und ‚Struktur des narrativen Diskurses’ an und ermöglicht auf diese Weise eine Applikation der zunächst abstrakten Kategorien auf die fiktionalen Erzähltexte Claude Simons. Der obige Überblick über wichtige Kategorien der Metafiktion in fiktional-narrativen Texten soll nun im Rahmen von Mikroanalysen metafiktionaler Passagen in den ausgewählten Romanen Simons überprüft und gegebenenfalls um weitere Kategorien ergänzt werden. <?page no="135"?> 135 Teil II Metafiktion, Metanarration und Metahistoriographie in ausgewählten Texten Claude Simons 4 « Comment savoir ? » - Metafiktion und Erkenntnisskepsis in La Route des Flandres (1960) 4.1 Einführung „Comment savoir? “ - Diese leitmotivisch wiederkehrende ‚Beschwörungsformel’ des Protagonisten Georges prägt Simons sechsten Roman La Route des Flandres von Beginn an, zählen doch sein Streben nach Erkenntnis und ‚sicherem’ Wissen, das Ringen um die Erinnerung zuverlässiger Wahrnehmungen zu den wichtigsten thematischen Aspekten des Werks, das in weiten Teilen - narrativ vermittelt durch einen autonomen inneren Monolog - den Bewusstseinsstrom der fiktiven Figur Georges präsentiert. Dieser erinnert sich an einem unbestimmt gelassenen Punkt seines Lebens - vermutlich einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - an seine Erlebnisse während des Krieges bzw. aus der Vor- und Nachkriegszeit. Dabei kreisen Georges’ Gedanken auf obsessive Weise um drei Episoden: um den Tod seines Hauptmanns und Cousins de Reixach, um den wiederholten Anblick eines sich in einem Stadium zunehmender Verwesung befindlichen toten Pferdes am Straßenrand sowie um den Ehebruch Corinnes, der Witwe de Reixachs, mit der er nach Kriegsende eine Affäre begonnen hat. Als vermutlicher Auslöser für diesen Gedächtnisstrom fungiert das abrupte Ende seiner Beziehung mit ebenjener Corinne, die ihn überstürzt nach einer gemeinsamen Nacht in einem Hotel verlässt. Dieser emotionale Schock scheint zu bewirken, dass Erlebnisse aus seiner Vergangenheit in Georges’ Gedächtnis auftauchen. Er möchte dabei vor allem mittels seiner Erinnerungen die Hintergründe von de Reixachs mysteriösem Tod auf der von blühenden Weißdornhecken gesäumten Straße aufdecken, hinter dem er aus bestimmten Gründen einen Selbstmord aus enttäuschter Liebe vermutet. Während seiner Suche nach der Lösung für dieses Rätsel zieht Georges nun Parallelen zu scheinbar ähnlichen Ereignissen. Da ist z.B. der gemeinsame Vorfahr, der Revolutionsgeneral Reixach, von dem die Familienlegende berichtet, dass er nach der Niederlage in den spanischen Revolutionskriegen auf unge- <?page no="136"?> 136 klärte Weise sein Leben verlor. Ferner begeht vermutlich auch der General von Georges’ eigener Schwadron nach dem militärischen Debakel in Flandern im Mai 1940 Selbstmord. Doch auch die Ehebruchsgeschichte scheint sich zu wiederholen: beim Vorfahren im 18. Jahrhundert und während des Krieges auf einem Bauernhof in den Ardennen, aber auch zwischen dem Capitaine de Reixach, seiner Frau und dem Jockey Iglésia in der unmittelbaren Vorkriegszeit. Georges’ Gedanken beschäftigen sich demnach mit Ereignissen aus verschiedenen zeitlichen Epochen: dem 18. Jahrhundert, dem Zweiten Weltkrieg und der diesen umschließenden Vor- und Nachkriegszeit. Dabei fällt auf, dass er die vergangenen Ereignisse weniger chronologisch erinnert, als dass er bestimmte Situationen assoziativ evoziert, in welchen er sich bereits früher erinnert bzw. in denen er über ein bestimmtes Thema gesprochen hat: Die Erinnerungen scheinen demnach weniger zeitlich als räumlich gebunden zu sein. Am Ende seines Gedächtnisstroms hat Georges zuletzt jede Orientierung verloren; er weiß nicht einmal mehr, ob seine Erinnerungen nur Bestandteil eines Traumes waren, den er, noch immer im Krieg auf seinem Pferd sitzend, geträumt hat. Zuletzt muss er seine Ohnmacht in der Rekonstruktion der Vergangenheit erkennen: er ist nicht imstande, retrospektiv mit Hilfe seines sprachlich kontrollierten Verstandes die Innenwelt Anderer sowie die vergangene Realität überhaupt zu ergründen. In seinem Ringen um das objektive Wissen über frühere Wirklichkeit scheitert Georges zuletzt und muss erkennen, dass ihm jede Erkenntnis der eigenen, aber auch der fremden Vergangenheit, ‚wie sie wirklich war’, verwehrt bleibt. Diese explizite Wahrnehmungs-, Sprach- und Zeichenkritik soll als metafiktionale Thematisierung und Inszenierung der Fiktivität und Fiktionalität erinnerter Wirklichkeit gedeutet werden. Dabei soll einerseits die wichtige Rolle von Imaginationen, Träumen und Legenden bei der (Re)Konstruktion der Vergangenheit nachgewiesen werden. Andererseits soll der Einfluss von fremden, fiktionalen Erzählmodellen beim Erinnerungsprozess aufgezeigt werden, welche die erinnerte Realität als ein fiktionales Konstrukt hervortreten lassen. Die oben skizzierte Zielsetzung strukturiert das vorliegende Kapitel dergestalt, dass zunächst in einem vorgeschalteten Kapitel, das in die zentrale Thematik des Romans einleitet, die in La Route des Flandres diskutierten Möglichkeiten objektiver ‚Wahrnehmung’ und ‚Erkenntnis’ in einen größeren, wahrnehmungs- und gedächtnispsychologischen sowie phänomenologischen Zusammenhang eingeordnet werden (Kap. 4.2). Der textanalytische Hauptteil des Kapitels setzt sich einerseits mit der Rekonstruktion sowie der Destruktion der Erkenntnis vergangener Wirklichkeit in La Route des Flandres auseinander (Kap. 4.3) und beschreibt andererseits das von Simon entworfene ‚Alternativmodell’ der Repräsentation <?page no="137"?> 137 vergangener Wirklichkeit, das nicht nur der ‚freien Fabulierlust’ sowie der Imagination der Protagonisten Raum einräumt, sondern insbesondere den Modus des fiktionalen Erzählens als Möglichkeit einer individuellen Annäherung an die vergangene Realität vorschlägt (Kap. 4.4). 4.2 Vorbemerkung: ‚Wahrnehmung’ und ‚Erkenntnis’ als zentrale Themen des Romans im Spiegel von Psychologie und Phänomenologie Nach allgemeiner Einschätzung handelt es sich bei Simons Werk um einen Roman über Erinnerung und Wahrnehmung: „In La Route des Flandres entwirft Simon einen [sic] zu den Momenten einstiger Wahrnehmung vielschichtiger angelegtes mnemonisches Panorama […].“ 1 Die zentrale Thematik des Texts ist die Restitution der Vergangenheit, sei es durch den erinnernden Aufruf vergangener Wahrnehmungen oder durch den Rückgriff auf schriftliche und bildliche Quellen. Doch ist die Verfügung des Erinnerungssubjekts Georges über die eigene bzw. über die familiäre Vergangenheit seines Cousins, des Capitaine de Reixach, sowie über die Geschichte seines Ahnen, des Revolutionsgenerals Reixach 2 , nicht unproblematisch: So bleiben seine persönlichen Erinnerungen entweder fragmentarisch oder aber die Grenzen zwischen Erlebtem und Imaginiertem verwischen sich; darüber hinaus bieten auch die scheinbar zuverlässigen Quellen der Familiendokumente und der familieneigenen Gemäldesammlung keinen ‚authentischen’ Zugang zur Vergangenheit. Insbesondere die Bilder lassen Objektivität vermissen und präsentieren immer auch den subjektiven Standpunkt des Künstlers bzw. des Portraitierten. Es stellt sich somit die Frage, ob es sich bei La Route des Flandres tatsächlich um einen ‚wahren’ Erinnerungsroman im Sinne Prousts 3 handelt, 1 T.R. Kuhnle: Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des ‘nouveau romancier’ Claude Simon. (1995), S. 357. Ebenso: R.L. Sims: „Memory, structure and time in La Route des Flandres.“ (1976), S. 43: „memory novel“; W. Scheller: „‘Geschichte machen, heisst: Sie ertragen’: Claude Simon und der ‘Nouveau roman’.“ (1979), S. 64: „moderner Gedächtnisroman“; J. Mecke: Roman-Zeit. Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart. (1990), S. 144: „Roman der Erinnerung“; R. Warning: „Claude Simons Gedächtnisräume: La Route des Flandres.“ (1991), S. 363: „Erinnerungsroman“; D. Viart: Une mémoire inquiète. La Route des Flandres de Claude Simon. (1997), S. 113: „roman de la mémoire“. 2 Während der revolutionsbegeisterte General im 18. Jahrhundert seinen Adelstitel abgelegt und sich einfach „Henri Reixach“ genannt hat (RF, 79), führt im 20. Jahrhundert der Capitaine und Cousin des Protagonisten Georges wieder den Titel ‚de Reixach‘; diese unterschiedliche Benennung wird in der vorliegenden Arbeit übernommen. 3 So vertritt z.B. W. Engler die These, dass sich Simon gegen Prousts poetischen Restitutionsoptimismus gewendet habe, indem er Erinnerungsbilder oftmals nur noch als <?page no="138"?> 138 nimmt Simon doch keine Rücksicht auf die Chronologie des erinnerten Geschehens und stilisiert den Roman nicht zu einem totalisierenden Gebäude der Erinnerung. 4 Vielmehr demontiert der Roman die „Illusion referentieller Einholbarkeit der ursprünglichen Wahrnehmungen“ durch die Offenlegung der spezifischen „Produktivität des Gedächtnisses“: 5 In La Route des Flandres zeigt sich der Erinnerungsprozess einerseits durch die Kraft der Imagination 6 bestimmt und andererseits durch die produktive Kraft der Sprache bzw. des Schreibens. So existieren die Objekte oder die Ereignisse, von denen die Erinnerung scheinbar ihren Ausgang nimmt, oftmals nicht, während Sprache mit ihrem Potential zur Abschweifung als „déclencheur“ bzw. „déstabilisateur“ fungiert. 7 In La Route des Flandres kann Erinnerung im Gegensatz zum Proustschen Modell nicht mehr gelingen; der „Prozess des Erinnerns stößt nicht zu einem Restituieren der ursprünglichen Wahrnehmung vor“. 8 Insofern insbesondere die Unsicherheiten der subjektiven Wahrnehmung und die Sprachlichkeit der Erinnerung mit all ihren produktiven Aspekten im Zentrum des Romans stehen, präsentiert sich La Route des Flandres als ‚meta-epistemologischer Roman’: 9 Dabei scheitert Georges’ auf Leerstellen registriere. (W. Engler: „Die Aufkündigung der Mimesisvereinbarung im Roman von Claude Simon: Notizen zu La Route des Flandres.“ (1995), S. 152.). Daneben hat sich bereits 1961 Y. Berger gegen die Typologisierung von La Route des Flandres als „roman de la pure mémoire“ ausgesprochen, da das Erinnerungssubjekt Georges nicht einfach seine Erinnerungen monologisiere, sondern diese ohne Unterlass präzisiere, erkläre oder korrigiere. Außerdem widersprechen die wiederholt auftauchenden Zeitadverbien der tatsächlichen Zeitlosigkeit des Gedächtnisses. (Y. Berger: „L’enfer, le temps.“ (1961), S. 95f.) 4 H. Pfeiffer: „Claude Simon.“ (1986), S. 363. 5 R. Warning: „Claude Simons Gedächtnisräume: La Route des Flandres.“ (1991), S. 369. 6 So auch R.L. Sims: „Memory, structure and time in La Route des Flandres.“ (1976), S. 48; M. Silverman: „Fiction as Process: The Later Novels of Claude Simon.“ (1985), S. 64; L.A. Higgins: „Problems of plotting, La Route des Flandres.“ (1996), S. 56: „[…] that memory is as much a process of invention as it is one of recall […]”. 7 G. Roubichou: „La mémoire, l’écriture, le roman. Réflexions sur la production romanesque de Simon.“ (1995), S. 101f. Vgl. auch R. Warning, der die Ähnlichkeitsassoziationen zwischen den Jockeys in der Rennszene und den in den Hohlweg einreitenden Soldaten nicht „vermögenspsychologisch als Gedächtnismechanismen [liest], die quasi-mimetisch in Sprache übersetzt würden, sondern sie […] von vornherein aus den Möglichkeiten der Sprache herausentwickelt“ sieht. (R. Warning: „Claude Simons Gedächtnisräume: La Route des Flandres.“ (1991), S. 373.) 8 T.R. Kuhnle: Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des ‘nouveau romancier’ Claude Simon. (1995), S. 370. 9 In Ansätzen als ‚Erkenntnisroman’ wird La Route des Flandres von A. Duncan: Claude Simon: Adventures in Words. (1994) (S. 17: „[…] La Route des Flandres is an attempt to reconstruct the past and hence a search for knowledge“) und W. Engler: „Die Aufkündigung der Mimesisvereinbarung im Roman von Claude Simon: Notizen zu La Route des Flandres.“ (1995) interpretiert (S. 147: „[Simon] konfrontiert den traditionel- <?page no="139"?> 139 der histoire-Ebene verhandelte Suche nach Wissen bzw. Erkenntnis zuletzt an der Nicht-Erkennbarkeit der Wirklichkeit; diese kann von ihm nicht als ‚Welt’ erfasst werden, da die Existenz der Wirklichkeit selbst im Ungewissen bleibt. 10 Im Folgenden soll versucht werden, diese spezifische epistemologische Thematik des Romans in den größeren Kontext der Wahrnehmungspsychologie bzw. der Gedächtnisforschung sowie der phänomenologischen Erkenntnistheorie einzuordnen. Dabei soll gezeigt werden, dass Simon mit seiner Poetik der scheiternden Erinnerung zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans aktuelle wahrnehmungspsychologische Theorien sowie zentrale Elemente von M. Merleau-Pontys Phänomenologie aufgreift. 11 4.2.1 ‚Wahrnehmung’ und Wahrnehmungspsychologie Erstaunlicherweise ist das Verständnis der Wahrnehmung in der Psychologie bei allem Detailwissen noch relativ gering; dies mag vor allem deswegen überraschen, weil doch die Wahrnehmung der grundlegendste aller psychischen Vorgänge ist. 12 Trotz dieser Wissenslücken herrscht in der Wahrnehmungsforschung Einigkeit über verschiedene Prämissen: So existiert „zwischen der äußeren, physikalischen Welt und der durch Wahrnehmung und Gedächtnis geschaffenen phänomenalen Welt kein einfaches 1: 1-Abbildungsverhältnis“; die Reizseite determiniert die phänomenalen Gegebenheiten nicht immer eindeutig, wie verschiedene Wahrnehmungsphänomene (Kippbilder, Vexierbilder etc.) beweisen. 13 Vielmehr zeigt sich die neuere Wahrnehmungspsychologie vom „aktiven und produktiven Charakter der Wahrnehmung“ überzeugt, da dies im Gegensatz zur photographischen Abbildungsgenauigkeit die effizienteste Anpassung an die sich stänlen, d.h. grundsätzlich zentralperspektivisch angelegten ‚roman du savoir’ mit seinem ‘roman du non-savoir’ […]“.). 10 Kuhnle wertet diesen thematischen Aspekt als Zeichen für einen erkenntnistheoretischen Agnostizismus Claude Simons. (T.R. Kuhnle: Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des ‘nouveau romancier’ Claude Simon. (1995), S. 397.) 11 Auch in die Geschichtswissenschaft ist nach der Literatur bzw. der Literaturwissenschaft nun die „erinnerungskritische Skepsis“ (J. Fried) eingedrungen; dabei gebührt Fried das Verdienst, die Geschichtswissenschaft erstmals mit aktuellen Erkenntnissen aus Neurologie und Gedächtnispsychologie konfrontiert zu haben (J. Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. (2004)). Vgl. hierzu genauer die Analyse der metahistoriographischen Diskurse in Les Géorgiques Kap. 6 De-/ Rekonstruktion historischen Erzählens: Metafiktion und Metahistoriographie in Les Géorgiques (1981). 12 Folgende ‚Wahrnehmungssysteme’ sind zu unterscheiden: das visuelle System, das auditive System, das olfaktorische System (Geruchssinn), der Geschmackssinn, das haptisch-taktile Wahrnehmungssystem (Hautsinn) sowie die Propriozeption (Wahrnehmung des eigenen Körpers). 13 G. Kebeck: Wahrnehmung. Theorien, Methoden und Forschungsergebnisse der Wahrnehmungspsychologie. (1997), S. 15. <?page no="140"?> 140 dig verändernden Reizbedingungen darstellt. 14 Viele der bewussten Wahrnehmungen erweisen sich letztlich daher als „aktive Konstruktionen des Verarbeitungsapparates“, die auf frühere Erfahrungen mit der Wahrnehmungsumwelt, also auf bestehende Gedächtnisinhalte, zurückzuführen sind. 15 Aufgrund dieser früheren Wahrnehmungserfahrungen werden im Verlauf einer neuen, ähnlichen Wahrnehmung Hypothesen gebildet, Suchprozesse gesteuert und Reizinformationen verglichen. Darüber hinaus ist für die neuere Wahrnehmungsforschung eine kognitionspsychologische Herangehensweise charakteristisch: Wahrnehmung wird in diesem Kontext stärker in Verbindung zu anderen kognitiven Leistungen, insbesondere dem Gedächtnis, gesehen. 16 Der Wahrnehmungsprozess beginnt - so lautet die These - nicht erst mit der Verarbeitung der sensorischen Information, sondern bereits bei der Selektion der zu verarbeitenden Informationen und der Steuerung der Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit als systematischer Such- und Steuerungsprozess wirkt der Reizflut auf die Sinnesorgane entgegen und reduziert die ankommenden Informationen gemäß den in der jeweiligen Situation bestehenden Erfordernissen und Interessen. 17 Eine weitere These der neueren Wahrnehmungspsychologie postuliert die Ähnlichkeit der Gesetzmäßigkeiten, die jeweils den beiden Prozessen ‚Wahrnehmung’ und ‚Vorstellung’ zu Grunde liegen. Während in Wahrnehmungssituationen das Objekt der Wahrnehmung zum Zeitpunkt des Urteils präsent ist, besteht in Vorstellungssituationen über die Sinnessysteme zum Zeitpunkt des Urteils kein Zugang zum Objekt; es muss also ausschließlich auf das Gedächtnis zurückgegriffen werden. 18 Gedächtnispsychologische Experimente legen jedoch die Vermutung nahe, dass durch den Akt der Vorstellung eine der Bildwahrnehmung vergleichbare Gedächtnisabbildung erzeugt wird. So beinhalten auch Vorstellungsbilder einen Großteil der Eigenschaften eines Objektes; sie stellen eine analoge Abbildung des Originals dar. Auf diese Weise bleiben in der Vorstellung die wesentlichen Relationen (wie z.B. die räumlichen Verhältnisse), die ein Objekt konstituieren, erhalten und unmittelbar ablesbar. 19 14 G. Kebeck: Wahrnehmung. Theorien, Methoden und Forschungsergebnisse der Wahrnehmungspsychologie. (1997), S. 16. Hierzu zählen verschiedene Korrekturmechanismen des Gedächtnisses, welche darüber entscheiden, wie die selektierte Information wahrgenommen wird, um ein möglichst ‚originalgetreues’ Abbild, d.h. eines entsprechend den tatsächlichen Eigenschaften des Wahrnehmungsobjektes, zu erhalten. (Ebd., S. 164.) 15 Ebd., S. 174. 16 Ebd., S. 123. 17 Ebd., S. 157. 18 Ebd., S. 186f. 19 Ebd., S. 187f. <?page no="141"?> 141 Im Hinblick auf die Art der psychischen Verarbeitungsprozesse, die an Wahrnehmung und Vorstellung beteiligt sind, wird von der Forschung die These vertreten, dass diese vergleichbar bzw. „funktional äquivalent“ 20 sind. Man nimmt jedoch an, dass sich Wahrnehmung durch die kontinuierliche Aufnahme neuer sensorischer Information aus der Umwelt von der Vorstellung unterscheidet, sie aber ansonsten dieselben neuronalen Grundlagen besitzen. 21 Die Analyse von Simons Roman La Route des Flandres soll im Folgenden zeigen, inwiefern die in dem Text postulierte Wahrnehmungstheorie zentrale wahrnehmungspsychologische Konzepte aufgreift. Es handelt sich dabei vor allem um die produktiven Aspekte der sinnlichen Wahrnehmung sowie um die Ähnlichkeit von Wahrnehmungs- und Vorstellungsbildern, wie auch Georges während seines Erinnerungsprozesses im Hinblick auf tatsächlich Wahrgenommenes und bloß Imaginiertes erkennen muss. 4.2.2 ‚Wahrnehmung’ und Gedächtnispsychologie Ein zentrales Thema des Romans La Route des Flandres ist die Erinnerung vergangener Wirklichkeit, die sich in diesem Text fast ausschließlich in Gestalt früherer Sinneswahrnehmungen präsentiert. Geht es der Wahrnehmungspsychologie vor allem um die neurologische und psychische Verarbeitung der ankommenden Umweltreize mittels der Sinnessysteme, steht im Mittelpunkt des gedächtnispsychologischen Erkenntnisinteresses der zeitlich nachgeordnete Zugriff auf im Gedächtnis gespeicherte Wahrnehmungen, wobei auch hier - wie bereits im Falle der Wahrnehmung - die interpretative Funktion des Gehirns eine wichtige Rolle spielt, wie die folgende Definition von R. Asanger und G. Wenninger aus dem Handwörterbuch Psychologie zeigt: Das menschliche Gedächtnis ist kein passiver Informationsspeicher, sondern aktives Organ der Informationssuche, der Bildung von Erwartungen, der Verarbeitung und Nutzung von Informationen für Verhaltensentscheidungen. Aufbewahrt werden keineswegs nur Erscheinungen der äußeren, perzeptiv wahrnehmbaren Realität, sondern ebenso Prozeßstrukturen für Handlungen, kognitive Operationen oder Strategien. Das Gedächtnis ist nicht nur Resultat, sondern gleichermaßen Mittel der Erkenntnis. 22 Die im Gedächtnis gespeicherten Wahrnehmungen und Erinnerungen formen einen „[…] stream of consciousness - that flow of perceptions, pur- 20 G. Kebeck: Wahrnehmung. Theorien, Methoden und Forschungsergebnisse der Wahrnehmungspsychologie. (1997), S. 196. 21 Ebd., S. 195f. Nach dieser Auffassung ist ‚Wahrnehmung’ die Bereitstellung von Interpretationen für die ankommende sensorische Information, Erinnern ist das Wiedergewinnen dieser Interpretation. 22 F. Klix: „Gedächtnis.“ (1994), S. 113. <?page no="142"?> 142 poseful thoughts, fragmentary images, distant recollections, bodily sensations, emotions, plans, wishes, and impossible fantasies - […] our experience of life, our own personal life, from its beginning to its end.“ 23 Doch stellt dieser ‘Bewusstseinsstrom’ der menschlichen Erinnerungen keine authentische Abbildung einst erlebter Wirklichkeit dar, sondern das menschliche Gedächtnis nimmt immer schon eine Selektion der eintreffenden Informationen nach ihrem emotionalen Gehalt vor: so werden Erlebnisse, die den Menschen besonders berührt haben, eher aufbewahrt als jene, die ihm gleichgültig waren. Nach dem heutigen Kenntnisstand der Psychologie lassen sich folgende drei Gedächtnistypen unterscheiden: das Ultrakurzzeitgedächtnis, das Kurzzeitgedächtnis sowie das Langzeitgedächtnis. 24 Im Gegensatz zu den ersten beiden Gedächtnistypen, welche die ankommende Information nur für kurze Zeit und zu einem begrenzten Zweck speichern, dient das Langzeitgedächtnis als Wissensspeicher, der „das individuelle Wissen über die Welt und ihre Zusammenhänge“ enthält. 25 Die Speicherung erfolgt in Form von Begriffen sowie in den semantischen Relationen zwischen ihnen, wobei […] bei höher entwickelten Organismen die Informationsspeicherung meist kein rein assoziativer Vorgang [ist, sondern] vielmehr ein integrativer Prozeß, d.h. neu hinzukommende Informationen werden auf der Basis von Klassifikationskriterien in den bereits vorhandenen Informationsbestand des Gedächtnisses regelhaft eingeordnet. 26 Die hinzukommenden Informationen werden aufgrund von bereits erworbenem Wissen sowie aufgrund von individuellen Werten in den existierenden Gedächtnisbestand eingegliedert. Dieser unterteilt sich wiederum in einen instrumentellen sowie in einen erkenntnistheoretischen Bestand. 27 Der instrumentelle Gedächtnisbestand ermöglicht die Orientierung in der sozialen Umwelt und die Bewältigung der allgemeinen Lebensaufgaben sowie die Beherrschung der natürlichen Sprache und ihrer Syntax. Hingegen umfasst der epistemische Teil des Gedächtnisses „[…] objektbezogen den gesamten Bestand an positivem Wissen über die Objektwelt, subjektbezogen die Gesamtheit an terminal bzw. zeitlich (zumeist vage) strukturierten Lebenserinnerungen […].“ 28 Hier finden sich demnach die biographischen bzw. episodischen Erinnerungen des Menschen, welche 23 K.S. Pope und J.L. Singer: „Introduction: The flow of human experience.“ (1978), S. 1. 24 F. Klix: „Gedächtnis.“ (1994), S. 213. Vgl. ebenso F.C. Schubert: „Gedächtnis.“ (1976), S. 690. 25 F. Klix: „Gedächtnis.“ (1994), S. 214. 26 o. N.: „Gedächtnis.“ (1995), S. 164. 27 Ebd. 28 Ebd. <?page no="143"?> 143 Informationen über Personen, Fakten, Erlebnisse, Lebensumstände und -ereignisse beinhalten. 29 Diese präsentieren sich jedoch keinesfalls so detailgenau wie ein photographisches oder filmisches Abbild, sondern besitzen einen äußerst episodischen und fragmentarischen Charakter. 30 Dabei beruht die spezifische Lückenhaftigkeit des Gedächtnisses auf der unbewussten Auswahl von Erinnerungen durch das Individuum, um sich z.B. vor sich selbst in einem bestimmten Licht darzustellen: „As we shall see, however, it may be an important feature of autobiographical memories that they are never true in the sense that they are literal representations of events, and in this respect it makes little sense to ask whether an autobiographical memory is true or false.“ 31 Das Wissen über die eigene Vergangenheit bzw. über die eigene Person ist „subjektiv emotional“ 32 besetzt: Indem man die eigene Person wertschätzen möchte, ist das autobiographische Gedächtnis nicht nur an reinen Lebensfakten orientiert, sondern zugleich an einer fortwährenden „Lebensbilanzierung“. 33 Der Mensch ist nicht in der Lage, objektiv über sich selbst zu urteilen. Darüber hinaus nimmt das biographische Gedächtnis laufend Interpretationen von Ereignissen, sinnlichen Wahrnehmungen, Gedanken, Wünschen oder Imaginationen vor. 34 Neben der Speicherung von Wahrnehmungen und Wissen existieren verschiedene Möglichkeiten ihrer nachträglichen Wiedergabe. Für den späteren Zugriff auf frühere Erlebnisse und Erfahrungen ist das Langzeitgedächtnis zentral; bei diesem sind zwei verschiedene Erinnerungsebenen zu unterscheiden: Während auf der Retentionsebene die Erinnerungen langfristig und in der Regel auch problemlos abrufbar deponiert sind, dient die Reproduktionsebene der - soweit möglich - bewussten Wiedervergegenwärtigung derjenigen Erinnerungen, die zuvor auf der Retentionsebene deponiert worden sind. 35 Hier lassen sich nun zwei Erinnerungsformen unterscheiden: Auf der einen Seite erfolgt die Reproduktion in Form wahrnehmungsanaloger Vorstellungen und wird deshalb auch als modale Reproduktionsform bezeichnet, auf der anderen Seite erfolgt sie in amodaler, sprachgebundener Form, auch als nominale Reproduktionsform bezeichnet. Beide Reproduktionsformen sind asymmetrisch: alles was [sic] in modaler Form reproduziert werden kann, kann 29 o. N.: „Gedächtnis.“ (1995), Vgl. ebenso M.A. Conway: Autobiographical memory. An introduction. (1990), S. 2f. 30 M.A. Conway: Autobiographical memory. An introduction. (1990), S. 2. 31 Ebd., S. 9, 11. 32 o. N.: „Gedächtnis.“ (1995), S. 164f. 33 Ebd., S. 165. 34 M.A. Conway: Autobiographical memory. An introduction. (1990), S. 9. 35 o. N.: „Gedächtnis.“ (1995), S. 166. <?page no="144"?> 144 auch in nominaler Form, d.h. im Medium der natürlichen Sprache, reproduziert werden, aber nicht umgekehrt. 36 Eine Erinnerung analog zur früheren Wahrnehmung gelingt nur dann, wenn sie einst durch den visuellen oder auditiven Sinn erfasst wurde; für alle anderen Wahrnehmungen existieren keine analogen Reproduktionsformen. So können abstrakte oder verborgene - d.h. nicht mit den Sinnen erfassbare - Eigenschaften der äußeren Welt nur in nominaler, also sprachgebundener Form reproduziert werden. 37 Von Bedeutung ist auch, dass vor der Reproduktion einer Erinnerung erst die Stimulation durch einen äußeren Reiz erfolgen muss. 38 Dagegen besteht auf der Retentionsebene, auf der alle Erinnerungen langfristig und in der Regel auch abrufbar gespeichert sind, als weitere Form der Erinnerung die Rekognition, das Wiedererkennen von Wahrnehmungen. Doch auch diese kann nur gelingen, wenn ein Reiz phänomenal, also sinnlich, präsent ist: „Durch die Reizpräsenz werden dann die entsprechenden Gedächtnisinhalte reaktiviert und gelangen beim Menschen in phänomenaler oder nominaler Form auf die Reproduktionsebene.“ 39 Die auf der Retentionsebene langfristig gelagerten Erinnerungsbestände gliedern sich wiederum in einen Aktiv- und in einen Residualbestand. 40 Der Aktivbestand umfasst die Gedächtnisinhalte, die ständig für Handlungen benötigt werden (z.B. die Syntax der natürlichen Sprache). Hingegen gehören zum Residualbestand diejenigen Erinnerungen, die nie oder nur selten für mentale Operationen benötigt werden; sie liegen gewissermaßen im Ruhezustand und können, wenn überhaupt, nur durch Reize reaktiviert werden. In diesem Sinne bedeutet ‘Vergessen’, dass die Erinnerungen zwar noch im Gedächtnis vorhanden sind, jedoch keine Zugriffsmöglichkeit mehr besteht. 41 Eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Vergessen ist die Modifikation der Erinnerungen. So entscheiden „einstellungsmäßige, emotionale und motivationale Faktoren“ 42 darüber, wie lange etwas behalten wird. Der Grund für die Veränderung von Erinnerungen liegt darin, dass das menschliche Gedächtnis laufend eine ‘schöpferische Rekonstruktion’ vornimmt. Diese erfolgt nach den Prinzipien der Rationalisierung und Konventionalisierung sowie unter dem Einfluss emotionaler Faktoren 36 o. N.: „Gedächtnis.“ (1995), S. 166. 37 Ebd. 38 Ebd., Ebenso o. N.: „Memory of things remembered... and forgotten.“ (1992), S. 223. 39 o. N.: „Gedächtnis.“ (1995), S. 166. 40 Ebd. 41 Ebd. Man nimmt an, dass Informationen, wenn sie einmal ins Gedächtnis aufgenommen wurden, in diesem auch permanent verbleiben, selbst wenn sie reproduktiv, kognitiv oder reaktiv nicht mehr zugänglich sind. 42 F.C. Schubert: „Gedächtnis.“ (1976), S. 692. <?page no="145"?> 145 (Wünsche, Befürchtungen etc.) und hat die Vermeidung von Widersprüchen bzw. die nachträgliche Sinnverleihung zum Ziel. 43 In der Psychologie versucht man das Funktionieren der Erinnerung vor allem mittels des hypothetischen Konstrukts der Assoziation zu erklär[en], weitere entscheidende Faktoren sind logische Beziehungen und Sinnzusammenhänge innerhalb der Gedächtnisinhalte, der motivationale und emotionale Zustand des Organismus’ (assoziatives, ‘mechanisches’ und logisches ‘Sinn’- Gedächtnis). 44 So führen die Ähnlichkeiten zwischen einem aktuellen äußeren Reiz und einer vergangenen Wahrnehmung dazu, dass frühere Erlebnisse erinnert werden. Weitere Auslöser von Erinnerungen können kausale Sinnzusammenhänge sowie die motivationale Bereitschaft sein, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinander zu setzen. Wie noch zu zeigen sein wird, ist auch für die Erinnerungspoetik von La Route des Flandres die Frage nach der Möglichkeit eines retrospektiven, erinnernden Zugriffs auf die vergangene individuelle Wirklichkeit zentral; diese steht im Roman immer auch im Kontext mit dem produktiven und interpretativen Wirken des Gedächtnisses und dadurch mit dem Scheitern der Erinnerung an ‚authentische’ frühere Wahrnehmungen. 4.2.3 ‚Wahrnehmung’ und Phänomenologie Neben Wahrnehmungs- und Gedächtnispsychologie stellen insbesondere die phänomenologischen Überlegungen M. Merleau-Pontys einen weiteren theoretischen Kontext dar, in den die Erinnerungs- und Wahrnehmungsthematik von Simons La Route des Flandres einzuordnen ist und in dem sie womöglich auch ihren Ursprung hat. 45 Als Begründer der Phänomenologie - jedoch nicht als ihr Namensgeber - wird allgemein Edmund Husserl angesehen, der in der Nachfolge der Philosophie Kants 46 eine „Korrelation von Bewusstsein und Welt“ an- 43 F.C. Schubert: „Gedächtnis.“ (1976), S. 692. Vgl. ebenso o. N. N.: „Memory of things remembered... and forgotten.“ (1992), S. 233. 44 F.C. Schubert: „Gedächtnis.“ (1976), S. 694. 45 Im Folgenden sollen einige zentrale Thesen M. Merleau-Pontys kurz vorgestellt und ihre Relevanz für die in La Route des Flandres entworfene Wahrnehmungs- und Sprachtheorie skizziert werden. 46 Laut Kant ist die Erkenntnis „[…] das Resultat der gegenseitigen Beeinflussung von Subjekt und Objekt. Die Dinge wirken auf unsere Sinne ein und werden damit zur Quelle der Sinneseindrücke, liefern uns also auf diese Weise das Material für die Erkenntnis. Aber die Form der Erkenntnis hängt von den subjektiven Eigenschaften des erkennenden Subjekts ab, vor allem von der spezifischen Organisation des Sinnesapparats. Die Quelle der Erkenntnis liegt also außerhalb von uns, die Erkenntnis selbst aber hat subjektiven Charakter.“ Die Welt wird vom Individuum demnach nicht so erkannt, wie sie ihrem ‚Wesen’ nach ist - Kant unterscheidet daher auch die Erschei- <?page no="146"?> 146 nimmt: „So ist alles raum-zeitliche Sein der Wirklichkeit nur insofern, als es auf ein erfahrendes, wahrnehmendes, denkendes, sich erinnerndes Bewußtsein bezogen ist.“ 47 M. Merleau-Ponty 48 erweitert in der Auseinandersetzung mit seinem Vorgänger Husserl dieses Konzept der Phänomenologie noch um das Motiv der ‚Leiblichkeit’: der Leib stellt „[…] die Bedingung der Möglichkeit aller Wahrnehmung, [die] notwendige Grundlage unseres Zur-Welt-Seins […]“ dar. 49 Einen zentralen Platz in der phänomenologischen Theorie Merleau-Pontys nimmt das Verhältnis zwischen Individuum und (äußerer) Welt ein: Für ihn konstituiert sich die Welt durch die Interaktion von subjektivem ‚Empfinden’ - gemeint ist die Wahrnehmung der Welt mit den Sinnen - und dem Wahrgenommenen. Die äußere Welt, wie sie dem Individuum erscheint, ist demnach in weiten Teilen nur subjektiv fassbar. 50 Die nungen (phaenomena) vom Wesen der Dinge (noumena). (A. Schaff: Einführung in die Erkenntnistheorie. (1984), S. 60.) 47 P. Prechtl: „Phänomenologie.“ (1999), S. 435. 48 Der Umfang der vorliegenden Arbeit verbietet die ausführliche Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Theorie M. Merleau-Pontys, welche zudem auch inhaltlich zu weit führen würde. 49 P. Prechtl: „Phänomenologie.“ (1999), S. 436. Vgl. M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm. (1966), S. 169: „Nicht also dürfen wir sagen, unser Leib sei im Raume, wie übrigens ebensowenig, er sei in der Zeit. Er wohnt Raum und Zeit ein.“ Zur spezifischen Wahrnehmung (hier der eigenen Bewegung) des Leibes, vgl. S. 170: „Die Bewegungserfahrung unseres Leibes ist kein Sonderfall einer Erkenntnis; sie eröffnet uns eine Weise des Zugangs zur Welt und zu Gegenständen, eine ‚Praktognosie’, die es als eigenständig, ja vielleicht als ursprünglich anzuerkennen gilt. Mein Leib hat seine Welt oder begreift [comprend] seine Welt, ohne erst den Durchgang durch ‚Vorstellungen’ zu nehmen oder sich einer ‚objektivierenden’ oder ‚Symbol-Funktion’ unterordnen zu müssen.“ 50 „Dem Sehen bereits wohnt ein Sinn inne, der ihm seine Funktion im Anblick der Welt wie in unserer Existenz zuweist. Ein reines quale könnte uns nur gegeben sein, wäre die Welt ein Schauspiel und der eigene Leib ein Mechanismus, von welchen beiden ein unbeteiligter Geist bloß Kenntnis nähme. Doch das Empfinden verleiht jeder Qualität einen Lebenswert, erfaßt sie zunächst in ihrer Bedeutung für uns, für jene schwere Masse, die unser Leib ist, und so enthält es stets einen Verweis auf unsere Leiblichkeit. Es gilt, diese einzigartigen Bezüge zu verstehen, die die Momente meiner Umgebung miteinander und sie als ganze mit mir als inkarniertem Subjekt verweben und kraft deren ein Wahrnehmungsgegenstand in sich eine ganze Szenerie versammeln, ja die imago eines ganzes Lebensbereiches werden kann. Das Empfinden ist die lebendige Kommunikation mit der Welt, in der diese uns als der vertraute Aufenthaltsort unseres Lebens gegenwärtig ist. Ihm verdanken wahrgenommener Gegenstand und wahrnehmendes Subjekt ihre Dichtigkeit. Das Empfinden ist das intentionale Geflecht, das zu entflechten Sache aller Erkenntnis bleibt.“ (M. Merleau- Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm. (1966), S. 75f.) Vgl. auch ebd. S. 244: „[…] die Wahrnehmung […] gibt sich nicht zunächst als ein Vorkommnis in der Welt, auf das z.B. die Kategorie der Kausalität anzuwenden wäre, sondern als in jedem Augen- <?page no="147"?> 147 Wahrnehmung wird damit zu einem „Grundphänomen“ 51 , das den Kontakt mit der Welt bestimmt. Merleau-Ponty wendet sich mit diesem Postulat gegen die lange Zeit in Wissenschaft und Philosophie verbreitete Überzeugung, dass „[…] das Ding die durch alle individuellen Sinnes- und Wahrnehmungsfelder sich durchhaltende Invariante […]“ 52 sei. Doch überschreitet bereits die Wahrnehmung - und für Merleau-Ponty ist sie fast immer gleichbedeutend mit der visuellen Wahrnehmung - die bloße psychisch-neurologische Rezeption von äußeren Reizen: „[…] einen Gegenstand anblicken, heißt in ihm heimisch werden und von ihm aus alle anderen Dinge nach ihren ihm zugewandten Seiten erblicken.“ 53 Es geht Merleau-Ponty hier um eine gewissermaßen ‚totale’ Sicht auf die Welt: ‚Sehen’ meint implizit immer auch die Wahrnehmung der scheinbar verborgenen Seite der Dinge. So „[ist] der vollkommene Gegenstand gänzlich durchsichtig, allseitig durchdrungen von einer aktuellen Unendlichkeit von Blicken, die sich in seinem Innersten überschneiden und nichts an ihm verborgen lassen.“ 54 Darüber hinaus ist ‚Wahrnehmung’ in einem gewissen Sinne immer schon ‚historisch’, da sie auf früheren Wahrnehmungserfahrungen basiert: „Eine erste Wahrnehmung ohne jeglichen Hintergrund ist undenkbar. Jede Wahrnehmung setzt schon eine bestimmte Vergangenheit des Wahrnehmungssubjekts voraus, und die abstrakte Funktion des Wahrnehmens als Begegnung mit Gegenständen impliziert einen geheimen Akt, durch den wir unsere Umwelt entfalten.“ 55 Schließlich ist auch die Intersubjektivität von Wahrnehmung für die Phänomenologie Merleau-Pontys zentral: „Die wahrgenommene Welt ist nicht nur meine Welt, in ihr sehe ich das Verhalten der Anderen sich abzeichnen, das auf eben diese Welt abzielt, sie ist das Korrelat nicht nur meines Bewußtseins, sondern eines jeden Bewußtseins, das mir je zu begegnen vermag.“ 56 Dies unterscheidet die Wahrnehmung von der Halluzination psychisch Kranker, welche keinen Ort in der „stabilen intersubjektiven Welt“ hat. 57 blicke von neuem die Welt erst schaffend oder rekonstituierend.“ Vgl. hierzu auch B. Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie. (2001), S. 59: „Mit der Verwandlung des Bewußtseins in eine leibliche Existenz, die selbst dem zugehört, was sie konstituiert, ändert sich das transzendentale Gefüge grundlegend.“ 51 B. Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie. (2001), S. 60. 52 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm. (1966), S. 77. 53 Ebd., S. 92. 54 Ebd., S. 93. 55 Ebd., S. 327. 56 Ebd., S. 390. 57 Halluzinationen entstehen aus der Fähigkeit des Leibes, losgelöst von seiner wirklichen Umwelt auf Grund seines Eigengefüges eine Scheingegenwart in dieser Umwelt hervorzurufen. (Ebd., S. 390ff.) <?page no="148"?> 148 Diese spezifische Sicht der Wahrnehmung wirkt in letzter Konsequenz auf die besondere Verfasstheit des Subjekts zurück: „So wie die der Welt ist auch die Einheit des Ich immer nur, jedesmal wenn ich eine Wahrnehmung vollziehe, jedesmal wenn ich eine Evidenz gewinne, eher berufen als erfahren; […]“. 58 Das ‚Ich’ wird so zu einer Erfahrung, das sich vom Tag seiner Geburt an weniger aus immer neuen Empfindungen, Bewusstseinszuständen oder Perspektiven konstituiert, sondern in einer immer neuen Möglichkeit von Situationen. 59 Eine Welt, die allein das Feld der Erfahrung ist und deshalb unvollendet bleibt, und ein Subjekt, das allein eine Sicht der Welt ist, schließen folglich ein konstituierendes Subjekt aus. 60 Merleau-Ponty begreift das Subjekt ebenso wenig wie die Welt nicht als stabile, in sich konsistente Einheiten, sondern als situationsbedingt bzw. nur subjektiv erfahrbar. Auch in La Route des Flandres nimmt die Phänomenologie der Wahrnehmung einen zentralen Raum ein. Wie noch zu zeigen sein wird, basiert Georges’ Rekonstruktion seiner eigenen Vergangenheit während des Flandernfeldzugs nahezu ausschließlich auf seinen früheren Sinneswahrnehmungen. Dabei steht wiederholt die Frage im Mittelpunkt, inwiefern sich aus der eigenen Erinnerung ein objektives Bild vergangener Realität konstruieren lässt. In den Gesprächen mit Blum wird zudem die von Merleau-Ponty postulierte Intersubjektivität der Weltwahrnehmung diskutiert: Georges und Blum sind sich, da sie unterschiedliche frühere Erfahrungen gemacht haben bzw. unterschiedliche frühere Wahrnehmungen erinnern, in der verbalen Rekonstruktion der Vergangenheit oftmals uneins. Ein weiterer für die Poetik von La Route des Flandres relevanter Bereich von Merleau-Pontys phänomenologischer Theorie befasst sich mit dem Verhältnis von ‚Leib’ und Sprache: „Die Sprache setzt nicht das Denken voraus, sondern vollbringt es“. 61 Das Wort ist demzufolge kein bloßes Zeichen für Gegenstände und Bedeutungen, sondern wohnt den Dingen selbst 58 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm. (1966), S. 462. 59 Ebd., S. 463. Vgl. auch S. 464: „Das Subjekt ist aber in Situation, es ist selbst nichts anders als eine Möglichkeit von Situationen, weil es seine Selbstheit nur verwirklicht als wirklich Leib seiendes und durch diesen Leib in die Welt eingehendes. Reflektierend über das Wesen der Subjektivität, finde ich dieses gebunden an das des Leibes und das der Welt, weil meine Existenz als Subjektivität eins ist mit meiner Existenz als Leib und mit der Existenz der Welt und letztlich das Subjekt, das ich bin, konkret genommen untrennbar ist von diesem Leib hier und dieser Welt hier. Welt und Leib im ontologischen Sinn, wie sie uns im Innersten des Subjekts selber begegnen, sind nicht die Welt in der Idee und der Leib in der Idee, sondern die Welt selbst, wie sie sich in einen umfassenden Anhalt zusammengezogen findet, und der Leib selbst als erkennender Leib.“ 60 Ebd., S. 462. 61 Ebd., S. 210. <?page no="149"?> 149 inne und bringt Bedeutungen überhaupt erst zum Tragen: „So ist für den Sprechenden das Wort nicht bloße Übersetzung schon fertiger Gedanken, sondern das, was den Gedanken erst wahrhaft vollbringt.“ 62 Auch hier findet sich erneut eine Verbindung zwischen der Phänomenologie Merleau-Pontys und Simons Text: In La Route des Flandres erweist sich die binnenfiktionale Realität als Produkt von Worten. Georges’ eigene Versuche, die Vergangenheit zu rekonstruieren, beruhen größtenteils auf Sprache, auf seiner Auseinandersetzung mit der Repräsentationsfähigkeit von Worten. Doch auch im Gespräch der verschiedenen Romanfiguren wird Realität konstruiert, sei es in den Dialogen zwischen Blum und Georges oder in den eingehenden Befragungen Iglésias im Gefangenenlager. 4.3 Rekonstruktion und Destruktion der Erkenntnis vergangener Wirklichkeit In La Route des Flandres kreist - wie im vorigen Kapitel bereits angedeutet wurde - Georges’ Denken um die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer zuverlässigen, objektiven Wahrnehmung der eigenen Umwelt sowie um die Vergeblichkeit, nachträglich, in der Erinnerung dieser Wahrnehmungen, sicheres Wissen über die Vergangenheit zu erlangen. Der Roman schreibt sich mit dieser Thematik ein in den zum Zeitpunkt seines Erscheinens im Umkreis des Nouveau Roman verbreiteten Diskurs der Phänomenologie M. Merleau-Pontys bzw. des reflexiven Realismus 63 . In Simons Roman lassen sich verschiedene ‚Speicher’ vergangener Wirklichkeit unterscheiden: Zu diesen zählen zunächst die individuellen, ganz persönlichen Erinnerungen des Protagonisten Georges an seine Erlebnisse in der Kindheit, während des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Diese werden von ihm in Gestalt der Wahrnehmungen evoziert, die er an einem bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Zeit der Vergangenheit registriert hat. Ferner dienen auch externe Speicher wie Texte oder Bilder dazu, einen bestimmten Moment der Vergangenheit zu bewahren und zu tradieren. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie sich im Text ein Wechsel aus Diskurs und Gegendiskurs etabliert: Zum einen verfügt Georges über scheinbar zuverlässige Quellen, aus denen sich sein Wissen sowohl über die eigene Vergangenheit als auch über die seiner Familie zusammensetzt; es handelt sich dabei vor allem um erinnerte visuelle, auditive und taktile 62 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm. (1966), S. 211. 63 W. Wehle: „Proteus im Spiegel. Zum ‘reflexiven Realismus’ des Nouveau Roman (Statt einer Einleitung).“ (1980), S. 10, definiert als ‚reflexiven Realismus’ die „Selbstthematisierung der eigenen wirklichkeitsbildenden Funktion“. <?page no="150"?> 150 Wahrnehmungen sowie um verschiedene Gemälde, die einen Ahnen, den Revolutionsgeneral Reixach, und seine Frau darstellen. In der Evozierung dieser ihm zunächst als ‚sicher’ erscheinenden Quellen betont Georges oftmals explizit ihre Zuverlässigkeit und ihre besondere Bedeutung als Basis sicherer Erkenntnis. Zum anderen zieht er seine Quellen - seien es nun seine früheren persönlichen Sinneswahrnehmungen oder fremde Quellen wie Texte und Gemälde - zunehmend in Zweifel: er erkennt, dass diese ihm aus verschiedenen Gründen nur ein unzulängliches Abbild der (vergangenen) Realität übermitteln können und dass ihm daher sicheres Wissen über die Vergangenheit verwehrt bleiben muss. 4.3.1 Visuelle, auditive, olfaktorische und haptisch-taktile Sinneswahrnehmungen als Quellen des individuellen Gedächtnisses In seinem Erinnerungsprozess greift Georges auf die verschiedensten früheren Sinneswahrnehmungen 64 zurück; zu diesen zählen - in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit - visuelle, auditive, haptisch-taktile, olfaktorische sowie gustatorische Wahrnehmungen. Erinnerungen visueller Art werden von Georges in der Regel mit „je pouvais voir“, „je l’ai vu“, oder „je vis“ eingeleitet. 65 Auditive Wahrnehmungen werden durch „bruit“, „rumeur“ 64 Den folgenden Ausführungen soll die in der Psychologie etablierte Unterscheidung zwischen Sinnesempfindungen (sensations) und Wahrnehmungen (perceptions) zugrunde gelegt werden: Empfindung ist der elementare Prozess der Reizaufnahme und -registrierung; z.B. das Sehen der Farbe orange. Wahrnehmung ist demgegenüber der höhere Prozess der Organisation und Interpretation der Reizinformation, z.B. das Sehen einer Orange als Objekt, vielleicht sogar als eines essbaren Objekts. In diesem Sinne handelt es sich bei dem von Georges Erinnerten immer schon um Sinneswahrnehmungen. (R. Oerter und L. Montada (Hgg.): Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch. (1998), S. 488.) 65 RF, 9, 12, 13, 16, 25 etc. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich durch das Vorherrschen der visuellen Wahrnehmung der gesamte Roman strukturell als „composition par tableaux“ präsentiert (W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 41.). Die Folge dieser besonderen Struktur ist laut S. Sykes, dass die Linearität der Zeit durch die Kontiguität der Erinnerungsbilder („tableaux“) zerstört werde (S. Sykes: „1960. La Route des Flandres: le texte assassin.“ (1979), S. 62). Der Text selbst kommentiert darüber hinaus metanarrativ dieses Kompositionsprinzip: „Et cherchant (Georges) à imaginer cela: des scènes, de fugitifs tableaux printaniers ou estivaux, […]“ (RF, 45). A. Duncan weist auf die herausragende Stellung der visuellen Sinneswahrnehmungen im Erinnerungsprozess hin (A.B. Duncan: „Introduction.“ (2006), S. XVII). Simons Erinnerungspoetik unterscheidet sich in dieser Hinsicht von der „Mnemopoetik“ Prousts, der in Abkehr von der visuell ausgerichteten Mnemotechnik der Antike den anderen, scheinbar weniger ‚scharfen’ Sinnen wie dem Gehörsinn, dem Geruchssinn, dem Geschmackssinn und dem Tastsinn den Vorzug bei der Rekonstitution der Ver- <?page no="151"?> 151 oder „vacarme“ umschrieben, während von Personen oft nur die Stimme erinnert wird. 66 Taktile bzw. sensible Sinneseindrücke werden von Georges als „sentir“, „par le toucher“, „toucher“, „tâtonner“ erinnert. 67 Dagegen evoziert er olfaktorische Erinnerungen als „puanteur“, „odeur“, „sentir“, „exhalaison“, „parfum“ oder auch „senteur“ 68 , während gustatorische Perzeptionen als „goût“ bzw. „relent“ 69 bezeichnet werden. Georges zeigt sich von der Macht seiner Wahrnehmungen überzeugt, ihm Aufschluss über die ihn umgebende Realität zu geben. So hofft er in betrunkenem Zustand während der Flucht nach dem Debakel im Hohlweg, dass ihm die Analyse seiner Wahrnehmungen bei seiner Fortbewegung behilflich sein werde: „[…] pensant que si j’arrivais à fixer classer mes perceptions j’arriverais aussi à ordonner et diriger mes mouvements […]“ (RF, 194). Insbesondere die haptisch-taktilen Sinneswahrnehmungen zeichnen sich für ihn dadurch aus, dass sie ihm ein adäquates Abbild der Wirklichkeit vermitteln und ihm auf diese Weise Erkenntnis über die Vergangenheit ermöglichen. Dies gilt in besonderem Maße für seine Liebesaffäre mit Corinne, durch die er die ‚wahre’ Corinne zu erkennen sowie Wissen über ihre Vergangenheit zu erlangen hofft: „[…] et elle maintenant non plus inventée […], mais telle qu’il pouvait la voir maintenant, réellement devant lui, pour de vrai, puisqu’il pouvait (puisqu’il allait) la toucher […]“ (RF, 217). Der langersehnte Vollzug des Liebesaktes mit Corinne soll ihm schließlich Aufschluss darüber geben, ob sie tatsächlich - wie von ihm und Blum während des Krieges und der Gefangenschaft phantasiert - mit Iglésia bzw. mit zahllosen weiteren Männern zusammen gewesen ist. 70 Jedoch verlässt sich Georges dabei - darin Prousts Marcel ähnelnd - weniger auf seine visuellen Eindrücke, sondern erforscht Corinne mit seinen anderen Sinnen, vor allem mit dem Tast- und Geschmackssinn: „[…] mes mains ma langue pouvant la toucher la connaître m’assurer, mes mains aveugles rassurées la touchant partout courant sur elle son dos son ventre […]“ (RF, 242). 71 Während der Tastsinn Georges also ein genaues Abbild der Wirklichkeit zu vermitteln vermag und die so gewonnenen Wahrnehmungen eine sichere Erkenntnis begründen, hat der visuelle Sinn die Macht, ihm die Realität zur Kenntnis zu bringen, ohne dass notwendigerweise ihr Abbild auf seiner Netzhaut erscheinen muss, wie er es am Beispiel des Vaters ergangenheit gegeben hat (H. Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. (2005), S. 189f.). 66 RF, 28f., 32, 233 etc.; Stimme: 17, 19, 33. 67 Ebd., S. 30, 71, 77, 237 etc. 68 Ebd., S. 12, 19, 62, 101, 211, 242 etc. 69 Ebd., S. 91, 112 etc. 70 Ebd., S. 246, 275. 71 Ebenso ebd., S. 243ff., 259. <?page no="152"?> 152 lebt: „Mais Georges n’allait même plus jusqu’au kiosque à présent, se contentant de le défier, de l’épier sans même le regarder (car il n’en avait pas besoin, il n’avait pas besoin de se servir de ses yeux pour cela, pouvant voir sans avoir besoin que l’image s’en imprime sur sa rétine […]“ (RF, 219). Im Falle des Vaters, der inmitten seiner Papiere in seinem Pavillon sitzt, hat sich das immergleiche Bild in Georges’ Gedächtnis eingebrannt, so dass er auch ohne erneuten Sinnesreiz die erinnerte Wahrnehmung der massigen Gestalt evozieren kann. 72 Es sind also weniger der Seh- und Hörsinn als der Tast- und Geschmackssinn, die Georges ein adäquates Abbild der Wirklichkeit liefern. 4.3.2 Schrift- und Bildzeichen als Quellen des kollektiven Gedächtnisses Neben den individuellen Sinneswahrnehmungen kann Georges bei der Erforschung der Vergangenheit auch auf im kulturellen Gedächtnis 73 Ge- 72 Auch der Vater selbst ist in der Lage, ohne eigentliches Sehen Kenntnis von seiner Umwelt zu erlangen; so weiß er im Dunkeln von der Existenz seiner beschriebenen Papiere, ohne sie jedoch tatsächlich noch erkennen zu können: „[…] comme dans sa nuit un aveugle sait - connaît - l’existence des murs protecteurs, de la chaise, du lit, encore qu’il puisse au besoin les toucher pour éprouver la certitude de leur présence […]“ (RF, 230). Über ähnliche Fähigkeiten scheint paradoxerweise - sie bewegt sich in einem ihr unbekannten Raum - auch Corinne zu verfügen, wenn sie beim übereilten Aufbruch aus dem Hotel im Dunkeln ihren Besitz zusammenrafft und dabei von Georges mit einer Katze verglichen wird: „[…] peut-être y voyait-elle dans l’obscurité comme les chats […]“ (RF, 276). Im Gegensatz dazu erkennt Georges nur ihren Umriss und hört die ihr Packen begleitenden Geräusche; er ist gezwungen, sich auf das auditiv Wahrgenommene zu beschränken und die Handlungen Corinnes zu erraten (RF, 277f.). 73 Diese von M. Halbwachs erstmals beschriebene Variante des kollektiven bzw. sozialen Gedächtnisses zielt darauf ab, das in einer Gruppe zirkulierende Wissen über lange Zeiten und/ oder weite Entfernungen zu transportieren; mit der Erfindung der Schrift wurde das zuvor kollektive Gedächtnis ‚externalisiert’ und damit ‚kulturell’. Das kollektive Wissen wurde nun nicht mehr mündlich oder in Form von Riten und Symbolen von einer Generation an die nächste tradiert, sondern konnte in unveränderter Form aufbewahrt und an zukünftige bzw. räumlich entfernte Gruppen übergeben werden (J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. (2005), S. 21ff.). Während seit der Renaissance die Schrift im Gegensatz zu den Bildern als zentrales kulturelles Massen- und Speichermedium galt, da nur sie eine getreue Wiedergabe und stabile Konservierung der Originale leisten kann, beginnt die Aufwertung des Bildes als Speichermedium erst im 20. Jahrhundert mit seiner Entdeckung als geschichtliche Quelle durch zeitgenössische Historiker wie Reinhart Koselleck, Pierre Nora und Lutz Niethammer. (A. Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. (2006), S. 218f.) Man sieht in ihnen „[…] ein ursprüngliches, weil unbearbeitetes Rohmaterial für Erinnerungen und damit so etwas wie einen harten Kern des Gedächtnisses […]“ bzw. einen „Träger des kulturellen Unbewussten“, da sie in ihrer spezifischen <?page no="153"?> 153 speichertes zurückgreifen; als Speichermedien dienen insbesondere die Schrift und das Bild. Auch in La Route des Flandres spielen die genannten Speicher des kulturellen Gedächtnisses eine wichtige Rolle: So wird intertextuell auf verschiedene Texte verwiesen, die Georges als Quellen bei seiner Rekonstruktion der Geschichte des Ahnen dienen. Hierzu zählen die vom Revolutionsgeneral Reixach hinterlassenen Dokumente, die in das Familienarchiv eingegangen sind, sowie das Werk Jean-Jacques Rousseaus, das allem Anschein nach den wichtigsten Lektüregegenstand des Ahnen dargestellt hat. Ferner finden sich verschiedene intermediale Verweise auf Gemälde und Gravüren, die Personen und Ereignisse aus der Familiengeschichte repräsentieren. Es sind dies insbesondere die Portraits des Generals und seiner Frau Virginie sowie ein Gemälde, das den Sieg der französischen Revolutionsarmee über die feindlichen spanischen Truppen darstellt. 4.3.2.1 Schriftzeichen: die Dokumente des Generals Reixach und das Werk Jean-Jacques Rousseaus Bei seiner Suche nach den Gründen für den unerklärlichen Tod seines Vorgesetzten und entfernten Verwandten, des Capitaine de Reixach, ‚entdeckt’ Georges auch Parallelen zu einem ähnlich gelagerten ‚Fall’ aus der Familiengeschichte. Auch im 18. Jahrhundert kam ein Revolutionsgeneral der Familie auf unerklärliche Weise ums Leben - er wurde laut der Familienlegende erschossen und nackt vor dem Kamin liegend aufgefunden (RF, 82). Im Laufe seines Erinnerungsprozesses, der auch der Aufklärung des Rätsels um den Tod des Ahnen dienen soll, evoziert Georges in der Erinnerung die Schriften des Vorfahren, die im Besitz der Familie verblieben und ihm eines Tages von seiner Mutter gezeigt worden sind: Et il lui semblait voir les feuillets, les paperasses jaunies que Sabine lui avait montrées un jour, religieusement conservées dans une de ces malles poilues comme on en trouve encore dans les greniers, et qu’il avait passé une nuit à parcourir, obligé de se moucher toutes les cinq minutes à cause de la poussière qui lui desséchait le nez (actes notariés à l’encre blanchie, contrats de mariage, cessions, achats de terre, testaments, brevets royaux, ordres de missions, décrets de la Convention, lettres avec leurs cachets de cire brisés, liasses d’assignats, factures de bijoutiers, relevés de redevances féodales, rapports militaires, instructions, actes de baptême, déclarations de décès, de sépulture : sillage de débris surnageants, morceaux, parchemins […]) et parmi lesquelles se trouvait un épais cahier à couverture bleue, râpée, fermée par des rubans vert olive, dans les pages duquel l’un des lointains ancêtres […] avait accumulé un effarant mélange de poèmes, digressions philosophiques, projets de tragédies, relations de voyages, dont il pouvait se rappeler mot pour mot certains titres (« Bouquet envoyé à Intransparenz als „unmittelbarer Niederschlag eines Affekts bzw. des Unbewussten“ gedeutet werden (Ebd., S. 219f.). <?page no="154"?> 154 une Vieille Dame qui dans sa jeunesse sans être jolie avait fait des passions ») ou certaines pages […] (RF, 51f.). Auch wenn der Verfasser der Dokumente nicht explizit genannt wird, stellt doch Georges selbst die Verbindung zu der tragischen Figur des Generals Reixach her, wie die Sammlung von Gedichten, philosophischen Gedanken und Entwürfen zu Tragödien zeigt. Dabei nimmt insbesondere eine aus dem Italienischen übersetzte Beschreibung einer Gravüre, die einen weiblichen Zentauren zeigt, eine zentrale Stellung sowohl im Text ein als auch bei Georges’ Versuch, den Tod seines Vorfahren aufzuklären: Zum einen etabliert die Beschreibung des abgebildeten weiblichen Zentauren eine Verbindung zum Ehebruchmotiv des Romans, da die sexuelle Begegnung zwischen Corinne und Iglésia immer mit dem Beschälen und dem Reiten der Pferde verglichen wird. 74 Der weibliche Zentaur symbolisiert folglich die Hybridität Corinnes, die ebenfalls - in Georges’ Imagination - menschliche und tierische Merkmale in sich vereint. Zum anderen stellt der Kennerblick des Verfassers, mit dem er den Zentaur und vor allem seine Pferdeattribute beschrieben hat, die Nähe zum General Reixach her, der ebenfalls Ähnlichkeiten mit einem „étalon“ (RF, 53) aufweist bzw. als „chevalin“ (RF, 54) eingeführt wird. Somit besitzt der aus dem Italienischen übersetzte Text aus dem Archiv des Generals die Funktion einer ‚Weiche’ in Georges’ Erkenntnisprozess; er vereinigt in sich wichtige Motive der verschiedenen Binnenerzählungen sowie zentrale Attribute verschiedener Figuren des Romans. Darüber hinaus verfügt der Text über den Status eines innerhalb der Fiktion realen Objekts, kann sich Georges doch noch „mot pour mot“ an die betreffenden Seiten erinnern, die dann - als Mimesis des in Georges’ Bewusstsein vorhandenen Erinnerungsbildes - typographisch wie das ursprüngliche Original im Text abgebildet werden (RF, 52f.). 75 74 Vgl. RF, 129, 136f., 140f., 145, 266f., 279. 75 Der Übersetzung aus dem Italienischen kommt darüber hinaus noch eine explizit metanarrative Funktion zu, spiegelt sie doch zentrale thematische und narrative Elemente des umgebenden Textes wider. Zugleich reflektiert der Text auch seine eigene Struktur und seinen eigenen Inhalt. Erstens: Er spiegelt den Inhalt des gesamten Romans, da auch hier eine Metamorphose der Romanfiguren in Pferde bzw. andere Tiere stattfindet (Vgl. u.a. S. 12, 69 (de Reixach „homme-cheval“), 85 (de Reixach „canard“), 42 (Iglésia „bec“), 51 (de Reixach „pur-sang“), 54, 183 (Reixach „chevalin“/ “pur-sang“), 130f., 174 (Corinne „animal“/ “pouliche“/ “l’alezane-femme“). Zweitens: Auf der discours-Ebene kommt es zu Vermischungen, wenn sich die Übergänge zwischen den einzelnen Episoden in Form von assoziativen Überblendungen vollziehen. Ferner ist auch die Erzählerfigur in La Route des Flandres hybride, indem sie zwischen einem ‘Ich’ und einem ‘Er’ wechselt. Drittens: Häufig stimuliert Bildmaterial die Erzeugung der Fiktion. Es kommt daher zu einer impliziten Vermischung von ikonischen und sprachlichen Zeichen. Viertens: Der eingefügte italienische Text ist seinerseits hybrid, da am Ende die Übersetzung ins Französische aufgegeben und stattdessen das Italienische wortwörtlich abgeschrieben wird. Es ver- <?page no="155"?> 155 Eine ähnliche Funktion bei der Erkenntnis der Vergangenheit wie die Dokumente des Generals nimmt auch das von diesem geschätzte Werk Jean- Jacques Rousseaus ein; alle 23 Bände seines Gesamtwerks scheinen sich in seinem Besitz befunden zu haben. Auch hier lässt Georges wenig Zweifel an der realen Existenz der Bücher in der Bibliothek des Generals, da er sich an dessen Schriftzug in einem der Bücher genau erinnern kann: […] un livre peut-être l’un des vingt-trois tomes que remplissait l’œuvre complète de Rousseau et sur la page de garde desquels s’étalait le même paragraphe, la carolingienne, orgueilleuse et possessive écriture calligraphiant à la plume d’oie dont il lui semblait entendre le grincement sur le papier grenu et jauni l’invariable formule : Hic liber - l’H démesuré, emphatique, en forme de deux parenthèses se tournant le dos et reliées par un trait onduleux, les extrémités des parenthèses s’enroulant en colimaçon comme les motifs de ces grilles rongées de rouille qui gardent encore l’entrée de parcs envahis par les ronces -, puis en dessous : pertinetadme, d’un seul tenant, puis, en caractères décroissants, le nom latinisé et sans majuscule : henricum, puis la date, le millésime : 1783. (RF, 78f.) Mag auch die Rahmensituation - der am Kamin sitzende, ein Buch in der Hand haltende General - imaginiert sein, so deutet die Detailgenauigkeit der Besitzerklärung in dem Buch ihre innerhalb der Fiktion ‚reale’ Existenz an. Georges erinnert sich an die vergangene Wahrnehmung der Seite zu einem früheren Zeitpunkt seines Lebens; dieses Gedächtnisbild, das unabhängig von einem momentanen, realen äußeren Reiz vor seinem inneren Auge auftaucht, besitzt dieselben Merkmale wie eine ihm realiter vor Augen stehende Seite. Über diese relativ banale Beziehung des Generals Reixach zu den Werken Rousseaus hinaus konstruieren Blum und Georges noch eine weitere, subtilere Verbindung zwischen den beiden Männern. Auf der Suche nach einer plausiblen Erklärung für den scheinbar unerklärlichen Tod des Revolutionsgenerals vertritt Blum die These, dass auch dieser wie später sein Nachfahr im Zweiten Weltkrieg Selbstmord begangen habe, weil seine an den Werken Rousseaus entwickelten moralischen Ideale angesichts der blutigen Realität der Revolution und ihrer Kriege gescheitert seien. 76 Diese mischt sich hier, wie auch in den übersetzten Begriffen am linken Seitenrand, das Italienische mit dem Französischen. Der italienische Text stellt demnach einen Metakommentar über die Parallelisierung und Verbindung heterogener Szenen in La Route des Flandres dar (Vgl. hierzu auch L. Dällenbach: „Mise en abyme et redoublement spéculaire chez Simon.“ (1975), S. 160; S. Sykes: „1960. La Route des Flandres: le texte assassin.“ (1979), S. 77f.; R. Sarkonak: Simon, les carrefours du texte. (1986), S. 80. Vgl. ebenso J.A.E. Loubère: „The Generative Function of Translation in the Novels of Claude Simon.“ (1981), S. 187ff. Ebenso M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987), S. 89, der die Übersetzung fremdsprachlicher Texte im Werk Simons als Interpretationsanweisung an den Leser auffasst.). 76 RF, 181-184, 189f. Laut F. Dugast-Portes verbindet sich mit der Person Rousseaus und mit seinem Werk die Denunzierung der „[…] idéaux dangereux au nom desquels les <?page no="156"?> 156 Hypothese wird schließlich von Georges übernommen, der in der Evozierung der Todesszene de Reixachs im zweiten Weltkrieg Parallelen zum Tod des Ahnen sieht: […] continuant donc à mener son cheval au pas parce qu’il avait ancestralement appris qu’on doit laisser souffler une bête à laquelle on vient de demander un effort violent voilà pourquoi nous avancions aristocratiquement cavalièrement à une majestueuse allure de tortue lui continuant comme si de rien n’était à parler avec ce petit lieutenant l’entretenant sans doute de ses succès équestres et des mérites de la bride en caoutchouc pour monter en course magnifique cible pour ces Espagnols impénétrables absolument rebelles allergiques il faut croire aux larmoyantes homélies sur la fraternité universelle la déesse Raison la Vertu et qui l’attendaient embusqués derrière les chênes-lièges ou les oliviers […] (RF, 294). Hier zieht Georges einerseits die Vergangenheit zur Erklärung der Gegenwart heran: beide Männer - sowohl der General des 18. Jahrhunderts als auch der Capitaine des 20. Jahrhunderts - bewegen sich durch die feindlichen Linien in dem vollen Bewusstsein ihrer (scheinbaren) aristokratischen Unverwundbarkeit. Beide stellen in ihrem Nicht-Wissen (der General) um die reale, unmittelbare Gefahr eines Hinterhalts bzw. in ihrem Ignorieren (der Capitaine) ideale Zielscheiben für die versteckten Heckenschützen dar; beide setzen so ihr Leben aufs Spiel: der eine - der Offizier des Zweiten Weltkriegs - wird es tatsächlich verlieren. Doch klingt in diesem Zitat andererseits auch das Motiv für den Selbstmord des Generals Reixach an, das bisher nur von Blum vorbereitet, von Georges selbst jedoch noch nicht verbalisiert worden war. Der General, der mit dem französischen Heer nach Spanien gezogen war, um die Spanier unter die Ideale der Französischen Revolution zu zwingen, muss in den ersten Kriegsjahren feststellen, dass sich jene nicht für ihre ‚Befreiung’ begeistern können; erst im Jahr 1794 erringen die Franzosen in Katalonien den Sieg. 77 Vielmehr sieht sich der General auf seinem Zug durch das nördliche Spanien von Heckenschützen bedroht, was ihn - laut Blum - an den Kriegsgründen (ver-)zweifeln lässt und somit seinen späteren Selbstmord vorbereitet. hommes entreprennent de maîtriser leur histoire : le didactisme est ainsi condamné, mais aussi toute tentative de mise en ordre artificielle.“ (F. Dugast-Portes: „La figure de l’ancêtre dans La Route des Flandres de Claude Simon.“ (1997), S. 34.) C. Trevisan weist darüber hinaus darauf hin, dass es sich bei dem Buch Rousseaus, das zu den Lieblingswerken des Generals gezählt haben mag, um La Nouvelle Héloïse, insbesondere um den Brief Saint-Preux’ über den Selbstmord handeln könnte, „[…] cette lettre dont Voltaire disait qu’elle ‚donnait appétit de mourir’“. (C. Trevisan: „L’Icône blessée: Histoire et filiation chez Claude Simon.“ (2002), S. 801.) 77 G. Duby (Hg.): Histoire de la France des origines à nos jours. (1995), S. 533, 1108. D. Alexandre: „La Route des Flandres: ‘Un Imbroglio de voix’.“ (1997), S. 170. <?page no="157"?> 157 Die innerhalb der Fiktion realen Texte - das Archiv des Generals und die Bände Rousseaus - dienen Georges demnach dazu, verborgene Zusammenhänge in seiner Familiengeschichte aufzudecken und das ihm rätselhafte und scheinbar selbstzerstörerische Verhalten seines Vorgesetzten im Zweiten Weltkrieg zu erklären. Ähnlich wie ein Historiker diskutiert er mit Blum aus den Quellen erwachsende mögliche Hypothesen und entscheidet sich für die in seinen Augen plausibelste. 4.3.2.2 Bildzeichen: die Portraits des Generals Reixach und seiner Frau, die „gravures galantes“ Auf obsessive Weise kreisen Georges’ Gedanken nicht nur um das Erinnerungsbild des sterbenden Capitaine sowie um das im Verwesungsprozess befindliche Pferd am Straßenrand in Flandern, sondern auch um verschiedene Portraits seines Ahnen Henri Reixach und von dessen Frau. Die Faszinationskraft des den Ahnen repräsentierenden Gemäldes liegt vor allem in seinem schlechten Zustand begründet: Da an einigen Stellen die Leinwand rissig ist, wird die braunrote Grundierung sichtbar - dies verleiht dem Portraitierten den Anschein, als sei seine tödliche Wunde auf dem Bild selbst zu sehen (RF, 53-55). Als Kind war Georges lange Zeit von der ‚Wahrheit’ der Abbildung überzeugt - das Gemälde zeige also die tatsächlichen Todesumstände des Generals und auf geheimnisvolle Weise ‚blute’ die auf dem Ölbild repräsentierte Wunde immer noch, erst später erkannte er im ‚Blut’ die durchscheinende Grundierung der Leinwand (RF, 69f.). Für Georges’ Erkenntnisprozess ist das Gemälde vor allem deswegen relevant, weil er aus der Art seiner Darstellung Rückschlüsse auf den Charakter des Generals bzw. seine Lebensweise zu erhalten meint: […] et l’autre, de face, tout aussi immobile, solennel et raide dans son cadre terni, tel que pendant toute son enfance il avait pu le voir, avec cette différence que la tache qui s’étalait, verticale et déchiquetée, à partir de la tempe, descendait sur le cou délicat, presque féminin dans l’échancrure de la chemise, venait souiller la veste de chasse […] (RF, 69f.); […] cette tenue aristocratique et faussement négligée de chasseur de cailles dans laquelle il avait posé pour ce portrait où le temps - la dégradation - avait remédié par la suite (comme un correcteur facétieux, ou plutôt scrupuleux) à l’oubli - ou plutôt à l’imprévision - du peintre, […] posant là cette tache rouge et sanglante comme une salissure qui semblait un démenti tragique à tout le reste : cette douceur - et même langueur -, ces yeux de biche, ce négligé bucolique et familier des vêtements, et ce fusil, lui aussi semblable à un accessoire de cotillon ou de bal masqué. (RF, 76) Georges vertritt die Hypothese, dass das Portrait nicht den ‚wahren’ Henri Reixach repräsentiere; dieser habe vielmehr durch ein bewusst kriegerisches Auftreten seine „douceur“ und „langueur“ verbergen wollen, die <?page no="158"?> 158 sich jedoch verräterisch in seinen „yeux de biche“ und der eher nachlässigen Kleidung zeigen. Das innerhalb der Fiktion real existierende Gemälde des Generals wird ebenso wie das von ihm rezipierte Werk Rousseaus auf diese Weise zum Ausgangspunkt für Georges’ Spekulation, der General habe Selbstmord begangen, nachdem er seine einstigen Ideale in der nunmehr korrumpierten Revolution verloren hatte: […] et Reixach, debout, là, dans ce décor de gravure galante, se dépouillant, arrachant de lui, rejetant, répudiant ces vêtements, cet ambitieux et tapageur costume qui sans doute était maintenant devenu pour lui le symbole de quelque chose en quoi il avait cru et à quoi maintenant il ne voyait même plus de sens (la redingote bleue au col montant, aux revers brodés d’or, le bicorne, les plumes d’autruche : pitoyable et grotesque défroque gisant à présent, mausolée fripé de ce que (non pas le pouvoir, les honneurs, la gloire, mais les idylliques ombrages, l’idyllique et larmoyant règne de la Raison et de la Vertu) ses lectures lui avaient fait entrevoir) […] (RF, 190). Diese scheinbare Feminität des Generals, die Georges auf dem Gemälde zu erkennen meint, resultiert in seinen Augen aus den Lektüregewohnheiten des Generals: die Schriften und Ideen Rousseaus haben Reixach zum Anhänger unrealistischer Ideale gemacht, bei deren Verlust er auch den Glauben an die Revolution und damit an den Sinn seines Lebens verloren und daraufhin Selbstmord begangen habe. Wie die Abbildungen ihres Mannes so werden auch die Gemälde, die Virginie Reixach zeigen, zum Ausgangspunkt für die verschiedenen Spekulationen von Georges und Blum. Wie im Falle Reixachs ist es ebenfalls Virginies Kleidung, die die Bildung von Hypothesen anregt: Zum einen die Spitze eines mutmaßlichen Schalkragens, der den Abschluss des Dekolletés ihres Kleides bildet, und zum anderen eine venezianische Maske, die sie in der Hand hält: […] et Blum: « Ne m’as-tu d’ailleurs pas raconté qu’il existait, en pendant à l’autre portrait ensanglanté, une peinture exécutée à la même époque et la représentant dans une tenue non de chasseresse en accord avec celle de son mari mais empreinte (la robe, la pose, l’allure, la façon de dévisager hardiment le peintre qui reproduit ses traits et, plus tard, celui qui les interroge) d’une sorte d’insolence, de défi, de violence réfrénée (d’autant qu’elle tient à la main quelque chose de bien plus redoutable qu’une arme, qu’un simple fusil de chasse : un masque, une de ces figures de carnaval vénitien à la fois grotesques et terrifiantes […]), et dépassant dans l’ouverture du corsage quelque chose d’impalpable, une mousse, les replis d’une dentelle délicate et compliquée s’échappant comme si c’était le parfum même de sa chair, de sa gorge cachée plus bas dans la soyeuse obscurité, s’exhalant, la secrète haleine de fleur de sa chair se… » […] (RF, 179). Es ist vor allem die Maske, die zusammen mit dem (scheinbar) herausfordernden Blick Virginies einen Hinweis auf ihre Lust an Verwandlung, an <?page no="159"?> 159 unerkanntem - erotischem? - Spiel zu verraten scheint. 78 In Georges’ und Blums Interpretation wird sie zur untreuen Frau, die unerkannt und im Bewusstsein ihrer Sinnlichkeit auf Männerfang geht. Auf einem späteren Portrait, einer Miniatur bzw. einem Medaillon, zeigen sich in Georges’ Augen bereits die Folgen ihres aufgrund der frühen Witwenschaft befreiten bzw. zügellos gewordenen Lebensstils: […] elle avait un peu grossi entre les deux [portraits; S.Z.], c’est-à-dire qu’elle avait pris cette sorte de voluptueux embonpoint, s’était en quelque sorte épanouie, comme il arrive aux jeunes filles après leur mariage, un peu empâtée peut-être, mais toute sa personne exhalant - dans ce costume qui était comme une négation de costume, c’est-à-dire une simple chemise, et à demi transparente, et qui la laissait à demi nue, ses tendres seins offerts soulignés par un ruban, et jaillissant presque complètement hors de l’impalpable tissu d’un rose parme - quelque chose d’impudique, de repu et de triomphant, avec cette tranquille opulence des sens et de l’âme tout ensemble apaisés et rassasiés - et même gorgés - et ce sourire indolent, candide, cruel […] (RF, 264f.). Während Virginie auf dem ersten Portrait - „cet autre portrait cruel et dur sorte de Diane“ (RF, 273) - ihren wahren Charakter noch hinter der Maske der Anständigkeit und der Keuschheit verbirgt, zeigt sie sich nach dem Tod ihres Mannes in ihrer wahren Gestalt: unkeusch, triumphierend, träge, offenherzig und grausam. Der größere Leibesumfang scheint auf die gehäuften sinnlichen Genüsse zurückzuführen sein, derer sie sich als Witwe erfreut. Georges und Blum nehmen - wie bereits im Falle Henri Reixachs - die innerhalb der Fiktion real existierenden Portraits Virginies zum Anlass, Vermutungen über ihre nicht mehr auf anderem Wege zu rekonstruierende Lebensweise anzustellen. Allerdings stehen die Gemälde weder Georges noch Blum vor Augen; letzterer hat sie noch nie in seinem Leben gesehen, so dass Georges nur das in seiner Erinnerung gespeicherte Bild der früheren Wahrnehmung evoziert, während Blums Aussagen allein auf seinen Mutmaßungen beruhen, die er nach Georges’ Beschreibungen angestellt hat. Eine wichtige Funktion bei der Rekonstruktion der Geschichte um den Ahnen Henri Reixach erfüllen verschiedene „gravures galantes“ „à la Boucher“ 79 , die erotische Szenen repräsentieren. Wie auch schon die Portraits 78 B. Ferrato-Combe interpretiert die Maske auf dem Gemälde als „[…] instrument de dissimulation et de comédie, qui permet de jouer un rôle et d’échapper impunément aux conventions sociales […]“ (B. Ferrato-Combe: Écrire en peintre: Claude Simon et la peinture. (1998), S. 187.). 79 L. Baladier: „La Route des Flandres, un roman poétique? Les mystères du titre.“ (1999), S. 44. B. Ferrato-Combe: Écrire en peintre: Claude Simon et la peinture. (1998), S. 182, nennt darüber hinaus auch den Maler Fragonard aus dem 18. Jahrhundert als Urheber dieses Gravürentyps. <?page no="160"?> 160 des Ahnen und seiner Frau hat Georges die Gravüren zum Zeitpunkt seiner Erinnerung bzw. seiner Gespräche mit Blum nicht unmittelbar vor Augen, sondern er erinnert die frühere Wahrnehmung, als er, noch ein Kind, häufig die Gravüren im Schlafzimmer seiner Eltern betrachtet hat (RF, 77f.). Im Verlaufe seines Erinnerungsprozesses werden die Erinnerungen an diese „gravures […] représentant des scènes galantes ou champêtres“ (RF, 78) zum Ausgangspunkt für eine seiner Hypothesen zum rätselhaften Tod des Vorfahren: Pensant dans le même moment à ce détail, cette chose bizarre qu’on ne racontait dans la famille qu’en baissant la voix […], cette circonstance qui, vraie ou fausse, conférait à l’histoire on ne savait quoi d’équivoque, de scandaleux : quelque chose dans le style d’une de ces gravures intitulées l’Amant Surpris ou la Fille Séduite, et qui ornaient encore les murs de la chambre : […] (RF, 80f.). Es folgt eine Beschreibung der Gravur, welche die üblichen Komponenten der Gattung enthält: die dramatische Ausleuchtung der Szenerie, die halbbekleideten, eilig herbeigelaufenen Bediensteten sowie die aufgebrochene Tür (RF, 81f.). Die auf dem Stich abgebildete Szene generiert nun die fiktive Handlung um den mysteriösen Tod des Generals; 80 das Bild wird auf diese Weise gleichsam zum Abbild der Ereignisse, die einst in dem Raum angeblich tatsächlich stattgefunden haben: Car c’était cela (la légende, ou, au dire de Sabine, la médisance inventée par ses ennemis) : qu’on l’avait trouvé entièrement dévêtu, qu’il s’était d’abord dépouillé de ses vêtements avant de se tirer cette balle dans la tête à côté de cette cheminée au coin de laquelle, enfant, et même plus tard, Georges avait passé combien de soirées à chercher instinctivement au mur ou au plafond (quoiqu’il sût bien que, depuis, la pièce avait été plusieurs fois repeinte et retapissée) la trace de la balle dans le plâtre, imaginant, revivant cela, croyant le voir, dans ce trouble, voluptueux et nocturne désordre de scène galante : peut-être un fauteuil, une table renversés, et les vêtements, comme ceux d’un amant impatient, hâtivement, fiévreusement arrachés, rejetés, éparpillés ça et là […] (RF, 82f.). Das Abbild einer fiktiven Szene und die mögliche, aber unbekannte frühere Realität durchdringen sich auf diese Weise und reichern einander an; für die kolportierten Umstände des rätselhaften Todes - die skandalöse Nacktheit des Generals, die Unordnung im Zimmer - gibt es keine sicheren, historischen, Belege. Die Gravüre scheint nun eine plausible Erklärung für den bislang unerklärlichen Tod des Ahnen zu liefern, sie wird sogar zur authentischen Repräsentation der realen Ereignisse, die in dem Raum stattgefunden haben. Bei dieser ‚Animation’ bzw. Narrativisierung des stati- 80 Hierzu auch A. Wasmuth: Subjektivität, Wahrnehmung und Zeitlichkeit als poetologische Aspekte bei Simon. Untersuchungen zu den Romanen Le Vent, L'Herbe und La Route des Flandres. (1979), S. 172f., der darauf hinweist, dass die in La Route des Flandres konstruierten Todesumstände des Generals Reixach allein auf Georges’ und Blums Imagination beruhen, die ihrerseits von der Gravüre beeinflusst sind. <?page no="161"?> 161 schen Abbildes auf der Gravüre handelt es sich um eine metaleptische, erzähllogisch unmögliche Verletzung der ontologischen Ebenen binnenfiktional ‚real’ und binnenfiktional ‚fiktiv’: Die mit der Familiengeschichte der de Reixach ursprünglich völlig unverbundene Gravüre konstruiert in der Retrospektive eine historische Realität, wenn sie die nicht belegten Todesumstände des Ahnen zu repräsentieren scheint. Im weiteren Verlauf seines Erinnerungsprozesses tritt für Georges der zunächst fiktive Charakter seiner Imagination um den Tod des Vorfahren „à la scène galante“ in den Hintergrund; vielmehr scheint sich in seiner Vorstellung der General im Dekor einer „gravure galante“ selbst bewegt zu haben: „[…] et Reixach, debout, là, dans ce décor de gravure galante, se dépouillant, arrachant de lui, rejetant, répudiant ces vêtements, cet ambitieux et tapageur costume […]“ (RF, 190). So fungieren auch die innerhalb der Fiktion realen Gravüren wie schon die Portraits als générateurs einer von Georges imaginierten Handlung; 81 dabei vergisst er zunehmend den fiktiven, imaginären, Status der Ereignisse während seines Erinnerungsprozesses: In seiner Vorstellung hat sich der Tod des Vorfahren schließlich in der gleichen Umgebung abgespielt wie die auf den Gravüren abgebildete Szenerie - der Stich wird gleichsam zum Abbild des Todes von Henri Reixach: « […] autre chose probablement: une sorte de vide de trou. Sans fond. Absolu. Où plus rien n’avait de sens, de raison d’être - sinon pourquoi enlever ses vêtements, se tenir ainsi, nu, insensible au froid, effroyablement calme sans doute, effroyablement lucide, disposant soigneusement sur une chaise […] la redingote, la culotte, posant les bottes devant, couronnant le tout par ce chapeau, cette extravagante coiffure semblable à un bouquet de feu d’artifice, tout comme s’ils avaient revêtu, coiffé quelque imaginaire et inexistant personnage, les regardant de ce même œil sec, glacé, effrayant, tandis qu’il continuait toujours à grelotter, impassible, et se reculant pour juger de l’effet, et à la fin reversant sans doute la chaise d’un revers de la main, puisque sur la gravure elle gisait par terre et les vêtements… » Et Blum : « La gravure ? Alors il y en a bien une ! Tu m’avais dit que… » Et Georges : « Mais non. Il n’y en a pas. Où as-tu pris ça ? » […] (RF, 201f.). Die zitierte Textstelle verdeutlicht, wie Georges sich in seinem Erinnerungsvorgang von seiner Imagination begeistern lässt: Die Gravur dient ihm nun nicht länger als Inspiration, als générateur einer möglichen Erklärung für den Tod des Generals, sondern sie wird nachgerade zum Abbild bzw. zum Beleg für die scheinbare Authentizität der Todesszene. 81 Laut R. Sarkonak fungieren die Bildbeschreibungen im Werk Simons als Produzenten eines neuen Texts mit eigener Dynamik - „une sorte de récit autonome“ (R. Sarkonak: Simon, les carrefours du texte. (1986), S. 49.). <?page no="162"?> 162 4.3.3 Problematisierung der Repräsentationsfunktion von Sinneswahrnehmungen, Sprache sowie Schrift- und Bildzeichen In einem dialektischen Prozess aus Konstruktion und Destruktion wird in Simons Roman La Route des Flandres fiktionale Realität erschaffen und zugleich in Zweifel gezogen bzw. als innerfiktional fiktiv entlarvt. Ziel des Konstruktionsprozesses ist - wie im vorigen Kapitel dargelegt wurde - die Rekonstitution der nicht mehr zugänglichen Vergangenheit; Georges erinnert zu diesem Zweck seine früheren Wahrnehmungen. Dazu gehören individuelle visuelle, auditive, olfaktorische und haptisch-taktile Sinneseindrücke, aber auch die visuelle und z.T. auch auditive Erinnerung an Sprach-, Schrift- und Bildzeichen, die in ihrer realen Form Bestandteil des einer größeren Gruppe zugänglichen kollektiven Gedächtnisses sind. Während die von Georges erinnerten früheren, scheinbar authentischen Sinneseindrücke einerseits als Beleg für eine bestimmte ‚Wahrheit’ herangezogen werden und auf diese Weise sein Wissen über die Vergangenheit begründen, lässt sich andererseits auch ein gegenläufiger Diskurs in La Route des Flandres über die Unzuverlässigkeit und die geringe Aussagekraft von ‚Abbildern’ der Realität nachweisen - seien es nun frühere, nachträglich erinnerte Sinneswahrnehmungen oder aber mediale Repräsentationen der Wirklichkeit. 4.3.3.1 Die Unzuverlässigkeit der Sinne Einen prominenten Platz ganz im Sinne des phänomenologischen bzw. reflexiven Realismus nimmt in La Route des Flandres die Diskussion der Zuverlässigkeit und Authentizität von (früheren) Sinneswahrnehmungen ein. 82 Insbesondere Georges’ visuelle Wahrnehmung ist von Beginn an prekär und durch verschiedene Faktoren wie Schlafmangel, problematische Lichtverhältnisse oder Alkoholkonsum getrübt. 83 An erster Stelle der Beeinträchtigungen des Gesichtssinns steht die große Müdigkeit, die aus dem Schlafmangel resultiert, den die Soldaten in den zehn Tagen 84 des Ritts zur Front und des kurz darauf erfolgenden, überstürzten Rückzugs erleiden müssen. Eine Folge des Schlafdefizits ist, dass die Müdigkeit völlig überraschend und äußerst schnell über Georges her- 82 Interessanterweise steht in La Route des Flandres noch kaum wie später in Les Géorgiques die Authentizität individueller Erinnerung selbst zur Debatte: Nur an wenigen Stellen finden sich in dem Roman Hinweise auf eine problematische oder unmögliche Erinnerung (Vgl. RF, 106, 127, 223, 226, 241, 247). 83 Da in La Route des Flandres vorwiegend die Problematik der visuellen Sinneswahrnehmungen beschrieben und diskutiert wird, sollen sich die folgenden Ausführungen ebenfalls darauf beschränken. Vgl. zu problematischen auditiven Sinneswahrnehmungen RF, 101, 110, 142, 147, 199, 216, 219. 84 Vgl. RF, 16. <?page no="163"?> 163 einbricht und ihn förmlich ‚niederschlägt’: „[…] le néant le noir sommeil me tombant dessus comme une cloche m’ensevelissant […]“ (RF, 241), „[…] cela me tomba dessus comme si on m’avait jeté brusquement sur la tête une couverture m’emprisonnant, tout à coup tout fut complètement noir […]“ (RF, 242). Georges empfindet diesen Erschöpfungszustand als „[…] cette sorte de demi-sommeil, cette sorte de vase marron dans laquelle j’étais pour ainsi dire englué […]“, (RF, 25), als „[…] cette mince pellicule de saleté et d’insomnie interposée entre son visage et l’air extérieur comme une impalpable et craquelante couche de glace […]“ (RF, 37) bzw. als „[…] masque uniforme de fatigue de dégoût de crasse […]“ (RF, 41). 85 An anderer Stelle beschreibt er die körperliche Erfahrung des extremen Schlafmangels bei sich und den anderen verbleibenden drei Soldaten nach der Auflösung der Schwadron sogar als „[…] cette espèce de gravier, de toile émeri conséquence du manque de sommeil sous nos paupières […]“ (RF, 280f.). Als Folge dieser Sinnestrübung fühlt sich Georges von seiner Umgebung getrennt; die Müdigkeit scheint sich wie eine Glasscheibe zwischen ihn und die äußere Realität zu schieben und lässt ihn „un peu étourdi, un peu ahuri, […] stupide“ (RF, 36f.) zurück. Diese Beeinträchtigung der Wahrnehmung scheint sich jedoch nicht allein auf Georges’ äußere Umgebung zu beschränken; so ist auch seine Selbstwahrnehmung verzögert, erkennt er doch sein durch die große Erschöpfung verändertes Gesicht nicht im Spiegel. 86 Auch im Nachhinein ist seine Erinnerung durch dieses ursächliche Wahrnehmungsdefizit beeinträchtigt: in seinem Gedächtnis sind keine zuverlässigen Erinnerungsbilder gespeichert, so dass sich Georges bei der späteren Evozierung bestimmter Situationen aus der Kriegszeit z.B. nicht mehr genau an die Reihenfolge seiner früheren Handlungen erinnern kann, wie das Beispiel der Quartiernahme in einer Scheune im Herbst 1939 zeigt. 87 Einen anderen Faktor, der seine Wahrnehmung der Umgebung beeinflusst, stellen die besonderen Lichtverhältnisse dar: so finden große Teile des Ritts in der Schwärze der Nacht oder im gleißenden Sonnenlicht statt. Während ihn die grelle Frühlingssonne blendet (RF, 24), wird die undurchdringliche Nacht physisch spürbar - sie scheint Georges’ Körper wie „l’espèce de vase sombre“ (RF, 28) zu umgeben. 88 85 Vgl. ebenso RF, 44, 216. 86 RF, 105. 87 Vgl. RF, 39: „[…] (mais était-il encore debout, défaisant courroies et boucles avec des gestes d’automate, ou déjà couché, dormant, gisant dans le foin entêtant, tandis que l’entourait, l’ensevelissait le lourd sommeil) […]“. 88 Doch scheint die Wahrnehmung im Dunkeln individuell verschieden zu sein: So sieht Corinne im nächtlich-dunkeln Hotelzimmer scheinbar wie eine Katze, während Georges beim Erraten von Corinnes in der Dunkelheit verborgenen Handlungen auf <?page no="164"?> 164 Eine andere Ursache für Georges’ getrübte visuelle Wahrnehmung ist sein Alkoholkonsum während der Flucht mit Iglésia 89 und während des Quartiers 90 im Ardennendorf im Herbst 1939. Als Folge seiner Trunkenheit verlangsamen sich seine Wahrnehmung und seine Denkprozesse - er vermag nicht, den Gesprächen der anderen zu folgen und den Inhalt des Gesagten zu begreifen (RF, 110) bzw. seine Umgebung in einem größeren Umkreis zu erkennen (RF, 195). 91 Im Zustand fortgeschrittener Trunkenheit scheint Georges sogar eine Dissoziation seiner Persönlichkeit zu erleben: Er glaubt, Bewegungen auszuführen, muss jedoch kurz darauf erkennen, dass er die ganze Zeit über unbeweglich am Tisch gesessen hat: […] j’essayais avec cette conscience obstinée des ivrognes de me lever et de m’en aller, […] recommençant donc sans me décourager à incliner le buste en avant de façon que son poids m’entraîne, m’aide à me lever de cette banquette où j’étais comme cloué, en même temps que mes mains s’efforçaient de repousser la table, me rendant compte au même moment que ces divers mouvements restaient à l’état de velléités et que j’étais toujours absolument immobile, une sorte de double fantomatique et transparent de moi-même et sans la moindre efficacité répétant sans cesse les mêmes gestes inclinaison du buste effort simultané des cuisses et poussée des bras jusqu’au moment où il s’apercevait que rien n’avait suivi revenant alors en arrière se confondant de nouveau avec mon corps toujours assis qu’il essayait d’entraîner une nouvelle fois mais sans plus de résultat […] (RF, 193f.). 92 Darüber hinaus erlebt Georges in Momenten größter Anspannung eine Deformation seiner Wahrnehmung in Form von Sinnestäuschungen wie er sie z.B. im Verlauf des Hinterhalts im Hohlweg erfährt, bei dem er seinen Kameraden Wack sterben sieht: […] puis je vis Wack (les choses se déroulant paradoxalement dans une sorte de silence de vide c’est-à-dire que le bruit des balles et des explosions […] une fois accepté admis et pour ainsi dire oublié se neutralisant en quelque sorte on n’entendait absolument rien pas de cris aucune voix sans doute parce que perseine anderen, ebenfalls unzulänglichen Sinne angewiesen ist (RF, 276-278.). Dieses Scheitern der visuellen Wahrnehmung in der Dunkelheit steht metaphorisch auch für das finale Misslingen von Georges’ übergeordnetem Erkenntnisprozess: Ebenso wenig wie er die Bewegungen Corinnes im nächtlichen Hotelzimmer ausmachen kann, kann er mittels seiner Affäre und seiner Erinnerungen die ‚Wahrheit’ um Corinne und ihre mutmaßliche Untreue erkennen. 89 RF, 110, 193-197, 225f., 228, 231, 235. 90 RF, 116. 91 Vgl. auch RF, 226, 228. 92 Sind Georges’ sinnliche Wahrnehmungen zum Zeitpunkt des Erlebens auch häufig diffus und reduziert, so ist es umso erstaunlicher, dass seine Erinnerungen an das einst unter Alkoholeinfluss Wahrgenommene klar und präzise sind: So kann sich Georges an jedes Detail des Cafés im Ardennendorf wie z.B. den Anstrich, die Ausstattung oder die Werbeplakate an den Wänden erinnern (RF, 116). <?page no="165"?> 165 sonne n’avait le temps de crier […], les choses par conséquent se passant un peu comme dans un film privé de sa bande de son […] (RF, 149). In der Erinnerung reflektiert Georges das Paradoxon seiner früheren Wahrnehmung: Obwohl sich die Auflösung der Schwadron inmitten eines großen - auch akustischen - Chaos’ ereignet haben muss, beschränken sich seine Sinneswahrnehmungen allein auf den visuellen Sinn; die Detonationen der Geschosse, die Schreie der Soldaten, das Wiehern der Pferde scheinen ähnlich wie in früheren Stummfilmen ausgeblendet. In der Folge verändert sich jedoch auch seine visuelle Wahrnehmung, wenn Georges minutiös Wacks Tod verfolgt: […] je vis Wack qui venait de me dépasser penché sur l’encolure le visage tourné vers moi la bouche ouverte lui aussi essayant sans doute de me crier quelque chose qu’il n’avait pas assez d’air pour faire entendre et tout à coup soulevé de sa selle comme si un crochet une main invisible l’avait attrapé par le col de son manteau et s’élevant lentement c’est-à-dire à peu près immobile par rapport à (c’est-à-dire animé à peu près de la même vitesse que) son cheval qui continuait à galoper et moi courant toujours quoiqu’un peu moins vite de sorte que Wack son cheval et moi-même formions un groupe d’objets entre lesquels les distances ne se modifiaient que lentement lui se trouvant à présent exactement au-dessus du cheval dont il venait d’être enlevé arraché s’élevant lentement dans les airs les jambes toujours écartées en arc de cercle comme s’il continuait à chevaucher quelque Pégase invisible qui d’une ruade l’eût fait basculer en avant exécutant donc au ralenti et pour ainsi dire sur place une sorte de double saut périlleux me le montrant bientôt la tête en bas la bouche toujours ouverte sur le même cri (ou conseil qu’il avait essayé de me faire entendre) silencieux puis couché dans les airs sur le dos comme un type étendu dans un hamac et qui laisse pendre ses jambes à droite et à gauche puis de nouveau la tête en haut le corps vertical les jambes commençant à abandonner la position de celles d’un cavalier pour se rassembler pendre parallèlement puis sur le ventre les bras tendus en avant les mains ouvertes dans le geste de saisir d’attraper quelque chose plus loin comme un de ces acrobates de cirque dans l’instant où il se tient rattaché à rien et délivré de toute pesanteur entre les deux trapèzes puis à la fin la tête de nouveau en bas les jambes désunies et les bras en croix comme pour me barrer le chemin mais immobile maintenant plaqué contre le revers du talus et ne bougeant plus me regardant le visage empreint d’une expression surprise et imbécile […] (RF, 149f.). Die Wahrnehmung der Ereignisse, die mit Wacks Tod enden, scheint verzögert und zeitlupenartig - „au ralenti“ und vermeintlich „sur place“ - zu erfolgen: die normale physikalische Zeit ist scheinbar aufgehoben. Vielmehr bildet die kleine Gruppe aus Wack, seinem Pferd und Georges eine Insel in der Zeit, da sich alle drei mit derselben Geschwindigkeit inmitten der anderen Reiter und Pferde fortbewegen. Zeit wird hier subjektiviert und von Georges individuell als verlangsamte Bewegung wahrgenommen, denn in Wirklichkeit erfolgen die einzelnen Bewegungsabläufe Wacks sehr viel schneller, wie ja auch der Verweis auf seinen unverändert zum Schrei <?page no="166"?> 166 geöffneten Mund zeigt. 93 Erzähltechnisch dienen die vielfachen mit „comme“ eingeleiteten Vergleiche der sprachlichen Repräsentation dieser verlangsamten ursprünglichen Wahrnehmung; auf diese Weise soll die Zeit des Erzählens bzw. des Lesens mit der gedehnten Zeit des Erlebens, bzw. die Erzählzeit mit der erzählten Zeit, in Einklang gebracht werden. 94 Ein weiterer Faktor, der Sinnestäuschungen bei Georges bewirken kann, ist seine psychische Verfassung: So führt seine Unsicherheit gegenüber Corinne anlässlich ihrer ersten Begegnung nach dem Krieg zu einer vorübergehenden Dissoziation seiner Persönlichkeit, die sich in einer distanzierten Wahrnehmung seiner eigenen Hand ausdrückt: […] puis sa propre main lui apparaissant, entrant dans son champ de vision, c’est-à-dire comme s’il l’avait plongée dans l’eau, la regardant s’avancer, s’éloigner de lui, avec une sorte d’étonnement, de stupeur (comme si elle se séparait de lui, se détachait du bras, par l’effet de cette légère déviation du rayon visuel quand il traverse la surface d’un liquide) : […] sa propre main devenue maintenant pour ainsi dire étrangère à lui-même, c’est-à-dire faisant partie au même titre que les arbres, le ciel, le bleu, le vert, de ce monde étranger, étincelant et incroyable où elle (Corinne) se tenait, irréelle, incroyable elle aussi […]“ (RF, 223f.). 95 93 Interessanterweise ist diese Sinnestäuschung, die Georges die Bewegungen Wacks „au ralenti“ und „sur place“ wahrnehmen lässt, auch eines der Merkmale des von Georges imaginierten Pferderennens: Auch hier erscheint die Gruppe aus Reitern und Pferden als „[…] une houle, un moutonnement de têtes montant et descendant sur place […]“ (RF, 164). Doch ist jetzt die scheinbare Bewegungslosigkeit der wahrgenommenen Reiter und ihrer Pferde weniger einem Schockzustand wie im Falle des Hinterhalts geschuldet, sondern eher der großen Distanz, aus welcher der Betrachter auf die Rennstrecke schaut. Dennoch erscheint auch in diesem Beispiel Wahrnehmung als etwas Individuelles und Subjektives, das die Außenwelt unabhängig von ihrem tatsächlichen, objektiven Zustand erfasst. Vgl. auch RF, 169. 94 Die Detailfülle der erinnerten früheren Wahrnehmung ist typisch für die psychische Situation des Traumas, in die Georges durch den Hinterhalt gerät: das traumatische Erlebnis kann im Extremfall in der Erinnerung die gleichen körperlichen Reaktionen auslösen wie im Fall des ursprünglichen Erlebens, es gestaltet jedoch immer die bleibenden Erinnerungen, die sich häufig durch eine spezifische Detailliertheit auszeichnen. (Vgl. hierzu J. Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. (2004), S. 113.) Vgl. zur Funktion des Kriegstraumas in Simons Romanwerk der 1960er Jahre J. Duffy: „Claude Simon, Merleau-Ponty and Perception.“ (1992), S. 39. Ebenso S. Kleinert: „La construction de la mémoire dans le nouveau roman historique et la métafiction historiographique des littératures romanes. [Cl. Simon: La Route des Flandres, Les Géorgiques, L’Acacia, Histoire].“ (2000), S. 140f. 95 Ebenfalls einen psychischen Hintergrund haben in La Route des Flandres die Fälle von ‘Wahrnehmungsverlust’, z.B. wenn Georges bei der ersten Begegnung mit Corinne nach dem Krieg aufgrund seiner Unsicherheit ihr gegenüber außerstande ist, ihre Worte zu hören: „[…] et alors maintenant tout ce qui le séparait d’elle c’était cette vitre de derrière laquelle elle semblait à présent le regarder, lui parler, prononcer des mots, des paroles qu’il (et probablement elle non plus) n’écoutait pas, exactement comme s’il s’était tenu de l’autre côté de la glace d’aquarium […]“ (RF, 222). <?page no="167"?> 167 Abschließend soll kurz eine paradoxe Form der visuellen Wahrnehmung in La Route des Flandres beschrieben werden: das ‚Wissen ohne zu sehen’. Georges ist wiederholt in der Lage, Personen oder Ereignisse vor seinem inneren Auge auch ohne einen momentanen, äußeren Sinnesreiz zu ‚sehen’. Dieser wahrnehmungspsychologische Spezialfall des ‚Vorstellungsbildes’ zeichnet sich dadurch aus, dass der Wahrnehmende „[…] zum Zeitpunkt des Urteils über die Sinnessysteme keinen Zugang zum Objekt [hat], also ausschließlich auf [sein] Gedächtnis angewiesen [ist].“ 96 Allerdings unterscheiden sich diese Vorstellungsbilder signifikant von Georges’ Imaginationen: 97 Während erstere „analoge“ Repräsentationen des Originals sind, da sie einen „Großteil der Eigenschaften eines Objekts“ enthalten, 98 beruhen - wie noch zu zeigen sein wird - Georges‘ Imaginationen allein auf seiner Phantasie; an den evozierten Situationen war er nicht beteiligt, den evozierten Personen ist er zum Teil sogar nie begegnet. Es sind diejenigen Personen, zu denen Georges eine ambivalente, aber dennoch intensive Beziehung entwickelt hat, deren Abbild er durch seine Vorstellungskraft in seinem Gedächtnis auferstehen lassen kann: sein Vater und Iglésia. So sieht er die Gestalt seines Vaters auch dann vor sich, wenn er ihm nicht persönlich im Pavillon gegenübersitzt: […] Mais Georges n’allait même plus jusqu’au kiosque à présent, se contentant de le défier, de l’épier sans même le regarder (car il n’en avait pas besoin, il n’avait pas besoin de se servir de ses yeux pour cela, pouvant voir sans avoir besoin que l’image s’en imprime sur sa rétine la masse du corps à présent de plus en plus envahie par la graisse, monstrueuse, de plus en plus accablée par son propre poids, […] (RF, 219). 99 An der Grenze zur Imagination befindet sich schließlich die Evokation der rätselhaften „fille laiteuse“ des Ardennendorfes: Georges stellt sich das 96 G. Kebeck: Wahrnehmung. Theorien, Methoden und Forschungsergebnisse der Wahrnehmungspsychologie. (1997), S. 186. 97 In der vorliegenden Arbeit soll der Ausdruck ‘Imagination’ immer mit der Bedeutung „schöpferische Einbildungskraft” verwendet werden: In La Route des Flandres sind ‚Imaginationen’ ‚Erfindungen’ der Figuren, die keine Referenz auf die innerfiktionale Realität besitzen. Vgl. zu den beiden Gegenstandsbereichen des Begriffs ‚Imagination’ - „die reproduktive, das Wirkliche abbildende Vorstellungskraft“ sowie die „schöpferische Einbildungskraft“: Brockhaus Enzyklopädie in zwanzig Bänden. Band 9: IL-KAS. (1970), S. 13. Vgl. zum problematischen Status der Imagination zwischen „sensory perception“ und „understanding“ J.J.A. Mooij: Fictional Realities. The uses of literary imagination. (1993), S. 7. 98 G. Kebeck: Wahrnehmung. Theorien, Methoden und Forschungsergebnisse der Wahrnehmungspsychologie. (1997), S. 187. 99 Ebenso verhält es sich mit Iglésia, dessen Gesichtsausdruck Georges nach den langen Monaten der Kameradschaft auswendig kennt: „[…] et dans son dos la voix d’Iglésia chuchotant de nouveau, enrouée, furieuse, empreinte de cette espèce de puérile indignation (et pas besoin de se retourner pour voir ses gros yeux de poisson emplis eux aussi de cette même stupéfaction, moroses, outragés) : […]“ (RF, 236). <?page no="168"?> 168 Mädchen im Verlauf seines Erinnerungsprozesses wiederholt vor, doch bleiben diese Vorstellungsbilder aufgrund der Flüchtigkeit der ursprünglichen Begegnung im Laternenschein stets unpräzise: „[…] et tandis qu’il rangeait leurs deux paquetages le long du mur il lui semblait toujours la voir, là où elle s’était tenue l’instant d’avant, ou plutôt la sentir, la percevoir comme une sorte d’empreinte persistante, irréelle, laissée moins sur sa rétine (il l’avait si peu, si mal vue) que, pour ainsi dire, en lui-même : […]“ (RF, 39). In der Erinnerung ist es weniger das Abbild ihrer physischen Gestalt, die Georges vor Augen tritt, als die Empfindungen und Assoziationen, die ihr Anblick in ihm wachgerufen hat und die er nun erneut erlebt: „[…] une chose tiède, blanche comme le lait qu’elle venait de tirer au moment où ils étaient arrivés […]“ (RF, 39). In La Route des Flandres erweist sich die visuelle Wahrnehmung somit wiederholt als trügerisch und unzulänglich: 100 Die erinnerten visuellen Abbilder der Wirklichkeit sind auf verschiedene Weise beeinträchtigt, sie sind anfällig für Täuschungen und sogar durch den Wahrnehmenden manipulierbar. Nicht zuletzt geraten die kraft der Vorstellung evozierten Gedächtnisbilder in die Nähe frei schöpfender Imagination bzw. Spekulation. 101 Hier wird eine grundlegend erkenntnisskeptische bzw. agnostizistische Haltung des Erinnerungssubjekts Georges erkennbar: Sicheres Wissen über die Vergangenheit bleibt ihm verwehrt - „[…] the scenes of the past are irrevocably eroded by time.“ 102 100 Simon hat sich wiederholt zu seiner hier deutlich werdenden Wirklichkeitskonzeption geäußert: „Le monde extérieur - que ce soit les objets ou les gens - il est absolument impossible de le connaître si ce n’est par les images qu’il projette en nous : images visuelles […] ou des images émotives. Tout ce qu’on peut écrire c’est non pas le monde extérieur mais sa projection en nous.“ (C. Simon: „Interview [Bettina Knapp].“ (1969), S. 182.) Simon entwirft hier ein konstruktivistisches Realitätskonzept, das sich durch den Zweifel an der grundsätzlichen Erkennbarkeit der Welt und im Gegenzug durch die Beschreibung menschlicher Kognition und Wahrnehmung als konstruktive Prozesse auszeichnet. Die Existenz von Wirklichkeit wird von ihm nicht grundsätzlich abgestritten, sondern er betont ihre Subjektabhängigkeit. 101 Vgl. auch R. Sarkonak: „The Flanders Road (La Route des Flandres).“ (1990), S. 51; B. Pingaud: „Un roman-débâcle [La Route des Flandres].“ (1983), S. 206. 102 L.H. Kelly: Theme and Technique in the Novels of Claude Simon. (1974), S. 95. R. Warning unterstreicht, dass Simon durch sein „Erzählen im Zeichen defizienter Modi der Erinnerung“ in einen kritischen Dialog mit jener Ebene von Prousts Recherche eintritt, die „mit der Suche zugleich das Finden feiert, die Überführung aller Kontingenz in identitätsstiftende Kontinuität.“ (R. Warning: „Vergessen, Verdrängen und Erinnern in Prousts A la recherche du temps perdu.“ (1993), S. 161.) H. Mayer beschreibt die Rolle Prousts für Simon als die eines „[…] unvermeidlichen Gegenspielers, wenn es um eine emphatische Poetik der Erinnerung und ihre Verwirklichung im Roman geht.“ (H. Mayer: „Claude Simon / Henri Michaux. Ein Aufeinandertreffen.“ (2003), S. 144.) <?page no="169"?> 169 4.3.3.2 Die ‚Leere‘ der Wörter In Simons Roman ist nicht nur die ursprüngliche Wahrnehmung der äußeren Realität prekär, auch ihre Speicherung und Vermittlung in Gestalt von sprachlichen Zeichen ist problematisch und liefert ein unvollständiges Abbild der Wirklichkeit. Diese dem Text eingeschriebene Thematik der Sprachskepsis 103 wird zum einen implizit - in Gestalt der sprachlichen Organisation des Textes - und zum anderen explizit - in verschiedenen Äußerungen der Protagonisten bzw. des Erzählers - formuliert. Zu der impliziten Variante zählen die unzähligen Abtönungspartikel, die das zuvor Gesagte präzisieren bzw. relativieren 104 wie „c’est-à-dire“, „je veux dire“, „si l’on peut dire“, „pour ainsi dire“ bzw. „ou si l’on préfère“, welche das Ringen des erinnernden Subjekts um eine adäquate sprachliche Repräsentation der vergangenen Wirklichkeit demonstrieren. 105 Das Ziel ist dabei, die außersprachliche Realität durch immer neue verbale Formulierungen einzugrenzen und möglichst präzise zu erfassen. 106 An anderer Stelle versetzt sich Georges auf eine metasprachliche Ebene im Hinblick auf sein eigenes Sprechen bzw. Erzählen und formuliert fragend die Suche nach den treffenden Wörtern bzw. Vergleichen: „[…] morts elle et moi assourdis par le vacarme de notre sang se ruant refluant en grondant dans nos membres se précipitant à travers les ramifications compliquées de nos artères comme comment appelle-t-on cela mascaret je crois toutes les rivières se mettant à couler en sens inverse, remontant vers leurs 103 D. Schmidt weist auf die Scharnierfunktion des Motivs der Sprachskepsis in La Route des Flandres hin; dieses verbinde eine erkenntnistheoretische („Comment savoir? “) mit einer poetologischen Fragestellung: so werde in dem Roman die Erfassung der Wirklichkeit mittels der Wahrnehmung und Erinnerung unmöglich, weil keine objektive Sicht auf die Tatbestände mehr gelinge. Aus dieser Sichtweise resultiere auch eine andere Auffassung von den Aufgaben eines Romans, als sie noch den sogenannten ‚realistischen’ Romanen des 19. Jhs. oder der littérature engagée zugrunde lagen. (D. Schmidt: Schreiben nach dem Krieg. Studien zur Poetik Claude Simons. (1997), S. 81.) 104 H.-G. Funke bewertet die für La Route des Flandres typischen modalisateurs vor allem als das zuvor Gesagte „relativierende Ausdrücke der Abtönung“ (H.-G. Funke: „Der ‘monologue intérieur’ in Bessettes L’incubation (1965) und Claude Simons La route des Flandres (1960): Nationalität und Internationalität im intertextuellen Konstituierungsprozeß der „littérature québécoise“.“ (2000), S. 459.). 105 Vgl. z.B. RF, 110f., 295. 106 J.A.E. Loubère wendet sich gegen diese von der Simonforschung überwiegend vertretene These und vertritt die Meinung, dass die wiederholten Korrekturen weniger „the desire to capture […] reality itself“ zum Ausdruck bringen als den Versuch „[to capture] the formations created by reality in the mind“ im Sinne einer sprachlichen Repräsentation der inneren Vorgänge des Erinnerungssubjekts Georges (J.A.E. Loubère: „La Route des Flandres.“ (1975), S. 94.). Insgesamt komme es dabei zu einer „déréalisation du récit“, seine Inadäquatheit werde aufgedeckt (J.A. Kreiter: „Perception et réflexion dans La Route des Flandres: Signes et sémantique.“ (1981), S. 491; B. Pingaud: „Sur La route des Flandres.“ (1960-1961), S. 1031; B. Pingaud: „Un roman-débâcle [La Route des Flandres].“ (1983), S. 206.) <?page no="170"?> 170 sources […]“ (RF, 250). 107 In der Beschreibung des Liebesaktes mit Corinne versucht Georges, seine ihm bis dahin unbekannten körperlichen Empfindungen durch Vergleiche mit völlig fremden Phänomenen zu präzisieren; dieser Versuch scheitert jedoch. Noch weniger gelingt es Georges, einen passenden Begriff für grundsätzlich neue, in der Geschichte der Menschheit bislang unbekannte Ereignisse wie die Kriegsführung im Mai 1940 zu finden: […] mais comment appeler cela: non pas la guerre non pas la classique destruction ou extermination d’une des deux armées mais plutôt la disparition l’absorption par le néant ou le tout originel de ce qui une semaine auparavant était encore des régiments des batteries des escadrons des escouades des hommes, ou plus encore : la disparition de l’idée de la notion même de régiment de batterie d’escadron d’escouade d’homme, ou plus encore : la disparition de toute idée de tout concept si bien que pour finir le général ne trouva plus aucune raison qui lui permît de continuer à vivre non seulement en tant que général c’est-à-dire en tant que soldat mais encore simplement en tant que créature pensante et alors se fit sauter la cervelle […] (RF, 282). In seinem Versuch, das Unbekannte, Neue angemessen sprachlich zu beschreiben, entdeckt Georges, dass nicht nur - als historische Tatsache - das gesamte Regiment gleichsam vom Erdboden verschwunden ist, sondern auch die Vorstellung von einer solchen organisierten Einheit bzw. sogar jede Vorstellung und jede Idee an sich. 108 So liegt Georges’ Schwierigkeit nicht allein darin, einen adäquaten Begriff für eine neue Erscheinung zu finden bzw. überhaupt erst zu prägen, sondern vielmehr darin, dass sowohl das Bezeichnete selbst - die reale Armee - als auch das Vorstellungskonzept - das mentale Bild - verschwunden sind. In seinen Augen führt diese absolute Auslöschung des außersprachlichen Referenten und des psychischen Konzepts, 109 das der überlebende Teilnehmer des Krieges von seinen Erlebnissen besitzt, zum Selbstmord des Generals: Dieser habe mit dem Verlust seines Regiments nicht nur seine Existenzberechtigung als Soldat verloren, sondern auch - durch den damit einhergehenden Verlust seiner Vorstellung von diesem Regiment - die eines denkenden Wesens. Nicht zuletzt impliziert diese Textstelle auch eine fundamentale Sprachkri- 107 Vgl. RF, 183, 258, 287. S.W. Sykes: „Ternary Form in Three Novels by Claude Simon.“ (1978), S. 29, weist auf die Funktion der Wörter „mascaret“ und „massacré“ als ein „sound anagram“ hin. 108 Vgl. ebenso die folgende Beschreibung der Situation nach dem Hinterhalt im Hohlweg und der Auslöschung des Regiments: „[…] au milieu de cette espèce de décomposition de tout comme si non pas une armée mais le monde lui-même tout entier et non pas seulement dans sa réalité physique mais encore dans la représentation que peut s’en faire l’esprit […] était en train de se dépiauter se désagréger s’en aller en morceaux en eau en rien […]“ (RF, 16). 109 Vgl. das Zeichenmodell von Ogden und Richards (H. Pelz: Linguistik für Anfänger. (1994), S. 45.). <?page no="171"?> 171 tik: Mit der von Georges in der Rückschau konstatierten Auslöschung sowohl der realen Soldaten als auch des gedanklichen Konzepts geht das Verschwinden der Sprache selbst einher - diese kann nur ‚existierende’, d.h. reale oder mentale, Entitäten bezeichnen. Weitaus prägnanter wird der Zweifel an einer sprachlichen Repräsentation von Wirklichkeit in den expliziten Äußerungen des erinnernden Subjekts Georges ausgedrückt. Dabei werden die in La Route des Flandres entworfenen, gegensätzlichen Konzepte von Sprache beispielhaft von Georges und seinem Vater verkörpert. 110 Der Vater vertritt in diesem Zusammenhang die sprachgläubige Position und zeigt sich von der magischen Repräsentationskraft der Sprache bzw. der Schrift überzeugt: [Georges] pensant: « Mais il a de la peine et il cherche à le cacher à se donner lui aussi du courage C’est pour ça qu’il parle tant Parce que tout ce qu’il a à sa disposition c’est seulement cela cette pesante obstinée et supertitieuse [sic] crédulité - ou plutôt croyance - en l’absolue prééminence du savoir appris par procuration, de ce qui est écrit, de ces mots que son père à lui qui n’était qu’un paysan n’a jamais pu réussir à déchiffrer, leur prêtant, les chargeant donc d’une sorte de pouvoir mystérieux, magique… » […] (RF, 34f.). Für den Vater hat Sprache den Stellenwert eines „sixième sens artificiel“, einer „prothèse omnipotente fonctionnant à l’encre et à la pâte de bois“ (RF, 32); er glaubt an den Vorrang der durch die Lektüre von Texten erworbenen Erkenntnis gegenüber dem Wissen, das auf eigenen, realen Erfahrungen beruht. In diesem Sinne zeigt er sich grundsätzlich überzeugt von der von Georges als „mystérieux“ und „magique“ klassifizierten Fähigkeit von Sprache bzw. von Texten, Realität zu repräsentieren, und dies sogar auf eine angemessenere, authentischere Weise, als ein reales Erlebnis es könnte. Georges wiederum kritisiert parodierend diese ideale Repräsentationsfunktion der Sprache, wenn er ‚erleichtert’ entdeckt, dass ihn bereits die Metamorphosen Ovids auf die eigene ‚Verwandlung’ in ein Tier anlässlich des Gefangenentransports im Zug nach Deutschland vorbereitet haben: « […] à moins que ce ne soit pas du tout une erreur et qu’on l’ait [le wagon, S.Z.], conformément à l’usage pour lequel il a été construit, rempli de bestiaux, de sorte que nous serions devenus sans nous en rendre compte quelque chose comme des bêtes, il me semble que j’ai lu quelque part une histoire comme ça, des types métamorphosés d’un coup de baguette en cochons ou en arbres ou en cailloux, le tout par le moyen de vers latins… […] » (RF, 94). Georges gesteht durch diesen ‚Erkenntnisgewinn’ seinem Vater zu, Recht gehabt zu haben; die Wörter erfüllen allem Anschein nach doch einen gewissen Zweck: 110 Zu dem Konflikt zwischen Georges und seinem Vater vgl. H. Pfeiffer: „Claude Simon.“ (1986), S. 364, und W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 90ff. <?page no="172"?> 172 […] pensant encore „Comme quoi il n’a donc pas entièrement tort. Comme quoi somme toute les mots servent tout de même à quelque chose, de sorte que dans son kiosque il peut sans doute se persuader qu’à force de les combiner de toutes les façons possibles on peut tout de même quelquefois arriver avec un peu de chance à tomber juste. Il faudra que je le lui dise. Ça lui fera plaisir. Je lui dirai que j’avais déjà lu en latin ce qui m’est arrivé, ce qui fait que je n’ai pas été trop surpris et même dans une certaine mesure rassuré de savoir que ç’avait déjà été écrit, […] » (RF, 94). Doch ist auch diese Repräsentationsfunktion nur eine scheinbare, wie Georges ironisierend unterstreicht: Die referentielle Beziehung des Ovid- Textes zu seinen eigenen Erfahrungen ist nur eine zufällige - schließlich hat Ovid sein Werk fast zweitausend Jahre früher verfasst -, zumal sich Georges und die anderen Soldaten im Gegensatz zu den Figuren in den Metamorphosen nicht ‚wirklich’ in Tiere verwandelt haben, sondern nur eine metaphorische Beziehung zwischen ihrer Situation und jener von Tieren in Tiertransporten besteht. Auch wenn Literatur bzw. Sprache in Georges’ Augen eine gewisse pragmatische Funktion besitzen können, da sie den Leser bzw. Sprecher auf die Realität vorbereiten, wird, insgesamt betrachtet, auch hier Georges’ fundamentale Kritik an der sprachoptimistischen Sichtweise seines Vaters laut: Sprache beruht auf der willkürlichen Kombination von Wörtern, die möglicherweise auch einmal zufällig außersprachliche bzw. -literarische Phänomene beschreiben können. 111 Für Georges ergeben somit die endlosen Monologe seines Vaters keinen konkreten Sinn. Sie dienen nur der Selbstüberzeugung von der Richtigkeit und dem Nutzen des Gesagten „comme un enfant siffle en traversant un bois dans le noir“ (RF, 35). 112 Im Gegensatz zu seinem Vater ist Georges von der Unmöglichkeit einer sprachlichen Mimesis von Wirklichkeit überzeugt. 113 Seiner Meinung nach ist Sprache - wenn überhaupt - nur dazu imstande, ein deformiertes Abbild der Realität zu liefern, wie das Gleichnis der reflektierenden Brillengläser zeigt: […] le buste immobile du métayer imperceptiblement secoué par les trépidations surgissant peu à peu dans les crépuscule devant le fond de collines, les dé- 111 S. Sykes wertet die zitierte Textstelle dagegen als Beweis für Georges’ Glauben an die Macht der Wörter (S. Sykes: „1960. La Route des Flandres: le texte assassin.“ (1979), S. 84.). 112 Vgl. ebenso RF, 62. 113 Vgl. hierzu A. Tenaguillo y Cortazar: „L’Ecriture comme frayage: Claude Simon, La Route des Flandres.“ (1997), S. 211: „Tout le roman de Simon nous dit que le langage est impuissant à saisir les objets, et à les faire exister, comme tels, dans une construction transparente du réel. […] C’est pourquoi le rapport au monde est d’abord un rapport à la langue, et l’écriture une représentation fantasmée de ce rapport.“ Ebenso C. Reitsma La Brujeere: „Récit et métarécit, texte et intertexte dans Les Géorgiques de Claude Simon.“ (1984), S. 231; A.M. Miraglia: „La Route des Flandres, défi aux voix narratives.“ (1990), S. 270f.; D. Schmidt: Schreiben nach dem Krieg. Studien zur Poetik Claude Simons. (1997), S. 87ff. <?page no="173"?> 173 passant, se détachant enfin, sombre, sur le ciel pâle, et son père dans le fauteuil d’osier qui grinçait sous son poids à chacun de ses mouvements, le regard perdu dans le vide derrière les lunettes inutiles où Georges pouvait voir se refléter deux fois la minuscule silhouette [du tracteur; S.Z.] découpée sur le couchant traversant (ou plutôt glissant lentement sur) la surface bombée des verres en passant par les phases successives de déformations dues à la courbure des lentilles d’abord étirée en hauteur, puis s’aplatissant, puis s’allongeant de nouveau, filiforme, tandis qu’elle pivotait lentement et disparaissait […] (RF, 32f.). In diesem Sinnbild wird die Beziehung zwischen Sprache und Realität thematisiert. Ebenso wie die Brillengläser den Traktor verzerrt reflektieren, bildet auch Sprache eine äußere Realität verfälscht ab; der Raum hinter den Zeichen bleibt dabei leer. Noch weniger kann Sprache die Wirklichkeit erklären: es gibt keinen Sinn hinter den „mots inutiles et vides“ (RF, 35) und „dépourvus d’importance, anodins“ (RF, 47). 114 Zwar „[verweisen] die Wörter im fiktionalen Kontext wohl auf Sachen, [sind] aber etwas wesentlich Anderes als die aufgerufenen Dinge.“ 115 Georges’ Kritik 116 am humanistischen Bildungsideal seines Vaters gipfelt in seinem Kommentar zu einem Feldpostbrief des Vaters, 117 in welchem jener den Verlust der Leipziger Bibliothek nach einem Bombenabwurf bedauert: 114 Ebenso RF, 113, 273. Vgl. hierzu A.B. Duncan: „Claude Simon: la crise de la représentation.“ (1997), S. 46: „[…] il y a incompabilité entre le pouvoir créateur des mots et leur prétention à représenter.“ L. Fraisse: „La lentille convexe de Claude Simon.“ (1999), S. 40, überträgt diese Erkenntnis auf den Schaffensprozess des Autors: „[…] il ne peut pas y avoir de roman réaliste, puisque l’écrit déforme le perçu […]“. Vgl. ferner B. Franolic: „La Route des Flandres, outline of an analysis.“ (1981), S. 48. Ebenso R. Barthes: „L’effet de réel.“ (1968), S. 484: „[…] alors qu’il s’agit au contraire, aujourd’hui, de vider le signe et de reculer infiniment son objet jusqu’à mettre en cause, d’une façon radicale, l’esthétique séculaire de la représentation.“ 115 W. Engler: „Die Aufkündigung der Mimesisvereinbarung im Roman von Claude Simon: Notizen zu La Route des Flandres.“ (1995), S. 139. Ebenso B.T. Fitch: „Participe présent et procédés narratifs chez Claude Simon.“ (1964), S. 214. 116 Vgl. Georges Aufzählung nicht nur nutzloser, sondern sogar ‚unschicklicher’ („[des choses] incongrues“) Gegenstände im Kriegsgefangenenlager, zu welchen er neben „des bas ou des culottes de femme“ auch „des livres de philosophie“ zählt (RF, 160). Ebenso sein rechtfertigender, polemischer Monolog gegenüber Blum, warum er „comme un livre“ über das hypothetische Schicksal seines Ahnen de Reixach spricht: „[…] Et Georges […] disant: « C’est vrai. Excuse-moi. Une habitude, une tare héréditaire. Mon père a absolument tenu à ce que je me fasse recaler à Normale. Il tenait absolument à ce que je profite au moins un peu de cette merveilleuse culture que des siècles de pensée nous ont léguée. Il voulait à toute force que son enfant jouisse des incomparables privilèges de la civilisation occidentale. Etant le fils de paysans analphabètes, il est tellement fier d’avoir pu apprendre à lire qu’il est intimement persuadé qu’il n’y a pas de problème, et en particulier celui du bonheur de l’humanité, qui ne puisse être résolu par la lecture des bons auteurs. […] »“ (RF, 209). 117 RF, 210. <?page no="174"?> 174 […] «…à quoi j’ai répondu par retour que si le contenu des milliers de bouquins de cette irremplaçable bibliothèque avait été précisément impuissant à empêcher que se produisent des choses comme le bombardement qui l’a détruite, je ne voyais pas très bien quelle perte représentait pour l’humanité la disparition sous les bombes au phosphore de ces milliers de bouquins et de papelards manifestement dépourvus de la moindre utilité […]» (RF, 211). 118 Die Nutzlosigkeit von Sprache bzw. Literatur zeigt sich in Georges’ Augen vor allem dann, wenn alles kulturelle und zivilisatorische Wissen, das die Menschheit über Jahrhunderte hinweg erworben hat, nicht den Ausbruch eines weiteren Krieges verhindern kann. 119 In diesem Kontext ist auch Georges’ Entscheidung einzuordnen, sich nach Kriegsende der Landwirtschaft zu widmen: […] Mais Georges n’allait même plus jusqu’au kiosque à présent, se contentant de le défier, de l’épier sans même le regarder […], comme il l’avait défié, épié à son retour, la scène se déroulant ainsi : Georges déclarant qu’il avait décidé de s’occuper des terres, et soutenu […], soutenu, donc, par la bruyante, obscène et utérine approbation de Sabine ; et pas plus, c’est-à-dire pas un mot, pas une observation, pas un regret, la pesante montagne de chair toujours immobile, silencieuse, la lourde et pathétique masse d’organes distendus et usés à l’intérieur de laquelle ou plutôt sous laquelle se tenait quelque chose qui était comme une partie de Georges, au point que malgré sa totale immobilité, malgré sa totale absence de réaction apparente Georges perçut parfaitement et plus fort que l’assourdissant caquetage de Sabine comme une sorte de craquement, comme le bruit imperceptible de quelque organe secret et délicat en train de se briser, et rien de plus après cela, rien d’autre, sinon cette carapace de silence, […]“ (RF, 219f.). 120 Georges’ Erklärung gegenüber seinen Eltern, von nun an - aufgrund seiner Kriegserfahrungen - auf die Fortführung seiner akademischen und intellektuellen Karriere zu verzichten und stattdessen Landwirt auf seinem Gut zu werden, wird von Vater und Mutter völlig unterschiedlich aufgenom- 118 Vgl. ebenso RF, 159f., 182f., 209. 119 Vgl. zum Humanismusstreit zwischen Georges und seinem Vater v.a. W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 90ff. Ebenso A. Duncan: „La Route des Flandres: adventure in words.“ (1994), S. 22; S. Guermès: L’écho du dedans. Essai sur La Route des Flandres de Claude Simon. (1997), S. 155. 120 Die Opposition von Ackerbau und Schreiben nimmt bereits ein zentrales Motiv des zwanzig Jahre später erscheinenden Romans Les Géorgiques vorweg: Während der spätere Text in der Figur des Revolutionsgenerals L.S.M. eine Verbindung von Ackerbau und Schreiben herstellt und damit metaphorisch auch die Arbeit des Schriftstellers beschreibt, gelingt diese Synthese in La Route des Flandres noch nicht: Hier steht der Protagonist vor der Entscheidung, entweder die vor dem Krieg begonnene, aber durch diesen entwertete intellektuelle Tätigkeit fortzuführen oder aber in Abwesenheit von Texten und beinahe auch von Sprache (Vgl. die Beschreibung seiner Treffen zum Kartenspiel in einer Bar, die weitestgehend ‚stumm’ („[de la même façon] silencieuse“) ablaufen; RF, 221) ein Leben als Landwirt zu führen. <?page no="175"?> 175 men. Während Sabines plapperndes Einverständnis aufgrund seiner Sinnentleertheit obszön wirkt und durch ihre Mutterrolle beeinflusst zu sein scheint, lässt der Vater wider Erwarten kein Wort verlauten. Doch kann Georges im Innern des Vaters ein verborgenes und empfindliches Organ - das wie ein Teil seiner selbst ist - zerbersten ‚hören’. Dieses Organ ist die Schrift und damit die Sprache des Vaters, die Georges an anderer Stelle im Text als ‚zusätzliches Organ’ beschreibt: […] [Georges] pensant à son père assis dans le kiosque […] où il passait ses après-midi à travailler, couvrir de sa fine écriture raturée et surchargée les éternelles feuilles de papier qu’il transportait avec lui d’un endroit à l’autre dans une vieille chemise aux coins cornés, comme une sorte d’inséparable complément de lui-même, d’organe supplémentaire inventé sans doute pour remédier aux défaillances des autres […]“ (RF, 31). In Georges’ Beschreibung erscheint das Schreiben des Vaters funktionslos zu sein und nur um seiner selbst willen zu geschehen. 121 Die eng beschriebenen Blätter stets wie ein zusätzliches Organ bei sich zu tragen, scheint dem Vater zur Notwendigkeit geworden zu sein, da seine anderen Organe zunehmend unzuverlässig werden. Georges’ Absichtserklärung, sein weiteres Leben als Landwirt zu verbringen, zerstört in dem Vater dieses ‚Organ’; er hat zuletzt seinen Glauben an die Macht der Sprache verloren - hat er doch seine eigenen Ideale nicht an seinen Sohn weitergeben können. Künftig wird der Vater auch auf jede weitere Kommunikation mit dem Sohn verzichten; so wie zuvor die Schrift das charakteristische Merkmal des Vaters war, wird es fortan sein Schweigen sein. Obwohl Georges so kritisch die Haltung seines Vaters hinterfragt und ablehnt, wählt er doch paradoxerweise einen ähnlichen Weg, um Erkenntnis über die Wirklichkeit zu erlangen. So hofft er, in Corinnes Körper wie in einem Buch lesen zu können und auf diese Weise die Umstände, die zu de Reixachs unerklärlichem Tod führten, aufzudecken: […] qu’avais-je cherché en elle espéré poursuivi jusque sur son corps dans son corps des mots des sons aussi fou que lui avec ses illusoires feuilles de papier noircies de pattes de mouches des paroles que prononçaient nos lèvres pour 121 Siehe auch den Vergleich der verschiedenen Kommunikationsweisen von Vater und Mutter, der von Georges zugunsten der Mutter entschieden wird (RF, 230): „[…] la décevante réapparition de griffonnages sans autre existence réelle que celle attribuée à eux par un esprit lui non plus sans existence réelle pour représenter des choses imaginées par lui et peut-être aussi dépourvues d’existence, et alors mieux valait à tout prendre son jacassement de volatile, ses colliers entrechoqués, son perpétuel et insensé verbiage qui avaient au moins la vertu d’exister, quand ce ne serait que par le bruit et le mouvement […]“. Den schriftlichen Zeugnissen des Vaters spricht Georges jede reale Existenz ab - sie seien nur das imaginäre Produkt eines imaginären Geistes -; hingegen sei das Geschwätz der Mutter allein aufgrund seiner akustischen Vernehmbarkeit in der Wirklichkeit präsent. Georges votiert in dieser Äußerung zugunsten des Vorrangs der Mündlichkeit gegenüber der Schriftlichkeit. <?page no="176"?> 176 nous abuser nous-mêmes vivre une vie de sons sans plus de réalité sans plus de consistance que ce rideau sur lequel nous croyions voir le paon brodé remuer palpiter respirer imaginant rêvant à ce qu’il y avait derrière […] (RF, 259). Auch Georges setzt in seiner Affäre mit Corinne auf die Repräsentationskraft der Sprache: Er hat die Hoffnung, durch den Kontakt mit ihrem Körper und durch ihre gemeinsamen Gespräche die Wahrheit über ihr früheres Leben aufzudecken. 122 Doch muss er bald feststellen, dass es ihm auf diese Weise nicht gelingen wird, Aufschluss über die Vergangenheit eines anderen Menschen zu erhalten. 123 Vielmehr dienen Corinne und Georges die Wörter dazu, sich gegenseitig zu täuschen und ein Leben voller Laute ohne Referenz auf die außersprachliche Realität 124 zu führen. Es wird Georges ebenso wenig gelingen, hinter Corinnes ‚Fassade’ zu gelangen wie hinter den Pfauenvorhang im Ardennendorf. 125 Am Ende ihrer Beziehung muss er erkennen, dass auch sie nur ein ‘leeres’ Zeichen darstellt (RF, 259). 126 So wie die Papiere seines Vaters mit bedeutungsleeren Zeichen beschrieben sind, ergeben auch die Worte, die Georges mit Corinne gewechselt hat, keinen Sinn. Die ganze Episode erscheint ihm zuletzt völlig realitätsfern und gegenstandslos. Über die Parodie der Sprachgläubigkeit seines Vaters hinaus entwirft Georges eine eigene Kritik an der scheinbaren Referentialität sprachlicher Zeichen, den seiner Ansicht nach „mots inutiles et vides“ (RF, 35) und „paroles privées de sens“ (RF, 113). 127 So erkennt Georges, dass Sprache wie alle anderen medialen Repräsentationen von Realität immer nur einen Ausschnitt von ihr darstellen: „[…] des bribes de phrases […] représentant des bribes de réalité […]“ (RF, 217). Wenn er also versucht, im Gespräch mit Iglésia die ursprüngliche Wirklichkeit seiner Beziehung mit Corinne zu rekonstruieren, wird er nie die ‚ganze’ Wahrheit erkennen. 122 Vgl. hierzu R. Sarkonak, der die Suche des Vaters als „linguistic search“, die seines Sohnes als „corporeal search“ beschreibt (R. Sarkonak: „The Flanders Road (La Route des Flandres).“ (1990), S. 51.). 123 Vgl. hierzu R. Sarkonak: Simon, les carrefours du texte. (1986), S. 30. Er vergleicht den Geschlechtsakt zwischen Georges und Corinne mit dem Schreibakt des Autors Simon, der ebenfalls ‘etwas’ ausdrücken will. Am Ende scheitert aber der Autor bei der sprachlichen Repräsentation von Wirklichkeit ebenso wie Georges bei der sprachlichen Rekonstruktion der Vergangenheit. 124 Ebenso RF, 263. 125 R. Warning interpretiert in diesem Zusammenhang den auf dem Vorhang eingestickten Pfau als Metapher vom Text als ‚Textur’ bzw. ‚Gewebe’, welches jedoch nicht mehr die „Transparenz repräsentativer Schriftlichkeit“ gewährleiste (R. Warning: „Claude Simons Gedächtnisräume: La Route des Flandres.“ (1991), S. 368.) 126 Ebenso S. 278f. T.R. Kuhnle präzisiert, dass Corinne für Georges ein ‚ikonisches Zeichen’ darstellt, das jedoch nur eine banale Bedeutung besitzt (T.R. Kuhnle: Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des ‘nouveau romancier’ Claude Simon. (1995), S. 384.). 127 Vgl. z.B. die „noms énigmatiques“ auf den flandrischen Ortsschildern (RF, 291). <?page no="177"?> 177 Doch ist Sprache nicht nur ein unzulängliches Medium bei der Erfassung der Realität, sie ist darüber hinaus in der Lage, fiktive Sachverhalte zu konstruieren, d.h. im Grunde zu ‚lügen’, wie Georges im Zusammenhang mit de Reixachs Analyse des Hinterhalts im Hohlweg erfährt: [de Reixach] disant: … vilaine affaire. Apparemment ils se servent de ces chars comme…, puis il fut trop loin j’avais oublié que ce genre de choses s’appelait simplement une « affaire » comme on dit « avoir une affaire » pour « se battre en duel » délicat euphémisme formule plus discrète plus élégante allons tant mieux rien n’était encore perdu puisqu’on était toujours entre gens de bonne compagnie dites ne dites pas, exemple ne dites pas « l’escadron s’est fait massacrer dans une embuscade », mais « nous avons eu une chaude affaire à l’entrée du village de » […] (RF, 156). Hier dient die Wortwahl der Verharmlosung und damit dem Verbergen der grauenhaften Wahrheit; stattdessen wird von de Reixach eine alternative Wirklichkeit konstruiert, die den Anforderungen der längst überholten Etikette des 19. Jahrhunderts genügt. Nicht zuletzt scheint sich Sprache in manchen Situationen gegen ihre Benutzer zu wenden, wenn sie - anstatt für Klarheit und gegenseitiges Verständnis zu sorgen - jede Kommunikation zunichte macht, wie es im Verlauf der bruchstückhaften, sinnentleerten verbalen Auseinandersetzung der Soldaten im Ardennendorf geschieht: […] les voix se mêlant en une sorte de chœur incohérent, désordonné, de babelesque criaillerie, comme sous le poids d’une malédiction, une parodie de ce langage qui, avec l’inflexible perfidie des choses créées ou asservies par l’homme, se retournent contre lui et se vengent avec d’autant plus de traîtrise et d’efficacité qu’elles semblent apparemment remplir docilement leur fonction : obstacle majeur, donc, à toute communication, toute compréhension, les voix montant alors, comme si la simple modulation des sons se révélant impuissante elles n’avaient plus d’espoir que dans leur force […] (RF, 56f.). 128 Das Durcheinander der Wörter und die sich gegenseitig übertönenden Soldaten lassen keinen verbalen Austausch entstehen. Die Sprache erweckt nur noch den Anschein, für eine Verständigung zu sorgen; in Wahrheit ist sie längst zu einem Hindernis geworden, das die Sprecher durch umso größere Lautstärke zu überwinden suchen. Sie scheint zwar - oberflächlich betrachtet - ihren Zweck zu erfüllen, doch in Wirklichkeit parodiert sie nur sich selbst: Indem sie keine Information mehr übermittelt, rächt sich die Sprache an ihrem Benutzer, der naiv auf ihre Fähigkeit vertraut, Wirklichkeit auszudrücken. 129 128 Vgl. RF, 287, 288. 129 Vgl. hierzu N. Piégay-Gros: „Légende et affabulation dans La Route des Flandres.“ (1997), S. 123: „[…] la signification est en crise, la hiérarchie des effets de sens n’a plus de raison d’être.“ Ebenso N. Piégay-Gros: „La voix dans les romans de Simon. Vocalité, représentation, expression.“ (1998), S. 489f. G. Prince zufolge erfüllt Sprache in La <?page no="178"?> 178 Auch wenn Georges dem Sprechen und der Sprache gegenüber kritisch eingestellt ist, 130 erfüllt sie für ihn doch eine ganz wichtige Funktion während seiner Gefangenschaft: [Blum et Georges] y restèrent tous les deux [au camp, S.Z.], travaillant pendant les mois d’hiver à décharger des wagons de charbon, […] minables et grotesques silhouettes, avec leur calot rabattu sur leurs oreilles, le col de leur capote relevé, tournant le dos au vent de pluie ou de neige et soufflant dans leurs doigts tandis qu’ils essayaient de se transporter par procuration (c’est-à-dire au moyen de leur imagination, c’est-à-dire en rassemblant et combinant tout ce qu’ils pouvaient trouver dans leur mémoire en fait de connaissances vues, entendues ou lues, de façon là, au milieu des rails mouillés et luisants, des wagons noirs, des pins détrempés et noirs, dans la froide et blafarde journée d’un hiver saxon à faire surgir les images chatoyantes et lumineuses au moyen de l’éphémère, l’incantatoire magie du langage, des mots inventés dans l’espoir de rendre comestible comme ces pâtes vaguement sucrées sous lesquelles on dissimule aux enfants les médicaments amers - l’innommable réalité) dans cet univers futile, mystérieux et violent dans lequel, à défaut de leur corps, se mouvait leur esprit : quelque chose peut-être sans plus de réalité qu’un songe, que les paroles sorties de leurs lèvres : des sons, du bruit pour conjurer le froid, les rails, le ciel livide, les sombres pins : ) […] (RF, 173). In der grausamen Realität der Gefangenschaft dienen Georges und Blum ihre Gespräche als Fluchtmöglichkeit aus eben dieser „innommable réalité“: Erlebtes und Imaginiertes, Gelesenes und Gehörtes wird mit sprachlichen Mitteln zu phantastischen Bildern verknüpft, die den Schrecken des Lagers und der Zwangsarbeit erträglicher machen sollen. Dabei verfügen die Wörter über eine gleichsam magische Macht: Auch ohne eigentlich auf Reales zu referieren, gelingt es ihnen doch, die Wirklichkeit zu beschwören und zu verdrängen. Auch dienen die Gespräche der gegenseitigen Ermutigung und der Abwechslung vom eintönigen Alltag der Gefangenschaft: „[…] peut-être étais-je toujours en train de lui parler, d’échanger avec un petit juif maintenant mort depuis des années des vantardises des blagues des obscénités des mots des sons rien que pour ne pas nous endormir nous donner le change nous encourager l’un l’autre, […]“ (RF, 262). Die zitierte Textstelle fungiert darüber hinaus auch als mise en abyme der Fiktionalität des Gedächtnisstroms sowie des Romans insgesamt, da auch Georges bei der Evokation der Vergangenheit reale und hypothetische Erinnerungen miteinander vermischt. Indem hier ein Teil des Romans als fiktional entlarvt wird, wird zum einen auf die Fiktionalität des Romans als Route des Flandres weder ihre angestammte „epistemologico-descriptive function“, noch ihre „communicative function“ (G. Prince: „How to Redo Things with Words: La Route des Flandres.“ (1988), S. 772.). 130 Vgl. im Gespräch mit dem Vater: „[…] et lui [Georges]: « Rien je n’ai rien Je n’ai surtout pas envie d’aligner encore des mots et des mots et encore des mots […] » […]“ (RF, 34). <?page no="179"?> 179 Ganzes verwiesen, der ja ebenfalls aus Sprache bzw. aus Zeichen „sans plus de réalité qu’un songe“ (RF, 173) besteht. 131 Zum anderen thematisiert der Text hier auf metafiktionale Weise seine fiktionalen Vertextungsverfahren: Fiktive Realität entsteht auch in La Route des Flandres aus der Synthese von realen und fiktiven Objekten. Die vorangehenden Überlegungen haben gezeigt, dass in Simons Roman ein alternatives Konzept von Sprache entworfen wird: Im Mittelpunkt steht nun nicht mehr die referentielle, vom Text immer wieder dekonstruierte Funktion der Sprache, 132 sondern vielmehr ihre schöpferische Kraft, die es ihren Benutzern ermöglicht, imaginäre Welten zu entwerfen und auf diese Weise der unerträglichen Wirklichkeit zu entfliehen. 4.3.3.3 Die ‚Offenheit‘ der Bildzeichen Ebenso wenig wie die individuellen Sinneswahrnehmungen und die Sprachbzw. Schriftzeichen als zuverlässige Speichermedien vergangener Wirklichkeit fungieren, liefern auch die verschiedenen Bildzeichen in La Route des Flandres kein adäquates Abbild der äußeren Realität; vielmehr wird ihre spezifische Repräsentationsfunktion problematisiert und in Frage gestellt. Dabei zielt im Roman die Diskussion der Beziehung zwischen dem nicht-sprachlichen Artefakt und der von ihm repräsentierten Wirklichkeit auf fünf Problembereiche ab: auf den Rezipienten bzw. Betrachter, auf den Produzenten bzw. Künstler, auf den (kunst-)historischen Kontext, in welchem das Bild entstanden ist, auf den Inhalt bzw. das Abgebildete sowie auf das Kunstwerk allgemein - jeder dieser Bereiche liefert gewisse Faktoren, die das Kunstwerk als ein mimetisches Abbild der Wirklichkeit in Frage stellen. Kennzeichen des Bildes wie anderer, z.B. sprachlicher, Kunstwerke auch ist seine relative ‚Offenheit’ gegenüber verschiedenen Interpretationsansätzen. 133 Auch in La Route des Flandres lassen die beschriebenen Gemäl- 131 Diese Scheinreferenz der Sprache auf eine außersprachliche Realität führen z.B. die arabischen Phantasienamen vor: „leurs noms gutturaux et râpeux Arhmed ben Abdahalla ou Bouhabda ou Abderhamane“ (245). Vgl. ferner die Generalstabskarte mit ihren betont gegenständlichen Ortsnamen (280f.). Hierzu u.a. Stuart W. Sykes: „‘Mise en abyme’ in the novels of Claude Simon“ (1973), S. 342; A.M. Miraglia: „La Route des Flandres: ‘défi aux voix narratives’“ (1990), S. 270; W. Engler: „Die Aufkündigung der Mimesisvereinbarung im Roman von Claude Simon“ (1995), S. 150. 132 Mit dieser sprachskeptischen Haltung greift der französische Nouveau Roman die Tendenz in der zeitgenössischen, postmodernen, Literatur bzw. Kultur allgemein auf, die referentielle Kraft der Sprache in Zweifel zu ziehen (R. Scholes: „The fictional criticism of the future.“ (1975), S. 234f.). 133 U. Eco hat als „Offenheit“ eines Kunstwerks seine spezifische Beschaffenheit beschrieben, über die vom Künstler intendierte geschlossene Form hinaus (das vom Künstler organisierte „Gewebe von kommunikativen Wirkungen“, das jeden Kon- <?page no="180"?> 180 de mehrere Deutungsmöglichkeiten zu: 134 So glaubte Georges als Kind lange Zeit, der Vorfahr de Reixach habe sich auf prophetische Weise zu Lebzeiten mit seiner todbringenden Schusswunde portraitieren lassen, allein weil auf dem Gemälde eine braunrote, blutähnliche Spur im Gesicht und am Jackenkragen zu erkennen war: „[…] comme si - pour illustrer, perpétuer la trouble légende dont le personnage était entouré - on l’avait portraituré ensanglanté par le coup de feu qui avait mis fin à ses jours […]“ (RF, 54). Georges deutet aus seinem späteren Wissen heraus eine Realität in das Gemälde ‚hinein’, die bei seiner Entstehung noch gar nicht bekannt sein konnte: Schließlich entstand das Bild zu Lebzeiten des Generals, als sein späterer gewaltsamer Tod noch im Dunkel der Zukunft lag (RF, 175). Ein wechselseitiger Interpretationsprozess erfolgt auch bei den „gravures galantes“, die Georges als Kind häufig an den Wänden des elterlichen Schlafzimmers betrachtet hat. Zum einen nimmt er ihr Vorhandensein in dem Raum, in dem sich der Vorfahr angeblich erschossen hat, als Beweis für die Glaubwürdigkeit der Vorgeschichte des Geschehens: der General habe sich vor seinem Selbstmord schnell seiner Kleidung entledigt und sei dann völlig unbekleidet von den Bediensteten aufgefunden worden (RF, 83). Andererseits wird Georges von Blum vorgeworfen, er habe den Stich zu einseitig zum Vorteile der familiären Selbstdarstellung interpretiert: et Blum : « […] et puis il y a aussi cette gravure […] représentant la scène et que tu interprètes à la façon de ta mère c’est-à-dire selon la version la plus flatteuse pour votre amour-propre familial en vertu de cette loi qui veut que l’Histoire … » […] (RF, 175f.); et Blum : « … que l’Histoire (ou si tu préfères: la sottise, le courage, l’orgueil, la souffrance) ne laisse derrière elle qu’un résidu abusivement confisqué, désinfecté et enfin comestible, à l’usage des manuels scolaires agréés et des familles à pedigree… Mais en réalité que sais-tu ? Quoi d’autre que le caquetage d’une femme peut-être plus soucieuse de protéger la réputation d’une de ses semblables que de fourbir […] un blason et un nom quelque peu ternis et que … » […] (RF, 177). sumenten in die Lage versetzen soll, die Form des Werkes so zu verstehen und zu genießen, wie von ihm beabsichtigt) in „einer bestimmten individuellen Perspektive“ von den Konsumenten verstanden zu werden. „Jede Rezeption ist so eine Interpretation und eine Realisation, da bei jeder Rezeption das Werk in seiner originellen Perspektive neu auflebt.“ (U. Eco: Das offene Kunstwerk. Übersetzt von Günter Memmert. (1977), S. 29f.). Später hat Eco diese These von der absoluten Offenheit eines Kunstwerks eingeschränkt, indem er auf die jede Interpretation kontrollierende Rolle der „Logik der Signifikanten“ sowie der Kontextbeziehungen verweist. (U. Eco: „Die ästhetische Botschaft. Übers. v. Jürgen Trabant.“ (1982), S. 421 und 423f.) 134 W. Nitsch erkennt in der unterschiedlichen Interpretation der Familienwappen der de Reixach durch Blum und Georges einen Hinweis auf die „Vieldeutigkeit bildlicher Zeichen“ in La Route des Flandres (W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 80). <?page no="181"?> 181 In Blums Augen ist der Interpretationsansatz der Mutter leicht zu durchschauen: Ohne konkrete Anhaltspunkte für das genaue Tatmotiv des Ahnen zu besitzen, deutet sie seinen Selbstmord zugunsten der Familienehre als Ausdruck einer tief empfundenen Schmach über die französische Niederlage im Krieg gegen die Spanier. Blum hingegen ist der Meinung, dass auf der „gravure galante“ vielmehr das ‚wahre’ Motiv für den gewaltsamen Tod des Generals dargestellt sei: der Ehebruch seiner Frau mit einem „valet“, den der betrogene Ehemann nach seiner überraschenden Rückkehr aus Spanien aufgedeckt habe. 135 So zeigt sich der Stich offen für verschiedene Interpretationen, die aufgrund der nicht überlieferten Gründe für den Tod des Ahnen alle gleichermaßen zulässig sind. Doch finden sich auch auf Seiten des Künstlers gewisse Faktoren, welche die Authentizität der abgebildeten Wirklichkeit in Zweifel ziehen lassen: Dieser kann aus verschiedenen Gründen die ursprüngliche Realität in ihrer Darstellung verändern, so z.B. in der künstlichen Verjüngung der abgebildeten Personen (RF, 184). Auch spielt der Einfluss des zum Entstehungszeitpunkt des Bildes herrschenden künstlerischen Stils eine große Rolle. So war es gegen Ende des 18. Jahrhunderts üblich, Frauen - unabhängig davon, ob es sich bei ihnen um ehrbare Familienmütter oder um „lascives odalisques“ handelte - „[…] mollement abandonnées sur les coussins des bains turcs […]“ (RF, 265) zu portraitieren. Daher ist es möglich, dass das zweite Portrait einer sehr sinnlichen Virginie eine falsche, aber zu diesem Zeitpunkt angestrebte ideale Realität widerspiegelt, die so nicht existiert hat. Doch auch hier bleibt es dem Betrachter - in diesem Fall Georges - verwehrt, Klarheit über die Vergangenheit seiner Ahnin zu erlangen, da andere, möglicherweise zuverlässigere Quellen für ihr Leben nicht überliefert sind. Nicht zuletzt können auch in der Person des oder der Abgebildeten bestimmte Gründe für die Art der Darstellung liegen. Beispielsweise vermutet Georges, dass es sich bei dem Portrait des Generals nur um eine Pose handelt, die dieser zum Zwecke einer besseren Selbstdarstellung eingenommen hat: […] Car peut-être ce viril attirail de chasseur - l’arme, la large courroie de cuir rouge d’une gibecière postulant les bêtes mortes, quelque chose où se mélangeraient des fourrures et des plumes tachetées comme dans ces natures mortes où sont entassés lièvres, perdreaux et faisans - n’était-il là que pour lui fournir une pose, une contenance comme, de nos jours, les gens se font photographier dans les foires en passant la tête à travers ces trous ovales qui tiennent lieu de visages à des personnages (aviateurs de fantaisie, clowns, danseuses) peints sur une simple toile […] (RF, 76f.). Es geht dem General in Georges’ Augen um die Zurschaustellung einer (möglicherweise so nicht vorhandenen) Männlichkeit: diese zeigt sich im 135 RF, 178f., 181-189. <?page no="182"?> 182 18. Jahrhundert typischerweise in den Attributen eines erfolgreichen Jägers. 136 Dieses Bedürfnis nach einer bestimmten Selbstdarstellung kann jedoch nicht allein einer individuellen Person innewohnen, sondern auch einem ganzen Volk, wie die Art der visuellen Repräsentation von kriegerischen Ereignissen deutlich macht. So existiert von der französischen Niederlage in den Revolutionskriegen gegen Spanien, die laut Georges und seiner Mutter zu der Entscheidung des Generals, Selbstmord zu begehen, beigetragen hat, keine bildliche Repräsentation: „Il n’y avait pas non plus - du moins il n’en avait jamais vu - d’image représentant cette bataille, cette défaite, cette déroute, sans doute parce que les nations vaincues n’aiment pas perpétuer le souvenir des désastres; […]“ (RF, 202). Hingegen ist vom französischen Sieg in der kriegerischen Konfrontation zwischen dem absolutistischen Spanien und dem revolutionären Frankreich ein Gemälde überliefert, das nun einen Ehrenplatz in der „grande salle de l’Hôtel de Ville“ erhalten hat. 137 Schließlich liegt in ihrer Fähigkeit zur optischen Täuschung ein weiterer Grund, weshalb die bildende Kunst und hier insbesondere die Malerei trotz ihres scheinbaren Realismus kaum als mimetische Abbildungen einer Realität jenseits des Kunstwerks gelten können. Wie schon angedeutet wurde, beruht Georges‘ Interpretation des seinen Ahnen repräsentierenden Gemäldes auf einer Sinnestäuschung, hervorgerufen durch den schlechten restaurativen Zustand des Bildes (RF, 69f.). 138 Nicht zuletzt liegt in der prinzipiellen Ungleichzeitigkeit der Wirklichkeit und ihres Abbildes ein weiteres Täuschungspotential. Dies führt Si- 136 Dies gilt vor allem für den männlichen Adligen. Vgl. auch RF, 272. 137 Der Roman nennt nicht die Stadt, in der das Gemälde zu finden ist - vermutlich handelt es sich dabei um Georges’ Heimatstadt. Das Gemälde selbst ähnelt in seiner Beschreibung Eugène Delacroix’ La liberté guidant le peuple (1830), das möglicherweise als Modell für das jüngere Gemälde - „[…] et c’était environ cent ans plus tard encore qu’un peintre officiel avait été chargé de la [la victoire, S.Z.] représenter“ (RF, 202) - gedient hat. 138 Daneben ist besonders das Kino aufgrund seiner technischen Möglichkeiten das Medium schlechthin für Sinnestäuschungen, wie die wiederholten Vergleiche mit cineastischen Verfahren deutlich machen. So wird die übergroße Geschwindigkeit alter Wochenschaubilder durch die Mangelhaftigkeit der damaligen Filmkameras und Projektionsapparate verursacht (RF, 65); auf den Zuschauer wirken die so präsentierten Figuren und Situationen grotesk und verbergen auf diese Weise unfreiwillig den ernsten Hintergrund. Schließlich besteht eine andere Möglichkeit des Kinos zur Sinnestäuschung darin, eine Personengruppe vor einem sich bewegenden Hintergrund zu platzieren, mit dem visuellen Effekt, dass es scheinbar die Figuren sind, die sich bewegen, während der Hintergrund unbewegt bleibt (RF, 68f.). Auf diese Weise unterstreichen die expliziten Referenzen auf das Kino und seine Techniken „[…] le caractère irréel et figé des souvenirs“ und verstärken zugleich „[…] le caractère artificiel de la représentation pour détruire à chaque instant l’illusion de réel créée.“ (A.-M. Baron: „La Route des Flandres, de Simon, roman filmique.“ (1998), S. 100f.) <?page no="183"?> 183 mons Roman am Beispiel der Generalstabskarte vor, die einen bestimmten Zustand der Realität ‚einfriert’, ohne eventuelle Veränderungen dieser Realität nachträglich berücksichtigen zu können: cherchant à nous imaginer nous quatre et nos ombres nous déplaçant à la surface de la terre, minuscules, parcourant en sens inverse un trajet à peu près parallèle à celui que nous avions emprunté dix jours plus tôt en nous portant à la rencontre de l’ennemi l’axe de la bataille s’étant entre-temps légèrement déplacé l’ensemble du dispositif ayant subi de ce fait une translation du sud vers le nord d’environ quinze à vingt kilomètres de sorte que le trajet suivi par chaque unité aurait pu être schématiquement représenté par une de ces lignes fléchées ou vecteur figurant les évolutions des divers corps de troupes (cavalerie, infanterie, voltigeurs) engagés dans les batailles […] (RF, 280). Am Ende muss die Repräsentation der Generalstabskarte versagen, da diese fatalerweise nicht in der Lage ist, adäquat den Verlauf und den Schrecken der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den deutschen Panzern und den französischen Reitern und ihren Pferden abzubilden: les collines figurées sur la carte au moyen de petits traits en éventail bordant la ligne onduleuse d’une crête, de sorte que le champ de bataille semble parcouru de mille-pattes sinueux, chaque corps de troupe étant représenté par un petit rectangle à partir duquel s’élance le vecteur correspondant, chacun d’eux se recourbant en l’occurrence de façon à affecter à peu près la forme d’un hameçon, c’est-à-dire le dard dirigé au rebours de la partie du trait formant pour ainsi dire la hampe, le sommet de la courbe ainsi décrite coïncidant avec le point où le contact avait été pris avec les troupes ennemies l’ensemble de la bataille qui venait de se dérouler pouvant donc être représenté sur la carte d’état-major par une série de hameçons disposés parallèlement et la pointe retournée vers l’ouest, cette représentation schématique des évolutions des différentes unités ne tenant évidemment compte ni des accidents du terrain ni des obstacles imprévus surgis au cours du combat, les trajets réels ayant en réalité la forme de lignes brisées zigzaguant et quelquefois se recoupant s’embrouillant sur elles-mêmes et qu’il aurait fallu dessiner au départ à l’aide d’un trait épais vigoureux allant ensuite s’amenuisant et (comme les tracés de ces oueds d’abord impétueux et qui peu à peu - au contraire des autres fleuves dont la largeur va constamment croissant depuis la source jusqu’à l’embouchure - disparaissent s’effacent évaporés bus par les sables du désert) se terminant par un pointillé les points s’espaçant s’égrenant puis finissant eux-mêmes par disparaître tout à fait (RF, 282). Der Text formuliert an dieser Stelle eine implizite, grundsätzliche Kritik an jedem Versuch, Wirklichkeit durch Bilder - seien es nun abstrahierende oder möglichst realistische - zu repräsentieren: Die Generalstabskarte veranschaulicht den gescheiterten Versuch, Wirklichkeit zu ordnen, indem ein schematisches Abbild von ihr entworfen wird. Dabei zeigt sich dieses Schema als unfähig, einerseits vorher unbekannte Probleme der Landschaft bzw. während des Kampfes auftretende Hindernisse zu integrieren und andererseits der tatsächlichen Entwicklung der Kämpfe - vor allem der schrittweise erfolgten Auslöschung nahezu des gesamten Regiments - <?page no="184"?> 184 Rechnung zu tragen. Die Karte stellt in dieser Hinsicht ein ideales Abbild einer externen Realität dar, das jedoch nichts mit ihrem realen Zustand zu tun hat, und das deshalb in seinem Versagen tragisch ist. 139 So führt Simons Roman zuletzt das Scheitern aller gängigen Möglichkeiten der Repräsentation von Wirklichkeit vor: Ebenso wenig wie die Sinneswahrnehmungen des Menschen in der Lage sind, ein adäquates Abbild der objektiven Realität zu entwerfen, können kollektive Speichermedien wie Sprach-, Text- und Bildzeichen diese erfassen. An einigen Stellen wird die vom Text geübte Repräsentationskritik fundamental: So verliert Sprache ihre Existenzberechtigung, wenn zusätzlich zum außersprachlichen Referenten auch das psychische Konzept verschwindet. Doch auch die Bildzeichen scheitern in La Route des Flandres mit tragischen Folgen bei dem Versuch, die jenseits ihrer selbst liegende Wirklichkeit zu repräsentieren bzw. ihr schematisches, fiktives Bild zu entwerfen. 4.4 Erkenntnis als Fiktion - Metafiktionale Thematisierung und Inszenierung der Fiktivität und Fiktionalität erinnerter Wirklichkeit In Simons Roman La Route des Flandres nimmt die Frage nach der Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis der erinnerten Realität einen dominanten Platz in der Themenstruktur ein. Dabei lässt sich im polyphonen Gefüge des Romans ein antithetischer Wechsel von Diskurs und Gegendiskurs unterscheiden, der um die spezifische Subjektivität menschlicher Erkenntnis kreist. Der vorangehende Abschnitt hat in diesem Zusammenhang das Scheitern des Protagonisten vorgeführt: Eine mediale Rekonstruktion der Vergangenheit - mittels Sprach- oder Bildzeichen - ist nicht möglich. Im Folgenden soll nun untersucht werden, auf welche Weise der Text diese Fiktion objektiver Erkenntnis offen legt. Erkenntnis bzw. Wissen über vergangene Ereignisse ist in La Route des Flandres nicht zuverlässig und allgemeingültig, sondern präsentiert sich vielmehr als etwas Fiktives und Fiktionales. Das ‚Wissen’ sowohl über die Vergangenheit als auch über die unmittelbar sinnlich wahrgenommene Realität setzt sich nicht nur aus mehr oder minder gesicherten Fakten, sondern in hohem Maße aus innerfiktional fiktiven Imaginationen der verschiedenen Figuren zusammen. Auch zeigt sich der Erkenntnisprozess - der Gedächtnisstrom - als durch verschiedene Merkmale fiktionalen Erzählens geprägt: So erscheint 139 S. Sykes bewertet die Karte darüber hinaus auch als metanarrative oder metasprachliche Inszenierung des Romans („un résumé langagier“), da sich verschiedene Analogien zwischen Karte und Text finden lassen (z.B. die Verbindungen zwischen den auf der Karte genannten Ortsnamen und bestimmten Textsegmenten); vgl. hierzu S. Sykes: „1960. La Route des Flandres: le texte assassin.“ (1979), S. 78. <?page no="185"?> 185 das Erinnern weniger als zielloser und unwillkürlicher Akt, sondern vor allem als Erzählvorgang des Protagonisten Georges. Die Wirklichkeit des Romans selbst hat dagegen ihren Ursprung überwiegend in den Gesprächen der verschiedenen Protagonisten und erweist sich auf diese Weise als ein dialogisches Konstrukt. Ferner bleibt die Erzählinstanz selbst nicht unberührt von verschiedenen Auflösungstendenzen: Sie spaltet sich einerseits in mehrere Erzähler auf, wobei die verschiedenen Erzählstimmen zunehmend ununterscheidbar werden und sich zuletzt in einer einzigen Stimme zu vereinen scheinen. Schließlich weisen auch die verschiedenen metanarrativen Passagen des Romans, die in erster Linie als mise en abyme der im Text nachvollziehbaren Erzählakte fungieren, auf das Vorhandensein einer Erzählung hin und charakterisieren den Roman als Vertreter fiktionaler Erzählliteratur. Nicht zuletzt wird die Fiktionalität des Erkenntnisprozesses - die Tatsache, dass dieser sich aus Diskursen ohne Referenz auf die ‚reale’ Welt der histoire zusammensetzt - auch durch verschiedene Formen fiktionaler Intertextualität und Intermedialität aufgedeckt: Die histoire scheint geprägt durch die Übernahme von Themen und Motiven aus anderen fiktionalen Texten sowie durch den Vergleich von Figuren und Ereignissen mit typischen technischen Verfahren aus Theater, Oper und Operette. Simons Roman problematisiert demzufolge nicht bloß die Objektivität von Erkenntnis, sondern entwirft ein eigenes, durch Subjektivität und Fiktionalität bzw. Fiktivität bestimmtes Modell vom Wissen um die (vergangene) Wirklichkeit. Im Folgenden sollen die metafiktionalen Textstrategien, welche die Fiktivität und die Fiktionalität des Erkennens von Gegenwart und Vergangenheit explizit thematisieren und implizit inszenieren, im Mittelpunkt der Analyse stehen. Diese Vertextungsverfahren werden nun nicht im Hinblick auf die Konstruktion bzw. Destruktion der authentischen Illusion eines Gedächtnisstroms interpretiert - eine Lesart, die vom Text ebenso suggeriert wird und welche damit ebenso legitim ist - sondern im Hinblick auf eine metafiktionale Offenlegung der wichtigen Rolle, welche Fiktives und Fiktionales bei der im Werk Simons immer subjektiv angelegten Erkenntnis von ‚Welt’ spielt. <?page no="186"?> 186 4.4.1 „Comment savoir? “ - Georges zwischen Wissen und Nicht- Wissen Wie bereits in den vorangehenden Kapiteln deutlich wurde, ist Georges’ Wissen lückenhaft: Er verfügt bei der Rekonstruktion der Vergangenheit mittels seiner Erinnerungen nur über wenige, scheinbar gesicherte Informationen, deren Herkunft aus zweifelhaften Quellen jedoch schnell offenbar wird. Daher stellt der in La Route des Flandres präsentierte Gedächtnisstrom „[…] une quête de la connaissance, une poursuite impossible d’un sens qui fuit toujours […]“ 140 dar: Georges versucht im Verlaufe seines Erinnerungsprozesses ohne Unterlass, den Status seiner Erinnerungen - wahr oder imaginiert - zu begreifen. 141 Letztendlich hat er nur über äußerst wenige seiner früheren Erlebnisse absolute Sicherheit erlangt; zu diesem ‚sicheren’ Wissen gehört z.B. die Erinnerung an die alten, aus dem Besitz der de Reixach geerbten Bücher „[…] dont il [Georges] pouvait se rappeler mot pour mot certains titres («Bouquet envoyé à une Vieille Dame qui dans sa jeunesse sans être jolie avait fait des passions»), ou certaines pages […]“ (RF, 52f.). 142 An anderen Stellen expliziert Georges sein sicheres Wissen durch die einleitende Formel „je sais“/ „je savais (parfaitement)“, wie z.B. nach dem Tode de Reixachs, als er über seine und Iglésias Chancen für eine glückliche Flucht nachdenkt: „[…] quoique, pensa-t-il, il n’eût jamais vraiment espéré que même avec le soleil ils eussent réussi: «Parce que je savais parfaitement que c’était impossible qu’il n’y avait pas d’autre issue et qu’à la fin nous serions pris […]»“ (RF, 72). 143 Im Vergleich zu dem Wenigen, das Georges wirklich bekannt ist, - im Grunde handelt es sich bei dem ‚Wissen’ um seine zum Scheitern verurteilte Flucht auch nur um eine Vermutung -, besitzt Georges für den Großteil seiner Hypothesen keine Belege durch Fakten. Weder hat er vor Beginn der Kriegshandlungen das Paar de Reixach persönlich getroffen (RF, 55), noch hilft ihm letzten Endes der persönliche und intime Kontakt mit Corinne in der unmittelbaren Nachkriegszeit dabei, die rätselhaften Todesumstände 140 J.-M. Barbéris: „ Phrase, énoncé, texte. Le fil du discours dans La Route des Flandres.“ (1997), S. 141. 141 B. Dauer weist darauf hin, dass Georges vom Wissen ‚besessen’ ist, doch richtet sich seiner Meinung nach diese Besessenheit weniger auf die Restitution der eigenen Vergangenheit als auf die imaginative Rekonstruktion des Seelenlebens, der Motivationen usw. Anderer, Fremder (B. Dauer: „Nouveau Roman, Nouveau Nouveau Roman: Literarische Avantgarde um 1960 (Alain Robbe-Grillet: Dans le labyrinthe; Claude Simon: La Route des Flandres).“ (1982), S. 321.). 142 Georges’ Gedächtnis scheint an dieser Stelle geradezu fotografische Qualitäten zu besitzen, wie die wortwörtliche Erinnerung an die Seite des ins Französische übersetzten italienischen Texts zeigt. 143 Ebenso RF, 26 („à sa connaissance“), 88, 207, 254. <?page no="187"?> 187 seines Capitaine aufzuklären (RF, 278f.). Vielmehr fungiert Blum als Stimme des Zweifels und der Erkenntnisskepsis 144 , wenn er Georges unaufhörlich an seinen rudimentären Wissensstand in Bezug auf Corinne (RF, 56), vor allem aber bezüglich der Ereignisse um den Tod des Ahnen Reixach erinnert: […] la voix pathétique et bouffonnante de Blum disant: „Mais qu’en sais-tu? Tu ne sais rien. Tu ne sais même pas si ce fusil était chargé. Tu ne sais même pas si ce coup de pistolet n’est pas parti par hasard. Nous ne savons même pas quel temps il faisait ce jour-là, si c’était de la poussière ou de la boue qui le recouvrait, […] » (RF, 263f.). 145 Schließlich überwiegt auch bei Georges der Zweifel an seinen erinnerten Wahrnehmungen und an seinem anfechtbaren Wissen, wie die leitmotivische Wiederkehr der immer drängenderen Frage „Mais comment savoir? “ 146 anlässlich der retrospektiven Vergegenwärtigung des Hinterhalts gegen Ende des Romans deutlich macht: […] le soleil se trouvait dans la position sud-ouest donc environ deux heures de l’après-midi mais comment savoir ? […] (RF, 280); […] le bruit du canon s’éloignant lui aussi, sur la droite à présent, vers l’ouest, on pouvait voir un haut clocher gris à bulbes au-dessus de la campagne mais savoir s’ils [les soldats allemands ; S.Z.] avaient pris le patelin comment savoir comment savoir […] (RF, 291). 147 Zuletzt muss Georges erkennen, dass er zugleich sowohl seine eigene Position im Rücken des Capitaine als auch die des im Gebüsch versteckten Heckenschützen hätte einnehmen müssen, um das Rätsel um de Reixachs Tod zu lösen: „[…] - mais comment savoir, comment savoir? Il aurait fallu que je sois aussi celui-là caché derrière la haie le regardant s’avancer tran- 144 So auch A. Duncan: Claude Simon: Adventures in Words. (1994), S. 17. 145 Vgl. ebenso RF, 187. Siehe auch R. Burden: John Fowles, John Hawkes, Claude Simon: Problems of Self and Form in the Post-Modernist Novel: A Comparative Study. (1980), S. 112. 146 K. Wilhelm weist darauf hin, dass die Frage „Comment savoir? “ den fiktiven Charakter der einzelnen Darstellungen apostrophiert und somit eine metafiktionale Funktion besitzt (K. Wilhelm: „Claude Simon als ‘nouveau romancier’.“ (1965), S. 331f.). Hingegen unterstreicht S. Schreckenberg die Bedeutung des Leitmotivs „Comment savoir? “ als epistemologische und poetologische Kernfrage im frühen Werk Simons (S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 306.). A.-M. Miraglia betont, dass durch die Frage „Comment savoir? “ die Authentizität der Repräsentation, die „véracité“ der Erzählung und die Glaubwürdigkeit des Erzählers in Frage gestellt werde (A.M. Miraglia: „La Route des Flandres, défi aux voix narratives.“ (1990), S. 270.). Ebenso L. Fraisse: „La lentille convexe de Claude Simon.“ (1999), S. 30; M.M. Brewer: „Narrative Fission: Event, History, and Writing in Les Georgiques.“ (1986), S. 31; L. Baladier: „La Route des Flandres, un roman poétique? Les mystères du titre.“ (1999), S. 39. 147 Vgl. ebenso RF, 279, 284, 285, 286, 287, 289. <?page no="188"?> 188 quillement au-devant de lui, au-devant de sa mort sur cette route […]“ (RF, 279). In diesem Kontext kommt dem Romanende - Georges’ fundamentalem Zweifel an seinen Erlebnissen, die möglicherweise nur Gegenstand eines Tagtraumes waren, während er unverändert auf seinem Pferd gesessen hat 148 - die Bedeutung eines „erkenntnistheoretischen Kollapses“ 149 zu: Selbst die von ihm miterlebten Ereignisse wie der Tod des Capitaine auf offener Straße in Flandern werden fragwürdig und sind möglicherweise bloß von ihm imaginiert. So garantiert letztendlich auch die Erinnerung nicht das Wissen über die Vergangenheit. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, zeichnet sich Georges’ Gedächtnisstrom in dem Maße durch eine Zunahme an Imaginationen aus, wie sich sein vorgeblich ‚sicheres’ Wissen als anfechtbar und als auf unzuverlässigen Quellen basierend enthüllt. 4.4.2 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung von Fiktivität: Imaginationen, Inventionen und Träume Das erinnernde Subjekt Georges macht im Laufe seines Gedächtnisstroms keinen Hehl aus der Tatsache, dass er die unvermeidlichen Lücken seines Wissens mit Imaginationen und Vermutungen ausfüllt. Oftmals vermischt sich in seiner Erinnerung aufgrund seines Erschöpfungszustands zum Zeitpunkt des früheren Erlebens die erinnerte Realität mit einstigen Tagträumen, so dass in vielfacher Hinsicht der ontologische Status des Erinnerten innerhalb der Fiktion - ‚real’ oder imaginiert - unklar bleibt. Im Folgenden sollen diejenigen Passagen des Romans einer Analyse unterzogen werden, welche offen die fehlende Referenz von Personen, Orten und Ereignissen auf eine innerfiktionale, äußere Realität thematisieren bzw. implizit inszenieren. Insgesamt müssen alle Personen und Orte, zu denen Georges keinen direkten Kontakt hatte, sowie alle Ereignisse, bei denen er nicht persönlich anwesend war, zu seinen Imaginationen gerechnet werden. Es handelt sich dabei folglich um mentale Phänomene des Protagonisten und z.T. auch der anderen Figuren, die außerhalb der „[…] 148 „Mais l’ai-je vraiment vu ou cru le voir ou tout simplement imaginé après coup ou encore rêvé, peut-être dormais-je n’avais-je jamais cessé de dormir les yeux grands ouverts en plein jour bercé par le martèlement monotone des sabots des cinq chevaux piétinant […]“ (RF, 296). 149 D. Schmidt: Schreiben nach dem Krieg. Studien zur Poetik Claude Simons. (1997), S. 83. Vgl. hierzu auch B.T. Fitch: „Participe présent et procédés narratifs chez Claude Simon.“ (1964), S. 213; R. Sarkonak: „The Flanders Road (La Route des Flandres).“ (1990), S. 48: „[…] for in Simon the proverbial whole truth remains an elusive even imaginary construct.“ <?page no="189"?> 189 physical reality of the textual actual world“ 150 stehen, also innerhalb der Fiktion nicht existent und daher in einem doppelten Sinne fiktiv sind - sowohl bezogen auf die außertextuelle Welt als auch bezogen auf die in der histoire vermittelte binnenfiktionale Welt. Die offene und verdeckte Thematisierung bzw. Inszenierung dieses besonderen ontologischen Status der Fiktivität impliziert eine metafiktionale, bzw. genauer: metafiktive, Funktion. 4.4.2.1 Die Figuren zwischen Invention und Imagination: „la femme la plus femme“, die beiden (de) Reixach Reduziert auf die innerfiktionalen ‚Fakten’, bliebe manche der Figuren in La Route des Flandres äußerst flach und unbestimmt; es sind in besonderem Maße die vielfältigen Imaginationen vor allem von Georges und Blum, welche dem Figurenpersonal - insbesondere den verschiedenen Frauenfiguren (Corinne, Virginie, „la fille au lait“) und den beiden (de) Reixach - psychologische Tiefe verleihen, sie aber zugleich außerhalb der fiktionalen Realität positionieren. Die drei zentralen Frauenfiguren des Romans, welche die Imagination von Georges und Blum anfachen und möglicherweise - insbesondere Corinne und Virginie - eine zentrale Rolle beim Tod zweier männlicher Charaktere - den beiden de Reixach - spielen, sind zu großen Teilen oder zur Gänze nur imaginiert, ohne dass der Text für ihre Biographie bzw. ihre Charaktereigenschaften reale oder fiktive Quellenbelege anführen würde. Insbesondere Blum ist Corinne nie begegnet und als Kriegskamerad von Georges hatte er auch keinen Zugang zu den Hinterlassenschaften des Revolutionsgenerals Reixach in der Vorkriegszeit. Doch auch Georges verfügt nur - wie bereits deutlich wurde - über lückenhaftes Wissen, das zum einen auf nicht besonders aussagekräftigen Quellen wie beispielsweise Gemälden beruht und zum anderen auf erfundenem Klatsch und zweifelhaften Familienlegenden basiert. Die Witwe des Capitaine de Reixach - Corinne - kann unbestritten als weibliche Protagonistin des Romans angesehen werden, liefert sie doch die Folie, vor der die anderen weiblichen Figuren von Georges und Blum imaginiert werden. Auch wenn Corinne einen so zentralen Platz in Georges’ Gedanken während des Krieges einnimmt, ist sie ihm doch - wie Blum betont - im Grunde gänzlich unbekannt: […] « Mais tu ne la connais même pas ! dit Blum. Tu m’as dit qu’ils n’étaient jamais là, toujours à Paris, ou à Deauville, ou à Cannes, que tu l’avais tout juste vue une seule fois, ou plutôt entrevue, entre une croupe de cheval et un de ces 150 M.-L. Ryan: „Allegories of Immersion: Virtual Narration in Postmodern Fiction.“ (1995), S. 263. <?page no="190"?> 190 types habillés comme un figurant d’opérette viennoise […] Et c’est tout ce que tu en as vu, tu… » […] (RF, 56). Die einzige Begegnung zwischen ihm und seiner angeheirateten Cousine beschränkt sich auf ein kurzes Treffen möglicherweise anlässlich eines Pferderennens. Erst nach dem Krieg nimmt Georges erneut Kontakt zu ihr auf; es beginnt eine erotische Beziehung, welche sich über einen Zeitraum von ungefähr drei Monaten erstreckt. 151 Allerdings bleibt unklar, wie intensiv diese allem Anschein nach rein sexuelle Affäre wirklich war - der Text beschreibt nur Anfang und Ende der Beziehung, die beide von den gleichen Fragestellungen geprägt waren: Auf Seiten Corinnes von der Frage, ob Georges sie wirklich liebe; auf Georges’ Seite von dem Versuch, durch den Vollzug des Geschlechtsakts mit ihr Aufschluss über ihre Vergangenheit als Ehefrau de Reixachs und als mutmaßliche Geliebte Iglésias zu erlangen. In dem Maße, wie sich vor Georges und Blum die Vergangenheit verschließt, sind beide zusätzlich zu den ihnen zur Verfügung stehenden, spärlichen Informationen auf ihre Imagination bei der Rekonstruktion der möglichen Vergangenheit Corinnes angewiesen: […] et elle maintenant non plus inventée (comme disait Blum - ou plutôt fabriquée pendant les longs mois de guerre, de captivité, de continence forcée, à partir d’une brève et unique vision un jour de concours hippique, des racontars de Sabine ou des bribes de phrases (elles-mêmes représentant des bribes de réalité), de confidences ou plutôt des grognements à peu près monosyllabiques arrachés à force de patience et de ruse à Iglésia, […]) (RF, 217). Das ‚Quellenmaterial’, das Blum und Georges bei ihrem Versuch, die Vergangenheit Corinnes und de Reixachs zu rekonstituieren, zur Verfügung steht, ist mehr als fragwürdig: Nicht nur kennt Georges selbst Corinne kaum, auch andere Zeugen wie seine Mutter und Iglésia sind unzuverlässig, da sie womöglich eigene Motive für eine Realitätsverfälschung haben. Vielmehr beruht das von Corinne in La Route des Flandres entworfene Bild in großen Teilen auf Georges’ Imagination, wie ihre Einführung in den Romantext zeigt: In Georges’ Vorstellung erscheinen de Reixach, vor allem aber seine Frau Corinne aufgrund ihrer Unnahbarkeit und Unzugänglichkeit als „irréels“ (RF, 55f.). 152 Auch die Erklärung, wie es zu der Veränderung im Leben und in der Person de Reixachs kommen konnte - die allem Anschein nach durch Corinnes folgenreichen Entschluss ausgelöst wurde, ebenfalls einen eigenen Rennstall zu besitzen - wird von Georges nur hypothetisch konstruiert: „[…] l’idée lui en étant sans doute venue à la lecture d’une de ces revues, un de ces magazines où les femmes en papier 151 Vgl. Georges’ Erinnerung an den Beginn der Affäre während Corinnes überstürztem Aufbruch aus dem Hotel: „[…] pensant à ce premier jour trois mois plus tôt où j’avais été chez elle et avais posé ma main sur son bras […]“ (RF, 278). 152 Vgl. ebenso RF, 131. <?page no="191"?> 191 glacé ont l’air d’espèces d’oiseaux, de longilignes échassiers […] - ayant lu donc quelque part que les gens vraiment chics se devaient de posséder une écurie de course […]“ (RF, 130; Hervorhebungen S.Z.). Insbesondere ist es jedoch die geheimnisumwitterte Beziehung zwischen Corinne und Iglésia, dem Jockey und Angestellten ihres Mannes, die von Georges wiederholt kraft seiner Phantasie evoziert wird: Sei es ihr Zusammentreffen anlässlich des schicksalhaften Pferderennens, bei welchem de Reixach darauf besteht, an Iglésias Stelle zu reiten, und nur den zweiten Platz belegt (RF, 217), oder sei es der Liebesakt zwischen ihr und Iglésia (RF, 47ff.). Schließlich wird das im Text von Corinne entworfene Bild grundsätzlich in Zweifel gezogen: […] et elle, telle qu’il, ou plutôt ils […], telle donc qu’ils (c’est-à-dire lui, Blum - ou plutôt leur imagination, ou plutôt leur corps, c’est-à-dire leur peau, leurs organes, leur chair d’adolescents sevrés de femmes) l’avaient matérialisée : debout dans le contre-jour ensoleillé d’une fin d’après-midi, dans cette robe rouge couleur de bonbon anglais (mais peut-être cela aussi l’avait-il inventé, c’est-à-dire la couleur, ce rouge acide, peut-être simplement parce qu’elle était quelque chose à quoi pensait non son esprit, mais ses lèvres, sa bouche, peut-être à cause de son nom, parce que « Corinne » faisait penser à « corail » ? …) se détachant sur le vert pomme de l’herbe où galopent des chevaux ; […] (RF, 220f.). Der Figur Corinnes wird jede Authentizität innerhalb der fiktionalen Welt abgesprochen, sie erscheint nicht nur als Produkt der Imagination, der Leidenschaft bzw. des physischen und existentiellen Hungers von Georges und Blum, sondern nachgerade als rein sprachliches Produkt: So fragt sich Georges, ob sein imaginiertes Bild der ihm unbekannten Frau nicht allein auf dem assoziativen Potential ihres Namens beruhe, da der Name ‚Corinne’ „corail“ und damit die erotisch konnotierte Farbe ‚rot’ 153 anklingen lasse. Das in La Route des Flandres entworfene Bild einer sinnlichen und freizügigen Corinne erweist sich demnach als Produkt einer sprachlich vermittelten Assoziation, ohne jedoch einen Anspruch auf Faktizität innerhalb der fiktionalen Welt des Romans zu besitzen. Selbst in der persönlichen Begegnung zwischen Georges und seiner inzwischen verwitweten Cousine bleibt diese trotz ihrer beinahe schon aufdringlichen Körperlichkeit „irréelle“: „[…] ce monde étranger, étincelant et incroyable où elle (Corinne) se tenait, irréelle, incroyable elle aussi malgré son lourd parfum, sa voix, respirant de plus en plus vite maintenant, sa poitrine, ses seins s’élevant et s’abaissant comme ces gorges d’oiseaux […]“ (RF, 223f.). Metaphorisch steht Georges’ Erstaunen, als er bei der Berüh- 153 Vgl. hierzu U. Becker: Lexikon der Symbole. (o.J.), S. 244f.: Rot gilt einerseits als Farbe der Liebe, der Wärme, der begeisterten Leidenschaft und der Fruchtbarkeit, andererseits aber auch als Farbe unbezähmbarer Begierden (auch die Hure Babylon der Bibel ist rot gekleidet). <?page no="192"?> 192 rung Corinnes von der unerwarteten Zartheit ihres Körpers überrascht wird, für seine grundsätzliche Neigung, Corinne ein bestimmtes Verhalten bzw. einen bestimmten Charakter zu unterstellen, für die es jedoch in letzter Konsequenz keine faktischen Belege innerhalb der fiktionalen Welt gibt: […] si bien que lorsqu’il la toucha (le haut du bras nu un peu au-dessous de l’épaule) il éprouva d’abord la bizarre sensation de ne pas la toucher vraiment, comme lorsqu’on prend un oiseau dans la main: cette surprise, cet étonnement provoqué par la différence entre le volume apparent et le poids réel, l’incroyable légèreté, l’incroyable délicatesse, la tragique fragilité des plumes, du duvet […] (RF, 224). Während der kurzen Beziehung von Georges und Corinne werden somit immer mehr Zweifel an der ‘Wahrheit’ von Georges’ und Blums Imaginationen wach. So wirft Corinne ihm vor, gar nicht an ihr selbst interessiert zu sein, sondern sie weiterhin nur als obszöne Reduktion auf ihre primären Geschlechtsmerkmale wahrzunehmen (RF, 260). Auch äußert sie sich in der kurzen Zeit ihrer Beziehung niemals zu einer möglichen früheren Affäre mit Iglésia, an dem sie nun nicht mehr das geringste Interesse zeigt (RF, 287). So scheint es am Ende des Romans Iglésia gewesen zu sein, der - sei es, dass er von den sensations- und frauenlüsternen Georges und Blum dazu gedrängt wurde, sei es, dass er zum Zwecke der Aufwertung seiner eigenen Person darauf verfallen war - die Affäre mit Corinne möglicherweise nur erfunden hatte. In La Route des Flandres weist darüber hinaus auch die Ahnin und Ehefrau des Revolutionsgenerals Reixach, Virginie, große Ähnlichkeit mit dem im Text entworfenen Bild Corinnes auf. Dabei lässt sich ein wechselseitiger Konstitutionsprozess beobachten: Zum einen dient Corinne, für deren Charakter und Verhalten es innerhalb der Welt des Romans mehr (jedoch in letzter Konsequenz unzuverlässige) faktische Belege gibt, als Folie für Georges’ und Blums Imagination der bis auf zwei Portraits völlig unbekannten Ahnin. Zum anderen fungiert die ebenfalls als sexuell unersättlich und untreu konstruierte Frau aus dem 18. Jahrhundert als Beleg für die ‚Wahrheit’ des Klatsches und der Legenden um die Untreue Corinnes. 154 Es kommt Blum zu, erstmals auf die möglicherweise entscheidende Rolle Virginies beim angeblichen Selbstmord des Ahnen Reixach hinzuweisen: Während Georges die überlieferten Fakten sowie die innerhalb der Familie kolportierten Legenden stets zugunsten der Familiengeschichte interpretiert hat - der General habe sich aus Schmach über die Niederlage gegen die Spanier sowie aus Verzweiflung über das Scheitern seiner aufklärerischen Ideale erschossen - bringt Blum nun erstmals dessen in zwei Portraits überlieferte Frau ins Spiel. Diese habe den General, ebenso wie 154 Vgl. z.B. RF, 294f. <?page no="193"?> 193 Corinne in der Vorkriegszeit ihren Mann de Reixach, mit einem „valet“ betrogen; 155 jener sei dann entweder von dem „valet“ bei der überraschenden Aufdeckung des Ehebruchs erschossen worden oder aber habe sich aus Scham über den Betrug umgebracht. Auf Georges’ Empörung und Vorwurf, den Familiennamen zu beschmutzen, entgegnet Blum mit dem Hinweis auf dessen begrenztes Wissen, das einen gewissen Spielraum zur Interpretation und Imagination eröffne: „« […] Mais en réalité que sais-tu ? Quoi d’autre que le caquetage d’une femme peut-être plus soucieuse de protéger la réputation d’une de ses semblables que de fourbir - c’est un travail en général réservé aux domestiques comme Iglésia - un blason et un nom quelque peu ternis et que… »[…]“ (RF, 177). 156 Im weiteren Verlauf des Gesprächs nimmt sich Blum das Recht, eine alternative Version zum Tode des Vorfahren und zur Rolle von dessen Ehefrau dabei zu entwerfen, die wiederum allein auf seinen Imaginationen bzw. seiner Interpretation der beiden, ihm nur aus Georges’ Bildbeschreibungen bekannten, Portraits der Frau beruht. Eine besondere Funktion kommt dabei Abtönungspartikeln wie „sans doute“, „peut-être“ und „semble-t-il“ zu, welche den fiktiven Charakter der beschriebenen Szenen explizieren. 157 Folgende Elemente dienen Blum beim Entwurf seiner Version der Ereignisse: 1. Die von Georges ins Spiel gebrachte Darstellung Virginies auf dem frühen Portrait, das sie scheinbar im vollen Bewusstsein ihrer Sinnlichkeit zeigt. Auf dem Bild hält sie eine venezianische Maske in der Hand, die unterschwellig von Blum als Symbol für das Verbergen ihres eigentlichen Ichs hinter einem künstlichen Gesicht verstanden wird. 158 Auch schließt er von ihrer Kleidung - der Spitze, die angeblich am Ausschnitt ihrer Korsage zu sehen ist - auf ihren erotischen Lebenswandel (RF, 179f.). 2. Die Tatsache, dass Reixach unmittelbar nach der Niederlage gegen die spanischen Truppen auf sein Gut zurückgekehrt ist; diese Rückkehr wird zum einen von Blum als Verrat an der Revolution bzw. an seinen „rêves idylliques“ 159 interpretiert (RF, 181ff.). Zum anderen unterstellt er dem General das Bedürfnis, seine um einige Jahre jüngere Frau aufzusuchen - vermutlich um bei ihr Trost zu finden (RF, 184). 3. Die Möglichkeit, dass der Vorfahr - der Familienlegende nach - vollkommen unbekleidet aufgefunden worden war (RF, 189), dient Blum als Vorwand für die Imagination 160 der Ereignisse nach der unerwarteten Rückkehr des Generals (RF, 184-189). Darüber hinaus sind seine Ausführungen beeinflusst durch die 155 RF, 175 („cocu“). 156 Ebenso RF, 187, 189. 157 RF, 178-189. 158 U. Becker: Lexikon der Symbole. (o.J.), S. 184. 159 RF, 184. 160 Vgl. RF, 184: „[…] et Blum: « […] Mais je pense qu’on peut néanmoins l’imaginer : […] » ; S. 185: „[…] et Blum: « Mais on peut imaginer ça : […] »“. <?page no="194"?> 194 Lektüre der École des femmes von Molière (RF, 184f.) und Jean de La Fontaines Fabel von den Deux pigeons (RF, 188) sowie durch die Kenntnis einschlägiger „vaudevilles“ und „tragédies“ (RF, 186). Die ‚Belege’ für Blums Imaginationen sind folglich zum einen innerfiktional fiktiver Natur, da ihre ‚reale’ Existenz in der fiktionalen Welt des Romans im Ungewissen bleibt und sie in der Mehrzahl erst im Laufe seines Erzählens kraft seiner Phantasie konstruiert werden. Zum anderen sind sie ‚fiktionaler’ Natur: Er zieht fiktionale Texte wie die Komödien Molières oder die Fabeln La Fontaines als Blaupause für die nicht näher überlieferten Ereignisse um den Tod des Generals heran. In der Fortsetzung des Gesprächs weist Blum Georges erneut nachdrücklich auf den begrenzten Umfang seines Wissens hin (RF, 263f.) und wirft ihm die Anwendung der gleichen Methode vor: „[…] Et Blum: « Non? Tu as pourtant toi-même reconnu qu’il planait là-dessus dans ta famille une sorte de doute : d’embarras, de pudique silence. Ce n’est tout de même pas moi qui ai parlé de gravure galante, de porte enfoncée d’un coup d’épaule, de confusion, de cris, de désordre, de lumières dans la nuit… » […]“ (RF, 264). Ebenso wie Georges die „gravure galante“ als ‚Beleg’ für die Ereignisse in jener Nacht heranzieht, interpretiert er auch das jüngere Portrait Virginies, das aus der Zeit nach dem Tod des Generals stammt, zugunsten seiner mittlerweile von Blum übernommenen These von der Lasterhaftigkeit der Ahnin (RF, 264f.). Am Ende des Romans bestärken sich die - von Blum und Georges nur imaginierten - Analogien im Leben von Ahn und Nachfahr gegenseitig: […] sans doute aurait-il [der Ahn Reixach] préféré ne pas avoir à le faire luimême espérait-il que l’un deux s’en chargerait pour lui, lui éviterait ce mauvais moment à passer mais peut-être doutait-il encore qu’elle (c’est-à-dire la Raison c’est-à-dire la Vertu c’est-à-dire sa petite pigeonne) lui fût infidèle peut-être futce seulement en arrivant qu’il trouva quelque chose comme une preuve comme par exemple ce palefrenier caché dans le placard quelque chose qui le décida, lui démontrant de façon irréfutable ce qu’il se refusait à croire ou peut-être ce que son honneur lui interdisait de voir, cela même qui s’étalait devant ses yeux puisque Iglésia lui-même disait qu’il avait toujours fait semblant de s’apercevoir de rien racontant la fois où il avait failli les surprendre où frémissante de peur de désir inassouvi elle avait à peine eu le temps de se rajuster dans l’écurie et lui ne lui jetant mêmes pas un coup d’œil […] (RF, 294f.). Hier fungiert die mutmaßliche Untreue Virginies nun als Auslöser für den Tod des Revolutionsgenerals, der in Georges‘ Augen ohnehin, seines Lebens überdrüssig, nach einer Möglichkeit zu sterben Ausschau hielt. Darüber hinaus liefert Virginies Untreue auch die Erklärung für den mysteriösen Tod des Capitaine de Reixach: Dieser habe sich vermutlich ebenfalls - allerdings gegen seinen Willen - die Augen über das Verhalten seiner treu- <?page no="195"?> 195 losen Frau öffnen lassen mit der Konsequenz, nun zur Rettung seiner Ehre den Tod suchen zu wollen. Wie für Corinne und Virginie gilt auch für die „apparition“ der „fille laiteuse“, dass ihr in La Route des Flandres vermitteltes Bild größtenteils von Georges und den anderen Soldaten imaginiert ist. Ebenso wie Corinne erscheint auch das während des Herbstes 1939 von den Soldaten in einem Ardennendorf angetroffene Bauernmädchen als „irrélle“: […] cette sorte de tiédeur pour ainsi dire ventrale au sein de laquelle elle se tenait, irréelle et demi nue, à peine ou mal réveillée, les yeux, les lèvres, toutes sa chair gonflée par cette tendre langueur du sommeil, à peine vêtue, jambes nues, pieds nus malgré le froid dans de gros souliers d’homme pas lacés, avec une espèce de châle en tricot violet qu’elle ramenait sur sa chair laiteuse, le cou laiteux et pur qui sortait de la grossière chemise de nuit, dans cette nappe de lumière jaunâtre de la lampe qui semblait couler sur elle à partir de son bras levé comme une phosphorescente couche de peinture, jusqu’à ce que Wack ait réussi à allumer la lanterne, et alors elle souffla la lampe, se détourna et sortit dans le petit jour bleuâtre semblable à une taie sur un œil aveugle, sa silhouette se découpant un instant en sombre tant qu’elle fut dans la pénombre de la grange, puis, sitôt le seuil franchi, semblant s’évanouir, quoiqu’ils continuassent à la suivre des yeux non pas s’éloignant mais, aurait-on dit, se dissolvant, se fondant dans cette chose à vrai dire plus grisâtre que bleuâtre et qui était sans doute le jour, […] (RF, 37). 161 Die ganze Szene ähnelt zum einen einer Gemäldebeschreibung, wie bereits der einleitende Vergleich mit „une de ces vieilles peintures au jus de pipe“ (RF, 36) deutlich macht. Die Schilderung ist geprägt von dem dramatischen Effekt der Licht-Schatten-Verhältnisse und von der Unbeweglichkeit der Figuren wie dem scheinbar regungslos mit der Laterne in der Hand dastehenden Mädchen. Zum anderen trägt die Szenerie durch die unangemessene, beinahe groteske Kleidung der jungen Frau und insbesondere durch ihr abruptes Verschwinden auch phantastische Züge. Das Bild des auf der Schwelle der Scheune verharrenden Mädchens prägt sich vor allem Georges nachdrücklich ein: […] il lui semblait toujours la voir, là où elle s’était tenue l’instant d’avant, ou plutôt la sentir, la percevoir comme une sorte d’empreinte persistante, irréelle, laissée moins sur sa rétine (il l’avait si peu, si mal vue) que, pour ainsi dire, en lui-même : une chose tiède, blanche le lait qu’elle venait de tirer au moment où ils étaient arrivés, une sorte d’apparition non pas éclairée par cette lampe mais luminescente, comme si sa peau était elle-même la source de la lumière, […] (RF, 39). Bereits hier finden sich die ersten Lücken in Georges’ Wahrnehmung: weniger hat sich das präzise Bild der jungen Frau in sein Gedächtnis einge- 161 Die Szene spiegelt en abyme die imaginierte Situation nach dem aufgedeckten Ehebruch Virginies wider, vgl. RF, 185-189. <?page no="196"?> 196 brannt - der Augenblick des visuellen Kontakts war viel zu kurz und viel zu vage -, als vielmehr die allgemeinen Sinnesreize ihrer Erscheinung: ihre Wärme, die weißliche, an Milch erinnernde Farbe ihrer Haut, ihr scheinbares Fluoreszieren. 162 Dieses Gedächtnisbild der jungen Frau auf der Schwelle der Scheune dient nun zusammen mit anderen erinnerten ‚Fakten’ um die Ereignisse in den Ardennen wie dem von de Reixach geschlichteten Disput der Bauern 163 und den Hinweisen des Wirtes im Café des Dorfes 164 , der Angestellten 165 und der alten Frau 166 im Haushalt des hinkenden Bauern als Ausgangspunkt für den Erklärungsversuch der Soldaten für die rätselhaft bleibende Dreiecksgeschichte in dem Dorf. Wie im Falle der Ereignisse um den Tod des Ahnen Reixach werden auch im Hinblick auf das Eifersuchtsdrama in den Ardennen verschiedene Versionen vorgestellt, in denen die jeweilige Rolle der Beteiligten nur rein hypothetisch, jedoch nicht gesichert ist. Wiederholt versucht Georges, sich „ce bouillonnement caché des passions“ (RF, 115) vorzustellen: „[…] Je l’imaginais claudiquant rongé dévoré par ce tourment comme un chien malheureux animal traqueur et traqué par la honte insupportable affront enduré dans la femme de son frère lui dont on n’avait pas voulu pour faire la guerre à qui l’on n’avait pas voulu confier un fusil […]“ (RF, 272). Schließlich wird in der an Frauen entbehrungsreichen Zeit des Krieges und der Gefangenschaft auch die „fille au lait“ zum Gegenstand seiner Begierde: […] Je l’imaginais sous la forme d’une de ces, je pouvais toucher presser palper ses seins son ventre soyeux à peine voilé à peine couverte qu’elle était par cette chemise d’où émergeait son cou semblable dis-je à du lait tu entends dis-je la seule chose dont elle peut donner l’idée c’est de ramper se pencher comme une source et de laper, […] (RF, 273). Wie bereits Corinne und Virginie wird auch die „fille au lait“ durch die äußere Zuschreibung von Klatsch und Legenden zu einem erotischen und sinnlichen Objekt männlicher Begierde konstruiert. Die innerfiktionalen ‚Fakten’ für eine solche Zuschreibung sind hingegen spärlich; die Hauptbeteiligten wie die Frau selbst oder ihr Schwager bleiben ungehört. Wiederum sind es Dritte wie Georges und Blum, welche die ‚Deutungshoheit’ über die Geschichte der Frau besitzen und diese nach ihren Vorstellungen imaginieren. 162 Dies soll im Übrigen die einzige Begegnung der Soldaten mit der Frau sein - von nun an bleibt sie hinter dem sich leicht bewegenden Vorhang ihres Zimmers im ersten Stock des Wohnhauses verborgen (RF, 58f., 60, 114f., 254f., 255f., 259, 272.) 163 RF, 56-60, 117, 119-123. 164 RF, 116f. 165 RF, 61-63, 256-258. 166 RF, 251-254. <?page no="197"?> 197 In den Augen und in der Phantasie ihrer männlichen Betrachter erscheinen Corinne, Virginie und die unbekannte Bäuerin als ein fiktive Züge tragendes Symbol des ewig Weiblichen. So wird das Milchmädchen auf die primären Geschlechtsmerkmale primitiver Statuen reduziert: […] cette chair diaphane modelée dans l’épaisseur de la nuit: non pas une femme mais l’idée même, le symbole de toute femme, c’est-à-dire […] … sommairement façonnés dans la tendre argile deux cuisses un ventre deux seins la ronde colonne du cou et au creux des replis comme au centre de ces statues primitives et précises cette bouche herbue cette chose au nom de bête, de terme d’histoire naturelle - moule poulpe pulpe vulve - faisant penser à ces organismes marins et carnivores aveugles mais pourvus de lèvres, de cils : l’orifice de cette matrice le creuset originel qu’il lui semblait voir dans les entrailles du monde […] (RF, 39). Die Frau als Symbol der Weiblichkeit tritt hier im Grunde nur als stereotype Trägerin einer „matrice originelle“ in Erscheinung; andere Merkmale von Weiblichkeit werden von Georges nicht imaginiert: Vielmehr erscheint das Milchmädchen in einem assoziativen Wortspiel als schutzbietende Gebärmutter, in welche sich der Mann vor der Brutalität der (Kriegs-)Welt zurückziehen kann. In einem weitaus negativeren Sinne verkörpert auch Corinne in den Augen Iglésias angesichts ihres unmoralischen Wettangebots ‚die Frau’ schlechthin: […] et à ce moment-là Iglésia raconta que ç’avait été comme l’inverse de ce qu’il avait éprouvé ce jour où il l’avait vue pour la première fois, s’avançant au côté de de Reixach, c’est-à-dire qu’il lui sembla qu’il avait devant lui non pas une enfant, ou une jeune femme, ou une vieille femme, mais une femme sans âge, comme une addition de toutes les femmes, vieilles ou jeunes, quelque chose qui avait aussi bien quinze, trente ou soixante ans que des milliers d’années, animé par ou exhalant une fureur, un ressentiment, une hostilité, une rouerie, qui n’étaient pas les résultats d’une certaine expérience ou d’une certaine accumulation de temps, mais de quelque chose d’autre, pensant (racontant plus tard qu’il avait pensé) : « Espèce de vieille salope ! Vieille garce ! » […] (RF, 139). Corinne erscheint trotz ihrer augenscheinlichen Jugend in dieser besonderen, schicksalhaften Situation des (Wett-)Kampfes der beiden Männer um ihre Person als alterslos und geprägt von absoluter und zeitloser Wut, Feindseligkeit bzw. Durchtriebenheit; sie verkörpert scheinbar alle Schlechtigkeit der Frauen von Anbeginn der Zeit an. Auch hier erscheint erneut das männliche Auge als bildprägend: Es ist der in seiner Eitelkeit - Corinne gibt ihm selbst das Geld für die Wette - und Loyalität gegenüber seinem Herrn verletzte Iglésia, der sie auf diese herabsetzende Weise beschreibt und dadurch den Imaginationen von Georges und Blum einen Anknüpfungspunkt liefert. <?page no="198"?> 198 Schließlich wird auch die Ahnin Virginie als Bild stereotyper und obszöner Weiblichkeit präsentiert, wenn ihr Körper mit den pornographischen Kritzeleien auf Mauern in Verbindung gebracht wird: […] robes qui ressemblaient à des chemises, mauve pâle et un ruban vert enserrant ses… oui quelle différence avec cet autre portrait cruel et dur sorte de Diane […], comme ce qu’on voit dessiné sur les murs avait-elle [Corinne ; S.Z.] dit les deux hiéroglyphes les deux principes : féminin et masculin, quelquefois celui-ci n’est plus qu’un signe ressemblant à des ciseaux fermés avec en bas deux ronds comme les anneaux dans lesquels on passe le pouce et l’index et la pointe dressée vers le haut les ronds symboliques en bas symboliquement aussi entourés de traits comme des rayons et l’autre aussi ovale avec sa ligne médiane deux astres rayonnants dans le firmament des murs noirâtres dessinés avec la pointe d’un clou […] (RF, 273). Wie schon die „fille au lait“ und Corinne wird auch Virginie auf ihre primären Geschlechtsmerkmale reduziert; Georges überträgt hier die Kritik Corinnes an seiner stereotypen Imagination ihrer Person während der Kriegszeit als obszöne Zeichnung auf Virginie. Diese trägt dadurch in seinen Augen die gleichen negativen, weiblichen Züge - v.a. geprägt durch unersättliche Sinnlichkeit - wie Corinne selbst. In La Route des Flandres werden demnach die Frauen auf eine bestimmte Weise durch die männlichen Figuren imaginiert: Sie tragen nicht nur jede für sich dieselben stereotypen, auf ihre bloße Körperlichkeit reduzierten Züge, sondern sie dienen in ihrem fiktiven Verhalten untereinander auch als Folie, so dass innerhalb der fiktionalen Grenzen des Textes eine Frau am Beispiel der jeweils anderen konstituiert bzw. imaginativ konstruiert wird. 167 Dieses besondere Konstitutionsverfahren der in einem doppelten Sinne fiktiven Welt der Geschichte - bezogen sowohl auf die reale Lebenswirklichkeit außerhalb des Textes als auch auf die innerfiktionale Welt - wird in Simons Roman durch den metafiktiven Verweis auf den imaginären Status der Frauenfiguren offengelegt. Die Beschreibung Corinnes durch Iglésia mag in dieser Hinsicht für alle wichtigen Frauenfiguren in La Route des Flandres gelten: […] et il dit que c’était ce qui l’avait d’abord le plus frappé : cet aspect enfantin, innocent, frais, prévirginal en quelque sorte, à tel point qu’il avait mis un mo- 167 A. Cresciucci weist darauf hin, dass in La Route des Flandres „[…] l’imaginaire fonctionne à partir de signes composant des topoï érotiques.“ (A. Cresciucci: „Figures du désir dans La Route des Flandres.“ (1997), S. 55.) J.-Y. Debreuille spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „magma féminin”, der die zunächst unterscheidbaren Frauenfiguren auflöst und sie auf ein Geschlecht bzw. auf obszöne Graffiti auf Kasernenmauern reduziert (J.-Y. Debreuille: „Quête des indices et perte des repères: description d’une histoire et histoire d’une description.“ (1997), S. 94.). B. Pingaud weist darauf hin, dass die Figuren in La Route des Flandres aufgrund ihrer Auswechselbarkeit ihre wichtigste narrative Funktion - nämlich sich zu unterscheiden - nicht erfüllen (B. Pingaud: „Sur La route des Flandres.“ (1960-1961), S. 1033.). <?page no="199"?> 199 ment à s’apercevoir, se rendre compte - envahi alors par une autre sorte de stupeur, sentant monter une bouffée de quelque chose d’à la fois furieux, scandalisé, sauvage - qu’elle était non seulement une femme mais la femme la plus femme qu’il eût jamais vue, même en imagination : « Même au cinoche, dit-il. Mince ! » (RF, 132). Wie schon im Falle der verschiedenen Frauenfiguren in La Route des Flandres, so lässt sich auch am Beispiel des Ahnen Reixach und seines Nachfahren, des Capitaine de Reixach, ein wechselseitiger Konstruktionsprozess beobachten, der weniger auf ‚faktisches’ Material, sondern vor allem auf Imaginationen und Hypothesen zurückgreift. 168 Auf diese Weise offenbaren sich Teile der histoire innerhalb der Fiktion als imaginär; sie haben sich nicht ‚wirklich’ in der fiktionalen Welt ereignet, sondern sind allein das Phantasieprodukt der Figuren. Der die ontologische Verschiedenheit, d.h. die Fiktivität, dieser histoire-Elemente thematisierende Diskurs ist metafiktiv. Auch für die beiden Männer gilt, dass ‚zuverlässige’ Quellenbelege für ihre Biographie eher selten sind; die intimeren Details aus dem Leben des Capitaine - seine Ehe mit Corinne, die mutmaßliche Dreiecksbeziehung zwischen den Ehegatten und dem Jockey Iglésia - beruhen neben dem in der Familie verbreiteten Klatsch und Tratsch 169 vor allem auf Iglésias kryptischen Andeutungen (RF, 134). Georges selbst fungiert als Augenzeuge nur für die Ereignisse, die sich während der gemeinsam erlebten Kriegszeit (1939/ 40) zugetragen haben. Für den Vorfahren, den Revolutionsgeneral Reixach, sieht die ‚Quellenlage’ noch dürftiger aus: Zwar scheinen von ihm gewisse Aufzeichnungen erhalten zu sein (RF, 51f.), doch werden diese von Georges nicht konsultiert und im Roman - mit der Ausnahme des aus dem Italienischen übersetzten Textes - auch nicht zitiert. So bleiben als ‚Belege’ für die Biographie des Ahnen neben dem Portrait nur die in der Familie kolportierten Legenden um seinen mysteriösen Tod. 170 Dieser Prozess der Legendenbildung wird nun in der Gegenwart des Erzählens von Blum und Georges veranschaulicht und fortgeführt. Sie versuchen während ihrer Gefangenschaft im deutschen Lager, die Hintergründe des ‚Heldentodes’ ihres Capitaine zu erhellen, und greifen dabei auch auf die scheinbar ähnlich verlaufende Geschichte des Ahnen aus dem 168 L. Dällenbach unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass die Fiktion ihre referentielle Verankerung verliert, wenn sich „fabulations“ und „représentations“ gegenseitig immer mehr durchdringen (L. Dällenbach: „Mise en abyme et redoublement spéculaire chez Simon.“ (1975), S. 158.) Vgl. ebenso D. Viarts These von der „représentation imaginaire“ der Romanfiguren (D. Viart: „La destitution du sens.“ (1997), S. 154.). 169 RF, 45, 49, 55. 170 RF, 82. <?page no="200"?> 200 18. Jahrhundert zurück und ergänzen die früher entstandenen Legenden um neue Hypothesen. Folgende, ‚gesicherte’ Gemeinsamkeiten legen dabei eine erzählerische Verknüpfung der beiden Schicksale nahe und bilden den Ausgangspunkt für neue Erklärungsversuche: Beide Männer entstammen dem Adel, haben beim Militär (RF, 54) eine Offizierslaufbahn eingeschlagen und im Verlaufe ihrer Karriere eine militärische Niederlage erlitten - der Revolutionsgeneral 1793 in den Kriegen gegen die Spanier, der Nachfahr 1940 gegen die Deutschen. 171 Beide sind unmittelbar nach ihrer jeweiligen Niederlage einem gewaltsamen und mysteriösen Tod durch Erschießen zum Opfer gefallen (RF, 54). Von Georges und Blum werden nun im Laufe ihrer Gespräche verschiedene Hypothesen im Hinblick auf die möglichen Ursachen für diese scheinbar unerklärlichen Todesfälle aufgestellt: Schon früh wird im Text die These vom Selbstmord de Reixachs präsentiert als „[…] cette ultime conséquence ou plutôt conclusion, ce suicide que la guerre lui donnait l’occasion de perpétrer d’une façon élégante […]“ (RF, 13), um sich aus der schmachvollen, von der durch Corinnes notorische Untreue und sexuelle Unersättlichkeit geprägten Ehe zu befreien. 172 Auch mit Blick auf den Tod des Ahnen wird in der Familie schon seit langem die Selbstmordthese vertreten: Dieser habe sich aus Schande über die Niederlage gegen die spanischen Truppen erschossen, 173 nachdem er sich in den Augen der Familie ohnehin schon als adliger Anhänger der Revolution sowie als Befürworter der Ermordung des Königs entehrt hatte. 174 Blum aber stellt diese Selbstmordthese kurz in Frage, als er die Möglichkeit eines banalen Unfalls beim Reinigen der Pistole ins Spiel bringt (RF, 79), nur um im selben Atemzug die These von den enttäuschten Illusionen des Ahnen aufzustellen und eine weitere Erklärungsmöglichkeit anzudeuten: […] ce qu’un autre de Reixach donc avait déjà fait en se tirant volontairement une balle dans la tête […] parce qu’il s’était pour ainsi dire fait cocu lui-même, c’est-à-dire trompé: cocufié, donc, non par une perfide créature féminine comme son lointain descendant mais en quelque sorte par son propre cerveau, ses idées - ou à défaut celles des autres - qui lui avaient joué ce sale tour comme si, faute 171 RF, 54, 202f., 209. 172 Ebd. und S. 84. Interessanterweise hat in einer weiteren Spiegelung des Selbstmordthemas auch der dem Regiment vorstehende General 1940 Selbstmord begangen (RF, 190f.). 173 Auch für seinen Nachfahren - so deutet der Text an - könnte die ‚Frage der militärischen Ehre’ eine Rolle gespielt haben, hat de Reixach seine Ausbildung doch in der Kavallerieschule von Saumur absolviert (RF, 11), die einen festumrissenen Ehrbegriff tradiert: Ein Offizier lässt sich eher massakrieren, als im Angesicht des Feindes in Deckung zu gehen. 174 RF, 54, 85. <?page no="201"?> 201 de femme (mais ne m’as-tu pas dit aussi que, par-dessus le marché, il y en avait une et qu’elle aussi…), donc plutôt : comme si non content d’avoir une femme à supporter il s’était encore embarrassé, encombré d’idées, de pensées, ce qui évidemment pour un gentleman-farmer du Tarn, constitue, comme pour n’importe qui, un risque encore plus grand que le mariage… »[…] (RF, 79f.). 175 Die zitierte Textstelle zeigt anschaulich, wie Georges und Blum ausgehend von dem bereits Gesagten immer neue hypothetische Erklärungsmodelle entwerfen: So hat sich Georges nur wenige Seiten zuvor - und dies hat er vermutlich auch zu früherer Zeit Blum mitgeteilt - an die Existenz der kompletten Werke Jean-Jacques Rousseaus in der Bibliothek seines Ahnen erinnert (RF, 78f.); diese Tatsache wird von Blum umgehend zum Ausgangspunkt einer neuen These konstruiert: Es seien die enttäuschten Ideen des Generals gewesen, die unmögliche Übertragung der Vorstellungen Rousseaus auf das reale Leben, die ihn des Lebens überdrüssig werden ließen. Zugleich verarbeitet Blum in dem Zitat auch die Geschichte des Nachfahren de Reixach, vor allem seine gescheiterte Ehe mit der angeblich untreuen Corinne, in der Konstruktion hypothetischer Erzählungen zum Tod des Ahnen: Habe nicht auch jener eine treulose Ehefrau an seiner Seite gehabt? 176 In der Folge versteift sich Blum auf die Idee von der ebenfalls treulosen Ehefrau des Ahnen - eine These, die von Georges entschieden in Frage gestellt wird (RF, 175) - jedoch von Blum mit dem Hinweis auf die fragwürdige Legendenkonstruktion in der Familie de Reixach noch bekräftigt wird. 177 Die Basis seiner Ausführungen bilden interessanterweise mehrere Kunstwerke: Da ist zum einen die Gravüre im Schlafzimmer von Georges’ Eltern, die diesen schon als Kind zur Imagination der genauen Todesumstände seines Ahnen verleitet hat. 178 Das Gemälde wird nun von Blum - der es nie gesehen hat - als Substrat für eine neue Hypothese zum Tod Reixachs verwendet: 179 […] et Blum: […] „… Parce que tu prétends que cette femme à moitié nue entrevue dans l’entrebâillement de la porte, le sein et le visage éclairés d’en dessous par une bougie […], - tu prétends donc que cette femme serait une servante ac- 175 Ebenso RF, 182. 176 In diesem Kontext unterstreicht H.-G. Funke, dass „[i]n Abschnitten mit metafiktionaler Funktion die Parallelgeschichten der beiden Reixach von 1940 und 1783 als Ergebnisse der erotischen Phantasie der kriegsgefangenen frauenlosen Kavalleristen erklärt werden.“ (H.-G. Funke: „Der ‘monologue intérieur’ in Bessettes L’incubation (1965) und Claude Simons La route des Flandres (1960): Nationalität und Internationalität im intertextuellen Konstituierungsprozeß der „littérature québécoise“.“ (2000), S. 455.) 177 RF, 175: „[…] la version la plus flatteuse pour votre amour-propre familial […]“. Vgl. ebenso S. 177. 178 RF, 83. 179 Auch RF, 175. <?page no="202"?> 202 courue derrière celui que tu baptises le valet ou le domestique réveillé par le coup de feu, et qui n’est peut-être que son amant, - non de la servante car ce n’est est pas une mais bien la femme, l’épouse ; c’est-à-dire votre commune arrière-arrière-arrière-grand-mère, l’homme - l’amant - appartenant d’ailleurs peut-être en effet à l’espèce domestique comme tu le prétends, pour peu qu’elle ait aussi partagé en matière sexuelle ces goûts plébéiens ou plutôt chevalins, je veux dire les mêmes dispositions pour l’équitation, je veux dire la même tendance à choisir ses amants du côté des écuries… » […] (RF, 177ff.). Auch hier werden erneut die verschiedenen Einflüsse erkennbar, die Blum in seinen Inventionen verarbeitet: Zum einen die fiktive Szene auf dem Stich, die von ihm nun als Repräsentation des Ehebruchs gedeutet wird, und zum anderen die These von der Affäre zwischen Corinne und dem Jockey Iglésia, die das Fundament für eine Beziehung zwischen der Ahnin Virginie und einem „valet“ bildet. Die Fiktivität der von Blum hier imaginierten Zusammenhänge resultiert vor allem auch aus der Tatsache, dass die Gravüre eben nicht eine Repräsentation der Todesszene Reixachs zeigt, sondern diese Beziehung erst nachträglich von Georges und nun auch von Blum hergestellt wird. 180 Neben der Gravüre sind verschiedene fiktionale Texte an Blums Legendenbildung beteiligt: Zunächst der griechische Mythos von Deïanira - frz. „Déjanire“ -, der vom Zentauren Nessus gewaltsam angegriffenen Gattin des Herkules, die später an dessen Tod schuldig wird (RF, 179). 181 Schließlich die Komödie École des femmes von Molière, der Blum das Motiv der untreuen jungen Frau entnimmt, die der erzwungenen Ehe mit einem älteren Mann, ihrem Vormund, durch Witz und Verstand entkommt (RF, 184). 182 Dabei stellt das Motiv der ‚Beziehung zwischen jüngerer Frau und älterem Mann’ auch eine Analogie zur Geschichte de Reixachs auf, dessen Frau Corinne ebenfalls zwanzig Jahre jünger ist (RF, 55). Zuletzt überlässt sich Blum der freien Spekulation und bringt die verschiedensten Ereignisfragmente mit dem General Reixach in Verbindung: So stellt er die These auf, dass dieser - ebenso wie der eifersüchtige Mann im Ardennendorf - möglicherweise ebenfalls gehbehindert sei, eine für einen Adligen des 18. Jahrhunderts untragbare Eigenschaft (RF, 266). Eine weitere Möglichkeit sei, dass er einfach nur Schulden gehabt und deshalb Selbstmord begangen habe (RF, 266) - eine These, die wohl möglicherweise in einem Zusammenhang mit Blums und Georges’ Erfahrungen im Lager und dem dort verbreiteten Glückspiel steht (RF, 204-207). 180 Die zitierte Textstelle weist metafiktional auf die Fiktionalität der Handlung hin, da der Artefakt-Status des Textes offen gelegt wird (Vgl. auch S.W. Sykes: „‘Mise en abyme’ in the Novels of Claude Simon.“ (1973), S. 334.). 181 W. Binder (Hg.): Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. (1874), S. 159f. 182 Vgl. auch Jean de la Fontaines bereits erwähnte Fabel Les deux Pigeons (RF, 188). <?page no="203"?> 203 Der freien Fabulierkunst Blums ist Georges wiederholt hilflos ausgeliefert; 183 oftmals kann er Blums Hypothesen nur ein schwaches « Mais non! » 184 oder ein skeptisches « Comment savoir? » 185 entgegensetzen. Dennoch ist es Blum, der Georges wiederholt ob seiner Legendenbildung und freien Imagination der Ereignisse um den Capitaine de Reixach angreift: „[…] et Blum: « Très bien, excuse-moi. Je croyais que ça t’amusait: tu es là à ressasser, à supposer, à broder, à inventer des histoires, des contes des fées là où je parie que personne excepté toi n’a jamais vu qu’une vulgaire histoire de cul entre une putain et deux imbéciles, […] »“ (RF, 174). Darüber hinaus wirft er Georges vor, ‘wie ein Buch’ zu sprechen angesichts seiner psychologischen Analyse des Vorfahren Reixach im Zusammenhang mit dessen Niederlage gegen die Spanier (RF, 209). Damit wird Georges implizit in die Nähe eines Schriftstellers gerückt, der ja ebenfalls nach Bedarf fiktive Figuren, Orte oder Ereignisse in die fiktionale Handlung einfügt: „[…] Du théâtre de la tragédie du roman inventé, disait-il, tu t’y complais tu en rajoutes tu, et moi Non, et lui Et au besoin tu inventes, et moi Non ça arrive tous les jours, […]“ (RF, 271). Zuletzt gerät Georges selbst ins Zweifeln über den ontologischen Status seiner Erzählungen: „[…] Est-ce que je l’ai inventé dis-je Est-ce que je l’ai inventé ? […]“ (RF, 272). So bilden - wie schon die verschiedenen Frauenfiguren - auch die historisch weitgehend im Dunkeln bleibenden Schicksale der beiden (de) Reixach den Ausgangspunkt für eine wechselseitige Anreicherung um Imaginiertes und Erfundenes sowie als Erklärungsmodell für die zunächst unerklärlichen Ereignisse in der Biographie des jeweils anderen. Dabei fungieren Georges und Blum jeweils als Kritiker der vom jeweils Anderen vertretenen Thesen. Zuletzt stellt Georges seine Hypothesen grundsätzlich in Frage und dekonstruiert auf diese Weise sein eigenes Erzählen. Hier werden demnach sowohl der Diskurs als auch seine Inhalte angegriffen, wenn nicht nur die Sprecher sondern auch das Gesagte in ihrer (möglichen) Fiktivität offenbar werden; es handelt sich dabei um eine metafiktive Aufdeckung der Erfundenheit von Teilen der histoire. 4.4.2.2 Die Ereignisse zwischen Imagination und Traum: das Pferderennen und die erotischen Szenen In La Route des Flandres besitzen nicht nur die Figuren neben einigen wenigen faktischen Merkmalen viele fiktive Elemente, sondern auch zentrale Ereignisse der Handlung. Zu diesen zählt einerseits das Pferderennen, in dessen Verlauf de Reixach die Schmach einer gleichsam prophetischen Niederlage erleidet, und andererseits gehören auch die verschiedenen 183 Vgl. z.B. RF, 174f. 184 RF, 180f., 183f., 187, 189, 264. 185 RF, 80. <?page no="204"?> 204 erotischen Szenen, die von den Soldaten im Lager wiederholt evoziert werden, zu den für den Roman typischen Überschneidungen aus Fakt und Fiktion. 186 Das für die Struktur von La Route des Flandres so wichtige Pferderennen - es flankiert die im Zentrum des Romans stehende Vernichtung der Schwadron im Hohlweg und wird mit dieser narrativ überblendet - existiert ebenso wie die bisher beschriebenen Ereignisse im Leben einiger Romanfiguren nur in der Phantasie des Erinnerungssubjekts Georges. Der fiktive Status der Rennszene wird von Beginn an explizit durch die einleitenden Formeln „Et il me semblait y être, voir cela : […]“ (RF, 18), „Et de nouveau il me semblait voir cela : […]“ (RF, 21) und „Et cherchant (Georges) à imaginer cela: des scènes, de fugitifs tableaux printaniers ou estivaux, comme surpris, toujours de loin; à travers le trou d’une haie ou entre deux buissons : […]“ (RF, 45) offenbart; 187 die detaillierte Beschreibung des Publikums, der Farben der Kleidung und der Pferdedecken verleiht der Szenerie einen statischen Charakter, sie wird dadurch zum tableau einer vergangenen Wahrnehmung, die sich scheinbar in Georges’ Gedächtnis eingegraben hat. Dennoch bleibt kein Zweifel an dem ontologischen Status der Szene innerhalb der Handlung: Georges stellt sie sich auf der Grundlage seiner eigenen Erinnerungen an das Verhalten de Reixachs, 188 der Erzählungen Iglésias und möglicherweise auch seiner Erlebnisse als Zuschauer bei derartigen Veranstaltungen nur vor; er erscheint als unsichtbarer Beobachter, der „à travers le trou d’une haie ou entre deux buissons“ (RF, 45) oder „caché derrière sa haie, derrière le temps“ (RF, 47) zum fiktiven Zeugen der Ereignisse wird. Der eigentlichen Evokation der fiktiven Szene geht in Georges’ Erinnerungsstrom ein Gespräch mit Iglésia voraus, in welchem dieser zugibt, ein intimes Verhältnis mit Corinne gehabt zu haben: 189 Et cette fois Georges put les voir, exactement comme si lui-même avait été là : tous les trois […], les voyant donc tous les trois dans ou plutôt devant cette stalle où le petit lad à tête hydrocéphale, aux membres de poupée, au visage précocement flétri […], s’efforçait de faire tenir en place cette pouliche pendant qu’Iglésia accroupi lui ajustait les guêtres, elle et de Reixach debout, le regardant faire, […] (RF, 135f.). 186 D. Lanceraux weist darauf hin, dass die „images mémorielles et imaginées“ in La Route des Flandres äquivalent seien; „[…] l’imagination [est] susceptible de réinventer le réel grâce à des minces et incertaines données.“ (D. Lanceraux: „Modalités de la narration dans La route des Flandres.“ (1973), S. 237.) 187 Vgl. hierzu B. Pingaud: „Sur La route des Flandres.“ (1960-1961), S. 1029. 188 RF, 17f., 20f., 47. 189 RF, 127-135. <?page no="205"?> 205 Das Hindernisrennen ist von einer erbitterten Auseinandersetzung zwischen Corinne und ihrem Mann begleitet; dieser will gegen den Willen seiner Frau unbedingt selbst das Rennen reiten, auch wenn Iglésia ursprünglich als Jockey vorgesehen war und Corinne diesen auch für den geeigneteren Reiter hält. In ihrer Wut bietet sie Iglésia schließlich an, dass er mit ihrem Geld auf den Sieg ihres Mannes wetten könne, vorausgesetzt, er glaube daran (RF, 136f.). In der rückwirkenden Deutung dieses Ereignisses hinterfragt der Jockey das scheinbar unverständliche und darüber hinaus folgenreiche Verhalten seines glücklosen Vorgesetzten, durch dessen Niederlage sein auf ihn und die Stute gesetztes Geld verwettet ist: […] (Iglésia pensant, disant plus tard: « Mais alors bon sang il avait qu’à me la laisser monter. Si c’était pour faire cette démonstration, mince ! Qu’est-ce qu’il espérait ? Qu’après cela elle ne coucherait plus qu’avec lui, qu’elle allait se priver de se faire enfiler par le premier venu simplement parce qu’elle l’aurait vu sur son dos ? Mais si ç’avait pas été moi, ça aurait été pareil. Parce qu’elle était en chaleur. […] » (RF, 145) Iglésia interpretiert die Halsstarrigkeit de Reixachs, die Stute unbedingt selbst reiten zu wollen, als Versuch einer „démonstration“ seiner Macht nicht nur über das Pferd, sondern in einem übertragenen Sinne auch über seine Frau. Er unterstellt dem Capitaine die Hoffnung, seine Frau durch die Bezwingung ihres Pferdes gefügig zu machen und von ihrem - von Iglésia unterstellten - promiskuitiven Verhalten in Zukunft abzuhalten. In den Augen Iglésias ist dieses Unterfangen jedoch zum Scheitern verurteilt: Corinne sei „en chaleur“ gewesen, wenn nicht mit ihm, so hätte sie mit jedem beliebigen anderen Mann geschlafen. De Reixach unterliegt auf diese Weise nicht nur in einem sportlichen Wettkampf, sondern auch in einer im Verborgenen stattfindenden erotischen Auseinandersetzung zweier Rivalen. Die unmittelbar sich an das Zitat anschließende Überblendung des Rennens mit dem deutschen Hinterhalt im Hohlweg, der zur Vernichtung nahezu des gesamten Regiments führt (RF, 144-156), nimmt seine erst später im Text erzählte Niederlage im Rennen gleichsam vorweg (RF, 164-171) und spiegelt diese mit der impliziten erotischen Niederlage de Reixachs. 190 Darüber hinaus lässt sich in Iglésias Worten eine ‚Hybridisierung’ Corinnes nachvollziehen: sie wird der von ihrem Mann gerittenen Stute gleichge- 190 In diesen Zusammenhang situtiert sich auch R. Warnings These von der „hochkonventionalisierten Sexualkonnotation von ‚Reiten’“, die insbesondere in der Analogisierung von Wettrennen und Hinterhalt zutage trete: Schließlich sei der Hinterhalt durchweg sexuell konnotiert, wie z.B. das Einreiten in den Hohlweg oder der rosafarbene Himmel, der das Rosa der Jockeyjacke de Reixachs in der Rennszene aufgreift, deutlich machen (R. Warning: „Claude Simons Gedächtnisräume: La Route des Flandres.“ (1991), S. 377.). <?page no="206"?> 206 stellt; ein Verfahren, das den gesamten Roman wie ein roter Faden durchzieht. 191 Im Gefangenenlager wird Iglésias nur angedeutete Vermutung, hinter dem Verhalten de Reixachs könnte sich der Wille zur Abwehr des unerwünschten Nebenbuhlers im Kampf um Corinne verbergen, von Blum spekulierend weiterentwickelt: [Et Blum: ] „Et alors il - je veux dire de Reixach […] a voulu lui aussi monter cette alezane, c’est-à-dire la mater, sans doute parce qu’à force de voir un vulgaire jockey la faire gagner il pensait que la monter c’était la mater, parce que sans doute pensait-il aussi qu’elle… (cette fois je parle de l’alezane-femme, la blonde femelle qu’il n’avait pu ou qu’il n’avait su, et qui n’avait d’yeux - et vraisemblablement autre chose aussi que les yeux - pour ce…) Bref : peut-être a-t-il pensé qu’il ferait alors, si l’on peut dire, d’une pierre deux coups, et que s’il parvenait à monter l’une il materait l’autre, ou vice-versa, c’est-à-dire que s’il matait l’une il monterait l’autre aussi victorieusement, c’est-à-dire qu’il l’amènerait elle aussi au poteau, c’est-à-dire que son poteau à lui l’amènerait victorieusement là où il n’avait sans doute jamais réussi à la conduire, lui ferait passer le goût ou l’envie d’un autre poteau (est-ce que je m’exprime bien ? ) ou si tu préfères d’un autre bâton, c’est-à-dire que s’il réussissait à se servir de son bâton aussi bien que ce jockey qui… » […] (RF, 173f.). Die Hybridisierung Corinnes, die Überblendung zwischen der blonden Frau und der fuchsroten Stute, wird von Blum übernommen. Auch wird mittels der Polyvalenz verschiedener Substantive ein kausaler Zusammenhang zwischen dem erfolgreichen Beherrschen des Pferdes im Rennen und dem Bezwingen der untreuen Frau hergestellt: So benennt das Substantiv „poteau“ nicht nur das Ziel in einem Pferderennen, sondern bezeichnet in diesem Kontext ebenso wie „bâton“ das männliche Glied. „Bâton“ wiederum bezieht sich innerhalb des Isotopiefeldes ‚Pferderennen’ auf die Peitsche, mit der de Reixach seine Stute antreibt. Darüber hinaus werden beide Handlungen - einerseits die Kontrolle des Pferdes und andererseits die Unterwerfung der Frau - in den sportlichen Kontext eines Wettkampfes eingeordnet: Es geht also um den Widerstreit zweier Kontrahenten und Rivalen um den Sieg, der sich in der erfolgreichen Beherrschung sowohl der Frau als auch des Pferdes zeigt. Im Kontext des Romans wird nun von Georges ein Zusammenhang zwischen der früheren Niederlage de Reixachs in diesem doppelten Wettkampf und zwischen seinem ‚bereitwilligen’, von ihm als Selbstmord ausgelegten Tod konstruiert. Zunächst vergleicht Georges, noch nicht explizit auf das Liebesdreieck aus Corinne, de Reixach und Iglésia bezogen, die sich 1940 gegenseitig verfolgenden feindlichen Armeen mit dem burlesken Trio aus ebenfalls einander jagenden Liebhaber, ehebrecherischer Frau und eifersüchtigem Ehemann in der Oper oder im komischen Film (RF, 197). 191 Vgl. z.B. RF, 22f., 129, 134ff. <?page no="207"?> 207 Anfangs scheint es für ihn noch naheliegend zu sein, dass der unerklärliche Ritt des Capitaine in das Maschinengewehrfeuer des Feindes nicht aus dem Streben nach Ehre, der Zurschaustellung von Mut oder dem Bedürfnis nach Eleganz geschehen ist, sondern aus rein ‚persönlichen’ Gründen: […] cet imbécile de petit sous-lieutenant se croyant obligé de faire comme lui, s’imaginant sans doute que c’était le dernir [sic] chic le nec plus ultra de l’élégance et du bon ton pour un officier de cavalerie sans se douter un instant des véritables raisons qui poussaient l’autre à faire ça c’est-à-dire qu’il ne s’agissait là ni d’honneur ni de courage et encore moins d’élégance mais d’une affaire purement personnelle et non pas même entre lui et elle mais entre lui et lui. J’aurais pu le lui dire, Iglésia aurait pu le lui dire encore mieux que moi. […] (RF, 14). In Georges’ Augen scheint de Reixach auf der von Heckenschützen umgebenen Straße in Flandern die bereits vor dem Krieg begonnene Auseinandersetzung um Corinne mit seiner Ordonnanz Iglésia fortzusetzen. Seiner Ansicht nach ist es dieser schwelende Konflikt, der ihn gleichgültig für die am Wegesrand lauernden Gefahren macht und seinen mysteriösen Tod vorbereitet. Doch muss sich Georges zuletzt, am Ende seines Erinnerungsprozesses, eingestehen, dass es ihm nicht gelingen wird, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Corinne wie ein Pferd reitenden Jockey Iglésia und dem gleichgültigen Ritt seines Cousins und Capitaine in den Tod herzustellen: […] peut-être avaient-ils raison tous deux [le père et Blum; S.Z.], lui qui disait que j’inventais brodais sur rien et pourtant on en voyait aussi dans les journaux […] - mais comment savoir, comment savoir ? Il aurait fallu que je sois aussi celui-là caché derrière la haie le regardant s’avancer tranquillement au-devant de lui, au-devant de sa mort sur cette route, se pavanant comme avait dit Blum, insolent imbécile orgueilleux et vide dédaignant ou peut-être n’ayant pas même l’idée de mettre son cheval au trot n’entendant même pas ceux qui lui criaient de ne pas continuer ne pensant peut-être même pas à la femme de son frère chevauchée ou plutôt à la femme chevauchée par son frère d’armes ou plutôt son frère en chevalerie puisqu’il le considérait en cela comme son égal, ou si l’on préfère le contraire puisque c’était elle qui écartait les cuisses chevauchait, tout deux [sic ! ] chevauchant (ou plutôt qui avaient été chevauchés par) la même houri la même haletante hoquetante haquenée, […] (RF, 278f.). Georges scheitert schließlich bei dem Versuch, eine Verbindung zwischen den dramatischen Ereignissen im Zusammenhang mit dem Pferderennen und dem Selbstmord de Reixachs herzustellen. Dabei wirkt die Semantisierung des Geschlechtsverkehrs als Ritt und die der dabei beteiligten Protagonisten als Reiter bzw. Pferde als Bindeglied zwischen den beiden Kontexten bzw. Isotopien. Unklar wird Georges vor allem das Verhältnis zwischen Iglésia und de Reixach bleiben: Waren sie tatsächlich Rivalen <?page no="208"?> 208 oder haben sie nicht vielmehr als „frères d’armes“, wenn nicht sogar als „frères en chevalerie“, auch die Frau im Einvernehmen miteinander geteilt? Oder war nicht zuletzt Corinne die Dominante in diesem Liebesdreieck, die ihrerseits die beiden Männer ‚geritten’ und damit zu Pferden degradiert hat? So muss Georges im Verlauf seines Erinnerungsstroms erkennen, dass es ihm schlechterdings unmöglich ist, das Pferderennen, das er ausgehend von den vagen Andeutungen Iglésias imaginiert, in einen kausalen Zusammenhang mit dem mysteriösen Tod seines Cousins und Vorgesetzten im Mai 1940 zu bringen: Die Machtverhältnisse in dem Liebesdreieck aus Corinne-Iglésia-de Reixach, die in der Situation des Rennens noch so klar erschienen - de Reixach, der bei dem Versuch scheitert, seine Frau von seinen Qualitäten als ‚Reiter’ zu überzeugen und dadurch gleichzeitig seinen Nebenbuhler auf die Plätze zu verweisen -, lassen sich nachträglich nicht mehr genau bestimmen. Vielmehr wird ihm bei genauerer Betrachtung seines eigenen Erinnerungsvorgangs klar, dass die vielfältigen Beziehungen zwischen den drei Beteiligten mehrere Interpretationsmöglichkeiten zulassen. Sein Versuch, das Pferderennen und die dabei offenbar gewordenen Macht- und Beziehungsverhältnisse als ein imaginäres bzw. fiktives Erklärungsmodell für den Tod de Reixachs auf offener Straße in Flandern heranzuziehen, ist deshalb zum Scheitern verurteilt. Wie schon zuvor im Falle der Frauenfiguren und der beiden de Reixach wird die Fiktivität der Ereignisse innerhalb der histoire auf metafiktive Weise offengelegt. Weitere Ereignisse, deren ‚reale’ Existenz innerhalb der fiktionalen Realität in Zweifel gezogen werden muss und deren Fiktivität auf diese Weise manifest wird, sind die verschiedenen erotischen Begegnungen. Auf den jeweiligen zeitlichen Ebenen des Romans - im 18. Jahrhundert sowie in der unmittelbaren Vorkriegszeit - werden mehrere Liebesakte nicht nur vom erinnernden Subjekt Georges, sondern auch von den anderen Soldaten und insbesondere von Blum während der Kriegsgefangenschaft imaginiert. Zu diesen fiktiven intimen Begegnungen zählt der Ehebruch Virginie de Reixachs mit ihrem „valet“, die mutmaßliche Affäre zwischen Corinne und ihrem Jockey Iglésia sowie die möglicherweise inzestuöse Beziehung in einem Ardennendorf. Im Folgenden soll versucht werden, Georges’ und Blums Motive für ihre beharrliche Imagination der Liebesakte zu bestimmen. Der in der Zeitstruktur des Romans am weitesten zurückliegende fiktive Liebesakt ist der zwischen Virginie und ihrem Bediensteten; die Möglichkeit, dass er innerhalb der Welt des Romans tatsächlich stattgefunden hat, wird von Blum ins Spiel gebracht, der auf diese Weise eine alternative Erklärung für den Tod des Revolutionsgenerals vorstellt. Als Grundlage <?page no="209"?> 209 seiner Imagination fungieren - wie wir bereits gesehen haben - einerseits eine ihm von Georges zuvor beschriebene Gravüre, die eine erotische Szene repräsentiert, und zum anderen verschiedene fiktionale Texte. Auf die offensichtliche Irrealität des Ereignisses innerhalb der fiktionalen Welt des Romans wird von Georges empört hingewiesen: Wiederholt unterbricht er Blums Redefluss und seine aneinander gereihten Imaginationen mit einem vehementen „(Mais) Non! “ 192 Wie die intime Beziehung zwischen der Ahnin Virginie und ihrem Bediensteten existiert möglicherweise auch die Affäre zwischen Corinne und Iglésia nur in der Phantasie der Soldaten und insbesondere in der von Georges, da Iglésia sich kaum deutlich über sein Verhältnis zu der Frau seines Vorgesetzten äußert (RF, 47). So kann Georges nur aus Iglésias Verhalten auf die ‚Realität’ der Affäre schließen: […] probablement était-ce bien cela: c’est-à-dire pas une idylle, une intrigue se déroulant, verbeuse, convenue, ordonnée, s’engageant, se fortifiant, se développant suivant un harmonieux et raisonnable crescendo coupé par les indispensables arrêts et fausses manœuvres, et un point culminant, et après cela peut-être un palier, et après cela encore l’obligatoire decrescendo : non, rien d’organisé, de cohérent, pas de mots, de paroles préparatoires, de déclarations ni de commentaires, seulement cela : ces quelques images muettes, à peine animées, vues de loin : […] (RF, 47). Ebenso wie das ebenfalls imaginierte Pferderennen hat Georges die fiktive Szene des Geschlechtsaktes zwischen Iglésia und Corinne als tableau, als ‚stummes’ Gedächtnisbild vor Augen; 193 er reduziert ihre Beziehung auf die verbal aufs Nötigste beschränkte, rein körperliche Begegnung inmitten der Pferde im Stall (RF, 48f.). Dabei gewinnt die nur vorgestellte, innerfiktional fiktive Szene durch seine Imaginationskraft gleichsam einen realen Charakter, der auch seine weiteren Befragungen von Iglésia prägen wird (RF, 133f.). Im Gefangenenlager werden Blum und Georges auf der Grundlage der Ereignisfragmente, die ihnen von Iglésia zur Verfügung gestellt werden, die Geschichte ‚fortspinnen’ und immer neue Zusammenhänge konstruieren (RF, 174). Auf gleiche Weise wird auch die anhand von einigen wenigen gesicherten Tatsachen entworfene Dreiecksgeschichte im Ardennendorf - die eifersüchtige Reaktion des hinkenden Bauern auf den „adjoint au maire“, die sich hinter dem symbolträchtigen Pfauenvorhang 194 verbergende Frau, der 192 RF, 180-189. 193 Laut eines metapoetischen Kommentars von Simon habe sich die Genese seines Romans La Route des Flandres ebenfalls „par tableaux détachés“ vollzogen, welchen er verschiedene Farben zugeordnet und die er im Anschluss - nach der Harmonie ihrer Farbigkeit - miteinander verbunden hat. (C. Simon: „Note sur le plan de montage de La Route des Flandres.“ (1993), S. 185.) 194 B. Dauer weist darauf hin, dass in der Motivgeschichte der Pfau die Idee des Weiblichen symbolisiere (B. Dauer: „Nouveau Roman, Nouveau Nouveau Roman: Litera- <?page no="210"?> 210 Klatsch der Dorfbewohner und Familienangehörigen - zum Ausgangspunkt immer neuer Vermutungen und Imaginationen der Soldaten, ohne dass jedoch bis zuletzt die genauen Zusammenhänge aufgedeckt bzw. die tatsächliche Existenz einer illegitimen Beziehung angenommen werden könnten. 195 Auch hier widersprechen sich die verschiedenen vorgestellten Versionen und werden von den Männern empört zurückgewiesen: Insbesondere Wack hat als einziger direkt mit den Bewohnern des Hofes gesprochen und scheint nun im alleinigen Besitz der ‚Wahrheit’ zu sein, was jedoch von Blum und Georges vehement angezweifelt wird. 196 Schließlich fragt sich Georges sogar auf seinem nächtlichen Weiterritt im unverändert rauschenden Regen, ob sich die Ereignisse im Ardennendorf nicht nur in der Phantasie der Soldaten zugetragen haben: […] et cahotés sur nos montures invisibles nous aurions pu croire que tout cela (le village, la grange, la laiteuse apparition les cris le boiteux l’adjoint la vieille folle tout cet obscur et aveugle et tragique et banal imbroglio de personnages déclamant s’injuriant se menaçant se maudissant trébuchant dans les ténèbres tâtonnant jusqu’à ce qu’ils finissent par se cogner contre un obstacle une machine cachée là dans l’obscurité […] qui leur exploserait en pleine figure en leur laissant juste le temps d’entrevoir pour la dernière fois (et probablement la première) quelque chose qui ressemble à de la lumière) que tout cela n’avait existé que dans notre esprit : un rêve une illusion alors qu’en réalité nous n’avions peut-être jamais arrêté de chevaucher chevauchant toujours dans cette nuit ruisselante et sans fin continuant à nous répondre sans nous voir… […] (RF, 261f.). In der jede Wahrnehmung auflösenden und scheinbar zeitlosen Schwärze der Nacht erscheinen Georges - der hier auch die Perspektive der anderen Soldaten einnimmt - die Ereignisse um die erotischen Verwicklungen im Ardennendorf als irreal. Dabei werden den handelnden Figuren wie dem Bauern, der „fille au lait“, dem „adjoint“ gleichsam die Züge von Schauspielern in einer Komödie verliehen: Der komische Effekt resultiert in Georges’ Augen aus ihrer völlig ziel- und wirkungslosen Verfolgungsjagd im Dunkeln, bis zuletzt eine „machine cachée“ - vergleichbar der an anderer Stelle im Text genannten „boîte des farces et attrapes“ - vor ihren Augen explodiert. Zuletzt bleibt den Soldaten das Gefühl der Unsicherheit über den ontologischen Status der Ereignisse: Haben diese sich tatsächlich vor einigen Stunden zugetragen oder sind sie nur das Produkt ihres erschöpften Zustands: ein Traum, eine Illusion, während sie ununterbrochen auf ihren Pferden gesessen haben? Gemeinsam ist somit den drei Liebesbeziehungen in La Route des Flandres zum einen ihre Fiktivität: Für ihre reale Existenz innerhalb der rische Avantgarde um 1960 (Alain Robbe-Grillet: Dans le labyrinthe; Claude Simon: La Route des Flandres).“ (1982), S. 326.). 195 RF, 61-63, 119-122, 256-258. 196 Vgl. z.B. RF, 61, 256-258. <?page no="211"?> 211 fiktionalen Welt des Romans gibt es keinerlei überzeugende Anhaltspunkte. Es ist sowohl möglich, dass Georges und Blum bzw. auch die anderen Soldaten die erotischen Zusammenhänge nur imaginieren, als auch, dass Georges in seinem Erinnerungsprozess imaginäre Parallelen zur Geschichte der beiden de Reixach bzw. zu seiner eigenen Affäre mit Corinne konstruiert. Zum anderen erfüllen die drei fiktiven Liebesbeziehungen aber dieselben Funktionen innerhalb der fiktionalen Handlung: Sie liefern den ansonsten eher schweigsamen Soldaten einen Anlass zur Kommunikation 197 und helfen Georges und Blum, geistig aus der unerträglichen Realität des Kriegsgefangenenlagers zu entfliehen: […] et ils y restèrent tous les deux [au camp; S.Z.], travaillant pendant les mois d’hiver à décharger des wagons de charbon […] tandis qu’ils essayaient de se transporter par procuration (c’est-à-dire au moyen de leur imagination, c’est-àdire en rassemblant et combinant tout ce qu’ils pouvaient trouver dans leur mémoire en fait de connaissances vues, entendues ou lues, de façon […] à faire surgir les images chatoyantes et lumineuses au moyen de l’éphémère, l’incantatoire magie du langage, des mots inventés dans l’espoir de rendre comestible […] l’innommable réalité) dans cet univers futile, mystérieux et violent dans lequel, à défaut de leur corps, se mouvait leur esprit : quelque chose peutêtre sans plus de réalité qu’un songe, que les paroles sorties de leurs lèvres : des sons, du bruit pour conjurer le froid, les rails, le ciel livide, les sombres pins : ) […] (RF, 173). 198 Diese metasprachlich und metafiktiv fungierende Textstelle thematisiert explizit den fiktiven Status der verschiedenen Liebesszenarien - geht doch dem Zitat ein Gespräch zwischen Blum und Iglésia bzw. Blum und Georges über die Beziehung zwischen Corinne und Iglésia voraus bzw. folgt diesem. 199 Im weiteren Text bezieht sich die beschriebene Fiktivisierung von Teilen der histoire auch auf die Ehebruchsgeschichte um den Ahnen und seine Frau (RF, 175ff.), so dass zuletzt nur noch die Affäre zwischen Georges und Corinne in der unmittelbaren Nachkriegszeit einen innerhalb der Fiktion ‚realen’ Status zu besitzen scheint. Die anderen, von Georges im Verlaufe seines Erinnerungsprozesses erneut evozierten erotischen Begegnungen scheinen hingegen das alleinige Phantasieprodukt von ihm, Blum und z.T. auch von den anderen Soldaten während des Feldzugs und der Gefangenschaft zu sein. Die Soldaten versuchen auf diese Weise, zumindest ihrem Geist zu einer Flucht aus der kaum erträglichen Realität 197 RF, 62: „[…] leurs voix lasses monotones aussi s’élevant l’une après l’autre se chevauchant s’affrontant mais comme parlent les soldats, c’est-à-dire comme ils dorment ou mangent avec cette sorte de patience de passivité d’ennui comme s’ils étaient forcés d’inventer d’artificiels motifs de dispute ou simplement des raisons de parler […]“. 198 Vgl. ebenso RF, 174f.: „[…] et Georges: « […] et alors que puis-je, que pouvons-nous faire, que puis-je avoir d’autre que… », […]“. 199 RF, 171f., 173ff. <?page no="212"?> 212 zu verhelfen und sich darüber hinaus eine Möglichkeit der Kommunikation und der geistigen Beschäftigung zu eröffnen. 4.4.2.3 Ou-topoi oder die Semantisierung von Orten: das Ardennendorf und die „route“ Neben bestimmten Personen und Ereignissen tragen auch Orte in La Route des Flandres fiktive Züge innerhalb der fiktionalen Welt des Romans. Scheinbar aus der realen, extraliterarischen Welt vertraute Orte wie die Ardennen oder auch die „route des Flandres“ werden auf diese Weise zu mythischen oder märchenhaften ‚ou-topoi’, zu Nicht-Orten, die eine faktische Existenz weder in der extratextuellen Welt noch in der Realität des Romans besitzen. Der Roman betont ihren imaginären, fiktiven Status in Form einer metafiktiven Inszenierung: So tritt die innertextuelle ‚Faktizität’ der Orte zurück zugunsten von Themen und Motiven, die dem Märchen und Mythos entstammen. Allerdings unternimmt der Text keine ré-écriture der Mythen, sondern diese bilden vielmehr „une sorte de ‚thème’ second“ in der Struktur des Werkes: der Mythos ist das Objekt einer Repräsentation im Roman; es finden sich nurmehr einige „images emblématiques“, welche als Fremdkörper innerhalb der Fiktion fungieren und diese zunehmend in den Hintergrund drängen. 200 In La Route des Flandres werden die Ardennen, in denen die zentrale Handlung des Romans um die erfolglose französische Defensive gegen die Deutschen stattfindet, zu einem irrealen, mythischen bzw. märchenhaften Ort stilisiert. Wie bereits gezeigt wurde, ist es insbesondere das Ardennendorf, das von Beginn an zum Zentrum von Georges’ Imaginationen sowie der anderen Soldaten wird. So tritt die junge Frau, die den erschöpft in der Nacht ankommenden Soldaten mit der Laterne in der Hand den Weg zur Scheune weist, als übersinnliche und irreale „apparition“ 201 auf, und auch die unsichtbar im Verborgenen klagende „vieille“ wird von den Soldaten wie folgt imaginiert: […] toute la maison comme morte, sauf une espèce de gémissement rythmé, monotone, tragique, qui s’élevait à l’intérieur, et certainement c’était d’une gorge de femme que cela sortait mais pas Elle: une vieille, et quoiqu’ils ne l’eussent pas vue ils pouvaient l’imaginer assise dans un fauteuil, aveugle, noire et raide, gémissant, balançant le buste d’avant en arrière.“ (RF, 59) Die geheimnisvolle und den Soldaten unverständlich bleibende Klage der alten Frau - „la voix de la vieille femme qui continuait à faire entendre ses lamentations rythmées, monotones, comme une déclamation emphatique, 200 D. Viart: „Mythes et imaginaire des signes dans la fiction romanesque: Butor, Robbe- Grillet, Simon.“ (1994), S. 270ff. 201 Vgl. RF, 37, 39. <?page no="213"?> 213 sans fin“ (RF, 60) - lässt sie in Georges’ Augen den „pleureuses de l’antiquité“ ähnlich werden und enthebt dadurch die ganze Situation für ihn gleichsam der realen, physikalischen Zeit: […] comme si tout cela (ces cris, cette violence, cette incompréhensible et incontrôlable explosion de fureur, de passion) ne se passait pas à l’époque des fusils, des bottes de caoutchouc, des rustines et des costumes de confection mais très loin dans le temps, ou de tous les temps, ou en dehors du temps, la pluie tombant toujours et peut-être depuis toujours, […] (RF, 60). Die Ereignisse in dem Ardennendorf scheinen der innerfiktionalen Realität enthoben zu sein und in ihrer Archaik gleichsam einen vorzeitlichen bzw. zeitlosen Zustand zu verkörpern; dieser Eindruck wird noch verstärkt durch den unaufhörlich fallenden Regen. Diese angedeutete Mythologisierung der beteiligten Figuren und des Handlungsverlaufs wird im Text expliziert, wenn die Personenkonstellation im Ardennendorf mit dem Atridenmythos (RF, 115), der Hinkende mit ‚Vulcain’ (RF, 120f.) und die hinter dem Pfauenvorhang verborgene Frau mit ‚Léda’ verglichen werden (RF, 248, 273). Neben diesem mythischen Anstrich tragen das Ardennendorf, die dort auftretenden Personen sowie die umgebende Landschaft auch aus dem Märchen bekannte Merkmale: So trägt eine alte Frau - die vermutlich identisch ist mit dem unbekannten ‚Klageweib’ bei der Ankunft der Soldaten auf dem Bauernhof - anlässlich der abendlichen Begegnung die unheimlichen Züge einer Hexe: […] puis je la vis: non pas elle, cette blancheur, cette espèce de suave et tiède apparition entrevue le matin dans le clair-obscur de l’écurie, mais pour ainsi dire son contraire ou plutôt sa négation ou plutôt sa corruption la corruption même de l’idée de femme de grâce de volupté, son châtiment: une effroyable vieille à profil et barbiche de bouc la tête agitée d’un tremblement continu et qui tourna vers moi quand je m’assis auprès d’elle sur le banc derrière le fourneau deux prunelles bleu pâle presque blanches comme liquéfiées […] (RF, 251f.). In ihrer Hässlichkeit und ihrem Schrecken stellt die Alte das genaue Gegenteil der schönen und jungen „fille au lait“ dar; es wird hier das Gegenbild zur in La Route des Flandres mehrheitlich vertretenen schönen und sinnlichen Frau - verkörpert durch Corinne, Virginie und das Mädchen im Ardennendorf - entworfen. Darüber hinaus konnotieren die Oppositionen zwischen ‚jung und schön’ und ‚alt und hässlich’ auch den Gegensatz zwischen ‚Gut’ und ‚Böse’, wie das weitere Verhalten der alten Frau, ihre Boshaftigkeit und Bissigkeit gegenüber dem Hinkenden, bei dem es sich vermutlich um ihren Enkel handelt, zeigen. 202 202 R. Barny zieht darüber hinaus insgesamt die ‚reale’ Existenz der alten Frau innerhalb der Fiktion in Zweifel; bei dieser handele es sich möglicherweise nur um einen „fantasme du héros“ (R. Barny: „Simon, La Route des Flandres, 1ère partie. Une exposition? “ (1998), S. 247.). <?page no="214"?> 214 Auch Georges kann sich ihrer unheimlichen Faszination nicht entziehen; er gleitet während des Gesprächs immer mehr in den Zustand einer Verzauberung, der bereits durch die Verlorenheit der Landschaft und die schlechten Witterungsbedingungen vorbereitet wurde: […] (comme si j’étais là dans cette cuisine de paysans victime de quelque enchantement - et en fait il y avait quelque chose comme cela ici dans ce pays perdu coupé du monde avec ces vallées profondes d’où parvenait seul un faible tintement de cloches ces prés spongieux ces pentes boisées roussies par l’automne couleur rouille ; c’était cela : comme si le pays tout entier enfermé dans une sorte de torpeur de charme noyé sous la nappe silencieuse de la pluie se rouillait se dépiautait rongé pourissant [sic] peu à peu dans cette odeur d’humus de feuilles mortes accumulées s’entassant se putréfiant lentement, et moi le cavalier le conquérant botté venu chercher au fond de la nuit au fond du temps séduire enlever la liliale princesse dont j’avais rêvé depuis des années et au moment où je croyais l’atteindre, la prendre dans mes bras, les refermant, enserrant, me trouvant face à face avec une horrible et goyesque vieille…) (RF, 252). Hier wird die das Dorf umgebende Landschaft der Ardennen semantisch überdeterminiert: Es entsteht der Eindruck von Leere, Verlorenheit und Weltabgeschiedenheit, der anscheinend auf einen Zauber zurückzuführen ist. Darüber hinaus verleiht die herbstliche Jahreszeit - es handelt sich um die Zeit der Mobilmachung der französischen Truppen im Herbst 1939 - der Vegetation einen morbiden Aspekt: die mit der Nässe des Regens vollgesogenen Wiesen erscheinen schwammartig, die Wälder sind rostrot gefärbt und spielen damit implizit auf das schon bald im Krieg vergossene Blut an. Der Tod und die mit ihm einhergehende Verwesung ist allgegenwärtig: nicht nur in der Landschaft und in der Natur, sondern auch die von Georges märchenhaft umgedeutete Begegnung mit den beiden so unterschiedlichen Frauen konnotiert die Dichotomie von ‚Leben’ und ‚Tod’. Während die junge „fille au lait“, von Georges im Zusammenhang mit der Interpretation der Ereignisse im Dorf als „liliale princesse“, 203 als Erfüllung seiner langgehegten Träume betrachtet wird, zerstört das unerwartete Auftauchen der alten, dem Tode nahen und in ihrer abstoßenden Physis an die phantastischen Schreckensfiguren Goyas erinnernden Frau diese Illusion. Im weiteren Verlauf der Szene wird die Alte erneut mit dem Tod in 203 Die weiße Lilie („la fille laiteuse“) ist ein altes und verbreitetes Licht-Symbol; daneben gilt sie, vor allem in der christlichen Kunst, als Symbol der Reinheit, Unschuld und Jungfräulichkeit; dies möglicherweise als Sublimierung einer ursprünglich phallischen Bedeutung, die man der Lilie wegen der auffälligen Form ihres Stempels beimaß. (U. Becker: Lexikon der Symbole. (o.J.), S. 172) Zu einem späteren Zeitpunkt im Verlaufe seines Gedächtnisstroms interpretiert Georges die sich hinter dem Pfauenvorhang verbergende Frau nun konkreter als Dornröschen: „les passions déchaînées engendrées par la chair délicate de la belle au bois dormant emmurée cachée“ (RF, 272). <?page no="215"?> 215 Verbindung gebracht, wenn ihre Augen als „petits yeux de morte“ (RF, 253) beschrieben werden. Diese symbolhafte Aufladung der Ereignisse im Ardennendorf mit mythologischen und märchenhaften Zügen entrückt die Handlung der physikalischen Zeit des Herbsts 1939. Es sind die Vergleiche der Akteure im Dorf mit Figuren aus der griechischen Mythologie sowie die symbolhafte Überdetermination der Landschaft und der beiden so unterschiedlichen Frauen als Verkörperung von ‚Leben’ und ‚Tod’ bzw. von ‚Gut’ und ‚Böse’, die der Szene einen fiktiven Anstrich verleihen. Es bleibt unklar, welche Teile der histoire sich innerhalb der Fiktion tatsächlich ereignet haben und welche nur das Produkt der Imagination des Protagonisten sind, der seine eigenen Erlebnisse mit literarischen Vorbildern vergleicht, so dass hier auf metafiktive Weise Teile der histoire als ‚erfunden’ bzw. als ‚nicht-real’ innerhalb der erzählten Welt offenbart werden. Nicht nur das Ardennendorf, auch die im Zentrum der Handlung stehende „route des Flandres“ wird zu einem irrealen ‚Nicht-Ort’ im Roman. Über diese im Anschluss zu bestimmende innerfiktionale Fiktivisierung des geographischen Ortes hinaus hat L. Baladier darauf aufmerksam gemacht, dass entgegen dem etwas irreführenden Titel die Romanhandlung selbst nicht in Flandern spielt: Erst zwei Wochen nach den von Simon in La Route des Flandres beschriebenen Kriegshandlungen erreicht der Krieg mit den Schlachten um Lille und Dünkirchen Flandern selbst (26. Mai bis 2. Juni 1940); Simons Text beschreibt das zeitlich frühere Ardennendebakel. 204 Die so vielfach im Roman beschworene „route 205 des Flandres“ wird auf diese Weise nicht zu einem festen Ort, sondern vielmehr zu einer Richtung hin zu einem erträumten Land, in dem die Soldaten jedoch nie ankommen werden. Doch ist es nicht nur die offenkundig fehlende Übereinstimmung der Fiktion mit den historischen Fakten, die den fiktiven Status der Straße begründen, sondern auch ihre Mythologisierung, die mit der Wirkung des Krieges auf die Landschaft und die Menschen einhergeht. So erscheint bereits das detailliert beschriebene kranke Pferd während der Quartiernahme im Ardennendorf als Vorbote der kommenden, apokalyptischen Ereignisse: „[…] la tête du cheval couché sur le côté semble s’allonger, prend un air apocalyptique […]“ (RF, 122f.). Das Pferd scheint in seiner Agonie in das Schattenreich überzuwechseln, in dem Heerscharen 204 Die französische Provinz Flandern liegt westlich des Flusses Schelde (frz. L’Escaut) (L. Baladier: „La Route des Flandres, un roman poétique? Les mystères du titre.“ (1999), S. 54). 205 A. Tenaguillo y Cortázar weist auf die spezifische Funktion der Reisethematik im Werk Simons hin: diese sei immer auch Metapher für die kreative Erfahrung des Schreibens (A. Tenaguillo y Cortazar: „L’Ecriture comme frayage: Claude Simon, La Route des Flandres.“ (1997), S. 210.). <?page no="216"?> 216 toter, skelettierter Pferde unermüdlich von ihren ebenfalls toten und skelettierten Reitern geritten werden: […] la bête agonisante au regard terriblement fixe, empli d’une terrifiante patience, et dont le cou semble s’être encore allongé, tirant sur les muscles, les tendons, comme si le poids de l’énorme tête l’entraînait hors de la litière dans le noir domaine où galopent infatigablement les chevaux morts, l’immense et noir troupeau des vieilles carnes lancées dans une charge aveugle, luttant de vitesse pour se dépasser, projetant en avant leurs crânes aux orbites vides, dans un tonnerre d’ossements et de sabots heurtés : quelque fantomatique cavalcade de rosses exsangues et défuntes chevauchées par leurs cavaliers eux-mêmes exsangues et défunts aux tibias décharnés brinqueballant dans leurs bottes trop grandes, aux éperons rouillés et inutiles, et laissant derrière eux un sillage de squelettes blanchissants […] (RF, 125). Die imaginären toten Pferde und ihre Reiter werden auf diese Weise zu den Vorboten der anderen, realen Armee, die einige Monate später auf der Straße nach Flandern ebenfalls sterben wird. Darüber hinaus spielt die Armee der toten Pferde und Reiter auf das vierte Pferd in der biblischen „Offenbarung an Johannes“ an. 206 Auf ihrem Ritt durch den nächtlichen Regen Richtung Grenze und Front wird die Schwadron selbst zu apokalyptischen Reitern: […] il faisait noir de nouveau et on ne voyait plus rien et toute la connaissance du monde que nous pouvions avoir c’était ce froid cette eau qui maintenant nous pénétraient de toutes parts, ce même ruissellement obstiné multiple omniprésent qui se mélangeait semblait ne faire qu’un avec l’apocalyptique le multiple piétinement des sabots sur la route […] (RF, 261). Diese zunächst in der imaginären Armee der toten Reiter anklingende Anspielung des Romans auf die „Offenbarung an Johannes“, die schließlich auf die französischen Soldaten selbst bezogen wird, macht auch die Straße in Flandern, in der durch die berittene Armee ebenfalls der Tod über die Menschen kommen wird, zu einem mythischen Ort der Apokalypse: Hier liegt der in der Figur des Heckenschützen personifizierte Tod in der nur scheinbar friedlichen Landschaft hinter Weißdornhecken auf der Lauer (RF, 73, 88), und es werden sogar die Tageszeiten in einem unendlich gleißenden Sonnenlicht aufgehoben (RF, 199). Nach dem Zusammenprall der französischen Kavallerie mit den deutschen Panzerdivisionen erscheint die Straße gleichsam als riesige Müllhalde, auf der sich kaum mehr einzelne Gegenstände oder Körper unterscheiden lassen: 206 „Die Offenbarung an Johannes“ 6, 7f.: „Dann brach das Lamm das vierte Siegel auf. Ich hörte, wie die vierte der mächtigen Gestalten sagte: ‚Komm! ’. Da sah ich ein leichenfarbenes Pferd. Sein Reiter hieß Tod, und die Totenwelt folgte ihm auf den Fersen. Ein Viertel der Erde wurde in ihre Hand gegeben. Durch das Schwert, durch Hunger, Seuchen und wilde Tiere sollten sie die Menschen töten.“ <?page no="217"?> 217 […] cet inextricable, monotone et énigmatique sillage des désastres, c’est-à-dire même plus des camions, ou des charrettes brûlées, ou des hommes, ou des enfants, ou des soldats, ou des femmes, ou des chevaux morts, mais simplement des détritus, quelque chose comme une vaste décharge publique répandue sur des kilomètres, et exhalant non pas la traditionnelle et héroïque odeur de charnier, de cadavre en décomposition, mais seulement d’ordures, simplement puant […] (RF, 192). 207 In eine ähnliche motivische Richtung weisen auch die von Georges erinnerte Begegnung mit dem ausgemergelten, einer Leiche ähnelnden Mann (RF, 106-110) sowie die dreimalige Begegnung mit dem toten, am Straßenrand verwesenden Pferd (u.a. RF, 99). Beide Figuren - Mann und Pferd - symbolisieren verschiedene Auswirkungen des Krieges: Der ausgemergelte, einem Toten ähnelnde Mann weist auf die auch in der „Offenbarung an Johannes“ beschriebene Hungersnot hin, der die Menschen zum Opfer fallen sollen; das tote Pferd auf die Macht des ‚Schwertes’, welches ebenfalls das Leben von Mensch und Tier zu beenden imstande ist. Darüber hinaus spielt der Gestank des „sillage des désastres“ auf die mit dem Chaos des Krieges einhergehende Seuchengefahr an, die eine Folge der unbeseitigten Kadaver und Leichen sowie der nicht mehr kontrollierten Trinkwasserversorgung ist. Wie bereits das Ardennendorf wird in La Route des Flandres auch die titelgebende Straße in zweifacher Hinsicht zu einem fiktiven Nicht-Ort, welche diejenigen, die sie beschreiten, nie ans Ziel gelangen lassen wird. Dies geschieht zum einen durch die geographische Inkongruenz von Straßennamen und bezeichnetem Ort, zum anderen durch die mythologische Aufladung der Straße als Schauplatz von Krieg und Tod. Die wiederholte Anspielung auf die Apokalypse des Johannes versetzt die Schwadron der französischen Reiter von der innerhalb der Fiktion ‚realen’ Straße in einen überzeitlichen, mythischen Raum, der fiktive Züge - geprägt durch die allgegenwärtige Figur des Todes und die Aufhebung der Tageszeiten - trägt. 208 Dieses metafiktive Spiel mit zentralen Elementen aus fremden fiktionalen Gattungen bzw. Texten inszeniert die innertextuelle Fiktivität der eigenen histoire. 207 Vgl. auch RF, 102, 104. 208 Laut D. Alexandre liegt die besondere Bedeutung der „Offenbarung an Johannes“ für La Route des Flandres in der Umkehrung der biblischen Offenbarungsidee: In der Bibel sei der Sinn der Apokalypse die finale Offenbarung, die dem Alten und Neuen Testament erst Sinn verleihe. In La Route des Flandres hingegen scheitere die Suche nach Wissen; das Weltende erweise sich als Betrug und die finale Krise bleibe offen und ungelöst (D. Alexandre: „Simon, une H/ histoire sans fin? “ (1997), S. 113.). <?page no="218"?> 218 4.4.3 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung von Fiktionalität Neben der metafiktiven Thematisierung und Inszenierung der Erfundenheit bzw. ‚Nicht-Wirklichkeit’ der Romanfiguren, einiger Orte sowie zentraler Handlungselemente innerhalb der fiktionalen Grenzen des Romans wird darüber hinaus in La Route des Flandres auch die Fiktionalität des Textes - seine Zugehörigkeit zur Gattung fiktionaler Erzählliteratur - explizit und implizit offen gelegt. So erweist sich einerseits, wie ich in einer früheren Arbeit habe zeigen können, 209 die „Illusion eines Gedächtnisstroms“ als ein relativ konventioneller Erzählakt, der die innerfiktionale Realität als dialogisches, fiktionales Konstrukt enthüllt. Der Protagonist Georges fungiert in dieser Hinsicht weniger als ‚Erinnerungssubjekt’ denn als seinen Erzählprozess aktiv gestaltender und auf die Erzählungen Dritter zurückgreifender Erzähler, der sich jedoch zuletzt in den von ihm erinnerten Stimmen auflöst und auf diese Weise dekonstruiert wird. Auch wird das Erzählen selbst und insbesondere seine Hypertrophie in metanarrativen Passagen thematisiert, wenn die fiktionale Kommunikationssituation bestehend aus dem (impliziten) Autor, der erzählten Geschichte und dem (impliziten) Leser innerhalb der Fiktion in Form von mehrfachen mises en abyme gespiegelt wird. Schließlich verweisen in Simons Roman verschiedene intertextuelle und intermediale Zitate fremder fiktionaler Gattungen wie das Märchen, der Mythos, die klassische Tragödie, die Operette sowie die Übernahme ihrer typischen narrativen Muster auf die spezifische Fiktionalität des eigenen Textes bzw. auf seine fiktionalen Konstitutionsverfahren. 4.4.3.1 Die narrative Fiktion der Erinnerung: Georges zwischen Erinnern und Erzählen Von der Forschung wird allgemein angenommen, dass Simons Roman La Route des Flandres den mit literarischen Mitteln vertexteten Gedächtnisstrom des Protagonisten Georges präsentiert, der sich zu einem im Text nicht konkret genannten Zeitpunkt seines Lebens seiner Vergangenheit erinnert und diese erneut vor seinem ‚inneren Auge’ durchlebt. 210 Typisch 209 Sabine Waltemate: Die erzähltechnische Gestaltung des Gedächtnisstroms in Claude Simons La Route des Flandres. Unveröffentlichte Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien. (1999). 210 Hier liegt laut S. Schreckenberg auch der wichtigste Unterschied zwischen den ähnlich angelegten Romanen La Route des Flandres und Les Géorgiques begründet: Während Les Géorgiques einen distanzierten Erzähler präsentiert, der in erster Linie Texte sichtet, verwaltet und verarbeitet, findet sich in La Route des Flandres ein Protagonist, der als Ich- oder als personaler Erzähler mit der Unzulänglichkeit seiner Erinnerung ringt (S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 93.). <?page no="219"?> 219 für diesen teilweise in der Erzählform des inneren Monologs präsentierten, fiktiven Gedächtnisstrom - diesen „monologue remémoratif“ - ist die Verschmelzung von früher Erlebtem und aktuellem Erinnern: „[…] le passé est revécu dans le présent d’une mémoire en activité […]“. 211 Georges fungiert also in diesem Sinne als Reflektorfigur, durch deren Augen der Leser die erinnerte Realität wahrnimmt, 212 und erscheint dabei sowohl unter dem Personalpronomen der dritten Person Singular als auch in der ‚Ich’-Form. Interessanterweise verwandelt sich der Reflektor Georges an verschiedenen Stellen im Text in einen Ich-Erzähler und überschreitet damit die Grenzen des sich seinen Erinnerungen überlassenden Bewusstseins. Die Illusion eines unvermittelt fließenden Bewusstseinsstroms wird auf diese Weise nachhaltig untergraben und der Erinnerungsprozess als Erzählakt offengelegt. 213 Im Unterschied zu dem eher ‚stummen’ Reflektor „erzählt [eine Erzählerfigur], berichtet, zeichnet auf, teilt mit, übermittelt, korrespondiert, referiert aus Akten, zitiert Gewährsmänner, bezieht sich auf ihr eigenes Erzählen, redet den Leser an, kommentiert das Erzählte usw.“ 214 Auch Georges übernimmt in La Route des Flandres des öfteren die Rolle eines Erzählers, wenn er z.B. metanarrativ seinen sprachlich-narrativen Erinnerungsvorgang kommentiert und die Funktionsweise seines Gedächtnisses erklärt: „[…] non, rien d’organisé, de cohérent, pas de mots, de paroles préparatoires, de déclarations ni de commentaires, seulement cela: ces quelques images muettes, à peine animées, vues de loin“ (RF, 47). 215 211 A.M. Miraglia: „La Route des Flandres, défi aux voix narratives.“ (1990), S. 266. Uneinigkeit herrscht in der Sekundärliteratur über den Status - mündlich oder verschriftlicht - des inneren Monologs in La Route des Flandres. So weist B. Dauer: „Nouveau Roman, Nouveau Nouveau Roman: Literarische Avantgarde um 1960 (Alain Robbe- Grillet: Dans le labyrinthe; Claude Simon: La Route des Flandres).“ (1982), S. 313, die Annahme zurück, dass es sich bei der Erzählsituation um eine „solche des Schreibens, eines fiktiven literarischen Unternehmens, der Schaffung eines Dokuments individueller Wirklichkeitserfahrung“ handeln könnte, da weder eine Thematisierung des Schreibakts zu entdecken sei, noch Georges den Hang zum Schreiben zeige, vor allem aber seine Ablehnung des Schreibens als sinnvolle Aktivität ein solches Projekt unglaubwürdig erscheinen lasse. Die konträre Ansicht vertreten K. Wilhelm: „Claude Simon als ‘nouveau romancier’.“ (1965), S. 341: „Niederschrift eines Gedächtnisstroms“ und vor allem W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 65: „[…] am Schreibtisch schließlich - wie ich die extradiegetische Äußerungssituation vereinfachend bezeichnen will - nimmt er den Dialog mit seinem Vater wieder auf […]“. 212 Vgl. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 194. 213 A.M. Miraglia zollt dieser narratologischen Ambivalenz Tribut und bezeichnet Georges als „narrateur-monologueur“ (A.M. Miraglia: „La Route des Flandres, défi aux voix narratives.“ (1990), S. 269.). 214 F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 194. 215 Ebenso lässt die Dialogregie auf die Anwesenheit eines Erzählers schließen, wenn Figurenrede indirekt wiedergegeben wird und damit zur eigentlichen Erzählung ge- <?page no="220"?> 220 Ferner sind die zahlreichen Erklärungen, Ergänzungen, Berichtigungen, Selbstbefragungen und Modalisationen des Erzählten zu nennen, mittels derer sich Georges wiederholt auf das von ihm Erinnerte bezieht: „[…] des voix donc, irréelles et geignardes criant quelque chose (mise en garde, avertissement)“ (RF, 17) oder „[…] tandis que les quatre cavaliers avançaient toujours (ou plutôt semblaient se tenir immobiles […])“ (RF, 68). Da Georges hier seine Geschichte aktiv ausgestaltet, kehrt er „au discours personnel et fortement évaluatif“ 216 zurück und tritt somit als Erzähler auf, der sich seiner Botschaft sehr bewusst ist. 217 Darüber hinaus gefährdet die Einleitung von Georges’ Gedanken und Erinnerungen mittels verba cogitandi 218 die Illusion eines Bewusstseinsstroms, denn „[…] dire ‘je me rappelle’, ce n’est pas encore se souvenir mais dire qu’on se souvient. On n’est pas dans le récit de mémoire mais dans le discours de (éventuellement sur) la mémoire.“ 219 Hier präsentiert sich Georges’ Gedächtnis erneut nicht in actu. Stattdessen wird die ordnende Hand eines auktorialen Erzählers bzw. eines auktorial handelnden Bewusstseins sichtbar. Als Ich-Erzähler verkörpert Georges in La Route des Flandres verschiedene Typen; dabei hängt sein Auftreten vor allem davon ab, in welchem Verhältnis er zu den erinnerten Ereignissen steht. Auf der eigentlichen - intradiegetischen - Erzählebene liegt der Schwerpunkt der Darstellung im erzählenden Ich: So erscheint er in den Binnenerzählungen, wenn er die Erlebnisse anderer berichtet, als ein auktorialer Ich-/ Er-Erzähler, der nicht hört, vgl. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 96. In diesen indirekten Redezitaten kommt es häufig zu einer Verschmelzung von Erzähler- und Figurenrede, wenn Georges z.B. eine Bemerkung Sabines indirekt zitiert: „la main […] faisant dire […] à Sabine qu’il avait une main de pianiste, qu’il aurait dû faire de la musique, qu’il avait certainement gâché, gaspillé là un don, une chance unique […]“ (RF, 223). Hier wird hinter Sabines Stimme die von Georges hörbar, der aufgrund seiner Kriegserlebnisse dem Sinn und Zweck von Kultur kritisch gegenübersteht und mit dieser desillusionierten und kulturpessimistischen Haltung eine andere Meinung als seine Eltern vertritt. So färben das modalisierende Adverb „certainement“ sowie die Synonyme „gâché“ und „gaspillé“ die indirekte Rede Sabines ironisch ein. (Ebd., S. 249.) 216 D. Lanceraux: „Modalités de la narration dans La route des Flandres.“ (1973), S. 237. 217 Vgl. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 197. K. Wilhelm: „Claude Simon als ‘nouveau romancier’.“ (1965), S. 351, bemerkt, dass hierdurch der Roman eben doch nicht als „völlig unkontrollierte[r] Gedächtnisstrom“ erscheint. Ebenso Y. Berger: „L’enfer, le temps.“ (1961), S. 95, und J.A. Kreiter: „Perception et réflexion dans La Route des Flandres: Signes et sémantique.“ (1981), S. 493. Diese Kommentare können auch als Versuch eines Bewusstseins interpretiert werden, die erinnerte Realität mit der größtmöglichen Präzision zu erfassen. 218 Vgl. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 243. 219 P. Mougin: „La Route des Flandres ou la mémoire en trompe-l’œil.“ (1997), S. 189, 192. Ebenso R. Barny: „Simon, La Route des Flandres, 1ère partie. Une exposition? “ (1998), S. 239; D. Lanceraux: „Modalités de la narration dans La route des Flandres.“ (1973), S. 237. <?page no="221"?> 221 am Ablauf der Zeit teilhat, sondern die Handlung von einem festen Punkt aus berichtet. Ein Übergang in das erlebende Ich erfolgt hingegen, wenn er bestimmte Episoden imaginiert und diese an der Stelle des eigentlichen Protagonisten erlebt (dies geschieht z.B. beim Pferderennen, das er aufgrund von Iglésias spärlichen Informationen imaginativ rekonstruiert). Schließlich tritt Georges auch als peripherer Ich-Erzähler auf, wenn er von Ereignissen berichtet, bei denen er selbst zwar anwesend - z.B. als Beobachter und Augenzeuge - aber nicht als Protagonist beteiligt war. Hier werden die Ereignisse von ihm aus einer gewissen räumlichen und zeitlichen Distanz zum Geschehen geschildert. 220 Dieser Typ des Ich-Erzählers zeichnet sich oftmals dadurch aus, dass er das Erzählte aus seiner Einbildungskraft wiederauferstehen lässt und dabei keinen Unterschied zwischen der Evokation aus der Erinnerung und jener aus der Phantasie macht. 221 Georges befindet sich beispielsweise als Erzähler an der Peripherie des Geschehens, wenn er die Umstände von de Reixachs Tod narrativ vermittelt und versucht, sich in dessen Lage zu versetzen: „feignant toujours de ne rien voir pensif et futile sur ce cheval tandis qu’il s’avançait à la rencontre de sa mort […]“ (RF, 295). Je weiter sich Georges in seinem Gedächtnisstrom derjenigen Erinnerung annähert, die diesen vermutlich auslöst - der plötzliche Abbruch der Liebesbeziehung zu Corinne -, desto mehr konzentriert sich die Darstellung der Ereignisse im erlebenden ‘Ich’, wie die an Assoziationen und Vergleichen reiche Beschreibung des Geschlechtsaktes zeigt: […] mes mains aveugles rassurées la touchant partout courant sur elle son dos son ventre avec un bruit de soie rencontrant cette touffe broussailleuse poussant comme étrangère parasite sur sa nudité lisse, je n’en finissais pas de la parcourir rampant sous elle explorant dans la nuit découvrant son corps immense et ténébreux, comme sous une chèvre nourricière, la chèvre-pied […] suçant le parfum de ses mamelles de bronze […] (RF, 242f.). 222 Hier wird die Erzähldistanz insbesondere durch das gehäufte Auftreten der participes présents verringert, 223 die dem Leser eine Darstellung in actu 220 Vgl. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 263f. 221 Ebd., S. 275. 222 Vgl. ebd., S. 273: „Je kürzer die Erzähldistanz, je näher das erzählende Ich dem erlebenden Ich steht, desto enger ist der Wissens- und Wahrnehmungshorizont des erlebenden Ich und desto geringer ist die Wirkung der Erinnerung als Katalysator, der die Erlebnissubstanz zu klären imstande ist.“ Ferner verweist Stanzel auf die Bedeutung der Metonymie bei der Darstellung von Außenwelt im Reflektor-Modus. (Ebd., S. 103) 223 B.T. Fitch: „Participe présent et procédés narratifs chez Claude Simon.“ (1964), S. 208f., macht jedoch darauf aufmerksam, dass die Distanz zwischen dem Leser und der erzählten Handlung dann wieder größer wird, wenn sich die participes présents auf die durch den Namen ‚Georges’ bezeichnete Person beziehen: z.B. „Georges disant“ (RF, 57). Hier ist die Handlung einer bestimmten Person eindeutig zuzuordnen. <?page no="222"?> 222 suggerieren sollen. Wenn Georges also von Ereignissen berichtet, an denen er als ‚Held’ beteiligt war, wandelt er sich vom peripheren zum quasiautobiographischen Erzähler. Hier tritt das erzählende ‚Ich’ zugunsten des erlebenden ‚Ich’ in den Hintergrund; der Erinnerungsvorgang wird nun nicht mehr thematisiert. 224 Neben diesen auf die Erzählerfigur bezogenen Merkmalen, ist auch die Verwendung von Zeitadverbien wie „maintenant“, „à présent“, „puis“ etc. dem Gedächtnis im Grunde unangemessen, da dieses „[…] ne pense pas le temps, c’est-à-dire pense en dehors du temps, pense (par) images, qui lui viennent découpées et qui s’accouplent“. 225 Durch die zeitliche Strukturierung der Ereignisse wird jedoch eine gewisse Kontrolliertheit von Georges’ Erinnerungen zum Ausdruck gebracht. In diesem Sinne ist auch der Tempusgebrauch zu interpretieren, da „lorsque des verbes à un mode personnel apparaissent pour référer aux événements, ce sont des temps du passé (passé composé, imparfait, passé simple). C’est ce qui permet de dire que ce texte romanesque est encore une narration.“ 226 So berichtet Georges die Ereignisse während der Sommermonate nach Iglésias Fortgang aus dem Gefangenenlager in geraffter Form: […] (mais cette fois Iglésia n’était plus là: tout l’été ils le passèrent, une pioche (ou, quand ils avaient de la chance, une pelle) en main, à des travaux de terrassement, puis, au début de l’automne, ils furent envoyés dans une ferme arracher les pommes de terre et les betteraves, puis Georges essaya de s’évader, fut repris […], puis il fut ramené au camp et mis en cellule, puis Blum se fit porter malade et rentra lui aussi au camp, et ils y restèrent tous les deux, travaillant pendant les mois d’hiver […] (RF, 172f.). Abschließend bleibt festzuhalten, dass oftmals speziell die stilistischen Mittel, die eigentlich die Illusion der Unmittelbarkeit und Simultaneität des sich unwillkürlich und ungeordnet erinnernden Bewusstseins erzeugen sollen (Abtönung des Erzählten, Zeitadverbien), vor allem im Kontext mit anderen Merkmalen einer Erzählung als Zeichen für die Präsenz einer Erzählerfigur zu werten sind. In La Route des Flandres wird somit über weite Strecken des Textes die Präsentation eines Gedächtnismonologs zugunsten einer Ich-Erzählung aufgegeben. 227 Darüber hinaus offenbart der Text dadurch seine Zugehörigkeit zur Gattung fiktionaler Erzähltexte, dass er auf für dieses Genre typische narra- 224 Vgl. hierzu F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 268ff. 225 Y. Berger: „L’enfer, le temps.“ (1961), S. 96. Vgl. auch K. Wilhelm: „Claude Simon als ‘nouveau romancier’.“ (1965), S. 351f. 226 J.-M. Barbéris: „Phrase, énoncé, texte. Le fil du discours dans La Route des Flandres.“ (1997), S. 144, Anm. 1. Ebenso: J. Mecke: Roman-Zeit. Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart. (1990), S. 165. 227 Diese Ansicht vertreten auch D. Viart: Une mémoire inquiète. La Route des Flandres de Claude Simon. (1997), S. 81, und M. Evans: Claude Simon and the Transgressions of Modern Art. (1988), S. 26. <?page no="223"?> 223 tive Textkonstitutionsverfahren wie z.B. die Vermittlung der fiktionalen Welt durch eine (Ich-)Erzählerfigur zurückgreift. 4.4.3.2 Innerfiktionale Realität als dialogisches, fiktionales Konstrukt Ein konstitutives Merkmal des Erzählverfahrens in La Route des Flandres ist, dass die Handlung überwiegend innerhalb von bestimmten Gesprächssituationen vermittelt wird. Dies geschieht vor allem in den Gesprächen zwischen Blum und Georges im Gefangenenlager, in denen beide eine jeweils andere Version des bereits vom Anderen Gesagten postulieren. 228 So greift Blum Georges wiederholt an, wenn er ihn daran erinnert, dass es sich bei dessen Thesen zu der Familienlegende um den mysteriösen Tod des Vorfahren nur um Vermutungen handelt. 229 Zudem beutet Blum Georges’ Erzählungen sogar noch parasitär aus, um sie als Grundlage für seine eigenen Interpretationen zu verwenden, deren Erfundenheit er jedoch explizit deutlich macht. 230 Auf diese Weise entstehen zwei sich widersprechende Versionen zum Tod des Vorfahren, wobei Georges vorgibt, über ‚sicheres’ Quellenmaterial zu verfügen, wie die von seiner Mutter kolportierte Familienlegende sowie verschiedene Erbstücke aus dem Familienbesitz. 231 228 Hierzu W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 72ff. Vgl. M. Silverman: „Fiction as Process: The Later Novels of Claude Simon.“ (1985), S. 63, und H. Pfeiffer: „Claude Simon.“ (1986), S. 364, der das Verhältnis zwischen Georges und Blum als „[…] das einer reziproken Konstruktion und Destruktion der das Geschehen ordnenden Geschichten” beschreibt. A. C. Pugh macht hingegen deutlich, dass „the desire for ‚knowledge’“ in La Route des Flandres stets auf einen diskursiven Ursprung und damit auf das Problem des „‘original’ discourse“ zurückgeführt werde. (A.C. Pugh: „Defeat, May 1940: Claude Simon, Marc Bloch, and the Writing of Disaster.“ (1985), S. 62.) Nach S. Sykes erzeugen Rede und Gegenrede von Georges und Blum „[…] une fiction possible mais incessamment minée.“ (S. Sykes: „1960. La Route des Flandres: le texte assassin.“ (1979), S. 85.) 229 Vgl. RF, 174: „[…] et Blum: «Très bien, excuse moi. Je croyais que ça t’amusait: tu es là à ressasser, à supposer, à broder, à inventer des histoires, des contes de fées […] »“. Ebenso RF, 175, 185, 189. Vgl. ebenso Blums Einwand zu den Ereignissen um Corinne, Iglésia und de Reixach: „«Mais tu ne la connais même pas! dit Blum. […] »“ (RF, 56). A. Duncan weist auf die satirischen Aspekte der ‘Gegenversionen’ Blums hin (A. Duncan: „Satire, Burlesque and Comedy in Claude Simon.“ (2002), S. 106f.). 230 RF, 79f. („trompé […] par son propre cerveau, ses idées“), 175-189 („cet autre cocu“ Analogie de Reixach und Reixach), 263f. („[…] trouvant donc sa femme occupée à mettre en pratique ces principes naturistes et effusionnistes dont n’avaient pas voulu les Espagnols“), 266 („quelque malformation honteuse“; „Ou peut-être encore avait-il simplement des dettes“). 231 Vgl. W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 77; A.M. Miraglia: „La Route des Flandres, défi aux voix narratives.“ (1990), S. 269. Vgl. N. Piégay-Gros: „Légende et affabulation dans La Route des Flandres.“ (1997), S. 125. W. Engler: „Die Aufkündigung der Mimesisverein- <?page no="224"?> 224 Blums Kritik kann als Verkörperung des Zweifels interpretiert werden, der Georges angesichts seiner Imaginationen und seines Wissens aus zweiter Hand befällt. 232 Der Roman nimmt hier seine eigene Kritik - eine Autokritik - vor, die „met en évidence le hiatus existant entre le réel et le symbolique, d’un côté les faits et leur narration, de l’autre le désir et sa formulation“ 233 ; der dabei entstehende „co-texte dénonce bien la vanité du récit“ 234 . Dies bewirkt zum einen, dass die sich gegenseitig in Frage stellenden Versionen von Georges und Blum metafiktional die Fiktionalität des diese transportierenden Textes in den Vordergrund rücken. Zum anderen wird auf die Rolle, welche die Imagination in der retrospektiven Wahrnehmung der Vergangenheit spielt, aufmerksam gemacht. 235 Darüber hinaus lässt sich die Polyphonie der Erzählerstimmen in La Route des Flandres als metanarrative Inszenierung der traditionellen Mehrstimmigkeit des Romans interpretieren; dieser ist in Anlehnung an das von J. Kristeva entwickelte Konzept der Intertextualität aus verschiedenen Diskursen konstruiert: „[…] der Dialog innerhalb eines Werkes ist damit gleichzeitig ein Dialog mit den fremden Wörtern und Reden außerhalb des Werks.“ 236 Die Georges’ und Blums Versionen zugrundeliegenden Bildquellen, wie z.B. die Gravur, stehen dabei stellvertretend für die Mehrdeutigkeit des sprachlichen Zeichens. Dieses steht ebenfalls mehreren Interpretationen offen und verweist somit nicht mehr auf eine eindeutig umrissene Wirklichkeit. 237 barung im Roman von Claude Simon: Notizen zu La Route des Flandres.“ (1995), S. 142, führt ferner aus, dass Georges’ Informationsquellen allein schon aufgrund ihrer Ausdrucksweise („kryptische Zitate“ und Idiolekt) nicht glaubwürdig seien. 232 Vgl. A.B. Duncan: „Claude Simon. La crise de la représentation.“ (1981), S. 40. Ebenso J.-Y. Debreuille: „Quête des indices et perte des repères: description d’une histoire et histoire d’une description.“ (1997), S. 92f. 233 D. Alexandre: „La Route des Flandres: ‘Un Imbroglio de voix’.“ (1997), S. 173. Vgl. zur Auto-Kritik des Textes auch A. Cresciucci: „Présentation.“ (1997), S. 6f. 234 D. Alexandre: „La Route des Flandres: ‘Un Imbroglio de voix’.“ (1997), S. 173. 235 Vgl. hierzu A.M. Miraglia: „La Route des Flandres, défi aux voix narratives.“ (1990), S. 270f.; A.C. Pugh: „Defeat, May 1940: Claude Simon, Marc Bloch, and the Writing of Disaster.“ (1985), S. 62. Ebenso M.J. Evans: A poetics of Simon’s novels, from La Route des Flandres to Leçon de choses. (1978), S. 38: „Indeed the fictionality of all the narratives in the novel is further outlined by the interchangeability of the different discourses in which the narratives are set.“ D. Alexandre weist darüber hinaus darauf hin, dass Blums Kritik auch eine Kritik am Diskurs der Geschichte bzw. an seiner Ausschlussfunktion impliziere (D. Alexandre: „La Route des Flandres: ‘Un Imbroglio de voix’.“ (1997), S. 172.). 236 M. Pfister: „Intertextualität.“ (1994), S. 215. Vgl. P. Waugh: „What is Metafiction and Why are they saying such awful things about it? “ (1995), S. 43: Der Roman „[…] assimilates a variety of discourses (representations of speech, forms of narrative) - discourses that always to some extent question and relativize each other’s authority.“ 237 Hierzu W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 80f. <?page no="225"?> 225 Die polyphonen Erzählerstimmen in La Route des Flandres demontieren somit einerseits die „dominant ‘voice’ of the omniscient, godlike author“. 238 Andererseits wird die Unmöglichkeit einer adäquaten sprachlichen Repräsentation der außersprachlichen Realität thematisiert: Diese lässt sich aufgrund ihrer Polyvalenz nicht auf einen primären Sinn reduzieren und kann daher auch nicht auf eindeutige Weise im Roman abgebildet werden. In La Route des Flandres wird auf diese Weise mit der traditionellen Mehrstimmigkeit des romanesken Genres gespielt und gleichzeitig die Unmöglichkeit einer retrospektiven verbindlichen Deutung von - vergangener - Realität aufgedeckt. 239 Auf diese Weise wird einerseits metafiktional auf die besonderen Konventionen fiktionaler Erzählliteratur verwiesen und andererseits werden in Form eines metafiktiven Kommentars wiederum Teile der histoire als innerfiktional ‚erfunden’ bzw. fiktiv ‚entlarvt’. 4.4.3.3 Die Dekonstruktion der Erzählinstanz In Simons Roman lässt sich eine fortschreitende Instabilisierung des narrativen Zentrums beobachten, die zuletzt in seiner Auflösung gipfelt. Diese Destruktion der Erzählinstanz wird durch zwei gegenläufige Prozesse verursacht: zum einen durch die Hypertrophierung der narrativen Instanzen, mithin der Aufspaltung des Erzählzentrums in mehrere Erzähler; zum anderen durch die Vereinigung aller zunächst noch unterscheidbaren Erzählerstimmen in einer einzigen Stimme. Im Folgenden soll zunächst die narrative Vermittlung des Romans beschrieben werden, bevor untersucht wird, welchen Auflösungsprozessen diese unterliegt. Wie bereits skizziert wurde, präsentiert La Route des Flandres nach allgemeiner Auffassung den inneren Monolog des Protagonisten Georges, der jedoch - wie eine genauere Analyse des Erzählverfahrens ergeben hat - neben seiner Reflektor-Funktion auch die Rolle eines relativ konventionellen Erzählers innehat und entweder in der Ich- oder in der Er-Form in Erscheinung tritt. Doch erweist sich die narrative Vermittlung der Handlung in Simons Roman als weitaus vielschichtiger als auf den ersten Blick ersichtlich. So lässt sich nicht nur eine Verdoppelung der Erzählerfigur, sondern sogar ihre Verdreifachung konstatieren: Neben dem bereits bekannten personalen Erzähler sowie dem (autobiographischen) Ich-Erzähler findet sich auch ein anonym bleibender, körperloser Erzähler am Roman- 238 P. Waugh: „What is Metafiction and Why are they saying such awful things about it? “ (1995), S. 43. 239 Vgl. ebenso M.J. Evans: A poetics of Simon’s novels, from La Route des Flandres to Leçon de choses. (1978), S. 29: „[…] its [La Route des Flandres] very multiplicity of direction, reflecting the polyphonic ‘vie de sons’ of fictional writing […]“. Ferner W. Engler: „Die Aufkündigung der Mimesisvereinbarung im Roman von Claude Simon: Notizen zu La Route des Flandres.“ (1995), S. 141. <?page no="226"?> 226 ende. 240 Keine Klarheit ist hingegen bezüglich der Erzählsituation am Romananfang zu erlangen; hier lässt die fehlende Markierung als Rede- oder Gedankenzitat ebenfalls auf eine genuine Ich-Erzählung schließen. 241 D. Alexandre hat in einer Arbeit zum Erzählverfahren in La Route des Flandres den Versuch unternommen, die verschiedenen Erzählebenen des Romans in einen Zusammenhang mit den jeweiligen Erzählern zu bringen, und unterscheidet dabei drei Ebenen der Romanhandlung: eine extradiegetische, eine (intra)diegetische sowie eine metadiegetische. 242 Abbildung 11: Übersicht über die Erzählebenen in La Route des Flandres und die dort jeweils auftretenden Erzählertypen 240 Allerdings tritt in La Route des Flandres überwiegend ein autobiographisch-auktorialer bzw. personaler Erzähler in der dritten Person Singular in Erscheinung, da die Form der ersten Person bis auf wenige Ausnahmen das Subjekt eines Gedankenbzw. Redezitats des Er-Erzählers darstellt: Er: S. 25-246, 256-238, 263-271; Ich: S. 146-156, 241- 263, 271-280, 289-296; anonymer Erzähler: S. 280-289. 241 Vgl. D. Lanceraux: „Modalités de la narration dans La route des Flandres.“ (1973), S. 240. 242 Ich habe mich bei der Erstellung der Übersicht an D. Alexandre: „La Route des Flandres: ‘Un Imbroglio de voix’.“ (1997), S. 170, orientiert, wobei ich auf der extradiegetischen Ebene darüber hinausgehend einen Reflektor und einen auktorialen Erzähler unterscheide. Alexandre wiederum hat Genettes Einteilung der personne und der niveaux narratifs übernommen, und bezeichnet mit narrateur hétérodiégetique „[…] un narrateur absent de l’histoire qu’il raconte“, und mit narrateur homodiégétique einen „[…] narrateur présent comme personnage dans l’histoire qu’il raconte“. (G. Genette: Figures III. (1972), S. 252.). Genette definiert ferner „[…] tout événement raconté par un récit est à un niveau diégétique immédiatement supérieur à celui où se situe l’acte narratif producteur de ce récit.“ Die Produktion der Erzählung ist „un acte (littéraire) accompli à un premier niveau, que l’on dira extradiégétique, les événements racontés dans [ce récit] sont dans ce premier récit, on les qualifiera donc de diégétiques, ou intradiégétiques; les événements racontés dans [ce] récit […], récit au second degré, seront dits métadiégétiques.“ (Ebd., S. 238f.) Erzählertyp Erzählebene Erzähler ohne Leib (heterodi egetisch) Erzähler mit Leib (homodiegetisch) Rahmene rzä hlung (extradiegetisch) Entsteh ung ssituation des Gedächtnisstro ms (unbestimmt) Auktorialer Erzähler, anonym in Teil III ‚Er‘-Form Geo rges als Reflektor Wechsel ‚Ich’un d ‚Er’-Form Erzählung (intradiegetisch) Erzähl-/ Erinn erungssituati on en Georges, Sabine, Blum, „on dit“, (Vater) Geo rges, Blum, Iglésia, Wack, Martin Binnenerzählungen (metadiegetisch) Rede- / Gedankenzitate, Imaginati one n Revolutionsgeneral (de) Reixach, Affäre Iglésia u. Corinne, Dreiecksgeschichte im Ardennendorf a lle Erlebnisse des Krieges, d er Gefangenschaft, d er Nachkriegszeit (Georges) <?page no="227"?> 227 Die äußere, extradiegetische Ebene umfasst die nicht eindeutig festlegbare Rahmenhandlung des Romans, wobei die Sekundärliteratur entweder von einer Schreibsituation des Protagonisten Georges’ ausgeht (und damit den Gedächtnisstrom von La Route des Flandres als schriftlich fixiert betrachtet), oder aber die letzte Liebesnacht selbst, nach Corinnes Fortgehen, als Präsens des Erinnerns annimmt. 243 Auf dieser Ebene der nicht näher bestimmten Rahmenhandlung treten nun zwei Erzählerfiguren in Erscheinung. Die erste ist als heterodiegetisch zu definieren, da sie keine körperliche Präsenz in der Welt der Charaktere besitzt. Vielmehr betrachtet sie einem auktorialen Erzähler gleich das Geschehen von einem übergeordneten Standpunkt aus, 244 von dem aus sie die Dialog- und Gedankenregie des Erinnerungssubjekts Georges kontrolliert, indem sie mit Hilfe von verba dicendi bzw. verba cogitandi seine eigenen, ebenso aber auch die Gedanken und Beobachtungen der anderen Charaktere ankündigt. Allerdings haben diese Formeln „[…] fast nur funktionellen Charakter und [werden] daher vom Leser in der Regel gar nicht als Äußerung einer Erzählerfigur registriert.“ 245 In La Route des Flandres tritt dieser allwissende Erzähler vor allem gegen Ende des Romans auf, wo er als anonymer Erzähler Vermutungen über die vier Romanfiguren - den Capitaine und seinen Sous-lieutenant sowie Georges und Iglésia - anstellt, die auf dem Weg in den Hinterhalt sind. Der außenperspektivische Blick dieses Erzählers lässt die vier Soldaten so erscheinen, als ob sie sich auf einer überdimensionalen Generalstabskarte vorwärtsbewegten. 246 Außerdem ist auf der extradiegetischen Ebene des Romans die Anwesenheit eines homodiegetischen Erzählers, also eines persönlichen Erzäh- 243 Vor allem W. Nitsch plädiert für eine schriftliche Fixierung des Gedächtnisstroms und identifiziert als „chronologisch letztes Gespräch des Romans [das] von Schreibtisch zu Schreibtisch“ zwischen Vater und Sohn (W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 96.). Auch R. Birn vertritt die These, dass „La Route des Flandres is a novel about its own genesis [: ] [i]t relates the story of George’s [sic] struggle to become an artist […]“. (R. Birn: „The Road to Creativity: Eighteenth-Century Parody in The Flanders Road.“ (1981), S. 88.) 244 Vgl. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 16, 170. D. Alexandre unterstreicht, dass dieser anonyme extradiegetische Erzähler die Standpunkte der intradiegetischen Erzähler Georges, Blum und Iglésia übernimmt. (D. Alexandre: „La Route des Flandres: ‘Un Imbroglio de voix’.“ (1997), S. 176.) 245 F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 243. Vgl. ebenfalls J. Mecke: Roman-Zeit. Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart. (1990), S. 156, der die Dialogregie der Erzählfunktion der Tiefenstruktur zuschreibt, ohne dass auf der Oberflächenstruktur eine Erzählerfigur präsent ist. 246 Vgl. RF, 280: „cherchant à nous imaginer nous quatre et nos ombres nous déplaçant à la surface de la terre, minuscules […]“. Hier ist zunächst noch ein persönlicher Erzähler - Georges - zu entdecken, der jedoch immer mehr in den Hintergrund tritt. In der Folge sind es mehrere participes présents, die die Handlungen der vier Soldaten vermitteln: „luttant“ (282), „entrevoyant“ (285), „découvrant“ (285). <?page no="228"?> 228 lers, festzustellen. Dieser Erzähler nimmt als „Georges“ die Gestalt eines Reflektors an, der den Gedankenmonolog „[…] in [seinem] Bewusstsein widerspiegelt, […] empfindet, registriert, aber immer stillschweigend“, 247 d.h. ohne seine Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühle zu verbalisieren, da er sich in keiner Kommunikationssituation mit dem Leser befindet. Er besitzt in der Welt seiner Erlebnisse (also auf der Ebene der eigentlichen Handlung) ein „Ich mit Leib“, 248 indem er als erlebendes ‚Ich’ in Interaktion mit den übrigen Romanfiguren Blum, Iglésia und Wack, Corinne und de Reixach tritt. Ein Beispiel für das Auftreten dieser Reflektorfigur findet sich besonders im letzten Teil des Romans, wenn Georges in der Liebesnacht mit Corinne seine Empfindungen quasi in actu vermittelt: „[…] mes mains ma langue pouvant la toucher la connaître m’assurer, mes mains aveugles rassurées la touchant partout courant sur elle son dos son ventre avec un bruit de soie rencontrant cette touffe broussailleuse poussant comme étrangère parasite sur sa nudité lisse […]“ (RF, 242f.). Es sind vor allem diese assoziativen Vergleiche, die dem Leser die Unmittelbarkeit von Georges’ Sinneswahrnehmungen und Gedanken suggerieren sollen. Auf der sich anschließenden Ebene - auch intradiégétique genannt - findet die eigentliche Handlung des Romans statt. Auf dieser Ebene sind wiederum die beiden verschiedenen Erzählertypen präsent, wobei als heterodiegetische Erzähler neben Georges nun auch Sabine, Blum und „la rumeur“ fungieren; diese tauchen in den von ihnen berichteten Ereignissen nicht als Person auf (so z.B. Sabine in dem Familienklatsch um den Tod des Vorfahren Reixach). Als homodiegetische Erzähler erscheinen dagegen Georges, Blum, Iglésia, Wack und Martin. 249 Diese berichten ihre eigenen Erlebnisse, sie besitzen also in ihren Erzählungen ein „Ich mit Leib“. Die dritte, metadiegetische Ebene umfasst die von den Romanfiguren auf der Ebene der eigentlichen Handlung - der intradiegetischen Ebene - berichteten oder erinnerten Ereignisse. So schildern die heterodiegetischen Erzähler Georges, Sabine, Blum und „la rumeur“ die Begebenheiten um den Vorfahren Reixach, die Affäre zwischen Iglésia und Corinne sowie die Dreiecksgeschichte zwischen den Bauern im Ardennendorf. Sie kommen in ihren eigenen Geschichten jedoch nicht als Figuren vor. Hingegen berichten die homodiegetischen Erzähler der zweiten Ebene Georges, Blum, Iglésia, Wack und Martin ihre eigenen Erlebnisse; sie besitzen daher einen Körper in ihren Erzählungen. Hierzu zählen die Ereignisse während des Krieges (erlebt von allen), aber auch die Beziehung zwischen Iglésia und Corinne (erlebt von Iglésia), die Ereignisse im Lager (erlebt von 247 F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 194. 248 Vgl. ebd., S. 124. 249 D. Alexandre: „La Route des Flandres: ‘Un Imbroglio de voix’.“ (1997), S. 170. Allerdings taucht in Alexandres Einteilung der Vater, mit dem George kurz vor seiner Einberufung ein Gespräch führt, nicht auf. <?page no="229"?> 229 Georges, Blum, Iglésia) sowie diejenigen nach dem Krieg (erlebt von Georges). Georges ist auf allen Ebenen als handelndes und als erzählendes ‚Ich’ präsent; er ist zugleich ein ‚Ich’ „qui voit“ und ein ‚Ich’ „qui parle“. 250 An dieser Stelle soll auch kurz der Wechsel der Personalpronomina zwischen der ‘Ich’- und der ‚Er’-Form analysiert werden. In der Sekundärliteratur herrscht keine Einigkeit über die narrativen Motive für diesen Wechsel. Während die einen den Bezugswechsel psychologisch als Depersonalisation des Protagonisten Georges deuten, der sich in einen Handelnden (‚Er’) und einen Erzählenden (‚Ich’) aufspaltet, 251 sehen andere in den unterschiedlichen Pronomina zwar „grammatisch, aber nicht inhaltlichthematisch unterscheidbare Erzählsubjekte“, 252 die dem inneren Monolog einfach nur „Relief“ 253 verleihen sollen. Doch lassen sich die Perspektivenwechsel zwischen erlebendem und erzählendem Ich nicht nur als eine psychologische Plausibilisierung des literarisch vermittelten Gedächtnisstroms lesen, sondern auch als metafiktionale Strategien, welche die Konventionalität bzw. die Fiktionalität des traditionellen Erzähler-Konzepts - seine Bedeutung als typisches Verfahren fiktionaler Erzähltexte - offen legen. 254 So hat J. Mecke in seiner Studie zur Zeitgestaltung in La Route des Flandres erstmals darauf hingewiesen, dass über die Dissoziierung des Protagonisten und Erzählers hinaus - also die Abspaltung des erzählten vom erzählenden Ich 255 - der pronominale Bezugswechsel sich als Dekonstruktion des zeitenthobenen, heterogene Momente zu einer Einheit synthetisierenden Erzählers interpretieren lässt: Dieser wird genauso wie 250 Vgl. zu der Erzähler-Held-Problematik G. Genette: Figures III. (1972), S. 203f. und v.a. S. 252f. 251 Vgl. hierzu u.a. K. Wilhelm: „Claude Simon als ‘nouveau romancier’.“ (1965), S. 350f.; B.T. Fitch: „Participe présent et procédés narratifs chez Claude Simon.“ (1964), S. 210f.; R.L. Sims: „Memory, structure and time in La Route des Flandres.“ (1976), S. 51; B. Dauer: „Nouveau Roman, Nouveau Nouveau Roman: Literarische Avantgarde um 1960 (Alain Robbe-Grillet: Dans le labyrinthe; Claude Simon: La Route des Flandres).“ (1982), S. 314; J. Ricardou: „Un ordre dans la débâcle.“ (1960), S. 1018; D. Lanceraux: „Modalités de la narration dans La route des Flandres.“ (1973), S. 241; A.M. Miraglia: „La Route des Flandres, défi aux voix narratives.“ (1990), S. 269; D. Viart: Une mémoire inquiète. La Route des Flandres de Claude Simon. (1997), S. 83, 89; M.J. Evans: A poetics of Simon’s novels, from La Route des Flandres to Leçon de choses. (1978), S. 18. 252 H. Pfeiffer: „Claude Simon.“ (1986), S. 364. Auch: K. Passias: „Meaning in Structure and the Structure of Meaning in La Modification and La Route des Flandres.“ (1985), S. 324. 253 T.R. Kuhnle: Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des ‘nouveau romancier’ Claude Simon. (1995), S. 358. 254 So schlägt z.B. A.-C. Gignoux vor, den Wechsel zwischen den Personalpronomen als „réflexion sur le rôle du narrateur“ zu interpretieren (A.C. Gignoux: „La Route des Flandres, problémes de stylistique actantielle.“ (1998), S. 12.). 255 J. Mecke: Roman-Zeit. Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart. (1990), S. 156, 159. <?page no="230"?> 230 der Protagonist Georges vom Strom der Zeit erfasst und resorbiert und ist durch diesen Verlust seiner ursprünglich zeitenthobenen Position nicht mehr „Garant der transzendentalen Synthesis verschiedener, heterogener Momente“ und kann deshalb auch nicht mehr zeitliche Kontinuität verbürgen. 256 Das Subjekt der Erzählung wird ausgelöscht, womit „die Abwesenheit des seine eigene Geschichte transzendierenden Erzählers als substantiellem Träger des Bewusstseinsstroms bzw. als Fundament für die narrative Bauform des gesamten Romans gemeint“ ist. 257 Auch M. Evans interpretiert die aus dem Zerfall des Erzählers in ein ‚Ich’ und ein ‚Er’ und damit in eine Innen- und eine Außensicht resultierende multiple Perspektivik als Angriff auf das kohärente Erzählbewusstsein des Romans. 258 Der Leser richte dadurch gezwungenermaßen seine Aufmerksamkeit auf das Problem der narrativen Vermittlung; die Folge sei, dass die Illusion des unvermittelt fließenden Gedächtnisstroms durch die Offenlegung einer vermittelnden Instanz zerstört werde und der Leser sich von der ‚erinnerten’ Wirklichkeit distanziere und diese als ‚Fiktion’ erkenne. Darüber hinaus zerfällt das erinnernde Bewusstsein jedoch nicht nur auf der narrativen Vermittlungsebene, sondern Georges entfremdet sich auch auf der Handlungsebene von sich selbst. So kann er immer weniger einen Bezug zu seinem Spiegelbild, sogar zu seinen Gliedmaßen, herstellen und auch die eigene Stimme wird ihm schließlich fremd: „Georges continuant encore la phrase qu’il avait commencée ou plutôt entendant sa voix la continuer […] puis la voix cessant, les lèvres persistant peut-être encore à remuer sur du silence, puis cessant elles aussi […]“ (RF, 38). 259 Er wechselt 256 Vgl. RF, 28: „[…] quelque chose de majestueux, monumental : le cheminement même du temps, c’est-à-dire invisible immatériel sans commencement ni fin ni repère, et au sein duquel il avait la sensation de se tenir […]“. 257 J. Mecke: Roman-Zeit. Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart. (1990), S. 161. Auf ähnliche Weise argumentiert auch D. Schmidt, die den Wechsel zwischen den beiden Personalpronomina als Versuch Simons interpretiert, die von G. Genette in seiner Theorie vorausgesetzte Existenz einer Erzählerfigur und klar unterscheidbarer narrativer Niveaus zu unterlaufen (D. Schmidt: Schreiben nach dem Krieg. Studien zur Poetik Claude Simons. (1997), S. 85, Fußnote 24.). 258 Vgl. M.J. Evans: A poetics of Simon’s novels, from La Route des Flandres to Leçon de choses. (1978), S. 14: „The alternation of internal and external points of view is replaced by a stress on the undermining of the concept itself of point of view with reference to a work of fiction.“ Auch nach G. Roubichou: „La mémoire, l’écriture, le roman. Réflexions sur la production romanesque de Simon.“ (1995), S. 97, ist die ‚Er’-Form „[…] à la fois pronom de l’impersonnel, de la multipersonnalisation et de l’impersonnalisation“. Dagegen vertritt A. Cresciucci: „Présentation.“ (1997), S. 17, die Ansicht, dass der Perspektivenwechsel keine Gefährdung der Kohärenz darstelle, da es sich immer noch um dasselbe erinnernde Bewusstsein - Georges - handele. 259 Vgl. RF, 101, 105, 211, 223, 237. Die Dissoziation von Georges und seinem Spiegelbild lässt sich darüber hinaus als gescheiterte Mimesis interpretieren, gilt doch seit Sten- <?page no="231"?> 231 an dieser Stelle von der Innenin die Außensicht, wenn er die Bewegung seiner eigenen Lippen zu ‚sehen’ glaubt. Je weiter sich der Roman und damit der Gedächtnisstrom ihrem Ende zuneigen, umso mehr schreitet Georges’ Identitätsverlust fort, bis zuletzt der Ritt in den Hinterhalt aus der Sicht eines anonymen Erzählers geschildert wird. 260 Die Dekonstruktion der Erzählerfigur auf der discours-Ebene findet somit ihre Entsprechung auf der Ebene der histoire. 261 In die gleiche Richtung weist die in La Route des Flandres feststellbare Vermischung von Erzähler- und Figurenrede: Diese ist ein weiteres Zeichen für den Kontrollverlust des Erzählers und Protagonisten über die von ihm erinnerte Vergangenheit; er ist immer weniger in der Lage, die erinnerte direkte Rede bestimmten Personen zuzuordnen. 262 Dabei findet die stärkste Angleichung in den Dialogen zwischen Georges und Blum statt, bis sich Georges schließlich nicht einmal mehr sicher ist, tatsächlich mit Blum gesprochen zu haben: […] et Georges (à moins que ce ne fût toujours Blum s’interrompant lui-même, bouffonnant, à moins qu’il (Georges) ne fût pas en train de dialoguer sous la froide pluie saxonne avec un petit juif souffreteux […] mais avec lui-même, c’est-à-dire son double, tout seul sous la pluie grise, parmi les rails, les wagons de charbon, ou peut-être des années plus tard, toujours seul (quoiqu’il fût maintenant couché à côté d’une tiède chair de femme), toujours en tête-à-tête avec ce double, ou avec Blum, ou avec personne: […] et Blum (ou Georges): «C’est fini? », et Georges (ou Blum): «Je pourrais continuer», et Blum (ou Georges): «Alors continue» […] (176f.). Erneut wird hier Georges’ Identitätsverlust deutlich: Er kann die eigenen Handlungen nicht mehr sicher seiner Person zuordnen 263 und ist schließlich nicht mehr imstande, zwischen sich und den von ihm erinnerten Figudhals Le Rouge et le Noir (1830) der Spiegel als Modell für Mimesis in der Fiktion bzw. im Roman. 260 RF, 282-289. 261 Allerdings geht der Wechsel von der Innenzur Außensicht innerhalb des erzählenden Bewusstseins nicht mit einem pronominalen Bezugswechsel einher. Vielmehr hängt auf der Vermittlungsebene der Wechsel zwischen der Außenperspektive eines Erzählers und der Innenperspektive eines Reflektors mit der Präsentation der Handlung im ‘showing’bzw. ‘telling’-Modus zusammen. 262 Vgl. A.B. Duncan: „Claude Simon. La crise de la représentation.“ (1981), S. 41; P. Mougin: „La Route des Flandres ou la mémoire en trompe-l’œil.“ (1997), S. 192; C. Genin: L’écheveau de la mémoire, La Route des Flandres de Claude Simon. (1997), S. 50; D. Viart: „Une mémoire inquiète. La Route des Flandres de Claude Simon.“ (1997), S. 76; D. Alexandre: Le magma et l’horizon. Essai sur La Route des Flandres, de Claude Simon. (1997), S. 113. 263 Vgl. u.a. A.B. Duncan: „Claude Simon. La crise de la représentation.“ (1981), S. 41; M. Calle-Gruber: „Le phrasé de l’histoire. Pour une poétique de la mémoire dans La Route des Flandres.“ (1997), S. 188; A.M. Miraglia: „La Route des Flandres, défi aux voix narratives.“ (1990), S. 269. <?page no="232"?> 232 ren zu unterscheiden. Darüber hinaus ist nicht zu erkennen, welcher ontologischen Erzählebene die ‚erinnerten’ Dialoge mit Blum angehören: Handelt es sich bei ihnen um innerhalb der fiktionalen Wirklichkeit tatsächlich stattgefundene Gespräche oder nur um Georges’ Halluzinationen, in denen er sich eine Gesprächssituation vorstellt? Diese Dialoge lassen sich somit auch als „monologues intimes“, 264 als Selbstgespräch zwischen Georges und einem fiktiven Alter Ego, interpretieren. In La Route des Flandres wird also nicht nur der Erinnerungsprozess des Protagonisten Georges erzählt, sondern auch „la désagrégation de [son] identité“, wenn nicht sogar seine „mort symbolique“. 265 Wie gezeigt werden konnte, dekonstruiert das sowohl auf der discoursals auch auf der histoire-Ebene feststellbare Verschwinden der kohärenten Erzählerfigur die Erzählkonventionen des traditionellen Romans; die Fiktionalität des Erzählerkonzepts wird in Form einer metafiktionalen Inszenierung enthüllt. 266 4.4.3.4 Die metanarrative Spiegelung des Erzählakts als Spiel mit den Gattungskonventionen Typisch für Simons Roman La Route des Flandres sind die unzähligen metanarrativen Passagen, die explizit auf das Vorhandensein einer Erzählung hinweisen. Auf diese Weise wird die Illusion eines unvermittelten Gedächtnisstroms erneut als Fiktion entlarvt; die Grundkonstante in der narrativen Vermittlung der fiktionalen Realität ist somit ihre Erzählung und nicht ihre stumme Spiegelung im Bewusstsein eines Reflektors. Laut L. Dällenbach kann der Erzählakt in einem Roman auf unterschiedliche Weise thematisch werden; der Grad richtet sich dabei „[…] selon le degré d’analogie existant entre (l’activité de) l’auteur et (celle de) son représentant et que ce paramètre s’applique également, quoique de manière plus diffuse, aux mises en abyme du récepteur et de la réception.“ 267 In seiner Theorie der mise en abyme hat Dällenbach das folgende Schema ent- 264 J.-M. Barbéris: „Phrase, énoncé, texte. Le fil du discours dans La Route des Flandres.“ (1997), S. 133. Vgl. ebenso J.A.E. Loubère: „The Generative Function of Translation in the Novels of Claude Simon.“ (1981), S. 188; W. Nitsch: Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre. (1992), S. 79, 82f. 265 C. Simon: „Les secrets d’un romancier. [H. Juin].“ (1960), S. 5. Zitiert nach A.B. Duncan: „Claude Simon. La crise de la représentation.“ (1981), S. 41. Vgl. D. Viart: Une mémoire inquiète. La Route des Flandres de Claude Simon. (1997), S. 43f. 266 In diesem Sinne beschreibt E.P. Helleland den Skeptizismus metafiktionaler Texte „[…] towards concepts such as self, consciousness, and voice […]“, der als ein dekonstruktivistisches Konzept der narrativen ‚Stimme’ interpretiert werden könne (E.P. Helleland: Metafiction: Questioning the Notion of Literary Self-Reflexivity. (1999), S. 77ff.). Ebenso A. Thiher: Words in Reflection: Modern Language Theory and Postmodern Fiction. (1984), S. 120ff. 267 L. Dällenbach: Le récit spéculaire. Contribution à l’étude de la mise en abyme. (1977), S. 103. <?page no="233"?> 233 wickelt, um die Spiegelung des Autors und des Lesers in der Erzählfunktion bzw. im impliziten Leser der Tiefenstruktur sowie ihre Spiegelung in bestimmten Figuren auf der histoire-Ebene aufzuzeigen: Abbildung 12: Spiegelung des Erzählakts nach L. Dällenbach 268 Wie bereits gezeigt werden konnte, wird die Illusion eines Gedächtnisstroms an einigen Stellen in La Route des Flandres zugunsten einer Ich- Erzählung aufgegeben. Daher ist anzunehmen, dass die Kommunikationssituation, die außerhalb des Textes zwischen dem Autor Simon und dem jeweiligen Leser besteht, auch auf der Handlungsebene gespiegelt wird. Es ist diesbezüglich zu betonen, dass die Präsenz eines Erzählers und eines Zuhörers bzw. Lesers die Illusion des Gedächtnisstroms in hohem Maß gefährdet und seine Fiktionalität, d.h. seine fiktional-narrative Vermittlung, offen legt. Bei der Übertragung des von L. Dällenbach entwickelten Schemas auf La Route des Flandres lässt sich folgende Erzählsituation nachweisen: 268 L. Dällenbach: Le récit spéculaire. Contribution à l’étude de la mise en abyme. (1977), S. 105. Auteur Lecteur Auteur implicite réflexion Lecteur implicite mise en abyme énonciative mise en abyme énonciative 1 personnage de producteur 1 personnage de récepteur <?page no="234"?> 234 Cl. Simon Leser Auktoriale Erzählfunktion Impliziter Zuhörer mise en abyme énonciative mise en abyme énonciative Anonymer Erzähler ‚vous‘ Spiegelung Georges (Reflektor/ Erzähler) Blum u.a. (Interlokuteur II) Abbildung 13: Der narrative Akt in La Route des Flandres 269 Es wird deutlich, dass es sich bei Simons Roman gewissermaßen um ein ‚trojanisches Pferd’ handelt; der Text präsentiert im Gewand eines Gedächtnisstroms eine Ich-Erzählung. Das obige Schema interpretiert die verba cogitandi, die in Form verschiedener participes présents wie „se demandant“, „se rendant compte“ auftreten, als Manifestation einer auktorialen Erzählerstimme auf der extradiegetischen Ebene. Außerdem erwecken auch die Gedankeneinleitungen im Präsens wie „je me rappelle“, „je pense“ eher den Eindruck einer Erzählsituation als den eines aktiven Gedächtnisses: „[…] je me rappelle que j’ai entendu le bruit de cascade qu’elle faisait“ (RF, 86), „[…] chaque fois que je pense à ces seaux je les revois pleins d’une eau recouverte comme d’une taie […]“ (RF, 293). An diesen Stellen erzählt eine Person, dass sie sich erinnert, ohne dass die Erinnerungen jedoch direkt präsentiert werden. 270 Georges’ Gedanken werden demnach diegetisch vermittelt, wohingegen sie in einem ‚reinen’ inneren Monolog 269 In dem von mir modifizierten Schema steht die durchgezogene Umrandung wie bei L. Dällenbach für die Fiktion - den Roman bzw. den Text - an sich, während der gestrichelte Rahmen den eigentlichen Gedächtnisstrom zeigt. Das Innere dieses Rahmens präsentiert die von Georges erinnerten Erlebnisse, es handelt sich um die intradiegetische Ebene, also die Ebene des Erzählten. 270 Vgl. hierzu insbesondere P. Mougin: „La Route des Flandres ou la mémoire en trompel’œil.“ (1997), S. 192: „[…] car dire „je me rappelle“, ce n’est pas encore se souvenir mais dire qu’on se souvient. On n’est pas dans le récit de mémoire mais dans le discours de (et éventuellement sur) la mémoire.“ <?page no="235"?> 235 unvermittelt - also ohne Redebzw. Gedankeneinleitung - präsentiert werden müssten. Überdies kommt es zu einer zweiten Spiegelung des Erzählakts in der erinnerten Vergangenheit, jetzt auf der intradiegetischen Ebene. Einerseits erzählt Georges hier in den Gesprächen mit Blum seine Interpretation der Vergangenheit. Andererseits werden seine Erinnerungen wiederum diegetisch durch verba cogitandi, diesmal in einer Zeitform der Vergangenheit, eingeleitet: „[…] un effarant mélange de poèmes, digressions philosophiques […] dont il pouvait se rappeler mot pour mot certains titres […]“ (RF, 52; Hervorhebungen S.Z.). Auch hier wird wiederum die Außensicht eines auktorialen Erzählers auf Georges’ Erinnerungsprozess sichtbar. Zusammenfassend lassen sich folgende mises en abyme des Erzählens festhalten: Erstens: Der Erzählprozess des Autors sowie des narrataire - der unpersönlichen Erzählfunktion in der Tiefenstruktur - wird innerhalb des Romans auf der extradiegetischen Ebene der Erinnerungssituation in der auktorialen Einleitung von Georges’ Gedanken im Präsens (z.B. durch „je me rappelle“) gespiegelt. Zweitens: Dieser Erzählprozess wird erneut auf der intradiegetischen Ebene, die den Inhalt von Georges’ Gedächtnisstrom umfasst, reflektiert. Denn hier wird ja ebenso erzählt, dass sich Georges erinnert hat, wobei die verba cogitandi nun in einer Zeitform der Vergangenheit wie „il pouvait se rappeler“ auftreten. Häufig ist diese Erzählung eines Erinnerungsvorgangs auch Bestandteil eines Gesprächs mit Blum. Die narrative Situation lässt sich demnach mit folgender Formel umschreiben: „Georges erzählt, dass er sich erinnert, sich erinnert zu haben“; bei den Erinnerungen auf der intradiegetischen Ebene handelt es sich folglich um Erinnerungen zweiten Grades. 271 Drittens: Es findet auch eine mise en abyme des externen bzw. des impliziten Lesers 272 auf der Romanebene statt. Auf diese doppelte Kommunikationssituation, die der Roman nicht expliziert, wird indirekt durch das an einigen Stellen auftretende Pronomen der zweiten Person Plural angespielt: „[…] c’est-à-dire pas la guerre mais le meurtre, un endroit où l’on vous assassinait sans qu’on ait le temps de faire ouf, les types tranquillement installés comme au tir forain derrière une haie ou un buisson et prenant tout leur temps pour vous ajuster, le vrai casse-pipe en somme […]“ (RF, 15). 273 Das Erscheinen dieses Pronomens ist auf zweierlei Weise inter- 271 Vgl. hierzu C. Genin: L’expérience du lecteur dans les romans de Claude Simon. Lecture studieuse et lecture poignante. (1997), S. 181. 272 Ich habe den Ausdruck ‘impliziter Zuhörer’ gewählt, da es sich bei der Kommunikationssituation in La Route des Flandres in jedem Fall um eine mündliche handeln muss, da sich keinerlei Hinweise auf eine fiktive Vertextung von Georges’ Gedanken finden lassen. 273 Vgl. ebenso RF, 25, 71, 84, 115. Diese Interpretation ist jedoch nur deshalb zulässig, da bereits andere Faktoren auf die Spiegelung der externen Kommunikationssituation zwischen Autor und Leser in den Grenzen des Romans hingewiesen haben. Das <?page no="236"?> 236 pretierbar: Zum einen kann das „vous“ innerhalb des Gedächtnismonologs für die Aufspaltung des Erinnernden in einen stummen Sprecher sowie in einen impliziten Zuhörer stehen. Der innere Monolog nähert sich in diesem Fall einem Selbstgespräch an. Für diese Hypothese der Bewusstseinsspaltung des Erzählers spricht, dass Georges zunehmend darüber ins Zweifeln gerät, ob die von ihm erinnerten Gespräche mit Blum oder Corinne tatsächlich stattgefunden haben, oder ob er nicht nur die ganze Zeit ein Selbstgespräch geführt hat: […] Georges (à moins que ce ne fût toujours Blum, s’interrompant lui-même, bouffonnant, à moins qu’il (Georges) ne fût pas en train de dialoguer sous la froide pluie saxonne avec un petit juif, et qui n’allait bientôt plus être qu’un cadavre - un de plus - de petit juif - mais avec lui-même, c’est-à-dire son double, tout seul sous la pluie grise, parmi les rails, les wagons de charbon, ou peut-être des années plus tard, toujours seul […] (RF, 176). 274 Die zweite Möglichkeit besteht darin, das „vous“ als Anrede des impliziten Zuhörers bzw. des Lesers zu deuten. Da auf diese Weise wiederum eine Kommunikationssituation entsteht, wird erneut die Illusion eines Gedächtnisstroms in La Route des Flandres gefährdet. 275 Hinter dem Gedächtnisstrom in Form eines inneren Monologs verbirgt sich - wie gezeigt werden konnte - eine Ich-Erzählung. 276 Die für fiktionale Erzählungen typische Kommunikationssituation wird dabei mehrfach innerhalb des Romans in Gestalt einer metafiktionalen Inszenierung gespiegelt und dem Leser erneut die Zugehörigkeit des Romans zur Gattung literarischer, fiktionaler Erzähltexte vor Augen geführt. „vous“ in den zitierten Textstellen lässt sich auch einfach als Bestandteil einer Redewendung auffassen. 274 Vgl. RF, 88, 95, 220. 275 Als dritte Möglichkeit kann das Zitat als allgemeine Aussage über den Krieg interpretiert werden. Dieser ist kein fairer Schlagabtausch mehr, sondern ähnelt vielmehr einem gegenseitigen ‘Sich-in-den-Rücken-Fallen’. Das „vous“ verstärkt in diesem Fall die ironische Wirkung der anderen Ausdrücke wie „sans qu’on ait le temps de faire ouf“, „type“ etc. So wird Georges’ Resignation und Abgeklärtheit hinsichtlich des Krieges verdeutlicht. Ich bin jedoch der Ansicht, dass die metafiktionale Wirkung, die aus der Spiegelung des Erzählakts resultiert, die beiden ersten Interpretationen rechtfertigt. 276 Vgl. hierzu D. Viart: Une mémoire inquiète. La Route des Flandres de Claude Simon. (1997), S. 113. Viart betont, dass es sich zwar um keinen inneren Monolog, aber dennoch um einen Bewusstseinsstrom handele. Sie unterscheidet jedoch an dieser Stelle nicht eindeutig zwischen dem psychischen Ereignis - also dem Bewusstseinsstrom - und seiner narrativen Präsentation - dem inneren Monolog. <?page no="237"?> 237 4.4.3.5 Fiktionale Intertextualität und Intermedialität: der fiktionsgenerierende Einfluss fremder fiktionaler Gattungen Abschließend soll gezeigt werden, inwiefern Georges’ Streben nach Wissen und Erkenntnis sich auch aus dem Vergleich seiner persönlichen Erlebnisse mit literarischen und dramatischen Vorbildern speist. Bei dem Versuch, das Rätsel um den Tod seines Verwandten und Vorgesetzten de Reixach aufzuklären und seine Erfahrungen während des Krieges in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen, erkennt Georges vielfältige Parallelen zu typischen Themen und Motiven aus Literatur, Theater, Oper und Operette bzw. zu den dort gebräuchlichen technischen Verfahren. Georges erweist sich mit seinem Hang, Parallelen zwischen seinen Erfahrungen und früheren Lektüreerlebnissen zu suchen, als Sohn seines Vaters, des Universitätslehrers: Obwohl er offen dessen Glauben an die Macht der Wörter ablehnt, greift er doch selbst ebenfalls auf seine aus Büchern gewonnenen Erkenntnisse zurück, um die Schrecken des Krieges erklären und ertragen zu können. 277 So vergleicht er - wie an anderer Stelle bereits deutlich wurde - die Ereignisse in dem Ardennendorf mit verschiedenen antiken Mythen sowie mit dem Märchen um Dornröschen, während er den deutschen Hinterhalt und die damit einhergehende Vernichtung der französischen Schwadron im Hohlweg mit der biblischen Apokalypse des Johannes verbindet. Ein anderer fiktionaler ‚Prätext’, der Georges bei der Deutung seiner Wirklichkeit zur Verfügung steht, ist die Recherche von M. Proust, aus deren erstem Band Du côté de chez Swann (1913) er das berühmte Motiv der Weißdornhecke („la haie d’aubépines“) übernimmt: Doch während der Weißdorn für den jungen Marcel stets mit der Erinnerung an seine erste Begegnung mit Swanns Tocher Gilberte verbunden ist und damit den Anfang seiner Liebe zu ihr konnotiert, 278 verbirgt sich für Georges in den Weißdornhecken, welche die „route des Flandres“ säumen, der Tod: Hinter den Hecken hält sich der deutsche Schütze verborgen, der de Reixach und den Unterleutnant erschießen wird (RF, 85f.). Auch - sein möglicherweise fiktives Alter Ego - Blum greift auf verschiedene literarische Vorbilder zurück, um seine Hypothesen zu den Vorgängen im Ardennendorf und zum geheimnisumwitterten Tod des Ahnen de Reixach zu untermauern. So vergleicht er sowohl den Ahnen als auch 277 Vgl. z.B. seine Reaktion auf die unerträgliche Situation im Kriegsgefangenenzug: „[…] [Georges] pensant: « Après tout, j’ai bien lu quelque part que des prisonniers avaient bu leur urine… », […]“; siehe auch der Vergleich (RF, 159) der Personenkonstellation (George, Blume, Iglésia) im Kriegsgefangenenlager mit den jüdischen Stammvätern der Bibel: Noah und seine drei Söhne Sem, Ham und Jafet (1. Mose/ Genesis 5, 32 und 1. Mose/ Genesis 10, 1). 278 M. Proust: Du côté de chez Swann. Texte établi, présenté et annoté par Elyane Dezon-Jones. (1992), S. 179-184. <?page no="238"?> 238 den eifersüchtigen Hinkenden aus dem Ardennendorf mit Shakespeares Othello: „[…] Après tout tu ne l’as jamais vu qu’en peinture et en buste, avec son fusil de chasse à deux coups sur l’épaule, comme l’autre Othello bancal de village. Peut-être après tout qu’il boitait. Simplement. […]“ (RF, 266). Shakespeares Othello (1603/ 04) gilt allgemein als literarisches Musterbeispiel eines Eifersuchtsdramas mit tragischem Ausgang zwischen einem älteren, ‚fremdrassigen‘ Mann und einer jüngeren Frau; 279 dieses Motiv wird nun von Blum zum Teil auf die beiden - von ihm imaginierten - Eifersuchtsszenarien im 18. Jahrhundert und im Ardennendorf übertragen: der Ehemann bzw. der als ‚Vormund’ fungierende Schwager 280 (der Ehemann der fille laiteuse 281 im Ardennendorf ist ebenfalls zum Krieg eingezogen) bezichtigen die Frau der Untreue. In den Augen Blums scheint die Untreue Virginies eine Tatsache zu sein, während über das ehebrecherische Verhalten der jungen Frau in den Ardennen letzten Endes nur spekuliert werden kann. 282 Interessanterweise findet das Motiv von der erwiesenen Unschuld Desdemonas aus Shakespeares Drama keine Umsetzung in Blums Imaginationen: In beiden Fällen erscheint die Schuld der Frau für ihn eine Tatsache zu sein. 283 Darüber hinaus konnte bereits gezeigt werden, dass Blum insbesondere die Figur der Virginie mit der aus Molières L’École des femmes (1662) bekannten Protagonistin Agnès vergleicht und damit das Motiv der erzwungenen - und am Ende gescheiterten - Verbindung eines älteren Mannes mit einer wesentlich jüngeren Frau übernimmt. 284 Neben diesen Motiven aus literarischen Werken finden sich in La Route des Flandres jedoch auch wiederholt allgemeine Anspielungen auf Darstellungsformen des Theaters wie Tragödie, Oper bzw. Operette und vaudeville. So werden bestimmte Ereignisse in der fiktionalen Welt des Romans mit bekannten Illusionseffekten und anderen technischen Verfahren des Theaters verglichen: der nächtliche Ritt im Regen der scheinbar auf der Stelle tretenden Schwadron - „progresser sans avancer“ - wird verglichen mit „[…] comme au théâtre ces personnages immobiles dont les jambes 279 W. Jens (Hg.): Kindlers Neues Literatur Lexikon. Band 15: Sc-St. (1988-1998), S. 344. 280 RF, 61. 281 In einer anderen Version handelt es sich bei der möglicherweise betrügerischen Frau aus dem Dorf um die Ehefrau des Hinkenden selbst, die zugleich auch die Schwester der „fille laiteuse“ und des „adjoint“ ist, mit welchem sie - angeblich - ein inzestuöses Liebesverhältnis unterhält (RF, 119f.). Das ‚Milchmädchen’ hingegen sei dieser Version zufolge die Frau des abwesenden Bruders des Hinkenden (RF, 121). 282 Vgl. die verschiedenen Gespräche der Soldaten: RF, 60ff., 116f., 119-122, 256-258 sowie Blums Bezeichnung Virginies als „putain“ (RF, 175). 283 Auch ein weiteres Stück von Shakespeare - Romeo and Juliet (1597) - taucht in den Überlegungen Blums auf, wenn er den „adjoint“ als „Le Roméo du village“ betitelt (RF, 119). 284 RF, 184ff. <?page no="239"?> 239 imitent sur place le mouvement de la marche tandis que derrière eux se déroule en tremblotant une toile de fond sur laquelle sont peints maisons arbres nuages […]“ (RF, 29). An anderer Stelle meint Georges in einer kurzen Vision den Ahnen in seiner Kleidung aus dem 18. Jahrhundert am Wegrand der „route de Flandres“ stehen zu sehen, „[…] se tenant là, à la manière de ces apparitions de théâtre, de ces personnages surgis d’une trappe au coup de baguette d’un illusionniste, derrière l’écran d’un pétard fumigène […]“ (RF, 76). Darüber hinaus ähneln bestimmte Figuren und Szenen des Romans dramatischen Vorbildern: So wird Iglésia aufgrund seiner markanten Hakennase wiederholt mit dem aus der italienischen Commedia dell’arte bekannten Pulcinella verglichen. 285 Aber auch bestimmte Szenen können entweder aufgrund der Beleuchtung oder aufgrund der Anordnung der Gegenstände einen unwirklichen, künstlichen Charakter haben: Der „éclairage théâtral de la lanterne“ (RF, 124) in der Scheune lässt die Züge der um sie herumsitzenden Soldaten stärker hervortreten; hingegen scheint Blum Sabines These vom Selbstmord des Ahnen de Reixach aufgrund der Ähnlichkeit mit einer absichtsvollen Inszenierung - „[le] théâtral, [le] pittoresque de la mise en scène“ (RF, 175) - unglaubwürdig zu sein. In seiner Gegenversion imaginiert Blum einen Schrank, in welchem Virginie ihren Liebhaber bei der unerwarteten Rückkehr des Ehemannes versteckt; auch die Existenz dieses Schrankes ist ihm nicht nur aus Molières L’École des Femmes, sondern auch aus unzähligen vaudevilles und tragédies bekannt: „[…] et elle - la virginale Agnès - debout, poussant par les épaules l’amant […] vers l’inévitable et providentiel placard ou cabinet des vaudevilles et des tragédies qui se trouve chaque fois là à point nommé […]“ (RF, 186). In der Fortführung seiner Argumentation verleiht Blum dem fiktiven Schrank die Funktion, Auslöser für den Selbstmord des Generals de Reixach gewesen zu sein: Dieser erschießt sich im Moment des Öffnens der Schranktür (oder wird vom dort verborgenen Liebhaber erschossen), so dass der Schrank erneut und wie in den Inszenierungen der vaudevilles und tragédies als „la boite des farces et attrapes fonctionnant à point nommé“ (RF, 188) fungieren kann. Zwei andere dramatische Gattungen, die als Vergleichsobjekt für Szenen des Romans herangezogen werden, sind die Oper bzw. die opérette viennoise: Während Blum in seiner Imagination der Ereignisse auf dem Pferderennplatz einen anderen Besucher mit einer Figur aus einer opérette viennoise vergleicht (RF, 56), sieht Georges in einer kurzen Vision die beiden feindlichen Armeen der Franzosen und Deutschen einander verfolgen „[…] comme à l’Opéra ou dans les films comiques les gens lancés dans ces poursuites parodiques et burlesques […]“ (RF, 197). Darüber hinaus bezeichnet Georges - passend zu Blums bereits beschriebenen Vergleichen 285 RF, 117, 129, 142, 162. <?page no="240"?> 240 der Ereignisse mit Motiven aus Shakespeares Dramen Othello und Romeo and Juliet - die am Morgen nach der im Ardennendorf verbrachten Nacht disputierenden Männer um den „adjoint“ als „tragédiens“ (RF, 115); auch Blum kommt zuletzt zu dem Schluss, dass die Ereignisse in dem Dorf vermutlich doch nicht so ernst gewesen seien: „[…] Mais peut-être ce fusil n’était-il pas chargé peut-être ne savait-il [le boiteux] même pas comment on se sert Les gens aiment tellement faire de la tragédie du drame du roman […]“ (RF, 262). Die wiederholten Vergleiche von Personen bzw. Szenen der Handlung in La Route des Flandres mit aus dramatischen Inszenierungen bekannten Gegenständen, Figuren und Techniken unterstreichen somit auf metafiktionale Weise ihre Unwirklichkeit: Sie scheinen entweder wie z.B. die Figur Iglésia fremden Repräsentationsformen wie dem Drama entnommen zu sein oder aber die Fiktivität der jeweiligen Szene in La Route des Flandres wird durch ihren Rückbezug auf fremde, fiktionale Gattungen unterstrichen. Letzteres geschieht insbesondere am Ende des Romans, wenn die nach dem Durchzug der französischen Flüchtlinge und deutschen Besatzer gleichsam ‚leergefegte’ Landschaft mit einer leeren Theaterbühne verglichen wird: „[…] quelque chose comme la scène vide d’un théâtre comme si une équipe de nettoyage était passée des pillards ou les vainqueurs ne laissant que ce qui avait été trouvé trop lourd ou trop encombrant pour être emporté ou vraiment inutilisable […] maintenant que les acteurs et le public étaient partis […]“ (RF, 291). Darüber hinaus spielen die metafiktionalen Vergleiche von Figuren, Objekten und Szenen der histoire mit Objekten bzw. spezifischen Techniken fremder, fiktionaler Gattungen bzw. Medien die Fiktionalität des eigenen Textes in den Vordergrund. 286 4.5 Zusammenfassung Abschließend sollen die wichtigsten Ergebnisse der Analyse von Simons Roman La Route des Flandres im Hinblick auf seine These der Unmöglichkeit einer ‚objektiven’ bzw. ‚authentischen’ Wahrnehmung von Realität und ihrer Erinnerung vorgestellt werden. Der Roman fügt sich mit seinem spezifischen wahrnehmungspsychologischen Thema ein in intellektuelle und philosophische Strömungen im Frankreich der 1960er Jahre. Die subjektive Sicht des Protagonisten Georges - seine fehlgeschlagenen Versuche, die ‚Wahrheit’ hinter den ihm rätselhaft bleibenden Ereignissen aus verschiedenen zeitlichen Epochen 286 So auch W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 282, der auf die Funktion der sogenannten ‚eigentextkritischen Intertextualität’ hinweist: Die Integration von Prätexten dient v.a. der Kritik des eigenen Textes; die eigene Geschichte erscheint durch fremde Fiktionen bestimmt. <?page no="241"?> 241 seines eigenen Lebens aber auch aus seiner Familiengeschichte aufzudecken - lässt den Text auf die von M. Merleau-Ponty entwickelte Phänomenologie rekurrieren: Eine neutrale Sicht auf die Welt ist unmöglich, diese kann nur über die persönlichen Sinneswahrnehmungen erfasst werden. Vor diesem theoretischen Hintergrund ist auch die in La Route des Flandres virulente Wahrnehmungs- und Erkenntnisskepsis zu interpretieren. Aktuelle und vergangene Realität bleibt immer in großen Teilen ‚ungreifbar’, sei es, weil die menschlichen Sinne aus verschiedenen Gründen anfällig für Täuschungen sind, oder sei es, weil auch scheinbar zuverlässige mediale Speicher wie Text und Bild nicht imstande sind, ein authentisches Bild der Wirklichkeit zu bewahren. So bleibt das ‚Wissen’ nicht nur über die eigene Biographie, sondern auch über die fremder und historischer Personen stets fragmentarisch und prekär. 287 Ein typisches Charakteristikum von Simons Poetik ist es nun, dass er den hier spürbar werdenden „erkenntnistheoretischen Agnostizismus’“ 288 nicht nur demonstriert, sondern in seinem Roman ein alternatives Modell individueller Erinnerung vorschlägt, das unter dem Vorzeichen eines „[…] entpragmatisierenden Eindringens poetischer Imagination in die Gedächtniskunst“ steht, mithin eine „Subjektivierung des Gedächtnisses“ postuliert. 289 In diesem Rahmen thematisieren verschiedene Textstrategien explizit bzw. inszenieren implizit metafiktiv die Fiktivität erinnerter Wirklichkeit. So erweisen sich große Teile der von Georges erinnerten bzw. der im Gespräch mit Blum rekonstruierten Vergangenheit als Produkt der Imagination bzw. als Inventionen und Tagträume. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn zur Auflösung des Rätsels um die Dreiecksbeziehung zwischen dem Capitaine de Reixach, seiner jungen Ehefrau Corinne und dem Jockey Iglésia vor allem von Blum mehrere Parallelgeschichten konstruiert werden: Einerseits gleichen sich die dominanten Frauenfiguren des Romans - Corinne, die Ahnin Virginie und die geheimnisvolle „fille au lait“ aus dem Ardennendorf - in den ihnen von Blum unterstellten Motiven und Verhaltensweisen an; andererseits scheint auch der mysteriöse Tod des Capitaine auf der „route des Flandres“ bereits im Schicksal seines Ahnen aus dem 18. Jahrhundert vorgezeichnet zu sein. 287 Mit dieser Thematik einer Relativität von Wahrnehmung und Erkenntnis gerät La Route des Flandres in die Nähe konstruktivistischer Literaturströmungen: Wahrnehmung erscheint stets als subjektabhängig und die textuelle Welt als imaginäres Konstrukt des Erzählers. (Vgl. hierzu A. Nünning: „Bausteine einer konstruktivistischen Erzähltheorie: Die erzählerische Umsetzung konstruktivistischer Konzepte in den Romanen von John Fowles.“ (1989).) 288 Kuhnle, Till R. „Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des ‘Nouveau Romancier’ Claude Simon.“ (1995), S. 397. 289 Warning, Rainer. „Claude Simons Gedächtnisräume: La Route des Flandres.“ (1991), S. 379. <?page no="242"?> 242 Doch sind nicht nur die Figuren größtenteils der Phantasie des Protagonisten Georges entsprungen, auch bestimmte Ereignisse und Orte erweisen sich innerhalb der fiktionalen Romanwelt als fiktiv. So dient das imaginäre Pferderennen, das Georges allein auf der Grundlage von Iglésias vagen Andeutungen und aufgrund eigener ähnlicher Erfahrungen konstruiert, durch die Parallelisierung von Liebes- und Sportwettkampf bzw. durch die Polyvalenz der aus dem Verb „chevaucher“ gebildeten Isotopie als Erklärungsversuch für die rätselhafte Beziehung zwischen de Reixach, seiner Frau und dem Jockey. Hingegen scheinen die verschiedenen erotischen Szenen in der Romanhandlung gar nicht ‚wirklich’ stattgefunden zu haben, sondern von den Soldaten in der an Frauen und Ablenkung entbehrungsreichen Zeit der Gefangenschaft nur imaginiert worden zu sein, um der unerträglichen Realität des Lagers wenigstens geistig zu entkommen. Nicht zuletzt sind auch die zentralen Orte der Handlung - das Ardennendorf und die „route des Flandres“ - der fiktionalen Realität enthoben. Während das Dorf als verwunschener, märchenhafter Ort erscheint, zeigt sich die „route“ durch verschiedene Anspielungen auf die „Offenbarung an Johannes“ als mythischer, apokalyptischer Ort, der, wie das Dorf, scheinbar außerhalb der physikalischen Zeit existiert. Doch wird in La Route des Flandres nicht nur die Fiktivität von Personen, Ereignissen und Orten der Handlung metafiktiv offen gelegt, auch die Fiktionalität des Erzählens wird explizit thematisiert bzw. implizit inszeniert. So wird die vom Text postulierte Illusion eines Gedächtnisstroms durch das weitgehende Fehlen unvermittelter Erinnerungen als ein relativ konventioneller Erzählvorgang und Georges in diesem Rahmen als aktiv kontrollierender Erzähler seiner Erinnerungen entlarvt. Darüber hinaus wird im Laufe des Romans deutlich, dass die fiktionale Realität weitgehend das Produkt dialogischen und fiktionalen Erzählens ist: Es sind die konkurrierenden, einander an Erfindungsreichtum und Spekulation überbietenden Versionen von Georges und Blum, die große Teile der Geschichten um de Reixach und Corinne, um Virginie und Henri Reixach sowie um die Ereignisse im Ardennendorf erst konstruieren. Schließlich werden die verschiedenen Erzählerstimmen des Romans zunehmend ununterscheidbar; diese Dekonstruktion des traditionellen Erzählkonzepts geht mit der Dissoziation des Protagonisten Georges auf der Handlungsebene einher, bis am Ende des Romans die Ereignisse unmittelbar vor dem Tod des Capitaine ein letztes Mal scheinbar aus der Perspektive eines neutralen, mechanischen ‚Kameraauges’ repräsentiert werden. Nicht zuletzt verweist auch die mehrfache Spiegelung des Erzählvorgangs zwischen (implizitem) Autor und (implizitem) Leser - jene liegt dem Roman als Vertreter fiktionaler Erzählliteratur zugrunde -, auf die verschiedenen Erzählakte innerhalb des discours. Diese metanarrativ fungierende Thematisierung des Erzählens hat <?page no="243"?> 243 insofern auch eine metafiktionale Implikation, als es grundlegende Textstrategien fiktionaler Erzählgattungen offen legt. Auf metafiktionale Weise wird schließlich in La Route des Flandres der fiktionsgenerierende Einfluss fremder fiktionaler Texte und Gattungen offenbar. So zeigt sich einerseits, dass Teile der Handlung prominente Vorbilder aus verschiedenen Epochen der Literaturgeschichte und aus mehreren Literaturen, und andererseits, dass sich die offensichtliche Irrealität wichtiger Figuren und Ereignisse in diesem Text häufig bestimmten, aus Malerei und Theater bekannten und in das Medium ‚Sprache’ übertragenen, inszenatorischen Verfahren verdankt. Zentrales Kennzeichen des Romans ist demnach die poetische Doppelstrategie zum einen aus der Destruktion des naiven Glaubens an eine mögliche objektive, sprachliche bzw. textuelle sowie bildhafte Repräsentation erinnerter Wirklichkeit und zum anderen aus der Konstruktion eines alternativen Modells individueller Erinnerung, das diese immer zugleich „a process of invention as […] one of recall“ 290 sein lässt. Im Rückblick weist das hier entwickelte poetische Konzept bereits voraus auf den zwanzig Jahre später erscheinenden Roman Les Géorgiques, in dessen Mittelpunkt die (Un-)Möglichkeit einer historiographischen Restitution vergangener Wirklichkeit stehen wird. Mit dieser innovativen Ästhetik emanzipiert sich Simon in La Route des Flandres endgültig von der als überholt aufgefassten Ästhetik des Realismus: „Il ne s’agit pas de la restitution du réel, mais de la constitution d’un réel dans et par le langage.“ 291 290 Higgins, Lynn A. „Problems of Plotting, La Route des Flandres.“ (1996), S. 56. 291 A.B. Duncan: „Introduction.“ (2006), S. XXVI. <?page no="245"?> 245 5 Metafiktion und Metanarration als metapoetischer Diskurs über Repräsentation in Triptyque (1973) 5.1 Einführung Simons experimenteller Roman Triptyque - entstanden in Auseinandersetzung mit Jean Ricardous skripturalistischem Theorieentwurf - diskutiert die fundamentale ontologische Verschiedenheit des Kunstwerks und der von ihm repräsentierten Realität und beschäftigt sich in diesem Kontext mit der poetologischen Frage nach ihrer adäquaten Repräsentation. Auf der Ebene des Erzählverfahrens manifestiert sich diese Thematik in einem Oszillieren des Textes zwischen Diskontinuität und Kontinuität: So lassen neben der auffallenden Fragmentarisierung des discours vor allem die vielfachen narrativen Kurzschlüsse zwischen den Ebenen ‚innerfiktional real’ und ‚innerfiktional fiktiv’ den Leser unsicher werden über die Unterscheidung von Ereignissen, die innerhalb der Welt des Romans ‚wirklich’ stattgefunden haben, und solchen, die bloß imaginiert oder durch (fremde) Medien repräsentiert sind. Doch entsteht bei der Lektüre zugleich der Eindruck einer gewissen unterschwelligen Kohärenz des Textes, die insbesondere durch die Wiederkehr bestimmter Motive und von bereits aus früheren Romanen bekannten Themen wie ‚erotische Liebe’, ‚Eifersucht’ und ‚Tod’, aber auch von neuen wie ‚Natur’ und ‚Voyeurismus’ sowie durch die Motivoppositionen ‚Licht’ und ‚Dunkelheit’, ‚Bewegung’ und ‚Stillstand’, ‚Lärm’ und ‚Stille’ garantiert wird. Die genannten thematischen und motivischen Strukturen verbinden nun drei bzw. vier scheinbar disparate Fiktionen miteinander: Die erste histoire spielt im ländlichen Zentrum Frankreichs, wo sich in einem kleinen Dorf eine erotische Begegnung zwischen einer Hausangestellten und einem Jäger anbahnt; diese verursacht indirekt den mutmaßlichen Tod durch Ertrinken eines kleinen Mädchens, das unter der Aufsicht der jungen Frau gestanden hat. Zwei Jungen beobachten die erotischen Handlungen des Paares in einer Scheune; aus ihrer Perspektive verfolgt auch der Leser teilweise die Ereignisse. Die zweite Episode ist dagegen in Frankreichs Norden angesiedelt: In einer flandrischen Industriestadt betrügt in der Nacht seiner Hochzeit ein Bräutigam seine Braut mit einer Kellnerin - vermutlich einer ehemaligen Geliebten - und wird dafür von dem (mutmaßlichen) Gefährten der Frau verprügelt. Die dritte Handlungssequenz schließlich nimmt im Süden Frankreichs, an der Côte d’Azur, ihren Lauf: Eine Frau und ein Mann befinden sich in einem Zimmer; bestimmte Hinweise im Text lassen ebenfalls eine erotische Begegnung erahnen, die sich vermut- <?page no="246"?> 246 lich kurz vor dem Einsetzen der Handlung ereignet hat und für die die Frau nun eine Gegenleistung erwartet. Der Mann soll sich bei bestimmten einflussreichen Stellen für die Freilassung ihres Sohnes aus einer Untersuchungshaft einsetzen; der Junge scheint als Schüler in den Handel mit Drogen verstrickt zu sein. Die vierte histoire, deren Verhältnis zu den drei anderen jedoch im Unklaren bleibt, präsentiert eine Zirkusszene, in der ein Clown zusammen mit zwei anderen Artisten, zuerst einem Herrn im Anzug und später einem Harlekin, eine Reihe grotesk-komischer Gags vorführt. Im Unterschied zu den drei erstgenannten Fiktionen lässt sich die im Zirkus spielende Handlung nicht geographisch verorten und scheint vor allem zentrale Elemente der anderen drei histoires wiederaufzugreifen. 1 Die Lückenhaftigkeit der verschiedenen Fiktionen und ihre Ambivalenz im Hinblick auf ihren ontologischen Status ist nur ein Beispiel für den Eindruck von Rätselhaftigkeit, welcher dem Roman u.a. von L. Dällenbach attestiert wurde: 2 Der Leser wird in seiner Rezeption eines Ereignisses als innerhalb der Fiktion ‚real’ immer wieder erschüttert. Dies geschieht typischerweise dann, wenn Handlungssequenzen, die er zunächst als innerfiktional ‚wirklich’ rezipiert hat, sich plötzlich als Gegenstand eines Films, eines Buchs oder eines Gemäldes erweisen. Unser Kapitel wird in diesem Kontext die These diskutieren, dass die für Triptyque typische Rätselhaftigkeit und Undurchsichtigkeit des Sinns aus dem Zusammenwirken verschiedener metafiktionaler Phänomene resultiert, die nicht nur auf die Fiktionalität des discours und auf die Fiktivität der verschiedenen Geschichten verweisen, sondern darüber hinaus ganz allgemein Fragen erörtern, die mit der literarischen Referenz auf eine 1 Auch der Titel des Romans spielt auf diese inhaltliche Dreigliederung an - im Einklang mit einem Großteil der zu Triptyque veröffentlichten Forschung soll hier die Zirkusfiktion aufgrund ihres unklaren Status nicht als eine den anderen gleichrangige Handlungssequenz aufgefasst werden -, die sich wie schon bei La Route des Flandres in der formalen Dreiteilung des Textes spiegelt (ohne dass jedoch die inhaltliche Gliederung der formalen entspräche): In der christlichen Kunst ist ein Triptychon ein dreiteiliges Tafelbild bzw. ein dreiteiliger Flügelaltar, der aus einem Mittelfeld und zwei halb so breiten, beweglichen Flügeln besteht. (Brockhaus Enzyklopädie in zwanzig Bänden. Band 19: Trif-Wal. (1974)) Allerdings weist S. Sykes darauf hin, dass in Triptyque eben keine völlige Symmetrie der einzelnen Teile (wie noch in La Bataille de Pharsale) festzustellen sei, „[…] car les deux volets extérieurs de Triptyque ne se rabattent pas de la même façon sur le panneau central; le mouvement du texte n’est pas aussi clairement centripète, et les trois parties se recouvrent les unes les autres grâce à ce système de transferts que Simon élabore.“ (S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 174.) 2 So beschreibt Lucien Dällenbach, ohne direkt auf den Roman Bezug zu nehmen, in seiner Globalanalyse des Simonschen Werks ein auch für Triptyque typisches Merkmal seiner Texte: „C’est parce qu’il fait toujours mystère de quelque chose que le roman simonien se présente si souvent comme un puzzle, c’est-à-dire comme un roman à énigme. (L. Dällenbach: Claude Simon. (1988), S. 40.) <?page no="247"?> 247 außertextuelle Realität und der (sprachlichen und ikonischen) Repräsentation dieser Wirklichkeit zusammenhängen. 3 Aus dieser Annahme ergeben sich zwei Hypothesen, welche die Analyse von Triptyque leiten sollen: 1. Die verschiedenen - expliziten und impliziten - metafiktionalen bzw. metafiktiven Phänomene auf der Ebene des discours und der histoire problematisieren die Referenz von Literatur und stellen diese vor allem am Beispiel der vielfältigen Grenzüberschreitungen zwischen innerfiktionaler Realität und Fiktion grundlegend in Frage. 2. Die wiederkehrenden expliziten und impliziten metanarrativen Passagen kommentieren nicht nur die spezifische Poetik des Romans, sondern diskutieren darüber hinaus das Problem der narrativen Repräsentation einer äußeren Realität durch die verschiedenen Medien. Im Folgenden wird zunächst die metafiktive Thematisierung und Inszenierung der problematischen Referenz analysiert (Kap. 5.2.). Im Anschluss soll untersucht werden, auf welche Weise in Triptyque die literarische Repräsentation von ‚Wirklichkeit’ mittels narrativ-fiktionaler Erzählstrategien problematisiert wird (Kap. 5.3). 3 Es soll an dieser Stelle betont werden, dass sich die Arbeit nicht in die Tradition desjenigen Forschungsansatzes stellt, der dem Text jegliche Referenz auf eine außertextuelle Wirklichkeit abspricht. Vielmehr wird postuliert, dass Simons Werk von dem Ringen um die Möglichkeit und die adäquaten literarischen Mittel einer Repräsentation außerliterarischer Realität geprägt ist. In diesem thematischen Rahmen ist - so lautet die hier vertretene These - Triptyque in der Nähe desjenigen Pols anzusiedeln, der einer angemessenen Repräsentation von Wirklichkeit durch Sprache und durch Literatur aber auch durch andere Medien bzw. Künste eher skeptisch gegenüber steht. Vertreter der erstgenannten, radikalen Position, die sich z.T. im Einklang mit Simons eigenen, poetologischen Aussagen befinden (Vgl. C. Simon: „Attaques et stimuli (entretien inédit avec Lucien Dällenbach).“ (1988), S. 177.), sind u.a. M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987), S. 9ff., und J. Duffy: „Bureau des référents perdus: La représentation populaire et le texte productible dans l’œuvre de Claude Simon.“ (1994), S. 51. Gegen das auf Derrida zurückgehende Postulat von der ‚Nicht-Referenz sprachlicher Zeichen’ - „[i]l n’y a pas de hors-texte“ (J. Derrida: De la grammatologie. (1967), S. 227.) - wendet sich auch F. Zipfel, der betont, dass, nähme man diese Aussagen wörtlich, jeder Untersuchung der Beziehung zwischen sprachlichen Ausdrücken und ihrer Referenz der Boden entzogen wäre (F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. (2001), S. 53.). Vielmehr sind die fiktiven Welten stets auf eine bestimmte Weise auf die Lebenswirklichkeit bezogen, denn eine Geschichte, die in keiner Relation zu unserer Wirklichkeitskonzeption stehe, könnte weder erzählt noch verstanden werden, sie wäre nicht einmal vorstellbar (Ebd, S. 82.). <?page no="248"?> 248 5.2 Die metafiktive Thematisierung und Inszenierung von Nicht-Referenz 5.2.1 Die Kontamination des Realen durch das ‚Imaginäre’: Imaginationen und Modalisationen Im Gegensatz zu La Route des Flandres wird in Triptyque der Diskurs über die Fiktivität - die ‚Erfundenheit’ oder ‚Nicht-Wirklichkeit’ - der verschiedenen histoires nur an wenigen Stellen explizit geführt: Nur selten legt eine innerfiktionale Redeinstanz den künstlichen Status der jeweiligen histoire dadurch offen, dass sie diese als Objekt von Imaginationen, Hypothesen oder Träumen präsentiert. Wie noch zu zeigen sein wird, ist die narrative Instanz, aus deren Sicht die Handlung dargestellt wird, nicht genau bestimmbar; es entsteht vielmehr der Eindruck eines gesichtslosen, mechanischen, nicht-menschlichen, Kameraauges, das neutral und ohne jegliche Gefühlsregung die Ereignisse registriert. 4 Insbesondere die vielen detaillierten Beschreibungen von Landschaft und Stadt lassen die Szenerie wie ‚gefilmt’ erscheinen; diese deutlich perspektivierte Raumdarstellung zählt zu den typischen Merkmalen der Camera-eye-Perspektive. 5 Dennoch finden sich in Triptyque Anhaltspunkte dafür, dass hinter der Narration nicht nur eine neutrale Instanz, sondern ein anthropomorpher Erzähler steht: Vor allem die vereinzelten Imaginationen und Modalisationen, die das Beschriebene oder Erzählte in seiner Bedeutung als hypothetisch präsentieren, es differenzieren oder variieren und über die reine Feststellung einer Tatsache hinaus Gefühle ausdrücken, weisen auf eine, die Handlung vermittelnde, Erzählerfigur im Hintergrund hin. Im Gegensatz zu früheren Romanen wie La Route des Flandres finden sich in Triptyque kaum Imaginationen, da diese - um der Logik der Erzählung zu genügen - eine identifizierbare fiktionale Redeinstanz entweder in Gestalt einer Erzähler- oder einer Reflektorfigur voraussetzen. Ein Hinweis, dass auch in diesem Roman das neutrale „on“ über einen Leib, und jenseits der visuellen Wahrnehmung, auch über Gefühle und Gedanken verfügen könnte, findet sich in dem Kommentar der Wahrnehmungsinstanz zu der Handlung des Films, der die konfliktträchtige Begegnung eines Mannes mit einer von ihm aus verschiedenen Gründen abhängigen Frau erzählt: La voix tonitruante s’est tue. A sa place, une musique douce se déverse par le vasistas de la cabine de projection. […] La partition orchestrée principalement sur les violons est du genre de celles qui sont utilisées comme fond pour les scènes d’amour (toutefois la scène précédente entre l’homme et la femme qui gisait 4 Zur Technik des camera eye vgl. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 294ff. 5 Ebd., S. 160. <?page no="249"?> 249 sur le lit rend cette éventualité peu plausible) ou d’intenses conflits psychologiques qu’exprime par une série d’attitudes pathétiques et de gestes lents un personnage solitaire, […] on peut imaginer la femme restée seule se levant du lit, enfilant un déshabillé, allant et venant à pas anxieux dans la pièce, allumant une nouvelle cigarette, […] (T, 61f. ; Hervorhebungen S.Z.). Der Kontext einer Filmvorführung lässt das nicht näher bestimmte „on“ zu einem Zuschauer werden, der sich möglicherweise im Kinosaal befindet und seine Gedanken über die Handlung mitteilt. Aus den auf die Leinwand projizierten Bildern und der Begleitmusik schließt er auf die vorangegangene und sich möglicherweise anschließende Handlung, die er in Form einer visuellen Imagination dem Leser mitteilt. Der mit „on peut imaginer“ eingeleitete Abschnitt ist demnach nicht Teil des innerhalb der Fiktion ‚realen’ Films, sondern existiert nur in der Vorstellung des unbekannten Zuschauers „on“. Im Zusammenhang mit der Filmvorführung fällt auf, dass der Zuschauer - „on“ - oftmals allein auf die Aussagekraft der Bilder angewiesen ist, da die Tonspur immer lückenhafter wiedergegeben wird. Während zunächst die Dialoge der Schauspieler noch problemlos verstehbar sind (T, 39, 42), wird im weiteren Verlauf die Wiedergabe der gesprochenen Rede wiederholt beeinträchtigt, zunächst durch eine vorbeifahrende Trambahn (T, 48), dann nach einem Filmriss (T, 52f.) durch längere Intervalle, in denen nicht gesprochen wird und nur das Surren des Projektionsapparates und das Rauschen des Regens außerhalb des Kinos zu hören ist (T, 56f.). Der wichtigste Grund für die gestörte Tonrezeption liegt jedoch in den unzureichenden Sinnesorganen selbst: Il n’existe aucun rapport entre la puissance monumentale de la voix et le sens des paroles que l’on peut saisir, postulant une conversation ou plutôt des propos (car aucune autre voix ne répond) […] les quelques mots que l’oreille retient (temps, combien, manger, fortune, Reixach), prononcés de façon interrogative et légèrement ironique, retentissant à la façon d’onomatopées émises non par quelque organe de chair (langue, palais, lèvres) mais par l’un de ces mégaphones, de ces pavillons aux parois métalliques et évasées, pourvus en leur centre d’une langue rigide, et qui non seulement les lancerait dans la nuit pluvieuse mais les aurait auparavant pensés à l’aide d’un cerveau caché à sa base et luimême constitué de pièces de métal, de fils multicolores, de relais et de connections. (T, 57) 6 So wird einerseits die Stimme des Sprechers verfremdet, bis die stimmbildenden Organe nicht mehr die eines Menschen zu sein scheinen, sondern dem Ton eines Megaphons ähneln. Auch existiert zwischen der Sprechweise, der besonderen Stimmkraft einerseits, und der Bedeutung des Gesagten andererseits keinerlei Beziehung mehr: der Sinn der Worte erschließt sich 6 Der Name „Reixach“ verweist in Form eines intratextuellen Zitats natürlich auf Simons früheren Roman La Route des Flandres. <?page no="250"?> 250 trotz der hinreichenden Lautstärke dem Ohr des Zuhörers nicht. Hier äußert sich der Text skeptisch sowohl gegenüber der Aussagekraft von Wörtern als auch allgemein gegenüber Sprache als Medium der Bedeutungsübermittlung zwischen einem Sender und einem Empfänger: Ihre Funktion, Sinn zu vermitteln, erfüllt Sprache nur rudimentär oder gar nicht, zumal sie in dieser Textstelle im Rahmen der Filmprojektion als etwas rein Mechanisches, sogar als Produkt eines elektronischen Gehirns erscheint. 7 Zuletzt verschwinden - bedingt durch einen paradoxen Perspektivwechsel - auch die Filmbilder: Während zuvor der unbekannte Wahrnehmende noch unter den Zuschauern im Kinosaal saß, befindet er sich nun außerhalb des Gebäudes, in der Sackgasse, in welcher das Liebespaar sein erotisches Abenteuer erlebt und das Geräusch des Regens und einer Dampflokomotive zu hören ist: Puis l’espèce de barrissement s’arrête, coupé net, laissant de nouveau place au grésillement continu de l’appareil et de la pluie, ponctué par les jets de vapeur de la locomotive qui propulse les wagons sur les différentes voies de triage, tandis que l’invisible personnage à la voix de cyclope observe peut-être maintenant l’effet de ses dernières paroles sur le visage de l’actrice gisant sur le lit, fait peutêtre quelques pas dans la pièce, ou allume à son tour une cigarette, […]. (T, 57) Dieser Perspektivwechsel bleibt handlungslogisch unmotiviert; das Rätsel um die Identität desjenigen, dessen auditive Wahrnehmungen und Imaginationen über den Fortgang des Films präsentiert werden, wird nicht aufgelöst. In der Folge bleiben dem ‚Zuhörer’ des Films zur Rekonstruktion der Handlung nur noch die Wortfetzen, die er von seinem Standort in der Nähe des Lüftungsschlitzes aus dem Kino hören kann: La voix s’élève de nouveau, les mots (ce garçon, fils, votre nom, porte pas) hurlés par la voix mécanique et éraillée semblable à celles de ces speakers rendant compte d’un match de football, suivis presque immédiatement cette fois d’autres (j’imagine, doit avoir, père, quelque part, fabuleusement, riche, lui aussi), puis d’un nouveau silence pendant lequel le cyclope se laisse peut-être tomber dans un fauteuil, se renverse en arrière ou se verse à boire les pièces compliquées et les connections du cerveau métallique amassant pendant ce temps les mots de la proposition suivante qui retentissent tout à coup à travers la nuit et la pluie : lycée, sortie, pincé, sa poche, drogues ? , quoi ? , cigarettes ? , non ? , pire ? , fichtre ! […] (T, 58f.) An dieser Textstelle ist zum einen bemerkenswert, dass die Satzfetzen bereits eine bestimmte Interpretation suggerieren: Die nackte Frau auf dem Bett ist die Mutter eines Sohnes, dessen unbekannter Vater vermutlich sehr reich ist und der beim Verlassen des lycée mit harten Drogen in der Tasche von der Polizei festgenommen wurde. Dies ist zugleich der Ausgangs- 7 Die sich hier manifestierende Sprachskepsis verweist ebenfalls auf La Route des Flandres. <?page no="251"?> 251 punkt für die spezielle Beziehung zwischen den beiden, in der es um einen Handel geht: Die Frau gibt ihren Körper, damit der Mann seine Kontakte nutzt, um die Anklage des Sohnes zu verhindern und seine Entlassung aus der Untersuchungshaft zu erreichen. Zum anderen ist interessant, dass die Rede der Figuren ja einem „cerveau métallique“ zugeschrieben wird; dieses steht am Ursprung der Fiktion, die Gegenstand des Kinofilms ist. Der zitierten Textpassage wohnt in mehrfacher Hinsicht ein metafiktives Potential inne: So werden ganz explizit durch Wendungen wie „j’imagine“ und „peut-être“ Teile der Kinohandlung als nicht-faktische Imaginationen eines unbekannten Zuschauers offengelegt. Diese Ergänzungen der Kinohandlung durch die Phantasie sind deswegen notwendig, weil die Übermittlung der auditiven und visuellen Inhalte des Films lückenhaft sind - einerseits aufgrund der schlechten Qualität der Tonspur sowie aufgrund eines gewissen Lärms von außerhalb des Gebäudes, andererseits aber auch wegen der Sinnarmut der Aussagen selbst. Und schließlich steht am Ursprung der von den Schauspielern gesprochenen Sätze scheinbar kein Drehbuch oder Regisseur, sondern ein nicht näher beschriebenes „cerveau métallique“, das den Fortgang der Handlung paradoxerweise entscheidend zu beeinflussen scheint. Darüber hinaus ist die Textstelle implizit als metafiktional fungierende Metapher für die Fiktionalität des Romans Triptyque zu lesen: Auch der Roman bleibt an zentralen Stellen der Handlung elliptisch - so wird das Ertrinken des kleinen Mädchens von der Narration ebenso ausgespart wie die erotische Begegnung zwischen Mann und Frau in der Côte d’Azur- Szene oder die Prügelei des untreuen Bräutigams mit dem (mutmaßlichen) Liebhaber der Kellnerin. Der Leser ist daher - genau wie der namenlose Zuschauer des Films - auf seine Imagination angewiesen, um aus den rudimentären Informationen, die der Text liefert, die Handlung zu ergänzen. Dagegen lässt sich das „cerveau métallique“ als Metapher für den Erzähler-Autor des Romans bzw. für den skripturalen Text deuten: Die von jenem erzählte Geschichte repräsentiert nicht eine präexistente, extrafiktionale Wirklichkeit, sondern basiert vielmehr auf den zufälligen, assoziativen Wortkombinationen einer unbekannten Erzählinstanz. In beiden Fällen wird durch die Negierung der Referenz auf eine äußere Realität - mit Ausnahme von Referenzspuren wie z.B. der Landschaft der Côte d’Azur oder der nordfranzösischen Industriestadt - der Text als auf sich selbst bezogen präsentiert; er ist autoreferentiell. Nicht zuletzt verweist die zitierte Textpassage auch auf die Fiktionalität des Textes und besitzt daher eine allgemeine metafiktionale Qualität: Teile der Fiktion - die an der Côte d’Azur spielende Handlungssequenz - genauso wie der sie hervorbringende discours werden hier als das Produkt der Imagination eines unbekannten Zuschauers bzw. einer unbekannten Erzählinstanz enthüllt. <?page no="252"?> 252 Es sind jedoch nicht nur die expliziten Imaginationen, welche die beschriebenen Wahrnehmungen der unbekannten Erzählinstanz ins Reich der Phantasie verweisen, sondern auch Modalisationen wie „sembler“, „apparemment“, „plutôt“ oder auch „peut-être“, die den referentiellen Bezug einer Aussage auf die innerfiktionale Wirklichkeit in Frage stellen bzw. den Erzähler als nicht im Besitz der vollständigen ‚Wahrheit’ präsentieren. Auffälligerweise treten diese Modalisationen häufig im Zusammenhang mit der Beschreibung von Szenen aus dem an der Côte d’Azur spielenden Film auf. Als die beiden Jungen die fragmentarischen Filmstreifen in einer Batterie entdecken, 8 wechselt in der Beschreibung der Filmszene sofort der Fokus der Wahrnehmung von den Jungen zum unbekannten Erzähler: Tenant écarté le doigt blessé, le garçon étire le U [das Filmfragment besitzt noch eine U-Form, da es in der Batterie eingerollt war; S.Z.] et l’élève pour regarder en transparence sur le ciel la courte bande qui ne comprend que cinq images et la moitié d’une sixième. Au bout d’un moment il dit Mince regarde ça ! et les deux têtes se rapprochent. Sans doute s’agit-il d’une scène surtout parlée car d’une image à l’autre aucune modification, aucun changement de place, même minime, d’un membre, aucun mouvement de la tête de l’actrice n’est perceptible. […] (T, 80) Es ist die Vermutung der anonymen Erzählinstanz, die - mit „sans doute“ eingeleitet - wiedergegeben wird. Nicht nur die Sprachwahl, auch die Komplexität der Beobachtungen insbesondere im weiteren Verlauf der Textstelle lassen darauf schließen, dass nicht aus der Sicht der beiden Jungen erzählt wird, sondern aus der Perspektive eines ‚erwachsenen’ Beobachters. Gegen Ende der Beschreibung des Filmfragments öffnet sich das Blickfeld und es wird auf die zuvor bereits angedeutete Produktionssituation des Films - das Filmstudio - angespielt: Dans le visage [der Schauspielerin; S.Z.] renversé en arrière les yeux sont ouverts, regardant fixement le plafond de la chambre ou plutôt les cintres du studio de prises de vues avec leurs câbles, leurs treuils, leurs passerelles garnies de projecteurs. […] (T, 81) Hier erfolgt ein metaleptischer Bruch zwischen den Ebenen innerfiktional ‚real’ und innerfiktional ‚fiktiv’, da die Realität des Filmsets in die Beschreibung der fiktiven Szene eindringt und auf diese Weise Realität und Fiktion ‚kurzgeschlossen’ werden. 9 Doch wie im Anschluss insbesondere die Ab- 8 Es ist unklar, wie die Streifen - und warum! - in die Umhüllung der Batterie („pile“) hineingelangt sind. Dienen sie der Isolierung oder hat der Besitzer der Batterie - der ältere Junge - sie dort versteckt? 9 J. Ricardou: „Le dispositif osiriaque. (Problèmes de la segmentation: Osiris, ainsi que les Corps conducteurs et Triptyque de Claude Simon).“ (1978), S. 233, postuliert „un ef- <?page no="253"?> 253 tönung durch verschiedene Modalisationspartikel deutlich macht, handelt es sich auch bei der ‚Realität’ des Filmdrehs nur um eine Mutmaßung der Erzählinstanz: Invisible mais présent, on devine le demi-cercle formé par les techniciens (opérateurs, maquilleurs, machinistes, secrétaires) groupés un peu en arrière de l’appareil de prises de vues, immobiles dans l’ombre, leurs regards convergeant vers le corps de l’actrice. Obéissant à des ordres brefs, les électriciens procèdent à des essais d’éclairage, coupant et rallumant tour à tour des rampes de projecteurs, tout s’éteignant ensuite brusquement, la toile peinte qui figure le ciel à quelques mètres derrière la fenêtre ouverte soudain plongée dans l’obscurité, le plateau du studio, pendant les quelques instants où le metteur en scène explique sans doute ses nouveaux ordres, n’étant plus éclairé que par une unique ampoule qui, probablement heurtée par quelque échelle ou quelque portant, se balance au-dessus du lit […] (T, 82 ; Hervorhebungen S.Z.). 10 Gleich im ersten Satz des Zitats wird auf die paradoxe Entstehungssituation des Films verwiesen: die scheinbar einsame Frau auf ihrem Bett ist in der ‚Realität’ von einer großen Zahl Menschen umgeben und diese Realität ist in der Aufnahme - dem Aufnahmewinkel, den Lichtverhältnissen etc. - zu erahnen. Dennoch erscheint die Produktionssituation der Filmsequenz nicht in der Aufnahme selbst - dem Bild; es handelt sich bei der Beschreibung der Studioszene also nur um eine Vermutung des betrachtenden „on“, die erkennbar wird an „on devine“ sowie an den Modalisationspartikeln „sans doute“ und „probablement“. Erzähltechnisch lässt sich diese Mutmaßung der Erzählinstanz dahingehend interpretieren, dass diese Instanz ganz im Sinne einer Camera eye-Perspektivik nur über einen begrenzten Wissenshorizont verfügt. Ein anderer Interpretationsansatz legt eine metafiktionale Deutung der Filmszene als Metapher für die Produktionssituation der Fiktion bzw. des Romans selbst nahe: Ähnlich wie der Regisseur zur Ausgestaltung des Films seine Anweisungen an die Beleuchter und Ausstatter gibt, verfügt auch der Erzähler über die Macht, seine Erzählung auf eine bestimmte Weise zu gestalten. Es zeigt sich, dass beide Interpretationen - sowohl eine aus der Erzähllogik heraus begründbare als auch eine metafiktionale - in der Textstelle angelegt sind. Dabei wirkt der metafiktionale Kommentar in zwei Richtungen: zum einen auf die Handlung des Films selbst, da ihr fiktiver Status innerhalb des Romans - also die Tatsache, dass es sich bei den dargestellten Ereignissen um eine Repräsentation von innerfiktionaler Realität in Form eines Films, jedoch nicht um die (innerfiktionale) Wirklichkeit selbst handelt - durch eine Metalepse offen gelegt wird. Zum anderen wird metafet anti-réaliste“ als Ergebnis dieser Brüche zwischen narrativen bzw. ontologischen Ebenen. 10 Ein ähnlicher Verweis auf die Produktionssituation des Films findet sich im Zusammenhang mit der Liebesszene in der nordfranzösischen Industriestadt (S. 126). <?page no="254"?> 254 fiktional auch auf die spezifischen, realitätskonstruierenden, Vertextungsstrategien des Romans selbst angespielt. 5.2.2 Die Kontamination ontologischer Ebenen: Metalepsen und fiktionsgenerierende Deskriptionen Wie bereits angedeutet wurde, besteht schon während einer ersten oberflächlichen Lektüre von Triptyque der nachhaltigste Eindruck in der beständigen Unsicherheit über den Realitätsstatus der verschiedenen Handlungssequenzen. Der Text und die erzählten Fiktionen scheinen sich in einem fließenden Zustand zu befinden und ähneln darin dem schnell dahinfließenden Wasser des Flusslaufs in der Landschaftsszene. Diese Verwandlungen oder Metamorphosen des Textes vollziehen sich auf zwei verschiedenen Ebenen: Einerseits im Bereich der Fiktion - so erweisen sich innerhalb der Fiktion scheinbar ‚reale’ Sequenzen plötzlich als Gegenstand eines Films, einer Postkarte, eines Gemäldes, eines Filmplakats oder gar eines Puzzles. Diese ‚Verwandlungen’ der Fiktion stellen metaleptische Rahmenbrüche bzw. narrative Kurzschlüsse dar zwischen den ontologischen Ebenen der scheinbaren ‚Realität’ der erzählten histoire(s) und ihrer Enthüllung als eine Repräsentation, die - wie noch zu zeigen sein wird - nicht erzähllogisch aufzulösen sind. Andererseits finden sich Metamorphosen des Textes auch in Form einer Narrativisierung von Deskriptionen, wenn sich eine zunächst ‚leblose’ Szenerie plötzlich belebt und den Rang einer Handlung erhält, der Text von einem deskriptiven in einen narrativen Modus gleitet. 11 In Triptyque werden die drei bzw. vier verschiedenen histoires bzw. Teile von ihnen auch durch andere Repräsentationsformen abgebildet: als Gemälde, als Werbeplakat, als Film, als Postkarte, als Roman, als beleuchtetes Bild auf einer Jukebox, als Filmstreifen, als Gravüren sowie als Puzzle. Auffällig ist, dass jede der vier Fiktionen als Plakat bzw. als Film auftritt, jedoch nicht unbedingt als Roman, Gemälde oder Puzzle. Im Folgenden soll in einem kurzen Überblick dargestellt werden, durch welches Medium die verschiedenen histoires jeweils repräsentiert werden und in welche umgebende Fiktion die medial vermittelten Fiktionen eingebettet sind. Anschließend sollen einige ausgewählte Beispiele Simons 11 Wie Simon in einem Interview erklärt, orientiert er sich mit diesem Funktionswandel der literarischen Beschreibung an dem russistischen Essayisten Tyrianov, der ihre Aufwertung im Roman vom rein dekorativen zum handlungstragenden Element gefordert hatte: Sein eigenes Ziel sei daher, „[de] réaliser un roman où la description engendrerait l’action.“ (C. Simon: „Fragments de Claude Simon. [Eribon, D.].“ (1981), S. 22.) <?page no="255"?> 255 Technik des metaleptischen 12 Rahmenbruchs illustrieren, um in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Funktion dieser Metalepsen in Triptyque zu beantworten. 13 Typisch für die Poetik dieses Romans ist, dass die verschiedenen histoires weniger als die Erzählung einer narrativen Instanz oder als ein innerer Monolog einer Reflektorfigur, sondern vielmehr medial vermittelt in Erscheinung treten - es findet eine Medialisierung der Fiktionen statt. Dabei lassen sich drei verschiedene mediale Kategorien voneinander unterscheiden: erstens das Medium ‚Film’ mit den Unterkategorien ‚Film als Produkt’ bzw. als fertiger Film, ‚Film als Produktion’ (also der Filmset in einem Studio), ‚Film als Fragment’ (das materielle Produkt des Filmstreifens); zweitens das Medium der im weitesten Sinne ‚bildenden Kunst’ mit den Unterkategorien ‚gemaltes (Film-)Plakat’, ‚Gemälde’, ‚anatomische Abbildung’, ‚Gravüren’, ‚Postkarte’, ‚Werbebild’ und ‚Puzzle’; sowie drittens das Medium des ‚fiktionalen Textes’ mit dem ‚roman‘, den die Schauspielerin in der Côte d’Azur-Fiktion liest, als einziger Unterkategorie. Das Erzählverfahren des Romans Triptyque zeigt sich demnach geprägt durch eine Zersplitterung der Vermittlungssituation; dieselbe histoire kann auf ganz unterschiedliche Weise im Roman präsentiert werden. Insbesondere die an der Côte d’Azur spielende Handlungssequenz, in der eine Mutter durch einen im Text nicht repräsentierten Liebesakt versucht, ihren kriminellen Sohn vor einer Anklage und Inhaftierung zu bewahren, wird durch fast alle der genannten Medien vermittelt: Am häufigsten durch die Kategorie ‚Film’ - entweder als ein in einem Kino gezeigter fertiger Film oder als Filmset in einem Studio - genauso aber auch 12 Von G. Genette wurde zur Bezeichnung dieser narrativen Grenzüberschreitungen bzw. Kurzschlüsse zwischen binnenfiktionaler ‚Realität’ und Fiktion der Ausdruck métalepse narrative geprägt; er versteht darunter ganz allgemein „[l]e passage d’un niveau narratif à l’autre […]“ (G. Genette: Figures III. (1972), S. 243.). In seinem jüngsten Werk zur Métalepse differenziert G. Genette allerdings die frühere Definition und bezieht nun auch die unterschiedlichen ontologischen Ebenen der eingeschobenen Erzählung bzw. métadiégèse und der diese hervorbringenden diégèse mit ein: „La relation entre diégèse et métadiégèse fonctionne presque toujours, en fiction, comme relation entre un niveau (prétendu) réel et un niveau (assumé comme) fictionnel, […] : la diégèse fictionnelle apparaît ainsi comme « réelle » par rapport à sa propre (méta)diégèse fictionnelle.“ (G. Genette: Métalepse. De la figure à la fiction. (2004), S. 25f.) Darüber hinaus beschreibt er am Beispiel des Nouveau Roman A. Robbe-Grillets nun erstmals das auch für Simons Poetik typische Phänomen eines die Fiktion erst generierenden Gemäldes, „[…] cette source non proprement - ou non verbalement - narrative qu’est un tableau présent dans la diégèse, comme celui de Dans le labyrinthe, d’où sortent et où rentrent, à la guise de l’auteur, tel ou tel élément de cette diégèse environnante.“ (Ebd., S. 16.) 13 M. Bertrand verwendet zur Bezeichnung dieser unwahrscheinlichen Rahmenbrüche in seiner Studie zu Simons Langue romanesque et parole scripturale den ursprünglich von Jean Ricardou geprägten Begriff der mise en abyme mutante. (M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987), S. 75.) <?page no="256"?> 256 als in einem Standbild erstarrte Szene auf einem fragmentarischen Filmstreifen sowie als Filmplakat. Darstellungen, die entweder direkt diese Sequenz aufgreifen oder aber indirekt auf sie verweisen, finden sich aber auch in der Kategorie ‚bildende Kunst’ als Gemälde, anatomische Zeichnung, Postkarte sowie als Werbebild auf der Jukebox. Am zweithäufigsten wird die in einer nordfranzösischen Industriestadt spielende Liebes- und Eifersuchtsszene fremdmedial vermittelt; diese erscheint vor allem auf einem Filmplakat sowie als Gegenstand eines Romans, und nur an einer Stelle als fertiger Film. Noch seltener durch andere Medien wird die ländliche Szene um den Tod des kleinen Mädchens und den Liebesakt der zur Aufsicht verpflichteten Frau repräsentiert: Außer als fertiger Film finden sich Elemente, die auf diese Fiktion anspielen, auf den Gravüren, dem Puzzle, den Filmplakaten und dem Gemälde wieder. Eher vernachlässigbar ist die Fiktion, die die Zirkusszene zum Inhalt hat: diese tritt bis auf zwei Ausnahmen (Film und Gemälde) nur auf einem Plakat in Erscheinung. Abbildung 14: Intermediale Vermittlung der Fiktionen in Triptyque Im Folgenden sollen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Repräsentation der verschiedenen Fiktionen durch die jeweiligen Medien analysiert werden, um einerseits Simons Technik der ‚Transkription’ eines nichtsprachlichen Mediums in einen narrativen Text zu veranschaulichen und um andererseits die metafiktionale Wirkung dieser wiederholten Grenzüberschreitungen zwischen innerfiktionaler Realität und ihrer Repräsenta- Fiktionen/ Szenen Medien Dörfliche Szene in Zentralfrankreich (A) Mondäne Szene an der Côte d’Azur (B) Städtische Szene in Nordfrankreich (C) Zirkusszene mit unbekanntem Ort (D) Film (Produkt) 90f., 160f., 162, 163f., 194f., 196f. 22f., 33-37, 48, 50-53, 57-60, 61f., 99f., 100ff., 129f., 137ff., 139-143, 215f., 223-225 123-126 189f. Filmfragmente 27-29, 31, 80-81, 83f., 96ff., 100, 170-176, 218f. Film (Produktion) 81, 82f., 128f., 130f. (Film-)Plakat 65f. 64f., 94, 104 19, 21, 25f.(? ), 94-96, 104, 145f. 10, 12ff., 21, 23, 40, 44, 76-79, 110, 117, 158, 178, 218 Gemälde 161 127f. 190 Anatomische Abbildung 81f. (? ) Gravüren 36, 42-44, 195f. Postkarte 7, 84, 200f. Werbebild Jukebox 137 Puzzle 220-223 Roman 126, 216f. <?page no="257"?> 257 tion zu analysieren. Dies soll am Beispiel der Fiktion um das Paar in dem Zimmer an der Côte d’Azur geschehen. In Triptyque geschieht die Verwandlung der zu Beginn des Romans als innerfiktional ‚real’ vorgestellten Handlung um das südfranzösische Paar in ihre Repräsentation durch ein fremdes Medium ganz allmählich: Zunächst scheint der Roman noch die auktoriale Beschreibung einer ländlichen Szene durch einen unbekannten Erzähler zu präsentieren (T, 7ff.); allenfalls die auffallend im optischen Modus vermittelte Darstellung der Landschaft spielt versteckt auf die mediale Vermitteltheit an. 14 Der erste Hinweis auf das Medium ‚Film’ erfolgt sehr unauffällig nach mehreren Seiten: Un homme d’un certain âge, assez corpulent et vêtu de noir se tient debout sur la moquette rouge d’une pièce éclairée d’une lumière crue. Les pieds joints, il tourne la tête sur le côté, son visage faisant ainsi face au spectateur, comme s’il cherchait à entendre quelque bruit ou une voix à travers le panneau de la porte dont l’une de ses mains tient la poignée. […] (T, 22) Bemerkenswert an dieser Textstelle ist zunächst ganz allgemein, dass hier zum ersten Mal ein Wechsel zwischen der ländlichen und einer anderen Fiktion stattfindet - in diesem Fall handelt es sich um die an der Côte d’Azur spielende Handlungssequenz -; diese Transgression ist vom Leser bei der Erstlektüre kaum wahrzunehmen, da sie unmarkiert erfolgt. Zentraler ist jedoch die Offenlegung des fiktiven Status der Szene innerhalb der Welt des Romans: Bei ihr handelt es sich um eine Repräsentation, wie der Verweis auf einen möglichen Betrachter, „le spectateur“, deutlich macht: denn das Vorhandensein eines Betrachters setzt immer schon ein ‚Betrachtetes’ voraus; sei es beispielsweise ein Film, ein Gemälde oder eine Photographie. Der nächste Hinweis auf die in diesem Falle filmische Repräsentation der erzählten Geschichte erfolgt weitaus expliziter, wenn die räumlichen Gegebenheiten des Kinosaales und die Mechanik des Projektionsapparates in einen direkten Zusammenhang mit dem projizierten Film gestellt werden: Des poussières aussi et des volutes bleuâtres de fumées qui s’élèvent en se déroulant et se renroulant sur elles-mêmes sont suspendues dans le faisceau de lumière qui jaillit de la cabine de projection et va de celle-ci à l’écran par-dessus les têtes des spectateurs. Des striures mouvantes dont l’intensité va du blanc au noir balaient le pinceau lumineux en fonction des déplacements des ombres et des lumières sur l’écran. Dans les courts intervalles de silence entre la voix tonitruante du commentateur et les vagues de la musique d’accompagnement on perçoit de nouveau comme un bruit de fond permanent le grésillement régulier 14 Vgl. „[…] on peut voir la trame marron.“ (T, 8), „[…] on peut voir le clocher.“ (T, 9), „[…] on peut aussi voir le clocher mais pas la grange.“ (T, 9), „[…] on voit les graminées et les ombelles […]“ (T, 9) etc. <?page no="258"?> 258 du mécanisme de l’appareil. A chacun des déplacements, à l’intérieur du pinceau, des soies rigides, lumineuses ou obscures, correspondent sur l’écran des modifications de l’image projetée. Des façades blanches aux décorations boursouflées défilent lentement de droite à gauche, animées simultanément d’un double mouvement, c’est-à-dire tressautant rapidement de bas en haut par suite sans doute de l’usure du mécanisme de projection, ce premier mouvement, de courte période, se superposant à un autre, également dans le sens de la hauteur et provenant, lui, du fait que le film a été tourné à partir d’un bateau, probablement une vedette automobile, se déplaçant le long du rivage, montant et descendant au gré des vagues. […] Certains des baigneurs allongés sur la plage ou des enfants debout au bord de l’eau agitent le bras et font des signes en direction des spectateurs ou plutôt de la vedette sur lequelle [sic] ils ont sans doute aperçu la caméra de prises de vues et le groupe de cinéastes. […] (T, 33-35) Hier wird explizit auf eine filmische Repräsentation in der erzählten Welt angespielt: Das sich bewegende Bild auf der Leinwand erscheint als das Produkt eines Lichtkegels, in dessen Schein tanzende Staubflocken und bläulicher Qualm zu erkennen sind; der Lichtkegel selbst zeigt sich aufgefächert in helle und dunkle Farbtöne je nach der ursprünglichen Ausleuchtung der Szene auf der Leinwand. Insbesondere aber sind das Bild auf der Leinwand und der Ton im Kinosaal durch die Bedingungen der speziellen filmischen Vermittlung determiniert: So erklingt parallel zur Stimme des Kommentators auch das unaufhörliche Surren des Projektionsapparates und die Bilder auf der Leinwand resultieren aus den Veränderungen in den Helligkeitsverhältnissen innerhalb des Lichtkegels. In diesem Zusammenhang ist das Auf- und Abgleiten des auf die Leinwand projizierten Bildes nicht allein durch die Aufnahmesituation bedingt - die Filmeinstellung wurde vermutlich von einem Motorboot aus gedreht -, sondern auch durch die Altertümlichkeit des Projektionsgerätes. 15 In dieser Textstelle wird demnach explizit auf die filmische Repräsentation der Fiktion um das Paar an der Côte d’Azur verwiesen. Die im Film vermittelte Geschichte erscheint nun innerhalb der binnenfiktional ‚realen’ Welt der nordfranzösischen Industriestadt als irreal, als künstlich in Form eines in diese Welt ‚eingebetteten’ Films, den die Zuschauer in dem an die Sackgasse angrenzenden Kino sehen. 16 Ein Teil der histoire in Triptyque, der zunächst als binnenfiktional ‚real’ präsentiert wurde, wird nun als die innerfiktionale Fiktion eines Spielfilms entlarvt. Die an der Côte d’Azur spielende Handlung erscheint in Triptyque nicht nur als vollständiger Film, sondern auch in Form von Einzelbildern bzw. 15 Eine Entsprechung der metafiktionalen Ebenenüberschreitung zwischen der zunächst scheinbaren innerfiktionalen Realität der Handlung um das Paar in dem Zimmer und ihrer Offenlegung als eine filmische und damit fiktionale Repräsentation findet sich, wenn die Badenden im Film den Zuschauern im Kinosaal zuzuwinken scheinen, in der Realität des Films hingegen dem Filmteam winken. 16 Vgl. ebenso T, 48, 50-53, 57-60, 61f., 99f., 223-225. <?page no="259"?> 259 Filmstreifenfragmenten, welche die beiden Jungen in der Dorf-Fiktion besitzen. Zunächst betrachtet der größere Junge alleine in seinem Zimmer zwei kurze Filmstreifen, von denen der eine sechs und der andere vier Bilder umfasst. 17 Erzähltechnisch interessant an der Beschreibung der Filmfragmente ist die Überblendung der innerfiktionalen Realität - das Zimmer des Jungen - mit den innerhalb der Fiktion fiktiven Filmbildern: Elevant l’une d’elles dans la lumière, il regarde par transparence l’un des petits rectangles où l’on distingue deux personnages assis derrière une table basse où sont posés des verres et un cendrier. L’ensemble de l’image est sombre, comme, par exemple, l’intérieur d’un bar, et seuls les deux visages, les plastrons des chemises, les mains et le cendrier de faïence posent des taches claires. Entre les deux personnages, le garçon peut voir bouger la silhouette noire de la vieille femme sous le prunier. Les taches claires des visages, des plastrons et des mains se font imprécises, floues, et semblent suspendues devant le fond lumineux du verger où l’échantillonnage varié des verts vu à travers la pellicule sombre est toutefois ramené à une gamme uniforme de verts olive seulement différenciés par leurs valeurs. […] (T, 27f.) Die Beschreibung der Filmfragmente lässt die Abgrenzung der Ebenen ‚binnenfiktional-real’ und ‚binnenfiktional-fiktiv’ zunächst im Unklaren, wenn der Junge zwischen den beiden auf dem Filmbild abgebildeten Figuren den Umriss der alten Frau unter dem Pflaumenbaum erkennen kann. Doch wird diese Ambivalenz der Deskription bereits im nächsten Satz auf eine Bedeutung festgelegt, wenn zwischen der innerhalb der Welt des Romans ‚realen’ Umgebung des Gartens und den auf dem Filmbild repräsentierten Figuren unterschieden wird. So kommt es - wie bereits im Zusammenhang mit der Projektion des Films auf die Leinwand des Kinosaals - bei der Beschreibung der Filmstreifenfragmente zu einer Überschneidung zwischen innerfiktionaler ‚Realität’ und ‚Fiktion’, in deren Verlauf sich die abgebildete Szene um das Paar an der Côte d’Azur eindeutig als innerfiktional fiktiv bzw. ‚künstlich’ herauskristallisiert. 18 Doch erscheint die Handlung um das Paar an der Côte d’Azur nicht nur als Film, der in einem oder auch mehreren Kinosälen auf die Leinwand projiziert wird, sondern der Leser wird paradoxerweise auch Zeuge der Entstehung dieses Films. Zunächst sind die Hinweise noch eher versteckt, wenn anlässlich der Beschreibung der Filmfragmente auf die Aufnahmesituation angespielt wird: 17 T, 27. 18 Vgl. auch T, 29, 80f., 83f., 96-98, 100, 170-176, 218f. Ein gelungenes Beispiel für die Überblendung von Realität und Fiktion ist auch die Szene, in der plötzlich Insekten und Kühe durch das Zimmer, in dem die Schauspielerin auf ihrem Bett liegt, zu laufen scheinen - diese sind Teil der Umwelt des Jungen, der die Filmfragmente vor dem Hintergrund seiner Umgebung betrachtet. (T, 97f.) <?page no="260"?> 260 La vue légèrement plongeante est prise d’un point situé à un mètre environ en arrière de la tête du lit, ce qui donne à penser […] que le lit se trouve au centre de l’espace vide du plateau du studio fermé à l’extrémité opposée par un décor composé de panneaux, également nus, au centre desquels s’ouvre le rectangle d’une fenêtre où ne s’encadre rien d’autre qu’un ciel sans nuages, d’une teinte uniforme comme passée par un peintre en bâtiment sur une toile située à quelques mètres en arrière de la fenêtre. […] Dans le visage renversé en arrière [de l’actrice; S.Z.] les yeux sont ouverts, regardant fixement le plafond de la chambre ou plutôt les cintres du studio de prises de vues avec leurs câbles, leurs treuils, leurs passerelles garnies de projecteurs. […] (T, 80f.) Mehrfach wird auf die Künstlichkeit der Rahmensituation angespielt, in der sich die Handlung um die auf dem Bett liegende Frau vollzieht: die Sicht hinab auf die Frau erfolgt von einem erhöhten Standpunkt hinter dem Kopfende ihres Bettes aus; die Aufstellung des Bettes im Raum lässt insgesamt an die offene ‚Bühne’ in einem Filmstudio denken, die nur an einer Seite durch eine Wand begrenzt ist, welche wiederum mit einem Fenster durchbrochen ist. Das Blau des durch dieses Fenster sichtbaren Himmels lässt in seiner gleichmäßigen Farbgebung an eine bemalte Leinwand denken, die jenseits des Fensters aufgespannt ist. Auch scheint sich der Blick der Schauspielerin weniger an die Decke eines wirklichen Zimmers zu richten als vielmehr auf einen Schnürboden, von dem die verschiedenen Kabel, Haken und Scheinwerfer herabhängen. Schließlich erscheint die Aufnahmesituation des Studios einen kurzen Moment lang im fertiggestellten Film, als die Schauspielerin von ihrem Bett aus die verspiegelte Schranktür in Bewegung setzt und diese kurz die Filmkamera reflektiert: Dans son mouvement tournant, la glace a reflété pendant une fraction de seconde la pénombre du studio où dans un camaïeu brun est apparue la forme noire de la caméra de prises de vues aux yeux multiples, ses tambours, son socle, ses câbles, et les visages attentifs quoique imprécis des techniciens de l’équipe massés derrière elle. (T, 129) Und zuletzt bricht die innerfiktionale Realität des Filmdrehs explizit und massiv in die Fiktion selbst - den Film - ein: […] la voix au fort accent anglais disant Maintenant vous devriez essayer de dormir voulez-vous que je vous donne ces cachets? , la voix du metteur en scène criant alors Coupez, et les lumières des projecteurs s’éteignant les unes après les autres sur les passerelles invisibles dans les ténèbres des cintres qui se referment peu à peu. Pendant un moment on peut entendre le remue-ménage des appareils que l’on change de place, la voix du metteur en scène qui commente la prise de vues ou donne ses ordres, et les discussions des techniciens qui s’affairent pour les exécuter. L’acteur anglais s’est assis en arrière de la caméra et à l’écart, dans un fauteuil pliant. […] (T, 130) Die Ereignisse um das Paar in dem Zimmer an der Côte d’Azur sind dadurch endgültig in das Reich der innerfiktionalen Fiktion verwiesen; sie <?page no="261"?> 261 besitzen keinen Realitätsstatus, sondern werden als Gegenstand eines Films nun innerhalb der Welt des Romans als künstlich im Sinne von ‚erfunden’ und ‚(als Spielfilm) gemacht’ offengelegt. 19 Neben diesen im engeren Sinne filmischen Repräsentationen der Handlung um das Paar an der Côte d’Azur findet sich ihre Darstellung noch als Filmplakat, das sowohl am Kino in der flandrischen Industriestadt angebracht ist als auch an der zum Kinosaal umfunktionierten Scheune in dem zentralfranzösischen Dorf. 20 Darüber hinaus sind Elemente, die ursprünglich zu der beschriebenen Filmhandlung gehören, auch in einem Gemälde anzutreffen, das den (bzw. denselben? ) dickleibigen Mann aus dem Film zeigt, ohne dass die logische Ordnung von Film und Gemälde aufgelöst würde. 21 Ähnliches gilt für die anatomische Abbildung, die den auf dem Bett liegenden, nackten Körper der (bzw. derselben) Frau darzustellen scheint. Schließlich zeigt neben dem Werbebild auf der Jukebox 22 auch die wiederholt beschriebene Postkarte Elemente der Sicht auf die Côte d’Azur, die in den Beschreibungen der Filmszenen ebenfalls auftauchen; daher ist die Postkarte ebenfalls zu den intermedialen Repräsentationen jener Fiktion zu zählen. 23 Sie thematisiert explizit das in Simons Werk wiederholt behandelte Problem der adäquaten Repräsentation einer außerliterarischen Wirklichkeit mit den Mitteln der Literatur bzw. allgemein der Kunst. Die beschriebene Ansichtskarte stellt eines jener Produkte des touristischen Handels dar, auf denen die jeweilige Landschaft mit einfachen und unzureichenden photographischen Mitteln abgebildet ist und die deswegen nur ein unvollständiges Abbild der ursprünglichen Realität präsentieren: La carte postale représente une esplanade plantée de palmiers qui s’alignent sous un ciel trop bleu au bord d’une mer trop bleue. Une longue falaise de façades blanches, éblouissantes, aux ornements rococo, s’incurve doucement en suivant la courbe de la baie. Des arbustes exotiques, des touffes de cannas sont plantés entre les palmiers et forment un bouquet au premier plan de la photographie. Les fleurs des cannas sont coloriées d’un rouge et d’un orangé criards. Des personnages aux costumes clairs vont et viennent sur la digue qui sépare l’esplanade de la plage. L’encrage des différentes couleurs ne coïncide pas exactement avec les contours de chacun des objets, de sorte que le vert cru des palmiers déborde sur le bleu du ciel, le mauve d’une écharpe ou d’une ombrelle mordent sur l’ocre du sol ou le cobalt de la mer. […] (T, 7) Dabei resultiert der vom Hersteller derartiger Produkte wohl unbeabsichtigte Eindruck der übertriebenen Zurschaustellung von Künstlichkeit ins- 19 Dieser Interpretation liegt die Prämisse zugrunde, dass es sich bei dem Film um keinen Dokumentarfilm handelt. 20 T, 64f. bzw. 94 und 104. 21 T, 127f. 22 T, 137. 23 T, 7, 84, 200f. <?page no="262"?> 262 besondere aus der Farbgebung und aus dem Farbverlauf: Die Farben sind nicht nur zu monochrom - zu blau, zu weiß bzw. ‚schreiend’ rot und orange -, sie stimmen auch nicht exakt mit den Konturen der Formen überein, deren Farbigkeit sie ausmachen. 24 So tritt das Grün der Palmen in das Blau des Himmels über, ebenso das Lila eines Schals oder eines Sonnenschirms in die Ockerfarbe des Bodens oder in das Kobaltblau des Meeres. Die Postkarte lässt sich daher in mehrfacher Hinsicht als metafiktionaler Kommentar lesen: Erstens deutet sie schon gleich zu Beginn des Romans die Künstlichkeit eines Teils der erzählten histoire an, und zwar die der an der Côte d’Azur spielenden Fiktion. 25 Zweitens thematisiert sie explizit das Problem der Repräsentation von Wirklichkeit durch die bildende Kunst, die ja insbesondere auch durch ihre Farbwahl die abgebildete Realität - als effet de réel 26 - wiederzugeben versucht. Und drittens spielt die Karte implizit auch auf das Repräsentationsproblem allgemein an, mit dem sich jede Kunstform konfrontiert sieht: Wie kann eine Realität jenseits der Kunst adäquat repräsentiert werden? Die in Triptyque vertretene Position wird einerseits aus der Häme gegenüber Machwerken wie die beschriebene Ansichtskarte und andererseits durch die spezifische Ästhetik des Romans selbst deutlich: Die Kunst ist aus verschiedenen Gründen nicht imstande, die Wirklichkeit mimetisch zu imitieren: In Abhängigkeit von der Zahl der Betrachter existieren auch eine Vielzahl von Wirklichkeiten, so wie in Simons Roman dieselbe Handlungssequenz durch unterschiedliche Medien und in verschiedenen Kontexten leicht verändert repräsentiert wird. Darüber hinaus besteht die Freiheit der Kunst darin, ein eigenes Bild der Wirklichkeit zu erschaffen und zu diesem Zweck die ihr jeweils zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Rolle der Photographie als scheinbar ‚realistischste’ Repräsentationsform von Wirklichkeit, wird ihr doch gemeinhin die Fähigkeit zugeschrieben, im Gegensatz zu den anderen Künsten Wirklichkeit, ‚so wie sie ist’, abzubilden. Doch wird diese scheinbar herausragende Bedeutung der Photographie in Simons Roman durch die ‚Potenzierung von Künstlichkeit’ persifliert: Das innerhalb der erzählten Welt fiktive Abbild der Wirklichkeit auf der Postkarte ist (noch) künstlicher als die sie rahmende, ebenfalls fiktive Umgebung der Küche. Diese impliziten Kommentare zur Repräsentationsfunktion von Kunstwerken verweisen auf die in Triptyque vertretene These: Kein Medium kann ‚wahrer’ als ein anderes die äußere Realität abbilden, sondern jede 24 Hierzu auch J. Duffy: „Bureau des référents perdus: La représentation populaire et le texte productible dans l’œuvre de Claude Simon.“ (1994), S. 57. 25 Allerdings erschließt sich diese Vorausdeutung auf die Künstlichkeit der ‚mondänen’ Fiktion erst im Rück’blick’ der Lektüre. 26 Vgl. zu diesem Terminus R. Barthes: „Le discours de l’histoire [1967].“ (2002), S. 1261. <?page no="263"?> 263 Repräsentationsform erschafft ihr spezifisches Bild, das nicht notwendig auf eine eindeutig identifizierbare äußere Realität bezogen sein muss. 27 In Triptyque erweisen sich die verschiedenen Fiktionen zudem nicht nur wiederholt als Gegenstand anderer Repräsentationen, sondern diese ‚Repräsentationen einer Repräsentation’ sind, ähnlich einer russischen Matroschka-Figur, ineinander verschachtelt, bis die Hierarchie zwischen eingefügter und aufnehmender Szene sowie diejenige zwischen den ontologischen Ebenen der (innerfiktionalen) ‚Realität’ und der ihrer Repräsentation vollends aufgelöst zu sein scheint bzw. für den Leser nicht mehr nachvollziehbar ist. Wie aus der folgenden Übersicht deutlich wird, enthalten sich (mit Ausnahme der Zirkusszene, die einen Sonderstatus in Simons Text einnimmt) alle Szenen gegenseitig in Form verschiedener Repräsentationen. So finden sich z.B. die Plakate, welche die den an der Côte d’Azur spielenden Film ankündigen, in der ländlichen Szene wieder bzw. die Gravüren an der Wand des Zimmers an der Côte d’Azur greifen einige Elemente des in der Scheune stattfindenden Liebesakts auf. Eingefügte Szene Aufnehmende Szene Dörfliche Szene in Zentralfrankreich (A) Mondäne Szene an der Côte d’Azur (B) Städtische Szene in Nordfrankreich (C) Zirkusszene mit unbekanntem Ort (D) Dörfliche Szene in Zentralfrankreich (A) 7, 27-29, 31, 80-83, 84, 94, 96ff., 100, 100-102, 129 (? ), 137-146 (? ), 170-176, 218f. 14, 19, 21, 94-96 10, 12ff., 21, 23, 40, 44, 76-79, 110, 117, 178 Mondäne Szene an der Côte d’Azur (B) 36, 42-44, 195f., 220- 223 126f., 216f. -- Städtische Szene in Nordfrankreich (C) 65f. 33-37, 48, 50-53, 57- 62, 64f., 99f., 129 (? ), 137, 223-225 -- Zirkusszene mit unbekanntem Ort (D) -- -- -- Unbekannt 90f., 160f., 163f., 194f. -- -- 189f. Abbildung 15: Reziproke Einbettung der Fiktionen in Triptyque Es soll betont werden, dass diese gegenseitigen Einbettungen der jeweiligen Handlungssequenzen nicht per se unwahrscheinlich bzw. handlungslogisch unmöglich sind, sondern sich in der Mehrzahl der Fälle durchaus im Einklang mit der jeweiligen Geschichte lesen lassen. Daher soll als Beispiel für eine handlungslogisch mögliche Verschachtelung des Textes im Folgenden zunächst die Einfügung der Episode um den an der Côte 27 Vgl. zu diesem Aspekt auch J.A.E. Loubère, der die Funktion der Postkarte darin erkennt, „[…] to shock us into reflection upon reality itself, or what we have always taken for reality.“ (J.A.E. Loubère: „Triptyque.“ (1975), S. 216.) <?page no="264"?> 264 d’Azur gedrehten Film in die beiden anderen Fiktionen - die Dorf- und die Stadtfiktion - untersucht werden. Anschließend sollen zur Kontrastierung zwei paradoxe Einfügungen präsentiert werden, die handlungslogisch nicht mehr nachvollziehbar bzw. möglich sind und die der histoire zunehmend einen unwahrscheinlichen Anstrich verleihen. Dabei handelt es sich zum einen um das in Form einer multiplen Metalepse vermittelte Ende des Liebesaktes zwischen dem Bräutigam und der Kellnerin in der nordfranzösischen Stadt und zum anderen um die unbestimmt bleibende Szene, welche die in Zentralfrankreich angesiedelte Handlung aufnimmt. Wie im vorherigen Kapitel bereits deutlich wurde, handelt es sich bei der Fiktion des Paares an der Côte d’Azur um die mit dem größten Variantenreichtum vermittelte histoire. So wird die Thematik dieser Handlungssequenz nicht nur von sehr verschiedenen Repräsentationsformen aufgegriffen, sondern sie erscheint wiederholt auch in den beiden anderen histoires - der dörflichen sowie der städtischen Szenerie. Allerdings werden die jeweiligen Einfügungen der Sequenz ‚Côte-d’Azur’ in der Regel durch die Logik der Handlung begründet: 28 So wird sowohl im Dorf in einer Scheune als auch in der nordfranzösischen Stadt in einem Kino ein Film gezeigt, der die Geschichte um das Paar präsentiert. 29 Ebenso finden sich an beiden Orten Kinoplakate, die diesen Film ankündigen. 30 Im Rahmen der im Dorf spielenden Handlung finden sich darüber hinaus noch Verweise auf die Côte d’Azur-Fiktion in Form der Postkarte, die sich auf dem Küchentisch befindet, sowie in den Filmfragmenten, die der Junge erst allein und später mit seinem Freund untersucht. 31 Dagegen verweist in der Handlungssequenz, die die Ereignisse in der flandrischen Industriestadt zum Inhalt hat, das Werbebild der Jukebox auf die Côte d’Azur-Episode. 32 Neben diesen handlungslogisch plausiblen Verschachtelungen finden sich in Triptyque jedoch mehrere paradoxe Einfügungen, die nicht von der Handlungslogik legitimiert werden, sondern den Ereignissen zunehmend 28 Diese handlungslogisch nachvollziehbare Einfügung findet sich natürlich auch bei den beiden anderen histoires: So wird auf die dörfliche Szene im Rahmen des an der Côte d’Azur spielenden Films durch die Gravüren verwiesen, die über dem Bett der Schauspielerin hängen (T, 36, 42-44, 195f.) sowie durch das Puzzle, das die zu Beginn des Romans beschriebene Szene wiederaufgreift (T, 220-223). Schließlich findet sich die dörfliche Szene auch im Rahmen der in Nordfrankreich angesiedelten Handlung in Gestalt eines Kinoplakates wieder (T, 65f.). Ebenso ist die Einfügung der städtischen Szenerie Flanderns in die dörfliche Szene Mittelfrankreichs handlungslogisch legitimiert, wenn sie in Form der Plakate an der Scheune geschieht (T, 14, 19, 21, 94- 96). Im Falle der mondänen Szene wird die in Nordfrankreich spielende Handlung handlungslogisch nachvollziehbar in dem Roman wieder aufgegriffen, den die Schauspielerin liest (T, 216f.). 29 ‚Dorf’: T, 137-146; ‚Stadt’: T, 33-37, 48, 50-53, 57-62, 99f., 223-225. 30 ‚Dorf’: T, 93f.; ‚Stadt’: T, 64f. 31 Postkarte: T, 7, 84, 200f.; Filmfragmente: u.a. T, 27-29, 80-81, 100-102, 170-176. 32 Jukebox: T, 137. <?page no="265"?> 265 einen irrealen Anstrich verleihen und den von der Forschung vielfach beschriebenen „vertige de la représentation“ 33 in diesem Roman begründen. Eine sehr auffällige multiple Metalepse findet sich im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Sackgasse: Nach dem Liebesakt trennt sich der Bräutigam von der jungen Kellnerin, woraufhin diese in die Kneipe zurückkehrt. Dort wird sie bereits von dem mit einer Lederjacke bekleideten anderen Mann erwartet. Ohne dass viele Worte gewechselt werden, wird schnell deutlich, dass dieser Mann ‚Rechte’ an der Frau besitzt - entweder waren sie liiert oder sind es noch immer - und dass er nun eifersüchtig auf den von ihm vermuteten oder vielleicht auch beobachteten Liebesakt zwischen der Kellnerin und dem Bräutigam reagiert. Schließlich zieht oder vielmehr schleudert („projeter“) er die junge Frau in die Kneipe zurück, während er selbst sich mit seinem Motorrad an die Verfolgung des Nebenbuhlers macht. 34 An diesem Punkt in der Darstellung der Handlungsabläufe angelangt, erfolgt plötzlich ein Einschnitt, der das soeben Erzählte unvermittelt als Gegenstand eines Films präsentiert: Sans doute la caméra a-t elle été hissée au sommet, soit d’un clocher, soit encore de l’un de ces échafaudages de poutrelles métalliques qui s’élèvent au-dessus du puits d’une mine et qui dominent l’agglomération, mais en tout cas dans l’axe de la longue artère, car l’on découvre celle-ci en vue plongeante, faiblement éclairée de loin en loin par les réverbères. Sur la surface obscure de l’écran, l’agglomération apparaît comme une vaste plage sombre dont les lumières dessinent en maigres pointillés le réseau anarchique des rues entre les maisons uniformes et basses, les entrepôts, les usines, le long du canal à l’eau stagnante où bougent à peine les reflets. […] (T, 126) Da bislang ein Hinweis auf eine mediale - filmische - Repräsentation der Ereignisse um das Paar eher unauffällig in Form der verschiedenen Filmplakate erfolgte, ist dieser Einschnitt durchaus als metafiktionaler Bruch in der Verortung der Handlung zu werten. Während die Fiktion um das Paar in der Sackgasse bislang als innerfiktional ‚real’ präsentiert wurde, erweist sie sich nun ‚bloß’ als die Beschreibung eines Films, der diese Geschichte zum Gegenstand seiner fiktiven Handlung hat. Doch erfolgt bald darauf ein neuer Einschnitt und die zunächst fortgeführte Beschreibung der nun als Film offengelegten Handlung um den seinen Nebenbuhler verfolgenden Motorradfahrer wird erneut abgebrochen und erscheint nun als das Kapitel eines Romans, den die Schauspielerin in der Côte d’Azur-Fiktion liest: […] Toutefois, arrivé à une vingtaine de mètres de celui qu’il poursuit, son conducteur ralentit et s’arrête. Il hisse la lourde machine sur le trottoir, rabat sa 33 So z.B. S. Lotringer: „Cryptique.“ (1975), S. 324. Ähnlich auch R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 155. 34 T, 123-126. <?page no="266"?> 266 béquille, et continue alors à pied. D’un réverbère à l’autre l’intervalle entre les deux hommes diminue. Arrivée à ce point du récit qui, d’ailleurs, clôt un chapitre, la femme interrompt sa lecture. Sans doute l’air qui pénètre par la fenêtre ouverte sur le ciel noir apporte-t-il maintenant un peu de fraîcheur, car elle a tiré à demi sur elle le drap du dessus qui couvre ses jambes, son ventre, sa poitrine, et dont ne dépassent que ses épaules et les deux bras nus. L’un de ses doigts bagués glissé entre deux pages à l’endroit où elle en est restée, elle tient le livre à plat sur le lit, le titre contre le drap, la quatrième page de la couverture où s’étalent les titres des autres ouvrages de la collection seulement visible. […] (T, 126f.) Angesichts dieses erneuten Einschnitts stellt sich die Frage nach dem Realitätsstatus dieser Episode innerhalb der fiktiven Welt: Bei ihr handelt es sich nun nicht mehr um den Bericht eines unbekannten Erzählers, sondern ‚bloß’ um einen Film, den eine unbekannte Wahrnehmungsinstanz in einem Kino sieht; auf diese Weise erhält die Handlung um das Paar in der Sackgasse einen innerfiktional fiktiven Status. Darüber hinaus klärt der Text nicht darüber auf, ob die Frau einen Roman liest, der die Geschichte des Liebespaares an der Backsteinmauer in einer medial unvermittelten Form präsentiert, oder ob dieser Roman paradoxerweise denselben Film über das Paar erzählt, der zu Beginn der zitierten Handlungsfolge an einem unbekannten Ort vorgeführt wird. 35 Mit anderen Worten: Stellt der Film über das Paar in der Sackgasse eine Verfilmung eben des Romans dar, den die Schauspielerin im Begriff zu lesen ist, oder beinhaltet dieser fiktive Roman selbst eine paradoxe Verschachtelung der Erzählsituation im Sinne eines ‚Films im Buch’? 36 Indes besitzt die zitierte Textstelle eine gewisse metafiktionale Implikation, da erneut ein Teil der Handlung - die Ereignisse um das Paar in der Sackgasse -, der zunächst innerhalb der fiktionalen Welt als Gegenstand eines ‚realen’ Berichts eines Erzählers galt, sich plötzlich als fiktiv im Sinne von ‚erfunden’ und ‚nicht-wirklich’ offenbart. Der sich an den zitierten Abschnitt anschließende Text präsentiert den mutmaßlichen Liebhaber der Frau in der Côte d’Azur-Fiktion: Assis ou plutôt enfoncé dans un fauteuil auprès d’un petit guéridon, l’homme au complet sombre, au gilet toujours strictement boutonné en dépit de la chaleur, tient d’une main le combiné à hauteur de son oreille droite. Il est penché en avant, dans une posture qui trahit une certaine tension, […] le coude droit appuyé sur la cuisse droite, le visage incliné vers la moquette rouge et presque tout entier dans l’ombre d’où saille à peine l’extrémité de son nez plat. Il semble que l’artiste s’y soit repris à plusieurs fois avant de se satisfaire de l’état final de son 35 Auch J.A.E. Loubère hält den Film über das Paar in der Sackgasse für die Verfilmung des Romans, den die Schauspielerin im Begriff zu lesen ist. (J.A.E. Loubère: „Triptyque.“ (1975), S. 209. 36 Zu dem Status der Fiktion um das Paar in der Sackgasse als Handlung eines Romans vgl. T, 216f. <?page no="267"?> 267 travail, ayant peint d’abord le visage tourné vers la droite (c’est-à-dire vers le petit guéridon où est posé le socle du combiné), comme en témoigne un profil raclé au couteau (ou peut-être ne convient-il de voir dans cette tache plate, où la couleur du mur resurgit, à peine altérée par la couche de peinture grattée, et d’ailleurs plus grande que la tête elle-même, que l’ombre de celle-ci projetée par une lampe basse située sur la gauche du personnage), puis, une seconde fois, dans sa position définitive, c’est-à-dire de trois quarts, la face baignant dans une demi-teinte violacée. […] (T, 127f.) Hier erfolgt erneut ein Bruch in der Kontinuität des Erzählens: Die Beschreibung des sitzenden und telefonierenden Mannes erweist sich nun als ein Gemälde, das von einer unbekannten Wahrnehmungsinstanz beschrieben wird. 37 Allerdings scheint der nicht näher bestimmte Betrachter des Bildes nicht um ein umfassendes, auktoriales, Wissen zu verfügen, da er auf Vermutungen über die Bedeutung einzelner Bestandteile des Gemäldes zurückgreifen muss: Sind bestimmte wahrnehmbare Veränderungen in der Komposition von vorneherein beabsichtigt gewesen oder erst nachträglich eingefügt worden? Viel wichtiger in diesem Zusammenhang ist jedoch die Frage nach der Beziehung zwischen der Gemäldebeschreibung einerseits und der vorangegangenen Handlungsszene andererseits. Sollte diese auch Teil des Gemäldes sein, so dass es sich bei der vorangegangenen Szene um die paradoxe Belebung einer Gemäldebeschreibung handelt, oder bildet das Bild nur zufällig Teile der vorher beschriebenen Handlung ab? Auch hier bleibt der Text die Antwort schuldig und die von ihm produzierte Ambivalenz unaufgeklärt. Das beschriebene Gemälde lässt sich darüber hinaus auch im Hinblick auf eine metafiktionale Inszenierung von Künstlichkeit interpretieren, da es einen Teil der Handlung, der in dem vorangehenden Textabschnitt noch nicht eindeutig als Film definiert wurde, innerhalb der Fiktion als mediale Repräsentation einer fiktiven Wirklichkeit aufdeckt. Im Anschluss erfolgt ein erneuter Wechsel - das Gemälde scheint sich zu ‚beleben’ -, bis die Beschreibung des statischen Gemäldes schließlich erneut in eine Handlung übergeht: Lorsqu’il change de position, la lumière crue du plafonnier glissant sur le visage révèle, en noir et rose, les traits lourds, fatigués, tandis que par un réflexe irraisonné il tourne la tête vers le support du combiné, comme pour mieux faire face à son interlocuteur invisible, les traits du visage soudain projetés en avant, le regard toutefois en retrait, fixe, comme ailleurs, à la fois vide et acéré […] (T, 128). Schließlich erklärt sich auch diese paradoxe ‚Animation’ der Deskription: Die abgebildete Szene erweist sich als Teil eines Films; die erneut beschriebene Frau und der Mann sind Schauspieler: 37 Vgl. ebenso die ‚Verwandlung’ des Films über die alte Frau und ihre Hasen in ein Gemälde (T, 160f.). <?page no="268"?> 268 Sortant une jambe de sous le drap et l’étirant, la femme atteint de son orteil la porte, pourvue d’une glace, de l’armoire située près du lit et la fait pivoter sur ses gonds jusqu’à ce que dans l’étroit rectangle délimité par les deux côtés verticaux apparaisse la tête couperosée [de l’homme ; S.Z.], vue maintenant en profil perdu, […]. Dans son mouvement tournant, la glace a reflété pendant une fraction de seconde la pénombre du studio où dans un camaïeu brun est apparue la forme noire de la caméra de prises de vues aux yeux multiples, ses tambours, son socle, ses câbles, et les visages attentifs quoique imprécis des techniciens de l’équipe massés derrière elle. (T, 128f.) 38 Der kurze Hinweis auf die Repräsentationsform ‘Film’ findet sich in einem ‘Bild im Bild’, denn die Filmkamera wird kurz von dem Spiegel der sich hin- und herdrehenden Schranktür erfasst. Die Kamera verweist metafiktional auf die Produktionssituation der Fiktion - in diesem Fall des Films - und legt auf diese Weise die Artifizialität der Handlung offen. Der nächste Bruch in der Erzählung ist zwar immer noch überraschend, dafür aber erstmals erzähllogisch plausibilisiert, da der Film nun in die Vorführsituation des Kinos eingebettet ist: L’appareil de projection vétuste fait soudain entendre un cliquetis anormal tandis que, sur l’écran, le visage collé au combiné passe par saccades d’une position à l’autre, comme une série de plans fixes, à partir de la position initiale de la tête vue d’abord presque de dos, puis en profil perdu, puis de profil, puis de trois quarts, une nouvelle tempête de sifflets, de protestations et de cris d’animaux s’élevant dans la salle, s’apaisant presque aussitôt, empêchant toutefois de saisir les paroles qui s’échappent des lèvres, le visage maintenant de face, la projection reprenant normalement, la main droite reposant le combiné sur son support, […]. (T, 129) Allerdings findet sich kein Hinweis darauf, um welche der beiden Vorführsituationen es sich handelt: ob um das Kino in der nordfranzösischen Stadt oder um die zum Kinosaal umfunktionierte Scheune in dem Dorf. 39 Im ersten Fall entstünde ein neues Paradoxon und die Einbettung der Szenen würde sich wie folgt darstellen: Die Handlung um das Paar in der Sackgasse, die selbst ein Film ist, findet sich zugleich in einem Buch, das die Schauspielerin in dem an der Côte d’Azur spielenden Film liest. Und der an der Côte d’Azur spielende Film wiederum wird in dem Film über das Paar in der Sackgasse gespielt. 40 38 Mit ihrem ‚Auge’ spielt auch die Filmkamera auf den überall im Roman präsenten voyeuristischen Blick an. 39 Es muss allerdings bedacht werden, dass nur wenige Seiten später eine Filmvorführsituation eindeutig bestimmt wird: Es handelt sich hierbei um das Kino in der nordfranzösischen Industriestadt, so dass der Schluss nahe liegt, dass es sich bei dem zuerst nicht näher lokalisierten Ort der Filmprojektion ebenfalls um dieses Kino handelt (Vgl. T, 131f.). 40 Der sich an das Zitat anschließende Abschnitt liefert eine Beschreibung der Filmszene, in welcher die Frau von den mit Erfolg gekrönten Bemühungen des Mannes um die Freilassung ihres Sohnes aus der Haft erfährt (T, 129f.). <?page no="269"?> 269 Doch erfolgt unvermittelt ein neuer Einschnitt in den discours; wieder wird die Produktionssituation des Kinofilms aufgegriffen, dieses Mal jedoch explizit: […], la voix du metteur en scène criant alors Coupez, et les lumières des projecteurs s’éteignant les unes après les autres sur les passerelles invisibles dans les ténèbres des cintres qui se referment peu à peu. […] Lorsque les rampes des projecteurs se rallument l’une après l’autre, l’appareil de prises de vues a été roulé en avant et dans le viseur s’encadrent en gros plan la tête, le buste et les bras de la femme qui feuillète en arrière (sans doute à la recherche d’un passage mal lu ou d’un détail auquel elle n’avait pas suffisamment prêté attention) le livre dont, un peu plus tôt, elle a interrompu la lecture. (T, 130) 41 Auch bei diesem Einschnitt bleibt die Hierarchie der verschiedenen Szenarien im Ungewissen, zumal die neu einsetzende Handlung im Filmstudio nicht in Raum und Zeit verortet werden kann. Insbesondere führt die bereits beschriebene Verschachtelung der verschiedenen Handlungsszenarien dazu, dass die Produktionssituation des Films innerhalb der Narration in keinem logischen Verhältnis mit den drei anderen Repräsentationsformen - dem Film selbst, dem Gemälde sowie der Filmvorführung im Kino - steht. In einer kreisförmigen Bewegung treffen die verschiedenen eingebetteten Szenen zuletzt wieder am Ausgangspunkt ein: La sonnette annonçant le début imminent de la séance s’est tue depuis quelques instants quand parvient du dehors le tapage de deux voitures qui semblent se poursuivre […]. (T, 131f.) Es handelt sich bei diesem Zitat, chronologisch gesehen, um den Beginn derjenigen Handlungssequenz, die in der Kneipe der nordfranzösischen Industriestadt spielt: zeitgleich mit dem Beginn der Filmvorführung im Kino treffen die jungen Leute um den Bräutigam vor der Kneipe ein. In der Folge wird sich der Liebesakt zwischen ihm und der Kellnerin vorbereiten, der wiederum vom Ton des Kinofilms über das Paar an der Côte d’Azur, der aus der Belüftungsklappe nach außen dringt, untermalt wird. Die multiplen Metalepsen lassen sich nun wie folgt beschreiben: Die zunächst innerfiktional als ‚real’ geltende Episode um den Liebesakt in der Sackgasse (A) erweist sich als Film (B), über den die nackte Frau auf dem Bett einen Roman liest (C); allerdings entpuppt sich diese Szene wiederum als Gegenstand eines Gemäldes (D). Dieses belebt sich in der Folge paradoxerweise und wird zu einem Film (E), der einerseits in einem zunächst nicht näher bestimmten Kino (X) und andererseits im Entstehen begriffen (Y) gezeigt wird. Zuletzt schließt die Narration an ihren Ausgangspunkt an 41 Interessant ist hier auch die metanarrative Spiegelung des realen Lesers in der Figur der Schauspielerin: Auch der außertextuelle Leser nimmt ebenfalls den Roman in seiner Materialität wahr, wenn er das Buch auf der Suche nach einer bestimmten Passage durchblättert. <?page no="270"?> 270 und der Beginn der Vorführung des Films über das Paar an der Côte d’Azur (E) wird in dem an die Sackgasse angrenzenden Kino gezeigt (A). Abbildung 16: Multiple Metalepsen in Triptyque (S. 125-132) Die besondere metafiktionale Funktion dieser mehrfachen Metalepsen besteht zum einen darin, den Status auch der binnenfiktionalen ‚Realität’ unsicher werden zu lassen: Innerhalb der fiktionalen Welt wird nicht mehr auf eine binnenfiktionale ‚Realität’ referiert, sondern nur noch auf verschiedene Formen ihrer künstlichen - medialen - Repräsentation. Zum anderen erscheint der Text als Paradoxon; er lässt sich weder als Darstellung einer innerfiktionalen Realität lesen, noch als diejenige einer möglichen äußeren, extratextuellen, Wirklichkeit. Zuletzt soll noch ein weiterer, auffälliger Widerspruch im Handlungsgefüge des Textes vorgestellt werden; es handelt sich dabei um die fehlende Verankerung der ‚ländlichen Fiktion’ in einem festen Raum-Zeit- Kontinuum. Während die intermediale Vermittlung der beiden anderen Fiktionen mehr oder minder eindeutig aufgelöst wird, 42 ist die sichere Einordnung der Handlung um das Paar in der Scheune in ein festes Raum- Gefüge schwierig. Im Vergleich zu den anderen beiden histoires erfolgen die Hinweise auf eine mediale bzw. filmische Vermittlung dieser Handlungssequenz erst recht spät: Erst nach einem knappen Drittel des Texts 42 So handelt es sich bei der Geschichte um das Paar an der Côte d’Azur um einen ‚Film’, der von den Zuschauern sowohl in dem Scheunenkino als auch in dem nordfranzösischen Kino gesehen wird; auch die in der nordfranzösischen Industriestadt angesiedelte Geschichte ist Gegenstand eines Films und darüber hinaus auch noch eines Romans, den die Schauspielerin des Films liest. A B C D E X Y E A <?page no="271"?> 271 erscheinen Elemente der Episode um das ertrunkene Kind erstmals auf einem Filmplakat, das den Film in dem nordfranzösischen Kino ankündigt (T, 65f.). Einige Seiten später erscheint die dörfliche Szene in Form einer langen Filmeinstellung von der Nahaufnahme zur Totalen: Die Kamera, die zunächst noch voyeuristisch durch den Spalt der Scheunenwand hindurch das Liebespaar beobachtet, zieht sich nun scheinbar immer weiter zurück, bis - angefangen bei der Rückansicht der beiden in die Scheune lugenden Jungen - zuletzt das Dorf in einer Gesamtschau zu sehen ist (T, 90f.). An anderer Stelle erweist sich auch die alte, mit einem Strohhut behütete Frau „à la mâchoire de chien“ als Figur eines Films - der Leser erlebt sie beim Füttern ihrer Hasen, von denen sie zuletzt einen vermutlich zum Schlachten auswählt (T, 160-164). Kurz vor dem Ende des Romans tritt auch das Paar in der Scheune als Protagonisten eines Films auf, der jedoch plötzlich reißt und Mann und Frau auf der Leinwand mitten in der Bewegung erstarren lässt (T, 194f.). Als die Beschreibung der Handlung fortgesetzt wird - der Film ist zwischenzeitlich unter Auslassung einiger beschädigter Einzelbilder repariert worden - findet sich kein Hinweis auf den Ort der Vorführung des Films; es könnte sich bei diesem demnach entweder um einen unbekannten dritten Ort oder um die zum Kino umfunktionierte Scheune bzw. um das Kino in der nordfranzösischen Stadt handeln. Da jedoch in den beiden letzteren jeweils der Film über das Paar an der Côte d’Azur zur Aufführung gelangt, liegt der Schluss nahe, dass es sich um einen unbekannten, dritten Ort handelt. 43 Diese Opazität des Textes - die fehlende Auflösung der Rahmensituation, in welcher der Film über die Ereignisse in dem zentralfranzösischen Dorf gezeigt wird - lässt sich ebenfalls als metafiktional fungierende Metalepse interpretieren: Ein zunächst als binnenfiktional ‚real’ präsentierter Teil der Handlung erweist sich plötzlich als Gegenstand eines Films - diese paradoxe ‚Metamorphose’ der Fiktion stellt einen metaleptischen Kurzschluss zwischen den ontologischen Ebenen ‚binnenfiktional real’ und ‚binnenfiktional fiktiv’ dar. Auf diese Weise wird die Irrealität eines Teiles der Fiktion offengelegt und durch die unmögliche Einordnung dieses Teiles in eine eindeutig identifizierbare Rahmenhandlung der ambivalente Eindruck noch verstärkt. Der Realitätsstatus des Films über das Dorf wird immer fragwürdiger, weil er mehreren möglichen Aufführungsorten und damit letztendlich keinem eindeutig zuzuweisen ist: Es scheint durchaus plausibel zu sein, dass der Film über das Dorf in dem Dorf selbst zur Aufführung gelangt und dazu noch parallel zu den von ihm repräsentierten Ereignissen selbst; auf diese Weise wird die Verschachtelung vollends 43 Vgl. T, 33-37, 48, 50-53, 57-60, 61f., 99f., 100-104, 129f., 137-139, 223-225. Allerdings nur, wenn die Einheit der Handlung vorausgesetzt wird: Die Zeit des Erzählens umfasst in diesem Fall also allein die Vorführung der beiden erwähnten Filme. <?page no="272"?> 272 unmöglich und unwahrscheinlich. Die Fiktion bzw. Teile von ihr sind nicht mehr in einen konsistenten, handlungslogisch plausiblen Zusammenhang zu integrieren und werden stattdessen in ihrer Künstlichkeit enthüllt. Abschließend soll nach der Funktion der paradoxen medialen Vermittlung der verschiedenen Fiktionen sowie der multiplen metaleptischen Rahmenbrüche zwischen den ontologischen Ebenen der innerfiktionalen Realität und Fiktion gefragt werden. Für beide Verfahren gilt, dass Teile der Fiktion, die zunächst als innerfiktional ‚real’ präsentiert wurden, sich in der Folge als medial vermittelt und damit als künstlich erweisen; sei es, dass sie Gegenstand eines Films, eines Gemäldes oder eines Puzzles sind. 44 Die Ereignisse der jeweiligen Fiktion haben also - auf der innerdiegetischen bzw. innerfiktionalen Ebene - nicht ‚wirklich’ stattgefunden, sondern sind von einem unbekannten Regisseur bzw. Drehbuchautor oder Maler erfunden. Es wird also auf den besonderen Status eines Kunstwerks im Vergleich zur der von ihm repräsentierten ‚realen’ Welt verwiesen: Dieses Kunstwerk ist zum einen von der Hand des Künstlers gemacht - es ist ein Artefakt und damit künstlich im Sinne von ‚gemacht’ - und zum anderen präsentiert es nicht das Abbild einer zugrundeliegenden Realität, sondern nur eine Nachahmung derselben mit seinen eigenen Mitteln. Darüber hinaus ist der Gegenstand des Kunstwerks fiktiv im Sinne von lebensweltlich ‚nicht-real’ und dies auch innerhalb der Welt des Romans. 45 Für die beschriebenen komplexen Formen der Metalepse gilt darüber hinaus, dass die Referenz der jeweiligen Handlungssequenzen auf eine zugrundeliegende innerfiktionale Realität bis auf einige Spuren letztendlich unmöglich wird. Die Verschachtelung der jeweiligen medialen Repräsentationsformen lässt keine Sequenz als diejenige hervortreten, die innerfiktional ‚real’ wäre und welche die jeweiligen Beschreibungen der verschiedenen Repräsentationsformen in Form einer Rahmenhandlung beinhalten würde. Der Text erscheint dadurch als auto-referentiell bzw. als pure fiction - als „story [which] originates in itself”. 46 Auch von der Forschung zu Triptyque wird gemeinhin die These vertreten, dass durch diese spezielle Poetik der vielfachen metaleptischen Rah- 44 So auch J.A.E. Loubère: „Announcing the World: Signs and Images at Work in the Novels of Claude Simon.“ (1981), S. 126. 45 So weist auch W. Wolf in seiner Studie zur Ästhetischen Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst diesem „Spiel mit ‚variablen Realitäten’“ die Funktion einer „metafiktionalen Reflexion des ontologischen Status des Kunstwerks und einer erkenntniskritischen Infragestellung des Konzeptes einer ‚objektiven’ Realität’“ zu. (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 402.) 46 Vgl. zu der Diskussion der These von Triptyque als ‚pure fiction’ M. Andrews: „Formalist Dogmatisms, Derridean Questioning, and the Return of Affect: Towards a Distributed Reading of Triptyque.“ (1987), S. 40. <?page no="273"?> 273 menbrüche der Text das Ziel verfolge, die Illusion einer Wiedergabe von Wirklichkeit zu zerstören. So weist S. Sykes früh darauf hin, dass die in Triptyque wiederholt praktizierte Auflösung der Grenzen zwischen den verschiedenen Repräsentationen genauso wie die zwischen scheinbarer innerfiktionaler Realität und Fiktion sich gegen die traditionelle Stabilität der verschiedenen Ebenen im realistischen Roman richte und stattdessen ein Konzept unablässiger mouvance postuliere. 47 In diesem Zusammenhang beschreibt R. Sarkonak das für Triptyque typische Verfahren des „textual framing“ - von mir definiert als ‚Metalepse’: This occurs when a scene which one supposes to be real is ‘captured’ by a mimetic form, for example, the scene is transformed into a film, a poster, a book, and so on, which belongs to another one of the narrative sets. The effect is a retroactive subversion of the illusion of reality. 48 Diese ‘Untergrabung’ der Realitätsillusion gestaltet sich laut Sarkonak derart, dass kein Teil der Fiktion ‚sicher’ im Sinne von ‚real’ ist. 49 Vielmehr erteile der Roman dem Leser eine Lektion über die Beziehung der Kunst zur Wahrhaftigkeit, wenn der Text sich selbst als ein Produkt menschlichen Schaffens enthüllt, als ein Kunstwerk mit eigenen Regeln, aber auch eigenen Freiheiten. 50 Neben den beschriebenen ‚Metamorphosen’ von innerfiktional Realem in innerfiktional Fiktives findet sich in Triptyque auch die Verwandlung von zunächst unbelebten, als fiktiv präsentierten, Gemäldeszenarien in belebte, narrativisierte Szenen mit scheinbar innerfiktional ‚realem’ Inhalt: der Text gleitet hier von einem deskriptiven in einen narrativen Modus und die jeweilige Deskription wird zum Generator von Handlung bzw. von Fiktion. 51 Diese paradoxe Grenzüberschreitung ist insbesondere im Zusammenhang mit der bisher noch nicht näher betrachteten Zirkusszene zu beobach- 47 S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 169. 48 R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 153. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 155f. Auch J.A.E. Loubères Interpretation von Triptyque weist in diese Richtung; er betont, dass in Simons Roman gerade die Erinnerung an den Schreibakt sowie an die Distanz zwischen der geschriebenen und der realen Welt ständig aufrecht gehalten werde (J.A.E. Loubère: „Triptyque.“ (1975), S. 223.). 51 M.-L. Ryan: „Allegories of Immersion: Virtual Narration in Postmodern Fiction.“ (1995), S. 266, spricht in diesem Zusammenhang von „animated pictures“ bzw. von „frozen gestures“, deren Beschreibung eine „embryonic narration“ erzeuge. Vgl. ebenso E. Kafalenos: „Image and Narrativity: Robbe-Grillet’s La Belle Captive.“ (1989), S. 375, und B. McHale: Postmodernist Fiction. (1987), S. 117f. <?page no="274"?> 274 ten, die zu Beginn des Romans zunächst allein als mediale Repräsentation in Gestalt eines der Plakate an der Scheunenwand eingeführt wird: 52 Les bas de la fille sont d’une couleur noisette, cuivrée, s’arrêtant à mi-cuisse. Le pan de chair dévoilé (les deux visages sont maintenant invisibles, celui de la fille caché par la tête de l’homme qui l’embrasse dans le cou, aux trois quarts enfouie dans les boucles cuivrées l’affichiste ayant utilisé la même couleur pour les bas et les cheveux) constitue la seule note claire dans l’ensemble de couleurs sombres (noir, rouge violacé des briques du mur, fumées ou nuages obscurs) que découvre le pan décollé de l’affiche du cirque. Une immense tête de clown emplit tout entière une autre affiche (en hauteur celle-là) collé bord à bord contre celle qui représente le dompteur aux bottes brillantes au-dessus duquel bondissent les tigres. (T, 21; Hervorhebung S.Z.) Während hier die Trennung zwischen - innerfiktionaler - Realität und Fiktion zunächst noch relativ eindeutig ist, 53 verschwimmt die Grenze zwischen den beiden Ebenen bereits einige Seiten später: Sur le visage pathétique du clown sculpté par la lumière blafarde du projecteur la sueur délaye le blanc gras du maquillage qui luit sur ses tempes et ses joues. A l’arrière-plan, dans l’ombre, on distingue vaguement les rangées des bustes des spectateurs assis sur les gradins circulaires et étagés formant comme un vaste entonnoir. La sciure mouillée de la piste est de la même couleur que les bas noisette et la chevelure de la fille adossée au mur de briques. […] Le pourtour de la piste fait de caissons badigeonnés de blanc à la base desquels les sabots des chevaux ont laissé des marques brunes dessine un cercle parfait. […] (T, 23) Insbesondere die Verwendung der Zeitform des présent in Verbindung mit dem passé composé im letzten Satz der Beschreibung lässt eine Handlungsabfolge erahnen, die schließlich innerhalb der Welt des Romans Wirklichkeit wird: Dans la lumière éblouissante du projecteur le clown au visage barbouillé de couleurs violentes pénètre sur la piste d’une démarche grotesque de canard. De sa bouche agrandie de rouge s’échappent des sons rauques, un peu effrayants, comme amplifiés par un haut parleur, proches de ces cris inarticulés et sauvages qui retentissent parfois dans les jardins zoologiques, poussés dans leurs cages par quelque oiseau exotique ou des singes irascibles. Un frisson de rires mêlés d’un vague d’effroi court dans l’ombre à la surface de l’entonnoir où s’étagent les rangées de spectateurs. D’impalpables paillettes de poussière tournoient en scintillant dans le pinceau blafard du projecteur. […] (T, 33) 52 Auf ähnliche Weise wie die Zirkusszene wird jedoch auch die Szene um das Liebespaar in der nordfranzösischen Industriestadt wiederholt in ihrem Realitätsstatus gebrochen: Auch sie erscheint zunächst eindeutig als Filmplakat, um sich in der Folge zu ‚beleben’, vgl. T, 14, 19, 21f., 23, 25f., 30f. etc. 53 Eine paradoxe Ausnahme stellt das Zeitadverb „maintenant“ dar, das eine Ereigniskette impliziert. <?page no="275"?> 275 Die ursprüngliche Vermittlungssituation des Plakats tritt völlig in den Hintergrund; die Szene um den Clown präsentiert sich nun als eigenständige Fiktion, die innerhalb der erzählten Welt vorgibt, ‚real’ zu sein. 54 Doch stellt sich im weiteren Verlauf des Romans zunehmend die Frage nach dem tatsächlichen Realitätsstatus der Zirkusfiktion: Die Belebung der Szene scheint immer auf die Beschreibung des Zirkusplakats zu folgen bzw. umgekehrt scheint sie einer Beschreibung des Plakats voranzugehen: Le mur de la grange couvert d’affiches fait une tache bariolée et criarde dans la verdure, presque à la lisière du bois. Malgré l’éloignement, on peut distinguer, faisant pendant au visage monumental du clown, de l’autre côté de la piste où le dompteur affronte les tigres, une tête de lion de deux mètres de haut environ et d’un roux fauve, qui rugit en secouant sa crinière brune. […]. Plus haut, le nom du cirque est écrit en grandes lettres bleues qui entourent en demi-cercle le chapeau verdâtre du clown. Plus fort que la musique qui joue en sourdine on peut parfois entendre, venant du dehors, des feulements et des rugissements de fauves. […] Toujours emprisonné dans les pinceaux éblouissants des projecteurs, blanc pour les lumières, vert jade pour les ombres, et dont les sections elliptiques se déplacent sur la piste en même temps que lui, le clown au visage enduit de blanc gras et de vermillon sur lequel brillent les ruisselets de sueur s’affaire maladroitement avec une échelle. […] (T, 76f.) 55 Der Übergang zwischen der Repräsentation der Zirkusszene auf einem Plakat und ihrer Belebung als eigenständige Fiktion geschieht unmerklich; Signale, die auf eine Handlungsabfolge hinweisen, sind insbesondere die Verben der auditiven Wahrnehmung wie „entendre“, die durch das Adverb „parfois“ abgetönt werden, sowie die verschiedenen Verben im présent, die zeitlich andauernde Handlungen vermitteln. 56 Im dritten Teil des Romans stehen die mediale Vermittlungssituation des Zirkusplakats und die Belebung der Szene zunehmend unverbunden nebeneinander: Die Fiktion scheint sich von ihrer ursprünglichen Rahmenhandlung abgekoppelt zu haben und ist nun eigenständig geworden: […] Le bouquet de noisetiers isolé en avant de la lisière des bois cache la partie inférieure de la paroi de la grange où sont collées les affiches du cirque. Dans la lumière aveuglante des projecteurs et provoquant un murmure émerveillé qui court sur les gradins, une apparition à l’aspect fabuleux s’avance à la rencontre du clown aux vêtement grotesques. Le personnage est chaussé de fines ballerines blanches, ses mollets sont gainés de bas blancs, son costume d’une seule pièce à la culotte bouffante et qui moule étroitement son torse est fait d’une soie blanche et son visage enduit d’une couche de blanc est surmonté d’une calotte de feutre blanc, en forme de cône, penchée sur une oreille. A chacun de ses mouvements les paillettes de son costume, sa main poudrée et chargée de bagues, ses paupières même, enduites d’un fard brillant, couleur de jade, jettent 54 Ebenso T, 49f. 55 Vgl. ebenso T, 107-110. 56 Fortsetzung der Zirkusfiktion auf den Seiten 87f., 107-110. <?page no="276"?> 276 des feux à l’éclat minéral et irisés, comme des topazes, des rubis et des améthystes. […] (T, 178) Die beschriebene Eigenständigkeit der Fiktion resultiert neben der Belebung der Beschreibung durch verschiedene Verben der Bewegung insbesondere aus dem Auftritt der auf dem Zirkusplakat selbst nicht repräsentierten Figur des Harlekins. Ferner lässt das quantitative Ungleichgewicht zwischen dem Text, der auf die Rahmensituation des Plakats verweist, und demjenigen, der die Fiktion darstellt, die ursprüngliche Rahmensituation schnell vergessen. Schließlich tritt diese vollständig zurück; die Zirkusfiktion steht nun scheinbar unvermittelt vor den Augen des Lesers. 57 Doch bleibt auch diese Präsentation der Zirkusszene als innerhalb der fiktiven Welt ‚reale’ Episode nicht stabil, sondern sie erweist sich paradoxerweise plötzlich zunächst als ein Film, der an einem unbekannten Ort vorgeführt wird, und dann als ein Gemälde („tableau“), das auf unheimliche und unerklärliche Weise Teile der etwas später beschriebenen Fiktion vorwegzunehmen scheint: La surface de l’écran est coupée dans le sens de la longueur par une bande blanche, légèrement bombée, qui la divise en deux parties inégales. La zone inférieure, la plus étroite, est de cet ocre foncé, presque marron, dont se teinte la sciure arrosée. Dans la partie supérieure, obscure, se dessinent, vaguement esquissées par une modulation de noirs, les bustes serrés des spectateurs. […] Un être bizarre progresse à quatre pattes, dans une posture simiesque, en équilibre sur la bande de velours. Devant le fond noir, ses bras nus et démesurément longs se détachent en rose dans la lumière des projecteurs qui fait ressortir aussi le gilet blanc, le pantalon gris clair et, coloré d’ombres vertes, le visage dont la chair semble à vif, sanguinolente, les traits grossièrement modelés dans une pâte molle comme une tragique ébauche abandonnée, à mi-chemin entre la bête et l’homme, bouffi de vagues excroissances. Des lèvres en boudins s’échappent, comme étouffés par un bâillon, des cris inarticulés. La partie droite du tableau est tout entière remplie, au premier plan, par le profil d’un visage entièrement recouvert d’une couche de blanc gras et de poudre où se détachent les paupières fardées de vert et la bouche aux lèvres minces étirées par un sourire qui laisse voir une langue de batracien, mauve. Sans doute tenue par la main invisible du personnage lunaire, une laisse de cuir sort du bas du tableau et va rejoindre un collier passé autour du cou de la créature mi-singe mis-homme qui progresse en équilibre sur l’étroite bande cramoisie. (T, 189f.) 58 57 T, 180f., 183f. 58 Es soll an dieser Stelle auch an die spezifische Funktion hybrider Kreaturen innerhalb der Poetik Simons erinnert werden. Ähnlich wie die „femme Centaure“ in La Route des Flandres (Vgl. RF, 52f. Auch de Reixach erscheint als „homme-cheval“; RF, 12, 51, 54, 69, 183) präsentiert auch die „créature mi-singe mi-homme“ in Triptyque die Metamorphose eines Menschen in ein anderes, drittes Wesen, das menschliche und tierische Züge in sich vereint. Interessanterweise spiegeln die verschiedenen Verwandlungen menschlicher Figuren in Simons Romanen die Verwandlung des Textes selbst wider bzw. seine hybride Verfasstheit; sie lassen sich daher als metanarrative Meta- <?page no="277"?> 277 Der Übergang zwischen den beiden Medien Film und Bild geschieht kaum wahrnehmbar; allein der Ausdruck „une pâte molle“ lässt bereits an die weiche Konsistenz dick aufgetragener Ölfarbe denken. Hier vollzieht sich nun die Rückverwandlung der fiktionalen Handlung in die ‚eingefrorene’ Repräsentation eines Gemäldes. 59 Der zitierte Abschnitt ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil er einen neuen Bruch in der Kohärenz der Zirkusfiktion markiert: Schien diese zuvor noch als paradoxe Belebung des an der Scheunenwand angeschlagenen Plakats interpretierbar zu sein, erweist sie sich nun als innerfiktional fiktive Episode, die sowohl von einem Film als auch von einem Gemälde präsentiert wird. Erstaunlich und beinahe unwahrscheinlich ist die große Ähnlichkeit zwischen den vier repräsentierten Varianten der Zirkusszene; sie wirft erneut die Frage nach dem besonderen Status der Handlung um die beiden Clowns auf: Hat sich diese tatsächlich innerhalb der fiktionalen Welt ereignet oder wurde sie von einer unbekannten Erzählinstanz imaginiert, die sich vom Anblick der Plakate hat inspirieren lassen? Bis zum Ende des Romans erscheint die Zirkusfiktion nun wieder unvermittelt vor den Augen des Lesers; jeglicher Hinweis auf eine besondere mediale Rahmung wie die eines Gemäldes oder Films fehlt. Die Episode um den Clown endet schließlich mit seiner Niederlage gegenüber dem Äffchen, das ihn einholen und ihm auf den Rücken springen kann. 60 Abschließend soll zunächst die Frage nach dem Realitätsstatus der Zirkusepisode eingehender untersucht werden: Handelt es sich bei dieser Handlungssequenz um innerfiktional ‚wirklich’ Stattgefundenes z.B. im Sinne eines im ländlichen Dorf ‚real’ stattgefundenen Zirkusgastspiels oder präsentiert diese Episode allein die Imaginationen einer unbekannten Erzählerinstanz? Ferner soll nach der Funktion der Zirkusszene innerhalb des Textes gefragt werden: In welchem Verhältnis steht diese Teilhandlung zu den anderen drei Fiktionen und in welcher Weise unterscheidet sie sich von ihnen? Und welche Auswirkungen hat die am Beispiel der Zirkusfiktion gezeigte Verwandlung von Handlung in verschiedene Repräsentationsformen und vice versa für die Realitätsillusion? In der Forschung zu Triptyque finden sich unterschiedliche Meinungen zu dem besonderen Status der Zirkusszene: Sie wird allgemein nicht als eigenständiger Handlungsstrang aufgefasst, sondern vielmehr als Teil der ländlichen Szenerie; mithin als dort tatsächlich stattgefundene Episode. 61 pher für die Poetik des Romans interpretieren: So soll im Falle von Triptyque der Terminus ‚Metamorphose’ zunächst auf die wiederholten Grenzüberschreitungen bezogen sein, die sich scheinbar innerfiktional ‚Reales’ in verschiedene Repräsentationen von (innerfiktionaler) Realität und damit in innerfiktional Fiktives verwandeln lassen. 59 Vgl. hierzu auch J.H. Duffy: „The artwork as Generator.“ (1998), S. 138. 60 T, 192, 194, 197-199. 61 So z.B. R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 149. <?page no="278"?> 278 Ihre Funktion besteht nach Ansicht der Mehrheit der Autoren entweder darin, einen parodistischen Kommentar zu den drei anderen Fiktionen zu liefern, 62 oder allein eine kompositorische, ausgleichende Funktion ähnlich einer Scheintreppe in der Architektur - „which like an ornamental stairway leads nowhere“ - zu besitzen. 63 Doch ist die These von dem abhängigen Status der Zirkusszene meines Erachtens nicht überzeugend, da im Text jeglicher Hinweis auf eine mögliche Einordnung der Episode in die im zentralfranzösischen Dorf spielende Handlung fehlt. Auch eine andere handlungslogisch nachvollziehbare Erklärung für die Präsenz dieser Sequenz wird vom Text nicht geliefert, so dass daher die Zirkusepisode als autonomer Handlungsstrang anzusehen ist, der nicht in der fiktiven Welt der anderen drei histoires verankert ist. Die Ereignisse um den Clown und seine Mitspieler mögen der Imagination eines unbekannten Erzählers entsprungen sein oder aber scheinbar unvermittelt als Spiegel wichtiger Motive und Themen der drei anderen Episoden fungieren; der Text selbst liefert keine Hinweise auf eine Verknüpfung zwischen der Zirkussequenz und den anderen drei Fiktionen. Die Zirkusszene präsentiert in doppelter Hinsicht einen metafiktionalen Kommentar: Da die im Zirkus spielenden Ereignisse im Gegensatz zu den drei anderen Fiktionen nicht in der fiktiven Realität verortet werden können, scheint es sich bei dieser Handlungsepisode um die Imagination einer unbekannten Erzählinstanz zu handeln, die durch die innerfiktional ‚realen’ Plakate an der Scheunenwand des mittelfranzösischen Dorfes ‚inspiriert’ wurde. 64 Andererseits greift die Zirkusszene auf unwahrscheinliche und nicht durch die Handlung plausibilisierte Weise Teile der anderen Fiktionen auf, die auf diese Weise durch den offen fiktiven Status der Zirkusfiktion kontaminiert werden. Daher liegt der Schluss nahe, dass so, wie die zwei Zirkusplakate die Fabulierlust eines unbekannten Erzählers angeregt haben, auch die anderen Handlungssequenzen durch verschiedene Repräsentationen generiert sein könnten. So findet sich im Falle der in Nordfrankreich spielenden Episode eine auffällige Parallele zur Genese der Zirkusfiktion: auch das Paar in der Sackgasse tritt aus dem zunächst noch begrenzenden Rahmen des Plakats förmlich in die fiktive Realität heraus. 65 Die Funktion der Zirkusszene ist demnach vorzuführen, wie aus dem unbelebten Medium des Plakats Handlung entsteht; die Plakate fungieren 62 M. Zupan i : „Érotisme et mythisation dans Triptyque et Les Géorgiques.“ (1997), S. 45. 63 M. Andrews: „Formalist Dogmatisms, Derridean Questioning, and the Return of Affect: Towards a Distributed Reading of Triptyque.“ (1987), S. 41. 64 Auch die durch die Medien ‚Film’ und ‚Gemälde’ repräsentierten Ereignisse im Zirkus werden nicht in der fiktiven Realität verankert: es finden sich keine Hinweise auf die Vorführsituation des Filmes bzw. auf den Ort der Gemäldebetrachtung. 65 T, 14, 19, 21f., 23, 25f., 30f. etc. <?page no="279"?> 279 in diesem Sinne als générateurs. 66 Wie die Beschreibung der anderen Plakate auch regt das Zirkusplakat einen Prozess der Fiktionalisierung an: ohne das Plakat hätten die beschriebenen Ereignisse im Zirkus nicht innerfiktional existiert. 67 Durch die auffälligen Parallelen zu den anderen drei Fiktionen enthüllt die Zirkusepisode darüber hinaus in Form eines metafiktionalen Kommentars anspielungsreich deren ebenfalls innerfiktional fiktive Entstehungssituationen. 68 Aus dieser Tatsache resultiert zuletzt auch ihre problematische Wirkung auf die Realitätsillusion: Bleibt diese zunächst noch solange intakt, wie die jeweiligen Filmplakate aus der Sicht einer unbekannten Erzählinstanz beschrieben werden, wird diese Illusion spätestens dann merklich beeinträchtigt, wenn die Beschreibung des statischen Plakats - handlungslogisch nicht plausibel - narrativisiert wird. Zuletzt zeigt sich, dass es in Triptyque, entgegen der ersten Annahme, weder eine stabile, den anderen Fiktionen hierarchisch übergeordnete innerfiktionale ‚Realität’ zu geben scheint, in welche die anderen Fiktionen eingebettet sind, noch eine identifizierbare zentrale Wahrnehmungsinstanz, aus deren Sicht die Plakate beschrieben werden. 69 In Triptyque existiert demnach keine übergeordnete ‚Wirklichkeit’, welche die verschiedenen Repräsentationen beinhalten könnte; vielmehr befinden sich die drei Fiktionen ‚Land’, ‚Stadt’ und ‚Meer’ in einem absoluten Gleichgewicht - eine jede von ihnen greift die beiden anderen jeweils in Form einer medialen Repräsentation auf und wird wiederum abgebildet. Jeder Anschein von ‚Wirklichkeit’ innerhalb der fiktionalen Welt des Romans erweist sich letztendlich immer als fiktiver Gegenstand einer medialen Abbildung, sei es ein Bild, ein Film oder ein (fiktionaler) Text. 70 Der 66 Auch J.A.E. Loubère verweist darauf, dass die Filmplakate als Generator von Geschichten fungieren, jedoch zugleich auch wieder Teile anderer Geschichten sind. (J.A.E. Loubère: „Announcing the World: Signs and Images at Work in the Novels of Claude Simon.“ (1981), S. 126. W. Wolf betont, dass u.a. die mangelnde Motivation der générateurs aus dem Kontext der histoire diese auf die Konstruiertheit der Geschichte verweisen lassen (W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993), S. 293.). 67 Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt auch L. Dällenbach in seiner Analyse der Bedeutung der Photographien in Simons Werk. (L. Dällenbach: Claude Simon. (1988), S. 110.) 68 So auch F. Jost: „[…] la description […] loin d’être une parenthèse dans la narration, lance et relance le récit.“ (F. Jost: „Simon, Topographies de la description et du texte [Triptyque].“ (1974), S. 1037.) 69 Vgl. hierzu auch J.H. Duffy: „The artwork as Generator.“ (1998), S. 140. 70 In diesem Sinne unterstreicht auch L. Dällenbach: „La fin des illusions totalisantes [Triptyque].“ (1977), S. 195, die Auflösung jeder „totalité non contradictoire“, die das Ergebnis der vielfachen und instabilen mises en abyme ist. Diesen paradoxen Typus nennt A. Macris auch „generative mise en abyme“ (A. Macris: „Claude Simon and the Emergence of the Generative Mise en Abyme.“ (2003), S. 51ff.). <?page no="280"?> 280 Roman dekonstruiert auf diese Weise den Authentizitätsanspruch realistischer Texte und legt die fiktionale Welt in Form einer metafiktiven Inszenierung als das offen, das sie ist: Fiktiver Gegenstand eines Textes ohne eindeutige Referenz auf eine außertextuelle Realität. 71 5.2.3 Die Entwertung der histoire durch Banalität, hypertrophe Deskription und zentrale Ellipsen Wie bereits ansatzweise in La Route des Flandres ist auch in Triptyque der Gegenstand des Erzählens, die Handlung bzw. die histoire, durch Banalität und Lückenhaftigkeit vor allem im Hinblick auf wichtige Ereignisse, die beim Erzählen elliptisch ausgespart werden, geprägt. Darüber hinaus ist ein quantitativer Rückgang der eigentlichen Handlung zugunsten umfangreicher, äußerst detaillierter Beschreibungen zu verzeichnen; dies bleibt nicht ohne Auswirkung auf die Qualität und Bedeutung der Geschichte. Bei dieser handelt es sich weniger um das Erzählprodukt eines klar erkennbaren Erzählers, sondern vielmehr um die Aufzeichnungen einer unpersönlichen Erzählinstanz oder gar einer Kamera. Die in Triptyque erzählten Geschichten zeichnen sich allgemein durch ihre Vorhersehbarkeit, einen fehlenden tieferen Sinn sowie durch ihre scheinbare Spannungslosigkeit - kurz: durch große Banalität - aus. So bleibt beispielsweise das Personal dieser Geschichten dem Leser suspekt, da detaillierte Beschreibungen ihres äußeren Aussehens, vor allem aber ihre Psychologisierung weitestgehend fehlen. Diese fehlende ‚Tiefe’ der Romanfiguren lässt sie als Statthalter, als bloße Variablen erscheinen und spielt auf diese Weise metafiktional mit den Konventionen realistischen Erzählens. 72 Am Beispiel der Fiktion um das Paar in der Sackgasse der flandrischen Industriestadt soll kurz die für die Geschichten in Triptyque typische Handlungs- und Bedeutungsarmut skizziert werden. Einen Großteil der Handlung, in deren Zentrum das Paar steht, nimmt die Schilderung der Ereig- 71 B. McHale: Postmodernist Fiction. (1987), S. 113f., rechnet Triptyque dem postmodernen Roman zu und konstatiert als Effekt der multiplen und paradoxen Metalepsen, „[…] that the fiction’s ontological ‚horizon’ is effectively lost.“ Auch W. Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. (1993). S. 402, wertet die durch die Metalepsen bewirkte „Verwischung“ zwischen innerfiktionaler Fiktion und ‚Realität’ als metafiktionale Reflexion des ontologischen Status des Kunstwerks sowie als erkenntniskritische Infragestellung einer ‚objektiven’ Realität. 72 W. Wehle weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Ziel derartiger Textkonstitutionsverfahren die Vereitelung einer realistischen Inszenierung von Wirklichkeit bzw. die Zerstörung der realistischen Illusion sei, da gewohnte „mimetische Raster“ wie Held, Handlung oder stimmige Psychologie nicht mehr erfüllt werden (W. Wehle: „Protheus im Spiegel. Zum „reflexiven Realismus“ des Nouveau Roman (statt einer Einleitung).“ (1980), S. 7f.). <?page no="281"?> 281 nisse in der Sackgasse ein - vor allem der erotische Akt an der Backsteinmauer -, der ausführlich beschrieben wird. 73 Daran schließt sich die Darstellung des durch die Trunkenheit des Bräutigams erschwerten Versuchs des Paares an, die Sackgasse zu verlassen und sich voneinander zu trennen; dies endet mit den Tritten und Schlägen des Mannes, der die ihm zu Hilfe eilende und ihm dadurch lästig werdende Kellnerin vertreiben will. 74 Zuletzt wird das Ende der Geschichte erzählt: die Begegnung der Kellnerin mit ihrem mutmaßlichen Liebhaber, dem Mann in der Lederjacke in der Bar, der sich sogleich an die Verfolgung des Nebenbuhlers macht. 75 In Form einer Analepse wird die Ankunft und der Aufenthalt der Hochzeitsgesellschaft in der Kneipe erzählt; ein Ereignis, das zeitlich mit dem Beginn der Filmvorführung in dem an die Sackgasse angrenzenden Kino zusammenfällt. 76 Eine weitere Analepse präsentiert im Anschluss die Fahrt der Hochzeitsgesellschaft im Laufe des Tages durch die Stadt auf dem Weg zur oder von der Kirche. 77 Unter Aussparung der gewalttätigen Begegnung zwischen dem Liebhaber der jungen Kellnerin mit den möglicherweise älteren Rechten und seinem Nebenbuhler wird schließlich die Ankunft des nun verletzten Bräutigams im für seine Hochzeitsnacht vorgesehenen Hotel dargestellt. 78 In einem elliptischen Sprung wird als nächstes das Hotelzimmer von innen gezeigt; der Bräutigam liegt nun nahezu vollständig entkleidet auf dem Bett und wird von der Braut beobachtet, die anfangs noch bekleidet am Fenster steht und sich schließlich ebenfalls entkleidet, um sich im Spiegel zu betrachten. 79 Die beiden Anachronien, die zum einen die abendliche Ankunft der Hochzeitsgesellschaft in der Kneipe sowie den vorangehenden Tag der Hochzeit zum Gegenstand haben, erfolgen scheinbar willkürlich und sind weder durch die Handlung noch durch das Erzählen motiviert. Die Handlung insgesamt scheint in ihrer narrativen Vermittlung nicht durch einen identifizierbaren Erzähler gestaltet zu sein, sondern sie präsentiert sich insbesondere aufgrund der häufigen, ausführlichen Beschreibungen als bloße Wahrnehmungen einer unbestimmten Erzählinstanz. Die verschiedenen Ellipsen im Erzählen verleihen der Handlungssequenz um das Paar in der nordfranzösischen Stadt trotz ihrer Ereignisarmut eine gewisse Spannung: So legen einige Andeutungen des Textes den Schluss nahe, dass sich Bräutigam und Kellnerin möglicherweise bereits kannten. 80 Auch die 73 Vgl. T, 19, 21f., 23, 25f., 30f., 32f., 48f., 52f., 56f., 60f. 74 T, 61f., 69-71, 99f., 104-107, 112-116. 75 T, 123-126. 76 T, 131-137, 146f., 154-156. 77 T, 165-170. 78 T, 184-187, 190-192. 79 T, 203-206, 208-213. 80 So betont der Text z.B. die Ausdruckslosigkeit auf den Gesichtern von Bräutigam und Kellnerin („Le jeune homme ne semble pas remarquer la porte ouverte de l’estaminet <?page no="282"?> 282 Aussparungen der Gewaltszene zwischen den beiden Männern und das rätselhafte Ende der Episode erzeugen einen Spannungsbogen, da „der Leser in Bezug auf seine evozierten Erwartungen in Unsicherheit oder Unwissen versetzt wird, die er auflösen möchte.“ 81 Doch sieht der Text eine Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht vor: es bleibt ungewiss, ob der Bräutigam tatsächlich von seinem Nebenbuhler malträtiert wurde bzw. ob die Braut ihren treulosen Ehemann verlassen wird. 82 Der erste Eindruck von Ereignis- und Spannungslosigkeit der Handlungssequenz um das Paar in der Sackgasse resultiert jedoch insbesondere aus den sich stereotyp wiederholenden Deskriptionen der immer gleichen feucht-fröhlichen Runde in der Kneipe. Diese sind noch unterbrochen bzw. ergänzt durch die langen Beschreibungen der städtischen Umgebung bzw. des Platzes vor dem Hotelfenster. 83 Wie bereits angedeutet wurde, finden sich in Triptyque zudem kaum detaillierte Beschreibungen 84 der Figuren bzw. ihrer psychologischen Verfassung; stattdessen werden sie häufig mit Ausdrücken wie „personnages“ oder „silhouettes“ und ihre Gesichter als „masques“ schemenhaft umrissen. 85 Die Sicht auf die Figuren erfolgt demnach vor allem von außen; allerdings nicht aus der außenperspektivischen Sicht eines allwissenden, et la fille au corsage rose […].“; „Le visage de la jeune femme debout sur le seuil de l’estaminet est dénué d’expression.“ (T, 169)), auch scheint der Bräutigam nicht ohne Grund bei der Ankunft in der Kneipe den Blick auf die Kellnerin vermeiden zu wollen („Le jeune marié évite de regarder la serveuse.“ (T, 134)) wie auch die Kellnerin selbst den Bräutigam zunächst nicht anblickt (T, 135). In dieselbe Richtung weisen auch die Kommentare des „boute-en-train“: „[…] allez les amoureux […]“ (T, 136). In der Sekundärliteratur wird ebenfalls überwiegend davon ausgegangen, dass sich Bräutigam und Kellnerin aus einer früheren Liebesbeziehung kennen (So z.B. M. Zupan i : „Érotisme et mythisation dans Triptyque et Les Géorgiques.“ (1997), S. 43; R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 149; S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 169.) 81 H.-W. Ludwig (Hg.): Arbeitsbuch Romananalyse. (1998), S. 164. 82 Ähnliches gilt auch für den vom Text nicht erwähnten Tod des kleinen Mädchens im Fluss sowie für den ausgesparten Liebesakt des Paares in der südfranzösischen Episode. 83 T, 25f., 62f., 69-71, 165-167, 205f., 208-210. 84 J.H. Duffy betont, dass Simon eine Anzahl von Verfahren verwendet „to curb the establishment of an ‘effet de réel’ and to direct the reader’s attention, away from the schematically outlined characters and the incidental plot, to the intricate formal patterns which underpin the text and which constitute its principal interest.” (J.H. Duffy: „The artwork as Generator.“ (1998), S. 137.) 85 Vgl. z.B. die Beschreibung der alten Frau in der Dorfszene als „silhouette noire“ (T, 48) oder als „silhouette courbée“ (T, 112), die des Paares in der Sackgasse als „deux silhouettes“ (T, 61, 105). Ebenso der „masque de ténor“ des Schauspielers an der Côte d’Azur (T, 51), der „masque de porcelaine“ der jungen Braut (T, 168) sowie der „masque de mouton“, der „masque livide“, der „masque lunaire“ bzw. „masque blême“ des untreuen Bräutigams. (T, 114, 184, 186, 191) Auch erinnert das stark geschminkte Gesicht des Clowns an die Masken der antiken Tragödie (T, 158). <?page no="283"?> 283 auktorialen Erzählers, sondern aus der eines gefühllos aufzeichnenden Kameraauges. 86 Dieser Eindruck einer künstlichen, theaterähnlichen Vermittlungssituation wird dadurch verstärkt, dass bestimmte Situationen direkt mit einem „spectacle“ oder mit anderen Aspekten aus der Welt des Theaters verglichen werden. 87 Die Funktion dieser banalen histoires besteht nun nicht wie im traditionellen Roman darin, eine komplexe, vorstellbare fiktive Realität zu schaffen, die das scheinbare Abbild einer äußeren, präexistenten Wirklichkeit ist, sondern vielmehr darin, besonders durch die wiederholten metafiktiven Verweise auf andere fiktive Realitäten - z.B. die des Films oder des Theaters - auch die eigene textuelle Welt in ihrer Artifizialität und Erfundenheit zu enthüllen. Zwar lassen sich noch Spuren einer extratextuellen Realität insbesondere in den detaillierten Beschreibungen der Landschaft erkennen, doch fügen sich diese nicht mehr zu einem kohärenten und konsistenten Ganzen zusammen, da sich immer wieder neu die Frage nach ihrem Realitätsstatus innerhalb der Fiktion stellt: Handelt es sich bei einer beliebigen Beschreibung um fiktive Wirklichkeit oder nur um die Repräsentation einer solchen in Form eines Films oder eines Bildes? Es lässt sich somit die These formulieren, dass der Roman Triptyque weniger das Ziel verfolgt, eine sinnhaltige Geschichte von Liebe und Tod bzw. von einer Welt jenseits des Textes zu erzählen, sondern vielmehr darum, den Leser metafiktional stets an die Künstlichkeit der vor ihm ausgebreiteten Wirklichkeit zu erinnern. 88 Die eigentliche Spannung resultiert daher nicht aus der Handlung selbst, sondern - wie J.H. Duffy anschaulich zeigt - aus dem Gegensatz zwischen der Konstruktion einer Geschichte und ihrer unmittelbar erfolgenden Subversion durch die multiplen metaleptischen Rahmenbrüche. 89 Auf diese Weise kommentiert der Text metafiktional nicht nur seinen eigenen Status als ein Artefakt, sondern ebenso auch denjenigen anderer Kunstwerke. Exemplarisch wird in Form einer metafiktiven Inszenierung vorgeführt, dass jede mediale Vermittlung von Realität nicht diese selbst repräsentiert, sondern stattdessen stets ein voll- 86 Vgl. hierzu die Überlegungen F.K. Stanzels zur unterschiedlichen Vermittlung der Innenwelt der Romanfiguren je nach dem Vorherrschen von Außen- oder Innenperspektive (F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens. (1991), S. 172.) 87 T, 62; z.B. „personnages de guignol“ (T, 46) ; „[…] comme brusquement tirée ou se rejetant dans la coulisse.“ (T, 49). 88 So auch A. Goulet: „Blind Spots and Afterimages: The Narrative Optics of Claude Simon’s Triptyque.“ (2000), S. 302f. und F. Jost: „Simon, Topographies de la description et du texte [Triptyque].“ (1974), S. 1037. Dagegen betont J.A.E. Loubère, dass die Banalität der in Triptyque erzählten Geschichten Simons Absicht verraten, einen Roman zu verfassen „[…] that could not be reduced to any realistic schema or pinned down to any definable time or space.“ (J.A.E. Loubère: „Triptyque.“ (1975), S. 199.) 89 J.H. Duffy: „The artwork as Generator.“ (1998), S. 136. <?page no="284"?> 284 kommen neues Produkt am Ende des Schaffensprozesses steht, das nur wenig mit der ursprünglichen Wirklichkeit gemein hat. 90 Neben der auffällig ereignisarmen, sinnentleerten histoire sieht die Forschung häufig Simons erzählerische Kraft in seinen Beschreibungen, die seine Romane zu „a prose poem“ werden lassen, dessen eigentlicher Protagonist „[…] language, with its infinite capacity for verbal resonances, distinctive rhythms, and erotic overtones […]“ sei: So enthalte Triptyque „[…] descriptions of natural phenomena and human beings that are as rich in beauty as the finest poetry in the language.“ 91 Im Folgenden soll die metafiktive Funktion hypertropher Deskription in Simons Roman dargestellt werden: diese überwiegt an Quantität die eigentliche Handlung um ein Vielfaches. 92 Häufig impliziert die detaillierte Beschreibung lebloser Objekte ihre Gleichrangigkeit mit den menschlichen Akteuren, wie es z.B. die Deskription der Liebesszene in der Scheune verdeutlicht: Der voyeuristische Blick der beiden durch den Spalt in der Scheunenwand spähenden Jungen nimmt nicht nur das Paar wahr, das sich durch einen optischen Trick dem Liebesakt auf der Zirkuspiste inmitten der Zuschauer hinzugeben scheint, sondern zugleich eine Reihe von für den Ackerbau notwendigen Gerätschaften. In diesem speziellen, durch landwirtschaftliche Motive geprägten Rahmen scheinen Mann und Frau keine menschlichen Lebewesen zu sein, sondern eher ein unbekanntes Tier: On dirait quelque animal invertébré au corps lisse, pourvu de membres multiples, de protubérances, et où des cavités violettes bordées de dents s’ouvrent par places, comme pour mordre, laisser passer un râle ou un cri. Les chevelures raides sont rejetées en arrière comme des crinières par les furieux mouvements qui agitent le couple. (T, 45) Die sich anschließende Beschreibung der verschiedenen Gegenstände in der Scheune greift Aspekte der ineinander verschlungenen, miteinander kämpfenden Körper des Paares auf: So besitzen die Düngersäcke „ventres gonflés“, die am Traktor haftenden „touffes d’herbe grise“ evozieren - ty- 90 Diese Interpretation sieht sich im Einklang mit der von Simon selbst vertretenen Poetik der Repräsentation: „[…] on n’écrit jamais quelque chose qui se serait passé (ou pensé) avant que l’on se mette à écrire, mais ce qui se passe (se pense) au présent de l’écriture.“ (C. Simon: „Attaques et stimuli (entretien inédit), réalisé le 22 février et le 30 mars 1987. [L. Dällenbach].“ (1988), S. 172.) 91 S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 145f. A. Goulet weist in ihrer Studie nach, dass in Triptyque insbesondere die Beschreibung visuell wahrnehmbarer Phänomene und somit der optische Modus vorherrschend ist. (A. Goulet: „Blind Spots and Afterimages: The Narrative Optics of Claude Simon’s Triptyque.“ (2000), S. 297.) 92 So auch S. Sykes: „Chez Simon, l’emploi du triptyque vise au triomphe d’un art tout descriptif […].“ (S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 175.) <?page no="285"?> 285 pisch für Simon - das menschliche Schamhaar und die „versoirs“ ebenso wie die „fers de bineuses“ lassen an Zähne denken. Ähnlich wie die menschlichen Protagonisten scheinen auch die nicht-menschlichen Gegenstände einen Kampf auszufechten bzw. ausgefochten zu haben; sie wirken wie mythische Fabelwesen. Doch sind nicht nur leblose Gegenstände den menschlichen Figuren in Triptyque ebenbürtig, auch die Welt der Tiere - und seien diese klein wie Insekten - spiegeln zentrale thematische Elemente aus den verschiedenen histoires: Les petites lumières qui dansent ça et là vont et viennent, se rapprochent, se séparent de nouveau, comme des lucioles, dérisoires au sein des ténèbres, de même que les appels, les voix aussitôt englouties sous le monotone fracas de la cascade et l’assourdissant grésillement des insectes en rut : les signaux obstinés, inlassablement relancés dans la paisible nuit d’août par des centaines de pattes rigides crissant avec frénésie sur les abdomens cuirassés, appelant sans trêve à d’aveugles, impérieux et éphémères accouplements. Dans les cônes lumineux des lampes […] apparaissent parfois, d’un vert cru, froid et artificiel, sur le fond d’encre qui les engloutit aussitôt, un instant révélées, brutalement extirpées hors de l’occulte conjuration de la nuit où l’on croit percevoir (plus bas, plus secret et pourtant aussi puissant que le bruit de la cascade ou celui des grillons) comme une sorte de palpitation, quelque chose d’aussi irrépressible que les appels de rut : la mystérieuse palpitation végétale (d’imperceptibles mouvements de feuilles, non sous l’effet de quelque souffle d’air, mais de ces lents déploiements, ces lentes torsions, comme si elles s’ouvraient, se rétractaient ou se refermaient au seul contact, ou plutôt accolement, des ténèbres), l’impérieuse et incessante circulation de la sève, les secrètes mutations de la matière, la multiple respiration de la terre nocturne. (T, 207f.) Der thematisch zentrale erotische Akt wiederholt sich auch in der Welt der Insekten, die dadurch der menschlichen Welt angenähert zu sein scheint. Umgekehrt zeigt sich die Vergänglichkeit und Flüchtigkeit der irdischen Existenz bei den Insekten noch eindrucksvoller als bei den Menschen, die ja ebenfalls durch den Liebesakt den Tod besiegen wollen. Insgesamt wird in dieser Textstelle die Natur in ihrer Allmacht vorgeführt: das zirkulierende Strömen des ‚Lebenssaftes’ ist den Menschen ebenso wie den kleinsten Insekten zu eigen; beide - Mensch und Tier - sind der Natur und ihrer zerstörerischen Kraft ausgeliefert. 93 Die Beschreibungen erfüllen hier die Funktion, die menschlichen Figuren der histoires und ihre Bedürfnisse in der Welt der Insekten zu spiegeln 93 Auch R. Sarkonak betont in diesem Zusammenhang, dass es sich bei der Erotik in Triptyque eben nicht um Pornographie handele, sondern diese stets die unpersönliche Macht der Natur verkörpere, der neben den Tieren auch die Menschen ausgeliefert seien. (R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 151.) Vgl. ebenfalls M. Zupan i : „Érotisme et mythisation dans Triptyque et Les Géorgiques.“ (1997), S. 36: Sie beschreibt die Erotik in Simons Roman als „force primordiale à l’œuvre“. <?page no="286"?> 286 mit dem Ergebnis, dass die Menschen den Tieren bzw. den Insekten nicht übergeordnet zu sein scheinen, sondern jenen in ihrer Schutzlosigkeit angesichts der Macht der Natur gleichgestellt sind. Ureigenste menschliche Bedürfnisse und Sehnsüchte - insbesondere das vergebliche Streben nach der Überwindung des Todes durch (körperliche) Liebe - finden sich auch bei den Insekten und werden so in ihrer Bedeutung für den Menschen relativiert. Auf diese Weise vermindern die Beschreibungen die Wichtigkeit der menschlichen Protagonisten in Triptyque; der Roman erzählt nicht nur eine Geschichte der Menschen, sondern ebenso eine der Tiere bzw. der Insekten. 94 Dabei wirkt die Anthropomorphisierung der Insekten phantastisch; sie scheinen in einem Paralleluniversum zu dem der Menschen zu existieren - die Handlung wirkt dadurch unwahrscheinlich, phantastisch und damit fiktiv. Eine weitere metafiktiv bedeutsame Funktion der Beschreibung liegt in der Verlangsamung der Handlung bis zu ihrem völligen Stillstand. Dies geschieht wiederholt in der Episode um das Paar in dem Zimmer an der Côte d’Azur, wenn die nackte Frau auf dem Bett immer in nahezu derselben, unveränderten Position beschrieben wird und allein die wechselnde Farbe des ‚Himmels’ hinter dem Fenster Aufschluss über die verstreichende Zeit zu geben scheint: „Dans l’encadrement de la fenêtre ouverte sur le ciel nocturne plus aucun souffle n’agite la touffe de palmes colorées d’un vert électrique par le projecteur situé au-dessous et dont les plus hautes mordent un peu sur le rectangle noir. La femme est toujours dans la même position. […]“ (T, 199f.) 95 Das Kennzeichen der Beschreibungen in Triptyque ist folglich, dass die aufgewendete Erzählleistung - erkennbar in der Seitenzahl - in keinem Verhältnis zur Relevanz der beschriebenen Handlung steht; es handelt sich daher um hypertrophe, wuchernde, Deskriptionen. 96 Diese lassen sich zum einen interpretieren als subversives, metafiktionales Spiel des Romans mit den erzählerischen Konventionen des realistischen Romans, in dem die Beschreibungen die wichtige Funktion besitzen, die dargestellte Welt vorstellbarer werden zu lassen. Die Deskriptionen in Triptyque parodieren demnach die Gattungskonventionen des realistischen Romans und entwer- 94 So auch R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 146. 95 Auch T, 38f., 42, 50, 82f., 100f., 126f., 128f., 131, 150f., 171, 196, 219f. Auf ähnliche Weise scheinen auch der Liebesakt des Paares in der Scheune sowie der des anderen Paares an der Backsteinmauer in Form einer Zeitlupe verlangsamt, da immer dieselbe ‚Einstellung’ mit geringfügigen Veränderungen gezeigt wird. 96 Vgl. auch A. Kablitz: „Erzählung und Beschreibung. Überlegungen zu einem Merkmal fiktionaler erzählender Texte.“ (1982), S. 83, der die übermächtig gewordenen Beschreibungen u.a. im Nouveau Roman als Fiktionssignal im Sinne einer Inszenierung von Anti-Mimesis interpretiert. Ebenso D. Lodge: The Modes of Modern Writing: Metaphor, Metonymy and the Typology of Modern Literature. (1977), S. 237f. <?page no="287"?> 287 fen demgegenüber eine eigene Poetik: zum einen die einer - durch die Verwendung ausgedehnter Deskriptionen bewirkte - phantastischen Gleichrangigkeit von belebter und unbelebter Materie bzw. von Mensch und Tier, und zum anderen die Auflösung der Handlung durch die wiederholte Beschreibung nahezu unveränderter Szenen. Nicht zuletzt erwecken die überwiegend im optischen Modus vermittelten Beschreibungen den Eindruck der narrativen Transkription eines Films; daher sind die hypertrophen Deskriptionen wie schon die Metalepsen als implizit metafiktive Anspielung auf die Künstlichkeit bzw. auf die mediale Vermitteltheit der in Triptyque erzählten Fiktionen aufzufassen. Ein weiterer Faktor, der neben ihrer Banalität und den ‚wuchernden’ Beschreibungen zur metafiktiven Entwertung der histoire beiträgt, sind die narrativen Ellipsen. Dabei handelt es sich um die erzählerische Aussparung wichtiger Elemente bzw. Ereignisse, welche vom Leser rekonstruiert werden müssen. Zu diesen ausgesparten Ereignissen zählt der Tod des Kindes in der ländlichen Fiktion, 97 aber auch die Schlägerei zwischen dem Bräutigam und dem eifersüchtigen, mutmaßlichen Liebhaber der Kellnerin in der in Nordfrankreich spielenden Fiktion sowie die mutmaßliche Liebesszene zwischen Mann und Frau in dem an der Côte d’Azur spielenden Film. Den Ellipsen wohnt insofern ein metafiktionales Potential inne, als sie den ‚Sinn’ der histoire aufgrund der möglichen Polyvalenz unklar werden lassen. Der Text bietet mehrere Interpretationsmöglichkeiten an; allerdings bleibt ungeklärt, ob die ausgesparten Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben, oder ihr ‚realer’ Status innerhalb der Fiktion nur fälschlicherweise vom Text suggeriert wird, sie aber eigentlich einen binnenfiktional ‚fiktiven’ Status besitzen. Die narrativen Ellipsen fungieren in dieser Hinsicht als metafiktive Inszenierung von Künstlichkeit, da der ontologische Status der ausgesparten Ereignisse innerhalb der fiktionalen Welt bewusst offengelegt wird. Allerdings liefern der unmittelbare Kontext des ausgesparten Ereignisses ebenso wie die bereits beschriebene Motivstruktur relativ eindeutige Hinweise auf die ‚innerfiktionale Realität’ der fehlenden Episoden. Im Folgenden soll die Ellipse des Ertrinkens genauer analysiert werden; auf die beiden anderen Fiktionen und die jeweils fehlende zentrale Episode wird nur kurz verwiesen. Im Falle des möglichen Todes des Kindes ist die Szene, die das letzte Erscheinen des Mädchens direkt an der Böschung des Flusses beschreibt, 97 M. Andrews weist dem Ertrinken des Kindes sogar die besondere Bedeutung der „focal scene in the novel“ zu und zeichnet die verschiedenen Anspielungen in Triptyque auf die ebenfalls ertrunkene Ophelia in Shakespeares Hamlet nach. (M. Andrews: „Formalist Dogmatisms, Derridean Questioning, and the Return of Affect: Towards a Distributed Reading of Triptyque.“ (1987), S. 38 und 44.) <?page no="288"?> 288 kontextuell einerseits von der Zirkusfiktion umgeben sowie andererseits von der Beschreibung des zweiten und letzten erotischen Aktes zwischen dem Mann und der Hausangestellten in der Scheune. In der Handlung der beiden benachbarten Szenen ist eine gewisse Tendenz zur Beschleunigung zu bemerken: der den Clown verfolgende Affe beschleunigt sein Tempo und scheint den Clown beinahe einzuholen; dieser Vorgang wird von dem sich beschleunigenden Rhythmus der die Ereignisse untermalenden Musik aufgegriffen. 98 Auch in der Scheune streben die Ereignisse ihrem erotischen Höhepunkt zu und die Atmung der jungen Frau wird schneller. 99 Die im Zusammenhang mit der Motivstruktur des Textes beschriebene Bedeutung der Farbe ‚schwarz’ als Symbol des Todes 100 und der Vergänglichkeit wird im Kontext aller drei Szenen deutlich: So hat der Schatten des sich neigenden Tages nun das ganze Tal erfasst und die Kiesel und größeren Steine im Flussbett sind mit einer „mousse noire“ bedeckt (T, 194). Schwarz ist auch die Forelle, die unter dem Überhang des Flussufers verschwindet, und dunkel das sich im Wasser spiegelnde Laub. Die Farbe ‚schwarz’ wird auch im Zusammenhang mit der Liebesszene in der Scheune wieder aufgegriffen: So ist der Haarschopf des Liebhabers schwarz, seine sonnengebräunten Hände erscheinen auf der hellen Haut des Mädchens als dunkel, und auch seine Zunge wirkt im Halbschatten der Scheune beinahe schwarz (194f.). Weitere Hinweise auf den wahrscheinlichen Tod des kleinen Mädchens finden sich in einem größeren kontextuellen Zusammenhang in der auffälligen Rekurrenz des Morphs NOYE 101 z.B. in den vier Walnussbäumen, die den Vorplatz der Kirche in der dörflichen Fiktion umgeben (T, 8), oder in dem Vergleich der durchnässten Kellnerin an der Backsteinmauer mit „une noyée“ (T, 56). Nicht zuletzt deuten die Reaktionen der jungen Frau und des Jungen am Romanende sowie die nächtliche Suche am Fluss ein tragisches Ende der Episode an. 102 98 T, 194. 99 Ebd. 100 Zur Symbolik der ‚nicht-bunten’ Farbe ‚schwarz’ vgl. U. Becker: Lexikon der Symbole. (o.J.), S. 265f. 101 S. Lotringer nennt diese kleinsten bedeutungstragenden lautlichen Segmente „sèmes similaires“. (S. Lotringer: „Cryptique.“ (1975), S. 325.) 102 T, 200ff., 206ff., 213ff. Insgesamt ist es wohl die zunehmend unheimliche Atmosphäre in dem Tal - z.B. das Wandern des Schattens über die Bergzüge, die am Himmel kreisenden Krähen mit ihren heiseren Schreien (T, 53) - die den Tod des Kindes nahezu von Beginn an proleptisch andeuten. Darüber hinaus weist A. Duncan auf die alte Frau hin, die in ihrem Kinderwagen eine Sense transportiert, und die deshalb eher Tod als Leben konnotiert: „[…] elle préfigure la mort de l’enfant […].“ (A. Duncan: „Allées et venues familiales chez Claude Simon.“ (2004), S. 174.) <?page no="289"?> 289 Auch wenn erzählerisch der Sturz des Kindes in das Wasser ausgespart wird, verleitet der Text durch seine vielfältigen Hinweise den Leser dazu, über die fehlende Handlung zu spekulieren. Dieses offenkundige Beispiel für die notwendige Imaginationsarbeit des Lesers bei der Rekonstruktion der histoire steht stellvertretend für seine Mitwirkung bei der Erschaffung der fiktiven Welt, in deren Verlauf er die zahlreichen Unbestimmtheitsstellen des Textes mit Hilfe seiner Phantasie auffüllt. 103 Die Rekonstruktionsarbeit des Lesers ist typisch für die Rezeption fiktionaler Erzähltexte; die narrativen Ellipsen bzw. Unbestimmtheitsstellen besitzen daher nicht nur eine metafiktive, sondern auch eine metafiktionale Implikation. 104 Die beschriebene, für das Ergänzen der drei ausgesparten Ereignisse notwendige und die Fiktion mitkonstruierende Imaginationsarbeit des Lesers wird in Form einer Meta-Metafiktion durch die Suche der beiden Jungen nach der richtigen Reihenfolge der Filmfragmente beispielhaft vorgeführt. 105 Sie gewinnen bis zuletzt keine Sicherheit über die Reihenfolge der einzelnen Bilder, vor allem über den richtigen Ort für dasjenige, das den beleibten Mann, die Klinke in der Hand an der Tür horchend, zeigt. (T, 175). Ebenso wie die Jungen erhält auch der Leser keine Gewissheit weder über den ‚realen’ Status von Teilen der histoire noch über die richtige Reihenfolge der verschiedenen Handlungsfragmente. Und wie den Jungen bleibt es auch der Spekulation des Lesers überlassen, die fehlenden Elemente der Handlung zu ergänzen. Auf diese Weise wird dem Leser ebenso wie durch die multiplen Metalepsen erneut vor Augen geführt, dass es sich bei den in Triptyque erzählten histoires nicht um innerfiktional - geschweige denn außertextuell - ‚reale’ Ereignisse handelt, sondern um die Imagina- 103 L. Dällenbach unterstreicht, dass die zahlreichen Unbestimmtheitsbzw. Leerstellen „[…] the effect of exasperating a reading aiming at reestablishing a continuity of meaning“ bewirkten (L. Dällenbach: „Reading as Suture (Problems of Reception of the Fragmentary Text: Balzac and Claude Simon).“ (1984), S. 203.). 104 Auf ähnliche Weise legt der Text dem Leser auch die Rekonstruktion des ausgesparten Kampfes zwischen dem Mann in der Lederjacke und dem treulosen Bräutigam nahe: Es wird detailliert beschrieben, wie der eifersüchtige, mutmaßliche Liebhaber der Kellnerin die Verfolgung aufnimmt und sich zuletzt die Distanz zwischen den beiden Männern zunehmend verringert. In der sich chronologisch anschließenden Szene befindet sich der Bräutigam in verletztem Zustand vor dem Hotel, in dem er allem Anschein nach ursprünglich seine Hochzeitsnacht verbringen sollte (T, 185). Einen wichtigen Hinweis auf die tatsächliche Existenz der Kampfszene zwischen den beiden Männern innerhalb der fiktionalen Welt liefert darüber hinaus die Beschreibung des die Handlung der Fiktion repräsentierenden Filmplakats (T, 94f.). Für den ausgesparten Liebesakt im Falle der südfranzösischen Fiktion gilt, dass es insbesondere die Nacktheit der auf dem zerwühlten Bett liegenden Frau sowie der sich (wieder) ankleidende Mann sind, die eine zuvor erfolgte erotische Begegnung wahrscheinlich werden lassen (T, 38f., 42, 50f.). Auch lassen gewisse Andeutungen des Mannes die Abhängigkeit der Frau von seinem Einfluss und seinen Verbindungen sowie die dafür von ihr erbrachte sexuelle Gegenleistung deutlich werden (T, 52.). 105 T, 170-176. <?page no="290"?> 290 tionen einer unbestimmt bleibenden Erzählinstanz sowie um seine eigenen. Die narrativen Ellipsen besitzen demnach in zweifacher Hinsicht eine metafiktionale Funktion: Zum einen spielen sie metafiktiv auf die mögliche Irrealität von Teilen der histoire an, zum anderen thematisieren sie metafiktional typische Sinnkonstitutionsverfahren narrativ-fiktionaler Texte. 5.2.4 Fremddetermination der histoire durch latente Verweisungssysteme: Motive und mots-carrefour Wie bereits in den vorangehenden Kapiteln deutlich wurde, ist Simons Intention in Triptyque weniger das Erzählen einer interessanten, sinnhaltigen Geschichte, als die metafiktive Aufdeckung der Künstlichkeit einer jeden Repräsentation von Wirklichkeit. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass die Botschaft des Romans weniger in der unverhüllten Beschreibung der verschiedenen erotischen Akte bzw. in dem eher banalen Inhalt der drei histoires, sondern vielmehr in den verschiedenen Verweisungssystemen zu suchen ist, die dem Text eine spatiale Struktur verleihen. 106 Es lassen sich zwei verschiedene Verfahren bestimmen, die eine Art Netz über den Text legen und die verschiedenen diegetischen bzw. ontologischen Ebenen und thematischen Bereiche miteinander verbinden: es sind dies vor allem die Motive und die für Simons Ästhetik typischen mots-carrefour, 107 welche die drei Fiktionen zueinander in Bezug setzen. Diese auffälligen Verweisungssyteme konstituieren die eigentliche, bei der Erstlektüre häufig nicht wahrzunehmende Bedeutung des Textes; der Roman besitzt folglich mehrere Botschaften - die eher banale der histoire sowie die in der Motiv- und Sprachstruktur verborgene - er ist polyvalent. Darüber hinaus fungieren sowohl die auffällige Fremddetermination der histoire durch die sprachlichen Strukturen als auch die dadurch entstehende Mehrdeutigkeit des Textes in zweifacher Hinsicht als metafiktive bzw. metafiktionale Thematisierung von Künstlichkeit: Zum einen scheint die fiktionale Welt des Romans weniger das Produkt des Erzählens einer bestimmten, klar erkennbaren Erzählinstanz zu sein, als das einer sprachlichen Kombinatorik ohne erkennbare Referenz auf eine äußere, jenseits des Textes liegende, ‚Realität’. Zum anderen verweist die besondere Mehrdeutigkeit des Romans metafiktional auf seinen Status als narrativ-fiktionaler Text. 106 Vgl. hierzu auch S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 167 und 173. 107 Mit seinem Konzept der sprachlichen Verweisungssysteme in seinen Texten beruft sich Simon auf ein Zitat Lacans: „Le mot n’est pas seulement signe, mais nœud de significations.“ Er beschreibt seine Poetik als „[création] mot à mot, par le cheminement même de l’écriture.“ (C. Simon: „La fiction mot à mot.“ (1972), S. 73f.) <?page no="291"?> 291 Die vielfältigen Kohärenz stiftenden Motive sind wohl das auffälligste Strukturierungselement des Textes. Ihre Funktion besteht vor allem darin, die verschiedenen, zunächst disparat wirkenden Fiktionen miteinander zu verknüpfen und eine bestimmte Aussage des Textes zu formulieren, die an der Oberfläche des Romans - dem Inhalt der erzählten Geschichten - nicht wahrnehmbar ist. Ein typisches Motiv in der Simonschen Poetik ist „l’herbe“ - das ‚Kraut’ bzw. das ‚Gras’ -, das in Triptyque insbesondere in der Gestalt von „touffe“, „toison“ oder auch „mousse“ auftritt. „L’herbe“ allgemein ist bei Simon immer auch erotisch konnotiert: Zwar finden sich in der süd- und zentralfranzösischen Landschaft „touffes de cannas“ (T, 7), „touffes d’herbes folles“ (T, 10, 13) bzw. „touffes d’osiers“ (T, 15f.), zugleich wird aber auch das Schamhaar des Mannes in der Scheune als „buisson de poils“ (T, 16) und seine Frisur als „fris[ée] en touffes“ (T, 176) beschrieben, während der Liebesakt selbst im Heu („foin“) stattfindet (T, 25). 108 Ebenso präsentiert sich das Schamhaar der nackten Schauspielerin auf dem Bett als „touffe“ (T, 81) genauso wie dasjenige des Bräutigams (T, 204) bzw. das der Braut (T, 212). So zieht der Text mittels des Motivs „herbe“ nicht allein eine Verbindungslinie zwischen den drei Fiktionen, sondern kommentiert darüber hinaus metaphorisch das Verhältnis von Natur und Mensch: Die Erotik des Menschen, 109 die auch von seiner Gestalt abhängt, erscheint in Triptyque als etwas Natürliches, Archaisches ebenso wie als etwas unkontrolliert Wucherndes, Fruchtbares. Ein anderes wichtiges Motiv in Triptyque sind die verschiedenen Farbadjektive und hier insbesondere die Farbe ‚schwarz’ - häufig in Verbindung mit ‚rot’ verwendet 110 -; sie ist als Hinweis auf Tod und Sterben bzw. auf Vergänglichkeit allgemein zu interpretieren. 111 So tritt die alte Frau, die in der ländlichen Fiktion den Hasen tötet, als „silhouette noire“ (T, 48) vor dem hellen Hintergrund der Sonne in Erscheinung und ist grau bzw. schwarz gekleidet (T, 24). 112 Auch die „hampes de pavillons“ der Boote auf 108 Es würde über das Thema der vorliegenden Arbeit hinausgehen, alle Varianten, die ‚natürlich’ bzw. ‚erotisch’ konnotiert sind, aufzuzählen, daher hier nur einige kurze Hinweise. 109 Vorausgesetzt, man erkennt das Schamhaar als pars pro toto für die Geschlechtsmerkmale des Menschen an. 110 Diese Farbkombination lässt sich als Anspielung auf Stendhals Le Rouge et le Noir interpretieren. 111 Auch R. Sarkonak unterstreicht die bedeutungstragende und kohärenzstiftende Funktion der Farbadjektive und ihre Fähigkeit, eine bestimmte - häufig unheimliche - Atmosphäre zu kreieren. (R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 150f.) 112 R. Sarkonak identifiziert in der Figur der alten Frau eine moderne Version der Hekate (R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 152.). Interessanterweise spielt in der Repräsentation und in der Verehrung der Hekate die Zahl ‘drei’ ebenfalls eine wichtige Rolle: Sie wird dreigestaltig abgebildet und hat die Beinahmen die „Dreiköpfige“/ „Dreigestaltige“/ „Die auf drei Wegen Wandelnde“; ihre Attribute sind Fackel, <?page no="292"?> 292 dem Kanal in der nordfranzösischen Industriestadt zeichnen sich durch ihre „couleurs de deuil et de feu“ (T, 63) aus und nicht zuletzt die Grabsteine auf dem Friedhof des zentralfranzösischen Dorfes sind „de marbre noir, poli“ (T, 68). Interessanterweise wird auch der Liebhaber in der Scheune häufig mit der Farbe ‚schwarz’ in Verbindung gebracht; so sind der Tank und der Sitz seines Motorrads schwarz (T, 11, 19) ebenso wie seine Kopf- und Schamhaare (T, 67, 86). Dies lässt sich als verborgenen Hinweis auf seine Rolle beim Tod des kleinen Mädchens deuten, da ja er es ist, der die junge Frau zu einem erneuten Beischlaf zwingt und damit über Gebühr von der Erfüllung ihrer Aufsichtspflicht abhält (T, 187ff.). Eine ähnliche Konnotation besitzt auch die Farbe des Tisches, auf dem der Mann in dem an der Côte d’Azur spielenden Film das Puzzle zusammensetzt: Dieser ist schwarzlackiert (T, 220), so dass das nahezu beendete Puzzle die durchschimmernden, verbleibenden schwarzen Stellen wie „îlots“ wirken lässt (T, 223). Hier spielt die Farbe ‚schwarz’ ebenfalls auf ‚Tod’ und ‚Zerfall’ an: In diesem Fall auf die Suspendierung der Realitätsillusion der in dem zentralfranzösischen Dorf spielenden Episode. Die finale Metalepse, die in der Aufdeckung der Dorf-Fiktion als einer weiteren Repräsentation innerfiktionaler Realität gipfelt, wird somit auch über die Motivstruktur vorbereitet. 113 Dolch und Schlüssel, Hunde sowie Schlangen; verehrt wurde sie auf dreigeteilten Wegen, da sie zu drei Wegen den Schlüssel hatte: zum Hades, zum Himmel und zur Erde. (W. Binder (Hg.): Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. (1874), S. 230f.) 113 Im Rückblick der Lektüre wird bereits früh auf den lackschwarzen Tisch und damit auch auf das Ende dieser Fiktion verwiesen: das Wasser im Springbrunnen des Dorfes erscheint „comme vernie“ (T, 16) und auch die Fische in dem dortigen Fluss sind „d’un gris foncé, presque noir, comme vernis“ (T, 56). Gleiches gilt für die Farbe „mauve“, die bereits in der Beschreibung der Postkarte zu Beginn des Romans erscheint (T, 7) und die (im Rückblick) auf die schicksalhafte Liebesszene in der Scheune hinweist, da sowohl der Mann eine „chemise aux larges raies mauves“ (T, 55) als auch die Frau ein „corsage à dessins mauve et blanc“ trägt (T, 157). Hingegen verbindet das Motiv ‚rot’ als Farbe des Blutes den toten Hasen mit dem verletzten Bräutigam und dem rot geschminkten Clown und impliziert die Gewalttätigkeit der Handlung in den drei Fiktionen. Ein weiteres Motiv ist ‚Reptil’ bzw. ‚reptilartig’: So stellt die Natter in der ländlichen Szene eine reale Gefahr für die beiden Jungen dar (T, 152), doch auch der Harlekin ähnelt in seinem Aussehen einem Reptil - in diesem Fall einer Eidechse („lézard“) - und strahlt insgesamt Gefahr und gefühllose Kälte aus: die „couleur métallique“ seiner Augen (T, 178), seine „paupières de lézard“ (T, 180) sowie „sa langue violette comme celle d’un reptile“ (T, 181, 183). Auch die Braut in der städtischen Szene besitzt ähnliche „yeux de verre“ genauso wie die mutmaßliche Besitzerin der Eckkneipe („ses yeux minuscules […] paraissent aussi durs que des morceaux de verre“ (T, 134)) - ein Hinweis auf ihre emotionale Kälte? Neben den genannten finden sich andere Motive, die sich in Oppositionspaaren gruppieren und interpretieren lassen: Licht/ Tag = Leben vs. Dämmerung/ Schatten = Zwischenzustand vs. Dunkelheit/ Nacht = Tod; Lärm = Ankündigung von Gefahr/ Begleitung von erotischen Akten vs. Stille = Tod. <?page no="293"?> 293 Die Motive verleihen dem Text folglich eine ganz eigene, im Verborgenen liegende Bedeutung: Während an seiner inhaltlichen Oberfläche banale Geschichten um erotische, untreue und eigennützige Varianten der Liebe erzählt werden, die den Leser aufgrund ihrer Fragmentarisierung und sparsamen erzählerischen Gestaltung eher unberührt lassen, zielt die Motivstruktur des Textes auf elementare, mit Liebe und Tod zusammenhängende Fragen der menschlichen Existenz. Überdies scheint der Text durch die auffällige Motivstruktur gleichsam ‚fremdgesteuert’ zu sein: Die fiktionale Welt ist nicht das narrative Produkt einer Erzählerfigur, sondern hat ihren Ursprung scheinbar allein in den sprachlichen Verweisfunktionen der Motive. In dieser Hinsicht legt die Motivik des Romans ebenso wie die paradoxen Metalepsen und die fiktionsgenerierenden Deskriptionen in Form einer metafiktiven Inszenierung die fehlende bzw. nur in Spuren vorhandene Referenz der Fiktion auf Reales offen, mithin ihre Fiktivität bzw. Künstlichkeit. Eine ähnliche Funktion wie die Motive erfüllen die mots-carrefour 114 ; allerdings verfügen sie in Triptyque im Gegensatz zu den Motiven über keine ausgeprägte bedeutungstragende Funktion, sondern sie sichern allgemein die Kohärenz der scheinbar disparaten Fiktionen. 115 Inhaltlich lassen sich fünf verschiedene Typen von mots-carrefour unterscheiden: So beruhen einige durch mots-carrefour generierte Verbindungen zwischen Teilen der Fiktionen auf visuellen, auditiven und olfaktorischen Bildern, andere wiederum auf semantischen und phonetischen Eigenschaften der betreffenden Wörter. 116 Neben diesen inhaltlichen Varianten finden sich zwei strukturelle Formen: Zum einen solche, die als ‚Nahverweise’ den Übergang von eigentlich nicht thematisch verbundenen Szenen bewirken, 117 und zum 114 Die sogenannten mots-carrefour - dt. ‚Kreuzungswörter’ - fungieren als ‚Weichen’ für die verschiedenen Handlungsstränge. Sie ermöglichen den abrupten Übergang - oftmals auch die sich vom Leser nahezu unbemerkt vollziehende Überblendung - zwischen Szenen bzw. Themen, die im Grunde nur wenige Berührungspunkte besitzen. Der Effekt dieses Verweisungssystems wird von M. Bertrand prägnant beschrieben: „Ainsi, l’espace romanesque défini, le texte s’engendre-t-il de lui-même à l’intérieur d’une symphonie de mots, mots carrefour, mots matrice, mots langage.“ (M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987), S. 62.) Die dabei entstehende Fiktion scheint weniger dem scheinbar natürlichen Erzählfluss einer Vermittlungsinstanz zu entspringen als das Produkt unsichtbar wirkender sprachlicher Ordnungsprinzipien zu sein. 115 So konstatiert J.A.E. Loubère in Triptyque „[…] a web of inner connections based on the word and the image.“ (J.A.E. Loubère: „Triptyque.“ (1975), S. 210.) 116 Ebd., S. 210ff. 117 Aus Gründen des Umfangs sollen nur einige Beispiele genannt werden: Vgl. z.B. die „bas blancs“ auf der Gravüre in dem an der Côte d’Azur spielenden Film und die „bas noirs“ der jungen Hausangestellten in der Scheune der ländlichen Fiktion (T, 44); „le grincement“ des Kinderwagens in der ländlichen Szene und „le grincement <?page no="294"?> 294 anderen jene, die als ‚Fernverweise’ auf räumlich entfernte Teile von Fiktionen anspielen. Im Folgenden soll der letztgenannte Typus von mots-carrefour einer Analyse unterzogen werden. Es handelt sich dabei um Ausdrücke, die in mehreren bzw. teilweise auch in allen Fiktionen erscheinen und die in der Rückschau des nach dem Abschluss seiner Lektüre ‚wissenden Lesers’ als Prolepsen auf zeitlich nachgeordnete Ereignisse in der Handlungsstruktur zu deuten sind. Interessanterweise steht im Mittelpunkt dieser Verbindungslinien die Zirkusfiktion: diese enthält all jene Elemente, die entweder als Gegenstand oder aber auch teilweise nur als Metapher oder Vergleichsobjekt in den anderen Fiktionen auftauchen. So liegt beispielsweise im Fluss der Dorf-Fiktion ein Männerstiefel „à l’empeigne béante“, der dann später am Schuh des tollpatschigen Clowns in der Zirkusszene erneut auftaucht. 118 Auch die „cris rauques“ des Kuhhirten in der dörflichen Fiktion (T, 18) wiederholen sich im „grincement strident“ der Trambahn in der nordfranzösischen Szene, der „comme un cri plaintif“ das Trommelfall zerreißt (T, 48). Doch findet sich ein Schrei bzw. Schreien auch noch in anderen Zusammenhängen des Romans: Das Stoppen des Films in den beiden Kinos wird von den Zuschauern mit metaphorisch beschriebenen „cris d’animaux“ quittiert, 119 die Frau stößt während des Liebesakts an der Backsteinmauer „un cri étouffé“ und später unter den Tritten des Mannes „un cri de douleur“ aus 120 und auch die Kinder, die während der Kinovorführung am Dorfbrunnen spielen, äußern „des cris“. 121 Im Zusammenhang mit dem ‚Gelage’ der Hochzeitsgesellschaft in der Kneipe treten ebenfalls „des cris“ auf (T, 135), die an verschiedenen Stellen auch von Tieren geäußert werden: die „cris éraillés“ der Krähen und der „cri grave“ eines Frosches. 122 Im Mittelpunkt dieser Schreie steht jedoch der Clown mit seiner „voix éraillée“ (T, 109, 116) 123 der Zirkusszene, dessen Rede in Onomatopöien an „un cri d’animal“ erinnert (T, 158). An anderer Stelle werden seine Schreie als „bizarre[s]“ (T, 159, 199) beschrieben, als „cris de douleur“ (T, strident“ der Räder der Trambahn in der städtischen Fiktion (T, 48) sowie insgesamt das kohärenzstiftende Auftreten der Adjektive „écarté“, und „écartelé“: T, u.a. 98f., 109f., 119f. 118 T, 78f., 88, 107-110, 116f., 158f. 119 T, u.a. S. 53, 102, 129, 137. 120 T, 61, 114. 121 T, 112, 120. Auch beim Spielen im und am Fluss und am Wasserfall: T, 154. 122 Krähen: T, 53; Frosch: T, 208. Das Bild der um einen fixen Punkt kreisenden Krähen verweist intratextuell auf die unfreiwillig das tote Pferd umkreisenden Soldaten in La Route des Flandres. 123 Die „voix éraillée“ des Clowns verweist auf den defekten bzw. qualitativ schlechten Lautsprecher des Kinos (T, 58, 102). Auch die Stimme der Kellnerin nimmt im Anschluss an den Liebesakt aus Angst und Entrüstung über das Verhalten des Bräutigams eine heisere Färbung an (T, 106). <?page no="295"?> 295 181) oder als „cris inarticulés et sauvages“ (T, 49, 190, 199). 124 Andere wichtige Elemente der drei Fiktionen, die von der Zirkusfiktion gespiegelt werden, entstammen den beiden Wortfeldern „singe“ 125 und „reptil“ 126 sowie den verschiedenen Konnotationen von „marteau“. 127 Die in Triptyque auftretenden, unterschiedlichen Formen von motscarrefour erfüllen verschiedene Funktionen: Während diejenigen syntagmatischen Elemente des Textes, die einen scheinbar assoziativen Übergang zwischen benachbarten Handlungssträngen bewirken, die Kohärenz des Textes auf der mikrostrukturellen Ebene - der Verknüpfung benachbarter Handlungssequenzen - sichern, spielen die als Fernverweise fungierenden mots-carrefour im Hinblick auf die Themen des Romans eine wichtige Rolle: Sie verbinden die disparat nebeneinander stehenden Fiktionen durch die Wiederholung bestimmter Syntagmen oder Lexeme miteinander; insbesondere greift die Fiktion um das Geschehen im Zirkus zentrale Elemente der anderen histoires wieder auf und kommentiert auf diese Weise die drei anderen Fiktionen. So verweist die am Ende der Zirkusfiktion erfolgende Metamorphose des Clowns in eine „créature mi-singe mi-homme“ - ausgelöst durch das Umlegen einer Leine und den Beginn der Verfolgung durch den Affen - auf den Status der Menschen in den anderen histoires. Auch diese sind in Simons Text durch ihr Verhalten oder ihre Körperhaltung häufig Affen, oder allgemein Tieren, ähnlicher als Menschen. In dieselbe 124 Paradoxerweise entstammen die „cris inarticulés“ dem Mund eines Clowns auf einem Gemälde - es findet hier erneut eine metaleptische Verletzung der Grenzen zwischen binnenfiktional ‚real’ und ‚fiktiv’ statt. 125 Vgl. das ähnlich wie bei manchen Affen oder Hunden hervorspringende Kinn der seltsamen alten Frau in der ländlichen Szene (T, 24), das im Rausch des Liebesaktes zu Boden gestürzte Paar in der Sackgasse und die nun „à quattre pattes“ kniende Frau (T, 61); später kniet auch der Mann auf allen Vieren auf der Suche nach seinem Schlüssel (T, 114). Auch einer der beiden Jungen klettert in der ländlichen Fiktionen „courbé en deux presque à quattre pattes“ den Steilhang zum oberen Ende des Wasserfalls empor (T, 111); später sieht man einen von ihnen auf seinen Fersen, „comme un singe“ sitzen (T, 120) und nach der überraschenden Begegnung mit der Natter erscheinen die beiden als „bête à quattre pattes“ (T, 153). In der ländlichen Fiktion wird die Frau vom Mann gewaltsam zu Boden geworfen und kniet „à quattres pattes“ über dem Mann (T, 189). Und schließlich kumulieren die verschiedenen Anspielungen auf affenähnlich verharrende Kreaturen im Bild des Clowns selbst, der sich als „créature mi-singe mi-homme“ auf allen Vieren von dem Äffchen verfolgen lässt. (T, 190, 192, 194, 197-199) 126 Vgl. die mit einem Trageriemen, der wiederum einer Schlange ähnelt, verbundenen Bücher auf einem Filmfragment (T, 176), die ‚reale’ Natter in der ländlichen Fiktion (T, 153) und schließlich den mit allen Merkmalen eines Reptils ausgestatteten „personnage lunaire“ der Zirkusfiktion (T, 178f., 180f., 183f., 186, 190). 127 Die beiden ‚realen’ Hämmer in der Zirkusfiktion (T, 108ff., 116f.) und die aus dem buchstäblichen „avoir un coup de marteau“ übertragene Bedeutung „être fou, cinglé, dingue“ von „être marteau“ (J. Rey-Debove und A. Rey (Hgg.): Le Nouveau Petit Robert. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française. (1993), S. 1360.): T, 106, 108, 112, 117. <?page no="296"?> 296 Richtung weist auch das Aussehen des „personnage lunaire“ - des Harlekins - der in seiner Reptilähnlichkeit als Symbol für Gefahr und körperliche Überlegenheit zu deuten ist. Auch hier ist eine Metamorphose - jetzt zwischen Mensch und Reptil - zu beobachten, welche die negative Bilanz des Romans aus der Diskussion um die Frage nach der Conditio des Menschen veranschaulicht: dieser scheint nicht nur in seiner Gewalttätigkeit, sondern auch in seiner Sexualität und seinem körperlichen Verhalten allgemein den Tieren ähnlicher zu sein als gedacht. Doch lassen sich die mots-carrefour nicht nur als Garanten der thematischen Kohärenz des Textes interpretieren, sondern sie sind - in ihrer nahwie auch in der fernverweisenden Variante - in struktureller Hinsicht zu lesen als verborgenes Netz, das den Text schon bei der Erstlektüre wahrnehmbar determiniert. Die Wechsel zwischen den verschiedenen Fiktionen scheinen weniger der erzählerischen Logik geschuldet zu sein als den semantischen und phonetischen Eigenschaften der Lexeme: Es tritt die ordnende und generative Macht der Sprache zulasten der Erzählung einer kohärenten, interessanten histoire in den Vordergrund. Obendrein überschreiten die auffälligen Parallelen der als carrefour bzw. ‚Weiche’ fungierenden Zirkusfiktion mit den anderen Handlungssequenzen das Maß erzähllogischer Plausibilität bzw. Wahrscheinlichkeit. Wiederum, wie bereits im Falle der den Text auffällig strukturierenden Motivik, wird die Erfundenheit der verschiedenen histoires sowie des sie hervorbringenden Diskurses metafiktiv bzw. metafiktional inszeniert: Es ist die Sprache, das eigentliche Substrat der Fiktion, welche die Fiktionen und den diese hervorbringenden Erzählprozess zu generieren scheint. 5.3 Die metafiktionale Thematisierung und Inszenierung der gescheiterten fiktional-narrativen Repräsentation In Triptyque wird nicht nur die Möglichkeit einer literarischen bzw. allgemein medialen Referenz auf Außertextuelles kritisch diskutiert, auch die Repräsentation dieser Realität mit sprachlichen bzw. literarisch-narrativen Mitteln wird in Zweifel gezogen. So ist der narrative Diskurs, welcher die verschiedenen banalen und spannungsarmen histoires vermittelt, nicht unproblematisch: Zum einen fehlt, wie bereits angedeutet wurde, eine genau bestimmbare Erzählinstanz bzw. ein Erzähler mit ‚Leib und Seele’ und zum anderen ist die narrative Repräsentation dieser Geschichten in hohem Maße durch Anachronien und Fragmentarisierungen geprägt. Im Folgenden soll zunächst die unbestimmt bleibende Erzählinstanz, die weniger einem Menschen als einem unbelebten Kameraauge gleicht, untersucht werden. Im Anschluss erfolgt ein kurzer Überblick über die verschiedenen Verstöße gegen die Chronologie der erzählten Ereignisse, <?page no="297"?> 297 die in den drei Hauptfiktionen zu verorten sind. Abschließend werden die Fragmentierungserscheinungen des discours behandelt. 5.3.1 Die Camera-eye-Erzählinstanz Schon bei der Erstlektüre von Triptyque fällt auf, dass die Handlung weder durch ein „je“, also durch einen Ich-Erzähler, noch durch ein „il“ - sei es durch eine Reflektorfigur oder durch einen auktorialen Erzähler - vermittelt wird. Stattdessen findet sich wiederholt die Kombination des unbestimmten „on“ mit verschiedenen Verben insbesondere der visuellen, aber auch der auditiven und olfaktorischen Wahrnehmung. So wird gleich zu Beginn des Romans das idyllisch daliegende Dorf vor allem durch visuelle Sinneswahrnehmungen präsentiert: On peut entendre le bruit tout proche de l’eau basculant par-dessus la murette d’un canal de retenue et fusant entre les joints de la vanne. Plus faible, lointain, plus grave, parvient aussi celui d’une cascade. […] De la grange on peut voir le clocher. Du pied de la cascade on peut aussi voir le clocher mais pas la grange. Du haut de la cascade on peut voir à la fois le clocher et le toit de la grange. […] Le bruit de la grande cascade est répercuté par les versants abrupts de la vallée et les rochers. Couché dans le pré en haut de la cascade, on voit les graminées et les ombelles qui se détachent sur le ciel et dont parfois la brise fait osciller les tiges, celles des graminées, plus souples, se courbant légèrement, les ombelles se balançant avec raideur. Sous cet angle les ombelles sont plus grandes que le clocher. En fait on ne peut pas regarder à la fois les ombelles et celui-ci. Si l’on fixe les ombelles, le clocher, dans le lointain, apparaît comme un rectangle flou et gris, étiré en hauteur, surmonté d’un triangle violacé, flou lui aussi. (T, 8f.) Allerdings findet sich die visuelle Wahrnehmung nicht nur auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung, sondern auch auf der Ebene der histoire selbst, wenn die Protagonisten des Romans vor allem durch ihren jeweiligen Blick - „le regard“ - hervortreten: der voyeuristische Blick der beiden Jungen in das Innere der Scheune, in der der Liebesakt zwischen der jungen Hausangestellten und dem Jäger stattfindet (T, 46); der blinde ‚Blick’ der alten Frau (T, 46, 202); der stets an die Decke oder auf das Fenster gerichtete Blick der Schauspielerin (T, 129, 151); der rätselhafte, sphinxähnliche Blick des Schauspielers durch die halbgeschlossenen Lider (T, 141, 148) und der „regard aigu“ des die junge Hausangestellte ‚jagenden’ Jägers (T, 177). Auf diese Weise übernehmen die Romanfiguren für den Leser die Rolle des die Handlung vermittelnden Erzählers; er scheint durch ihre Augen die Welt des Romans wahrzunehmen. Die herausragende Stellung der Sinneswahrnehmung ‚Sehen’ bzw. des ‚Blicks’ lässt die visuelle Wahrnehmung als ein weiteres Motiv in Triptyque fungieren, das ebenfalls die verschiedenen Handlungssequenzen bzw. Themen miteinander verbindet. So wird der voyeuristische Blick der beiden Jungen auf das Geschehen in der Scheune in der Dorffiktion von dem <?page no="298"?> 298 Blick des eifersüchtigen Liebhabers der jungen Kellnerin durch die Vorhänge der Kneipe (T, 106f., 113) 128 wieder aufgegriffen sowie durch den ebenfalls voyeuristischen Blick des Schauspielers auf die unbekleidete Frau durch die spaltbreit geöffnete Tür (T, 219f.). Nicht zuletzt spiegelt sich auch der Blick des Lesers auf die Buchseiten und die in ihnen verborgene Handlung in der optischen Täuschung der auf der Scheunenwand übereinander geklebten Plakate: Des bas noirs, montant un peu au-dessus du genou, gainent les jambes blanches de la fille dont les pieds sont noués sur les reins de son partenaire. Les lèvres de la déchirure verticale s’écartent comme les pans de rideaux mal joints, ouvrant un angle aigu à peu prés au centre de la piste. Le couple qu’elles dévoilent semble épié de toutes parts par les regards invisibles des spectateurs dont le pinceau de l’artiste a seulement dessiné les contours (têtes et épaules serrées comme des mouches sur une tartine) d’un épais trait noir. Par un autre artifice du peintre, toute la lumière semble se rassembler sur l’amas de membres emmêlés et mouvants du couple luttant comme au milieu d’un ring et que les rayons du projecteur sculptent violemment, le creusant d’ombres noires, posant sur les parties saillantes (fesses, dos, cuisses) des reflets argentés vigoureusement indiqués dans une pâte épaisse. […] (T, 44) Paradoxerweise erscheint der Liebesakt des Paares in der Scheune in der Mitte der Zirkuspiste stattzufinden und von den kreisförmig sitzenden Zuschauern voyeuristisch betrachtet zu werden. Mit einem gewissen ironischen Unterton hat der Text seine reale Leserschaft und ihre voyeuristische Neugierde in sein Zeichensystem eingeschrieben: so, wie die skizzierten Zuschauer auf dem Zirkusplakat die durch einen Spalt sichtbaren und sich scheinbar inmitten der Zirkuspiste vollziehenden Ereignisse zu verfolgen scheinen, betrachten auch der implizite und in letzter Konsequenz auch der reale Leser die im Roman Triptyque erzählten Ereignisse. Darüber hinaus spiegelt das begrenzte Wahrnehmungsfeld der Romanfiguren den ebenfalls begrenzten Blick der unbestimmten Erzählinstanz. Auf ähnliche Weise wie diese in ihrer Sicht auf die Ereignisse häufig beeinträchtigt sind - so wird z.B. die Sicht der Jungen auf das Paar durch die schlechten Lichtverhältnisse in der Scheune sowie durch die Enge des Spalts in der Scheunenwand behindert 129 - verfügt auch der unbekannte Erzähler nur über einen eingeschränkten Zugang zu den Ereignissen, die er berichtet: Insbesondere die Ausführlichkeit und Detailliertheit der Be- 128 Auch bei dem Unbekannten, der in die von den Scheinwerfern der vorbeifahrenden Tram erhellten Sackgasse späht, könnte es sich um den Liebhaber der jungen Kellnerin aus der Kneipe handeln (T, 49). 129 Hingegen werden die Sucher nach dem vermutlich ertrunkenen Kind durch die Dunkelheit der Nacht eingeschränkt sowie durch den begrenzten Lichtkegel ihrer Taschenlampen; der eifersüchtige Liebhaber der Kellnerin hingegen durch die beschlagenen Scheiben des Lokals sowie durch die in der Sackgasse herrschende Dunkelheit. <?page no="299"?> 299 schreibungen zeigen, dass ihm nur die Sicht von außen auf die Figuren und Vorgänge der fiktionalen Welt bleibt; ihr Innenleben bleibt ihm unbekannt. Mit A. Goulet lassen sich diese „multi-focal descriptions“ als metanarrative Kritik an „the overarching, perspectival gaze - or survol - of traditional omniscient narration“ deuten. 130 Doch soll neben dieser allgemein metapoetischen noch eine weitergehende Interpretation vorgeschlagen werden: Die Vorherrschaft des optischen Modus’ bei der Vermittlung der fiktiven Welt von Triptyque greift die vielfältigen visuellen Repräsentationen von Teilen der Fiktion auf. Wie bereits gezeigt wurde, erweisen sich alle Binnenfiktionen zuletzt nicht als innerfiktional ‚real’ sondern nur als Repräsentation einer vom Text erzählten - fiktiven oder ‚realen’ - Wirklichkeit. Die Handlung um das Paar an der Côte d’Azur entpuppt sich als Film, die Handlung um das vermutlich ertrunkene Mädchen als Puzzle bzw. ebenfalls als Film genau wie die erotische Begegnung in der Sackgasse, die zudem möglicherweise die Verfilmung eines Romans ist. Diese vielfältigen Repräsentationen von Wirklichkeit durch unterschiedliche Kunstformen werden nun in der erzählerischen Vermittlung selbst gespiegelt. Die Erzählinstanz in Triptyque ist weniger ein psychologisches Zentrum als ein unbeseeltes Kameraauge, das die berichteten Vorgänge nur in ihrer Äußerlichkeit einfängt. Die in diesem Roman repräsentierte Welt scheint durch detaillierte Deskriptionen auch der geringsten Objekte geprägt zu sein und erweckt dadurch eher den Eindruck eines narrativ vermittelten Films als den eines Romans. Die Künstlichkeit der narrativen Vermittlungssituation des Romans wird somit metafiktional aufgedeckt: nicht eine anthropomorphe Erzählerfigur steht am Anfang der fiktionalen Welt, sondern ein mechanisches Kameraauge; statt einer narrativen Vermittlung von (binnenfiktionaler) ‚Realität’ wird bloß wiederum eine weitere Repräsentationsebene - die des Films bzw. der bildlichen Darstellungen bzw. des Romans - vermittelt. 131 Die eigentliche innerfiktionale Realität hinter den verschiedenen, mehrfach gerahmten Repräsentationen ist nicht mehr greifbar. Metafiktionale Hinweise auf den künstlichen Repräsentationsrahmen finden sich - wie bereits gezeigt wurde - in Triptyque zuhauf; 132 zuletzt ist es die narrative Vermittlung der fiktiven Welt selbst, die sich als künstlich 130 A. Goulet: „Blind Spots and Afterimages: The Narrative Optics of Claude Simon’s Triptyque.“ (2000). 131 Simons Roman illustriert auf diese Weise die postmoderne These vom „‘decentered’ subject“: das ‚Selbst’ löst sich in einem Akt der Selbstentfremdung in verschiedenen (textuellen) Funktionen auf, bis das menschliche Subjekt zuletzt zu „[…] a structural position in a system governed by differences“ wird. (S. Rimmon-Kenan: A glance beyond doubt. Narration, representation, subjectivity. (1996), S. 12f.) 132 Vgl. Kap. 5.2.3 Die Entwertung der histoire durch Banalität, hypertrophe Deskription und zentrale Ellipsen. <?page no="300"?> 300 erweist. Das Fehlen einer Erzählerfigur und die scheinbare Vermittlung der Handlung durch ein mechanisches Kameraauge lassen die erzählten Ereignisse nicht als innerfiktionale Realität erscheinen, sondern nur als ihre Repräsentation. 133 Somit besitzt auch die narrative Instanz des Kameraauges selbst eine metafiktionale Funktion, da sie implizit auf die Künstlichkeit der medialen Vermittlungssituation hinweist. 5.3.2 Die Dekonstruktion linearen Erzählens durch Anachronien und Fragmentierungen Die Erzählsituation in Triptyque ist nicht allein durch das Fehlen einer eindeutig bestimmbaren Erzählerfigur gekennzeichnet, sondern darüber hinaus auch durch verschiedene Verletzungen der Reihenfolge des Erzählten durch mehrere Pro- und Analepsen. Einerseits gewinnen ganze Handlungsepisoden die Funktion einer Probzw. Analepse, wenn sie an handlungslogisch falscher Stelle in die Erzählung eingefügt werden, und andererseits besitzen in Triptyque auch bestimmte Motive eine vorausdeutende Funktion. 134 In ihrer Brief story of postmodern plot untersucht C. Burgass die Zeitstrukturen postmoderner Romane und kommt zu dem Schluss, dass diese auf metafiktionale Weise durch „thematic and/ or plot devices“ die erzählerische Chronologie dekonstruieren und ontologisch-chronologische Grenzen überschreiten. 135 Ziel sei die Infragestellung der Möglichkeit objektiver Zeit zugunsten eines relativen bzw. in hohem Maße subjektiven Zeitkonzepts. Auch wenn die Verstöße gegen die Reihenfolge der Ereignisse auf den ersten Blick in Triptyque kaum entschlüsselbar zu sein scheinen, so wird in diesem Roman die Zeitstruktur nicht völlig dekonstruiert, sondern die ursprüngliche Ordnung der verschiedenen histoires ist grundsätzlich rekonstruierbar, wenn auch nicht ohne einige ‚Unbestimmtheitsstellen’. 133 L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 11, und S. Rimmon-Kenan: A Glance Beyond Doubt: Narration, Representation, Subjectivity. (1996), S. 14, werten die Verwandlung des traditionellen Erzählers von der kohärenten, bedeutungsgenerierenden Einheit in ein „impersonal system“ als Merkmal des postmodernen Romans. Vgl. zum problematischen Erzähler in Triptyque auch D. Sherzer: „Serial Constructs in the Nouveau Roman.“ (1980), S. 89. 134 Wie bereits angedeutet wurde, verweist die Farbe mauve als Farbe der Korsage der jungen Hausangestellten von Beginn an proleptisch auf das unglückliche Ende dieser histoire. Neben den bereits erwähnten farblichen Übereinstimmungen in den Kleidungsstücken des Liebespaares in der Scheune finden sich weitere Hinweise auf eine unglückliche Verkettung der Ereignisse: Das Motorrad des Jägers hat eine „fleur mauve“ erdrückt (T, 19), die Kreuze auf dem Friedhof sind mit „perles mauves“ geschmückt (T, 68); darüber hinaus finden sich auf den Kreuzen häufig Kinderbilder (T, 69). 135 C. Burgass: „A Brief Story of Postmodern Plot.“ (2000), S. 177ff. <?page no="301"?> 301 Am wenigsten durch Anachronien ‚infiziert’ erweist sich die Fiktion um das Paar an der Côte d’Azur. Lässt man die nicht eindeutig in den Handlungsverlauf einzuordnende Szene, die den Mann vor der geschlossenen Tür zeigt, unberücksichtigt, folgt die Präsentation der Ereignisse im Wesentlichen ihrem tatsächlichen Verlauf: Discours 22 26 36 83 100 126 139 147 150 171 175 196 Seite 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 Abschnitte Histoire 2. Nacht - Mann telefonierend im Nebenzimmer; Frau: lesend auf dem Bett 6. Fragment: Nacht - Begegnung der Mutter mit ihrem wütenden Sohn; Mann als Beobachter im Hintergrund 8. Nacht - Frau schlafend im Bett, Roman auf der Bettdecke; Mann an der spaltbreit geöffneten Tür; geht zurück ins Nebenzimmer, dort Zerstörung des Puzzles. 5. Tag - Rückkehr des Mannes; scheinbar schlafende Frau; Nachricht von der erfolgreichen Verhandlung über die Freilassung des Sohnes 4. Tag - Mann: kauft eine Zeitung an einem Kiosk, kehrt dann zu der Frau zurück 1. Tag - Zimmer: nackte Frau auf dem Bett, Mann in Hemdsärmeln, zieht sich an, Gespräch über mögliche Mitwirkung des Mannes bei der Befreiung des Sohnes der Frau 7. Fragment: Junger Mann verlässt wütend das Zimmer und wirft einen Stapel Bücher auf den Boden 3. Fragment: Bar: Treffen des Mannes mit ‚l‘homme-oiseau‘; vorher: Verpfändung eines Perlen-Colliers der Frau (? ) Ideale Chronologie / rekonstruierte histoire Abbildung 17: Anachronien in der diskursiven Präsentation der ‚Côte d’Azur-Fiktion’ Die beiden auffälligen Prolepsen 136 in der narrativen Präsentation der Ereignisse - der eigentlich am Ende der Handlung vor der geschlossenen Tür stehende Mann bzw. sein Blick durch die spaltbreit geöffnete Tür auf die schlafende Frau - sind vom Text ambivalent angelegt: Der metanarrative Dialog der beiden Jungen über den ‚richtigen’ Ort des betreffenden Filmfragments spiegelt die Freiheit des Lesers, eigene Lösungsvorschläge für die mögliche Einordnung der Szene in die Handlung zu unterbreiten. 136 In der obenstehenden Grafik Abschnitt 1 und 4. <?page no="302"?> 302 Im Vergleich zur Côte d’Azur-Fiktion besteht die Episode um das Paar in der Sackgasse zwar nur aus wenigen Handlungsabschnitten, dafür finden sich aber umso deutlicher wahrnehmbare Verstöße gegen die Chronologie der Ereignisse: Die Erzählung beginnt in medias res mit der Darstellung des Geschlechtsaktes von Bräutigam und Kellnerin in der Sackgasse, die auch bezüglich der Seitenzahl den größten Umfang im Erzählen besitzt. Im Anschluss wird die Ankunft und der Aufenthalt der Hochzeitsgesellschaft in der Kneipe zwar analeptisch eingefügt, aber im Wesentlichen chronologisch erzählt; daraufhin wird in einer weiteren Analepse der eigentliche Beginn der Handlung berichtet: die Fahrt des Hochzeitszuges am Tag zuvor durch die Stadt. Histoire Discours 5. Nacht - Sackgasse: Paar nach Liebesakt, Trennung; Kneipe: Mann verfolgt Bräutigam; Kino: Ende der Vorstellung 7. Nacht - Hotel: Schlafender Bräutigam, wache Braut 3. Abend/ Nacht - Kneipe: Hochzeitsgesellschaft; 2. Abend - Kneipe: Ankunft der Hochzeitsgesellschaft; Kino: Beginn der Filmvorstellung 4. Nacht - Sackgasse: Geschlechtsakt; Kino: Filmvorstellung 1. Tag - Straße vor der Kneipe: Vorbeifahrt der Hochzeitsgesellschaft/ geschlossene Schranke 1 2 3 4 5 6 7 Abschnitte 19 69 131 146 165 184 203 Seite 6. Nacht - Hotel: Rückkehr des Bräutigams Ideale Chronologie / rekonstruierte histoire Abbildung 18: Anachronien in der diskursiven Präsentation der ‚Stadt- Fiktion’ Im Gegensatz zu den beiden genannten Fiktionen sind die Verstöße gegen die Chronologie der Ereignisse in der Fiktion um das ertrunkene Mädchen zum Teil nicht auflösbar; die unten gezeigte Übersicht versteht sich daher <?page no="303"?> 303 als eine mögliche Interpretation unter mehreren. Zu den Szenen, die nicht eindeutig in den Handlungsablauf einzuordnen sind, zählt z.B. die Angelepisode der beiden Jungen. Sie werden gleich zu Beginn des Romans mit ihren Angelruten auf der Brücke sitzend gezeigt; ein Bild, das sich auf dem Puzzle des Mannes in der ‚Côte d’Azur-Fiktion’ wiederholt. Es soll daher hier die These vertreten werden, dass es sich bei der Beschreibung der beiden Jungen auf der Brücke zu Beginn des Romans um einen proleptischen Verweis auf das Puzzle handelt, das vermutlich die Fiktion um die Ereignisse im Dorf erst generiert hat. Die eigentliche Handlung präsentiert die Jungen dagegen beim Angeln nur am Fluss in der Nähe des Wasserfalls (T, 156f.). Abbildung 19: Anachronien in der diskursiven Präsentation der ‚Dorf- Fiktion’ Fragwürdig bleibt darüber hinaus auch die ‚korrekte’ Einordnung der Binnenepisode ‚Wildschweinjagd’ sowie die der Filmvorstellung in der zum Kinosaal umgewandelten Scheune in den Handlungsverlauf. Die beiden Jungen sind in beiden Episoden ebenfalls anwesend, haben bereits geangelt und beobachten nun die Blicke zwischen dem Jäger und der jungen Hausangestellten, die sich für ein späteres Stelldichein in der Scheune zu verabreden scheinen (T, 55f.). Da die beiden Jungen jedoch später vom Fluss aus unter Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht über das kleine Histoire Discours 3. Späterer Nachmittag: Wildschweinjagd, Filmvorführung 2. Alte Frau - Tötung Hase; Junge - am Schreibtisch 7. Später Nachmittag: Geschlechtsakt in der Scheune, spionierende Jungen; alte Frau mit Kinderwagen 9. Nacht: Weinende Frau/ Suche mit Taschenlampen 5. Zwei Jungen am Fluss: Schwimmen, Angeln, Betrachten der Filmfragmente, Gespräch über Liebesakt in der Scheune, Alte Frau mit Kinderwagen; Mädchen im Badeanzug, Mann und Frau; Flucht der Jungen 4. Zwei Jungen: laufen zum Fluss 1. Alte Frau - Auswahl Hase 8. Früher Abend: Ende des Geschlechtsakts in der Scheune; Heimkehr der Jungen 6. Zwei Jungen am Fluss und andere dort spielende Kinder, kleines Mädchen; Scheune: Geschlechtsakt 14 23 45 53 65 66 73 79 86 96 102 110 137 148 152 156 159 160 170 176 199 200 217 Seite 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 Abschnitte Ideale Chronologie / rekonstruierte histoire <?page no="304"?> 304 Mädchen zur Scheune hingehen, in der zur selben Zeit der Liebesakt stattfindet, 137 stellt sich die Frage, wann die Beendigung der Jagd bzw. die Filmvorführung im Handlungsverlauf stattgefunden haben könnte. Der Text liefert keine eindeutige Antwort, daher soll auch die Graphik nur als Vorschlag einer Interpretation gelten, welche die Jagdszene unter Berücksichtigung der Handlungslogik 138 vor dem Angeln der Jungen in der Nähe des Wasserfalls und ihrer Begegnung mit der jungen Hausangestellten und dem kleinen Mädchen einordnet. Die Tatsache, dass die beiden Jungen frisch gefangene Fische bei sich haben, stellt ein Paradoxon dar, dass der Text nicht auflöst. 139 Im Rahmen einer Interpretation dieser z.T. paradoxen Anachronien in Triptyque muss zunächst betont werden, dass diese diskursiven Verstöße gegen die Reihenfolge des Erzählten nicht durch die histoire plausibilisiert werden: Es existiert - wie bereits gezeigt wurde - kein psychologisches Zentrum wie noch in La Route des Flandres, das unter dem Einfluss von Müdigkeit, Drogen oder eines Traumes sich assoziativ-fragmentarisch an bestimmte Ereignisse in seinem Leben erinnert. Stattdessen scheint die Reihenfolge der erzählten Ereignisse auf bestimmten sprachlichen und thematischen Phänomenen zu beruhen. Auch die beschriebenen, auffälligen Anachronien in der narrativen Präsentation der Geschichten lassen sich metafiktional als Spiel des Textes mit den Konventionen des traditionellen, realistischen Romans und mit den Erwartungen der an dieser Textgattung geschulten Leserschaft interpretieren. Die beschriebene Dominanz der visuellen Sinnenswahrnehmung in Verbindung mit der unbestimmten Erzählinstanz und die extremen Anachronien, die nicht durch die histoire legitimiert werden, präsentieren den Text nicht als das Produkt eines Erzählprozesses, sondern - insbesondere aufgrund der detaillierten Beschreibungen von Objekten - vielmehr als 137 T, 181ff., 184. 138 Die einzige andere Möglichkeit, die Wildschweinszene in den Ablauf der Handlung einzuordnen, besteht darin, den Aufenthalt der Jungen am Fluss zu teilen in einen Abschnitt, in welchem sie baden, die Filmfragmente betrachten, über die Liebesbeziehung des Paares in der Scheune sprechen sowie dem Mann mit der Angelrute und der Frau begegnen und daraufhin fliehen, und in einen durch die Wildschweinjagd davon getrennten zweiten Abschnitt, in dem sie angeln und von der jungen Hausangestellten um die Aufsicht über das kleine Mädchen gebeten werden. Der Text selbst ist hier aber relativ eindeutig und verbindet die Ereignisse am Fluss nahtlos miteinander: das Treffen mit dem Mann, der die Angelrute in der Hand hält, die darauffolgende Flucht der Jungen, ihre Rückkehr zu ihrer Kleidung und ihren Angeln sowie das darauffolgende Angeln und die Begegnung mit der jungen Hausangestellten und dem Kind (Vgl. T, 117-123, 148f., 152ff., 156ff.). 139 Die Einordnung einzelner Episoden in die Handlung wird auch durch die Beschreibungen der sich verändernden Lichtverhältnisse in dem Tal sowie durch die der alten, blinden Frau und ihres zunächst leeren und später mit Heu gefüllten Kinderwagens gestützt. <?page no="305"?> 305 schlecht zusammengeschnittenen Film. So spielt letztendlich auch das Erzählverfahren - in diesem Fall seine (Un-)Ordnung - wie schon die multiplen Metalepsen auf die mediale Vermittlung der erzählten Geschichten an. Letztendlich fungiert auch die Anachronie des Erzählens als implizite metafiktionale Inszenierung von Künstlichkeit, da sie auf die intermediale Vermittlung der histoires anspielt. Abschließend soll ein letzter Blick auf die auffällige Fragmentierung des Erzählens in Triptyque geworfen werden. Diese hängt eng mit der bereits beschriebenen Anachronie in der diskursiven Präsentation der fiktiven Ereignisse zusammen: Denn die auffälligen Verstöße gegen die zeitliche Ordnung des Erzählten spiegeln sich auch in dem abrupten Übergang von einer Handlungsepisode zur nächsten wider, deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten fiktionalen Handlungssequenz bzw. zu einer bestimmten zeitlichen Ebene nicht ohne Weiteres bestimmbar ist. Insgesamt lassen sich in Triptyque 115 verschiedene Handlungseinheiten isolieren, von denen die Mehrzahl - nämlich 47 - der in dem zentralfranzösischen Dorf spielenden Episode angehören. Daneben sind 30 der in der nordfranzösischen Industriestadt angesiedelten Episode hinzuzurechnen, 19 der Episode um das Paar in dem Zimmer an der Côte d’Azur und schließlich 15 Einheiten der Zirkusepisode. Bei einer Episode ist die Zuweisung zu der Sequenz ‚Dorf’ oder ‚Stadt’ unklar (T, 129f.) und bei drei weiteren liegt die Vermutung nahe, dass die Ereignisse an einem unbekannten dritten Ort stattfinden (T, 81f., 195ff.). Ein typisches Kennzeichen der Fragmentierung des Erzählens in Triptyque ist darüber hinaus, dass in die jeweiligen Handlungssequenzen oftmals weitere - metadiegetische - Erzählungen eingeschoben werden: Dies geschieht insbesondere dann, wenn mediale Repräsentationen beschrieben werden, d.h. Filmszenen, Gravüren, Zeichnungen oder Gemälde, die sich anschließend im Sinne einer Narrativisierung paradoxerweise beleben. Ähnlich wie die Anachronien des Erzählens sind auch die Fragmentarisierungen nicht handlungslogisch plausibilisiert; der Grund für die Zersplitterung des discours wird also wiederum nicht durch die psychologischen Bedürfnisse einer Erzählerfigur motiviert. Vielmehr scheint die willkürliche Anordnung der drei Geschichten auf den sprachlichen Gegebenheiten - so z.B. auf thematischen und motivischen Analogien - des Textes zu beruhen. 140 Zu Beginn des Romans evozieren sich beispielsweise die beiden Liebesszenen - diejenige des Paares in der Scheune sowie die des Paares an der Backsteinmauer - gegenseitig (T, 14-22). Auch verweisen sowohl die Beschreibung des toten, gehäuteten Hasen (T, 84f.) als auch die 140 So auch R. Sarkonak: „Triptych (Triptyque).“ (1990), S. 148. R. Sarkonak unterstreicht darüber hinaus, dass die einzig ‘wahre’ Form der Chronologie des Erzählens sich im aktuellen Lektüreprozess konstituiere (Ebd.). <?page no="306"?> 306 der Abbildung aus dem Anatomiebuch (T, 81f.) auf den unbekleideten Körper der Schauspielerin, der „[…] plus que nu […], vulnérable, comme le corps d’un animal écorché“ daliegt. (T, 51f.) In die gleiche Richtung zielen das bereits beschriebene Wirken der Motive und der verschiedenen motscarrefour. Die Frage nach einer möglichen Funktion dieses scheinbar eigenmächtigen Wirkens der Sprache wird von der Forschung unterschiedlich beantwortet. So betont J.H. Duffy, dass die Wirkung dieser „emboîtement procedure“ darin bestehe, „[…] to problematize the relationships among the representation, the frame, and the referential and including world.“ 141 Während also einerseits die Zersplitterung des discours die Erwartungen und Einstellungen des Lesers immer neu erschüttere, da er die bei der Lektüre neu gewonnenen Informationen stets mit dem bereits Gelesenen in Einklang bringen müsse, erlaubten die intermedialen, paradoxen Verschachtelungen ihm nicht, einen Teil der histoire endgültig als innerfiktional ‚real’ zu identifizieren. Über die Interpretation Duffys hinausgehend, vertritt J.A.E. Loubère in seiner Studie zu Triptyque die These von der Freiheit des Autors, „[…] to exploit and even to profit from the obscuring, contradictory, and ambiguous character of the word, since he is not bound to make his text coincide with any universal outside reality.” Die Ambivalenz und Opazität der Sprache fungiert demnach als Abwendung von einer äußeren Realität. Doch stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der Beschaffenheit und dem Status der Welt, die stattdessen in Triptyque mit der allergrößten Detailversessenheit evoziert wird. Meine Arbeit vertritt im Gegensatz zu J.A.E. Loubère die These, dass eine vollständige Abkehr von einer wie auch immer erkennbaren äußeren - d.h. außerhalb des Textes liegenden - Realität nicht möglich ist, denn sie ist es, die auch die Imaginationen eines jeden Autors prägt. Es mag daher adäquater sein, von ‚Spuren einer außerliterarischen Referenz’ zu sprechen, die sich in Triptyque immer noch finden lassen, so z.B. in den räumlichen Beschreibungen der Küstenansicht, des Dorfes oder auch der flandrischen Industriestadt. Im Gegensatz zum realistischen oder naturalistischen Roman integrieren sich diese Spuren jedoch nicht mehr zu einem kohärenten und in sich konsistenten Abbild einer äußeren Realität. Der Roman Triptyque entwirft somit nicht mehr das Bild einer stabilen, eindeutig als ‚real’ identifizierbaren fiktiven Welt, sondern schreibt die Unsicherheit über die Unterscheidbarkeit von Fiktion und Realität in die eigene Textstruktur hinein. Wirklichkeit und ihre Repräsentation, Wahrheit und Fiktion verbinden sich in Triptyque unauflösbar miteinander, bis zu- 141 J.H. Duffy: „The Textualization of Time in Conducting Bodies, Triptych and The World about Us.“ (1985), S. 72. <?page no="307"?> 307 letzt keine Gewissheit über den ontologischen Status einer bestimmten Episode innerhalb des Textes mehr zu erlangen ist. 5.4 Metanarration als metapoetischer Kommentar zur Referenz- und Repräsentationsfunktion des Textes Nachdem bislang die metafiktionale Aufdeckung von Künstlichkeit im Sinne von ‚Erfundenheit’ und ‚Gemachtheit’ in Triptyque analysiert wurde, sollen im Folgenden diejenigen Strategien des Textes untersucht werden, die selbstreflexiv sowohl die besondere narrative Verfasstheit als auch den Produktions- und Rezeptionsakt des Romans explizit thematisieren oder implizit spiegeln. Es handelt sich hierbei um die „autoreprésentation de l’axe narratif“ 142 - um die metanarrative Analyse des eigenen Erzählverfahrens innerhalb der Grenzen des Romans selbst; auf diese Weise gibt der Text dem Leser eine Rezeptionsanleitung an die Hand. Diese explizite Kommentierung und implizite Veranschaulichung des eigenen Erzählverfahrens geschieht in Triptyque auf ganz unterschiedliche Weise: So spielt das wiederkehrende Motiv der fente bzw. der déchirure auf die insbesondere im Mittelalter gebräuchliche Technik des Palimpsests an und verweist damit auf Simons Poetik eines ‚Durchblicks’ auf die stets im Verborgenen präsenten übrigen Fiktionen. Daneben lassen sich bestimmte Themen des Romans wie z.B. das Puzzle des Mannes in der ‚Côte d’Azur- Fiktion’ sowie die geometrische Aufgabe des Jungen am Schreibtisch als Umsetzung dieser Poetik lesen. Zuletzt sollen die verschiedenen intermedialen Repräsentationen auf ihre metanarrative Funktion hin untersucht werden: Simon führt in Triptyque vor, wie sich verschiedene ästhetische Konzepte gegenseitig bereichern können. Mittels der Überführung von aus der Cineastik entlehnten Verfahren in seine eigene Poetik beschreitet er einen in seinen Augen angemesseneren Weg der Repräsentation von Wirklichkeit. 5.4.1 Motive als Metaphern für die Poetik des Romans: „la fente“/ „le labyrinthe“/ „le cadre“/ „se déformant sans cesse“ Neben den bereits beschriebenen finden sich in Triptyque weitere Motive, denen die Funktion eines mehr oder weniger expliziten metanarrativen Kommentars zukommt: Sie verweisen metaphorisch auf die Poetik des Romans - insbesondere auf sein Konstruktionsprinzip und sein Erzählverfahren. 142 M. Bertrand: Langue romanesque et parole scripturale: Essai sur Claude Simon. (1987), S. 17. <?page no="308"?> 308 Ein wichtiges wiederkehrendes Element in Triptyque ist das Motiv der „fente“ bzw. der „déchirure“, in einem weiteren Sinne auch das des spaltbreit geöffneten „rideau“, der den Blick auf Dahinterliegendes freigibt. Die Bedeutung dieses Motivs, dem die Funktion eines Leitmotivs zukommt, wird auch aus seinem Erscheinen gleich zu Romanbeginn ersichtlich, wenn die Wachstischdecke auf dem Küchentisch in der Dorf-Fiktion wie folgt beschrieben wird: […] La carte est posée sur le coin d’une table de cuisine recouverte d’une toile cirée aux carreaux jaunes, rouges et roses, fendue d’entailles en plusieurs endroits par les lames de hachoirs ou de couteaux qui ont glissé. Les lèvres effilochées des entailles se soulèvent et on peut voir la trame marron. (T, 7f.) Das Bild der mit Rissen versehenen Tischdecke verweist implizit nicht nur auf die in Triptyque wichtigen Themen ‚Tod’ - die Klingen der Messer, die die Tischdecke beschädigt haben, erinnern an die Tötung des Hasen - und ‚Erotik’ - die ausgefransten ‚Lippen’ der Risse im Wachstuch evozieren die Lippen der Frau, 143 sondern stellt darüber hinaus einen metanarrativen Kommentar zum Text selbst dar: Dabei wird der metaphorisch verwendete Begriff ‚Text’ auf seine ursprüngliche Bedeutung ‚Gewebe’ - abgeleitet vom lateinischen Verb texere ‚weben’ oder ‚flechten’ - zurückgeführt und so die Parallelen zwischen dem Romantext und der Wachstischdecke herausgearbeitet: Ähnlich wie das Gewebe der Tischdecke aus Kett- und Schussfaden besteht, konstituiert sich auch der Text aus verschiedenen bedeutungstragenden Ebenen, die zu einer komplexen Struktur miteinander verbunden werden. Und ebenso wie das zerrissene Wachstuch mit dem Schussfaden - „la trame marron“ - das Grundgerüst des Gewebes durchscheinen lässt, erlaubt auch der Romantext die Durchsicht sowohl auf das sprachliche Material, aus dem er besteht, als auch auf die in einem bestimmten Textabschnitt immer unterschwellig präsenten anderen Fiktionen, Themen oder Motive. Dieses Bild der stets möglichen Durchsicht auf Verborgenes findet sich auch in den übereinander geklebten Plakaten auf der Scheune wieder, in welcher der Liebesakt stattfindet: […] On a probablement dû s’aider d’un couteau pour tailler dans la couche feuilletée des affiches superposées et agrandir la plus large des déchirures ouvertes par les contractions du bois. Sur l’un des bords, la piste ocre du cirque décollée et recroquevillée sur elle-même en rouleau dévoile l’affiche précédente. (T, 14) 144 Hier wird schon expliziter auf die narrative Konstitution des Romans angespielt, da die überklebten Plakate zum Teil zentrale Elemente der anderen Fiktionen - in diesem Fall die in der nordfranzösischen Industriestadt 143 Vgl. auch T, 37, 42f., 160. 144 Vgl. auch T, 10f. <?page no="309"?> 309 spielende Geschichte - aufgreifen: Auch dem Leser ist der voyeuristische Blick auf Verborgenes bei der Lektüre des vorliegenden Textes möglich, da in der Beschreibung einer erotischen Szene auch immer die anderen Liebesszenen mitgemeint sind. 145 In die gleiche semantische Richtung verweisen die vielfachen Beispiele für nicht völlig geschlossene Vorhänge, die durch einen Spalt die Sicht auf dahinter Liegendes erlauben: So ermöglichen die Vorhänge in der Kneipe einen vagen Blick auf ihr Inneres (T, 113); der Schleier der Braut fungiert ebenso als Sichtschutz wie später der echte Vorhang in dem Hotelzimmer, hinter dem sie sich vor den Blicken verbirgt (T, 168, 205, 209ff.). Auch den Bäumen in der Dorf-Fiktion kommt immer wieder die Rolle eines „rideau“ zu (T, 76, 118, 149). 146 Ferner wird zugleich auf die Ambivalenz eines jeden Vorhangs verwiesen, auf die typische Gleichzeitigkeit des Verbergens und Zeigens, wenn die als Vorhang fungierenden Zweige das nackte Mädchen in der Dorf-Fiktion zugleich verhüllen und enthüllen (T, 118). Überhaupt findet sich im Bild des Vorhangs noch stärker als in den anderen genannten Motiven eine Anspielung auf das in Triptyque so wichtige Motiv des voyeuristischen Blicks. Dieses Verfahren einer Überlagerung, bei der das Überlagerte nicht vollkommen verschwindet, erinnert an die antiken und mittelalterlichen Palimpseste, an die Handschriften auf Papyrus oder Pergament, auf denen die ursprüngliche Schrift entweder durch Abwischen oder durch Radieren mit Bimsstein beseitigt und durch eine jüngere ersetzt wurde, ohne jedoch ganz zum Verschwinden gebracht worden zu sein. Simons Roman verweist neben den genannten Motiven anspielungsreich auf diese alte Technik, wenn das Gesicht der mysteriösen alten Frau als parcheminé beschrieben wird (T, 46). Darüber hinaus erinnert diese Erzähltechnik der ständigen, impliziten Präsenz der anderen Fiktionen, Themen und Motive in einer bestimmten Szene an die von Claude Simon schon in La Route des Flandres eingesetzte Überblendungstechnik. In Simons älterem Roman sind jedoch in einer 145 Weitere Beispiele für eine Überlagerung unter Wahrung der Durchsicht auf das Überlagerte vgl. T, 28, 34, 42, 79, 139f., 194. Andere Beispiele für das wichtige Motiv „fente“ bzw. „déchirure“ sind z.B. die zu einem Schlitz geschlossenen Augen des Schauspielers (T, 22, 29, 84,130, 141, 224), die als „fissure horizontale“ wahrnehmbare Quelle des Flusses in der Dorf-Fiktion (T, 67), der für die Münzen bestimmte Schlitz der Jukebox (T, 133), die Schlange „fendant l’eau“ in der Dorf-Fiktion (T, 153), die durch die vielen Köpfe von hinten nur spaltbreit sichtbare Leinwand in der Kino- Scheune (T, 143f.), der einem Schlitz ähnelnde Mund des Harlekins in der Zirkus- Fiktion (T, 181, 183) sowie die nur einen Spalt breit geöffnete Tür in der Côte d’Azur- Fiktion (T, 213). 146 Der Text zieht sogar einen direkten Vergleich zwischen beiden Motiven, wenn der Riss in den Plakaten auf der Scheunenwand mit „les pans de rideaux mal joints“ verglichen wird (T, 44). <?page no="310"?> 310 Überblendung wie z.B. im Fall der Hinterhaltsszene aus dem 2. Weltkrieg mit dem Pferderennen nur diese beiden Szenen präsent, während in Triptyque stets mehrere Szenen mitgemeint sind, die sich oftmals nicht im unmittelbaren Kontext der evozierenden Szene befinden. Ein anderes Motiv in Triptyque, das mehr oder minder deutlich auf die Poetik des Romans verweist, ist das „labyrinthe“, das jedoch nur an zwei Stellen explizit thematisiert wird. 147 So befindet sich an der Wand der zum Kino umfunktionierten Scheune der Dorf-Fiktion neben der Leinwand ein großes Plakat, das ein Konzert einer Gruppe namens Labyrinthe ankündigt (T, 103). Einem Labyrinth gleichen auch die unordentlich auf dem Boden des Film-Studios in der Côte d’Azur-Fiktion herumliegenden Kabel (T, 131). Die Parallele zwischen einem Labyrinth und dem discours in Triptyque besteht nun insbesondere darin, dass sich auch der Leser während der Lektüre des Romans auf der Suche nach einer endgültigen Antwort auf die Frage verliert, welche der erzählten Geschichten denn nun innerfiktional ‚real’ ist. Ebenso wie sich in einem Labyrinth immer wieder eine Abzweigung als Irrweg entpuppt, erweisen sich auch die Zuordnungen einer bestimmten Szene entweder zu dem Pol ‚innerfiktional real’ oder zu dem Pol ‚innerfiktional fiktiv’ stets als falsch, da sich zuletzt jede Szene nicht als Beschreibung einer innerfiktionalen ‚Realität’, sondern nur als ihre Repräsentation offenbart. Ein weiteres wichtiges Motiv in Simons Roman, dem ebenfalls eine metanarrative Funktion zukommt, ist der ‚Rahmen’: „le cadre“. Dieses findet sich bis auf die Zirkusfiktion in allen Episoden des Romans. So besitzen die auf die Scheunenwand geklebten Zirkusplakate eine Umrandung aus einem gelben Band mit roten Sternen (T, 10), auch die durch ein Fenster sichtbare Welt ist stets ‚gerahmt’ (T, 24, 27, 81, 129, 199f.) genau wie auch die Einzelbilder auf den Filmstreifen von den Perforierungen am Rand des Filmstreifens umgeben sind (T, 27). Nicht zuletzt werden gewöhnlich auch Gemälde und Gravüren in einem Rahmen präsentiert (T, 42). 148 Das Motiv des Rahmens bzw. der Umrahmungen verweist zunächst grundsätzlich auf den gerahmten Ausschnitt der Wirklichkeit, den ein Roman typischerweise präsentiert, und damit auf seinen besonderen ontologischen Status: Schließlich handelt es sich bei jeder künstlerischen Beschreibung von Wirklichkeit nicht um ihre naturgetreue Imitation, sondern stets um ihre ideale Repräsentation. Darüber hinaus spielt dieses Motiv 147 Als einzige hat bislang S. Lotringer die Parallelen zwischen einem Labyrinth und Triptyque ansatzweise erkannt; sie findet die labyrinthische Struktur des Textes in den Beschreibungen der nordfranzösischen Industriestadt (T, 62f.) wieder. (S. Lotringer: „Cryptique.“ (1975), S. 329.) 148 Weitere Beispiele für Rahmungen sind der durch die beiden großen Facettenaugen umrahmte Kopf der Fliege (T, 87); die Tür der Kneipe, die den eifersüchtigen Liebhaber wie einen Rahmen umgibt (T, 123); aber auch das von den Koteletten umrahmte Gesicht des Bräutigams (T, 133, 217). <?page no="311"?> 311 auch auf die vielfältigen metaleptischen Rahmenbrüche in Triptyque an, auf die paradoxe Vermischung der Ebenen innerfiktional ‚real’ und ‚fiktiv’, die zuletzt jede Handlungssequenz des Romans infiziert. Ein anderes, häufig wiederkehrendes Motiv beschreibt implizit die Instabilität der fiktionalen Ebenen in Simons Roman: Es handelt sich dabei um Strukturen „se déformant sans cesse“ wie z.B. die Wolken oder das sich im Wind bewegende Blattwerk der Bäume: […] le ciel où les nuages glissent calmement, leurs contours sinueux ou dentelés se déformant sans cesse, dessinant des boursouflures, des golfes et des caps qui saillent, se creusent et se déchirent. (T, 12) 149 Sur les faces inférieures des feuilles d’un aulne dont les branches basses s’avancent au-dessus de l’eau les reflets forment des lacis lumineux qui ondulent, se déforment et se reforment sans cesse. (T, 119) Auch die Spiegelungen des Laubs der Walnussbäume sowie die Reflexion der Ausschnitte des Himmels auf der Wasseroberfläche des Dorfbrunnens vor der Kirche bleiben unter dem Einfluss der Fontäne ständig in Bewegung: Sous l’ombre des grands noyers la surface de l’eau dans la fontaine est presque noire, comme vernie, sans cesse parcourue de rides concentriques qui vont s’élargissant et s’affaiblissant peu à peu à partir du point où tombe le jet et où les reflets des feuilles des noyers et de fragments [sic] de ciel se disjoignent et se rejoignent dans un perpétuel tremblotement. (T, 16) Wie die Wolken, die Blätter im Wind und die Spiegelungen im Wasser verändern sich auch die Fiktionen und die ontologischen Ebenen in Triptyque ohne Unterlass: Die verschiedenen histoires greifen sich gegenseitig in Form intermedialer Repräsentationen wiederholt auf und die fiktionalen Ebenen geraten durch die multiplen Metalepsen und die durch sie bewirkte metafiktive Inszenierung von Fiktivität ins Fließen. Und schließlich gelangt auch die Interpretationsarbeit des Lesers nie an einen Endpunkt, da er ständig das bereits Gelesene an die neuen Informationen angleichen und sein Urteil über den innerfiktionalen ontologischen Status einer Szene wiederholt revidieren muss. 5.4.2 Die ludische Inszenierung der Poetik: das geometrische Problem und das Puzzle Wie nun bestimmte Motive metaphorisch die Poetik des Romans zum Ausdruck bringen, so fungieren bestimmte Themen - das des Puzzles und das des geometrischen Problems - als Umsetzungen dieser Poetik; das heißt, sie spiegeln implizit den Autor bzw. den Erzähler bei der Konstruk- 149 Ebenso T, 13, 97. Darüber hinaus evoziert diese Beschreibung auch die Beschreibung der Küstenansicht in der Côte d’Azur-Fiktion. <?page no="312"?> 312 tion seines Textes bzw. seiner Erzählung. Die geometrische Aufgabe bzw. das Puzzle sind somit Metaphern für den Text selbst, da sich die jeweiligen Konstruktionsverfahren vergleichen lassen. 150 Die Handlungssequenz um das geometrische Problem, das der Junge an seinem Schreibtisch zu lösen versucht, stellt in ihrer Stringenz einen Fremdkörper in den ansonsten scheinbar wuchernden Deskriptionen der Natur dar: Mit knappen Worten und präzisem, geometrischem Vokabular wird die Aufgabenstellung und ihre vom Jungen skizzierte Umsetzung - ein Kreis, ein Dreieck und mehrere Geraden - präsentiert; die entstandene Zeichnung spiegelt - wie zu zeigen sein wird - zentrale Elemente des Textes. An sechs Stellen wird im Roman die Szene des Jungen am Schreibtisch evoziert; in jeder einzelnen nimmt die Lösung der Aufgabe etwas mehr Gestalt an. Zunächst scheint die Erfüllung der in der Aufgabenstellung verlangten Bedingungen noch recht einfach zu sein: La main du garçon trace sur la feuille du cahier un triangle, son cercle circonscrit et une tangente à ce cercle parallèle à l’un des côtés du triangle. Près de chacun des sommets du triangle il inscrit les lettres A, B et C. Puis il prolonge les côtés BA et BC qui coupent la tangente parallèle au côté AC en deux points, A’ et C’. Dessiné à main levée le cercle est un peu aplati, comme le contour d’une pomme et les diverses droites ondulent légèrement. Néanmoins la figure est suffisamment correcte pour permettre de réfléchir au problème posé dont le garçon relit une seconde fois l’énoncé sur la page du livre ouvert, posé sur la table à gauche du cahier : « Connaissant la valeur de l’angle ABC, démontrer : 1) que le rapport des surfaces des triangles ABC et A’B C’ est proportionnel à… » […]. (T, 23f.) Zentrale Elemente der geometrischen Zeichnung sind das Dreieck, der dieses umgebende Kreis und die diesen berührende Tangente. Die Aufgabenstellung selbst bleibt aufgrund ihrer Unvollständigkeit unverständlich. In der Fortführung der Szene erweitert der Junge die Skizze um ein weiteres Dreieck und erstellt nun eine Gleichung: De la pointe de sa plume tournant rapidement sur elle-même, le garçon marque le centre du cercle circonscrit et trace à côté la lettre O. A partir de lui il mène ensuite deux droites aboutissant aux sommets A et C du triangle initial et il écrit au-dessous de la figure l’équation : 150 J.A.E. Loubère hat darüber hinaus noch weitere Metaphern für den Schreib- und Leseakt im Text ausgemacht: die durch die Bewegung des Photographierten verpfuschte Photographie, der brennende Film im Kino sowie die verschiedenen Masken z.B. der Clowns und der Schauspieler. (J.A.E. Loubère: „Triptyque.“ (1975), S. 224.) Hingegen betrachtet M. Andrews den nicht ordnungsgemäß funktionierenden Filmprojektor in der Stadt- und Dorf-Fiktion als Allegorie der fehlerhaften und ineffizienten Performanz des Textes. (M. Andrews: „Formalist Dogmatisms, Derridean Questioning, and the Return of Affect: Towards a Distributed Reading of Triptyque.“ (1987), S. 41.) <?page no="313"?> 313 (T, 27) Im nächsten Schritt markiert er die von der Aufgabenstellung erfragten Winkel durch die Einzeichnung eines kleinen Kreisbogens: Au bout d’un moment il trace un petit arc de cercle allant de l’un à l’autre des côtés de l’angle ABC, non loin de son sommet, puis il répète l’opération pour l’angle AOC en doublant cependant le petit trait courbe par un autre. (T, 32) Danach stellt er eine neue Gleichung auf, die die Winkel und Strecken in ein Verhältnis zueinander setzt: Au-dessous de la première équation le garçon écrit : (T, 38) In der nächsten Szene erweitert er seine Zeichnung erneut um zwei weitere Tangenten: La porte située dans le dos du garçon s’ouvre. Le garçon ne se retourne pas, apparemment absorbé dans son travail, tirant la langue tandis qu’il prolonge d’une main incertaine la droite qu’il vient de tracer. Il peut entendre le bruit des pas qui s’approchent et sent tout contre le dossier de sa chaise la présence de quelqu’un qui se penche par-dessus son épaule et le regarde tracer avec application une troisième tangente au cercle, parallèle cette fois au côté BC du triangle initial, […]. Il peut sentir le regard qui suit sa main tenant le porte-plume et qui écrit maintenant rapidement sous la première équation : (T, 40f.) Am Ende der Episode verwirft der Junge seine Zeichnung: Er reißt die Seite aus seinem Heft heraus, zerknüllt sie und unternimmt einen neuen Versuch, die Aufgabe zu lösen: Le garçon arrache rageusement la page du cahier de brouillon qui se détache mal, tout son côté gauche se découpant en créneaux et en languettes irrégulières. […] Après quoi, reprenant son porte-plume et tirant légèrement la langue, il en- ABC AOC 2 = AOC AC = SA‘ BC‘ SABC AC AE = A‘C‘ A‘D <?page no="314"?> 314 treprend de tracer à nouveau sur la feuille vierge qui s’offre le triangle primitif et son cercle circonscrit, accolant les lettres A, B et C à chacun des sommets du triangle, menant la tangente au cercle parallèle au côté AC et prolongeant les côtés BA et BC jusqu’à leurs intersections avec la tangente où il écrit les lettres A’ et C’. (T, 92) Von der Forschung zu Triptyque wird die geometrische Aufgabe und ihre zeichnerische Umsetzung häufig als Metapher entweder für die strukturelle Organisation des Textes 151 oder für die Arbeit des Schriftstellers interpretiert, dessen Text sich ebenfalls einer strengen dreigeteilten Struktur unterwerfen muss. 152 Nach Ansicht der Kritik wird auch die interne Entwicklung des Textes von den Kreuzungen bestimmt, die durch Polysemien und die verschiedenen Motive generiert werden und zwischen denen sowohl der Schriftsteller als auch der Leser Bezüge herstellen muss. 153 Doch stellt sich die Frage, ob die Ähnlichkeit der geometrischen Zeichnung mit dem Text nicht über die oberflächlich sichtbaren strukturellen Parallelen hinausgeht. Dies lässt sich am einfachsten beantworten, wenn der Versuch unternommen wird, die im Text vorgeschlagene Lösung der Aufgabe tatsächlich umzusetzen; dabei entsteht folgende Zeichnung: Abbildung 20: Zeichnerische Umsetzung der geometrischen Aufgabe in Triptyque 151 F. Jost: „Simon, Topographies de la description et du texte [Triptyque].“ (1974), S. 1038. 152 S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 170. 153 Ebd., S. 170f. O B C A A‘ C‘ D E <?page no="315"?> 315 Wie bereits von der Forschung zu Recht beobachtet wurde, ist die geometrische Zeichnung durch die Zahl ‚drei’ bestimmt: Es finden sich drei Dreiecke, drei Tangenten, der umgebende Kreis wird an drei Stellen durch das Dreieck berührt, wodurch wiederum drei Teile des Kreises abgegrenzt werden. Insofern spielt die Zeichnung auf zentrale strukturelle und thematische Elemente des Textes an wie z.B. die formale Gliederung des Romantextes in drei Teile; die drei zentralen Handlungssequenzen; die drei Orte, an denen die Fiktionen jeweils spielen, sowie das Liebesdreieck gebildet aus der Kellnerin, dem Bräutigam und dem eifersüchtigen Liebhaber in der Stadt-Fiktion. Darüber hinaus finden sich auch im Text vielfältige Beispiele für Dreiecke: So hat das Dach des Kirchturms in der Dorf-Fiktion die Form einer Pyramide (T, 9, 221), der Schlitz in den Plakaten an der Scheunenwand besitzt die Form eines „triangle“ (T, 14), die Postkarte ist im Winkel des Küchentisches aufgestellt, wodurch wiederum ein Dreieck gebildet wird (T, 84), das unverputzte Gemäuer der Kinoscheune in der Dorf- Fiktion bildet ebenfalls Dreiecke (T, 103) ebenso wie der flache Kopf der Schlange einem rechtwinkligen Dreieck zu ähneln scheint (T, 153). In der an der Côte d’Azur spielenden Fiktion erscheinen die vielen weißen Segel der Regatta aus der Luft als kleine Dreiecke (52); in der Stadtfiktion sind die Wagen des Hochzeitszuges „ornée de deux larges rubans de tulle tendus en V“ (T, 168) und in der Zirkusfiktion bilden die beiden Leinen des Affen und des Clowns, die der Harlekin in der Hand hält, ein sich stets verkleinerndes Dreieck (T, 192, 198). Doch neben diesen expliziten Verweisen auf Teile des discours bzw. der histoire in Triptyque spielt die Zeichnung auch auf einige verborgene Phänomene der fiktionalen Welt des Romans an. So bezeichnet der Junge völlig willkürlich die drei Ecken des Dreiecks mit den Buchstaben ‚A’, ‚B’ und ‚C’ und später die Kreuzungspunkte der beiden neuen Tangenten mit ‚D’ bzw. des Berührungspunktes der einen Tangente mit dem das Dreieck umgebenden Kreis mit ‚E’. Ebenso scheinbar willkürlich folgen auf der discours-Ebene die Szenen der verschiedenen Handlungsabschnitte aufeinander. Darüber hinaus präsentiert die obige Zeichnung ‚fiktive’ Punkte - nämlich die Punkte ‚D’ und ‚E’ - die vom Text selbst nicht im Zusammenhang mit der Zeichnung des Jungen genannt werden, sondern nur in der Gleichung auftauchen. 154 Auch im Roman finden sich Ereignisse - der verletzte Bräutigam im Hotel, die weinende Frau in der Küche, das zerwühlte Bett im Hotel an der Côte d’Azur - deren Ursachen vom Text ausgespart werden und die der Leser daraufhin rekonstruieren muss. Die geometrische Zeichnung des Jungen spiegelt folglich zentrale strukturelle, thematische und fiktionale Phänomene des Romans und erfüllt dadurch eine wichtige metanarrative Funktion. 154 Genauso wenig wie übrigens die Aufgabenstellung selbst. <?page no="316"?> 316 Das andere zentrale Handlungselement, dem eine gewisse metanarrative Bedeutung zukommt, ist das Puzzle, das an verschiedenen Orten der Fiktion - entweder als Metapher oder in seiner eigentlichen Gestalt - erscheint und für L. Dällenbach „la métaphore du texte par excellence“ ist. 155 So ähneln die Zweige einer jungen Eiche, die über der glänzenden Wasseroberfläche des Flusses in der Dorf-Fiktion hängen, einem Puzzle: Presque à l’horizontale, deux rameaux d’un jeune chêne, légèrement divergents, détachent leurs feuilles sur le fond éclatant de lumière. Leurs contours sinueux le découpent en parcelles qui viennent s’emboîter, comme les éléments d’un puzzle. (T, 118) Die besondere Bedeutung der zitierten Textstelle liegt darin, dass sie einerseits auf das paradoxe Ende der Dorf-Fiktion hinweist - diese erweist sich zuletzt ebenfalls als eine Repräsentation innerfiktionaler Wirklichkeit und nicht als diese selbst - und andererseits metanarrativ auf die diskursive Verfasstheit des Romans anspielt: So wie die von dem Eichenlaub abgegrenzten Parzellen der hellen Wasseroberfläche Puzzleteilen ähnlich ineinander passen, verbinden sich dank der Motive und der anderen motscarrefour auch die zunächst scheinbar disparaten drei Fiktionen zu einem Ganzen. Am Ende des Romans erscheint dann das Puzzle als innerfiktionale Wirklichkeit auf dem Tisch des Mannes in der Côte d’Azur-Fiktion: Sur la longue table basse de style chinois aux pieds décorés et galbés, au long plateau laqué de noir à l’une des extrémités duquel sont posés un journal local et le Financial Times replié à la page des cours de la Bourse, est étalé un de ces grands puzzles comme les affectionnent les Anglo-Saxons, d’environ quarante centimètres sur soixante. Le puzzle est presque terminé. Une vingtaine de petites pièces encore, aux contours sinueux, sont étalées en désordre sur la droite. L’homme reste un moment à contempler le puzzle sans bouger, puis il se penche en avant et sa main va prendre un des petits morceaux qu’il tient quelques instants au-dessus de l’assemblage que ses yeux parcourent rapidement avant de trouver sa place où il l’insère. […] (T, 220f.) Eine auffallende Parallele zum Text ist die unmittelbar bevorstehende Vervollständigung des Puzzles, die das nahe Ende des Romans widerspiegelt. Eine weitere, eher unauffällige Ähnlichkeit des Puzzles mit dem fiktionalen Text ist die kombinatorische Praxis bzw. l’assemblage, die beiden zu eigen ist. Nicht ohne Grund liegen die Puzzleteile, die noch einzufügen sind, auf der rechten Seite neben dem Puzzle: Auch unsere lateinische Schreibweise erfolgt von links nach rechts - rechts befindet sich also das noch zu Vollendende, sowohl der ungeschriebene Text als auch die verbleibenden Puzzleteile. Und ähnlich wie das vollständige Puzzle sich aus der Gesamtheit 155 L. Dällenbach: „La fin des illusions totalisantes [Triptyque].“ (1977), S. 198. Ebenso: S. Lotringer: „Cryptique.“ (1975), S. 316. In eine semantisch verwandte Richtung weisen die Vergleiche mit „filets“ bzw. „lacis“ (T, 74, 132, 186). <?page no="317"?> 317 seiner Teile ergibt, entsteht auch der Sinn des Romans aus der Kombination einzelner Wörter zu komplexeren Sinnzusammenhängen. Mit der Einfügung des letzten fehlenden Steins ist das Puzzle ebenso vollständig wie die auf ihm abgebildete Fiktion: Penché en avant, les cuisses écartées, l’avant-bras gauche reposant sur la cuisse gauche, l’homme à la stature puissante mais alourdie place de sa main droite la dernière petite pièce, et le dernier îlot de laque noire disparaît, obturé par une partie de la chevelure de l’un des garçons qui se détache sur la surface vernie, olive foncé, de la rivière. (T, 223) Doch am Ende des Romans - das auch das Ende des an der Côte d’Azur spielenden Films ist - zerstört der Mann in einer einzigen Bewegung das Puzzle und fegt es vom Tisch: Toujours avec la même lenteur la tête de l’homme revient à sa position première. Il reste encore ainsi pendant quelque secondes puis, brusquement, sa main droite balaie avec violence la surface de la table, aller et retour, dispersant les petites pièces du puzzle qui s’éparpillent tout autour. Leurs découpures méandreuses ont été calculées de façon qu’aucune d’entre elles, prise isolément, n’offre l’image entière d’un personnage, d’un animal, d’un visage même. A part de très rares exceptions (l’ocre de la robe des vaches, le gris des pierres du pont, le brun violacé des toits) leur ensemble présente toute la gamme variée des verts (émeraude, vert bronze, vert pomme, jade, perse, olive) et elles forment comme un archipel de petites îles creusées de baies, de golfes, hérissées de caps, sur le fond rouge de la moquette. […] (T, 224) Die finale Zerstörung des Puzzles stellt ein eigenes Paradoxon dar: 156 Zum einen verkörpert die mediale Repräsentation einer Szene aus der Dorf- Fiktion eine Metalepse, die diese Fiktion metafiktional als innerfiktional fiktiv bzw. ‚künstlich’ entlarvt und die Realitätsfiktion der Ereignisse in dem Dorf dekonstruiert. Zum anderen spiegelt die Zerstörung des Puzzles die allgemeine Dekonstruktion eines stabilen Sinns in Triptyque insbesondere durch die multiplen Metalepsen wider: Wiederholt erweisen sich Teile der Handlung bzw. der histoires nicht als innerfiktionale Realität, sondern stets nur als ihre Repräsentation. Insofern spielt die Destruktion des Puzzles am Romanende metafiktional auf die Zerstörung der realistischen Konventionen durch Simons Roman an. Darüber hinaus verweist auch das Charakteristische eines Puzzles - die einzelnen Teile zeigen in der Regel nie vollständig eine Person, ein Gesicht oder einen Gegenstand - auf eine spezifische Qualität des Simonschen 156 So S. Sykes in seiner Studie zu Triptyque: „Joli paradoxe: la « représentation » est terminée, mais entre-temps l’illusion de la fiction réaliste a été détruite dans le circuit clos du texte.“ (S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 175 ; ebenso S. Lotringer: „Cryptique.“ (1975), S. 332.) <?page no="318"?> 318 Textes: Auch der die drei Fiktionen erst hervorbringende discours bildet nicht die ‚ganze Wahrheit’ der histoire ab; Ambivalenzen und Ellipsen lassen dem Leser genügend Spielraum, im Laufe des Rezeptionsprozesses das Fehlende imaginativ zu ergänzen. 5.4.3 Die intermediale Inszenierung der Poetik: Malerei, Photographie und Cineastik Eine wichtige metanarrative Funktion besteht neben der allgemeinen Spiegelung zentraler Elemente des Erzählverfahrens und der Poetik des Romans auch die kreative Verwendung fremder ästhetischer Konzepte für die Anschaulichkeit des Erzählens in Triptyque. Von der Forschung wurde bereits früh auf die drei Künstler - Jean Dubuffet, Francis Bacon und Paul Delvaux - verwiesen, deren Gemälde Simons Triptyque zugrunde liegen, 157 doch erst Jean H. Duffy identifizierte eindeutig die jeweiligen Werke und die Wirkung, die sie auf die strukturelle und thematische Konstitution des Romans ausgeübt haben. 158 Allerdings sah sie wie andere Kritiker auch diesen Einfluss begrenzt auf die mögliche Anregung der Imagination des Autors Simon und der daraus resultierenden Interpretation von auf den genannten Gemälden abgebildeten Szenen oder Gegenständen in den Text. 159 Doch greift meines Erachtens diese Hypothese einer generativen Funktion der Gemälde zu kurz: Triptyque - wie im Übrigen auch die Mehrheit der anderen Romane Simons - mag sehr wohl durch die Ästhetik der zeitgenössischen Malerei sowie der des Barock beeinflusst worden sein, doch geht es Simon noch um ein anderes Ziel. Er versucht stets, ihm als adäquat erscheinende Verfahren zur Konstruktion fiktiver Realität aus den bildenden Künsten - der Malerei, der Photographie sowie in Triptyque 157 So S. Sykes: „1973-1975. Triptyque, Leçon de choses: consécration de l’espace romanesque.“ (1979), S. 169. 158 Es sind dies der Hourloupe cycle von Jean Dubuffet und insbesondere folgende Gemälde: La vie de famille, La marée de l’Hourloupe, Les riches fruits de l’erreur; ferner haben von Paul Delvaux vor allem die Gemälde Vue de la Gare du Quartier Léopold (1920), Le Canapé bleu (1967), Petite Place de Gare (1963) und Les Trains du soir (1957) auf Simon eine Wirkung ausgeübt und schließlich sind auch einige Gemälde Francis Bacons von Simon in Triptyque intermedial zitiert worden: Triptych - Three Studies for a Crucifixion (1962), Portrait of George Dyer and Lucien Freud (1967), Three Figures in a Room (1964), Triptych Inspired by T.S. Eliot’s poem ‘Sweeney Agonistes’ (1967) und Portrait of George Dyer in a Mirror (1968). (J.H. Duffy: „The artwork as Generator.“ (1998), S. 114-134. Vgl. die Reproduktionen einiger Bilder im Anhang.) 159 So erkannte J.H. Duffy „[…] considerable evidence of the interaction of stimuli and of the synthesis of elements from the work of more than one painter in the production of a single textual motif or image.” (J.H. Duffy: „The artwork as Generator.“ (1998), S. 129.) Vgl. ebenfalls M. Zupan i : „Les Générateurs picturaux dans l’écriture simonienne.“ (1982), S. 105. <?page no="319"?> 319 insbesondere der Cineastik - in das lineare Erzählverfahren des literarischen Textes zu übertragen. Im Folgenden sollen daher diejenigen Passagen einer genaueren Betrachtung unterzogen werden, die einen Vergleich der literarischen Techniken mit denen anderer Künste erlauben bzw. die eine Reflexion des unbekannten Erzählers über die aus anderen Künsten entnommenen Verfahren darstellen. In Triptyque finden sich implizite oder explizite Verweise auf die Malerei im weitesten Sinne eher selten. Es sind vor allem die Beschreibungen von Gemälden und Zeichnungen, die Elemente der Handlung aufgreifen und häufig in detaillierter oder paradoxer Form präsentieren. So parodieren die beiden Gravüren, die an der künstlichen Wand des Filmstudios hängen, Elemente aus der Dorf-Fiktion (T, 42f., 195f.), während die anatomische Zeichnung eine Parallele zu der nackten Schauspielerin auf dem Bett zieht (T, 81f.). Ähnliches gilt für das Gemälde, das paradoxerweise den zuvor noch in einem Film ‚lebendigen’ Mann aus der Côte d’Azur-Fiktion nun ‚gemalt’ am Telefon zeigt (T, 127). 160 Darüber hinaus werden wiederholt Elemente von Deskriptionen zur besseren Veranschaulichung mit bestimmten Maltechniken verglichen. So ähnelt die misslungene Aufnahme des sich zu schnell bewegenden „homme-oiseau“ einem schnellen Strich mit einem Pinsel, der ungleichmäßig Farbe aufgenommen hat 161 und der wie in einem Kubus isoliert liegende Körper der nackten Schauspielerin auf dem Bett erinnert an gewisse, sparsam kolorierte, orientalische Stiche (T, 50). Die Atmosphäre der im Regen daliegenden nordfranzösischen Stadt soll dagegen durch den Vergleich mit „[…] ces aquarelles aux couleurs ternes où le ciel, la surface des canaux, les arbres aux branches noires, les pierres, semblent faits d’une seule et même matière diluée par l’eau[.]“ (T, 170) anschaulicher werden. Dagegen wirkt das Licht des Mondes auf der ländlichen Landschaft der Dorf-Fiktion „comme une couche de peinture argentée“ (T, 213). Auch das Gesicht des Mannes in der Côte d’Azur-Fiktion wird mittels eines Vergleichs aus der Malerei beschrieben: „Son visage sanguin, incliné en avant, baigne tout entier dans une demi-teinte violacée trouée d’ombres noires, comme sommairement échauché par un peintre qui se serait arrêté après avoir posé de hâtives indications.“ (T, 223) Die zitierten Beispiele verdeutlichen, dass die von Simon als Inspirationsquelle herangezogenen Gemälde nicht allein als Generator der Handlung dienen, sondern dass sie bzw. Teile von ihnen darüber hinaus als 160 Vgl. ferner das Gemälde des Hasen (T, 161) und das der beiden Clowns (T, 190). 161 T, 31: „[…] comme si l’espace entre les deux profils avait été balayé d’un coup de pinceau aux poils inégalement chargés de couleur.“ <?page no="320"?> 320 Vergleichsobjekte fungieren, die mit den Verfahren der Malerei die beschriebenen Elemente des Romans anschaulicher werden lassen sollen. Ein weiteres Vergleichsmedium, das die Beschreibungen von Szenen und Objekten in Triptyque entscheidend beeinflusst, ist die Photographie, die schon in früheren Romanen Simons wie z.B. Histoire (1967) eine wichtige Rolle gespielt hat. Wie bereits erwähnt wurde, 162 fungiert die eingangs beschriebene Postkarte, die eine Ansicht der Côte d’Azur präsentiert, als negatives Modell für die Ästhetik des Romans: Indem sie die Wirklichkeit scheinbar authentisch repräsentiert, wird sie ihr nicht gerecht - das von ihr mit den Mitteln der Photographie gezeichnete Bild ist durch eine monochrome und dadurch künstliche Farbgebung charakterisiert. Die Passage lässt sich somit als Kritik an der Photographie interpretieren, die sich repräsentationsoptimistisch als einzige die realistische Abbildung von Wirklichkeit zuschreibt. Ein weiteres Manko der Photographie wird im Zusammenhang mit den Filmfragmenten thematisiert: Zu schnelle Bewegungen des photographierten Objekts erscheinen auf dem Bild als Verwischung. So zeigt das Fragment, auf dem l’homme-oiseau beim Vollzug einer schnellen Kopfdrehung abgebildet ist, „[…] à la fois deux profils tournés en sens opposés et reliés par une trace claire striée horizontalement de traînées sombres à hauteur des yeux et de la bouche, […]“ (T, 31) und verfälscht auf diese Weise ebenfalls die ursprüngliche Wirklichkeit, anstatt sie adäquat zu repräsentieren. Doch neben dieser offensichtlichen Kritik am Medium der Photographie kommentieren die Beschreibungen von Photos in Triptyque metapoetisch die Poetik des Romans. Im Falle der Filmfragmente, die die beiden Jungen betrachten, finden sich beispielsweise von einem Einzelbild zum nächsten kaum Modifikationen der abgebildeten Objekte bzw. Figuren - ein Phänomen, das der unbekannte Erzähler als Vorliegen einer Sprechszene interpretiert (T, 80). Diese Charakterisierung lässt sich auch auf verschiedene Szenen des Romans selbst übertragen wie auf die Liebesszene an der Backsteinmauer oder auf die stets nahezu unveränderte Szene der nackten Frau auf dem Bett in der Côte d’Azur-Fiktion: Auch hier verändern die beschriebenen Elemente von einer Sequenz zur nächsten kaum ihre Lage. Darüber hinaus fungiert die Photographie wie die Malerei als Vergleichsobjekt, um die Beschreibungen besser vorstellbar werden zu lassen: So scheint das halbnackte Mädchen hinter dem Busch in der Dorf-Fiktion mit seiner weißen Haut das Licht auf sich zu konzentrieren „[…] ou plutôt, 162 Vgl. oben Kap. 5.2.2 Die Kontamination ontologischer Ebenen: Metalepsen und fiktionsgenerierende Deskriptionen. <?page no="321"?> 321 comme dans ces films surexposés, scintiller faiblement, comme si elle était elle-même une source de lumière.“ (T, 119) 163 Das Verhältnis des Romans zur Photographie erweist sich demnach als ambivalent: Einerseits wird ihr die Fähigkeit abgesprochen, ein adäquateres Bild der Wirklichkeit zu erzeugen als die Literatur, andererseits kommentiert sie wie die Malerei metanarrativ die Poetik des Romans bzw. sie fungiert als Vergleichsobjekt, um das Beschriebene in Triptyque sinnfälliger werden zu lassen. Mehr noch als die Malerei und die Photographie ist die Cineastik das herausragende Medium in Triptyque, das ebenso wie die beiden anderen Kunstformen häufig als Quelle metanarrativer Kommentare fungiert, darüber hinaus aber auch die Poetik - bzw. genauer: die Erzähltechnik - des Romans illustrieren soll. Wie Irene Albers in ihrer Studie zu den Photographischen Momenten bei Claude Simon bereits betont hat, zielt Simons Interesse vor allem auf die photographische Seite des Films, d.h. auf das stillstehende, von einem Vorher und Nachher isolierte Einzelbild, da in diesen Zwischenräumen zwischen den Filmbildern „[…] die Rätsel und Geheimnisse liegen, welche nach einer narrativen Auflösung verlangen, die Simon ihnen aber nicht gewährt.“ 164 Auch hier klingt wie bereits schon bei J.H. Duffy im Zusammenhang mit den als générateurs fungierenden Gemälden eine Begrenzung der Filmbilder auf ihre fiktionsgenerierende Funktion an. Dagegen ist einzuwenden, dass sich in Triptyque Beschreibungen finden lassen, die durch den Vergleich auch mit aus der Cineastik stammenden Techniken darauf zielen, das Beschriebene anschaulicher werden zu lassen. Dazu zählen die Vergleiche des Handlungsablaufs mit dem filmischen Verfahren der Zeitlupe, z.B. wenn der eifersüchtige Liebhaber in der Stadt- Fiktion langsam den seidenen Chiffonstoff aus der Manteltasche der Kellnerin zieht (T, 124). Neben diesen direkten Vergleichen von Handlungen mit aus der Filmkunst stammenden Techniken finden sich auch mehr oder weniger explizite metanarrative Kommentare, die auf die Ähnlichkeiten zwischen dem Erzählverfahren des Romans und dem eines Films verweisen. So wird wiederholt die Sicht auf eine Szenerie aus einer vue plongeante beschrieben, die an eine auf einen Kran montierte Kamera erinnert (T, 126), zugleich aber auch auf die Allwissenheit und gottgleiche Sicht eines auktorialen Erzählers auf das fiktive Geschehen anspielt. Ähnlich verhält es sich mit der Nahaufnahme der Schauspielerin in der Studioszene (T, 215f.): Diese lässt sich als metapoetischer Kommentar zu der dem Roman inhärenten 163 Diese Beschreibung evoziert die Beschreibung der „fille laiteuse“ in La Route des Flandres. 164 I. Albers: Photographische Momente bei Claude Simon. (2002), S. 113. In eine ähnliche Richtung weist auch die Analyse der Filmfragmente von S. Lotringer, der in ihnen „la fiction d’une narration“ erkennt. (S. Lotringer: „Cryptique.“ (1975), S. 317.) <?page no="322"?> 322 Beschreibungstechnik lesen. Auch diese ist geprägt von ‚Nahaufnahmen’ der beschriebenen Objekte, die sich vor allem durch eine besondere Detailgenauigkeit auszeichnen und eine Egalisierung der Kategorien ‚Mensch’ und ‚Tier’/ ’Insekt’ bzw. ‚belebt’ und ‚unbelebt’ bewirken. Auch die komplizierten Kamerabewegungen, die nötig gewesen sein müssen, um die mutmaßliche Geldübergabe zwischen dem korpulenten Mann und dem homme-oiseau zu filmen, erinnern an den ebenfalls kompliziert gestalteten discours des Romans: Le plan suivant a dû faire l’objet de tous les soins du metteur en scène car il suppose une série de mouvements compliqués de la caméra s’approchant, s’éloignant, se rapprochant de nouveau, cadrant successivement : une serviette de cuir noir à fermoir métallique, puis les deux protagonistes assis sur une banquette, comme celle d’un bar, puis l’un ou l’autre de leurs visages, et, à la fin, de nouveau la serviette, mais ouverte cette fois, et dont on peut voir l’intérieur rempli de liasses de billets. (T, 140) Ähnlich wie die Kamera im Film richtet sich auch der Fokus des Erzählens abwechselnd auf die verschiedenen Episoden der drei bzw. vier Fiktionen; diese werden mit einer mehr oder minder großen Detailgenauigkeit beschrieben. 165 Abschließend soll das wichtige Phänomen des beschädigten bzw. nichtvollständigen Films auf eine unterschwellig metanarrative Aussage hin untersucht werden. Unvollständige Filmstreifen finden sich an zwei Stellen im Roman: Einerseits in der Dorf-Fiktion, wenn die beiden Jungen versuchen, die aus der Batterie entnommenen Filmstreifen mit den bereits vorhandenen in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, und andererseits im Zusammenhang mit der Projektion des Films auf die Kinoleinwand. Die Filmfragmente, über die die beiden Jungen verfügen, gehören verschiedenen Genres an, so dass die beiden zunächst eine Auswahl von fünf verschiedenen Filmstreifen treffen müssen, „[…] qui leur semblent présenter une certaine unité et qu’ils entreprennent maintenant de classer dans un ordre sur lequel ils restent toutefois incertains, discutant entre eux, et les repassant plusieurs fois en revue.“ (T, 171) 166 Ähnlich wie die Jungen wird auch dem Leser von Triptyque eine gewisse ‚Sortierarbeit’ auferlegt, da - wie bereits gezeigt wurde - die Chronologie des Erzählens nicht dem eigentlichen Handlungsverlauf entspricht. Und ebenso wie die von den Jungen festgelegte Ordnung aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit keine endgültige ist, muss jeder Versuch, die fiktiven Ereignisse in Simons Roman in eine endgültige chronologische Reihenfolge überzuführen, scheitern. 165 Vgl. auch die Fortführung der beschriebenen Szene auf T, 141-143. 166 Vgl. ebenso T, 174f. <?page no="323"?> 323 Im nächsten Schritt ihres Ordnungsversuchs müssen die Jungen feststellen, dass bei einer Handlungssequenz anscheinend einige Filmbilder fehlen: Aux trois premiers […] se sont ajoutés un quatrième et un cinquième que le plus grand a sorti de sa poche après coup et sur lesquels, en deux fois cinq images, on peut suivre les diverses phases d’une même scène dont cependant, entre les deux séries, il manque très évidemment une phase intermédiaire. (T, 171) Die fehlenden Szenen verweisen ebenfalls metanarrativ auf den discours des Romans: Auch hier fehlen zentrale Episoden wie z.B. der Unfalltod des kleinen Mädchens oder die Schlägerei zwischen Bräutigam und eifersüchtigem Liebhaber, die der Leser aus dem Kontext rekonstruieren muss. 167 Und nicht zuletzt scheint der Roman eine explizite Autokritik zu liefern, wenn die Atmosphäre der auf den Fragmenten abgebildeten Szenerie der an der Côte d’Azur spielenden Szene wie folgt beschrieben wird: Cependant, en dépit (ou peut-être en raison même) de la somptuosité du mobilier dont l’arrangement et l’entretien postulent l’intervention d’un personnel mercenaire, il se dégage de l’ensemble une sensation de vacuité, d’anonymat et de désolation, comme si les protagonistes n’étaient là que de passage, dans un cadre provisoire et factice auquel ils n’ont aucune part, disposé la veille par des machinistes prêts à le démonter et isolé par les projecteurs comme un minuscule et éphémère îlot de lumière dans l’immensité du cosmos ou, plus simplement, d’un vaste hangar de studio, tout aussi noir et tout aussi vide. (T, 172f.) Das Mobiliar erweckt trotz seiner augenscheinlichen Gepflegtheit den Eindruck einer gewissen Anonymität und Verzweiflung, so dass der ganze Rahmen - das Zimmer, in dem sich das Paar aufhält, die Einrichtung etc. - nur einen provisorischen und künstlichen Charakter erhält, der stark an seine reale Existenz in den Hallen eines Filmstudios erinnert. Diese Darstellung lässt sich auch auf die banalen histoires des Romans übertragen, deren fiktives Personal und fiktive Welt merkwürdig flach und austauschbar erscheinen und die damit an die Künstlichkeit der Fiktionen - an ihre Erfundenheit und Artifizialität - erinnern. Insofern lassen sich die Filmfragmente und die mit ihnen verbundenen Probleme der Chronologisierung und der Interpretation als metanarrativer Kommentar zum discours und zu den histoires in Triptyque lesen. Auch das Phänomen des zerstörten - zunächst stillstehenden, dann brennenden - Films spielt metanarrativ auf gewisse Phänomene in der Organisation des discours in Simons Roman an: So wie die Schauspieler mitten in der Bewegung förmlich erstarren und die Zeit in ihrem Verlauf scheinbar angehalten wird, verzögert sich in Triptyque auch die Handlung bis hin zum völligen Stillstand, der narrativen Pause: 167 Vgl. ebenso die durch den Filmbrand zerstörten und nun fehlenden Bilder (T, 197). <?page no="324"?> 324 […] le film se coinçant à ce moment précis dans l’appareil de projection et les deux protagonistes restant soudain figés dans cette posture, comme si tout à coup la vie se retirait d’eux, le temps cessant de s’écouler, l’image ne constituait qu’une phase passagère, un simple relais, accédant tout à coup à une dimension solennelle, définitive, […] (T, 195) Insbesondere im Zusammenhang mit den Beschreibungen kommt es im Text zu keinem Fortgang der Handlung; darüber hinaus gelingt es Simon auch durch aus der Cineastik entlehnte und literarisch umgeformte Techniken wie der Zeitlupe, die Handlungsabfolge scheinbar zu verlangsamen. Im weiteren Verlauf der Beschreibung des auf der Leinwand stillstehenden Films verliert das dort abgebildete Paar zunehmend sein menschliches Aussehen und wird zu zwei weiteren unbelebten Objekten unter den landwirtschaftlichen Gegenständen, die sich in der Scheune befinden: „[les deux personnages] […] passant d’un instant à l’autre à l’état d’objets inertes, choses parmi les choses qui les entourent sur la surface de l’écran et dont l’œil, jusque-là accaparé par les formes mouvantes, prend alors peu à peu conscience […]. (T, 195) Interessant in diesem Zusammenhang ist die Wirkung des scheinbar in der Bewegung erstarrten Paares auf das Auge des Betrachters: Das an die Bewegung der Filmbilder gewöhnte Auge nimmt die in ihrer Bewegung ‚eingefrorenen’ Menschen nun wie die unbelebte Umgebung der Scheune als Objekte wahr und nicht mehr als Menschen. Auch diese Textstelle lässt sich somit als mehrfacher metanarrativer Kommentar zu der von Simon in Triptyque entwickelten Poetik lesen: Wie bereits deutlich wurde, liegt eine Besonderheit der Deskriptionen darin, die Grenzen zwischen belebten und unbelebten Objekten, zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen einzuebnen. Darüber hinaus lässt sich die zitierte Stelle auch als Kommentar zur diskursiven Konstitution der Fiktionen lesen, da hier ebenfalls eine paradoxe Grenzüberschreitung - die von innerfiktionaler Fiktion zu innerfiktionaler ‚Realität’ und vice versa - festzustellen ist. Zuletzt beginnt der Film im Projektor vermutlich aufgrund der großen Hitzeeinwirkung zu brennen; dies wird erkennbar als ein sich rapide vergrößernder weißer Fleck auf der Leinwand, der das Filmbild nach und nach ‚verschluckt’: […] jusqu’à ce que, comme pour confirmer l’impression de catastrophe, apparaisse une tache blanche, aveuglante, dont le pourtour roussi s’agrandit avec rapidité, dévorant sans faire de distinction les deux corps enlacés, les outils et les murs de la grange, les lumières se rallumant alors, l’écran vide maintenant, terne et uniment grisâtre. (T, 195) Die metanarrative Konnotation des Zitats liegt hier in der großen Ähnlichkeit zwischen dem das Filmbild zerstörenden weißen Fleck auf der Leinwand und den die realistische Illusion zerstörenden bzw. die Künstlichkeit der fiktiven Welt postulierenden metafiktionalen Strategien in Triptyque. <?page no="325"?> 325 Auch die drei Fiktionen des Romans werden von den verschiedenen Medien, in denen sie repräsentiert werden, und dem damit einhergehenden Verlust an innerfiktionaler Realität ‚verschlungen’, bis zuletzt nur noch mediale Repräsentationen von innerfiktionaler Realität, jedoch nicht diese selbst, zurückbleiben. Es bleibt festzuhalten, dass neben der Malerei und der Photographie insbesondere die Cineastik in Triptyque Verfahren und Phänomene präsentiert, die sich als metanarrative Kommentare zur Narration und allgemein zur Poetik des Romans lesen lassen. Zuletzt bleibt die Frage nach der Funktion derartiger Kommentare: Diese mögen als augenzwinkerndes Spiel mit dem Leser gedacht sein, stellen darüber hinaus jedoch eine konkrete Handlungsanweisung dar, indem sie bestimmte Rezeptions- und Decodierungsstrategien aus der Cineastik auf die Narrativik eines postmodernen Romans übertragen. 5.5 Zusammenfassung In Simons Triptyque wird ‚Fiktion’ vor allem implizit metafiktiv auf der Ebene der Geschichte und metafiktional auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung kommentiert: So erweist sich Referenz auf Wirklichkeit innerhalb und außerhalb des Textes schlechterdings als unmöglich und auch die sprachliche und fremdmediale Repräsentation misslingt stets in letzter Konsequenz. Insbesondere die auffälligen Metalepsen entlarven als paradoxe Überschreitung der Grenze zwischen den Ebenen innerfiktional ‚real’ und ‚fiktiv’ zuletzt alle histoires als medial vermittelte Repräsentation von fiktiver Wirklichkeit und enthüllen dadurch metafiktiv die Fiktivität bzw. die fehlende Referenz der erzählten Geschichte. Daneben zielen auch andere Phänomene der histoire wie ihre auffallende Spannungslosigkeit und Sinnarmut, die fehlende Psychologisierung der Figuren und vor allem die Reduktion der eigentlichen Handlung durch hypertrophe Deskriptionen auf eine Entwertung der Geschichte, welche wiederum das metafiktionale foregrounding der Künstlichkeit der fiktionalen Welt befördert. Darüber hinaus haben sich - im Vergleich zu La Route des Flandres - auch die Beeinträchtigungen des discours in ihrem Ausmaß verändert: Nun hat sich der Erzähler vollends aus der Vermittlung der Ereignisse zurückgezogen; es bleibt ein nicht näher identifierbares „on“ zurück, das die fiktive Welt des Romans vor allem im optischen Modus vermittelt, jedoch ohne über einen Einblick in das Fühlen und Denken der Figuren zu verfügen. Das Erzählverfahren lässt daher eher an ein unbelebtes Kameraauge als an eine anthropomorphe Erzählinstanz denken. Auf eine mediale Vermittlung der Ereignisse weisen indes auch die wiederholten, z.T. paradoxen und nicht auflösbaren, Anachronien in der narrativen Präsentation der Ereignisse sowie die markante Fragmentierung der Handlung hin: In ihrer <?page no="326"?> 326 scheinbaren Willkür und aufgrund der fehlenden Plausibilisierung durch die Handlungslogik lassen diese Brüche den discours nicht als die literarische Vermittlung einer fiktiven Geschichte, sondern vielmehr als die narrative Transkription eines schlecht geschnittenen Films erscheinen. Die genannten Verfahren verbindet jenseits der metafiktionalen Thematisierung bzw. Inszenierung von Fiktivität und Fiktionalität auch die kritische Diskussion der Referenzfunktion der Literatur bzw. allgemein der Künste auf eine präexistente Realität. In diesem Rahmen vertritt Simons Roman die Sicht, dass eine adäquate Repräsentation der außerliterarischen Wirklichkeit mit den individuellen künstlerischen Mitteln nicht möglich sei: jedes mediale Abbild der Realität muss verzerrt bleiben und kann ihre wesentlichen Aspekte nicht angemessen darstellen. Neu in Triptyque im Vergleich zu La Route des Flandres ist schließlich der Umfang fremd-medialer Repräsentationsformen wie die Cineastik, welche in die sprachliche Zeichenstruktur des Textes integriert werden. Diese fungieren als Generator von Handlung, wenn sich die Beschreibung einer auf einem Plakat oder einem Puzzle abgebildeten Szene plötzlich zu beleben scheint und schließlich den Status einer Handlung erhält. Darüber hinaus dienen die Vergleiche mit fremdmedialen Verfahren der Wirklichkeitskonstitution auch der metanarrativen Illustration des eigenen Erzählverfahrens bzw. der Romanpoetik allgemein. Eine ähnliche Rolle übernehmen ferner bestimmte Motive und Themen des Romans, die autoreflexiv auffällige Merkmale des Erzählens entweder explizit thematisieren oder implizit vorführen und daher ebenfalls über eine metanarrative Funktion verfügen. <?page no="327"?> 327 6 De-/ Rekonstruktion historischen Erzählens: Metafiktion und Metahistoriographie in Les Géorgiques (1981) 6.1 Einführung Simons Alterswerk Les Géorgiques zeichnet sich noch mehr als seine Vorgänger durch das autobiographische bzw. biographische Substrat aus, das seiner fiktiven Welt zugrunde liegt: so hat Simon einerseits eigene Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg in diesem Text verarbeitet und sich andererseits narrativ-fiktional dem Schicksal eines Vorfahren aus dem 18. Jahrhundert angenähert. 1 Diese übergeordnete historische Thematik des Romans wird bereits durch den Titel - Les Géorgiques - angedeutet, welcher den Roman in einen historischen Kontext situiert, verweist er doch explizit auf die Georgica Vergils, die dieser im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung für Augustus’ Veteranen als Lobpreisung der Landarbeit gegenüber der ‚Kriegsarbeit’ verfasst hat. 2 Auch wenn sich keine weiteren direkten Zitate des lateinischen Prätexts in Simons Werk finden, so ist doch das Vorgängerwerk thematisch stets präsent: Es sind die Virulenz der Themen ‚Krieg’ und ‚(Land)Arbeit’ und ihre ambivalente Wertung in Les Géorgiques, welche die beiden Texte sowohl verbinden als auch trennen und darüber hinaus das zentrale Geschichtsthema illustrieren. 3 Verkörpert werden diese beiden zentralen Themen durch die Lebenserfahrungen dreier Männer, die alle jeweils zu ihrer eigenen Zeit mit den direkten und indirekten Auswirkungen des Krieges konfrontiert waren und die ganz unterschiedliche Antworten auf diese Grenzerfahrungen 1 Simon selbst wehrte sich gegen die Kategorisierung seines Textes als ‚historischer Roman’ mit der Begründung, dass er keine vollständige Biographie des Generals Lacombe Saint Michel (‚L.S.M.’) liefere (C. Simon: „Fragments de Claude Simon. [Eribon, D.].“ (1981), S. 21.). 2 Das lateinische Adjektiv georgicus (= „den Landbau betreffend“, „vom Landbau“) stammt aus dem Griechischen: gê = „Erde“ und ergon = „Arbeiten“ und meint das „Bearbeiten der Felder“, im übertragenen Sinne auch der Schlachtfelder des Krieges. In Simons Roman gewinnt Georgica auch noch eine dritte - selbstreflexiv auf den eigenen Text verweisende - Bedeutung: das ‚Bearbeiten’ der zunächst leeren Seiten durch den Autor. (Vgl. hierzu auch R. Sarkonak: „The Georgics (Les Géorgiques).“ (1990), S. 172f.) 3 Darüber hinaus findet sich in Les Géorgiques häufig der Name ‚Georges’ bzw. Derivate von diesem: die Hand des alten Mannes, welcher die Cahiers des Generals durchblättert, ähnelt der „crêpe georgette“ (G, 24), der tunesische Premierminister ist ein „georgiano grasso“ (G, 48f.) und bei dem mysteriösen „O.“ des vierten Kapitels handelt es sich um George Orwell. <?page no="328"?> 328 gefunden haben: ein namentlich nicht genannter Mann erinnert sich zum einen an seine Kindheit und Jugend in der südwestfranzösischen Provinz 4 , wo seine Familie ein repräsentatives Stadthaus besaß. Zum anderen sieht er sich wiederholt den Erinnerungen an traumatische Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg ausgesetzt, über die er anscheinend bereits in einem Roman zu berichten versucht hat. Eine weitere Figur des Romans, deren Leben der Text in Ausschnitten darstellt und die nur als „Général (Jean-Pierre) L.S.M.“ 5 bezeichnet wird, erweist sich als Zeitgenosse und vor allem militärischer Akteur der Französischen Revolution bzw. des Empire und scheint in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zum Erstgenannten zu stehen. Und schließlich präsentiert der Text die Erfahrungen eines ebenfalls unbestimmt bleibenden „O.“ 6 ; dieser hat vom Winter 1936/ 37 bis Juni 1937 in Spanien am Bürgerkrieg teilgenommen und auf der Seite der marxistischen POUM 7 in Barcelona und an der Aragonesischen Front gekämpft. Diese zunächst scheinbar disparat nebeneinander stehenden Lebenserfahrungen werden durch verschiedene, vor allem thematische und motivische, Spiegelungseffekte miteinander verbunden, welche die Gewalt- und Kriegserfahrungen der Protagonisten gleichsam als überzeitlich und als einzige historische Kontinuität erscheinen lassen. Auch wenn das Geschichtsthema bereits Gegenstand verschiedener Untersuchungen war, hat die für Les Géorgiques so charakteristische kritische Reflexion der Möglichkeiten einer historiographischen bzw. auto-/ biographischen Rekonstruktion von vergangener Wirklichkeit bislang nur wenig Aufmerksamkeit erfahren; mit diesem repräsentationskritischen Ansatz schreibt sich Simon ein in immer noch aktuelle Diskurse der Geschichts- und Literaturwissenschaft. 8 4 Es handelt sich allem Anschein nach um Perpignan. 5 Die Abkürzung ‚L.S.M.’ steht vermutlich für ‚Lacombe Saint-Michel’ - das ist der reale Familienname des Generals -, ohne dass jedoch von einer Identität zwischen der fiktiven Figur L.S.M. und der historischen Person des Revolutionsgenerals ausgegangen werden kann. 6 Nicht zufällig verweist die Wahl der Initiale auf die ebenfalls „O.“ genannte Erzählbzw. Wahrnehmungsinstanz aus La Bataille de Pharsale. In Les Géorgiques verbirgt sich hinter „O.“ jedoch ein fiktionalisierter, d.h. um fiktive Züge angereicherter, George Orwell, der Verfasser der von Simon in diesem Text kritisch diskutierten Homage to Catalonia. 7 POUM = Partido Obrero de Unificación Marxista (dt. „Arbeiterpartei Marxistischer Vereinigung“). 8 So bildet ein Auszug aus Simons Les Géorgiques den Epilog eines von Christoph Conrad und Martina Kessel herausgegebenen Überblicks über aktuelle theoretische Diskussionen in der Geschichtswissenschaft. (C. Conrad und M. Kessel (Hgg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. (1994)) Innerhalb der Simonforschung weist allein A. Duncan in seiner Bewertung des Romans indirekt auf die metanarrative, metafiktionale bzw. metahistoriographische Qualitäten des Werks hin: „In making visible its own processes of generation, [the work] raises questions about representation and reference, about genre, about the writing of ficti- <?page no="329"?> 329 Im Gegensatz zu den bisher erschienenen Studien, die sich vornehmlich mit den in Les Géorgiques anzutreffenden Verfahren ‚historischer Sinnstiftung’ auseinander gesetzt haben, fokussiert das vorliegende Kapitel einerseits auf die explizite und implizite Kritik des Romans an traditionellen Konzepten von ‚Geschichte’ sowie an dem literarischen Realismus entliehenen Strategien historischen Erzählens nicht nur in der Historiographie, sondern auch im historischen Roman. Mit dieser Kritik greift Simon immer noch aktuelle Diskussionen der postmodernen Geschichtswissenschaft auf, die sich ebenfalls zunehmend von überholten Geschichtskonzepten und nicht mehr zeitgemäßen Darstellungsverfahren distanziert. Andererseits liegt dem Kapitel die Annahme zugrunde, dass Simon in diesem Roman neben der Dekonstruktion überholter Konzepte historischen Erzählens zugleich auch ein alternatives Modell fiktionaler Vergangenheitsdarstellung entwirft und dabei auf Erzählstrategien zurückgreift, welche er zuvor in seiner ‚skripturalistischen’ Phase entwickelt hatte. Im Gegensatz zu traditionellen Entwürfen historischen Erzählens verweist Simons Text autoreferentiell auf die wichtige Rolle der Imagination und anderer fiktionaler Intertexte bei der Rekonstruktion der Vergangenheit; diese Verweise legen in Form von metafiktionalen Kommentaren bzw. Inszenierungen die Fiktivität des eigenen Gegenstandsbereichs sowie die Fiktionalität des eigenen Textes offen. Die obige These strukturiert das vorliegende Kapitel dergestalt, dass einleitend zunächst die in Les Géorgiques diskutierten konkurrierenden Geschichtskonzepte sowie aktuelle Definitionen und Beschreibungen historisch-fiktionalen, historiographisch-faktualen, autobiographischen sowie biographischen Erzählens präsentiert werden (Kap. 6.2). Im Hauptteil werden zunächst die verschiedenen Protagonisten des Romans vorgestellt, die schreibend Zeugnis von ihrer eigenen Vergangenheit oder von historischen Ereignissen allgemein ablegen; sie verkörpern mit ihren Schreibprojekten verschiedene Typen des Historikers. Die Schwierigkeiten, mit denen sich die Romanfiguren im Zuge ihrer narrativen Vergangenheitsrepräsentation konfrontiert sehen, werden bezogen auf verschiedene Aporien, die auch von der (post)modernen Geschichtswissenschaft im Rahmen einer Kritik an der naiven Überzeugung von der ‚Abbildbarkeit’ vergangener Realität im Sinne ihrer totalen Repräsentation genannt werden (Kap. 6.3). Im Anschluss sollen diejenigen metafiktionalen Strategien im Zentrum der Analyse stehen, welche den Anteil der Fiktion am historischen Erzählen offenlegen. Dabei lassen sich zwei Gegenstandsbereiche metafiktionaler Kommentare unterscheiden: So zielt die metafiktionale Offenlegung von Erfundenheit einerseits auf die Fiktivität der dargestellten Personen, Orte on, history or biography.“ (A. Duncan: „Les Géorgiques and intertextuality.“ (1994), S. 68.) <?page no="330"?> 330 und Ereignisse. Andererseits wird die eigene Fiktionalität des Textes, seine Zugehörigkeit zu den nicht-faktualen, fiktionalen Textsorten, thematisch (Kap. 6.4). 6.2 Vorbemerkungen: Geschichte und Historiographie als zentrale Themen des Romans Bereits zu Beginn seiner Lektüre wird dem Leser von Simons Les Géorgiques das zentrale Thema des Romans plastisch vor Augen geführt: im ersten Kapitel vermischen sich unterschiedliche Zeitebenen, Orte und Protagonisten fast bis zu ihrer Nivellierung; einziges gemeinsames Kennzeichen ist die traumatische Erfahrung von Krieg und Gewalt in drei verschiedenen historischen Epochen - in der Französischen Revolution und ihren Kriegen 1792-1799, in den Kriegen während der Anfangszeit des Empire 1799-1810, im Spanischen Bürgerkrieg 1936-1939 sowie im Zweiten Weltkrieg 1939- 1945. Daneben finden sich weitere, kürzere, Hinweise auf andere Epochen der Menschheitsgeschichte, so z.B. auf das europäische Mittelalter, wenn der zahlreichen kriegerischen Konfrontationen im vielumkämpften Grenzgebiet zwischen Frankreich und Deutschland gedacht wird (G, 136), oder aber auf die ägyptische Antike, wenn der General der Weltkriegshandlung mit einer Mumie verglichen wird (G, 121). Unabhängig von der jeweiligen historischen Epoche werden jedoch auch verschiedene „Geschichten“ erzählt; dabei handelt es sich in Simons Roman im Gegensatz zu traditionellen Geschichtslehrwerken in erster Linie um die Geschichte der „kleinen Leute“ 9 : im Mittelpunkt des Romans stehen weniger die Erlebnisse und Handlungen der militärischen oder politischen Machthaber, sondern vielmehr diejenigen der einfachen Soldaten, Bauern, Landadeligen sowie der Frauen. Neben dieser eher indirekten Inszenierung des Themas Geschichte, das den Roman wie ein Aderngeflecht durchzieht, führt der Erzähler von Les Géorgiques jedoch auch einen expliziten Diskurs über die Möglichkeiten 9 Die Geschichte der „kleinen Leute“ stellt einen Teilbereich der Geschichte dar, der von der Alltagsgeschichte untersucht wird. Im Gegensatz zu der „herkömmlichen, historistisch-staatsorientierten Geschichtswissenschaft“ stehen im Mittelpunkt dieses neueren Zweigs der Geschichtswissenschaft unter anderem „die Lasten und Leiden, die den ‚Vielen’ zugemutet werden oder die diese sich selbst auferlegen“. (A. Lüdtke: „Alltagsgeschichte.“ (2002), S. 21.) Ebenso Hans Medick: „[…] die Alltagsgeschichte und die Erfahrungsgeschichte […] hatten den arbeitenden, handelnden, leidenden und widerständigen, ‚normalen’ Menschen anstelle von historischen Eliten, Strukturen oder politischen Herrschafts- und Ereigniszusammenhängen in den Blickpunkt des Interesses gerückt.“ (H. Medick: „Historische Anthropologie.“ (2002), S. 158.) Dieses Erzählen der ‚Geschichte von unten’ stellt eines der zentralen Merkmale des postmodernen historischen Romans dar. (Vgl. hierzu E. Wesseling: Writing History as a Prophet: Postmodernist Innovation of the Historical Novel. (1991), S. viif.) <?page no="331"?> 331 einer historiographischen - hier genauer: autobiographischen und biographischen - Rekonstitution vergangener Wirklichkeit. Dabei thematisiert der Erzähler zum einen allgemeine epistemologische und sprachtheoretische Probleme; er problematisiert zum anderen jedoch auch autoreflexiv den eigenen sprachlichen Umgang mit seiner Vergangenheit bzw. seiner Familiengeschichte und die Möglichkeiten ihrer angemessenen sprachlichen Repräsentation. Im Folgenden soll zunächst in einem kurzen Überblick dargestellt werden, wie der Text zwei gegensätzliche Geschichtskonzepte entwirft bzw. diskutiert und schließlich eine eigene Position zur Interpretation von Geschichte einnimmt. Der zweite Teil des Kapitels präsentiert als Vorbereitung auf die sich anschließenden Analysen der verschiedenen Historikerfiguren eine Skizze über aktuelle Definitionen und Modelle historisch-fiktionalen und historisch-faktualen bzw. historiographischen sowie autobiographischen und biographischen Erzählens. 6.2.1 Zwei Auffassungen von Geschichte: zyklisches und teleologisches Geschichtsmodell In Simons Roman werden zwei gegensätzliche Geschichtsbilder entworfen: zum einen wird Geschichte im Sinne eines zyklischen Geschichtsbildes aufgefasst als die ewige Wiederkehr des Immergleichen, seien es nun Krieg und Gewalt oder die Jahreszeiten sowie die dadurch bedingten Tätigkeiten in der Landwirtschaft. 10 Zum anderen wird auf das teleologische Geschichtskonzept verwiesen, wenn das Heilsversprechen der Französischen Revolution oder aber das Perfektionsstreben im Bereich der Künste und der Zivilisation in der römischen Antike mit dem der Aufklärung verglichen wird. 11 Wie bereits angedeutet wurde, erscheint Geschichte in Les Géorgiques überwiegend als die unabänderliche Wiederkehr von Gewalt und Schrecken in Gestalt des Krieges. Diese Funktion des Krieges, alles mit Vernichtung zu überziehen, kristallisiert sich besonders am Beispiel der im Laufe der Jahrhunderte immer neu umkämpften Orte im deutsch-französischen Grenzgebiet heraus, die wiederholt zunächst durch räuberische Überfälle und später durch Bombenangriffe zerstört und von den Bewohnern in stoischem Gleichmut in einem provisorischen, sachlichen und banalen Stil immer wieder aufgebaut werden (G, 135f.). Dabei verlieren die „noms grisâtres et ferrugineux“ der umkämpften - ostfranzösischen und west- 10 Vgl. hierzu z.B. M.M. Brewer: „[…] history defined as an eternal recurrence of the same.“ (M.M. Brewer: „Narrative Fission: Event, History, and Writing in Les Georgiques.“ (1986), S. 32f.). 11 Vgl. auch den Gegensatz zwischen vernünftig-teleologischer Geschichte und Geschichte als ewig wiederkehrendem Verhängnis. (H.D. Kittsteiner: „Geschichtsphilosophie.“ (2002), S. 118.) <?page no="332"?> 332 deutschen - Festungsstädte, Schlachtfelder und Grenzflüsse wie „[…] Bazeilles, Sedan, Mézières, Rocroy, Givet, Wattignies, Meuse, Moselle, Ardennes, Longwy […] Mons, Charleroi, Coblence, Pirmassens, Trèves, Mayence […]“ mit der Zeit ihren eigentlichen Bedeutungsinhalt als Bezeichnung von „villes avec des tramways, des magasins, des cinémas, mais [deviennent] de simples assonances, des lettres dont l’assemblage n’avait d’autre sens que siège, capitulation, incendie ou bals d’émigrés.“ (G, 107) 12 Die militärische „Arbeit“, die der General L.S.M. an diesen und anderen Orten wie „Pavie, Namur, Mantou, l’Yssel, Anvers, l’Adige, Vérone, Peschiera […]“ zu verrichten hat, lässt in den Augen von Onkel Charles das Kriegshandwerk den Tätigkeiten ähneln, die jener als Landbesitzer im Turnus der Jahreszeiten auszuführen befahl: «[…] Je veux parler de cet éternel recommencement, cette inlassable patience ou sans doute passion qui rend capable de revenir périodiquement aux mêmes endroits pour accomplir les mêmes travaux: les mêmes prés, les mêmes champs, les mêmes vignes, les mêmes haies à regarnir, les mêmes clôtures à vérifier, les mêmes villes à assiéger, les mêmes rivières à traverser ou à défendre, les mêmes tranchées périodiquement ouvertes sous les mêmes remparts : […] Prises, franchies, perdues, reprises, reperdues, reconquises de nouveau, reperdues encore, infatigablement, sans fin ni espoir de fin, avec pour seules variantes les prévisibles imprévus des successives coalitions de la pluie, du gel ou de la sécheresse…» (G, 447). In den Augen des Onkels besteht die manifeste Ähnlichkeit zwischen dem stets wiederkehrenden Krieg und dem jahreszeitlichen Rhythmus des Ackerbaus darin, dass einerseits dem Menschen ein hohes Maß an Geduld bei der Erfüllung seiner jeweiligen Aufgaben abverlangt wird, da die Tätigkeiten auf dem Schlachtfeld und auf dem Ackerfeld im Grunde unverändert bleiben. Andererseits erscheint der Mensch als Sklave der Natur 12 Im Zusammenhang mit der durch die Französische Revolution und ihre militärische Verteidigung geprägten Lebensgeschichte des Generals L.S.M. erscheinen dieselben geographischen Orte „[…] comme les pivots, les épicentres ou les lignes de force de quelque convulsion souterraine, le formidable ébranlement d’un continent tout entier (et plus qu’un continent : un état de choses établi depuis des millénaires, condamné, balayé…) […]“ (G, 371). Die Schlachten, die an diesen Orten zwischen den Revolutionsarmeen und ihren europäischen Kontrahenten geschlagen wurden, haben das Schicksal des Kontinents und seiner seit Jahrtausenden im Grunde unveränderten Geschichte ‚verdammt’ bzw. ‚hinweggefegt’. In diesem Sinne erhalten die Städte, Flüsse und Schlachtfelder die Bedeutung von Angelpunkten, an denen die Geschichte eine Wende nimmt, bzw. von Kraftfeldern, die durch die schicksalhafte Bedeutung der an ihnen stattgefundenen historischen Ereignisse gleichsam energetisch aufgeladen sind. C. Britton vertritt in diesem Kontext die These, dass Geschichte in Les Géorgiques grundsätzlich innerhalb bestimmter Grenzen stattfindet und damit „takes the form of a delimited space“; Geschichte ist also weniger zeitlich, denn spatial wahrnehmbar. (C. Britton: „The Georgics: The Limits of History.“ (1985), S. 97.) <?page no="333"?> 333 und vor allem des Klimas, an dessen Bedingungen er sich sowohl bei der Kriegsführung als auch bei der Bestellung seiner Felder anzupassen hat. 13 Der Roman vertritt zwar weitestgehend ein zyklisches Konzept der Geschichte, das insbesondere durch die Beispiele der ewigen Wiederkehr von Krieg und Gewalt, des unveränderlichen Gleichmaßes der Jahreszeiten sowie der Lebensaltersstufen des Menschen veranschaulicht wird. 14 An mehreren Beispielen - der beschleunigten Alterung des Menschen, dem Aufhalten der Jahreszeiten sowie der Verschmelzung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in ein archaisches, prähistorisches und präzivilisatorisches Chaos - zeigt der Text jedoch, dass ein einziges Phänomen die Macht besitzt, in den Ablauf von Zeit und Geschichte einzugreifen bzw. Temporalität und Historizität zu nivellieren bzw. anzuhalten: der Krieg. So erlebt der ‚Nachfahr’ des Generals L.S.M. als Kavallerist im flandrischen Winterlager 1939/ 40 eine außerordentliche Kälte 15 - „[…] il [le froid] atteignit une intensité terrifiante, devint quelque chose de pour ainsi dire cosmique: […]“ (G, 102) -, die wochenlang die Temperatur auf minus 15 Grad Celsius sinken (G, 119) und den Winter als endlos erscheinen lässt: Il semblait que l’hiver ne dût pas avoir de fin qu’il avait toujours été là, serait encore là lorsque les barres sur les jours des calendriers arriveraient à mai ou à juillet, que le printemps et l’été faisaient partie de ces choses abolies une pour toutes le jour où un ministre introduit par un chambellan dans des salons surchargés de dorures ou de marbres avait remis à un autre ministre un document scellé de cire, salué froidement […] et tourné les talons. (G, 105) Das versiegelte Dokument, das von einem Minister an einen anderen übergeben wird, enthält die Kriegserklärung von Frankreich an das „Dritte Reich“ vom dritten September 1939. Die Schicksalhaftigkeit des Dokuments, das innerhalb weniger Monate die Auslöschung einer der berühmtesten Armeen Europas und den lange anhaltenden Verlust des französischen Selbstwertgefühls bewirken sollte, scheint sich bereits in der Tatsache anzudeuten, dass mit seiner Übergabe der bis dahin noch stets 13 Der Text weist jedoch darüber hinaus auf wichtige Unterschiede zwischen den Jahreszeiten und dem Krieg hin: Nur die Jahreszeiten können das geomorphologische Bild der Erde verändern (G, 343f., 136); der zerstörerische Einfluss des Krieges beschränkt sich allein auf Menschenwerk; der Krieg blieb auch lange Zeit ohne Auswirkungen auf die Jahreszeiten (vgl. den Frühling in Spanien (G, 301) oder in Flandern (G, 52; RF, 296); die Jahreszeiten wiederum verändern das Aussehen der Menschen (vgl. Batti (G, 408, 413f.)). 14 Simon selbst präzisiert sein Bild von ‚Geschichte’ als das einer Spirale, im Sinne einer Wiederholung derselben Ereignisse mit leichten Veränderungen (C. Simon: „Claude Simon, romancier, [Haroche, C.]“ (1981), S. 15.). 15 Weitere bis dato unbekannte Effekte der Kälte sind: das Einfrieren des Weins in den Fässern (G, 79) bzw. das Umformen aller Materie in einen glasartigen Zustand (G, 102) sowie die Transformation selbst der Luft in einen festen Aggregatzustand (G, 118). <?page no="334"?> 334 unbeirrt anhaltende Rhythmus der Jahreszeiten und die Monatsfolge erstmals unterbrochen scheint. Das bis zu diesem Zeitpunkt unbekannte Ausmaß des Schreckens, der durch den Zweiten Weltkrieg über Europa kommen sollte, wird in Les Géorgiques auch an seiner Macht erkennbar und erfahrbar, das Rad der Jahreszeiten anzuhalten. Diese unvorstellbare Kälte katapultiert die Soldaten gleichsam aus der Geschichte, aus unserer physikalischen Zeit heraus in eine prähistorische Epoche: Scheinbar um der Kälte zu trotzen, schichtet ein Trupp Soldaten in einem Waldstück einen „bûcher géant“ auf […] comme s’ils (les hommes de corvée) se vengeaient, comme un défi, comme s’ils voulaient compenser par une sorte d’autodafé dément ce qu’avait de démentiel le froid lui-même, projetés, comme hors de l’Histoire, ou livrés à quelque chose qui se situait au-delà de toute mesure (de même que la colonne carminée du thermomètre s’était depuis longtemps rétractée au-dessous de la plus basse graduation (moins quinze) conçue pour des époques, des mœurs, un mode de vie sinon civilisé du moins étalonnable [sic] : l’état (temps, espace, froid) où devait être le monde à l’époque des cavernes, des mammouths, de bisons, et autres bêtes gigantesques chassées par des hommes gigantesques pour prendre leurs fourrures, boire leur sang chaud, au sein de gigantesques et inépuisables forêts. (G, 119) Auf der primären Bedeutungsebene des Textes passen sich die Soldaten in ihren Handlungen - dem Aufschichten eines archaischen Scheiterhaufens - den außergewöhnlichen Bedingungen der Kälte an, welche die Welt in eine urbzw. eiszeitliche Epoche tauchen lässt. Die beschriebene Kälte lässt sich darüber hinaus in einem übertragenen Sinn auch als Allegorie 16 für den Zweiten Weltkrieg selbst lesen, in dessen Verlauf die Menschen - so wie die Soldaten unter dem Einfluss dieser unvorstellbaren Kälte - zuvor noch undenkbare Taten begehen werden, wodurch sie nicht nur die historische Epoche unserer aufgeklärten Zeit, sondern die menschliche Zivilisation überhaupt verlassen. 17 Noch deutlicher vermittelt der Text seine Botschaft der Zerstörung von Historizität und Temporalität durch unermessliche Schrecken und Gewalt am Beispiel der ‚Zigeuner‘familien in der Kinovorstellung, die der ‚Nachfahr’ als Junge in seiner Heimatstadt besucht (G, 208ff.). In Simons Roman scheinen die „gitans“ den Menschen im ‚Urzustand’ zu repräsentieren, frei von jeglicher zivilisatorischen Zähmung, seit undenkbaren Zeiten unverän- 16 Der Begriff ‚Allegorie’ meint hier „die Veranschaulichung eines abstrakten Vorstellungskomplexes oder Begriffsfeldes durch eine Bild- und Handlungsfolge“. (G. Schweikle: „Allegorie.“ (1990), S. 9.) Vgl. auch Gerhard Kurz’ Ausführungen zur Allegorie, der ihre - im Gegensatz zur Metapher - Doppeldeutigkeit betont. (G. Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. (2004), S. 39.) 17 Ein weiteres Beispiel für ein Ende der Zeitlichkeit bzw. der Geschichte ist die in völliger Zurückgezogenheit lebende alte Dame, die Großmutter des Nachfahren in seiner Kindheit (G, 199). <?page no="335"?> 335 dert. Durch ihre magischen Kräfte beherrschen sie die Zeit: sie können die Zukunft präfigurieren, in dem sie die Zeit beschleunigen und Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bis zur Unkenntlichkeit miteinander mischen (G, 214). In diesem Zusammenhang ist der Kontext der zitierten Textstelle von Bedeutung: der Erinnerung des ‚Nachfahren’ an seine Jugenderlebnisse im Kino geht die Beschreibung der Situation des gefangenen Kavalleristen im deutschen Kriegsgefangenenlager voran; ihr folgt die Erinnerung des ‚Nachfahren’ an seine erste Bombardierung im Zweiten Weltkrieg. Die Episode im Kriegsgefangenenlager steht sowohl durch die Thematik - Gewalt, Reduzierung des Menschen auf das Elementare - als auch durch die Motivik - die überall wimmelnden Flöhe als Sinnbild der Verwahrlosung des Menschen, seiner Reduktion auf ein wildes Tier - im Zusammenhang mit der Zigeunerepisode im Kino. Mit der nachfolgenden Episode - die Erlebnisse des Kavalleristen im Zweiten Weltkrieg - verbindet die ‚Zigeunerepisode’ das narrative Zentrum, aus dessen Sicht die Ereignisse, im Kino und im Flandern des Krieges, vermittelt werden: […] puis il y fut (le garçon - c’est-à-dire plus un garçon alors, devenu un homme par une brusque mutation en l’espace d’une fraction de seconde, […]) sauvagement agressé comme à la sortie du cinéma dont derrière lui le petit vieux à casquette éteignait l’une après l’autre les lumières et refermait les portes, incrédule, trop ahuri, trop indigné pour, sur le moment, être même capable d’avoir peur, assourdi (de sorte que le crépitement des explosions dans le nuage de poussière - l’espèce de buisson ardent, marron sale et déchiré d’étincelles, matérialisé tout à coup dans le champ à côté de la route - semblait lui parvenir comme ténu, comme de menus craquements d’allumette) par le fracas d’un paquet de bombes lâchées avec l’indifférence d’oiseaux se soulageant en plein vol par trois avions paresseux qui, à tout hasard, au passage, dans la lumière déclinante d’une fin d’après-midi, essayaient, négligemment pour ainsi dire, de le tuer… (G, 216f.). An dieser Stelle wird dem Leser die Identität der Figur des Kavalleristen in der Weltkriegshandlung mit der des zunächst jugendlichen, dann älteren ‚Nachfahren’ des Generals L.S.M. enthüllt. Die Konfrontation des Jungen im Kino mit den archaischen ‚Zigeunern’ erhält auf diese Weise die Bedeutung einer narrativen Prolepse, die auf das ihm bevorstehende Los verweist: Auch er wird in wenigen Jahren regredieren in ein prähistorisches, präzivilisatorisches Stadium des Menschen und sich auf diese Weise den ‚Zigeunern’ seiner Jugend annähern, auch er wird durch den Kontakt mit den deutschen Bomben absolute Gewalt erleben - eine Erfahrung, die ihn Zeit seines Lebens traumatisieren wird. Im Gefangenenlager wird er schließlich auf seine menschliche Elementarität reduziert: Er wird zum Wirt von unzähligen Läusen, verwandelt sich im Kampf um sein Leben in <?page no="336"?> 336 ein misstrauisches, unberechenbares Tier, der Körper geprägt vom Mangel an Schlaf und Nahrung (G, 209-211). 18 Diesem bisher beschriebenen zyklischen Geschichtsmodell, das eher geschichts- und fortschrittsskeptische Züge trägt, wird in Les Géorgiques eine Geschichtsauffassung antithetisch gegenüber gestellt, für die das Streben nach Vervollkommnung, nach stetiger sozialer, moralischer und kultureller Verbesserung sowie der Gedanke eines der Geschichte inhärenten Sinns zentral ist. Dieses teleologische Geschichtsverständnis expliziert der Text im Zusammenhang mit der Französischen Revolution bzw. dem spanischen Bürgerkrieg, die als eine Überwindung überkommener, ungerechter Verhältnisse aufgefasst werden. 19 Die positive Bewertung des Bürgerkriegs in Spanien als hoffnungsvolle „apothéose“ (G, 336) wird verständlich vor dem Hintergrund der feudalen Strukturen des Vorkriegsspaniens; diese zeigen Spanien im Vergleich zu anderen Ländern wie z.B. Frankreich, die sich durch eine Revolution bereits von Willkürherrschaft und Unterdrückung befreit haben, als archaisch und von der Geschichte vergessen: […] comme les symboles conservés intacts non pas même de ce passé que d’autres avaient répudié en même temps qu’ils coupaient la tête de leurs rois, mais de quelque chose d’avant même les rois, comme si aux derniers confins d’un continent pendait une sorte de fruit desséché et ridé, oublié par l’histoire et rejeté, repoussé par la géographie, comme un récipient, une espèce de cloaque 18 Die Forschung ist sich uneinig in der Interpretation dieser Regression in mythische bzw. archaische Epochen: Während einerseits Autoren wie N. Piégay-Gros diese Rückkehr des Archaischen als Indiz für ein negatives Geschichtsbild werten, da hier jede Zivilisation, jede progressive, optimistische, dialektische und humanistische Ausrichtung von Geschichte geleugnet werde und Geschichte als anarchisch, als sterile, ewige Wiederholung desselben erscheine (N. Piégay-Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 86ff.), betont S. Schreckenberg die im Rahmen von Les Géorgiques dekonstruktive und kritische Funktion solcher Ereignisse: Es handele sich hierbei keinesfalls um ein naives, romantisches oder gar faschistisches Plädoyer für die Rückkehr zu einer archaischen, prämodernen Weltsicht; vielmehr werde das historische Denken grundsätzlich in Frage gestellt und die Unmöglichkeit rationaler historischer Erkenntnis aufgezeigt (S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 272.). 19 Auch am Beispiel vor allem der römischen Antike wird in Les Géorgiques die Möglichkeit einer auf die ästhetische, politische oder juristische Vervollkommnung gerichteten Geschichte diskutiert. Aus Gründen des Umfangs soll in der vorliegenden Arbeit nicht auf diese Variante eines möglichen teleogischen Geschichtsbildes eingegangen werden. Vgl. hierzu S. Schreckenberg, der die Funktion des v.a. in der Motivstruktur wahrnehmbaren Rekurses auf die Antike in den teleologisch-utopischen Tendenzen und in dem neuen Geschichtsbewusstsein der Zeit Vergils und Augustus’ begründet sieht, die diese Zeit für die französischen Revolutionäre so interessant machte. (S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 349.) <?page no="337"?> 337 où par l’effet de la pesanteur avait glissé, était venu s’amasser, s’accumuler ce que les autres pays avaient péniblement et peu à peu expulsé au cours des siècles, entassé là comme au fond d’une poche, d’un cul-de-sac, bloqué, malodorant et couvert de mouches. (G, 320) Im Anschluss wird die auf das feudale, vorrevolutionäre Spanien bezogene Metapher der Fäulnis und Verwesung ausgedehnt auf die Beschreibung der Stadt Barcelona, die als pars pro toto des ganzen Spaniens und seiner sozialen und politischen Situation zu lesen ist. Barcelona erscheint in einem Zustand fortgeschrittener Krankheit, die schon fast in das Stadium der Nekrose übergegangen zu sein scheint: „[…] l’énorme et monstreux cancer gisant là, […] secrétant [Barcelone] comme une espèce d’invisible pus, d’invisible et innommable déjection de cadavre […]“ (G, 321). Die Ursache dieser ‚Krankheit’ scheint auch in einem moralischen Verfall zu liegen, wie im Folgenden z.B. die Beschreibung der Werbeplakate für die zahlreichen Kliniken zeigt, die sich der Behandlung von Geschlechtskrankheiten verschrieben haben. Es ist aber vor allem das Elend der gesichtslosen Vorstädte, das „continuait à puer“ (G, 323) und so zu einem Sinnbild des moralischen, sozialen und hygienischen Verfalls wird, in welchem sich Spanien vor dem Beginn des Bürgerkriegs befindet. Die Phase des sozialen Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit in Spanien ist jedoch nur kurz und schon bald wieder bedroht, wie auch der Text durch die Beschreibung des Stadtbildes von Barcelona als Metapher für die gesamtspanische Situation deutlich macht: […] comme ces villes restées telles quelles après le passage de quelque catastrophe, paradoxalement protégées par la violence, la soudaineté, la vitesse même d’un cataclysme brutal, quelque ouragan ou quelque pluie de cendres surprenant ses habitants en plein sommeil, puis l’ouragan déjà parti, les cendres dispersées, sans presque laisser de traces, du moins spectaculaires, […] sauf qu’on n’y voyait plus ni vieilles momies aux joues fardées, ni pékinois en laisse, ni chauffeurs en livrées, ni propriétaires de luxueuses limousines, tout ce qui de près ou de loin ressemblait ou était apparenté à une vieille momie, un pékinois ou un propriétaire de quoi que ce soit disparu, ceux qui n’avaient pas eu le temps de s’enfuir tués sans distinction de sexe ni d’espèce, les anciens chauffeurs en livrées, aux leggins vernis, vêtus maintenant de simples combinaisons de mécanos, ou en manches de chemise conduisant à tombeau ouvert les limousines à présent poussiéreuses et cabossées […] avec leurs cargaisons d’hommes aux visages farouches et naïfs de manœuvres ou de paysans analphabètes, à la fois résolus, sombres, vigilants, […] et maintenant vaguement frustrés, furibonds, ne sachant que faire, parce que dans l’autre moitié du pays c’était l’inverse qui s’était passé, qu’on avait abattu comme des animaux de boucherie tout ce qui portait des vêtements rapiécés ou avait des cals aux mains et qu’à présent c’était la guerre, […] (G, 324f.) Hier finden sich bereits Hinweise auf das bevorstehende, unglückliche Ende der kurzen ‚Revolution’ in Barcelona: So scheint dieser auf den ersten Blick erfolgreiche soziale Ausgleich zwischen den verschiedenen Klassen <?page no="338"?> 338 nicht ohne tödliche Gewalt - die besitzende Schicht und mit ihr all ihre Attribute wurde entweder vertrieben oder ermordet - vor sich gegangen zu sein; eine Entwicklung, die nicht spurlos an den vorläufigen Siegern - den ehemals besitzlosen, ungebildeten und unterdrückten Schichten - vorübergegangen ist. Zumal das Ende des Krieges nicht von Dauer ist: In der anderen Hälfte Spaniens haben sich die putschende Armee und die mit ihr verbundenen Kräfte durchgesetzt und tödliche Rache an den Verteidigern der legal gewählten Regierung genommen. Aus diesem Blickwinkel ist der Fortgang der gewaltsamen Auseinandersetzungen in Barcelona nicht überraschend: […] sourdement inquiets [les hommes aux visages farouches et naïfs de manœuvres ou de paysans analphabètes], rongés par cette espèce de malédiction dont ils avaient cru s’affranchir une fois pour toutes, pensé extirper de cette ville bouffie, s’épiant d’un côté à l’autre de ces luxueuses avenues, qui leur appartenaient maintenant, d’un perron à l’autre de ces palaces conquis, se soupçonnant avec cette ombrageuse et meurtrière méfiance des faibles, s’accusant les uns les autres de mollesse, puis d’incapacité, puis de trahison, d’abord à voix basse, puis par périphrases, puis, comme si le lourd et jaunâtre cancer de pierres édifié par et sur la violence, à la fois écrasant et mou, ne pouvait secréter rien d’autre que de la violence, se remettant sournoisement à tuer, entre eux à présent. (G, 325) Der Krieg, der als „apothéose“ (G, 336) begonnen hatte, endet nun in sinnloser Gewalt, die das Projekt einer Verbesserung der sozialen Situation der Armen Spaniens und eines Ausgleichs zwischen den verschiedenen Klassen scheitern lässt und auf diese Weise auch die Unmöglichkeit einer zielgerichteten Entwicklung der Menschheit zu größerer Zivilisiertheit unterstreicht. Doch handelt es sich dabei um kein unvorhersehbares Ereignis, da sich in der Rückschau des Erzählers schon lange die Hinweise auf die Absurdität der von ihm erlebten Geschichte gehäuft haben: […] il lui semblait de moins en moins probable qu’il participât à une action historique: en tout cas, si action il y avait, elle apparaissait sous une forme, bruyante certes et tapageuse, de non-action, à moins d’admettre […] que l’Histoire se manifeste (s’accomplit) par l’accumulation de faits insignifiants, sinon dérisoires, tels que ceux qu’il récapitula plus tard, comme par exemple : […]. (G, 304) Die Geschichte erscheint hier nicht als zielgerichtet auf ein großes - sinnvolles - Ereignis, sondern als Aneinanderreihung unbedeutenden, absurden Geschehens, das dem absurden Ende des spanischen Bürgerkriegs - dem sinnlosen gegenseitigen Töten - den Weg bereitet. Auf ganz ähnliche Weise wie den Spanischen Bürgerkrieg kommentieren Simons Les Géorgiques auch die Französische Revolution, die ja in ihrer Funktion als Wegbereiterin der Menschenrechte nahezu unantastbar ist und in dieser Leistung in dem Roman auch entsprechend bewertet wird. Doch zeigt der Text deutlich, wie die Revolution an der eigenen Sache <?page no="339"?> 339 Verrat begeht, da auch hier, wie knapp 150 Jahre später in Spanien, das hohe Ziel zugunsten einer gegenseitigen Ermordung der verschiedenen revolutionären Gruppen während der Epoche der Terreur aufgegeben wird. Die Ideale der Französischen Revolution und damit ihr Fortschrittsoptimismus werden in Simons Roman in dem Plädoyer des Generals L.S.M. für die Bestrafung Louis XVI. am deutlichsten (G, 180f., 200f., 234f.): die Errichtung der unteilbaren Republik, die Befreiung der ganzen Welt von Willkürherrschaft, die Ausdehnung der Gerichtsbarkeit auch auf den König, der Kampf gegen Vorurteil und Aberglaube. Paradoxerweise leitet das Todesurteil, dessen sofortige Vollstreckung insbesondere auch von dem General mit besonderer Verve befürwortet wird, 20 den mörderischen Niedergang der Revolution ein: Vor allem im Juli/ August 1793 eskaliert der Streit zwischen den verschiedenen Gruppen - insbesondere den Girondistes und den Montagnards und später zwischen den Montagnards und den Sansculottes - in der Terreur, einer blutigen Schreckensherrschaft durch den Wohlfahrtsausschuss unter Robespierre. 21 Die direkten Folgen dieser Eskalationen beschreibt der Text wiederum am Beispiel eines Stadtbildes - in diesem Fall demjenigen von Paris -, das der General bei der Errettung seiner zukünftigen zweiten Frau im Vorbeireiten wahrnimmt und das als pars pro toto für die Zustände im ganzen Land zu interpretieren ist: „[…] il avait brusquement pénétré à l’intérieur non d’une ville mais d’une sorte de champ clos, de pourrissoir où dans une puanteur de sang croupi […]“ (G, 384), „[…] ce pourrissoir, l’étouffant labyrinthe de pierres, de ruelles, de palais vides, de prisons sous son pestilentiel couvercle aux relents de sang croupi et de cadavres mal chaulés - […]“ (G, 390). Die Ähnlichkeit mit der Beschreibung Barcelonas im Bürgerkrieg liegt insbesondere in den Metaphern von Fäulnis und Verwesung 20 Der von Les Géorgiques mythisierten „alleinigen Verantwortlichkeit“ des Generals an der Hinrichtung des Königs sind mit Hans-Ulrich Thamer folgende historische Abstimmungsergebnisse entgegenzusetzen: Vom 15. bis zum 19. Januar 1793 kam es im Konvent zu mehreren Abstimmungen über das Schicksal des Königs: 673 Abgeordnete von 718 bejahten, dass Ludwig der „Verschwörung gegen die Freiheit schuldig“ sei. Von 721 Abgeordneten stimmten 387 für die Todesstrafe, 334 waren dagegen. Für die sofortige Vollstreckung des Urteils gab es 361 Ja-Stimmen und 360 Nein-Stimmen. Bei einer Neuabstimmung über den sofortigen Strafvollzug am 19. Januar waren nun schon 383 für den sofortigen Vollzug des Urteils, 310 dagegen. Am 21. Januar 1793 fand schließlich die Hinrichtung von Louis XVI. auf der heutigen „Place de la Concorde“ statt. Die Verantwortung des Generals liegt somit nur in einem relativen Bereich, stand das Todesurteil doch bereits zuvor nach einer deutlich ausgefallenen Abstimmung fest. Auch die sofortige Vollstreckung wurde in einer zweiten Abstimmung mit deutlicherem Ergebnis befürwortet. (H.-U. Thamer: Die französische Revolution. (2004), S. 65.) 21 Vgl. hierzu ebenfalls H.-U. Thamer: Die französische Revolution. (2004), S. 76-89. <?page no="340"?> 340 begründet, die in einem übertragenen Sinne auch die verratene Revolution charakterisieren. Das Chaos, in dem sich die Revolution nunmehr befindet, wird zurückgeführt auf das Chaos der Geschichte selbst: […] comme si pendant son absence [de L.S.M.] l’Histoire avait divergé, s’était insensiblement dédoublée, se poursuivant d’un côté au grand jour, à visage découvert et à coups de canon, de l’autre obligée de s’inventer, hors de toute règle connue, tâtonnant, hésitant, dérapant, perdant pied soudain, s’affolant alors, se précipitant, se mettant à fonctionner à vide, emballée, tournant à la parodie, au bouffon : un de ces films projetés à l’accéléré, avec ses foules, ses personnages ataxiques, aux gestes incohérents, inachevés ou achevés trop tôt -, l’invisible metteur en scène pressé d’en finir, accablé par les redites d’une pièce cent fois jouée, laissant à peine aux acteurs le temps de lancer leur réplique, faisant déjà signe au suivant, tyrans, despotes pour un mois, une semaine, un jour, morts le soir d’après […] (G, 385). Es ist das Bild einer auf kürzestem Wege auf ein Ziel hin strebenden Geschichte, das hier persifliert wird: 22 Geschichte erscheint in dieser Textstelle in der Personifikation einer anscheinend betrunkenen Figur, die zunächst unsicher tastend ihren Weg sucht, um sich dann zu beschleunigen, schließlich durchzugehen, um zuletzt als Parodie ihrer selbst im Sinne eines gemächlichen, zielgerichteten Ereignisverlaufs aufzutreten. Die überstürzten und unkoordinierten Handlungen dieser Revolutionsphase werden durch den Vergleich mit einem im Schnellvorlauf gezeigten Film illustriert, wobei es sich bei dem Regisseur im Falle der Französischen Revolution möglicherweise um das Schicksal handelt, das die Akteure wie Marionetten tanzen lässt und über den Fortgang der Ereignisse entscheidet. Am Ende dieser stetigen Beschleunigung sowohl der Ereignisse als auch der Zeit steht der Stillstand, das ‚Sich-auf-der-Stelle-Drehen’ der Geschichte: […] le temps à la fois statique et emballé, l’Histoire se mettant à tournoyer sur place, sans avancer, avec de brusques retours en arrière, d’imprévisibles crochets, errant sans but, entraînant tout ce qui se trouvait à la portée de cette espèce de tourbillon […] (G, 386f.). Es sind die absurde Wiederholung der Ereignisse, das sich fortsetzende gegenseitige Morden, welche den Fortschritt der Revolution auf ein übergeordnetes Ziel hin aufhebt und den Stillstand von Zeit und Geschichte 22 S. Schreckenberg legt anschaulich dar, dass die Personifizierung der Geschichte als handelnde Figur zu lesen ist, „als Karikatur von geschichtsphilosophischen Vorstellungen […], in denen der Weltgeschichte - etwa in Gestalt des hegelianischen ‚Weltgeistes’ - ein quasi-personaler Status zukommt. Bei Simon ist die Geschichte vom Weltgeist heruntergekommen auf das Niveau eines angetrunkenen, debilen Mörders.“ (S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 136.) <?page no="341"?> 341 bedingt. Auch in einem größeren zeitlichen Rahmen, insbesondere mit Blick auf das 19. Jahrhundert, scheint es Beispiele für die absurde Ziellosigkeit der Geschichte zu geben: Mit der Einsetzung Napoleon Bonapartes als Konsul 1802 und seiner zwei Jahre später erfolgenden Kaiserkrönung und insbesondere mit der Restauration der Bourbonenmonarchie im Jahre 1814 kehrt die Geschichte zur Monarchie zurück. 23 In Les Géorgiques scheitert somit in letzter Konsequenz die teleologische Vorstellung von einer sinnvollen, zielgerichteten, progressiven Geschichte; diese erscheint vielmehr stets als iterativ und zyklisch 24 - die bereits gemachten historischen Erfahrungen scheinen mit jeder neuen Generation in Vergessenheit zu geraten, so dass sich nahezu dieselben Ereignisse und v.a. sinnloser Tod und sinnlose Gewalt ewig wiederholen und die kurzen Perioden des Friedens abrupt und brutal unterbrechen. 25 Ein zentrales Kennzeichen von Simons Roman ist, dass diese Geschichtsauffassung nicht nur in die Themen- und Motivstruktur des Romans eingeschrieben ist, sondern sich auch im discours wiederfindet. Dieser ist einerseits geprägt von vielfältigen Analogiestrukturen in Form von mises en abyme, die die verschiedenen historischen Epochen und die individuellen Erfahrungen, welche die Figuren in ihrer Zeit machen, miteinander verknüpfen und in einen übergeordneten Kontext einordnen. 26 Andererseits sind insbesondere im ersten Kapitel des Romans die narrative Fragmentierung und die syntaktische Diskontinuität auffällig; diese inszenieren die zerstörerische Wirkung des Krieges auf das Zeitempfinden und die Zivilisation des Menschen und prägen die Vorstellung einer sich stets wiederholenden bzw. in letzter Konsequenz stillstehenden Geschichte. Das wichtigste analogiebildende Element, welches das Leben der drei Protagonisten prägt und diese über die trennende Zeit miteinander verbindet, ist die Konfrontation mit Krieg, Gewalt und Tod, die sogar an denselben geographischen Orten in Europa stattfindet. So ist die Jugend des Kavalleristen geprägt von der Nähe zum spanischen Nachbarland und „de ces mises en scène barbares et funèbres“ - von der ritualisierten Begegnung mit Tod und Vergänglichkeit in der „Semaine sainte“ (G, 225f.). In Barcelo- 23 Dagegen betont S. Schreckenberg, dass Les Géorgiques nur la Terreur negativ bewerte, die Französische Revolution als „Ursprungsereignis der Moderne“ ebenso wie ihre „Macher“ jedoch wertschätze. In der Überschreitung und Sprengung der bisher gültigen Ordnung liege die Einzigartigkeit dieses herausragenden historischen Ereignisses, das somit einer rein zyklischen Vorstellung von Geschichte entgegenlaufe. (S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 327ff.) 24 Damit ist die letztendlich in Les Géorgiques vertretene Geschichtsauffassung der ‚Zyklentheorie’ zuzuordnen, die am ehesten in dem Bild „einer um eine Zeitachse oszillierenden Wellenlinie“ vorstellbar ist. (J. Schlobach: „Zyklentheorie.“ (2002), S. 345.) 25 Vgl. hierzu L. Dällenbach: Claude Simon. (1988), S. 138. 26 Hierzu z.B. N. Piégay-Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 58. <?page no="342"?> 342 na nimmt O. als Milizionär am Bürgerkrieg teil und ebenfalls in Barcelona übernimmt der General L.S.M. am Ende seiner Karriere das Amt des Militärgouverneurs. Es sind aber vor allem die deutsch-französischen Grenzlande, die einerseits für den Kavalleristen im Mai 1940 zum Ort traumatischer Kriegserfahrungen und andererseits Anfang des 19. Jahrhunderts zum wichtigen Drehpunkt der Karriere des Generals werden. Abschließend stellt sich die Frage nach der Interpretation der beiden konkurrierenden Geschichtskonzepte in Les Géorgiques. Der Text schreibt sich mit dieser Gegenüberstellung eines teleologischen und eines zyklischen Geschichtskonzepts ein in den seit der Aufklärung - genauer seit der Querelle des Anciens et des Modernes - bestehenden Diskurs über die mögliche Interpretation von Geschichte: Während die Anciens Geschichte als Abfall von der einstigen Größe der Antike begriffen, die nur durch ein bewusstes Streben nach den früheren Idealen kompensiert werden kann, sahen die Modernes die Antike erst am Anfang der Menschheitsgeschichte, die sich durch einen ständigen Zuwachs an Wissen und Fertigkeiten auszeichnet. 27 Claude Simon bezieht in seinem Werk deutlich Stellung und betrachtet Geschichte als ewigen Kreislauf - als Teufelskreis - der immer selben Erfahrungen, vor allem von Tod und Gewalt, aus dem es kein Entkommen gibt. Auch herausragende Ereignisse in der Geschichte wie z.B. die Französische Revolution, die mit früheren Strukturen und Ordnungen radikal brechen und auf diese Weise auch die Wiederholungsstruktur von Geschichte auflösen, 28 werden aufgrund ihrer Korruption durch Gewalt und Tod dennoch in den großen Kreislauf von langen Kriegs- und kurzen Friedensepochen eingeordnet und damit tendenziell negativ bewertet. Die dem zyklischen Geschichtsbild inhärente Fortschritts- und Geschichtsskepsis ist von der Forschung vielfach kritisiert worden; 29 dagegen 27 Vgl. hierzu Fontenelle: „Digression sur les Anciens et les Modernes (1688).“ (1968), S. 353-365, und aus späterer Zeit exemplarisch Condorcets These von der „perfectibilité indéfinie de l’espèce humaine“ (Condorcet: Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1795) suivi de Fragment sur l’Atlantide. Introduction, chronologie et bibliographie par Alain Pons. (1988), S. 231.). Der Begriff der perfectibilité ist ein Neologismus von Rousseau (J.-J. Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes [1755]. Avec une postface de Jacques Juillard. (1996), S. 51.). 28 Dagegen die Einschätzung der Geschichtswissenschaft: „Denn es gilt als unumstritten, dass die politische Radikalisierung in den Jahren 1792 bis 1794 zu einer tieferen Zäsur im soziokulturellen Leben der Franzosen, zu einem besonders scharfen Bruch in ihren mentalen Befindlichkeiten wie in ihrem politischen Denken geführt, auf diese Weise die Ansätze einer demokratischen politischen Kultur erst verstärkt und dadurch das Verhalten und Bewußtsein der Menschen tief geprägt hat.“ (H.-U. Thamer: Die französische Revolution. (2004), S. 89f.) 29 So z.B. N. Piégay-Gros, die die Fortschrittsfeindlichkeit des in Les Géorgiques vertretenen negativen Geschichtsbildes unterstreicht (N. Piégay-Gros: Claude Simon, Les Géorgiques. (1996), S. 86.). Auch: C. Britton: „The Georgics: The Limits of History.“ (1985), S. 97. <?page no="343"?> 343 betont S. Schreckenberg, dass in Les Géorgiques Geschichte grundsätzlich bejaht werde: allerdings nicht im Sinne der großen geschichtsphilosophischen Erzählungen der Neuzeit oder einer Rückkehr in ein geschlossenes mythisches Weltbild, sondern durch die „Pluralisierung legitimierender Erzählungen und Sinnentwürfe und in einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser Pluralität“. 30 6.2.2 Die schriftliche Repräsentation vergangener Wirklichkeit: Historischer Roman, Historiographie, Autobiographie und Biographie In Simons Roman Les Géorgiques werden nicht nur zwei konträre Geschichtsbilder diskutiert, sondern auch am Beispiel der jeweiligen über ihr Leben schreibenden Protagonisten verschiedene Möglichkeiten einer schriftlich fixierten Form der Vergangenheitsrepräsentation inszeniert und problematisiert. Indem Simon eine fundamentale Kritik an dem naiven Glauben einer sprachlichen Mimesis von historischen Ereignissen formuliert, greift er immer noch aktuelle Diskussionen sowohl innerhalb der Geschichtswissenschaft als auch innerhalb der Literaturwissenschaft auf, die das Verbindende und Trennende bezüglich der jeweils angewandten Verfahren zur Repräsentation vergangener Wirklichkeit zum Gegenstand haben. Im Folgenden sollen zunächst aktuelle Konzeptionalisierungen des fiktionalen ‚historischen Romans’ sowie von faktualer ‚Historiographie’, ‚Autobiographie’ und ‚Biographie’ vorgestellt und diskutiert werden, um im darauffolgenden Kapitel zu untersuchen, inwiefern diese Konzepte der Vergangenheitsdarstellung Eingang in die thematische und narrative Struktur von Simons Roman gefunden haben. Eine knappe, doch zutreffende Definition des ‚historischen Romans’ beschreibt diesen als „[…] einen Typus des Romans, der einen geschichtlichen, dokumentarisch verbürgten Stoff (Personen, Ereignisse, Entwicklungen, Lebensverhältnisse) in fiktionalen Konstruktionen darstellt.“ 31 Laut E. Lämmert weisen klassische, realistische historische Romane folgende Kennzeichen auf: einen „[…] fiktive[n] mittlere[n] Held und eine Konfiguration bekannter historischer Personen und Ereignisse, eine grosso modo quellengetreue Nachzeichnung geschichtlicher Hauptvorgänge wie Kriegszüge, Erbstreitigkeiten, Familienmorde und Volksaufstände nach verbürg- 30 S. Schreckenberg: Im Acker der Geschichten. Formen historischer Sinnstiftung in Claude Simons Les Géorgiques. (2003), S. 140f. 31 J. Holzner: „Roman, historischer.“ (2002), S. 260. Großes gattungsprägendes Vorbild waren die Waverly novels Sir Walter Scotts (1814ff.); einschlägige Verfasser realistischer historischer Romane in Frankreich sind Victor Hugo, Prosper Mérimée, Stendhal, Honoré de Balzac, Gustave Flaubert und Guy de Maupassant. <?page no="344"?> 344 ten Quellen, und das ganze verlebendigt durch die Einwebung eines erfundenen persönlichen Lebens- und Liebesgeschickes […].“ 32 Doch blieben - wie z.B. M.A. Weinstein nachweist - die im Folgenden noch zu skizzierenden Paradigmenwechsel in der Geschichtsphilosophie nicht ohne Auswirkung auch auf die Gattungsbildung des historischen Romans: The change in the philosophy of history over the last 150 years is reflected in the tradition of the historical novel. There too the world of objective fact has disappeared. History in the novel has become a continuous interaction between the protagonist and his facts, an unending dialogue between the present and the past. The protagonist is a hero of thought, using all possible means to recreate the past: reason, imagination, dream, impersonation, identification, and guesswork. His conclusions are admittedly unsubstantiated, but they are the only ones available. Even his creator, the author, cannot go beyond his creature’s vision of history. 33 A. Nünning hat vor einiger Zeit die erste umfassende Typologie des historischen Romans vorgelegt, die auch die von Weinstein skizzierten neueren Ausprägungen der Gattung berücksichtigt. Er gelangt zu einer Unterscheidung von fünf Typen literarischen historischen Erzählens: ‚dokumentarische historische Romane’, ‚realistische historische Romane’, ‚revisionistische historische Romane’, ‚metahistorische Romane’ und ‚historiographische Metafiktion’. 34 In einer neueren Arbeit beschreibt er die in der typologischen Ausdifferenzierung wahrnehmbaren Veränderungen innerhalb der Gattung des historischen Romans als einen „Prozess fortschreitender Hybridisierung“: „Im Zuge dieses Prozesses hat sich die Fiktion nicht nur den Gegenstandsbereich der Geschichte angeeignet, sondern auch die Spezial- 32 E. Lämmert: „Geschichten von der Geschichte. Geschichtsschreibung und Geschichtsdarstellung im Roman.“ (1985), S. 237. 33 M.A. Weinstein: „The Creative Imagination in Fiction and History.“ (1976), S. 268. 34 A. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. (1995), S. 256- 292; auch: A. Nünning: „‘Beyond the great story’. Der postmoderne historische Roman als Medium revisionistischer Geschichtsdarstellung, kultureller Erinnerung und metahistoriographischer Reflexion.“ (1999), S. 25-32. Der Begriff ‚historiographic metafiction’ wurde von L. Hutcheon geprägt (L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988): „By this I mean those well-known and popular novels which are both intensely self-reflexive and yet paradoxically also lay claim to historical events and personages […]“ (S. 5.). An anderer Stelle schreibt sie präziser: „Historiographic metafiction refutes the natural or common-sense methods of distinguishing between historical fact and fiction. It refuses the view that only history has a truth claim, both by questioning the ground of that claim in historiography and by asserting that both history and fiction are discourses, human constructs, signifying systems, and both derive their mayor claim to truth from that identity. […] The ‚real’ referent of their language once existed; but it is only accessible to us today in textualized form: documents, eye-witness accounts, archives. The past is ‚archaeologized’, but its reservoir of available materials is always acknowledged as a textualized one.” (Ebd., S. 93.) <?page no="345"?> 345 diskurse der Historiographie und der Geschichtstheorie.“ 35 Nünning legt dar, dass sich die genannten fünf Varianten des historischen Romans „ausgehend von der Selektionsstruktur und der Relationierung und Gestaltung der Erzählebenen“ auf einem Kontinuum zwischen zwei Polen - der ‚fiktionalisierten Historie’ sowie der ‚historiographischen Metafiktion’ bzw. ‚metahistoriographischen Fiktion’ - bewegen. 36 Texte, die eher dem Typus der ‚fiktionalisierten Historie’ zuzurechnen sind, sind sehr heteroreferentiell ausgerichtet; historisch belegte Ereignisse bilden den wichtigsten außertextuellen Referenzbereich. Das Erzählen selbst bzw. die Erzählinstanz werden kaum thematisiert; die Geschichtsdarstellung findet hauptsächlich auf der diegetischen Ebene statt. Hingegen beziehen sich die zum entgegengesetzten Pol der ‚historiographischen Metafiktion’ bzw. ‚metahistoriographischen Fiktion’ tendierenden Texte autoreferentiell verstärkt auf sich selbst, was sich in einer „ausgeprägten Dominanz der fiktionalen und metafiktionalen Elemente gegenüber Elementen der außertextuellen Realität“ offenbart. In diesen Romanen stellen nicht geschichtliche Ereignisse, sondern historiographische und geschichtstheoretische Fragen den primären Referenzbereich der außertextuellen Bezüge dar. Einher mit dieser Verlagerung des Erzählens auf metafiktionale Komponenten und Reflexionen über historiographische Probleme geht oftmals die metanarrative Thematisierung der erzählerischen Vermittlung, die nun gegenüber der Ebene des eigentlichen Geschehens in den Vordergrund rückt. 37 Interessanterweise wendet sich Simon nicht nur gegen die philosophischen Konzepte wie z.B. den Positivismus und den Empirismus, die sich hinter der Auffassung von einer grundsätzlich möglichen mimetischen ‚Abbildung’ vergangener Wirklichkeit verbergen, sondern auch gegen die nicht nur in seinen Augen überkommene Ästhetik traditionellen historischen Erzählens. So beschreibt A. Nünning ausführlich verschiedene innovative ‚Darstellungstendenzen’, die für (post-)moderne historische Romane im Gegensatz zu traditionellen Gattungsausprägungen charakteristisch sind, 38 während auf geschichtswissenschaftlicher Seite D. Fulda konstatiert, 35 A. Nünning: „Von der fiktionalisierten Historie zur metahistoriographischen Fiktion: Bausteine für eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorie, Typologie und Geschichte des postmodernen historischen Romans.“ (2002), S. 545. 36 Ebd., S. 549. Nünning nimmt keine definitorische Abgrenzung zwischen den beiden Begriffen vor. 37 Ebd., S. 550. 38 Hierzu zählen die Semantisierung von Räumen, Gegenständen, Ereignissen zur Darstellung der Bedeutung, die Orte und ‚Erinnerungsräume’ für das Geschichtsbewusstsein und die Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses haben können; die Semantisierung von Erinnerungsprozessen, Zeitstrukturen und Zeiterfahrungen zur Darstellung subjektivierter, fragmentierter und entteleologisierter Geschichte; ein hohes Maß an Intertextualität; die Bevorzugung von analytischen Erzählstrukturen, <?page no="346"?> 346 dass die Geschichtswissenschaft bezüglich des von ihr vertretenen Textmodells „nicht allein den Eintritt in die sog. Postmoderne verpaßt [hat], sondern bereits den von der literarischen Moderne vollzogenen Abschied von der goethezeitlich-realistischen Textorganisation.“ 39 Zugleich fordert er, „die betroffenen Strukturen schleunigst zu modernisieren, die eingerissene Ungleichzeitigkeit von Ästhetik und Geschichtstheorie zu überwinden.“ 40 In diesem gattungstheoretischen Kontext - so meine These - übt Simon in Les Géorgiques im Einklang mit zentralen Postulaten der (post)modernen Geschichtstheorie Kritik an traditionellen - historiographischen und literarischen - Verfahren der mimetischen Vergangenheitsrepräsentation und entwickelt dabei eigenständige Formen von fiktionaler Geschichtskonstruktion. In der Geschichtswissenschaft ist in den vergangenen vierzig Jahren eine sehr kontroverse Diskussion darüber entbrannt, ob es etwa Parallelen zwischen einerseits dem faktualen historischen Erzählen und andererseits dem literarischen, fiktionalen historischen Erzählen gebe. 41 Ausgelöst wurde die Debatte durch das Erscheinen verschiedener Studien insbesondere von Arthur C. Danto und Hayden White, 42 welche die große Nähe zwischen prononciert personalisierten und subjektivierten Erzählinstanzen sowie die einer ausgeprägten Erzählillusion; die multiperspektivische Auffächerung des erzählten Geschehens und die damit einhergehende Pluralisierung von Geschichte (history) zu Geschichten (stories); ein hohes Maß an metafiktionalen und selbstreflexiven Elementen. (A. Nünning: „Von der fiktionalisierten Historie zur metahistoriographischen Fiktion: Bausteine für eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorie, Typologie und Geschichte des postmodernen historischen Romans.“ (2002), S. 553f.) 39 D. Fulda: „Die Texte der Geschichte. Zur Poetik modernen historischen Denkens.“ (1999), S. 47. D. LaCapra beschreibt ein solches Erzählen in seinen extremen Ausformungen bestehend aus „teilnahmslosen, trockenen und unverbindlichen Feststellungssätzen in der dritten Person Perfekt”. (D. LaCapra: Geschichte und Kritik. (1987), S. 106f. ) 40 D. Fulda: „Die Texte der Geschichte. Zur Poetik modernen historischen Denkens.“ (1999), S. 47. 41 In jüngerer Zeit hat J. Rüsen den Versuch unternommen, die beiden kontroversen Positionen miteinander zu verbinden: Unter Rückgriff auf die Darstellungsmodi von Rankes - die Gleichrangigkeit von (wissenschaftlichem) Forschungsaspekt und (literarischem) Darstellungsaspekt - weist er auf die „Vergegenwärtigung der Vergangenheit [hin], durch die sie ‚Leben’ in der Gegenwart gewinnt[.]“ Diese ‚Vergegenwärtigung’ geschieht allein durch Sprache, bzw. genauer: durch die Rhetorik, wie die Vergabe des Literaturnobelpreises 1902 an Theodor Mommsen für seine Römische Geschichte beweist (J. Rüsen: „Rhetorik und Ästhetik der Geschichtsschreibung: Leopold von Ranke.“ (1990), S. 2ff.). 42 A.C. Danto: Analytical Philosophy of History. (1965); H. White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. (1973). Auf französischer Seite ist R. Barthes: „Le discours de l’histoire [1967].“ (2002) richtungsweisend für eine poststrukturalistische Bestimmung des historischen Diskurses geworden. <?page no="347"?> 347 historiographischen und literarischen Verfahren einer narrativen Textkonstitution herausarbeiten: „Historians describe what happened by means of narratives, they are, since a narrative itself is a way of organizing things, and so ‚goes beyond’ what is given, involved in something one might call ‚giving an interpretation’.“ 43 In einem späteren Aufsatz erweitert H. White den Gegenstandsbereich des Begriffs narrative um die vergangene Wirklichkeit selbst: For the narrative historian, the historical method consists in investigating the documents in order to determine what is the true or most plausible story that can be told about the events of which they are evidence. […] The story told in the narrative is a mimesis of the story lived in some region of historical reality, and insofar as it is an accurate imitation, it is to be considered a truthful account thereof. 44 Auch wenn das Narrative bzw. Literarische schon seit der Aufklärung seinen umstrittenen Ort in der Historiographie hatte, 45 erlangt die Auseinandersetzung insbesondere mit den Thesen Hayden Whites eine neue Qualität. Es ist der linguistic turn - „[…] das Bewusstsein von der sprachlichen Bedingtheit, Zeichenvermitteltheit und Konstrukthaftigkeit jeglicher Wirklichkeitserfahrung und Erkenntnis“ 46 -, der die Historiographie erreicht hat 43 A.C. Danto: Analytical Philosophy of History. (1965), S. 140f. Dieser Überzeugung von den Parallelen zwischen Historiographie und Literatur bezüglich der Verwendung literarischer Erzählmuster hängt zwanzig Jahre später auch noch L. Hutcheon an, sie weist jedoch darüber hinaus auch auf die beiderseitige Verstrickung in empiristische und positivistische Ideologien hin: „[…] they [historiography and literature] share the same questioning stance towards their common use of conventions of narrative, of reference, of the inscribing of subjectivity, of their identity as textuality, and even of their implication in ideology. In both fiction and history writing today, our confidence in empiricist and positivist epistemologies has been shaken - shaken, but perhaps not yet destroyed.” (L. Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. (1988), S. 106.) 44 H. White: „The question of narrative in contemporary historical theory. [1984].“ (1987), S. 27. 45 Vgl. hierzu die konzisen Überblicke, in denen sowohl D. Fulda als auch A. Nünning die sich im Laufe der Historiographiegeschichte vollziehende Entfremdung zwischen Literatur und Geschichtsschreibung beschreiben. (D. Fulda: „Die Texte der Geschichte. Zur Poetik modernen historischen Denkens.“ (1999), S. 36-43; D. Fulda und S.S. Tschopp: Literatur und Geschichte: ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. (2002); A. Nünning: „‘Verbal Fictions? ’ Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur.“ (1999), S. 356-358.) Mit D. Fulda lässt sich formulieren: „Je dezidierter die Historie sich in der Folge als Wissenschaft verstand, desto mehr neigte sie allerdings dazu, ihre ästhetisch-poetische Konstruktivität und Prägung zu verdrängen.“ (D. Fulda: „Die Texte der Geschichte. Zur Poetik modernen historischen Denkens.“ (1999), S 42.) 46 A. Nünning: „‘Verbal Fictions? ’ Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur.“ (1999), S. 353. <?page no="348"?> 348 und nun die Textualität von Geschichte und Geschichtsschreibung betont, liegt die Vergangenheit doch insbesondere in Form von Textquellen bzw. von nicht- oder nur teiltextuellen Quellen vor, über die von den Historikern dann wiederum neue interpretative Sekundärtexte verfasst und untereinander ausgetauscht werden. 47 H. White erweitert diese These jedoch noch, indem er ‚Erzählung’ grundsätzlich mit ‚Fiktion’ gleichsetzt und den Status einer historischen Erzählung definiert als „[…] a verbal artifact purporting to be a model of structures and processes long past and therefore not subject to either experimental or observational controls.“ 48 Historische Erzählungen sind seiner Ansicht nach somit „[…] verbal fictions, the contents of which are as much invented as found and the forms of which have more in common with their counterparts in literature than they have with those in sciences.“ 49 Ansgar Nünning 50 hat in jüngerer Zeit H. Whites simplifizierendes Konzept vom historiographischen Erzählen als einer Variante literarischen, fiktionalen Erzählens kritisiert und dabei festgestellt, dass White einerseits die unterschiedlichen Modi der Referenz ignoriere, wenn er behauptet, auch der Inhalt historiographischer Werke sei ‚erfunden’. Außerdem beschränke sich White in seinen Ausführungen seiner Analyse allein auf die Strukturierung des Erzählten auf der Ebene der Geschichte und vernachlässige darüber völlig die Aspekte der erzählerischen Vermittlung. 51 47 Vgl. hierzu die Bemerkung M. de Certeaus zum paradoxen Begriff ‚Historiographie’: hierunter versteht er das „[…] Paradox - und beinahe das Oxymoron - einer zwischen zwei antinomischen Begriffen, der Wirklichkeit und dem Diskurs, hergestellten Beziehung. Ihre Aufgabe [der Historiographie] ist es, die beiden zu verbinden und dort, wo die Verbindung unvorstellbar ist, so zu tun, als ob sie sie verbinde.“ (M. de Certeau: Das Schreiben der Geschichte. Übers. von Sylvia M. Schomburg-Scherff. (1991), S. 9.) 48 H. White: „The Historical Text as Literary Artifact. [1974].“ (1985), S. 82. 49 Ebd. Auch R. Koselleck spricht auf ähnliche Weise von der „Fiktion des Faktischen“ und beschreibt damit den Umstand, dass die „[…] Faktizität ex post ermittelter Ereignisse nie identisch ist mit der als ehedem wirklich zu denkenden Totalität vergangener Zusammenhänge.“ Doch betont er, dass die Quellenkontrolle verhindere, dass ein geschichtliches Ereignis beliebig oder willkürlich setzbar ist. (R. Koselleck: „Ereignis und Struktur.“ (1973), S. 567.) 50 Auch M. Fludernik hat in einer kritischen Lektüre der Thesen Whites trotz einiger Ähnlichkeiten auf die fundamentalen Differenzen auf der Produktions- und Rezeptionsebene historischer bzw. fiktionaler Texte hingewiesen; zu nennen sind hier insbesondere die ‚Authentizitätsbzw. Fiktionalitätssignale’ (M. Fludernik: „History and Metafiction: Experientiality, Causality, and Myth.“ (1994), 83.). 51 A. Nünning: „‘Verbal Fictions? ’ Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur.“ (1999), S. 363. Ausführlicher in A. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. (1995), S. 129ff. Vor A. Nünning hat bereits F.K. Stanzel allgemein auf die Unterschiede zwischen historischem und literarischem Erzählen hingewiesen, so auf die unterschiedlichen Erzählertypen, auf die Dichotomie Quellen vs. Geschichte sowie auf die differierende Tempusverwendung (Präsens vs. Präteri- <?page no="349"?> 349 Im Gegensatz zu Whites Auffassung besteht laut A. Nünning [d]ie Besonderheit literarischer Erzählungen zum einen darin […], daß deren Fiktionalität in der Regel durch eine Vielzahl von paratextuellen und textuellen Indikatoren explizit oder implizit markiert ist. Zum anderen zeichnen sich fiktionale Erzähltexte durch ein breites Spektrum von Privilegien bei der Auswahl und erzählerischen Vermittlung des Geschehens aus, die ebenfalls die Fiktionalität des jeweiligen Textes signalisieren. 52 Es ist also insbesondere die spezifische metafiktionale Qualität literarischer Texte - der implizite und explizite Verweis auf den eigenen fiktionalen Status -, die diese von faktualen bzw. historischen Texten unterscheidet. Eine ähnliche Entwicklung wie in der Historiographie ist auch in der Forschung zur Autobiographie zu beobachten. Definierte P. Lejeune die autobiographie Anfang der 1970er Jahr noch sprachoptimistisch als einen „[r]écit rétrospectif en prose qu’une personne réelle fait de son propre existence, lorsqu’elle met l’accent sur sa vie individuelle, en particulier sur l’histoire de sa personnalité“ 53 und verlieh auf diese Weise dem autobiographischen Lebensbericht den Status einer historischen Quelle, blieb der linguistic turn nicht ohne Auswirkungen auch auf die Definition der Autobiographie. So schlägt sich die postmoderne These von der „sprachlichen Verfasstheit von Subjektivität und Individualität“ 54 auch in neueren Auffassungen des autobiographischen Diskurses nieder: Dieser sei ein „Tatsachenbericht, der äußere Lebensereignisse widerspiegel[e]“ 55 , das Subjekt „konstituier[e] sich als sprachliches in eben der Diskursivierung seiner Welt.“ 56 Seit den 1980er Jahren scheint sich ein Ausgleich zu vollziehen zwischen einerseits der essentialistischen Position, welche Autobiographie als authentischen Ausdruck des autonomen Subjekts betrachtet, und andererseits der dekonstruktivistischen Position, die das ‚Ich’ immer nur innerhalb von Diskursen konstituiert sieht. 57 Die zeitgenössische Forschung betrachtum). (F.K. Stanzel: „Historie, historischer Roman, historiographische Metafiktion.“ (1995), S. 114f.) 52 A. Nünning: „‘Verbal Fictions? ’ Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur.“ (1999), S. 377. Ebenso: A. Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. (1995), S. 173ff. 53 P. Lejeune: „Le pacte autobiographique.“ (1973), S. 138. Die notwendige Bedingung für den autobiographischen Pakt ist die Identität von Autor, Erzähler und Hauptfigur; diese ist durch die Namensidentität nachweisbar. (Vgl. ebd. S. 138, 145.) 54 M. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. (2005), S. 11. 55 Ebd., S. 30. 56 A. Finck: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie. (1999), S. 40. 57 M. Löschnigg: „Theoretische Prämissen einer ‘narratologischen’ Geschichte des autobiographischen Diskurses.“ (2001), S. 171. Vgl. ebenso C. Gronemann: Postmoderne/ Postkoloniale Konzepte der Autobiographie in der französischen und maghrebinischen Li- <?page no="350"?> 350 tet Autobiographie nicht mehr als Repräsentation verbürgter Identität, sondern als ein identitätsstiftendes Verfahren; 58 es wird insbesondere die „narrative Konstitution des