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Semantik und Grammatik im Kopf

Ein Forschungsüberblick

0520
2009
978-3-8233-7491-6
978-3-8233-6491-7
Gunter Narr Verlag 
Wolfgang Zippel

Was geschieht in unserem Kopf, wenn wir Sprache verarbeiten? Was unterscheidet dabei Fremdsprachler und Muttersprachler? Dies sind zwei der spannenden Fragen, auf die die rasanten Entwicklungen der Neurowissenschaften und der Technologien, mit denen das menschliche Gehirn "beobachtet" werden kann, Antworten versprechen. Die vorliegende Studie versucht durch die kritische Auswertung einiger populärer neurolinguistischer Untersuchungen und unter Einbezug von Perspektiven aus benachbarten Disziplinen eine Brücke zu schlagen zwischen Neurowissenschaften, Sprachlehr- und -lernforschung und Fremdsprachenvermittlung.

<?page no="0"?> Wolfgang Zippel Semantik und Grammatik im Kopf Ein Forschungsüberblick Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="1"?> Semantik und Grammatik im Kopf <?page no="2"?> Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 517 <?page no="3"?> Semantik und Grammatik im Kopf Ein Forschungsüberblick Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern in der kortikalen Repräsentation semantischer und grammatikalischer Verarbeitungsprozesse und Konsequenzen für die Fremdsprachenvermittlung Gunter Narr Verlag Tübingen Wolfgang Zippel <?page no="4"?> Publiziert mit freundlicher Unterstützung von JenDaF e.V. © 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-6491-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. <?page no="5"?> Meiner Frau Mari gewidmet <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis 1. Grundlagen ............................................................................................ 7 1.1. Einführende Überlegungen .................................................................. 7 1.2. Zielsetzung und Gliederung ................................................................ 10 1.3. Klärung zentraler Begriffe .................................................................... 12 1.3.1. Erst- und Fremdsprache - L1 und L2 ................................................. 12 1.3.2. Fremd- und Zweitsprache - DaF und DaZ........................................ 13 1.3.3. Erwachsene Sprecher............................................................................. 14 1.3.4. Kortikale Repräsentation ...................................................................... 16 1.3.5. Sprachverarbeitung ............................................................................... 18 1.3.6. Semantik und Grammatik .................................................................... 20 1.3.6.1. Innere und äußere Sicht ........................................................................ 20 1.3.6.2. Grundlegende Konzepte....................................................................... 21 1.3.6.3. Diskussion einiger Modelle der modernen Sprachwissenschaft.... 24 1.3.6.4. Fazit.......................................................................................................... 32 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern in der kortikalen Repräsentation semantischer und grammatikalischer Verarbeitungsprozesse ..................................... 35 2.1. Bedingungen des L1-Erwerbs und Konsequenzen für die Sprachverarbeitung................................................................... 35 2.1.1. Biologische und kognitive Voraussetzungen .................................... 35 2.1.2. Art und Weise des L1-Erwerbs ............................................................ 37 2.2. Bedingungen des L2- Erwerbs und Konsequenzen für die Sprachverarbeitung.................................................................. 45 2.2.1. Biologische und kognitive Voraussetzungen .................................... 45 2.2.2. Art und Weise des L2-Erwerbs ............................................................ 49 2.3. Implizites und explizites Lernen ......................................................... 55 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung .......................................................................... 61 2.4.1. Auswahl der Studien............................................................................. 61 2.4.2. Semantische Verarbeitung .................................................................... 65 2.4.3. Grammatikalische Verarbeitung ......................................................... 74 2.4.4. Das Zusammenspiel von Semantik und Grammatik ....................... 80 2.4.5. Ursachen für die uneindeutige Forschungslage................................ 84 2.4.5.1. Methoden und Datenerhebung ........................................................... 84 2.4.5.2. Stimuli und Aufgaben ........................................................................... 86 2.4.5.3. Probanden und Sprachen ..................................................................... 91 2.4.5.4. Modelle und Vorannahmen ................................................................. 95 2.4.6. Offene Fragen und Forschungsbedarf ................................................ 99 <?page no="8"?> Inhaltsverzeichnis 6 3. Konsequenzen für die Fremdsprachenvermittlung..................... 106 3.1. Möglichkeiten und Grenzen eines Brückenschlages zwischen Neurowissenschaften und Fremdsprachenvermittlung ................ 106 3.2. Konkretes Potential der vorgestellten Studien ................................ 113 4. Zusammenfassung.............................................................................. 121 Literaturverzeichnis ......................................................................................... 125 Anhang Topographie der linken Großhirnhemisphäre............................................... 134 Periphere Brodmann-Areale............................................................................. 134 Modell des auditiven Satzverstehens von Friederici .................................... 135 Modell des optimalen Messverfahrens von Norris et al.. ............................ 136 <?page no="9"?> 1. Grundlagen 1.1. Einführende Überlegungen Sowohl der Erwerb der Erstsprache als auch der einer Fremdsprache sind trotz intensiver Forschung noch immer nicht vollständig verstandene Prozesse, über die unterschiedlichste, sich teilweise gegenseitig ausschließende Vermutungen, Vorstellungen und Theorien existieren. In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts gaben technische und methodische Fortschritte in den Neurowissenschaften Grund zur Hoffnung auf lang ersehnte, umfassende Antworten auf die großen Fragen der menschlichen Selbsterkenntnis, zu denen auch das Verstehen von Sprache gehört. Es zeigte sich jedoch, dass diese Fragen nicht von der Hirnforschung allein beantwortet werden können, denn dafür müssen ebenso soziale und kulturelle Aspekte berücksichtigt werden. Das menschliche Gehirn ist außerdem so komplex aufgebaut, dass es, selbst wenn es „deterministisch funktioniert, […] in seiner Komplexität niemals vollständig beschreib- und verstehbar [sein wird]“ [Monyer et al. 2004, 32]. Die Diskussion darüber, wie aus biochemischen und elektrischen Prozessen auf neuronaler Ebene kognitive Prozesse auf mentaler Ebene entstehen, ist so vielschichtig, dass ihre Wortführer das ganze Spektrum zwischen dualistischen Positionen, die die Geist/ Körper- oder Geist/ Gehirn- Problematik betonen und monistischen Positionen, die wiederum additive oder emergente Modellierungen favorisieren, umfassen [vgl. Hanser et al. 2000/ II, 56ff; Pauen 2001, 34ff; Strohner 1995, 28f]. Dass diese Frage nach wie vor eine Glaubensfrage ist, liegt daran, dass zwischen den mittlerweile gut verstandenen Prozessen in und zwischen einzelnen Neuronen und denen auf oberster, funktionaler Organisationsebene des Gehirns eine Verständnislücke besteht. Diese so genannte „mittlere Ebene“ [Monyer et al. 2004, 30] müsste das Geschehen innerhalb von Zellverbänden, neuronalen Populationen, erklären. Doch auch wenn das Verständnis dieser Ebenen und deren Verknüpfung miteinander eines Tages so gewachsen sein sollte, dass eine umfassende Erklärung des Gesamtprozesses, etwa das Verstehen eines Satzes, möglich sein wird, wird das nichts an folgender Aussage ändern: Das Verstehen eines Satzes ist etwas anderes, als zu erklären, wie man einen Satz versteht. So banal diese Aussage klingen mag, bereitet dieser Umstand immer wieder Schwierigkeiten, wenn höhere kognitive Prozesse der Untersuchungsgegenstand sind. So ist die Frage Wo sitzt das Satzverständnis in unserem Kopf? höchst problematisch und eigentlich falsch gestellt. Denn Satzverständnis ist ein Phänomen des menschlichen Individuums und was <?page no="10"?> 1. Grundlagen 8 Satzverständnis ist oder wie Satzverständnis sich anfühlt, muss uns niemand erklären. Bei der objektiven Beschreibung dieses Phänomens lassen sich natürlich Aussagen darüber machen, dass es auf dem Zusammenspiel vieler Teilbereiche basiert und welche Teilbereiche das sind. Das höchst mögliche Verständnis des Phänomens (neben dem, das durch die Selbsterfahrung erreicht wurde) ist ein Verständnis auf objektivierter, beschreibender Ebene und umfasst den Gesamtprozess 1 ; es ergibt sich nicht aus der isolierten Betrachtung einzelner Mitspieler. Diese ist natürlich ebenso notwendig, und die Untersuchung des komplexesten und fantastischsten Mitspielers in diesem Prozess, des Gehirns, ist der vielleicht letzte große Meilenstein. Doch so wie Neurobiologen häufig mit der Frage Was ist Liebe? gequält werden und darauf unbefriedigende Antworten geben, steht es auch mit der Frage Was heißt Verstehen? Umfassend können solche Fragen allein aus neurobiologischer Sicht nicht beantwortet werden. Ein Beispiel soll diese Gedanken anschaulicher machen: Ein Fahrrad besitzt die Fähigkeit zu fahren (natürlich nur, wenn es jemand dazu benutzt - an dieser Stelle hinkt der Vergleich). Es verliert diese Fähigkeit, wenn man die Räder abmontiert. Es wäre aber falsch zu behaupten, die Fähigkeit des Fahrrads, nämlich zu fahren, befinde sich in seinen Rädern, und diese sind rund, bestehen aus Aluminium, Gummi usw. Man könnte genauso gut die Pedale abbauen und das Gleiche über die Pedale behaupten 2 . Man kann jedoch feststellen, dass die Existenz eines Sattels weniger entscheidend ist für die Fähigkeit zu fahren. Mehr kann auch die Hirnforschung nicht tun: Sie versucht, die für die Sprache relevanten Strukturen zu identifizieren und in ihrem komplizierten Zusammenspiel zu erklären. Nicht mehr und nicht weniger kann auf dem derzeitigen Stand der Wissenschaft von ihr erwartet werden, und dass schon mit der Beschränkung auf das Gehirn nur ein Teilbereich gewählt wurde (denn ein Gehirn allein kann weder sprechen noch Sprache verstehen), wird uns manchmal gar nicht mehr bewusst. Es gibt jedoch überzeugende Argumente für die Notwendigkeit, Sprache in ihrer „Leiblichkeit“, als „embodied“ zu verstehen [Schwerdtfeger 2000, 291ff]. Aber ich möchte noch einmal auf das Fahrrad zurückkommen: Sprache verstehen zu können ist vergleichbar mit der Fähigkeit, Fahrrad fahren zu können - Sprachverständnis erklären entspricht dem Versuch, ein dickes Buch über das Fahrradfahren zu schreiben. Das sind zwei verschiedene Dinge, und man muss die richtigen Fragen stellen, denn die intensive Auseinandersetzung mit der Funktionsweise des Gehirns lässt uns manchmal 1 Dieser Gesamtprozess muss jede der folgenden Stufen umfassen: die Einzelzelle, Zellverbände (Gewebe), das gesamte Gehirn als Organ, den Organismus, das Verhalten dieses Organismus´ [vgl. Peng 2005, 74]. 2 Schumann illustriert die gleiche Problematik anhand der Fragen: „Where is the waltz in the brain? “ oder „Where is the lifting in a crane? “ [Schumann 2006, 314f]. <?page no="11"?> 1.1. Einführende Überlegungen 9 enttäuscht aufschauen und fragen: Gut, aber was heißt denn nun Verständnis? , Wo sitzt das Bewusstsein? u.ä. Mit dem Wissen darum, dass die Erklärung der Innenperspektive diese selbst nicht „wegrationalisieren“ kann und wird, muss meiner Meinung nach keine Angst vor einem neurowissenschaftlichen Reduktionismus einhergehen, sondern kann sich hoffnungsvoll an den Versuch dieser Erklärung gewagt werden. Zu der Schwierigkeit, komplexe kognitive Prozesse aus vergleichsweise primitiven, nicht kognitiven Prozessen zu erklären, gesellt sich ein weiteres grundsätzliches Problem, dem sich bisher hauptsächlich Philosophen gewidmet haben - das Problem der Selbstreferenz [vgl. Rhees 1993, 40ff]. Wir versuchen, mit unserem Gehirn dessen Arbeitsweise zu verstehen, wir kommunizieren mittels Sprache darüber, wie Sprache funktioniert. Die vorliegende Arbeit ist der beste Beweis für dieses Dilemma, das hier nicht gelöst werden kann und soll, auf das hinzuweisen mir jedoch wichtig ist. Angesichts dieser überwältigenden grundsätzlichen Herausforderungen, der sich die Spracherwerbsforschung und die Neurowissenschaften gegenübersehen, scheint es durchaus sinnvoll, sich zunächst kleinerer Teilabschnitte auf dem Weg zu widmen, sozusagen um „zu sehen, wie weit man kommt.“ Die grundsätzlichen Herausforderungen dürfen aber nicht aus den Augen gelassen werden, denn sie stellen den Maßstab, an dem sich die gesamte Kognitionswissenschaft orientieren sollte und ohne den die Diskussion um die Erklärungskraft der quantitativ durchaus starken Untersuchungen und Veröffentlichungen die Richtung verlöre. Auch in meiner Arbeit soll ein kleinerer Ausschnitt aus dem vielschichtigen Untersuchungsgegenstand beleuchtet werden. Zahlreiche klinische, experimentelle und theoretische Befunde legen nahe, dass semantische und grammatikalische Aspekte der Sprache im Gehirn auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichen Arealen verarbeitet werden, andere sprechen für die Untrennbarkeit dieser Domänen im Gehirn. Darüber hinaus scheint es Unterschiede in der Verarbeitung zwischen Erstsprache und Fremdsprache zu geben. Inwiefern diese im Hinblick auf Semantik und Grammatik tatsächlich existieren, welcher Art sie sind und wie sie zu deuten sind, wird im Zentrum des Interesses stehen. Häufig wird als gesichert dargelegt, dass es im Gehirn „ordentlich“ zugehe, dass dieses modular aufgebaut sei; mit modernen Verfahren der Hirnforschung wurden sogar Areale entdeckt, die für das Addieren und das Subtrahieren von Zahlen zuständig seien [vgl. z.B. Roth 2002, IV]. Folglich müsse es auch ein oder mehrere eindeutig lokalisierbare Gebiete geben, die für die Sprachverarbeitung zuständig sind. Der nächste Schritt wäre, nach den Modulen für Semantik und Grammatik zu suchen. Nach deren Identifizierung wäre eine funktionale Interpretation, d.h. die Erklärung, wie beide Module die Verarbeitung dieser unterschiedlichen sprachlichen Aspekte im Detail meistern, einfacher. Das funktionale Verständnis <?page no="12"?> 1. Grundlagen 10 bürge dann Konsequenzen für die Didaktik in sich. So wie die Hirnforschung bestätigt hat, was Jahrhunderte lang praktiziert wurde, nämlich dass zum Beispiel das Erlernen eines Instrumentes (um nicht schon wieder vom Fahrradfahren zu sprechen) nicht theoretisch, sondern durch viel Übung und Wiederholung geschehen muss, da es um präzise zu automatisierende Bewegungsabläufe geht, die erst nach und nach von subkortikalen Hirnstrukturen gespeichert und gesteuert werden, könnten dann ähnliche Aussagen über das Erlernen bestimmter sprachlicher Fertigkeiten getroffen werden. Leider ist die Forschungslage die Sprache betreffend nicht so eindeutig. Entweder sind Sprache und deren Teilaspekte nicht zu trennen von zahlreichen nicht sprachlichen kognitiven Prozessen, oder es wurden bisher nicht die richtigen Experimente durchgeführt, die die isolierte Beobachtung von zum Beispiel grammatikalischen Prozessen möglich gemacht hätten. Beide Möglichkeiten müssen in dieser Arbeit in Betracht gezogen werden. Die angestellten Überlegungen machen deutlich, dass die Untersuchung semantischer und grammatikalischer Prozesse im Gehirn einige Grundfragen berühren. Da der Tiefe des Themas eine Arbeit wie diese jedoch kaum gerecht werden kann, werden zwangsläufig viele relevante Aspekte unter der Oberfläche der Betrachtungen bleiben. 1.2. Zielsetzung und Gliederung Die vorliegende Arbeit lässt sich anhand von drei vordergründigen Zielsetzungen beschreiben. Zunächst soll ein Überblick über die Forschung, die Beiträge zur Beantwortung folgender Fragen liefern kann, gegeben werden: • Welche Vorstellungen und Theorien über Semantik und Grammatik eignen sich am ehesten für die Untersuchung des Gehirns, bzw. ist das Festhalten an der Unterscheidung von Semantik und Grammatik dafür überhaupt sinnvoll? • Welche Aussagen über die Verarbeitung lassen sich aufgrund der Unterschiede zwischen Erst- und Fremdbzw. Zweitsprachenerwerb treffen? Es scheint sinnvoll und wichtig, für diese Fragen nicht nur Hirnforscher zu Rate zu ziehen, um eine einseitige Perspektivierung auf das Thema zu vermeiden. Denn auch die Hirnforschung ist gerade im Bereich Sprache auf Theorien und Modelle angewiesen und dementsprechend nicht frei von Vorannahmen und Modellprägungen, so dass schon bei der Datenerhebung Diskussionsbedarf besteht, inwieweit es sich dabei um objektiv gesammelte, exakte Fakten handelt, wie gern behauptet wird. Durch das Einbeziehen auch anderer Forschungsansätze soll ein möglichst abgerundetes <?page no="13"?> 1.2. Zielsetzung und Gliederung 11 Bild entstehen. Während die erste Frage noch in diesem Kapitel diskutiert wird [1.3.6.], bildet die Beschäftigung mit der zweiten Frage den Beginn des eigentlichen Hauptteils [2.1.-2.3.]. Das zweite zentrale Anliegen der Arbeit kann mit den folgenden Fragen zusammengefasst werden: • Welche Erkenntnisse über die Funktionsweise semantischer und grammatikalischer Verarbeitung (in Erst- und Fremdsprache) kann die Hirnforschung berichten? • Wie lassen sich die Forschungsergebnisse sinnvoll interpretieren, so dass eine kohärente Beschreibung der Prozesse erreicht wird? Die Forschungsergebnisse sind widersprüchlich, teilweise stehen sie sich (bzw. ihre Interpretationen) diametral gegenüber. Ich halte es für unumgänglich, nach den Ursachen für diese Situation zu fragen. Allein der Verweis darauf, dass die Hirnforschung auf diesem Gebiet noch in den Kinderschuhen steckt, reicht nicht aus. Es können auch einige Probleme in den Bereichen Technik, Methodik sowie Interpretation gefunden werden, deren Lösung oder wenigstens Bewusstmachung einiges Klärungspotential in sich tragen. Dieser Teil wird unter 2.4. behandelt. In einem letzten Schritt soll es um folgende Frage gehen: • Lassen sich aus den derzeitig vorliegenden Forschungsergebnissen gültige Ableitungen für die Fremdsprachenvermittlung finden und wenn ja, welche? Um Lernwege zu erleichtern und die Effizienz des Fremdsprachenunterrichts zu erhöhen, muss es aus methodisch-didaktischer Sicht von maßgeblichem Interesse sein, wie das Gehirn Sprache verarbeitet. Hochspezialisierte Grundlagenforschung, wie sie die kognitiven Neurowissenschaften darstellen, geht jedoch von einem engeren Verständnis von Sprache als die anwendungsorientierte Lehr- und Lernforschung aus. Als Bezugswissenschaft von Deutsch als Fremdsprache (DaF) können die Neurowissenschaften auch nur Teilausschnitte des umfassenden, für die Fremdsprachenvermittlung relevanten Phänomens beleuchten. Inwieweit sich trotzdem Bezüge zwischen beiden Disziplinen herstellen lassen, und welche konkreten Hinweise die ausgewerteten Studien implizieren, wird Gegenstand von Kapitel 3 sein. Die Klärung einiger zentraler Begriffe ist unerlässlich und folgt im Anschluss an diesen Abschnitt. Wie aus einigen kritischen Erwägungen bereits hervorgegangen ist, wird in manchen Punkten eher eine Diskussion als eine endgültige Klärung zu erwarten sein. Ganz deutlich wird das bei den Termini Semantik und Grammatik der Fall sein. Deshalb leitet dieser Abschnitt in den Hauptteil der Arbeit über, da der Fokus hier über bloße Grundlagendefinition hinausgehen muss. <?page no="14"?> 1. Grundlagen 12 Kapitel 2 versucht, die für das Thema relevanten Forschungen in einem angemessenen Rahmen vorzustellen und zu diskutieren. Da die doppelte Zweiteilung in Erst- und Fremdsprache einerseits und Trennung bzw. Nichttrennbarkeit semantischer und grammatikalischer Prozesse andererseits den Umfang dauerhaft zu sprengen droht, wird sich der Fokus bei der konkreten Diskussion der Experimente [2.4.] auf die Betrachtung rezeptiver Verarbeitungsprozesse beschränken. Die Vorstellung der für diese Arbeit relevanten Methoden der Hirnforschung erfolgt, ebenso wie die Diskussion der technischen Datenerhebung, aus pragmatischen Gründen sehr verkürzt. Stattdessen soll sich auf die vom DaF-Standpunkt aus besser zu beurteilenden Einflussgrößen Aufgabenstellung, Stimuli, Probanden, Sprache, sowie die anwendungsorientierte Interpretation der Ergebnisse konzentriert werden. 1.3. Klärung zentraler Begriffe 1.3.1. Erst- und Fremdsprache - L1 und L2 Mit Erstsprache oder L1 werden in dieser Arbeit jene Sprachen bezeichnet, die von Geburt an gelernt und vollständig, d.h. dem Standard des Umfeldes entsprechend, erworben wurden. Die Termini sind also gleichbedeutend mit der auch umgangssprachlich verwendeten Bezeichnung Muttersprache, die hier schon wegen des unter Umständen irreführenden Verweises auf die Mutter nicht benutzt wird. Aus dieser Definition folgt, dass ein Mensch auch über mehrere Erstsprachen verfügen kann, insofern diese parallel, anteilig möglichst ausgeglichen und auf gleichem Niveau beherrscht werden. Da völliges Gleichgewicht ein Ideal ist, das in Wirklichkeit so gut wie nie vorzufinden ist, können feine Abstufungen vorkommen und daher auch entsprechende Unterscheidungen vorgenommen werden [vgl. Müller, N. et al. 2007, 15ff]. Darauf wird jedoch verzichtet, da der Fokus auf dem Vergleich zwischen L1- und L2-Sprechern liegt und daher möglichst prototypische L1-Sprecher, d.h. solche, bei denen keine Zweifel an der Zuordnung Erstsprache im Sinne der Definition bestehen, ausgewählt werden. Auch Zeichensprachen, die mittlerweile als vollständige und vollwertige Sprachen anerkannt sind, werden in dieser Arbeit ausgeklammert, da bei ihrer Verarbeitung zum Teil andere Kreisläufe beteiligt sind [vgl. Peng 2005, 203ff]. Deutlich diffiziler gestaltet sich die Definition der Termini Fremdsprache oder L2, die nicht synonym zu verstehen sind. In der Regel lässt die Bezeichnung L2 offen, ob es sich um eine Fremd- oder eine Zweitsprache [vgl. 1.3.2.] handelt. Diese Unterscheidung soll hier aber berücksichtigt werden, weshalb an entsprechenden Stellen zwischen Fremd- und Zweitsprache unterschieden wird. Außerdem sei festgehalten, dass mit L2 jegliche später <?page no="15"?> 1.3. Klärung zentraler Begriffe 13 gelernte Fremd- oder Zweitsprache, also nicht zwingend die zweite Sprache im Leben der jeweiligen Person, gemeint sein kann. Wo es jedoch notwendig ist, zwischen L2, L3, L4 usw. zu unterscheiden, wird darauf hingewiesen. Das Problematische an der Äußerung später gelernte Fremdsprache ist vor allem das Wort später. Es ist grundsätzlich möglich, eine willkürliche Altersgrenze festzulegen. Je später diese gesetzt wäre, desto deutlicher wäre die Abgrenzung zwischen Erst- und Fremdbzw. Zweitsprache, allerdings könnten dann kaum noch Untersuchungen in den L1-/ L2- Vergleich einbezogen werden, mit dem Argument, dass keine wirklichen L2-Sprecher untersucht wurden. Alle in dieser Arbeit verwendeten Studien berücksichtigend soll folgende Grenze markiert werden: Von Fremdsprache oder L2 ist nur die Rede, wenn deren Erwerb nicht vor dem sechsten Lebensjahr begonnen hat. Cook betont zu Recht die Notwendigkeit zur Unterscheidung zwischen L2-Lernern (L2-learner) und L2-Sprechern (L2-user) [Cook 2002a, 1ff]. Eine scharfe Trennlinie zwischen beiden Bezeichnungen ist auch hier nicht immer auszumachen. In Kombination mit der Berücksichtigung der Unterschiede zwischen Erst- und Zweitsprache, sowie Art und Intensität des L2- Kontakts (exposure), wird jedoch die Differenzierung in Lerner und Sprecher/ Benutzer gewürdigt werden. Weiterhin ist es wichtig, von Fremdsprache nur dann zu sprechen, wenn diese die Erstsprache nicht verdrängt oder gar ersetzt. In diesem Falle wäre diese Sprache als Zweitsprache zu bezeichnen. Der Zweitsprachenerwerb geht jedoch häufig mit anderem Lernumfeld und anderer Erwerbsform einher. Da dies erhebliche Konsequenzen sowohl für die Sprachverarbeitung als auch für die Fremdsprachenvermittlung haben kann, wird auf diese Unterscheidung im folgenden Abschnitt ausführlicher eingegangen. 1.3.2. Fremd- und Zweitsprache - DaF und DaZ Grundsätzlich basiert die Unterscheidung in Fremd- und Zweitsprache auf der Rolle oder Funktion der L2 in der Kultur der Lerner, denn „ob es sich um eine Fremdsprache oder die Zweitsprache handelt, [ist] eine Unterscheidung, die im Wesentlichen auf die Tiefe und Endgültigkeit der Einbindung in eine neue Kultur abzielt“ [von der Handt 2003, 2 (Hervorhebungen im Original)]. Die Zweitsprache umfasst im Idealfall alle lebensweltlichen Domänen und entspricht in ihrem Geltungsbereich damit mehr der Erstals der Fremdsprache. Betrachtet man die Entwicklung hin zur Beherrschung einer Fremdbzw. Zweitsprache, ist die Unterscheidung in Lernen (learning) und Erwerb (acquisition) entscheidend. Ersteres wird meistens der Fremdsprache zugeordnet und mit Attributen wie gesteuert, vermittelt, bewusst, formell oder <?page no="16"?> 1. Grundlagen 14 explizit konnotiert; letzteres wird eher im Zusammenhang mit der Zweitsprache benutzt und als frei, ungesteuert, unbewusst, informell oder implizit bezeichnet [vgl. Rösler 1994, 5]. Dass „im Unterricht `gelernt´ und auf der Straße `erworben´ wird“ [Edmondson et al. 2006, 11], ist in dieser plakativen Gegenüberstellung sicherlich zu bezweifeln, jedoch dürfte die These: „Ungesteuertes Lernen korreliert stärker mit natürlichem Spracherwerb, gesteuertes mit dem Lernen in Institutionen“ [Rösler 1994, 6] trotz bisher unzureichender empirischer Überprüfung richtig sein. Die konsequente und stets eindeutige Verwendung der Begriffe Lernen und Erwerb wird nur von wenigen Autoren durchgehalten, und auch in dieser Arbeit wird aus pragmatischen Gründen häufiger von Lernen die Rede sein (so wäre es zum Beispiel mühsam, für L2-Lerner, die eigentlich hauptsächlich erwerben, einen neuen Terminus wie „L2-Erwerber“ einzuführen), doch wird immer dort, wo der vorherrschende Charakter des Lernprozesses relevant ist, darauf hingewiesen. Dass sich diese für Fremdbzw. Zweitsprachenerwerb typischen Charakteristika möglicherweise auch auf sprachliche Teilbereiche wie Semantik oder Grammatik übertragen lassen, behaupten einige Forscher, deren Untersuchungen in dieser Arbeit diskutiert werden. Dabei werden die Termini implizit/ explizit oder prozedural/ deklarativ verwendet. Bereits an dieser Stelle soll vor einer zu eindeutigen Abgrenzung beider Erwerbsmodi gewarnt werden, denn diese wäre, ebenso wie für Fremd- und Zweitsprache, ein zu stark idealisiertes Konstrukt. Nicht in allen Kulturen wird die Unterscheidung in Fremd- und Zweitsprache so explizit betont wie in Deutschland, wo sich zwei entsprechende Wissenschaftszweige herausgebildet haben - Deutsch als Fremdsprache (DaF) und Deutsch als Zweitsprache (DaZ) - die sich natürlich gegenseitig beeinflussen und vor allem gemeinsam ein wichtiges Forschungsfeld abdecken. Im Zuge der soziologischen und politischen Veränderungen innerhalb und außerhalb des deutschsprachigen Raumes werden in Zukunft besonders die Schnittstellen und Mischformen beider Konzepte an Relevanz gewinnen. Es zeigt sich, dass auch die Unterscheidung in Fremd- und Zweitsprache keine absolute, jedoch trotzdem eine wichtige ist. In dieser Arbeit soll innerhalb dieser Unterscheidung vor allem der Aspekt der verschiedenen Lernbzw. Erwerbskontexte und -prozesse interessieren. 1.3.3. Erwachsene Sprecher Im Vorfeld der Arbeit war geplant, nur erwachsene Sprecher miteinander zu vergleichen, um Problemen der Vergleichbarkeit aus dem Weg zu gehen und zuverlässige Aussagen treffen zu können. Dabei ist die Grenze des Erwachsenseins auf dem Gebiet der Spracherwerbsforschung natürlich <?page no="17"?> 1.3. Klärung zentraler Begriffe 15 nicht so eindeutig markiert wie etwa im juristischen Sinne der 18. Geburtstag. Dieses Problem hätte gelöst werden können, indem nur Sprecher, die zu Beginn des Fremdsprachenerwerbs älter als zum Beispiel 20 Jahre waren, in die Betrachtungen einbezogen worden wären. Wie unter 1.3.1. bereits gesagt, hätten sich bei solch strikter Einschränkung kaum Studien finden lassen. Das liegt nicht nur daran, dass es in den Ländern, die Hirnforschung betreiben, wenige Probanden gibt, die die zu untersuchende Fremdsprache nicht schon als Kind begonnen haben zu lernen, sondern auch daran, dass ein Großteil der Forschung auf Belege zur (Nicht)Existenz einer kritischen Phase oder Varianten derselben [vgl. 2.2.1.] aus ist. So widersprüchlich die Erkenntnisse über die Einflussgröße Alter beim Fremdsprachenerwerb bisweilen sein mögen, so sind sie doch unbedingt zu berücksichtigen, und gerade die immense Datenmenge zur Phase der Kindheit und Jugend soll in dieser Arbeit nicht völlig ausgespart bleiben. Manche der ausgewerteten Studien vergleichen Erwachsene mit Jugendlichen und Kindern, und auf die Erwähnung der Ergebnisse über letztere Probandengruppen wird ebenfalls nicht verzichtet. Doch welche sind die konkreten Gründe für die Bemühung um eine Einschränkung auf erwachsene Lerner? In erster Linie sind das Gründe der besseren Vergleichbarkeit. Für die Planung von Experimenten zum Beispiel gilt: [S]ome paradigms that are used in adults cannot be used with very young children, whereas paradigms frequently used with infants cannot be applied easily to older children and adults. [Friederici 2005, 481] Ein weiterer Grund lässt sich aus folgendem Zitat ableiten: “In general, the younger the learner, the more similar second language learning is to first language learning” [Illes et al. 1999, 249]. Dieser Aspekt wurde im vorigen Abschnitt bei der Bemühung um die Abgrenzung von Erst-, Zweit- und Fremdsprache bereits diskutiert, und um dem komplizierten Grenzbereich zwischen ca. drittem und ca. sechstem Lebensjahr aus dem Weg zu gehen, ist die Konzentration auf deutlich ältere Lerner erforderlich. Außerdem haben es DaF-, aber auch DaZ-Lehrer häufig mit erwachsenen oder zumindest älteren Lernern zu tun, daher wird sich auch die Frage nach möglichen Konsequenzen für die Fremdsprachenvermittlung [Kap. 3] stärker auf ältere Lerner konzentrieren. Die Situation unterscheidet sich beispielsweise von vornherein dadurch, dass Erwachsene in der Regel nennbare Gründe für das Erlernen einer Fremd-/ Zweitsprache haben oder nur auf bestimmte Anwendungsbereiche abzielen. So zahlreich und wohl überlegt die Gründe für eine Fokussierung auf erwachsene Sprecher auch sein mögen, kann die Arbeit diesem Anspruch nur bedingt gerecht werden. Der Faktor Alter wird aber, in Kombination mit anderen entscheidenden Einflussgrößen, thematisiert und bei der Auswertung der Studien berücksichtigt werden. <?page no="18"?> 1. Grundlagen 16 Eine weitere pragmatische Beschränkung besteht darin, dass nur ihre Sprachentwicklung und -beherrschung betreffend gesunde Sprecher diskutiert werden. Zwar bilden hier Ergebnisse aus der Aphasiologie, die, wo es erkenntnisfördernd scheint, in die Diskussion einbezogen werden, eine Ausnahme; die genauer untersuchten Studien in dieser Arbeit beschäftigen sich jedoch ausschließlich mit Probanden ohne erkennbare sprachliche Beeinträchtigungen. 1.3.4. Kortikale Repräsentation Der Begriff Kortex kommt aus dem Lateinischen, bedeutet zunächst schlicht Rinde und dient in der Anatomie und der Medizin daher häufig als Bezeichnung für die Außenschicht von Organen. Es versteht sich von selbst, dass im Rahmen dieser Arbeit nicht etwa die Nierenrinden, sondern bestimmte Schichten im Gehirn gemeint sind. Konkreter sind dort die Großhirnrinde (cortex cerebri) und die Kleinhirnrinde (cortex cerebelli) auszumachen. Die Großhirnrinde lässt sich histologisch in Iso- und Allokortex, oder stammesgeschichtlich in Neo-, Archi- und Paläokortex unterteilen [vgl. Hanser et al. 2000]. In der letzten Unterteilung weitet sich die Bedeutung des Begriffs Kortex schon beträchtlich aus, denn der Archicortex etwa besteht im Wesentlichen aus der Hippocampusformation und liegt damit keineswegs an der Peripherie des Gehirns 3 . Wenn also von kortikaler Verarbeitung die Rede ist, ist in den seltensten Fällen nur die äußerste Schicht des Großhirns (oder Kleinhirns) gemeint, häufig wird allgemein auf Verarbeitung im Gehirn referiert. Eine möglichst häufige topographische Präzisierung soll dieser Ungenauigkeit an den gegebenen Stellen entgegen wirken. Andererseits ist es durchaus nachvollziehbar, dass von der Großhirnrinde ausgehend, nämlich dem Teil des Gehirns, der „den Menschen zu dem [macht], was er ist“ [Thompson 2001, 20], gern verallgemeinert wird, denn sie ist der Träger aller höheren kognitiven Prozesse. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie nicht in ständigem Wechselspiel mit anderen Teilen des gesamten Hirns steht, mehr noch, durch diese „regiert“ wird [Roth 2002, II]. In diesem Zusammenhang spielt zum Beispiel der Thalamus als „Schaltzentrale“ für alle in die Großhirnrinde ein- und von ihr ausgehenden Reize eine entscheidende Rolle. Es wäre unsinnig anzunehmen, dass Sprachverarbeitung nur in den äußeren Bereichen des Großhirns stattfinden würde, ganz im Gegenteil sind subkortikale Regionen 3 Diese verwirrende mehrfache Verwendung erklärt sich aus der Evolution: Der Neokortex entwickelte sich beispielsweise erst bei Säugetieren, stammesgeschichtlich ältere (und funktional besonders grundlegende) Regionen werden mittlerweile von jüngeren Teilen des Gehirns überlagert [vgl. Hanser et al. 2000/ II, 412]. Diese arbeiten jedoch nicht unabhängig von den evolutionsbiologisch gesehen älteren Verarbeitungszentren. <?page no="19"?> 1.3. Klärung zentraler Begriffe 17 entscheidend an diesem komplizierten Prozess beteiligt und müssen daher auch entsprechend berücksichtigt werden. Einschränkend ist zu bemerken, dass ein Teil der in dieser Arbeit vorgestellten Untersuchungen mit Methoden arbeitet, die fast ausschließlich in der Großhirnrinde stattfindende Aktivität messen. Für diese Untersuchungen [EKP-Studien, vgl. 2.4.1.] wäre es also mit Einschränkungen gerechtfertigt, von kortikaler Verarbeitung im engeren Sinne zu sprechen. Abbildung I [s. Anhang] zeigt eine anatomische Untergliederung der Großhirnrinde, die präziser ist als die grobe Einteilung in vier Hirnlappen nach Ecker (Frontal- Parietal-, Okzipital- und Temporallappen [Ecker 1869]) und wesentliche Bezeichnungen enthält, die auch unter 2.4. verwendet werden. Abbildung II [s. Anhang] stellt die peripheren Brodmann-Areale (BA) der linken Hemisphäre dar. Für die sensorische und motorische Verarbeitung des Menschen sind bereits funktionale Zuordnungen in der Großhirnrinde getroffen worden, der große Rest wird Assoziationskortex genannt und ist noch nicht sehr gut erforscht [vgl. Thompson 2001, 22ff]. Einhellig wird beispielsweise der hintere Teil des Okzipitallappens (BA17) als primäres Sehfeld bezeichnet, bestimmte parietale Regionen verarbeiten Reize, die an der Haut eintreffen. So verwundert es nicht, dass auch Sprachzentren gesucht und gefunden wurden (Broca- und Wernicke-Areal, BA 44/ 45 und BA 22). Wie aber kann man sich deren Funktion genau vorstellen? Roth legt am Beispiel Sehen dar, wie trotz primärer und sekundärer Sehfelder im Okzipitallappen mehr oder weniger die gesamte Großhirnrinde an der Verarbeitung visuell wahrgenommener Reize beteiligt ist: So gebe es viele kleinere Neuronenpopulationen, die jeweils Teilinformationen wie Farbe, Kontrast (ohne Farbe), Bewegung, Größe u.v.m. parallel bearbeiten [vgl. Roth 2002, III]. Wie aus dieser kompliziert vernetzten Zusammenarbeit die Gesamtwahrnehmung (z.B. grüner, sich schnell nähernder Ball) entsteht, ist die höchst spannende und bei weitem noch nicht geklärte Frage 4 . Ähnlich und mindestens genauso vielschichtig kann man sich die Sprachverarbeitung vorstellen. Folglich muss die frühere, aus der Aphasiologie stammende Annahme, das Broca-Areal sei für die Produktion, das 4 Die stark lokalistische Vorstellung, die unter dem Namen „Großmutterzellentheorie“ bekannt geworden ist [vgl. Kochendörfer 2006, 75ff; Roth 2002, III], ist in den letzten Jahren der Vorstellung von zeitlich exakt synchronisierten Netzwerken, die bei bekanntem, zusammengehörigem Input aktiviert werden, gewichen. So wie die erste nicht erklären kann, wie einzelne Neuronen Bedeutung erzeugen sollen, erklärt auch die zweite lediglich, was Neuronen tun, wenn Input zusammengehört (z.B. ein bekanntes Wort identifiziert wird); sie erklärt nicht, warum sie das tun und wie dadurch Bedeutung entsteht. Maßgeblich sind für diese Fähigkeit jedenfalls verschiedene Gedächtnisformen (also auch zentrale subkortikale Bereiche wie der Hippocampus) nötig, was Roth zu der Aussage bringt: „Das Gedächtnis ist unser wichtigstes Sinnesorgan“ [Roth 2002, III]. <?page no="20"?> 1. Grundlagen 18 Wernicke-Areal für die Rezeption zuständig [vgl. Bates et al. 1997, 546, Müller, H.M. 2003, 171], als überholt gelten [ebd.; Binder et al. 1997, 359f]. Neuere aphasiologische Erkenntnisse, die dem Broca-Areal syntaktische und dem Wernicke-Areal semantische Verarbeitung zuschreiben, werden jedoch in dieser Arbeit berücksichtigt [2.4.2., 2.4.3.]. Generell ist zwar ein Trend weg von streng lokalistischen Beschreibungen zu beobachten, doch dass den beiden traditionellen „Sprachzentren“ trotzdem eine besondere Bedeutung zukommt, ist wahrscheinlich zumindest das Broca-Areal wird in vielen Studien mit bildgebenden Verfahren als maßgeblich beteiligtes identifiziert. Wie jedoch diese Beteiligung interpretiert werden kann, ob überhaupt eine so eindeutige Zuordnung nach dem Muster „Areal X ist für Tätigkeit Y während der Sprachrezeption zuständig“ zulässig ist und ob in die Verarbeitung der L2 andere Areale involviert sind als bei der L1, wird in dieser Arbeit diskutiert werden. Eine exakte, detaillierte Darstellung der anatomischen, neurobiologischen und elektrochemischen Verhältnisse im Gehirn ist in dieser Arbeit nicht vorgesehen (und kann vom Autor auch nicht geleistet werden), daher sei auf die zitierte Literatur verwiesen 5 . Es wurde trotzdem versucht, unnötige Oberflächlichkeiten in der Rezeption der neurowissenschaftlichen Ergebnisse zu vermeiden und die naturwissenschaftlichen Realitäten nicht außer Acht zu lassen. Es soll daher noch darauf hingewiesen werden, dass die Unterschiede zwischen Strukturen innerhalb des Gehirns nicht der Natur sind wie etwa die zwischen Herz und Lunge. Zwar bestehen nicht zu leugnende topographische und histologische Differenzen zwischen ihnen, sodass durchaus qualitative Unterschiede auszumachen sind, doch ein allzu starkes modulares Verständnis des Hirnaufbaus, wie es viele bunte Abbildungen in Lehrbüchern suggerieren mögen, entspricht nur bedingt der Realität, denn das Gehirn ist in seiner Gesamtheit ein Organ [vgl. Thompson 2001, 25ff]. Die Symbiose aus struktureller und funktionaler Aufteilung im Gehirn charakterisiert Roth treffend mit den Worten: „Strukturen legen die Funktionen fest, und die Funktionen verändern die Strukturen.“ [Roth 1996, 119]. 1.3.5. Sprachverarbeitung Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen soll der Schwerpunkt im Wesentlichen auf der Betrachtung rezeptiver Sprachverarbeitung liegen. Sprachrezeption und Sprachproduktion unterscheiden sich in einigen relevanten Aspekten, die eine getrennte Behandlung beider Modi sinnvoll erscheinen lassen [vgl. für eine ausführliche Darstellung Peng 2005, 257ff]. 5 Ausgespart wurde auch die Erläuterung der mittlerweile recht gut untersuchten „Kommunikation“ einzelner Neuronen miteinander, auch dazu s. Hanser et al. 2000; Peng 2005; Roth 2002; Thompson 2001 u.a. <?page no="21"?> 1.3. Klärung zentraler Begriffe 19 Allein die Kontrolle aller motorischen Aktivitäten (Zungenlage, Lippenöffnung, Respiration, Kehlkopf- und Rachenmuskulatur), die notwendig sind, um Sprache zu artikulieren, erfordert die Involvierung spezieller Kreisläufe im Gehirn, die in dieser Weise für die Rezeption nicht notwendig sind. Sprachlichen Äußerungen geht ein Willensakt voraus, der selbst wieder aus einigen Teilprozessen besteht [vgl. Roth 2002, V], Sprachrezeption ist vom Willen weitestgehend unabhängig. Auch findet ein Monitoringprozess während der Produktion statt, der das eben Ausgesprochene sofort erneut (rezeptiv) verarbeitet und abgleicht. Für die schriftliche Produktion gelten diese Aussagen nur bedingt, doch ist auch hier von einer Reihe andersartiger Prozesse als bei der Rezeption auszugehen. Bei Sprachrezeption muss ebenso zwischen auditiver und visueller Rezeption unterschieden werden [vgl. 2.4.5.2.]. Die Performanzrate in der Fremdsprache betreffend stellt Indefrey fest, dass für beide sprachliche Modi unterschiedliche Einflussvariablen gelten: Das Erwerbsalter beispielsweise wirke sich, zumindest auf der Wortebene, deutlich auf die produktiven Fähigkeiten, nicht aber auf die rezeptiven aus [Indefrey 2006, 299]. Innerhalb des Sprachverstehensprozesses werden verschiedene Ebenen voneinander abgegrenzt: Wahrnehmen, Segmentieren, lexikalisches (Wieder)Erkennen, strukturelle Analyse (parsing), Integration von Bedeutung und Struktur auf Wort- und Satzebene [vgl. Bußmann, 2002, 637]. Wie stark voneinander getrennt diese Ebenen betrachtet werden, wie sie aufeinander bezogen sind und in welcher Abfolge sie aktiviert werden, ist vom jeweiligen Modell der Sprachverarbeitung abhängig [s.a. 1.3.6.]. Grundsätzlich lassen sich serielle Modelle mit autonomen Modulen [z.B. Friederici 1995] von parallel arbeitenden, interaktiven Modellen [z.B. MacWhinney et al. 1989] unterscheiden. Eine dritte Möglichkeit stellt die Kombination aus beiden dar [z.B. Marslen-Wilson 1987] 6 . Frühere Konzeptionen von Rezeptions- und Produktionsprozessen erschienen mitunter als völlig gegensätzlich bzw. gegenläufig [vgl. Bates et al. 1997, 560f], heute kann man lesen, dass sich die Stufen der Sprachproduktion denen des Sprachverständnisses ähneln [Hanser et al. 2000/ III, 296]. Diese Debatte wird hier nicht mehr explizit thematisiert, es ist jedoch wichtig, im Auge zu behalten, dass die analysierten Studien unter 2.4. lediglich Aussagen über Sprachrezeption treffen. Ein umfassenderes Bild zu semantischen und grammatikalischen Verarbeitungsprozessen ergibt sich erst durch den Einbezug von Untersuchungen zur Sprachproduktion. 6 Für eine detailliertere Darstellung unterschiedlicher Modelle und zur Entstehung von Bedeutung am Beispiel Wortverarbeitung s.a. Kochendörfer 2005, 10ff; Wengenroth 2005, 22ff. <?page no="22"?> 1. Grundlagen 20 1.3.6. Semantik und Grammatik 1.3.6.1. Innere und äußere Sicht Die Semantik als Teilgebiet der Sprachwissenschaft erforscht die Bedeutung sprachlicher Zeichen und Ausdrücke, die Grammatik deren Regularitäten und Ordnungsprinzipien [vgl. Bußmann 2002, Glück 1993]. Nur in dieser allzu kurzen Definition können beide Termini auf den ersten Blick eindeutig voneinander unterschieden werden. In diesem oberflächlichen Verständnis werden beide Begriffe auch häufig benutzt und i.d.R. verstanden. In diesem Sinne kann eventuell noch die Pragmatik in eine Reihe neben Semantik und Grammatik gestellt werden. Es muss erwähnt werden, dass Grammatik aber auch als formalisiertes Regelwerk, das die Gesamtheit einer Sprache zu beschreiben sucht und dergestalt neben Morphologie, Syntax und anderen Komponenten auch Semantik mit einschließt, verstanden werden kann. In dieser Bedeutung soll der Begriff erst einmal außen vorgelassen werden, an gegebener Stelle wird darauf eingegangen. Es wäre verhältnismäßig einfach, wenn man mit dieser klassischen Definition arbeiten und an ihr die Erkenntnisse der Neurowissenschaften messen könnte. Es bestünde dann zwar immer noch das Problem der sinnvollen Interpretation der Daten, es gäbe aber zumindest ein festes Gerüst zur Bestimmung der zu untersuchenden Phänomene. Dass dem nicht so ist, zeigen bereits die folgenden Überlegungen. Die klassischen Definitionen fußen auf der formalen Beschreibung von Sprachsystemen, wobei die Sprache als isoliertes Forschungsobjekt, als Entität dient. Diese Betrachtungsweise hat eine lange Tradition, im Abendland bis in die griechische Antike 7 , und sie soll als äußere Sicht bezeichnet werden [vgl. Darski 1995, 97ff]. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts aber wächst das Interesse an der inneren Sicht [vgl. ebd.], d.h. der Frage, wie unser Körper, insbesondere unser Gehirn, Sprache verarbeitet. Diese beiden Sichtweisen beginnen bereits mit Chomsky wieder ineinander zu greifen, die klaren Grenzen zwischen ihnen verwischen, so dass oft nicht klar ist (und noch seltener explizit darauf hingewiesen wird), welche Sichtweise gerade eingenommen wird. Ellis bildet hier eine Ausnahme, indem er ge- 7 Es sei darauf hingewiesen, dass Grammatik in der Antike häufig als ars bene scribendi et loquendi [Darski 1995, 95], also vielmehr als Kunst (ars) denn als Wissenschaft (scientia) definiert wurde und zudem die ganze Sprache betraf, vorsichtig vergleichbar mit dem, was seit dem 19. Jahrhundert mit Philologie bezeichnet wird [Glück 1993, 228]. Erst später wurden die Sprachbeschreibungen zunehmend begrenzter, formaler und mit Einschränkungen exakt, wobei keine Sprache bisher je umfassend und vollständig beschrieben werden konnte [vgl. für einen Überblick: Schlobinski 2003, 16ff]. <?page no="23"?> 1.3. Klärung zentraler Begriffe 21 nau diese Unterscheidung, etwas anders formuliert, zum Gegenstand seiner Kritik an Anwendungen generativer Grammatikmodelle macht: „Such models [computational implementations of generative grammars] may be judged successful if the criterion is that it describes the space of possible analyses that sentences may get.“ [Ellis, N. 2002, 164] Ein nützlicherer Ansatz für die Untersuchung natürlicher Sprachverarbeitung sei aber, “if the criterion is rather to predict which analyses human comprehenders actually assign to natural language utterances” [ebd.]. Es ist nicht verwunderlich, dass es ehrgeizige Versuche gibt, äußere und innere Sicht miteinander zu verbinden [Beispiele im folgenden Abschnitt]. Denn dass jede Sprache über eine erkennbare Systematik, über unterschiedliche Ebenen und Kategorien verfügt, steht außer Frage. Inwieweit diese strukturellen Merkmale mit den Vorgängen im Kopf bei Sprachverarbeitung und -produktion korrelieren und wie dabei genau Bedeutung entsteht, ist jedoch nach wie vor strittig. Aber auch innerhalb einer rein äußeren Betrachtung sind die Probleme längst bekannt, die eine klare Abgrenzung zwischen Semantik und Grammatik schwierig machen. So können beispielsweise Morpheme als die kleinsten bedeutungstragenden sprachlichen Einheiten sowohl Gegenstand semantischer als auch grammatischer Analyse sein. Das erzeugt zwar an sich keinen Widerspruch, nur ist schon auf dieser unteren Ebene der Sprachbetrachtung nicht eindeutig zu beantworten, wo Form (Grammatik) endet und Bedeutung (Semantik) beginnt. Es scheint jedenfalls kein Zufall zu sein, dass sich semantische und grammatische Kategorien teilweise überschneiden. So entsprechen etwa thematische Rollen oft den grammatischen Relationen. Nach einer kurzen Darlegung grundlegender semantischer und grammatischer Konzepte, auf deren Basis eine differenziertere Diskussion um die eben aufgeworfene Problematik der Begriffsbegrenzung geführt werden kann, sollen einige wesentliche Ansätze innerhalb der Sprachwissenschaft daraufhin überprüft werden, von welchen Vorstellungen über Semantik und Grammatik sie ausgehen und wie diese sich auf die Frage nach der inneren Repräsentation von Sprache anwenden lassen. 1.3.6.2. Grundlegende Konzepte Eine ganz fundamentale Unterscheidung innerhalb der Semantik ist die zwischen Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks und dem, was dieser bezeichnet, dem Bezug oder der Referenz. Diese Unterscheidung geht zurück auf Gottlob Frege, der die Begriffe allerdings anders wählt, bei ihm steht für Bedeutung Sinn und für Referenz Bedeutung: Es liegt […] nahe, mit einem Zeichen (Namen, Wortverbindung, Schriftzeichen) außer dem Bezeichneten, was die Bedeutung des Zeichens heißen möge, noch <?page no="24"?> 1. Grundlagen 22 das verbunden zu denken, was ich den Sinn des Zeichens nennen möchte, worin die Art des Gegebenseins enthalten ist. [Frege 1892, 26] Daraus ergibt sich die Frage nach dem Realitätsbezug der Bedeutung, denn „ob dem Sinne nun auch eine Bedeutung entspreche, ist damit nicht gesagt“ [ebd., 28]. Hier wird die Realitäten konstituierende Eigenschaft von Sprache bereits angedeutet, die später entscheidend ist in der Debatte um die Relativität von Sprachen und kognitiven Konzeptualisierungen. Ansätze, die von der Prämisse ausgehen, dass sich die Bedeutung von Wörtern und Sätzen erklären lässt, indem man deren Bezug zur Realität beschreibt, können referentiell, solche, die von Realitätsschaffung durch (sprachlich konventionalisierte) konzeptuelle Strukturen ausgehen, repräsentational genannt werden [Saeed 2004, 24f]. Es muss auch auf eine andere Grundsatzfrage hingewiesen werden, die im Laufe der Arbeit nicht mehr aufgeworfen werden soll, nämlich ob Sprache und Denken ein und dasselbe sind oder nicht. Auch dazu äußert sich Frege, indem er sagt: Von der Bedeutung und dem Sinne eines Zeichens ist die mit ihm verknüpfte Vorstellung zu unterscheiden. Wenn die Bedeutung eines Zeichens ein sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand ist, so ist meine Vorstellung davon ein aus Erinnerungen von Sinneseindrücken, die ich gehabt habe, und von Tätigkeiten, inneren sowohl wie äußeren, die ich ausgeübt habe, entstandenes inneres Bild. Dieses ist oft mit Gefühlen getränkt; die Deutlichkeit seiner einzelnen Teile ist verschieden und schwankend. Nicht immer ist, auch bei demselben Menschen, dieselbe Vorstellung mit demselben Sinne verbunden. Die Vorstellung ist subjektiv: die Vorstellung des einen ist nicht die des anderen. [Frege 1892, 29] Noch viele andere Sprachphilosophen und -wissenschaftler könnten zu dieser Frage zitiert werden, und es würde sich herausstellen, dass die Mehrheit der Ansicht ist, dass Denken prinzipiell unabhängig von Sprache möglich und sogar notwendig ist 8 , gleichwohl mit dem Erwerb der Erstsprache eine gegenseitige Beeinflussung stattfindet, die im Nachhinein nicht mehr getrennt betrachtet werden kann. Von dieser Annahme soll in dieser Arbeit ausgegangen werden. Wie unter 1.3.6.1. bereits dargelegt, kann Bedeutung auf verschiedenen Ebenen entstehen und untersucht werden. Die am intensivsten untersuchten Felder sind dabei Wort- und Satzbedeutung. [vgl. Schwarz et al. 2004, 37ff, 117ff]. Die Frage, welches Gebiet der Sprache untersucht wird, ist ebenfalls von grundlegender Bedeutung und lässt sich im Grad der Abstraktheit fassen. Auf Ferdinand de Saussure geht die Unterscheidung in langue, langage und parole zurück [Bally et al. 2001, 11f, 16], wobei er die empirische Ebene 8 Ein einfaches Denkbeispiel kann diese Aussage untermauern: Wenn Denken ohne Sprache nicht möglich wäre, wie könnten Kinder dann ihr erstes Wort lernen? <?page no="25"?> 1.3. Klärung zentraler Begriffe 23 langue und langage, gesprochene Sprache, aus seinen Untersuchungen aus Gründen der Unexaktheit und Fehlerhaftigkeit ausklammert [ebd., 13ff]. Eine ähnliche Einteilung lässt sich an den englischen Termini utterance, sentence und proposition festmachen [Saeed 2004, 14], wobei auch hier der Grad der Abstraktheit von links nach rechts zunimmt. Bedeutung (meaning) in Bezug auf konkrete Sprecher und Hörer wird Pragmatik (pragmatics) genannt, Bedeutung auf einer abstrakten Ebene, die Äußerungen einzelner Sprecher nicht mehr berücksichtigt, heißt in diesem Zusammenhang Semantik (semantics) [ebd., 17]. Gerade aber die Ebene der konkreten Äußerungen müsste das wesentliche Interesse derjenigen Forschung auf sich ziehen, die herausfinden möchte, wie das Gehirn Sprache verarbeitet. Dieser Bereich birgt jedoch neben zahlreichen methodischen Schwierigkeiten bis heute auch Vorbehalte wie sie bei de Saussure formuliert sind und wird daher nach wie vor in vielen Experimenten, aber auch theoretischen Überlegungen, gemieden. Eine weitere Verkomplizierung kommt mit der Betrachtung von konkreten Sprechern und Hörern hinzu, das Sender- Empfänger-Problem. Denn damit eine konkrete Äußerung in ihrer Konkretheit, d.h. unter Berücksichtigung der spezifischen Kommunikationssituation, eindeutig verstanden wird, muss sie auf der Seite des Hörers durch selektive deiktische Interferenzen und Hintergrundwissen ergänzt werden. Um sich auf dieser Ebene begrifflich bewegen zu können, ist folgende Dreiteilung sinnvoll: Die konventionelle, kontextfreie Bedeutung einer Äußerung wird mit meaning bezeichnet, die vom Sprecher beabsichtigte Bedeutung content und die auf der Hörerseite konstruierte Bedeutung interpretation [ebd., 211]. Traditionelle Grammatiktheorien, deskriptive wie normative, gehen von einem hierarchisch strukturierten Sprachbild aus, das Krämer als Zwei- Welten-Modell charakterisiert. Damit ist, ähnlich wie oben für die Semantik diskutiert, gemeint, dass „zwischen universalen oder pragmatischen Regeln und ihrer Anwendung im Sprechen so unterschieden [wird], dass das Sprechen zu erklären heißt, diese grammatischen oder pragmatischen Regeln […] zu beschreiben“ [Krämer 2001, 10f]. Solche hierarchischen Systeme basieren auf den komplementären Beschreibungs- und Erklärungsprinzipien Konstituenz und Dependenz. Dem Segmentieren liegt das Prinzip der Konstituenz zugrunde, dem Herstellen von Konnexionen zwischen den einzelnen Segmenten das Prinzip der Dependenz [Schlobinski 2003, 18]. Im engeren Grammatikverständnis als Beschreibung der formalen Zusammenhänge (im Gegensatz zu einer gesamten Sprachbeschreibung [s. 1.3.6.1.]), sind die beiden Betrachtungsebenen Morphologie und Syntax zu unterscheiden. Die Urteile darüber, welche Konstruktionen einer Sprache als grammatisch korrekt gelten, gründen meistens auf der Intuition der Sprachbenutzer bzw. desjenigen Sprachwissenschaftlers, der ein Modell entwirft. Dabei werden i.d.R. auch nur schriftlich korrekte Konstruktionen <?page no="26"?> 1. Grundlagen 24 in Betracht gezogen; bei toten Sprachen muss man sich ausschließlich auf Quellenmaterial und dessen Grammatikalität verlassen. Dijkstra et al. betonen diesen intuitiven Aspekt der traditionellen Grammatikbeschreibungen in ihrem Versuch, Grammatik zu definieren, ganz deutlich: „Eine Grammatik ist […] eigentlich eine Theorie über linguistische Intuitionen“ [Dijkstra et al. 1993, 18]. Für Grammatik gilt in mindestens so starkem Maße wie für Semantik, dass ganze Theorien notwendig sind, um Aussagen darüber treffen zu können, was grammatikalisch ist: „Grammaticality is a property assigned to sentences by a grammar.“ [Fodor, J.D. 1983, zit. nach Saeed 2004, 86] Welche Vorstellungen von Sprache den verschiedenen Beschreibungssystemen zugrunde liegen, kann sehr stark variieren; darüber hinaus gibt es generierende und simulierende Modelle. Deswegen soll bereits an dieser Stelle zu der Diskussion verschiedener einflussreicher linguistischer Ansätze übergegangen werden. Dadurch können die verschiedenen Sprachkonzeptionen in ihrem jeweiligen Umfeld vorgestellt werden. 1.3.6.3. Diskussion einiger Modelle der modernen Sprachwissenschaft Strukturalistische Sprachbeschreibungen haben ihren Ursprung in den posthum veröffentlichten Schriften Ferdinand de Saussures, der stark durch den Objektivismus und damit von Rationalismus und Logik beeinflusst ist. Der Strukturalismus wurde als exaktes, quasi naturwissenschaftliches Forschungsparadigma einflussreich für das 20. Jahrhundert. Innerhalb des Strukturalismus´ haben sich zahlreiche Schulen herausgebildet, von denen hier nur auf den so genannten amerikanischen Strukturalismus mit Leonard Bloomfield hingewiesen werden soll, der maßgeblich das behavioristische Lernmodell geprägt hat. Für Strukturalisten ist Sprache vor allem ein Zeichensystem, dabei sind Arbitrarität und Konventionalisierung zentrale Charakteristika dieser Zeichen. Formanalyse steht im Zentrum des Interesses, Bedeutung ergibt sich sekundär aus der Struktur: Der semantische Gehalt einer syntaktischen Relation ist etwa das, was häufig auch „Konstruktionsbedeutung“ genannt wird: Kennt man die Bedeutung der im Satz vorkommenden elementaren Einheiten und die Bedeutung aller in ihm vorkommenden Konstruktionen, so kann man seine Gesamtbedeutung ermitteln. [Eisenberg 1999, 44] Die Grundidee ist also: Bedeutung ergibt sich aus der Summe der Einzelteile (z.B. eines Satzes) in ihrer Beziehung zueinander. Doch schon in der doppelten Verwendung des Begriffs Bedeutung in diesem Zitat, einmal für elementare Einheiten, dann für Konstruktionen, zeigt sich einerseits die Schwierigkeit für Strukturalisten, Semantik zu beschreiben, andererseits die Möglichkeit, ein ähnliches System mit semantischer Argumentation zu entwickeln. <?page no="27"?> 1.3. Klärung zentraler Begriffe 25 Dies geschieht in der durch Lucien Tesnière begründeten Dependez- oder Valenzgrammatik, die als Vorläufer semantischer Grammatiken angesehen werden kann. Tesnière betont, dass „[z]wischen den beiden Ebenen [Struktur und Bedeutung] zwar nicht Identität, wohl aber Parallelität [bestehe]. Diese Parallelität kommt in den Konnexionen zum Ausdruck. In der Tat werden die strukturalen Konnexionen durch semantische Konnexionen überlagert.“ [Tesnière 1980, 52] Valenz oder Rektion, ein Konzept, das an sich schon bis mindestens ins 8. Jahrhundert n. Chr. zurückreicht, bezeichnet die Eigenschaft, dass „Wörter einer bestimmten Wortklasse eine oder mehrere Leerstellen um sich eröffnen, die durch Wörter bestimmter anderer Wortklassen ausgefüllt werden müssen“ [Bühler 1982, 173, zit. nach Schlobinski 2003, 79]. Der semantische Aspekt liegt darin, dass der Grund dafür, wie viele Mitspieler ein Wort verlangt bzw. ermöglicht, in seiner Bedeutung liegt. Die Bedeutung des Wortes bezeichnet man nach Engel als kategorielle Bedeutung (Ausdrucksvalenz), die der gesamten Phrase als relationale Bedeutung (Inhaltsvalenz) [Engel 1988, 357]. Einschränkend muss gesagt werden, dass es bisher nicht gelungen ist, an der für indogermanische Sprachen am häufigsten untersuchten Wortklasse, den Verben, eine umfassende und schlüssige semantische Verbklassifikation zu erarbeiten 9 . Über die engeren Dependenzverhältnisse hinaus sind solche Ansätze auch für andere Modellierungen von Bedeutung, in denen sprachliche Strukturen über relationale Netzwerke aufgebaut werden. Der valenzgrammatische Ansatz bietet also die Möglichkeit, strukturelle Eigenschaften einer Sprache mit Hilfe von Bedeutung zu erklären. Gesamtbedeutung ergibt sich dabei trotzdem, ähnlich wie im Strukturalismus, aus der Summe der Einzelteile in ihren Relationen zueinander, die Entstehung von Einzelbedeutung wird nicht näher hinterfragt. Deshalb birgt der Ansatz in Hinblick auf die Frage nach der Verarbeitung im Gehirn auch nur wenig Erklärungspotential in sich. Der oben bereits zitierte Karl Bühler, ein bedeutender Vertreter der Prager Schule, richtet den Fokus erstmals auf die Sprechsituation und ebnet damit einem performanzorientierten Ansatz, dem Funktionalismus, den Weg. Sprache ist nach Bühler nicht reduzierbar auf die Repräsentationsfunktion von Welt, sondern sie ist vielmehr eine Form menschlichen Handelns. [Schlobinski 2003, 157] Der Zusammenhang von sprachlichen Strukturen und pragmatischen Funktionen in kommunikativen Situationen im sozialen Kontext rückt in den Vordergrund der Analyse. Dadurch wird gegenüber formbezogenen 9 Es sei hier auf einen überzeugenden Vorschlag von Schnorbusch hingewiesen, der die Verbklassifikation nach Valenz- und Rollenzuweisung durch Hyperonomie und Hyperrollen ergänzt [Schnorbusch 2005, 52ff]. <?page no="28"?> 1. Grundlagen 26 Ansätzen die strikte Unterteilung in langue und parole aufgegeben. Unter evolutionstheoretischer Perspektive werden sprachliche Strukturen so Ausdrucksmittel routinierter und habitualisierter Situationen sprachlichen Handelns, eine Sichtweise, die auch für den Kognitivismus [s.u.] zentral ist. Im Prinzip werden Begriffe der strukturbetonten Grammatikanalyse und funktionaler Ansätze mehr oder weniger stark formalisiert in einem Grammatikmodell vereint, was seinen Grund auch darin haben mag, das strukturalistische Modelle häufig als Ausgangspunkt dienten und strukturfunktional erweitert wurden. Somit beschreibt auch der Funktionalismus sprachlichen Output, ohne nach entsprechenden Realitäten im Gehirn zu fragen. Durch die Berücksichtigung menschlicher Motivationen, die zu Sprechhandlungen 10 führen, wird aber bereits auf nicht sprachliche Fähigkeiten verwiesen, die die Grundlage für den kognitiven Ansatz [s.u.] bilden. Die generative Grammatik beginnt mit Noam Chomskys revolutionärem Versuch, grammatischen Strukturen Algorithmen zugrunde zu legen und diese auf Maschinen zu übertragen. Die maschinelle Problemlösung wird dann wieder auf die menschliche Kognition übertragen, womit sich ein großer Teil des linguistischen Augenmerks auf die Sprachkompetenz (innere Sicht) verschiebt. Entsprechend interessieren sich Generativisten weniger für sprachlichen Output, Statistiken oder Sprachkorpora, viele Argumente stützen sich auf die Erstsprachenerwerbsforschung. In erster Linie ist hier das Postulat der defizitären Erfahrung zu nennen, demzufolge der Spracherwerb nicht aus dem sprachlichen Input begründet werden könne 11 [vgl. Chomsky 1983, 68ff]. Es wird von erblich bedingten Spracherwerbsmechanismen ausgegangen, was generativen Grammatikern auch die Bezeichnung Nativisten eingebracht hat. Im Kontrast zum Strukturalismus, vor allem zu Skinners „Verbal Behavior“ [Skinner 1957] bezeichnet Chomsky sein Programm auch als mentalistisch. Obwohl diese Auffassung einer universalen Grammatik 12 oft als biologisch fundiert bezeichnet wird [Grewendorf 1995, 19], ist nach wie vor unklar, „wie ein Übersetzungstransfer zwischen Chomskys abstrakten Kategorien und den neurophysiologischen und biochemischen Kategorien einer biologischen Theorie hergestellt werden könnte“ [ebd., 93]. Vor allem aber sind bis heute von Seiten der (Neu- 10 Das Prinzip der Sprechhandlungen, bzw. Sprechakte, wird intensiv von Searle u.a. ausgearbeitet [vgl. Searle 1994b]. 11 Die Idee wird bereits bei Humboldt formuliert [Di Cesare 1998], ist aber bis heute umstritten. 12 Auch dieses Konzept hat bereits historische Wurzeln, wird aber bei Chomsky neu und mit biologischer Terminologie definiert [vgl. Fritz 2007, 16f]. <?page no="29"?> 1.3. Klärung zentraler Begriffe 27 ro)biologie weder ein Sprachorgan [Chomsky 1976, 36] noch ein Sprachgen 13 bestätigt worden. Auch die abgeschwächte Vorstellung Steven Pinkers von einem Sprachinstinkt [Pinker 1996, 17ff] bleibt bisher hypothetisch. Chomsky formuliert darüber hinaus in seiner erweiterten Standardtheorie das Konzept der Modularität, das sehr populär, aber ebenfalls umstritten ist. Die generative Grammatik ist also eine Grammatik des sprachlichen Wissens und somit kompetenzbasiert, geht jedoch von einem perfekten Hörer/ Sprecher aus, den es nicht gibt [Peng 2005, 24f]. Der Schwerpunkt der Theorie liegt eindeutig auf der formalisierten Struktur sprachlicher Gebilde. Chomsky selbst definiert Grammatik als „a system of rules that assigns sound and meaning in a definite way for an infinite class of possible sentences“ [Chomsky 2006, 91]. Für die Entstehung von Bedeutung bemüht er den Begriff der Oberflächenstruktur (surface structure), die aus der Tiefenstruktur (deep structure), also den grammatischen Relationen, hervorgehe und die noch nicht sehr gut untersucht sei [ebd., 97] 14 . Als ein teilweise erfolgreicher Versuch, Semantik und Grammatik in einem generativen Modell zu vereinen, kann das Modell von Jackendoff gelten [vgl. Jackendoff 2002]. Da Chomskys Grundannahmen auf mathematischen Theorien beruhten und deren Übertragbarkeit auf das Gehirn nur Vermutung war, mussten große Teile der Standardtheorie (1965-70) revidiert werden. Trotzdem kann die generative Grammatik als die einflussreichste Sprachtheorie des 20. Jahrhunderts gelten, deshalb sind ihre Spuren auch in den meisten Hirnforschungen bis heute zumindest implizit zu bemerken [vgl. 2.4.5.4.]. Maßgeblich bleibt sie darüber hinaus für die Künstliche-Intelligenz-Forschung und die Computerlinguistik. Sowohl generative als auch funktionale Sprachbetrachtungen fließen zusammen im kognitiven Ansatz. Mentale Strukturen stehen ebenfalls im Zentrum des Interesses, allerdings eher im Sinne allgemeiner Konzeptualisierungsprozesse. Die Annahme einer angeborenen Universalgrammatik wird abgelehnt, da man die Entstehung von Sprachkompetenz allein durch Sprachgebrauch erklärt. Wie im Funktionalismus liegt auch im Kognitivismus ein Schwerpunkt auf der Pragmatik des Sprachgebrauchs, allerdings wird die funktionalistische pragmatische Perspektive hier als Folie für dahinter liegende konzeptuelle Muster verstanden. Ein zentraler Unterschied zu allen bisher genannten Ansätzen besteht darin, dass Kognitivisten ganz entschieden eine relativistische Position einnehmen und damit das objektivistische Wissenschaftsparadigma ablehnen, ein entscheidender 13 Vor wenigen Jahren wurde zwar ein auf Chromosom 7 befindliches Gen (FoxP2) entdeckt, das als Sprachgen bezeichnet wird, das aber mitnichten die ontogenetische Entwicklung menschlicher Sprache hinreichend erklärt [vgl. Haesler et al. 2004]. 14 Es gibt jedoch auch Generativisten, die Semantik als tiefenstrukturellen Kern betrachten, auf dem die syntaktischen Regeln an der Oberfläche fußen [vgl. Peng 2005, 23]. <?page no="30"?> 1. Grundlagen 28 Punkt erkenntnistheoretischer und (sprach)philosophischer Entwicklung [vgl. Lakoff 1994, 157ff]. Als Meilensteine auf dem Weg zu kognitiven Grammatiktheorien können die Prototypensemantik von Eleanor Rosch [Rosch 1977] oder die kognitive Semantik von George Lakoff [Lakoff 1994, 269ff] gesehen werden, denn die Basis der kognitiven Grammatik bildet das Lexikon, und die lexikalischen Bedeutungen werden prototypensemantisch erfasst. Dabei sind konzeptuelle 15 und semantische Strukturen nicht identisch: Conceptual structure is the ongoing flow of cognition: any thought or concept, whether linguistic or nonlinguistic 16 . […] Semantic structures are conceptual structures established by linguistic convention - the form which thoughts must assume for purposes of ready linguistic symbolization. [Langacker 1991, 108f] Lexikon und Grammatik sind daher nicht zwei voneinander unabhängige Module, denn „[g]rammar ist simply the structuring and symbolization of semantic content.“ [Langacker 1987, 12] Grammatische Strukturen werden also als inhärent symbolisch, Lexikon und Grammatik als Pole eines Kontinuums begriffen. Folglich können auch grammatische Regeln nicht adäquat beschrieben werden, ohne die Semantik in Betracht zu ziehen. In diesem Zusammenhang sei auf Michael Tomasello verwiesen, der auch als Interaktionist bezeichnet wird und den kognitiven Ansatz durch phylo- und ontogenetische Argumente stärkt [vgl. 2.2.2.]. Auch er postuliert den Primaten der Bedeutung, Grammatik entstehe dementsprechend sekundär durch emergente Strukturen oder symbolische Artefakte, sozusagen als fossilierter Diskurs (evolutionstheoretische Sicht) [vgl. Tomasello 2002, 173ff]. Was den kognitiven Standpunkt für die Bewertung neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse attraktiv macht, ist die Tatsache, dass allgemeine, nicht sprachliche Konzeptualisierungen den Ausgangspunkt für die Betrachtung von Sprache bilden und auf diese Weise überzeugende Modelle geschaffen werden können. Das Verhältnis sprachlicher und allgemein kognitiver Fähigkeiten zueinander ist die entscheidende Frage. Ihre Beantwortung ist im Moment nur sehr allgemein möglich: „The difference between language and other mental processes is possibly one of degree but ist not one of kind” [Saeed 2004, 343]. Die Argumentation verschiebt sich im kognitiven Ansatz deutlich in Richtung Semantik, die nicht losgelöst von anderen sprachlichen Kompo- 15 Eine von vielen Definitionen des Terminus´ Konzept sei stellvertretend genannt: „non-linguistic multi-modal information, which includes imaginary, schemas, motor programs, and auditory, tactile and somatosensory representations, based on experiential world knowledge.” [Pavlenko 1999, 212]. 16 Die nicht sprachlichen Konzepte nennt Lakoff image schemas. Sie stellen eine Verbindung zwischen körperlicher Erfahrung und höheren kognitiven Domänen wie Sprache her, häufig über das Prinzip der Metaphorik [Lakoff 1994, 271ff]. <?page no="31"?> 1.3. Klärung zentraler Begriffe 29 nenten definiert wird: „Eigenes Wissen verbindet sich mit Umweltinformationen und ermöglicht so die Konstruktion von Bedeutung“ [Wolff 2000, 93f]. Konzeptuelle Kategorisierungen beeinflussen das Lexikon, Grammatikalisierung entsteht aufgrund von Erfahrungen des Menschen in und mit der Welt. So impliziert der kognitive Ansatz zumindest die Möglichkeit, Menschen und Sprachbenutzer (wieder) ganzheitlich, in ihrer Körperlichkeit, ihrem Bezug zur Welt und in ihrer Dynamik zu erfassen. Grammatik sei nichts anderes als „das Gedächtnis des Leibes“, heißt es bei Weinrich [Weinrich 1988, 86]. Diese zunächst ungewöhnliche Aussage findet durchaus Bestätigung in manchen naturwissenschaftlichen Untersuchungen [vgl. 2.4.3.]. Der wichtige Verweis darauf, dass Semantik (auch) auf übersprachlicher Ebene entsteht, führt aber zu der Konsequenz, dass diejenigen Hirnaktivitäten, die bei der Sprachrezeption beobachtet werden, nicht als rein sprachliche interpretiert werden können. „[L]anguage user´s knowledge about words obviously encompasses much more than what words look or sound like (their form) and what they mean“, heißt es bei de Groot [de Groot 2002, 46]. Außer morphologischen oder syntaktischen Eigenschaften können das neben dem Wissen über Grapheme, Prosodie, Erwerb oder Verwendung auch Gefühle, Erfahrungen und Assoziationen sein. In authentischen Kommunikationssituationen werden sehr wesentliche Informationen zum Beispiel sozialer oder emotionaler Art gerade nicht rein sprachlich, sondern über Gestik, Körpersprache, Stimme usw. übermittelt. Ein weiterer Vorteil des kognitiven Ansatzes besteht darin, dass auch der diachrone Charakter von Sprache betont wird. So können einerseits etymologische Entwicklungen in die Argumentation integriert werden, andererseits wird auf das kreative Potential von Sprache hingewiesen und Sprachwandel plausibel erläutert. Da beispielsweise abstrakte und komplexe Konstruktion auch über das Lexikon hinaus bedeutungstragend seien, regen sie zur Analogiebildung an und seien daher „powerful mechanisms for the creativity of language“ [Ellis, N. 2002, 168]. Von der Betrachtung ausgespart wurden bisher formale Sprachen und Ansätze, für die die Simulation von Sprache im Vordergrund steht. Man könnte hier kategorialgrammatische Ansätze nennen, die davon ausgehen, dass allen Ausdrücken einer Sprache eine syntaktische Kategorie zugrunde gelegt werden kann, dass Syntax und Semantik weitgehend parallel aufgebaut werden können und dass sich die Bedeutung eines Ausdrucks aus dem syntaktischen Aufbau und den Bedeutungen der Teile des Ausdrucks ergibt [vgl. Schlobinski 2003, 193ff]. Merkmale deklarativer Ansätze sind die strikte Formalisierung des Beschreibungsapparates, die Verwendung von Merkmalstrukturen zur Repräsentation sprachlicher Entitäten, sowie der Verzicht auf generative Ableitungsmechanismen [vgl. ebd., 213ff]. Auf diese Ansätze soll hier nicht näher eingegangen werden, da sie i) bereits vor- <?page no="32"?> 1. Grundlagen 30 gestellte Modelle lediglich umzusetzen versuchen und ii) bisher nicht in der Lage waren, den semantisch-pragmatischen Aufbau natürlicher Sprachen vollständig zu modellieren. So beeindruckend das auch wäre, würde es außerdem per se noch nicht beweisen, dass es im Gehirn genauso funktioniert. Das eben Gesagte trifft zwar auch auf den letzten hier zur Diskussion stehenden Ansatz, den Konnektionismus, zu, trotzdem unterscheidet sich dieser in einigen ganz wesentlichen Punkten von den bisher genannten. Er ist keine linguistische Theorie im engeren Sinne, sondern eine aus der Wechselwirkung von theoretischen Modellen und Netzwerksimulationen entstandene Forschungsrichtung innerhalb der Kognitionswissenschaften. Da konnektionistische Prinzipien sehr produktiv sind und von zahlreichen Erkenntnissen über die menschliche Wahrnehmung bestätigt werden, wirken konnektionistische Sprachverarbeitungsmodelle stark auf die linguistische Theoriebildung ein. Die wichtigsten Prinzipien sind Ähnlichkeit, Kontingenz und Frequenz des Auftretens [Barkowski 2005, 13]. Das entscheidende Axiom ist dabei, dass Sprache ausschließlich subsymbolisch verarbeitet wird. Grundsätzlich korrelieren konnektionistische Netzwerke mit neurobiologischen Befunden über Aufbau und Funktionsweise des Gehirns. Grundsätzlich deshalb, weil auch hier Lernmechanismen durch Verbindungen und deren Gewichtungen in einem Netz repräsentiert werden, wobei sich diese Gewichtungen abhängig von Art und Häufigkeit des Inputs verändern [vgl. Pospeschill 2004, 86ff]. Die Art, wie das geschieht, ist allerdings anders, denn während neuronale Netzwerke auf organischen, also biochemisch-elektrischen Prozessen beruhen, werden konnektionistische Netzwerke i.d.R. von Computern, also digitalen, symbolverarbeitenden Rechenmaschinen simuliert. Wenn man konsequent von subsymbolischer Informationsverarbeitung ausgeht, werden Komponenten oder gar Module wie Semantik und Grammatik obsolet. Sprachverarbeitung in neuronalen Netzwerken bedeutet demzufolge reine Mustererkennung - vom Input abhängige, auf unterschiedliche Weise und in bestimmter Reihenfolge aktivierte neuronale Erregungszustände 17 . Die Information selbst ist dem Muster inhärent, höhere kognitive Fähigkeiten emergieren aus den darunter liegenden Aktivitäten aufgrund der unvorstellbaren Komplexität des Netzwerkes. Gerade diese Komplexität neuronaler Netzwerke [vgl. 1.3.5.] machte ein Nachahmen durch konnektionistische Netzwerke bisher unmöglich; es konnten aber auf einzelne grammatische Phänomene begrenzte Lernprozesse simuliert werden: 17 Mustererkennung ist in diesem Zusammenhang ein häufig gebrauchter, aber irreführender Terminus, denn es wird keine Instanz postuliert, die das Muster erkennt. <?page no="33"?> 1.3. Klärung zentraler Begriffe 31 Simple connectionist networks can manage impressive displays of memory and generalization in circumscribed problems like reading a list of words […]. But they are simply too underpowered to duplicate more realistic features of human intelligence like understanding a sentence […]. [Pinker 2002, 79f] Neben der beschränkten Leistungsfähigkeit weist Pinker in dieser Kritik auf ein weiteres Problem für die Übertragbarkeit konnektionistischer Netzwerke hin: Selbst wenn manche Modelle 18 Erstaunliches in der Spracherkennung leisten, erklärt das unter Umständen sehr wenig. Spracherkennung ist nicht das Gleiche wie Sprachverstehen 19 . Sogar im Schlaf wird Input wahrgenommen und verarbeitet, jedoch auf ganz andere Weise als im Wachzustand. Möglicherweise spielt hier das Bewusstsein eine zentrale Rolle. Doch selbst wenn konnektionistische Netzwerke eines Tages komplexe Sprachverarbeitung und -verständnis simulieren könnten, würde sich die Frage stellen, welche Erkenntnisse sie über selbige zu erbringen in der Lage sind. Man stünde vor dem gleichen Problem der Interpretierbarkeit der Prozesse wie bei der Untersuchung des Gehirns. Deshalb ist das Modellieren mit komplexeren Phänomenen, seien es Regeln, Konzepte oder andere symbolische Einheiten, notwendig. Ein Modell, das eine Brücke zwischen subsymbolischer Verarbeitung und einer komplexen kognitiven Architektur zu schlagen versucht, ist das ACT-R-Modell von John R. Anderson [vgl. Anderson et al. 2004]. Ein anderes prominentes Modell, das Competition Model von Brian MacWhinney, kombiniert lexikalische Bedeutung und Inputwahrscheinlichkeiten, um Satzverständnis zu modellieren [vgl. MacWhinney 1997]. Auf der Suche nach weiteren Vorstellungen über Semantik und Grammatik im Konnektionismus, die über die rein subsymbolische und hier als wenig Erklärungspotential besitzende kritisierte Sichtweise hinausgehen, stößt man bei Ellis auf das dynamische Konzept der Grammatikalisierung, die den Prozess vom Erwerb sublexikalischer Komponenten über Wörter und Chunks 20 hin zu Formulae (auch Holophrasen, Register oder lexical patterns) bezeichnet [Ellis, N. 2002, 155f, 172]. Dabei spielen auch assoziative Mustererkennung und Frequenzeffekte, sowie Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis und implizites/ explizites Lernen eine entscheidende Rolle [vgl. 2.3.]. 18 vgl. für einen Überblick zur Taxonomie konnektionistischer Modelle Pospeschill 2004, 98ff 19 Es sei hier auch auf die sehr scharfsinnige Metapher des „Chinesischen Zimmers“ von Searle hingewiesen, die dieses grundsätzliche Problem sowohl symbolverarbeitender als auch subsymbolischer Simulationen anschaulich erläutert [Searle 1994a, 148f]. 20 das Verschmelzen kleinerer, morphosyntaktisch nicht analysierter sprachlicher Komponenten zu größeren Äußerungen, die als Ganzes gespeichert werden [Ellis, N. 2005, 75ff]. Für eine ausführliche Darstellung von Chunks und Chunking vgl. Ellis, N. 2006. <?page no="34"?> 1. Grundlagen 32 1.3.6.4. Fazit Es ist deutlich geworden, dass die meisten Semantik- und Grammatiktheorien auf der Dichotomie von Sprache und Sprechen (bzw. Hören), also von Hintergrundzusammenhängen und -operationen sowie deren Realisierungen fußen. Auch performanzorientierte funktionale Ansätze überwinden diese Dichotomie nur bedingt. Der Fokus wird dabei in der Regel auf die Sprache gerichtet, wobei diese auf Basis der gesprochenen (oder geschriebenen) Sprache abstrahiert wird. Es haben sich zahlreiche hypothetische Perspektiven auf Sprache entwickelt. Dabei können die Gewichtungen ganz unterschiedlich gesetzt werden. So interessiert Strukturalisten in erster Linie Sprache als Zeichensystem, Generativisten das Sprachwissen, Logiker und Computerlinguisten die formal-logischen Zusammenhänge usw. Die dabei entstehenden hierarchischen Beschreibungsmodelle sind aus neurolinguistischer Sicht aber nur interessant, wenn sie den neurologischen und -psychologischen Realitäten entsprechen. Barkowski bemerkt hierzu: „Sofern Hierarchie überhaupt eine Rolle spielt, so ist es das Konzept als Ganzes bzw. der Gesamtsinn einer Äußerung“ [Barkowski 2002, 160]. Generell ist in neueren Theorien ein Trend dahingehend zu beobachten, dass früher rein grammatisch betrachtete Phänomene stärker unter Einbezug lexikalisch-semantischer Sichtweise diskutiert werden [vgl. Ellis, N. 2002, 157]. Es ging nicht um die Bewertung der Ansätze an sich, jeder hat seine Vor- und Nachteile und Domänen mit großem und geringerem Erklärungspotential, vielmehr sollte deren Anwendung auf die sprachbezogene Hirnforschung thematisiert werden. Bei der Theoriebildung ergibt sich das grundsätzliche Problem, dass Hypothesen über die (neuronalen) Hintergrundoperationen, mit denen konkrete sprachliche Realisierungen bzw. deren Verständnis erklärt werden sollen, auf eben diesen Realisierungen basieren, es dabei aber nicht schaffen, natürliche Sprachen umfassend zu beschreiben. Es wäre eine Theorie nötig, die ohne Abstraktion auskommt. Dass dies bisher nicht möglich war oder aber ein System schaffen würde, das aufgrund seiner Komplexität und Kompliziertheit nicht handhabbar wäre, zeigen zweitausend Jahre intensiver Bemühungen. Doch stehen nun erste Untersuchungsmethoden zur Verfügung, die das Beobachten eben jener Hintergrundoperationen im Prinzip möglich machen. Daher wäre ein denkbarer und prinzipiell richtiger Ansatz, das Gehirn während der Sprachverarbeitung unvoreingenommen zu beobachten und daraus zu schlussfolgern, wo und auf welche Weise semantische und grammatikalische Prozesse ablaufen. Die Schwierigkeit dabei ist, dass man nicht wissen kann, mit welchem sprachlichen Input man diese Prozesse evozieren soll, wenn man nicht schon eine Vorstellung über Semantik und Grammatik hat und deshalb die beobachteten Aktivitäten nicht interpretieren kann. Dieses Dilemma ist nicht zu lösen. Deshalb bleibt nur die Möglichkeit, schon bestehende Theo- <?page no="35"?> 1.3. Klärung zentraler Begriffe 33 rien anzuwenden und anhand der Ergebnisse kritisch zu hinterfragen, inwiefern diese die Theorien bestätigen. Dazu ist es zuallererst notwendig, dass die Grundannahmen der jeweiligen Forscher explizit gemacht werden, eine Forderung, auf die später noch einmal eingegangen wird [2.4.5.4.]. Die auf diese Weise erreichten Ergebnisse machen freilich die große Hoffnung, aufgrund reiner Beobachtung verstehen zu können, wo und wie semantische und grammatikalische Prozesse ablaufen, zunichte. Es wären nur Aussagen nach folgendem Muster möglich: Unter Annahme von Sprachbeschreibungsmodell X ließen sich folgende Beobachtungen in Bezug auf die Existenz und die Beschaffenheit semantischer und grammatikalischer Verarbeitungsprozesse machen… Dass diese Herangehensweise auf dem Stand der derzeitigen Forschung die einzig sinnvolle ist, sei an dieser Stelle behauptet, da nur so wissenschaftlich akzeptable Ergebnisse erwartet werden können und der Kreis der möglichen Sprachbeschreibungen, die auch Beschreibungen der Hintergrundoperationen sein wollen, eingegrenzt und modifiziert werden kann. Die Darstellung verlief sehr schemenhaft, natürlich gibt es mehr Verbindungen und Amalgamierungen der verschiedenen Ansätze, die nicht ausreichend gewürdigt wurden. Doch schon anhand der auf ihren Kern verkürzten Grundannahmen lassen sich Konsequenzen über die kortikale Verarbeitung ableiten. Formale deskriptive Sprachbeschreibungen müssen sich der Kritik aussetzen, dass, zumindest was Semantik betrifft, eine Metasprache das Grundproblem, nämlich die Suche nach der Verankerung, dem Kern der Bedeutung, eventuell nur dupliziert. Wenn Sprache als Objekt behandelt wird, ist es sehr schwierig, die Entstehung von Bedeutung als etwas Internes adäquat zu beschreiben, hierzu ist die Hinzunahme interner Größen wie Gedächtnis und Bewusstsein nötig. Deshalb werden Semantik und Grammatik in formalen Beschreibungen, trotz zum Teil stark variierender Gewichtungen, auf grundsätzlich gleiche Weise dargestellt und erklärt, nämlich mit hierarchisch organisierten Schemata. Demzufolge müsste auch die Verarbeitung im Gehirn ähnlich verlaufen. Ebenso hat die Verschmelzung bzw. Parallelität semantischer und grammatischer Kategorien zur Folge, dass von ähnlicher kortikaler Verarbeitung ausgegangen werden muss. Es wird sich jedoch zeigen, dass viele Ergebnisse der Hirnforschung auf Verarbeitungsunterschiede hindeuten, wobei grammatikalische Verarbeitung häufig mit syntaktischen und semantische mit lexikalischen Aspekten gleich gesetzt werden. Dass lexikalische Aspekte mehr mit Semantik zu tun haben als syntaktische (im Sinne von zum Beispiel Fragen der Kongruenz oder der Wortstellung), mag intuitiv einleuchten, es darf dann aber nicht vergessen werden, dass einige der hier diskutierten Fragen zu Bedeutung und Referenz gegebenenfalls außer acht gelassen werden. <?page no="36"?> 1. Grundlagen 34 Die kognitiv-konstruktivistische und die konnektionistische Sicht scheinen besser geeignet für die neurolinguistische Forschung, da sie von vornherein nach der Funktionsweise des Gehirns fragen. Im kognitiven Ansatz geschieht das auf höherer Ebene, es wird mit Symbolen und Konzepten operiert, dem Konnektionismus liegt die Arbeitsweise einzelner Neuronen zugrunde. Sie entsprechen damit in gewisser Weise den unter 1.1. als obere und untere bezeichnete Ebenen. Obwohl Sprachtheorien in den letzten Jahrzehnten generell offener und flexibler geworden sind und sich Modelle an die unüberschaubare Datenmenge anzupassen suchen [Lewandowsky 2006], heißt es bei Abutalebi et al.: „[C]urrently no model accounts transparently for the full range of behavioural data“ [Abutalebi et al. 2007, 246]. Der Prozess der Theoriebildung ist in den letzten Jahren aufgrund der Herausforderungen durch die Hirnforschung besonders dynamisch geworden, und es bleibt zu hoffen, dass die sich in besonderem Maße anbietende Möglichkeit der empirischen Kontrolle zu einem wechselseitigen Austausch führen, denn „eine adäquate Sprachtheorie kann sich nur in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis von wissenschaftlicher Idealisierung und schonungsloser empirischer Kontrolle der vorgenommenen Idealisierungen entwickeln“ [Dittmar et al. 1980, XV]. Wenn trotz aller hier angestellten Erörterungen in den folgenden Kapiteln von Semantik und Grammatik gesprochen wird, ohne die Begriffe zu spezifizieren, wird auf jenes „Bauchverständnis“ referiert, das oben erläutert wurde - Semantik als das Gebiet, dass nach der Entstehung von Bedeutung durch Sprache fragt und Grammatik als jenes, das Formbildung und strukturelle Zusammenhänge erklärt [1.3.6.1.]. Denn diese Unterscheidung ist allzu plausibel, zumindest aus sprachbeschreibender, äußerer Sicht, und sie ist zudem allgegenwärtig. Nicht zuletzt existiert sie auch in den Köpfen von Fremdsprachenlehrern und -lernern und muss daher entsprechend berücksichtigt werden [vgl. Kap. 3]. Bei der Suche nach mit semantischen und grammatikalischen Kategorien korrelierenden Vorgängen im Gehirn während der Sprachverarbeitung sollte dahingegen sehr sorgfältig geprüft werden, welche Vorstellungen über diese internen Prozesse den Untersuchungen zugrunde liegen. Deshalb war die Diskussion einflussreicher Konzepte an dieser Stelle notwendig und soll in die Vorstellung der Studien aus der Hirnforschung unter 2.4. einfließen. <?page no="37"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern in der kortikalen Repräsentation semantischer und grammatikalischer Verarbeitungsprozesse Im ersten Kapitel wurden alle Schlagwörter des Titels dieser Arbeit definiert und diskutiert. Dabei fiel die Behandlung der Begriffe Semantik und Grammatik besonders lang aus. War die Betrachtung bisher auf die Erstsprache beschränkt, kann die Hinzunahme der fremdsprachlichen Perspektive möglicherweise nützliche Hinweise auf die Beschaffenheit semantischer und grammatikalischer Verarbeitung erbringen. Die folgenden Erörterungen über L1- und L2-Erwerb stellen beide Erwerbsformen kontrastiv gegenüber. Die dabei auftretenden signifikanten Unterschiede können helfen zu verstehen, warum sich Sprachverarbeitung zwischen L1- und zumindest beginnenden L2-Lernern unterscheiden muss. Auf einen der relevantesten Aspekte, implizites und explizites Lernen, wird unter 2.3. gesondert eingegangen. Anschließend erfolgt die Diskussion ausgewählter Studien zu semantischer und/ oder grammatikalischer Verarbeitung in Erst- und Fremdsprache. Die bis dahin angestellten Überlegungen sollen helfen, die Ergebnisse nicht einfach zu zitieren, sondern einerseits deren Erhebung kritisch zu hinterfragen und sie andererseits auf Aussagekraft über die neurologischen Befunde hinaus zu überprüfen. 2.1. Bedingungen des L1-Erwerbs und Konsequenzen für die Sprachverarbeitung 2.1.1. Biologische und kognitive Voraussetzungen Kein Mensch wird mit der Fähigkeit zu Sprachproduktion und -rezeption geboren, doch als soziales Wesen ist er imstande, diese in den ersten Jahren seines Lebens zu erwerben. Die Frage, welche Grundvoraussetzungen zum Spracherwerb nötig und daher erblich bedingt sind, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Nativisten gehen von genetisch bedingten Spracherwerbsmechanismen aus, wie sie in den Begriffen Universalgrammatik, Sprachorgan oder Sprachinstinkt beschrieben werden [vgl. 1.3.6.3.], wobei ein überzeugender Beweis für die Existenz eines Sprachorgans noch nicht erbracht werden konnte. Trotzdem steht natürlich außer Frage, dass Menschenkinder in vielerlei Hinsicht auf den Erwerb einer natürlichen Sprache biologisch vorbereitet sind, nämlich durch grundlegende kognitive, sozio- <?page no="38"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 36 kognitive und stimmlich-auditive Fertigkeiten. Denn „[s]oziale und kulturelle Prozesse während der Ontogenese erzeugen keine kognitiven Grundfähigkeiten. Stattdessen verwandeln sie diese Grundfähigkeiten in äußerst komplexe und verfeinerte kognitive Fertigkeiten“ [Tomasello 2002, 239], darunter auch die Sprachbeherrschung. Bevor jedoch das Zusammenspiel dieser kognitiven Grundfähigkeiten mit der Umwelt etwas genauer betrachtet wird, soll ein Blick auf die biologische Reifung des Gehirns geworfen werden, das eben diese Grundfähigkeiten ermöglichen muss. Das Gehirn ist ein äußerst plastisches Organ, dessen Plastizität allerdings im Laufe des Lebens abnimmt. Zum Zeitpunkt der Geburt sind alle anatomisch-funktionalen Areale bereits angelegt. Es werden nur noch verhältnismäßig wenige neue Neuronen im Vergleich zum fetalen Stadium gebildet [Hanser et al. 2000/ II, 420f]. Selbst die Hemisphärenspezialisierung scheint bereits latent pränatal angelegt zu sein [Bryden et al. 1986] 1 . Eine entscheidende qualitative Veränderung innerhalb der ersten Lebensjahre ist jedoch die zunehmend dichte und unvorstellbar komplexe Vernetzung der anfangs weitgehend unverbundenen Neuronen (ca. 100 Milliarden) untereinander. Das geschieht, vereinfacht gesagt, durch Dendriten- und Synapsenbildung, begleitet von Myelinisierungsprozessen 2 . Nicht genutzte Schaltungen können jedoch von der frühen Kindheit an bereits wieder verkümmern [Götze 1997, 11]. Die Synapsendichte variiert in den unterschiedlichen Hirnarealen. Die Vernetzungsprozesse sind die Hauptursache für die enorme Gewichtszunahme des Gehirns um etwa ein Zwanzigfaches bis zur Adoleszenz [Peng 2005, 119]. Daneben findet auch eine quantitative Zunahme des Gehirnvolumens (vor allem des Neokortex) statt, bis zur Adoleszenz vervierfacht sich dieses [Roth 2002, I]. Die pränatal schon festgelegte Struktur erstreckt sich also vom Hirnstamm bis zum basalen Vorderhirn, die postnatal sich noch entwickelnde Struktur betrifft in erster Linie den Neokortex. Der Stimmapparat bildet sich erst innerhalb des ersten halben Lebensjahres soweit aus, dass alle für menschliches Sprechen relevanten Laute gebildet werden können. Noch bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres verändert er sich qualitativ, eine nur beim Menschen beobachtete Besonderheit [Peng 2005, 116ff]. Interessanterweise scheint die Reihenfolge der ersten produzierten Laute von Kleinkindern universalen Charakter zu haben: „Die systematische Abfolge präverbaler Vokalisationsstadien wird auf einen angeborenen Reifungsplan zurückgeführt, der in seiner Abfolge 1 Eine sprachbezogene Spezialisierung der linken Hemisphäre, wie sie bei Erwachsenen zu beobachten ist, entdecken Holowka et al. jedoch erst bei 5bis 12-monatigen Babys in der vorsprachlichen Phase [Holowka et al. 2002, 1515], Mills et al. sogar erst im 20. Monat [Mills et al. 1997]. 2 Für eine Erläuterung dieser Termini s. Hanser et al. 2000. <?page no="39"?> 2.1. Bedingungen des L1-Erwerbs und Konsequenzen für die Sprachverarbeitung 37 im Wesentlichen nicht durch Art und Umfang der Umweltstimulation beeinflusst wird.“ [Papoušek 1994, 73] Die auditiven Fähigkeiten (die zentrale Hörverarbeitung mit eingeschlossen) erreichen zwar erst im zehnten Lebensjahr ihre größte Funktionsfähigkeit, zeichnen sich aber von Geburt an durch hohes Diskriminationsvermögen und sehr exakte Wahrnehmung von Laufzeitunterschieden aus, die für menschliche Sprache besonders spezialisiert zu sein scheinen [Butzkamm et al. 2004, 43ff, Figge 2000, 511ff]. Die anfangs universale Lautunterscheidung weicht innerhalb des ersten Lebensjahres einer Spezialisierung der Erstsprache(n) gegenüber, die mit verminderter Diskriminationsfähigkeit für fremdsprachliche Laute einhergeht [ebd.]. Diese Tatsache sowie (auf den ersten Blick nachteilige) geringe Gedächtniskapazitäten bzw. noch nicht ausgebildete Gedächtnisformen [vgl. 2.2.] ermöglichen es Kindern, ihre Erstsprache(n) perfekt 3 zu erwerben. Die genannten Phänomene und Prozesse gehören zum biologischen Reifungsplan des Menschen und sind daher genetisch angelegt. Darüber hinaus sind sie, von den Spezifika des Stimmapparates abgesehen, im Wesentlichen identisch mit denen anderer Primaten. In welcher spezifischen Weise sich die Neuronen miteinander verbinden, hängt hingegen von den Erfahrungen in der Ontogenese ab. Hier kommen individuelle, sprachspezifische und kulturelle Unterschiede ins Spiel. Dabei ist die Neuronenvernetzung in solch starkem Ausmaß ein nur für die Kindheit und Jugend charakteristischer Prozess. Es ist von fundamentaler Bedeutung für die Betrachtung möglicher Unterschiede zwischen L1 und L2, dass all diese biologischen Wachstums- und Reifungsprozesse, mit denen auch die Erweiterung kognitiver Fähigkeiten einhergeht, im Wesentlichen nur den Erstsprachenerwerb begleiten. Im Gegensatz dazu findet der L2-Erwerb unter ganz anderen Voraussetzungen und Umständen statt [vgl. 2.2.]. 2.1.2. Art und Weise des L1-Erwerbs In der Zeit zwischen 9 und 12 Monaten äußern die meisten Kleinkinder ihre ersten identifizierbaren Wörter. Doch schon Monate vorher erreichen ihre Lern- und Denkfähigkeiten eine differenzierte Ebene, die es ihnen erlaubt, ihre frühen, überwiegend sensomotorischen Erfahrungen mit der Umwelt zu integrieren. Die vorsprachlichen Integrationsprozesse schließen basale, nicht bewusste Formen von Konzeptbildung, Abstraktion und Symbolisation ein, die unabhängig von sprachlicher Kodierung ablaufen und die als Grundlage der lexikalischen Entwicklung betrachtet werden 3 Mit perfekt sind die durchschnittliche L1-Performanz erwachsener Sprecher, keine 100%ige Fehlervermeidung, sowie Akzentfreiheit und dem ontogenetischen Entwicklungsstand entsprechendes Sprachverständnis gemeint. <?page no="40"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 38 können [Papoušek 1994, 29f]. Selbst das so genannte Silbenplappern [ebd., 86] oder Lallen [Figge 2000, 517], das bisweilen als bloßes motorisches Training unterschätzt wird, spiegelt die frühe Sensitvität sprachlichem Input gegenüber und erste Produktionsversuche wider [Holowka et al. 2002, 1515]. Als revolutionären Schritt in der Ontogenese bezeichnet Tomasello die Neunmonatsrevolution, sowohl in kognitiver als auch in kultur-evolutionärer Hinsicht [Tomasello 2002, 83ff]. Beide Aspekte sind relevant für die Sprachentwicklung und bauen aufeinander auf. Unter kultureller Evolution versteht Tomasello jegliche Weitergabe an Nachkommen, die nicht genetisch kodiert ist, sondern durch Unterweisung bzw. bloßes Nachahmen der Eltern oder anderer Gruppenmitglieder erlernt wird [ebd., 25ff]. Doch nur beim homo sapiens erreiche die kulturelle Weitergabe eine solche Intensität und Bedeutsamkeit, dass diese ihm die entscheidenden Vorteile zur Bevölkerung des gesamten Erdballs, zur Herausbildung komplexer Gesellschaften und eben auch zur Entwicklung ausdifferenzierter Sprachen ermöglichte 4 . Doch diese intensive kulturelle Evolution ist nur möglich durch die vielleicht einzigartige Fähigkeit des Menschen, andere Menschen als ihm ähnliche intentionale Wesen zu begreifen und damit vom dyadischen zum triadischen Agieren überzugehen. Dieser entscheidende Schritt in der kognitiven Wahrnehmung geschieht etwa im Alter von neun Monaten 5 . Ab dem 13. Monat können Eltern oder andere Menschen auch die Aufmerksamkeit des Kleinkindes lenken. Damit tritt neben die Möglichkeiten zum Imitationslernen und zum Lernen durch Zusammenarbeit, über die auch viele Tiere verfügen, die Möglichkeit zu aktivem Unterricht. Von nun an entwickeln sich die rezeptiven und produktiven Fertigkeiten des Kindes explosionsartig. Vom Zeitpunkt der ersten Ein-Wort-Äußerungen kleiner Kinder lässt sich der Spracherwerb nach Tomasello, zumindest was die produktive Seite angeht, in folgenden groben Schritten beschreiben: von Holophrasen über Verbinselkonstruktionen zu abstrakten Konstruktionen. Eine Holophrase ist „ein sprachlicher Ausdruck, der aus einer Einheit besteht und als vollständiger Sprechakt intendiert wird (zum Beispiel `mehr´ in der Bedeutung von `Ich möchte mehr Saft´).“ [Tomasello, 2002, 177] Das Interessante an dieser Beobachtung ist, dass ein einzelnes Wort die Bedeutung eines gan- 4 Diese kumulative, generationenübergreifende Weitergabe von Wissen nennt Tomasello den „Wagenhebereffekt“ [Tomasello 2002, 16]. Er sieht darin auch die einzige Erklärung für die unverhältnismäßig schnelle Entwicklung des homo sapiens [ebd., 12ff]. Diese These ist umstritten. 5 Papoušek setzt den Zeitpunkt schon im 6. Monat an, mit der Einschränkung, dass das Kind erst mit 12 Monaten Kopf und Augen seines Gegenübers folgen könne [Papoušek 1994, 126f]. <?page no="41"?> 2.1. Bedingungen des L1-Erwerbs und Konsequenzen für die Sprachverarbeitung 39 zen Satzes haben kann 6 . Damit verwischen die unter 1.3.6.2. vorgestellten Grenzen zwischen Wort- und Satzbedeutung. Das stützt die These, dass Bedeutung zumindest konkreter Erfahrungen sprachunabhängig ist und für die Formulierung, die intersubjektive Erfahrbarkeit, lediglich eine konventionalisierte sprachliche Kodierung gelernt wird. Auch ein Erwachsener kann seinen Wunsch nach mehr Saft nach wie vor nur durch das Wort „mehr“ (oder auch nur gestisch) äußern und tut das gelegentlich auch, abhängig vom Kontext. Ähnliches lässt sich über die Verbinselkonstruktionen sagen, womit Wortkombinationen nach dem Schema Verb + Mitspieler gemeint sind [ebd., 178f]. Dabei machen Kinder viele ungrammatikalische Äußerungen. Außerdem erwerben sie die Fähigkeit, diese Konstruktionen zu bilden, offensichtlich nicht (nur) durch das Erkennen eines zugrunde liegenden Schemas, sondern durch konkretes Lernen. Anstatt beispielsweise das Prinzip transitiver Äußerungen anzuwenden, werden manche (lebensweltlich relevanten) Verben in verschiedenen Kombinationen angewendet, andere nur in einer, wieder andere noch gar nicht in einer Verbinselkonstruktion. Daneben müssen aber auch gewisse abstrakte Schematisierungsprozesse angenommen werden, sonst ließe sich der Transfer des sprachlichen Musters auf neue Lexik, also Generalisieren (häufig Übergeneralisieren) nicht erklären. Es muss sich also in diesem Stadium des Erstsprachenerwerbs um gemischtes Lernen handeln, das aber, vor allem zu Beginn, weitgehend konkret ist. Abstrakte Konstruktionen zeichnen sich gegenüber den konkreten vor allem dadurch aus, dass „die Konstruktion als abstrakte Struktur selbst zu einem Symbol wird, das zu einem bestimmten Grad bedeutungstragend ist, und zwar unabhängig von den beteiligten Wörtern“ [ebd., 182]. Möglicherweise beginnt der Erwerb von Grammatik als ordnendes und strukturierendes Moment in der Sprache erst an diesem Punkt, bleibt dabei aber graduell immer bedeutungstragend, denn „auch die Erwachsenensprache [ist] nicht völlig abstrakt“ [ebd.] 7 . Tomasellos Vorstellung vom Erstsprachenerwerb zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Kinder mit Sprachkonstruktionen beginnen, die auf sprachlichen Einzelheiten beruhen und nur allmählich abstraktere Konstruktionen bilden, die dann zu symbolischen Gebilden werden können, welche eine zusätzliche Ebene sprachlicher Kompetenz ausmachen. 6 Diese Entdeckung ist keinesfalls neu. Stern et al. wiesen bereits 1928 darauf hin, dass sich die frühen Wörter nicht bestimmten Wortklassen zuordnen lassen sondern die Funktion ganzer Sätze haben [Stern et al. 1928]. 7 Zur Untersuchung des Grades der Abstraktheit in der Erwachsenensprache (L1) vgl. McCrae et al. 1997. <?page no="42"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 40 Bates et al. stellen die qualitativen Unterschiede zwischen lexikalischen und grammatikalischen Verarbeitungsprozessen im L1-Erwerb betreffend wie folgt dar: Although grammatical development invariably follows a stage in which single words are acquired, […] apart from this temporal lag, there is no dissociation between grammar and lexical development in normal children. [Bates et al. 1997, 526] Ellis stimmt dieser Auffassung im Großen und Ganzen zu, nennt die frühen, kindlichen Konstruktionen Chunks und interpretiert die Daten in Bezug auf Grammatik noch drastischer, indem er sagt: „[T]here is no evidence for abstract grammatical patterns in the 2to 3-year-old child’s speech“ [Ellis, N. 2002, 169]. Was die anfänglich produktiveren Wortinseln angeht, sieht er die wichtigste Ursache in der Frequenz, also der Häufigkeit des Auftretens im Input, ein starkes Argument für konnektionistische Modelle und ein wichtiger Hinweis für die Hypothesenbildung über Sprachrezeption kleiner Kinder: [T]he children are picking up frequent patterns from what they hear around them and only slowly making more abstract generalizations as the database of related utterances grows. [ebd.] Was aus interaktionistischer Sicht selbstverständlich ist aber häufig zu wenig Beachtung findet, sind die zum Teil gravierenden individuellen Unterschiede im L1-Erwerb. An den produktiven Äußerungen, vor allem im Laufe des zweiten Lebensjahres, lassen sich zwei grundsätzliche Stile festmachen, die ihren Niederschlag in ihrer extremen Ausprägung in den beiden Bezeichnungen „Wortbabies“ und „Intonationsbabies“ [Dore 1975, 23f] finden. Erstere entwickeln einen referentiellen Stil mit mehr objektbezogenem Vokabular und strengerem phonologischen System, letztere einen expressiven Stil mit persönlich-sozial ausgerichtetem Vokabular [Papoušek 1994, 168f]. Die Vermischung beider Stile ist natürlich der Regelfall. Als Ursachen für die unterschiedlichen Stile werden eine Reihe von Faktoren diskutiert, allen voran Unterschiede im Lernstil und im kognitiven Stil des Kindes (analytisch vs. holistisch [vgl. Bretherton et al. 1983]), die mit unterschiedlichen Reifungsraten in der Hemisphärenvernetzung in Verbindung gebracht werden 8 . Darüber hinaus können die Vorliebe für eine Sprachmodalität (Rezeption vs. Produktion [vgl. Bates et al. 1987]), Unterschiede im mütterlichen Stil (objektorientiert vs. aktionsorientiert [vgl. Della Corte et al. 1983]) oder der gesamten sprachlichen Umwelt eine Rolle spielen. Anhand dieser deutlichen Variabilität im Erstsprachenerwerb stellen sich die Fragen i), wie sich diese in der kortikalen Architektur und Verarbeitungsweise niederschlägt und ii), wie aussagekräftig Untersuchungen 8 Bates et al. sehen hingegen eine starke Abhängigkeit zwischen Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses und unterschiedlichen Lernstilen [Bates et al. 1997, 532]. <?page no="43"?> 2.1. Bedingungen des L1-Erwerbs und Konsequenzen für die Sprachverarbeitung 41 sein können, denen nur sehr wenige Probanden zur Verfügung stehen. Auf diese Fragen wird im Abschnitt 2.4. detaillierter eingegangen. Gerade im Hinblick auf die Experimentsituation ist auch der Hinweis von Dewaele auf die intraindividuellen Schwankungen in der Sprachbeherrschung innerhalb von L1- Sprechern, die abhängig von Alter, Situation, Zuhörerschaft u.v.m. seien, wichtig [Dewaele 2002, 221]. Noch einmal auf die vorsprachliche Phase vor dem neunten Monat zurück kommend soll auf die eben schon angesprochene und ganz entscheidende Besonderheit des Erstsprachenerwerbs, die Eltern-Kind- Kommunikation und deren Konsequenzen hingewiesen werden. Papoušek deckte in ihren Verhaltensmikroanalysen der frühen Eltern-Kind-Interaktionen zahlreiche Änderungen im elterlichen Kommunikationsverhalten, die unbewusst gesteuert werden und sich perfekt den rasch wechselnden Erfordernissen der vorsprachlichen Kommunikation anpassen, auf [Papoušek 1994, 31ff]. Dieses Kommunikationsverhalten wird auch motherese genannt [List 2002, 125]. Außer der Tatsache, dass sich die Sprechweise der Eltern, also neben Thema, Wortwahl und Satzlänge vor allem Tempo, Intonation, Stimmhöhe und Melodik, wie von selbst an die unterschiedlichen Entwicklungsphasen (Vorsilbenalter, Protowörteralter, Wortalter) anpasst, scheint der Prosodie eine besonders wichtige Rolle zuzukommen. In der vorsprachlichen Phase habe die Melodik in der Elternsprache noch eine eigene semantische Funktion, während sie in der Erwachsenensprache lediglich semantisch-syntaktisch unterstützend wirke [Papoušek 1994, 128ff]. Diese Behauptung wird gestützt durch die Untersuchung von Fernald et al. [Fernald et al. 1989], die trotz erheblicher Unterschiede im Gesamtverhalten von Erwachsenen Kindern gegenüber in verschiedenen Kulturen überraschend universale Prosodie im Vorsilbenalter entdeckt haben. Auch deshalb vermutet Papoušek, dass das Verhalten Erwachsener, insbesondere Eltern Kleinkindern gegenüber, genetisch prädispositioniert sei [Papoušek 1994, 135]. Dieses Verhalten verschwindet natürlich nicht plötzlich, sobald das Kind sein erstes Wort ausspricht. Vielmehr wird es nach und nach durch ein neues Verhalten, dass für einige Jahre enorm an Bedeutung gewinnt, abgelöst - das Korrekturverhalten. L1-Lerner werden i.d.R. regelmäßig und nachdrücklich korrigiert, wenn sie semantisch, grammatikalisch oder pragmatisch falsche bzw. unpassende Konstruktionen bilden. Dass das für L2-Lerner nur eingeschränkt und unter anderen Bedingungen gilt, wird sich in Abschnitt 2.2. zeigen. Es gibt Untersuchungen mit elektrophysiologischen Verfahren, an denen die pragmatische kognitiv-konstruktivistische Argumentation, wie sie Tomasello vorschlägt, gemessen werden kann. Friederici stellt ein sequentielles Erstsprachenerwerbsmodell der ersten drei Jahre vor. Danach sei der L1-Erwerb, zumindest was die Grammatik betrifft, weitgehend abgeschlos- <?page no="44"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 42 sen, neue Lexik wird natürlich weiterhin erworben. Diesem Modell zufolge bildet sich die Fähigkeit zur (L1-spezifischen) Phonemunterscheidung in den ersten zwei Monaten nach der Geburt heraus, gefolgt von Wissen über Betonungsmuster und phonotaktische Regeln (5.-12. Monat), dem Zusammenspiel von Phonotaktik und lexikalisch-semantischen Prozessen (12.-14. Monat) 9 , primitiver Satzverarbeitung ab dem zweiten und morphologischsyntaktischer Prozesse ab dem dritten Lebensjahr [Friederici 2005, 482f]. Ein qualitativer Sprung, wie ihn die Neunmonatsrevolution umschreibt, findet sich in diesem Modell nicht. Ab dem 32. Monat verfügen Kinder über ein ähnliches elektrophysiologisches Reaktionsmuster bei syntaktischen Verletzungen wie Erwachsene. Friederici sieht darin eine Bestätigung der Kontinuitätshypothese, die besagt, dass Sprachverarbeitung in der Kindheit im Prinzip genauso funktioniere wie im Erwachsenenalter und dass beobachtete Unterschiede nur quantitativer Natur seien [ebd., 481]. Das belegen ähnliche EKP 10 -Muster bei Kleinkindern und Erwachsenen, die im Großen und Ganzen auch mit früheren Verhaltensstudien zu korrelieren scheinen. So testete Friederici beispielsweise die Fähigkeit zur Unterscheidung intonatorischer Phrasengrenzen zwischen acht und neun Monaten und entdeckte dabei eine EKP-Komponente, die offensichtlich auch bei Erwachsenen in engem Zusammenhang mit der Verarbeitung prosodischer Merkmale steht [ebd., 482f]. Da der Zeitpunkt sehr nah am Auftreten erster rezeptiver und produktiver Wortverarbeitung liegt (Tomasello, Papoušek: 9. Monat, Friederici: 12. Monat), kann dieses Ergebnis nicht die von Papoušek behauptete autosemantische Funktion von Prosodie [s.o.] bestätigen. Die Existenz und Lokalisierung semantischer Integrationsprozesse wird in EKP-Untersuchungen meistens anhand semantischer Verletzungen im Satz überprüft, die die charakteristische N400-Komponente 11 hervorrufen. Friedrich et al. konnten diesen Effekt bei 12 Monate alten Kindern nicht entdecken, jedoch bei 19 Monate alten [Friedrich et al. 2005]. Anhand bekannter und unbekannter Wörter stellten Mills et al. [Mills et al. 1997] einen ähnlichen Effekt bei 13-17 Monate alten Kindern fest, dort allerdings bilateral; eine linkshemisphärische Negativität wurde erst bei 20 Monate alten Kindern beobachtet [ebd.]. Was die semantische Integration (bzw. Irritation) betrifft, scheint also eine Hemisphärenspezialisierung erst verhältnismäßig spät einzutreten. Der N400-ähnliche Effekt zeichnet sich vor allem durch frühere Latenz aus (teilweise schon bei 200ms). Den zeitlichen Vorteil der Kleinkinder erklärt Friederici als Folge des viel geringeren Vo- 9 Friederici bemerkt hier einen deutlichen Unterschied zwischen lexikalischsemantischer Verarbeitung in Verbindung mit Bildern (ab dem 14.Monat) und im Satzkontext (um den 30. Monat) [Friederici 2005, 486]. 10 Ereigniskorrelierte Potentiale [vgl. 2.4.1.] 11 signifikanter negativer Ausschlag 400 ms nach Stimuluspräsentation [vgl. 2.4.1.] <?page no="45"?> 2.1. Bedingungen des L1-Erwerbs und Konsequenzen für die Sprachverarbeitung 43 kabulars im Vergleich zum Wortschatz Erwachsener. In einer anderen eigenen Studie tritt dieser Effekt aber gerade verzögert und mit topographischen Unterschieden auf, was für langsamere lexikalisch-semantische Verarbeitung spricht [Friedrich et al. 2005]. Die stärker in frontalen Bereichen beobachtete Aktivität spricht entweder für stärker bildgestützte Verarbeitung, wie sie auch bei Bildverarbeitung Erwachsener auftritt, oder für zusätzliche Aktivierung des Arbeitsgedächtnisses für die Aufmerksamkeit den Gesprächspartnern gegenüber - beides stützt die kognitiv begründeten Beschreibungen Tomasellos. Für syntaktische Verarbeitung sind drei EKP-Komponenten relevant: LAN, ELAN und P600 12 . Keine der drei wurde bisher zuverlässig für Kinder, die jünger als drei Jahre sind, entdeckt. Möglicherweise tauchen sie erst mit zunehmendem Training und Automatisierung auf. Aber zur syntaktischen Verarbeitung existieren bisher kaum Studien. Dennoch zieht Friederici die Schlussfolgerung, dass „ the neural mechanisms of syntactic parsing are present in principle during early language development, although the processes are clearly slower in children than in adults“ [Friederici 2005, 487]. Zur Aussagekraft der meisten hier angesprochenen EKP-Untersuchungen muss einschränkend gesagt werden, dass die Daten bisweilen widersprüchlich sind und entsprechend vorsichtig behandelt werden müssen. Vorteilhaft ist, dass bildgebende Verfahren im Prinzip viel leisten können für den Erkenntnisgewinn über die rezeptiven Verarbeitungsfähigkeiten kleiner Kinder, die bisher nur indirekt über Reaktionen, also interpretiertes Verhalten, untersucht werden konnten. In diesem Bereich sind in Zukunft noch wichtige Beiträge von Seiten der Hirnforschung zu erwarten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die sprachlichen Subsysteme Semantik/ Pragmatik und Grammatik in der Erstsprache in ihren dynamischen Wechselbeziehungen entwickelt werden. Für das erste Lebensjahr, mindestens aber die ersten neun Monate, sind diese überhaupt nicht voneinander zu trennen. Der Übergang zur triadischen Kommunikation führt zum exponentiellen Ausbau der rezeptiven und produktiven Fähigkeiten. Grammatik entsteht sekundär durch den Transfer von Schemata einmal gelernter Äußerungen auf andere Lexik in der Zeit, in der Kinder beginnen, Wörter miteinander zu verknüpfen. Dieser Prozess ist aber nur teilweise abstrakt und bleibt, vielleicht sogar das ganze Leben lang, bestimmt durch konkretes, prozedurales Lernen, unterstützt durch aktiven Unterricht. Dem Erwerb der Erstsprache wird ein enormer Zeit- und Energieaufwand gewidmet. Friederici und andere Hirnforscher zeichnen ein stärker lineares und sequentielles Bild ohne Neunmonatsrevolution, doch auch hier stehen die einzelnen Erwerbssequenzen in ständigem Wechselspiel 12 Für eine Erläuterung dieser Abkürzungen s. 2.4.1. <?page no="46"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 44 miteinander. Ab dem dritten Lebensjahr gleichen sich die EKP-Muster von Kindern und Erwachsenen. Doch gerade die Zeit davor ist interessant für den Vergleich der beiden Erwerbsformen von L1 und L2. So wie bei der Betrachtung von L2-Lernern ein Unterschied zwischen Lernern mit fortgeschrittenen Kenntnissen und Anfängern gemacht werden muss, gilt das auch für L1-Lerner. Es sollte deutlich werden, dass bei einem Vergleich erwachsener L1- und L2-Sprecher häufig Profis mit Anfängern verglichen werden, Unterschiede in der Verarbeitung sind daher nicht verwunderlich, sondern geradezu zu erwarten 13 . Vergleiche zwischen erwachsenen L1- Sprechern und L2-Sprechern mit (nahezu) L1-Niveau versprechen daher verlässlichere Aussagekraft. Obwohl die Untersuchungen mit elektrophysiologischen Methoden noch an den Anfängen stehen, ebenso wie die Methoden selbst, erhellen sie die Sicht auf die rezeptive Seite des Erstsprachenerwerbs, die anders besonders schwierig zu untersuchen ist. Es scheint, dass sich die rezeptiven Fertigkeiten in den produktiven spiegeln und vice versa, zumindest sind sie den produktiven nicht deutlich voraus. Die Lernbedingungen während des L1-Erwerbs unterscheiden sich stark von allen vorstellbaren Bedingungen des L2-Erwerbs, sei er gesteuert oder ungesteuert. Das Lernen geschieht zu Beginn ausschließlich konkret und prozedural, abstraktes und explizites Wissen erschließt sich erst allmählich. Explizites Grammatikwissen erwerben L1-Sprecher durch den Erwerb ihrer Erstsprache nicht. Dieses wird in aller Regel erst in der Schule vermittelt, ohne sich jedoch auf die Sprachverarbeitung auszuwirken 14 . Ein weiterer Unterschied des L1-Erwerbs im Vergleich zum L2-Erwerb ist die Andersartigkeit des sprachlichen Inputs (spezifisch angepasste Eltern-Kind-Kommunikation, Umgang der meisten anderen Erwachsenen mit dem Kind, Lebenswelt und entsprechende Vokabeln und Sprechakte), sowie des Korrekturverhaltens der meisten Gesprächspartner. Ein letzter Punkt, der in der nun folgenden Betrachtung des L2-Erwerbs eine größere Rolle spielen wird, soll hier auch für den L1-Erwerb kurz diskutiert werden - die Motivation. Motivation im Zusammenhang mit dem Erwerb einer Zweitsprache im Erwachsenalter bedeutet etwas anderes als Motivation im Zusammenhang mit dem Erstsprachenerwerb, denn Kleinkinder können noch keine bewussten Entscheidungen darüber treffen, was sie lernen möchten und was nicht. Sie können aber recht früh, spätestens 13 Der Status der sich im Erwerbsprozess befindlichen L2 drückt sich in den Bezeichnungen Interlanguage oder Interimsprache aus. In der Fremdsprachenerwerbsforschung wird diesem von Vertretern der Interlanguage-Hypothese besondere Beachtung geschenkt [vgl. Selinker 1972]. 14 So plausibel diese Aussage klingen mag ist sie doch hypothetisch, denn es scheint keine vergleichenden Studien von L1-Sprechern mit und ohne Grammatikunterricht zu geben. <?page no="47"?> 2.2. Bedingungen des L2- Erwerbs und Konsequenzen für die Sprachverarbeitung 45 ab dem zweiten Lebensjahr, ein zumindest intuitives Verständnis für das riesige Potential an erweiterten Verstehens- und Handlungsmöglichkeiten, das der Erstsprachenerwerb in sich birgt, entwickeln. Wie dieses Verständnis aussieht und wann es genau entsteht soll hier nicht weiter erörtert werden. Wichtig ist, dass sich der Erstsprachenerwerb sozusagen von selbst ergibt; das Kind hat keine Wahl über Lernen oder nicht lernen, und der Lernprozess erreicht in phonetischer und grammatischer Hinsicht in jedem Fall Perfektion, gemessen am sprachlichen Umfeld. Es ist auch kein Kind bekannt, das zu faul wäre, seine L1 zu lernen oder sich lieber mit anderen Dingen beschäftigt, obwohl der energetische und zeitliche Aufwand für den L1-Erwerb enorm ist. L1-Erwerb ist „zwingend“ [List 2002, 129]. Das mag banal klingen, ist aber entscheidend in der Debatte um kritische Phasen und Sprachleistungsniveaus [vgl. 2.4.]. 2.2. Bedingungen des L2- Erwerbs und Konsequenzen für die Sprachverarbeitung 2.2.1. Biologische und kognitive Voraussetzungen Es liegt auf der Hand, dass sich die biologischen Voraussetzungen erwachsener L2-Lerner deutlich von den unter 2.1.1. beschriebenen von Neugeborenen und Kleinkindern unterscheiden. Die anatomische Reife des Gehirns ist abgeschlossen, die relative Anzahl der Neuronen, die auditive Sensibilität, sowie die Leistungsstärke einiger Gedächtnissysteme (vor allem des Arbeitsgedächtnisses) beginnen bereits abzunehmen [Thompson R. F. 2001, 349 ff]. Die frühere Annahme, dass nach Abschluss der Pubertät keine neuen neuronalen Vernetzungen mehr entstehen können, scheint widerlegt, jedoch ist das Ausmaß der neuen Verknüpfungen viel geringer als in der Kindheit [ebd.; Monyer et al. 2004, 33]. Ein erwachsener Mensch verfügt bereits über eine astronomisch hohe Zahl von Verbindungen zwischen den Neuronen, das Ergebnis jahrelangen Lernens und Erfahrens. Dank dieses Lernprozesses kann er sich selbständig in der Welt zurechtfinden und hat bereits mindestens eine Erstsprache perfekt erworben. Er verfügt damit über eine Vielzahl von kognitiven Möglichkeiten des Begreifens und des Erwerbens neuen Wissens und Könnens. Inwieweit sich diese kognitiven Möglichkeiten vorteilhaft oder nachteilig auswirken, soll im nächsten Abschnitt diskutiert werden. Zunächst wird auf die möglichen Konsequenzen für den L2-Erwerb eingegangen, die aus den rein biologischen Tatsachen abgeleitet werden können. Viele Standpunkte, die eine biologische Benachteiligung für den L2-Erwerb nach der Pubertät vertreten, laufen in dem viel zitierten Begriff Kritische Phase (Critical Period) zusammen, womit der Zeitraum gemeint ist, nach dem eine Fremdsprache nur noch defizitär gelernt werden kann. 1967 <?page no="48"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 46 von Lenneberg erstmals postuliert [Lenneberg 1967], haben sich bis heute viele Varianten seiner Annahme entwickelt 15 und wurden abgeschwächte Vorschläge gemacht 16 . Aber es gibt auch Forscher, die eine kritische Periode ablehnen und allein anderen Einflussfaktoren Relevanz einräumen [Bates et al. 1997; List 2000 u.a.]. Trotz der Vielfalt der möglichen Formulierungen und Akzentuierungen der kritischen Phase lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Vorstellungen ausmachen. In dem von Pallier et al. als crystallization account [Pallier et al. 2003, 155] bezeichneten Ansatz stellt ein sich bis zur Pubertät schließendes Zeitfenster, in dem die Plastizität des Gehirns abnimmt, den Grund für einhergehende Beschränkungen im L2-Erwerb dar. So versteht auch Lenneberg seine critical period. Im interference account wird die zunehmende Ausbildung der L1-Kompetenz als der wesentliche Störfaktor für den L2-Erwerb gesehen 17 [ebd., 160]. Die sehr einflussreiche Studie von Johnson et al. [Johnson et al. 1989], die altersabhängiges Sinken des Leistungsniveaus zwischen 8 und 16 Jahren feststellte und Lennebergs Behauptungen zunächst zu bekräftigen schien, wurde mehrfach wiederholt, mit voneinander abweichenden Ergebnissen und unterschiedlichen Interpretationen. Birdsong et al. führten eine strenge Replikation durch und fanden die altersabhängige Leistungsabnahme bestätigt, konnten diesen Effekt aber auch für die Zeit nach der kritischen Phase entdecken und räumten die Möglichkeit anderer Einflussfaktoren, wie Umfang der Sprachpraxis und L1-L2-Konstellation, ein [Birdsong 2001, 248]. Pallier et al. fanden heraus, dass zumindest Sieben- und Achtjährige eine neue Sprache perfekt erwerben können (wenigstens auf der Performanzebene, die Hirnbilder zeigten leichte Abweichungen zu „echten“ L1- Sprechern), allerdings bei völliger Ausblendung ihrer ursprünglichen L1 (adoptierte Kinder in neuer Umgebung) [Pallier et al. 2003]. Diese Ergebnisse warnen davor, die Plastizität des Gehirns zu unterschätzen. Die Debatte um die kritische Phase ist noch nicht abgeschlossen. Die Mehrzahl der Wissenschaftler lehnen sie in ihrer strengen Form ab, gehen aber trotzdem von einer negativen Einflussnahme des Erwerbsalters auf das L2-Niveau aus (AoA 18 -Effekt). Birdsong fasst folgende Forschungsergebnisse zusammen: Ein lineares Zurückgehen der Leistungskapazitäten, beginnend mit dem Abschluss der Pubertät, sei für das episodische und 15 Singleton macht allein 14 verschiedene Versionen der kritischen Periode aus [Singleton 2005]. 16 Die diesbezüglich mögliche Unterscheidung in Kritische und Sensitive Phase wird hier nicht thematisiert, für eine Diskussion dieser Begriffe s. Eubank et al. 1999. 17 Als dritte mögliche Vorstellung würden manche Nativisten argumentieren, dass die Zugriffsmöglichkeiten auf die Universalgrammatik abnehmen [vgl. Fritz 2007, 21f]. 18 Age of Acquisition <?page no="49"?> 2.2. Bedingungen des L2- Erwerbs und Konsequenzen für die Sprachverarbeitung 47 das assoziative Gedächtnis, die Verarbeitungsgeschwindigkeit im Arbeitsgedächtnis, sowie die Fähigkeit zur Unterdrückung und damit zur fokussierten Aufmerksamkeit, beobachtet worden [Birdsong 2006, 28]. Im gleichen Alter beginnt eine ebenfalls lineare Abnahme des Hirnvolumens 19 , wobei der Grad der Schrumpfung von Hirnstruktur zu Hirnstruktur stark variieren kann [ebd.]. Vor allem für die Hirnschrumpfung, teilweise aber auch für die zuvor genannten Rückgänge ist nicht eindeutig zu klären, wie groß ihr Einfluss auf den L2-Erwerb ist. Die Tatsache, dass all diese Leistungsminderungen natürlich auch die L1 betreffen, spricht für relativ geringen Einfluss. In diesem Zusammenhang ist es besonders interessant, dass Stowe AoA-Effekte auch bei spät gelernten L1-Wörtern nachgewiesen hat [Stowe 2006, 310]. Trotzdem gibt Birdsong zu bedenken, dass „[i]n L2 use, age effects […] are likely to be more pronounced than in the L1 case, due to a relatively low degree of automaticity in L2 processing“ [Birdsong 2006, 28]. Der sehr wichtige Hinweis auf (nicht) automatisierte Verarbeitungsprozesse wird im folgenden Abschnitt noch einmal besprochen werden. Ein scheinbarer Vorteil erwachsener L2-Lerner gegenüber L1-Lernern ist die größere Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses (KZG) [vgl. Thompson 2001, 360ff], wobei nicht völlig geklärt ist, ob das auch für einen Teil desselben, die so genannte phonologische Schleife [Rüschemeyer et al. 2005, 82ff], zutrifft. Während ersteres für Lernprozesse aller Art entscheidend ist, hat die phonologische Schleife besondere Bedeutung für den Spracherwerb, denn je länger gehörter Input präsent bleibt, desto größer ist die Chance, dass er dauerhaft memoriert wird. Interessanterweise stellten Brown et al. fest, dass das KZG-Defizit bei L2-Anfängern stärker ausgeprägt ist als bei fortgeschrittenen Lernern [Brown et al. 1992]. Bei der Untersuchung des Kurzzeit- (und Langzeit-)gedächtnisses ist man seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts dazu übergegangen, die Bekanntheit und die Relevanz des Lernstoffes zu berücksichtigen, was die Ergebnisse stark beeinflusst hat. So haben für den Lerner relevante und/ oder kontexteingebundene Informationen einen höheren Stellenwert als andere [List 2000, 501f]. Gerade was die Möglichkeiten der Einbettung von Informationen in bereits vorhandenes Wissen angeht, haben erwachsene Lerner einen eindeutigen Vorteil, einhergehend mit höherer allgemeiner kortikaler Verarbeitungskapazität. Die Voraussetzungen in diesen Punkten sind also sehr verschieden, vor allem aber ist es schwierig, zu beurteilen, welche sich daraus ergebenden Vor- oder Nachteile für den L2-Erwerb überwiegen. Neben der Fülle von möglichen Vorstellungen über altersbedingte Einflussfaktoren auf den L2-Erwerb müssen auch die verschiedenen Bereiche von Sprache einzeln untersucht werden. Häufig wird die syntaktische Ver- 19 Die Abnahme des Hirnvolumens ist im Durchschnitt linear und schließt mögliches Wachstum einzelner Regionen nicht aus. <?page no="50"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 48 arbeitung überprüft, zum Beispiel anhand von Grammatikalitätsurteilen. Neben der Syntax scheint vor allem auch die Phonetik anfällig für altersbedingte Beschränkungen zu sein. Der Grund dafür liegt aber offenbar nicht beim Stimmapparat, also der Unmöglichkeit, fremde Laute zu artikulieren, sondern vielmehr in der Schwierigkeit, diese exakt wahrzunehmen. Dabei ist nicht der mit der Adoleszenz abnehmende Frequenzbereich, den der Hörapparat wahrzunehmen imstande ist, gemeint; vielmehr spielt hier die Prägung durch die Erstsprache die entscheidende Rolle. Phoneme der L2, die die L1 nicht kennt, werden ähnlichen, vertrauten Phonemen schon beim Hören angeglichen 20 , folglich kann auch keine Fehlerdetektion bei der eigenen Sprachproduktion stattfinden. Aufgrund des Verlustes der Fähigkeit, alle den menschlichen Sprachen eigenen Laute wahrnehmen zu können, bezeichnet Figge den Erstsprachenerwerb gar als „neurophysiologische Behinderung für den Fremdsprachenerwerb“ [Figge 2000, 517]. Für letzteren bedeute das nämlich: „Früh abgestorbene synaptische Verbindungen müssen neu aufgebaut werden.“ [ebd.] List trägt einen weiteren Aspekt zum Verständnis der phonetischen Schwierigkeiten von L2-Lernern bei, indem sie auf die Implizitheit des phonetischen Erwerbsprozesses verweist, und vorhandenes implizites, prozedurales Wissen zu verändern sei schwieriger, als neues zu lernen: Es geht [beim L2-Ewerb] in jedem Fall darum, dass mit den Sprechbewegungen für neue Sprachen etwas tief Verankertes teilweise „verlernt“ werden muss, was in solchen mechanischen, subkortikal gesteuerten, nicht intellektuell zu beeinflussenden Bereichen allemal schwieriger ist als etwas ganz neu zu lernen. [List 2000, 505] Neben der Phonetik werden andere Aspekte wie Rhythmik- oder Prosodiedifferenzen zwischen L1 und L2 diskutiert [ebd.]. Wie in 2.1.2. bereits erwähnt, werden auch grammatikalische Prozesse (der L1) implizit erworben und verarbeitet. So verwundert es nicht, dass für den Grammatikerwerb in der L2 auf hohem Niveau ähnliche Schwierigkeiten wie für die Phonetik beobachtet werden. Etwas neu zu lernen bedeutet aus neurobiologischer Sicht in erster Linie neue Neuronenverknüpfungen anzulegen bzw. bestehende Netzwerke anzupassen. Neue Neuronenverknüpfungen würden eine Vergrößerung der betroffenen Regionen mit sich bringen, Umorganisation eher eine stärkere Vernetzung. Abutalebi et al. ziehen aus beiden Möglichkeiten den Schluss, dass eine Fremdsprache anders verarbeitet werden muss als die L1; darüber hinaus nehmen sie an, dass sich die Verarbeitung der L1 mit dem L2-Erwerb verändert: 20 Es spielt dabei außerdem eine Rolle, wie groß der Kontrast zwischen den L1- und L2- Phonemen ist. Bei geringerem Kontrast sind größere Schwierigkeiten zu erwarten [List 2000, 505]. <?page no="51"?> 2.2. Bedingungen des L2- Erwerbs und Konsequenzen für die Sprachverarbeitung 49 [B]ecause bilinguals have to learn to manage distinct syntactic, phonological and prosodic patterns, the common network will have to adapt and this entails that a bilingual speaker of an L2 will not process this L2 identically to that of a monolingual speaker of that language. Nor will bilingual speakers process their original L1 in quite the same way as monolingual speakers of their L1. [Abutalebi et al. 2007, 253] Für semantische Verarbeitungsprozesse sind Befunde, die auf eine kritische Phase oder allgemeine altersbedingte Beschränkungen hinweisen, vergleichsweise seltener und schwächer, häufig getestet an lexikalischer Wortverarbeitung [s. 2.4.]. Semantische und grammatikalische Verarbeitungsprozesse im L1-Erwerb könnten also unterschiedlich erworben und verarbeitet werden, und im L2-Erwerb scheint die Grammatik größere Schwierigkeiten zu bereiten. Das ist ein ganz entscheidender Hinweis auf der Suche nach Semantik und Grammatik im Kopf, worauf unter 2.3. und 2.4. ausführlich eingegangen wird. 2.2.2. Art und Weise des L2-Erwerbs L1-Lerner eignen sich die Welt an, entwickeln und verfeinern grundlegende und sehr komplexe kognitive Fähigkeiten, parallel und im Zusammenspiel mit dem L1-Erwerb. Bei Erwachsenen ist dieser besondere und einmalige Lernprozess bereits weitgehend abgeschlossen. Der L2-Erwerb findet demzufolge vor dem Hintergrund bereits existierenden sprachlichen sowie nicht sprachlichen Wissens statt. Konkret bedeutet das zum Beispiel, dass „adult´s knowledge of how information is organised in coherent discourse is immediately useful” [Perdue 44, 142]. Mehr noch, L2-Lerner haben längst die Fähigkeit zu analytischem und operationalem Denken entwickelt und können die Fremdsprache deshalb als Objekt expliziten Lernens, d.h. bewussten, deduktiven Problemlösens, behandeln. Besonders im Fremdsprachen-, aber auch im Zweitsprachenerwerbsprozess ist der Anteil expliziten Lernens höher als beim L1-Erwerb. L2-Lernern stehen weit mehr Möglichkeiten zur Wissensaneignung und -speicherung zur Verfügung, da sie lesen und schreiben können. Lesen und Schreiben in der Fremdsprache sind allerdings Fertigkeiten, die umgelernt oder, bei Sprachen mit unbekannter Schrift, neu gelernt werden müssen. Ein weiterer, ganz fundamentaler Unterschied zwischen beiden Erwerbsformen liegt im Input. L1-Erwerb vollzieht sich in authentischer sprachlicher Umgebung mit quantitativ hohem Input und ist stark durch unterstützende, kindgerechte Kommunikation geprägt. Von den unter 2.1.2. bereits besprochenen Charakteristika dieser Kommunikation ist ein Aspekt für den Vergleich mit dem L2-Erwerb besonders relevant, der seinen Niederschlag in der less-is-more-Hypothese [vgl. List 2006, 9] findet. Ein großer Teil der rezeptiven und produktiven Anforderungen an das Kind beginnen bei sehr einfachen sprachlichen Äußerungen mit häufiger Wie- <?page no="52"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 50 derholung und steigern sich allmählich, sowie sich das Kind immer mehr Bereiche der Umwelt aneignet. Erwachsene Fremdsprachenlerner sind demgegenüber mit viel geringerem Input konfrontiert, der in Klassenraumsituationen zudem häufig nicht in authentische funktionale und soziale Kommunikationssituationen eingebettet ist. Was jedoch den konzeptuellen Rahmen der L2 angeht, stehen die Lerner dieser von Anfang an holistisch gegenüber 21 [List 2006, 9]. Die eingeschränkten Wahrnehmungs- und Gedächtnisleistungen von Kindern können so auch als „segensreicher restriktiver Filter“ [ebd.] angesehen werden, der sich langsam öffnet und auf diese Weise zu vollständiger Internalisierung sprachlicher Grundstrukturen befähigt. Über diese Möglichkeit verfügen L2-Lerner nicht, trotzdem schlägt die less-is-more-Hypothese vor, diesen Vorgang zu simulieren, um die gleichen Erfolge zu erzielen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass eine Simulation im wörtlichen Sinne nur sehr eingeschränkt möglich ist. Es scheint auch wenig sinnvoll, die gleichen Inhalte zu wählen wie sie Babys begegnen, gerade im L2-Anfängerunterricht. Nur wenige L2-Lerner würden das dauerhaft über sich ergehen lassen, denn sie sind erwachsene Menschen mit bereits ausgebildeten Charakteren, entsprechenden (Vor)einstellungen, Vorlieben und Abneigungen und einem Rollenbewusstsein. Sie sind es gewohnt, eine Persönlichkeit darzustellen und sich in ihrer L1 entsprechend zu verhalten, Sprache zu verstehen und sich erklären zu können. Im L2-Erwerbsprozess sind ihnen zunächst die meisten dieser Fähigkeiten genommen, doch das Wissen um selbige sowie der Bedarf nach entsprechenden fremdsprachlichen Mitteln schaffen grundsätzlich andere Lernbedingungen. Die Persönlichkeit des L2-Lerners muss also berücksichtigt werden, und das hat auch Konsequenzen für das Korrekturverhalten der Sprecher der Zielsprache. Diese sind weit weniger streng als sie es mit ihren Kindern wären und neigen i.d.R. zu Komplimenten und höflicher Diskretion die Sprachkompetenz betreffend. Im Klassenraum kann genau das Gegenteil der Fall sein - penible Korrektur aller auftretenden Fehler, die unter Umständen demotivierend wirkt. Demotivation im Erstsprachenerwerb bei Kindern ist noch nicht beobachtet worden, sie gehen mit „Kritik“ anders um. L2-Lerner bewegen sich in der „Erwachsenenwelt“, weshalb der L2-Erwerb, auch wenn er von Beginn an ein Zweitsprachenerwerb ist, anders verlaufen muss als der L1-Erwerb. Im vorigen Abschnitt wurde bereits darauf verwiesen, dass die L1-L2- Kombination eine determinierende Größe für den Erfolg des L2-Erwerbs sein könnte. Die These erscheint plausibel, besonders im Hinblick auf die 21 Die rezeptiven und produktiven Anforderungen betreffend trifft das in besonderem Maße auf Zweitsprachenlerner und den ihnen begegnenden Input zu. Was die konzeptuellen Möglichkeiten und den Ausdrucksbedarf angeht, die bereits in vollem Umfang zur Verfügung stehen, gilt es gleichermaßen auch für Fremdsprachenlerner. <?page no="53"?> 2.2. Bedingungen des L2- Erwerbs und Konsequenzen für die Sprachverarbeitung 51 hier angestellten Erörterungen zu kognitiven Konzeptualisierungen. Je stärker diese von den gewohnten Kategorisierungen der Erstsprache abweichen, desto größer muss der Lern- und Umdenkprozess sein 22 . Dies trifft auch auf phonetische Aspekte zu. Es muss dabei aber bedacht werden, dass auf der anderen Seite zu starke Ähnlichkeiten ebenfalls zu Lernschwierigkeiten führen können. Das zeigt sich in einer einfachen Form schon an den „falschen Freunden“ innerhalb vieler indoeuropäischer Sprachen, gilt aber in gleichem Maße für Grammatik und Phonetik. Perdue lehnt einen Einfluss der L1 ab und behauptet, dass der L2-Erwerb, vor allem ungesteuerter, stets nach einem gleichen, jedoch vom L1-Erwerb abweichenden Muster verlaufe und daher die L2 immer als Interlanguage zu begreifen sei [Perdue 2002, 121f]. Lernschwierigkeiten bedeuten nicht per se eine von der L1 abweichende Verarbeitung. Rüschemeyer et al. beispielsweise kommen zu dem Schluss, dass Sprachverarbeitung typologisch unterschiedlicher Sprachen ziemlich gleich verlaufe [Rüschemeyer et al. 2005, 51ff]. In ihrem Experiment wurde die Verarbeitung von L1 und L2 bei Sprechern mit sehr hohem L2-Niveau verglichen - einer von vielen Hinweisen darauf, dass für alle eventuellen Unterschiede zwischen L1-und L2-Verarbeitung der Kenntnisstand/ das Leistungsniveau (proficiency level) eine sehr große Rolle spielt. Die Diskussion der Einflussgröße Kenntnisstand hat mehrere Dimensionen. Zum einen verweist die Tatsache, dass es L2-Sprecher mit sehr hohem Kenntnisstand gibt, darauf, dass umfassender und erfolgreicher L2-Erwerb trotz aller besprochenen möglichen Hindernisse prinzipiell stattfinden kann. Ob tatsächlich ein der L1 entsprechendes Niveau erreicht werden kann, soll direkt im Anschluss diskutiert werden. Zum anderen hat sich gezeigt, dass sich die Fremdsprachenverarbeitung mit zunehmendem (bzw. abnehmendem) Kenntnisstand in starkem Maße verändert. Dabei ist charakteristisch, dass sich die Verarbeitungsprozesse denen der L1 angleichen, je höher der Kenntnisstand wird [Green 2003, 212]. So wird bei Lernern mit niedrigem Kenntnisstand häufig höhere Hirnaktivität unter Einbezug zusätzlicher Areale beobachtet, i.d.R. einhergehend mit zeitlicher Verzögerung im Vergleich zu L1-Sprechern [vgl. 2.4.]. Die Interpretation dieser Daten kann unterschiedlich ausfallen, sie hängt auch von der Art der Stimuli und der Aufgabe ab. Als Erklärung des Phänomens auf lexikalischer Ebene schlagen Abutalebi et al. folgende vor: A so called „non-automatic“ language, such as an L2 not mastered to a high degree of proficiency, may require the engagement of the inferior prefrontal cortex 22 Auf pragmatischer Ebene muss hier auch die kulturelle Dimension, die der sprachlichen immanent ist, beachtet werden. Darauf kann allerdings im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden. <?page no="54"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 52 because retrieval of L2 words is processed in a controlled manner. [Abutalebi 2007, 249] Fehlende Automatisierung ist hier das Argument für zusätzlich benötigte Ressourcen sogar bei semantisch-lexikalischen Aufgaben. Wie oben bereits dargelegt wurde, ist diese Interpretation für grammatikalische, phonetische, eventuell auch prosodische Prozesse mindestens ebenso wahrscheinlich. Es gibt allerdings auch Areale, für die genau das Gegenteil gilt zunehmende Aktivität mit steigendem Kenntnisstand [Tatsuno et al. 2005]. Die eben behauptete Tendenz der zunehmenden Ähnlichkeit zwischen L1- und L2-Verarbeitung mit steigendem Kenntnisstand bleibt dennoch gültig und kann gar nicht unterbewertet werden. Für die Art des L2-Erwerbsprozesses bedeutet diese Erkenntnis allem Anschein nach, dass viele anfänglich explizit erworbene Fähigkeiten im Laufe der Zeit automatisiert werden. Für die Betrachtung der Studien, die sich im Detail mit semantischen und grammatikalischen Verarbeitungsprozessen beschäftigen [2.4.], bedeutet sie, dass penibel darauf geachtet werden muss, welchen Kenntnisstand die Probanden haben, damit zulässige Vergleiche und Schlussfolgerungen gezogen werden können. Ohne die Berücksichtigung des Kenntnisstands bei L2-Lernern können auch keine zuverlässigen Aussagen darüber getroffen werden, ob sich die L2 in Repräsentation und Verarbeitung von der L1 unterscheidet [Abutalebi et al. 2007, 252ff; Illes et al. 1999, 359; Tatsuno et al. 2005, 1637]. Ein Thema, das mehrmals indirekt schon berührt wurde, ist die Frage nach der Fähigkeit von L2-Lernern, ein der L1 ebenbürtiges Niveau (nativelikeness) zu erreichen. Es gibt durchaus L2-Sprecher, die „fehlerfrei“ sprechen und schreiben (in dem Maße, wie L1-Sprecher dies tun) und offensichtlich nicht über rezeptive Defizite verfügen, wobei das, was als nativelikeness gilt, stark von der Definition der jeweiligen Forscher abhängt, weshalb es unmöglich ist, allgemein anerkannte Zahlen oder Verhältnisse anzugeben [vgl. Abutalebi et al. 2007, 253f; Cook 2002a, 6]. Dabei muss zwischen Lexik und Grammatik unterschieden werden. Die Größe des Wortschatzes eines L1- oder L2-Sprechers ist im Grunde unmöglich zu bestimmen, kann außerdem unter L1-Sprechern stark variieren, muss nach alltäglichen und Spezialausdrücken gewichtet und mindestens in aktiven und passiven Wortschatz unterteilt werden. Außerdem sind die Grenzen fließend, denn auch der Wortschatz von L1-Sprechern wächst und schrumpft im Laufe des Lebens und in Abhängigkeit von Tätigkeit und Verfassung. De Groot postuliert bei hohem Kenntnisstand in der L2 eine stärker konzeptgesteuerte Wortverarbeitung (wie in der L1), bei niedrigem Kenntnisstand eine eher wortgesteuerte (via L1-Wort) [de Groot 2002, 42]. Doch es reicht nicht, einen Ausdruck bloß zu kennen, man muss ihn auch im „richtigen“ Kontext benutzen und verstehen können. Eine diesbe- <?page no="55"?> 2.2. Bedingungen des L2- Erwerbs und Konsequenzen für die Sprachverarbeitung 53 zügliche Überprüfung entzieht sich fast völlig wissenschaftlicher Möglichkeiten, es sei denn, die „Missbräuche“ weichen deutlich von den Konventionen der L1-Sprecher ab. Besonders beim Verständnis ist außerdem die kulturell geprägte Wahrnehmung der Welt von Bedeutung 23 , die vielleicht eine vollkommene Gleichbedeutung grundsätzlich ausschließt. Die völlig fehlerfreie Beherrschung aller grammatischen Konstruktionen findet sich seltener. Noch seltener gelingt es L2-Sprechern, ihren fremdsprachlichen Akzent völlig abzulegen. Doch selbst wenn gleiche Kompetenz auf allen Ebenen erreicht zu sein scheint, heißt das nicht zwangsläufig, dass die kortikale Verarbeitung identisch ist mit denen von L1-Sprechern. Hahne et al. berichten das Fehlen der ELAN-Komponente, einer unbewussten, sehr frühen Reaktion auf sprachlichen Input, die mit syntaktischen Strukturverletzungen in Zusammenhang gebracht wird [Hahne et al. 2001]. Einig ist man sich in dem Punkt, dass authentische, insbesondere produktive L2-Fertigkeiten ein überwältigendes Sprachangebot voraussetzen [Ellis, N. 2002, 157; List 2000, 505]. Es ist praktisch unmöglich, zeitlichen Umfang, Intensität und Qualität des Sprachkontakts beim L1- und L2-Erwerb miteinander zu vergleichen, doch die häufig geäußerte These, dass Kinder die besseren Sprachenlerner seien, relativiert sich, wenn man versucht, allein die Stunden des Inputs und der Möglichkeit zum Einstudieren bei Kindern zu ermessen und mit den Stunden eines Fremdsprachenkurses an der Schule vergleicht. Auch ein Zweitsprachenlerner, der den Spracherwerb ohne jegliche Vorkenntnisse im Land der Zielsprache beginnt, verfügt wegen der oben genannten sozial-kommunikativen Restriktionen über weniger Möglichkeiten des sprachlichen Trainings als der Erstsprachenlerner. Er wird i.d.R. dennoch keine neun Monate brauchen, um erste fremdsprachliche Äußerungen zu formulieren. Nach einigen Jahren des Spracherwerbs wird ihn dann aber ein L1-Lerner in vielen Aspekten „überholt“ haben. Diese Tendenz lässt sich verallgemeinern: L2-Lerner sind im Anfangsstadium weitaus effektiver im Spracherwerbsprozess als L1-Lerner, erreichen aber selten die Perfektion und Sicherheit, die L1-Lerner nach einigen Jahren, spätestens mit Abschluss der Pubertät, erreicht haben. Es soll nun noch einmal auf die intra- und interindividuellen Unterschiede, die zwischen L2-Lernern bestehen können, eingegangen werden. Es steht außer Frage, dass es eine ganze Reihe von unterschiedlichen Lernertypen, bzw. unterschiedliche Stile innerhalb eines Lerners, gibt. Dabei fällt die Kategorisierung weitaus differenzierter aus als die in 2.1.2. besprochene Zweiteilung in expressive und referentielle Stile. Die Kombination aus allgemeinen kognitiven, analytischen Fähigkeiten und sozio-affektiven Charaktereigenschaften, sowie des jeweiligen Lernstils und der Lernumge- 23 Birdsong führt deshalb auch den Grad der Integration in die L2-Kultur als weiteren unter Umständen zu berücksichtigenden Einflussfaktor an [Birdsong 2006, 36]. <?page no="56"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 54 bung führt zu unterschiedlich großem Erfolg im L2-Erwerb [vgl. Edmondson et al. 2006, 187ff; Kaiser et al. 2007; Looß 2001]. Besonders erfolgreichen Lernern wird dann oft das Attribut Begabung, Talent oder hohe Sprachlerneignung (aptitude) zugeordnet. Dabei gilt im Unterschied zu erwachsenen Lernern: „For children much lower correlations between aptitude and L2-Learning have been found“ [DeKeyser 2003, 334]. Auch innerhalb sowohl von L1als auch L2-Sprechern kann der Kenntnisstand variieren, abhängig von körperlicher Verfassung, Motivation u.v.a. Dieser Effekt scheint allerdings für die L2 größer als für die L1 zu sein [Dewaele 2002, 221ff]. Angesichts dieser gravierenden Unterschiede in Stil und Typ, zu den bereits besprochenen den Erwerbsprozess determinierenden Faktoren hinzugenommen, können einmalige Untersuchungen an fünf Probanden zurecht in ihrer Repräsentanz angezweifelt werden. Denn für die kortikale Verarbeitung können solch verschiedenartige Umgehensweisen mit der Fremdsprache unterschiedliche Prozesse zur Folge haben [s.a. 2.4.5.3.]. Der vielleicht wesentlichste Grund für unterschiedlich hohe Kenntnisse zwischen L2-Lernern nach etwa gleichem Input und Unterricht ist die Motivation. Diese kann variieren aufgrund i) der Notwendigkeit zur Beherrschung der L2 (lebensweltliche Relevanz), ii) der Lernsituation, iii) der Art der Teilerfolge während des Erwerbsprozesses u.v.m. Aber auch auf sehr hohem L2-Niveau kann die (nicht) vorhandene Motivation zur perfekten Beherrschung entscheidend für native-likeness oder deren Fehlen sein 24 . Folgende Überlegung soll das veranschaulichen: Bei sehr hohem Kenntnisstand in authentischer L2-Umgebung nimmt der L2-Sprecher, abgesehen von der Tatsache, dass ihn jeder L1-Sprecher als solchen identifiziert, keine Nachteile mehr wahr, die aus eventuell unzureichenden L2-Kenntnissen resultieren könnten, oder sie erscheinen ihm marginal. Hinzu kommt, dass der nötige Aufwand zur bewussten Reduktion des Akzentes oder längst eingeschliffener grammatikalischer Fehler sehr hoch ist. So können viele L2-Sprecher mit langer Erwerbsgeschichte aber immer noch vorhandenen Abweichungen vom Standard der Zielsprache, die traditionell als Bestätigungen für die kritischen Phase oder allgemeine altersbedingte Benachteiligungen, Schwierigkeiten wegen der L1-L2-Kombination usw. angeführt werden, auch einfach mit fehlender Motivation zur Perfektion erklärt werden. Die Tatsache, dass der L2-Erwerb viele Jahre lang von Fehlerhaftigkeit begleitet wird, deren endgültige Beseitigung hohen Aufwand erfordert, bleibt dennoch als Unterschied zwischen L1- und L2-Erwerb bestehen. Inwiefern dieser Befund zwangsläufig mit unterschiedlicher kortikaler Verarbeitung einhergeht, bleibt allerdings fraglich [s.o.]. Folgende ergänzende 24 Im Falle nicht vorhandener Motivation wäre es dementsprechend falsch, neurobiologische Defizite als Argument für die nicht erreichte native-likeness heranzuziehen [vgl. Birdsong 2006, 36]. <?page no="57"?> 2.3. Implizites und explizites Lernen 55 Überlegung dazu soll das Bild abrunden: Dass Fehler auf hohem L2- Niveau so schwer auszumerzen sind, spricht für deren Automatisierung. Möglicherweise sind also bei unkorrekten Äußerungen (oder fehlerhaftem Verständnis) gar keine Abweichungen der Hirnaktivitäten zu erwarten. 2.3. Implizites und explizites Lernen In den beiden letzten Abschnitten waren implizites bzw. prozedurales und explizites bzw. deklaratives 25 Wissen, Verarbeiten und Lernen häufig verwendete Schlagwörter. In der Diskussion um altersabhängige Faktoren, die den L2-Erwerb beeinflussen, spielte der Grad der Automatisierung eine wichtige Rolle, der sowohl mit veränderter Fremdsprachenkompetenz als auch mit veränderter kortikaler Aktivität korreliert. In den anschließenden Abschnitten werden einige Studien vorgestellt, die beide Verarbeitungsweisen mit Semantik und Grammatik verbinden. In vielen Bereichen der Spracherwerbsforschung ist ein vermehrtes Interesse an impliziten und expliziten Vorgängen und deren Potential zum besseren Verständnis von Sprachverarbeitung zu erkennen: If language aptitude, intelligence, and working memory can be conceptually related to the constructs of implicit and explicit learning and knowledge, their status might change from peripheral and correlational to central and causal. [Isemonger 2007, 114] Nicht zuletzt ist die Frage nach impliziter oder expliziter Sprachvermittlung entscheidend für die Sprachlehrforschung, die neue Erkenntnisse aus der Hirnforschung berücksichtigen muss [s. 3.2.]. Implizites Lernen wird häufig als nicht selektiver, unbewusster und auf Wiederholung basierter Prozess definiert 26 , explizites Lernen hingegen als selektiv, bewusst und strategisch [vgl. für einen Überblick zur Begriffsverwendung Frensch 1998; Raupach 2002]. Aufgrund der Schwierigkeiten, Bewusstsein zu definieren, schlägt DeKeyser eine engere Eingrenzung impliziten Lernens vor, das nur Lernen ohne Aufmerksamkeit (auf das zu Lernende) beschreiben soll [DeKeyser 2005, 314]. Lernen hat zweifellos mit Gedächtnis zu tun, dementsprechend werden zwei Formen unterschieden: Das prozedurale Gedächtnis sei nicht unmittelbar bewusst, relativ langsam und unflexibel, dafür stets verfügbar und umfasse Fertigkeiten, Gewohnheiten und Konditionierungen [Hanser et al. 2000/ II, 188; Traoré 2002, 19ff]. Dagegen sei das deklarative Gedächtnis 25 Die beiden Begriffspaare werden hier synonym verwendet [vgl. für eine Diskussion zur möglichen definitorischen Abgrenzung Raupach 2002, 110f]. 26 Auf eine weitere Unterscheidung zwischen implizitem und inzidentellem Lernen [vgl. Barkowski 2004, 26ff; List 2002, 123f] wird aus pragmatischen Gründen verzichtet. <?page no="58"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 56 unmittelbar bewusst, schnell und flexibel aber nicht immer verfügbar und umfasse semantische und episodische Inhalte [ebd.] 27 . Bei Fabbro heißt es ganz ähnlich: Explicit memory refers to learnt knowledge of which subjects are aware and consists of semantic memory and autobiographical memory. Implicit memory concerns learnt knowledge of which subjects are not aware, even though they use it. [Fabbro 2002, 205] Bewusstheit ist also auch hier das entscheidende Unterscheidungskriterium, darüber hinaus werden zumindest dem expliziten Gedächtnis Inhalte zugewiesen - semantisches Wissen (schließt lexikalisches Wissen ein) und autobiographisches/ episodisches Wissen. Die Funktion des impliziten Gedächtnisses präzisiert Fabbro wie folgt: Procedural memory refers to implicit competence that underlies the performance of motor and cognitive skills and relates to internalised procedures and genuine behaviour programs, which eventually contribute to the automatic performance of the task. Declarative memory refers to everything that can be represented at the conscious level. [ebd., 214] Der Hinweis auf das Wissen um motorische Fertigkeiten, das auch prozedural sei, ist wichtig, denn wenn sich eine eindeutige Parallele zwischen dem Erlernen motorischer Fertigkeiten und dem der syntaktischen Eigenschaften einer Fremdsprache herstellen ließe 28 , hätte das eindeutige Konsequenzen für die zu wählenden Lernformen [vgl. 3.2.]. Sprachlernen basiert onto- und phylogenetisch auf gestischer Kommunikation, die auch trotz des Erwerbs der Lautsprache nicht verschwindet [Müller, H.M. 2003, 169; Tomasello 2002, 108f]. Auch Ellis vergleicht automatisierte (also implizit gewordene) sprachliche Äußerungen mit nicht sprachlichen motorischen Fertigkeiten. Durch den von ihm sehr anschaulich beschriebenen Prozess des Chunking bringt er außerdem das dynamische Moment in das Modell von implizitem und explizitem Wissen, das den Wandel der Verarbeitungsweise während des L2-Erwerbs zu erklären hilft: Sequences of units that were previously independent come to be processed as a single unit or chunk […] The identity of the component is gradually lost, and the hole chunk begins to reduce in form. […] These basic principles of automatization apply to all kinds of motor activities - for example, playing a musical in- 27 Diese Unterteilung steht nur bedingt in Zusammenhang mit den in früheren Abschnitten diskutierten Unterscheidungen in Arbeits-, (Kurzzeit-) und Langzeitgedächtnis. Stark vereinfacht ließe sich sagen, dass implizit und explizit auf qualitativ unterschiedliche Modi des Langzeitgedächtnisses referieren. 28 Neueste Erkenntnisse haben einen Zusammenhang zwischen motorischem und Sprachlernen auch bei einigen Singvogelarten nachgewiesen, wobei natürlich nicht von syntaktischer Sprache, sondern vom Nachahmen gehörter Melodien, also Imitationslernen, ausgegangen wird [Feenders et al. 2008]. <?page no="59"?> 2.3. Implizites und explizites Lernen 57 strument, cooking, or playing an Olympic sport. They also apply to grammaticization. [Ellis, N. 2002, 172] Das hier verwendete Konzept von Grammatikalisierung kann als Übergang von explizitem zu implizitem Wissen verstanden werden. Die getrennte Verarbeitung von morphologischen, Phrasen- und Syntaxstrukturen wäre demzufolge nur auf der expliziten Ebene zu finden und ginge mit dem Übergang zu impliziter Verarbeitung verloren. Beim L1-Erwerb hingegen finden grammatikalische Verarbeitungsprozesse von Anfang an hauptsächlich implizit statt. Auch DeKeyser hält diesen Verlust des expliziten Regelwissens für sehr wahrscheinlich: [A]fter large amounts of communicative use and complete automatization of the rules, learners eventually lose their awareness of the rules. At that point they not only have procedural knowledge that is functionally equivalent to implicitly acquired knowledge, but even implicit knowledge in the narrow sense of knowledge without awareness. [DeKeyser 2003, 329] Es ist bemerkenswert, dass Ellis als Konnektionist trotzdem von implizitem und explizitem Lernen ausgeht, denn die starke konnektionistische Annahme kennt nur statistische Verhältnisse zwischen Input- und Outputmustern, alles Wissen wird implizit erworben und repräsentiert. Die Existenz beider möglicher Lernformen trotzdem nicht zu leugnen, scheint nicht nur möglich, sondern auch produktiv zu sein. Man kann dann regelgeleitete, explizite Verarbeitung entweder als emergenten Prozess begreifen, der auf subsymbolischer Verarbeitung basiert, oder von grundsätzlich verschiedenen Verarbeitungsprozessen ausgehen, die sich im Laufe des L2- Erwerbs ablösen können: It is perfectly possible that, for many learners and many rules, the explicit learning of declarative rules and systematic practice to proceduralize them is a very convenient short cut to the point where connectionist-type fine-tuning of procedural knowledge can begin. [ebd., 331] List weist darauf hin, dass das prozedurale Gedächtnis von Geburt an zur Verfügung stehe, während sich das semantische und das autobiographische Gedächtnis ontogenetisch spät entwickeln [List 2000, 503]. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Verschiedenheit zwischen L1- und L2-Erwerb wurden in den letzten Abschnitten bereits aufgezeigt. List argumentiert auf dieser Unterscheidung aufbauend am Beispiel Phonetik überzeugend, warum sich der L1-Erwerb nicht wiederholen lässt und dass ein L2-gemäßes Niveau nur sehr schwierig zu erreichen ist [ebd., 504f]. Die „infantile Amnesie“ aufgrund des noch nicht entwickelten deklarativen Gedächtnisses stellt sich als Vorteil für den Erwerb komplexer Fertigkeiten wie die korrekte phonetische Artikulation heraus, der implizit offensichtlich am effektivsten gemeistert werden kann. Erwachsene Lerner haben so gesehen gar keine andere Wahl, als den Lernprozess mit hohem Anteil an <?page no="60"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 58 expliziten Erwerbsformen zu gestalten, denn Fremdsprachen könnten nicht mehr implizit gelernt werden [List 2006, 9]. Ob diese so deutliche Aussage Gültigkeit hat, muss jedoch überprüft werden. Birdsong hält fest, dass implizite Verarbeitung, im Gegensatz zu expliziter, kaum von altersbedingter Leistungsminderung betroffen sei [Birdsong 2006, 28]. DeKeyser schlägt eine andere Erklärung für den vorrangig expliziten L2-Erwerb vor. Er argumentiert, dass im Erwachsenenalter der Prozess der Loslösung der Sprache von allgemein kognitiven Prozessen abgeschlossen sei [DeKeyser 2005, 334f]. Auch diese Behauptung ist fraglich, denn allem Anschein nach kann Sprache nicht gänzlich losgelöst von nicht sprachlichen kognitiven Prozessen betrachtet werden [vgl. Tomasello 2002 29 ]. Richtig ist dennoch, dass sich in der Kindheit beides parallel und ineinander greifend entwickelt, während im Erwachsenenalter in erster Linie eine weitere Sprache erworben wird, nicht aber grundlegende kognitive Prozesse. Zu Recht weisen einige Autoren ausdrücklich darauf hin, dass an Lernprozessen im Erwachsenenalter immer beide Lern- und Gedächtnisformen beteiligt sind; ausschließlich explizites Lernen jedenfalls ist eine idealisierte Vorstellung und entspricht allem Anschein nach nicht der Realität [List 2006, 20; Traoré 2002, 21f; Ullman 2004, 247]. Aber hinter den Konstruktionen von implizitem und explizitem Lernen verbergen sich Tendenzen, Lernprozesse können anteilig stärker implizit oder explizit sein. Ullman sieht eine Reihe von Möglichkeiten der Interaktion zwischen beiden Systemen, so ordnet er zum Beispiel die Funktion der lexikalischen Auswahl (der L1) aus dem deklarativen Gedächtnis der prozeduralen Verarbeitung zu [Ullman 2004, 242]. Diese Sichtweise unterstützen auch die Untersuchungen von Schwartz et al. [Schwartz et al. 2006]. In ihrem komplexen Zusammenspiel „the systems form a dynamically interacting network which yields both cooperative and competitive learning and processing, such that memory function may be optimized“ [Ullman 2004, 242]. Es klingt hier die Vorstellung der Konkurrenz zwischen beiden Systemen an, die Verbindungen zu dem bekannten Words-and-Rules-Modell von Pinker schlägt [vgl. Pinker 2000]. Die Diskussion sowohl um die Abgrenzung als auch um das Zusammenspiel beider Systeme ist noch nicht abgeschlossen [Isemonger 2007, 113]. Anatomisch basieren beide Systeme auf zum Teil unterschiedlichen Hirnstrukturen: Während explizites Wissen über den gesamten zerebralen Kortex verteilt ist, aber vom Hippocampus „verwaltet“ wird, basiert implizite Verarbeitung in erster Linie auf subkortikalen Strukturen der Basalganglien und des Cerebellums, sowie spezifischen kortikalen Regionen (sensorischen und motorischen) [vgl. Hanser et al. 2000/ II, 188; Ullman et al. 1997]. Ullman, der syntaktische Verarbeitung dem prozeduralen Ge- 29 „Sprache [ist] eine Form der Kognition […], die an den Zwecken der zwischenmenschlichen Kommunikation ausgerichtet ist.“ [ebd., 192] <?page no="61"?> 2.3. Implizites und explizites Lernen 59 dächtnis zuschreibt, spezifiziert dessen Lage innerhalb des Cerebellums auf den Nukleus dentatus und nennt als beteiligte kortikale Areale den frontalen Kortex. Das deklarative Gedächtnis verortet er hauptsächlich im medialen Temporallappen und im vorderen präfrontalen Kortex [Ullman 2004, 244ff]. Dass darüber hinaus andere bzw. zusätzliche Areale für das Einspeichern gegenüber dem Abrufen benötigt werden, ist wichtig für die Beurteilung von Ergebnissen aus konkreten Studien, soll aber an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden [vgl. Roth et al. 1996]. Ellis, der ein Modell entwirft, das implizites und explizites Wissen operationalisierbar machen soll, nennt sieben relevante Einflussfaktoren: Grad der Bewusstheit, zur Verfügung stehende Zeit, Fokus der Aufmerksamkeit, Systematizität, Bestimmtheit, Metasprache und Lernbarkeit [Ellis, R. 2005, 148]. Obwohl diese Faktoren sich zum Teil gegenseitig determinieren, ist ihr Einfluss auf explizite oder implizite Verarbeitung nicht zu leugnen. Ellis´ anwendungsorientiertes Modell bezeichnet Isemonger jedoch als zirkulär und schlägt verschiedene Alternativen vor [Isemonger 2007, 107ff]. Ziel der abrisshaften Darstellung der Bedingungen von L1- und L2-Erwerb war es, diejenigen Einflussfaktoren, Charakteristika und Überlegungen zu identifizieren, die Konsequenzen für unterschiedliche oder identische Verarbeitung und kortikale Repräsentation von semantischen und grammatikalischen Prozessen haben könnten. Daraus ergibt sich vorläufig folgendes Bild: Beide Erwerbsformen unterscheiden sich sowohl in biologischer als auch kognitiver Hinsicht fundamental voneinander, und ein direkter Vergleich ist nur unter großen Vorbehalten möglich. L1-Lerner entwickeln ihre Erstsprache parallel zu allgemeinen kognitiven Fähigkeiten, ihr Lernen ist anfänglich ausschließlich, doch auch später vorrangig implizit. Fehlende Bewusstheit, die sich in den noch nicht ausgebildeten autobiografischen und semantischen Gedächtnisformen ausdrückt, ist vermutlich der Hauptgrund für das verhältnismäßig langsame Lernen, das aber zu vollkommener Kompetenz führt. Grammatikalische und semantische Verarbeitung sind, besonders in den ersten Lebensjahren, kaum voneinander zu trennen, da Prosodie autosemantisch sein kann und einzelne Wörter die Bedeutung ganzer Sprechakte in sich vereinen können. Grammatisches Wissen entsteht daher vermutlich sekundär aufgrund wiederholter Erfahrungen im Nachahmungs- und Anwendungskontext, bleibt dabei aber vorrangig implizit und führt nur sehr eingeschränkt zu metasprachlichem Wissen über morphologische und syntaktische Regeln. Intern muss dennoch von gemischten Aneignungsstrategien ausgegangen werden, die neben konkretem Lernen auch das Erkennen und Anwenden von Regeln oder assoziativen Mustern beinhalten, denn L1-Lerner können (über)generalisieren. L2-Lerner besitzen ein voll entwickeltes Gehirn und beherrschen mindestens eine Erstsprache. Die Leistung mancher auditiver Fähigkeiten so- <?page no="62"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 60 wie einiger Speicher- und Abrufsysteme ist im Abnehmen begriffen, andere sind weitaus leistungsstärker als die von Kindern. Die Beurteilung dieser biologischen Vor- oder Nachteile in Hinblick auf den L2-Erwerb erweist sich als äußerst schwierig und uneindeutig. Vor allem phonetische, prosodische und grammatikalische Eigenschaften der L1 können sich eventuell hinderlich auf den L2-Erwerb auswirken. Andererseits besitzen L2- Lerner gerade aufgrund ihrer L1-Beherrschung und ausgebildeter allgemeiner kognitiver Fähigkeiten wesentlich mehr Möglichkeiten der Wissensaneignung und -verknüpfung sowie der Analyse sprachlichen Inputs. All diese augenscheinlichen Unterschiede zwischen L1- und L2-Sprechern bedeuten aber nicht zwangsläufig, dass eine L2 nicht ebenso umfassend erworben und beherrscht werden kann wie die L1. Sie bedeuten aber wohl, dass Art und Weise beider Erwerbsformen, insbesondere in ihren Anfangsstadien, deutlich voneinander abweichen. Für alle Vergleiche zwischen L1-und L2-Lernern gilt, dass zwar eine einzelne Einflussgröße möglichst isoliert untersucht werden sollte, um gültige Aussagen treffen zu können, globale Fragen wie die nach der grundsätzlichen Lernfähigkeit oder den Vor- oder Nachteilen zwischen L1- und L2-Lernern aber nur unter Berücksichtigung des komplexen Zusammenspiels der zahlreichen Einflussgrößen getroffen werden sollten. Das gilt umso mehr, da laut Birdsong “[a]n understandable tendency in discussions of the underlying sources of age effects in L2 learning and processing to isolate a single mechanism or to fokus on one type of mechanism“ [Birdsong 2006, 36] vorliegt. Trotzdem gibt es freilich mehr oder weniger einflussreiche Variablen. Neben einigen altersabhängigen Einflussfaktoren, der Motivation und der gesellschaftlichen Stellung von L2-Lernern und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für Kenntnisstand und Sprachverarbeitung stellt sich die Unterscheidung und Berücksichtigung expliziter und impliziter Prozesse als sehr entscheidend heraus. Die Verarbeitungsprozesse von L1- Lernern, die älter als drei Jahre sind und L2-Lernern mit hohem Kenntnisstand ähneln sich stark, und für beide lassen sich vorsichtig folgende Zuordnungen treffen: Semantische Aspekte werden vorrangig explizit/ deklarativ, grammatikalische implizit/ prozedural verarbeitet. Da beide Verarbeitungsformen in zum Teil unterschiedlichen Hirnarealen und - strukturen stattfinden, lassen sich Beobachtungen über Unterschiede zwischen semantischen und grammatikalischen Verarbeitungsprozessen machen. Natürlich bleiben Vorbehalte aufgrund i) verschiedener Vorstellungen von Semantik und Grammatik, ii) unzulänglicher Untersuchungsmethoden, sowie iii) intra- und interindividueller Unterschiede zwischen L2-Lernern bestehen, die viel stärker sind als zwischen L1-Lernern. Sollten sich die Annahmen über explizite und implizite Sprachverarbeitung bestätigen, wäre insbesondere der Wandel zwischen beiden Verarbeitungsfor- <?page no="63"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 61 men während des L2-Erwerbs interessant, ließen sich doch daraus produktive Erkenntnisse für die Fremdsprachenvermittlung ableiten. 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 2.4.1. Auswahl der Studien Im Folgenden werden aktuelle Studien aus der Hirnforschung ausgewertet, die sich bildgebender oder elektrophysiologischer Verfahren bedienen und die sich insbesondere der Untersuchung lexikalisch-semantischer und morphologisch-syntaktischer Prozesse widmen. Die Betrachtungen werden ergänzt durch Erkenntnisse aus der Aphasieforschung und, wo es nötig erscheint, durch Verweise auf Studien mit etwas anders gerichtetem Erkenntnissinteresse oder anderen Methoden. Die meisten Untersuchungen arbeiten ergänzend mit Verhaltensbeobachtung wie zum Beispiel Reaktionszeitmessung. Untersuchungsgegenstand sind semantische und/ - oder syntaktische Verarbeitungsprozesse während der Sprachrezeption von natürlichen Sprachen (hauptsächlich L2). Untersuchungen mit künstlichen (Miniatur)sprachen werden nicht diskutiert. Studien zur Semantik, die mit nicht sprachlichen Stimuli wie zum Beispiel Bilderkennung arbeiten, werden ebenfalls außen vor gelassen. Die Aufgaben variieren, es wird mit Silben-, Wort- oder Satzerkennung bzw. -verständnis, verbalisierten oder nicht verbalisierten semantischen oder grammatikalischen Urteilen, oder reinen Zuhörbzw. Leseaufgaben gearbeitet. Entsprechend reichen die Stimuli von Silben bis zu Texten und werden auditiv und/ oder visuell präsentiert. Die Probandengruppen unterscheiden sich in Herkunfts- und Zielsprache, Alter, Geschlechtsverhältnis und Lernbiografie. Eine Übersicht über die intensiv ausgewerteten Studien und ihre wesentlichen Parameter gibt die folgende Tabelle: Autoren Methoden Aufgaben Stimuli Probanden Friederici et al. 2004 EKP Grammatikalitätsurteile Sätze, visuell 30, L1: Deutsch Hahne et al. 1998 EKP semantische u. Grammatikalitätsurteile Sätze, auditiv 16, L1: Deutsch Hahne et al. 2001 EKP semantische u. Grammatikalitätsurteile Sätze, auditiv 32, L1: Deutsch/ Russisch Weber-Fox et al. 1996 EKP Urteile über Akzeptanz Sätze, visuell 61, L1: Mandarin Weber-Fox et al. 2003 EKP Urteile über Akzeptanz Sätze, visuell 19, L1: Englisch Dehaene et al. 1997 fMRT Zuhören Texte, auditiv 8, L1: Französisch <?page no="64"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 62 Illes et al. 1999 fMRT semantische u. nicht semantische Entscheidungen Wörter (Nomen), visuell 8, L1: Englisch/ Spanisch Luke et al. 2002 fMRT semantische u. Grammatikalitätsurteile Phrasen u. Sätze, visuell 7, L1: Mandarin Newman et al. 2001 fMRT Urteile über Akzeptanz Sätze, visuell 16, L1: Englisch Rüschemeyer et al. 2005 fMRT semantische u. Grammatikalitätsurteile Sätze, auditiv 7-18, L1: Deutsch/ Russisch Tatsuno et al. 2005 fMRT korrekte u. inkorrekte Formen erkennen Wörter Verben, visuell 29, L1: Japanisch Wartenburger et al. 2003 fMRT semantische u. Grammatikalitätsurteile Sätze, visuell 32, L1: Italienisch Perani et al. 1996 PET Zuhören Texte 9, L1: Italienisch (Auflistung der ausgewerteten Studien) Die Auswahl der Studien begründet sich zum einen durch deren Popularität. Es handelt sich bei allen aufgeführten Untersuchungen um viel beachtete Forschungsbeiträge der letzten Jahre. Da die Gesamtzahl aller zum Thema verfügbaren Studien um ein Vielfaches höher ist, sind die hier vorgestellten Experimente außerdem so gewählt, dass die Bandbreite von Aufgaben, Stimuli, und Sprachen exemplarisch vorgeführt wird. Aus der Vielzahl der möglichen einsetzbaren Methoden wurde sich für drei der populärsten und effektivsten nicht invasiven Verfahren entschieden. Diese werden im Anschluss kurz in ihren Vor- und Nachteilen vorgestellt. Für alle gilt gleichermaßen, dass sie nur die unter 1.1. erläuterte obere Organisationsebene des Gehirns, und auch diese nur eingeschränkt, detektieren. Die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) ist ein bildgebendes Verfahren, das eine schichtweise Abbildung des arbeitenden Hirns ermöglicht. Den Probanden wird eine kleine Menge radioaktiven Wassers verabreicht, das über den Blutkreislauf ins Gehirn befördert wird. Während die Wassermoleküle zerfallen, setzen sie Positronen frei; diese lösen beim Zusammenprall mit benachbarten Elektronen (Annihilation) exakt lokalisierbare Gammastrahlung aus. Diese ist in stark aktivierten Hirnarealen größer als in schwach aktivierten. Die Methode bietet also eine gute räumliche Auflösung. Problematisch sind, insbesondere für die Untersuchung sprachlicher Prozesse, folgende Eigenschaften: i) Die zeitliche Auflösung von PET ist mit ein bis zwei Minuten im Grunde ungeeignet, um Sprachverarbeitung in Echtzeit abzubilden. ii) Natürlich stellt die PET jegliche Hirnaktivität dar, nicht nur die RoIs 30 (in dem Falle eventuelle sprachspezifische Areale), diese lassen sich, wenn überhaupt, nur indirekt mittels geschickt ausge- 30 Regions of Interest <?page no="65"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 63 wählter Kontrastaufgaben und -stimuli ermitteln. Außerdem müssen so viele Bewegungsartefakte wie möglich vermieden werden, weshalb PET- Untersuchungen häufig in abgedunkelten Räumen, bei geschlossenen Augen und ohne akustische Reize durchgeführt werden. iii) Die Halbwertszeit der verwendbaren Radionuclide liegt zwischen wenigen Minuten und zwei Stunden. Das setzt Einzeluntersuchungen einen engen zeitlichen Rahmen. Zudem, und nicht zuletzt, verbieten sich Wiederholungsstudien an den gleichen Probanden aus gesundheitlichen Gründen, und auch eine einmalige Teilnahme ist nicht risikofrei. Deshalb wird die PET nach dreißigjähriger Popularität allmählich von der weniger bedenklichen fMRT abgelöst. [vgl. Hanser et al. 2000/ III, 95; Kischka 1997, 301ff; Pinker 2000, 355ff] Auch die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) bedient sich des Effekts, dass aktivierte Neuronen mehr Sauerstoff und Glukose benötigen und sich daher der Blutfluss im Hirn verändert (Hämodynamik). Die fMRT kann jedoch auf ein zu verabreichendes Kontrastmittel verzichten, da durch die vermehrte Sauerstoffausschöpfung lokale Magnetfeldinhomogenitäten entstehen, die sich mit Hilfe von Hochfrequenzspulen messen lassen. Aufgrund des sozusagen intrinsischen Kontrastmittels (Sauerstoffgehalt im Blut) wird das Verfahren auch BOLD (blood oxygen level dependent) - Imaging genannt. Die fMRT erzielt eine noch höhere räumliche Auflösung als die PET und ermöglicht außerdem ereigniskorrelierte Designs. Zudem ist auch die zeitliche Auflösung besser, liegt mit ca. einer Sekunde aber immer noch in einem für die Sprachforschung ungenügenden Bereich. Außer den bereits genannten gesundheitlichen und technischen Vorteilen stellen sich auch für fMRT die Probleme der Bestimmung der RoIs sowie der einschränkenden und unauthentischen Messsituation. Für PET und fMRT gilt, dass Daten nur im Abgleich mit einem zugrunde gelegten „Durchschnittshirn“ erhoben werden können. Dadurch gehen individuelle Unterschiede von Probanden verloren, außerdem lassen sich nur solche Areale zuverlässig beobachten, die ausreichend untersucht und verstanden sind. [vgl. Hanser et al. 2000/ II, 21f, 181f; Kischka 1997, 305ff; Pinker 2000, 357] Ereigniskorrelierte Potentiale (EKP) stellen eine methodische Weiterentwicklung des Elektroenzephalogramms dar. Mittels Elektroden werden elektrische Spannungsschwankungen in der Großhirnrinde (und in einigen subkortikalen Regionen) registriert und verstärkt. Durch Gegenrechnen des allgemeinen „Rauschens“ und der Aktivität während der Stimulusverarbeitung lassen sich diejenigen Potentiale ermitteln, die für die mit dem Stimulus zusammenhängenden Prozesse stehen. Diese Potentiale enthalten vier wesentliche Informationen: Polarität, Amplitude, Latenz und den Ort <?page no="66"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 64 ihrer Messung an der Schädeldecke (Topographie) 31 . Letztere gibt nur sehr ungenau Auskunft über den exakten Ort der Entstehung. Außerdem kann lediglich Gewebe untersucht werden, das über eine bestimmte Zellstruktur verfügt, wie sie zum Beispiel im Kortex, in vielen subkortikalen Regionen jedoch nicht gegeben ist. Diese können mit EKP, im Gegensatz zu PET und fMRT, nicht untersucht werden. Damit Aktivität messbar wird, muss auch erst ein kritischer Schwellenwert überschritten werden, das heißt, dass darunter liegende oder sich gegenseitig ausgleichende Spannungen nicht registriert werden. Der große Vorteil von EKP ist die zeitliche Auflösung im Millisekundenbereich. Auch sind finanzieller und technischer Aufwand etwas geringer als bei den bisher vorgestellten Methoden. Wie bei diesen bleibt der Proband auch bei EKP an einen Stuhl „gefesselt“, Bewegungsartefakte müssen ebenfalls vermieden werden [vgl. Hanser et al. 2000/ I, 419; Wengenroth 2005, 74ff; Zahn et al. 2007, 55ff]. Die Aphasiologie beschäftigt sich bereits seit anderthalb Jahrhunderten mit dem Zusammenhang zwischen dem strukturell-funktionalen Aufbau des Gehirns bzw. dessen Schädigung und der Sprachfähigkeit. Die anfängliche und bis heute weit verbreitete Annahme, dass beschädigte Areale für die bei den Patienten beobachteten Defizite verantwortlich seien, gilt mittlerweile nur noch stark eingeschränkt [Bates et al. 1997, 546ff; Fabbro 2002, 199ff]. Die Symptome von Aphasikern (und von Patienten mit neurodegenerativen Krankheiten) sind vielfältig und lassen nur sehr vorsichtige Schlussfolgerungen zu. Auch der Zusammenhang zwischen Aphasie und (nicht sprachlicher) Intelligenz wird kontrovers diskutiert [vgl. Werani 1999, 21ff]. Nach Werani lassen sich aus der Vielzahl von Interpretationen über die Art der durch Aphasien bewirkten Schädigungen drei Hauptlinien herauslesen. Die erste fasst die Autorin unter dem Begriff der verbalen Mediationshypothese zusammen, die besagt, dass nicht sprachliche Beeinträchtigungen die Folge von Sprachstörungen seien; Aphasikern fehle die für viele nicht sprachliche kognitive Prozesse benötigte „innere“ Sprache [Werani 1999, 26]. Die grundlegende präverbale Defizithypothese besagt, dass durch Aphasien die zentrale Symbolverarbeitung beeinträchtigt werde. Hier wird also eine Störung der semantisch-konzeptuellen Repräsentation als Ursache für daraus resultierende Sprachstörungen angesehen [ebd., 27]. Die anatomische Kontiguitätshypothese, die von vielen neurologisch orientierten Autoren favorisiert wird, beruht auf dem Postulat einer funktionalen Unabhängigkeit von sprachlichen und nicht sprachlichen kognitiven Prozessen. Das Auftreten beider Arten von Beeinträchtigungen wird mit der 31 Außer der Latenz spiegeln sich diese Informationen in den Kurzbezeichnungen mancher prominenter EKP-Komponenten, z.B. N400 (negativer Ausschlag bei 400ms), P600 (positiver Ausschlag bei 600 ms) oder (E)LAN ((early) left anterior negativity). <?page no="67"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 65 anatomischen Nachbarschaft dieser kognitiven Funktionen begründet [ebd., 26]. Um zuverlässigere Aussagen über die eventuelle funktionale Zuordnung bestimmter Hirnareale treffen zu können, stellt Pinker das Postulat der doppelten Dissoziation auf [Pinker 2000, 328f]. Aufgrund von sich scheinbar komplementär bestätigenden Beobachtungen an Patienten mit unterschiedlichen Schädigungen (oder Krankheiten) und unterschiedlichen Symptomen schließt er auf Areale, die für Grammatik und solche, die für Lexik und Semantik zuständig sind. Deshalb werden seine Schlussfolgerungen in den nächsten beiden Abschnitten kurz vorgestellt. Doch es gibt auch gegensätzliche Interpretationen, die unter 2.4.4. zur Sprache kommen. War die Aphasiologie früher in erster Linie auf die Untersuchung von Verstorbenen angewiesen, stehen natürlich auch ihr mittlerweile (funktionelle) bildgebende Verfahren zur Verfügung. Es sollen hier keine konkreten Studien ausgewertet werden, jedoch kann die abrisshafte Darstellung von Ergebnissen aus der Aphasiologie zur Überprüfung der an gesunden L1- und L2-Sprechern gemachten Beobachtungen dienen. 2.4.2. Semantische Verarbeitung 1996 führten Weber-Fox et al. eine umfangreiche Untersuchung mit EKP und Verhaltensmessung durch. Ihr Erkenntnisinteresse war in erster Linie auf die (Nicht)existenz der kritischen Phase gerichtet, und einige ihrer Ergebnisse deuten gar auf verschiedene kritische Phasen, die mit dem Erwerb unterschiedlicher Aspekte der Sprache korrelieren, hin [Weber-Fox et al. 1996, 247]. Sie arbeiteten mit semantischen und syntaktischen Verletzungen und entdeckten signifikante Unterschiede in der Entwicklung dieser beiden sprachlichen Teilbereiche. Als Probanden standen ihnen 61 chinesische L1-Sprecher (31w, 30m) zur Verfügung, die zum Zeitpunkt der Untersuchung schon etliche Jahre in den USA lebten und die die Autoren aufgrund des Alters, indem sie begonnen hatten, Englisch zu lernen, in fünf Gruppen unterteilten (1-3, 4-6, 7-10, 11-13, >16 Jahre). Das Alter der ersten vier Gruppen betrug durchschnittlich 19-20 Jahre, das der >16-Gruppe 30 Jahre. Sie wurden gebeten, ihre Sprachbiografie anzugeben, sowie Kenntnisstand und Sprachbalance zwischen Mandarin und Englisch einzuschätzen. Dabei stellte sich heraus, dass die drei ersten Gruppen sowohl ihren Kenntnisstand als auch die Sprachgewichtung deutlich höher für Englisch beschrieben 32 . Angesichts dieser Einschätzung und des zum Teil sehr jungen Erwerbsalters bleibt zu diskutieren, inwieweit Englisch wirklich als ihre L2 bezeichnet werden kann. 32 Eine Ausnahme bildete Gruppe II (4-6 J.) in der Sprachgewichtung (ca. 50/ 50) - eine Tatsache, die sich nur durch (zufällige) individuelle Unterschiede zwischen den Probanden erklären lässt. <?page no="68"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 66 Alle Probanden wurden vier standardisierten Sprachstandserhebungen unterzogen, von denen drei vor allem schulgrammatisches Wissen prüfen (CELF, SSG, TROG [ebd., 237, 252]) und ein Lesetest die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses und Sprachverständnisfähigkeiten misst (Carpenter Reading Span Test [ebd.]). Der Vergleich mit monolingualen Englisch Sprechenden zeigte kein eindeutiges Bild, im Durchschnitt schnitten dennoch die Probanden mit einem Erwerbsalter von mehr als 10 Jahren schlechter ab. In den EKP-Scans wurden andere Stimuli verwendet. Für semantischpragmatische Verletzungen wurden den Probanden Sätze wie The scientist criticized Max´s event of the theorem und korrekte Kontrollsätze (statt event: proof) visuell Wort für Wort präsentiert. Mittels zweier Knöpfe mussten sie anschließend entscheiden, ob der präsentierte Satz „a good English sentence“ sei oder nicht [ebd., 252]. Die EKP-Messungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Der für L1-Sprecher typische N400-Effekt bei semantischen Verletzungen wurde identisch für die ersten drei Gruppen festgestellt. Die beiden anderen Gruppen, also alle Probanden mit einem Erwerbsalter von mehr als 10 Jahren, zeigten eine leichte Verzögerung, die sich zwischen beiden Gruppen nicht unterschied, obwohl die >16-Gruppe eine deutlich höhere Fehlerrate aufwies. Die letzte Feststellung deutet darauf hin, dass Leistungsniveau und Latenzverzögerung nicht so eindeutig zusammenhängen, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Diese Aussage wird gestützt von den Ergebnissen eines späteren Experiments von Weber-Fox et al. Sie untersuchten englische L1-Sprecher mit unterschiedlichen Leistungsniveaus, welche anhand eines standardisierten Tests (TOAL-3) ermittelt wurden [Weber-Fox et al. 2003, 233]. Die Probanden wurden in eine „normale“ und eine „besonders starke“ Gruppe geteilt, die zwar beide mit nahezu 100%iger Übereinstimmung die Entscheidungsaufgaben über semantisch akzeptable bzw. nicht akzeptable Sätze absolvierten, dabei jedoch zum Teil unterschiedliche EKP-Muster produzierten. Außerdem wurde die elektrophysiologische Aktivität beim Lesen von Wörtern geschlossener und offener Wortklassen miteinander verglichen. Letztere können mit semantischer bzw. grammatikalischer Verarbeitung in Verbindung gebracht werden und bieten so einen anderen Ansatz der Untersuchung als die Stimuli der meisten hier vorgestellten Studien. Wörter offener Klassen sind zum Beispiel Nomen, Verben oder Adjektive, sie referieren auf Gegenstände, Handlungen, Eigenschaften u.v.m. in der Welt. Wörter geschlossener Klassen sind solche mit keiner oder deutlich geringerer referentieller Bedeutung (z.B. Artikel und Präpositionen) und haben strukturierende Funktion. Für beide Wortklassen wurden sehr frühe, nahezu identische Aktivitäten beobachtet (N1, N170, P200), die mit Wahrnehmungsprozessen und frühem lexikalischen Zugriff in Verbindung gebracht werden. Eine Komponente, die die Autoren dem Zugriff auf Wortkategorieinformation zu- <?page no="69"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 67 ordnen, trat für die offene Wortklasse im Durchschnitt später als für die geschlossene auf (N350 vs. N280). Die N350 betreffend gab es auch hier zwischen beiden Gruppen keine signifikante Abweichung [ebd., 236f]. Die Aufgabe zur Entscheidung über semantische Passung brachte dahingegen gruppenabhängige Unterschiede ans Licht, hier zeigten die leistungsstärkeren Sprecher eine reduzierte Amplitude der erwarteten N400 für semantische Verletzungen. Die Autoren interpretieren diesen Befund als verminderte Kontextabhängigkeit bei Sprechern mit hohem Leistungsniveau [ebd., 242]. Die Probanden in diesem Experiment waren 19 L1-Sprecher (10w, 9m), deren Auswahl hauptsächlich auf der Selbsteinschätzung eventueller die Sprache betreffender medizinischer Störungen, sowie auf der sorgfältig überprüften Rechtshändigkeit basierte. Die Stimuli wurden visuell und Wort für Wort präsentiert und enthielten Sätze wie She looked at her watch to check the rain (semantisch unpassendes Wort, immer am Satzende) oder The boy put the worm on the hook (korrekt). Entscheidungen über semantische Passung waren per Knopfdruck zu tätigen. Die Stimuli waren für beide Interessenfelder die gleichen. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen leichte Unterschiede in der Verarbeitung semantisch korrekter und inkorrekter Stimuli. Die Tatsache, dass hier Abweichungen unter L1-Sprechern belegt werden, hat außerdem Konsequenzen für die Interpretation von Unterschieden zwischen L1- und L2- Sprechern. Hahne et al. überprüften in sechs aufeinander aufbauenden Experimenten die Validität des von Friederici vorgeschlagenen inkrementellen Modells des auditiven Sprachverstehens [Friederici 1995; s.a. Anhang]. Sie testeten die EKP-Komponenten ELAN, LAN, N400 und P600 und deren funktionale Zuordnung bei deutschen L1-Sprechern, grenzten die Auftretensbedingungen einiger dieser Komponenten ein und bezogen in einem letzten Schritt prosodische Variation ein [Hahne et al. 1998]. Im ersten Experiment fanden sie den Zusammenhang zwischen lexikalisch-semantischer Verarbeitung und der N400-Komponente bestätigt. Als Stimuli wurden Sätze wie Das Baby wurde gefüttert vs. Das Lineal wurde gefüttert verwendet und den Probanden auditiv präsentiert. Diese bestanden aus elf männlichen und fünf weiblichen deutschen Rechtshändern ohne erkennbare Sprachstörungen und mit einem durchschnittlichen Alter von 28 Jahren. Die Hinzunahme des Stimulussatzes Die Burg wurde im gefüttert in Experiment III, der neben der semantischen Verletzung (Burg) auch eine Phrasenstrukturverletzung (im ___) enthalte, sowie das Ausbleiben der N400, führen Hahne zu der Schlussfolgerung, dass die semantische Analyse funktional abhängig von der Syntaxanalyse sei [vgl. 2.4.3.]. Über die Art des Prozesses der Bedeutungsentstehung sagt die N400 nichts aus, wohl aber über das zeitliche Auftreten der vermuteten lexikalisch-semanti- <?page no="70"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 68 schen Integration. Diese geschieht mit 400ms nach Stimuluspräsentation verhältnismäßig spät und strukturellen Verarbeitungsprozessen nachgeordnet. An dieser Stelle bietet sich ein Vergleich mit einem späteren Experiment von Hahne et al. an, das die gleiche Methode und ähnliches Stimulusmaterial auf L2-Sprecher anwendet. In Hahne et al. 2001a wurden 16 deutsche mit 16 russischen L1-Sprechern verglichen. Die Russisch Sprechenden lebten seit durchschnittlich sechs Jahren in Deutschland und schätzten ihr Hörverstehen selbst mit 3,6 ein (5=sehr gut). Die Stimuli unterschieden sich nur in der Wortwahl von den oben genannten und wurden ebenfalls auditiv präsentiert. Hahne et al. stellten Unterschiede sowohl für semantisch korrekte als auch für inkorrekte Sätze fest. Bei ersteren trat in der L2- Gruppe der negative Ausschlag, der mit der semantischen Integration des am Satzende stehenden Partizips in Verbindung gebracht wird, verstärkt, um ca. 100 ms verzögert und unter Einbezug frontaler Areale auf. Der typische N400-Effekt bei inkorrekten Sätzen unterschied sich hingegen kaum von dem der L1-Gruppe. Der Unterschied zwischen den Reaktionen auf korrekte und inkorrekte Sätze war in der L1-Gruppe dennoch stärker ausgeprägt [Hahne et al. 2001a, 247ff]. Durch Drücken verschiedener Knöpfe sollten die Probanden über die Korrektheit der ihnen präsentierten Sätze entscheiden. Der Vergleich der relativ niedrigen Fehlerrate der L2-Gruppe mit Französisch und Japanisch sprechenden Probanden aus früheren Experimenten [Hahne et al. 2001b] bringt Hahne zu der Schlussfolgerung, dass EKP-Muster nicht nur systematisch mit dem Kenntnisstand in der L2 korrelieren, sondern dass semantische Integrationsprozesse (im Vergleich zu syntaktischen) zuerst denen von L1-Sprechern ähnlich werden. Weber-Fox et al. (1996) äußerten Zweifel an der Systematizität der Korrelation zwischen Kenntnisstand und semantisch bedingten EKPs, der zweite Teil der Aussage entspricht jedoch auch ihren Ergebnissen [s.o.]. Dass lexikalisch-semantische Verarbeitung in Abhängigkeit von der Bedeutung variieren kann, wurde in den bisherigen Studien nicht thematisiert. Wengenroth weist mit EKP voneinander abweichende Effekte für unterschiedliche semantische Domänen nach [Wengenroth 2007], wobei einschränkend gesagt werden muss, dass die beobachteten Abweichungen größtenteils sehr gering sind. Setola et al. überprüften die These, dass Wörter in den funktionalen Hirnarealen repräsentiert sind, mit denen sie am stärksten in Verbindung stehen (z.B. Wörter mit visuellen Assoziationen im visuellen Kortex) und finden diese teilweise bestätigt [Setola et al. 2005]. Rüschemeyer et al. übernahmen das Experimentdesign von Hahne weitestgehend, nur arbeiteten sie statt mit EKP mit fMRT [Rüschemeyer et al. 2005]. Im ersten Experiment untersuchten sie an 18 deutschen L1-Sprechern (10w, 8m) und mit nur im Wortlaut von Hahne et al. abweichenden <?page no="71"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 69 Stimuli, welche Hirnareale bei semantischen bzw. syntaktischen Verletzungen besonders reagieren. Für semantische Anomalien beobachteten sie signifikante bilaterale Aktivität im inferioren frontalen Gyrus (IFG), bei stärkerer Beteiligung der linken Hemisphäre. Sie stellten außerdem überdurchschnittliche Aktivitäten im medialen temporalen Gyrus und in der superioren temporalen Furche fest, die jedoch nicht als semantikspezifische Prozesse gedeutet werden, da diese Regionen auch bei syntaktischen Verletzungen reagierten [ebd., 49f]. Im zweiten Experiment führten Rüschemeyer et al. die gleichen Tests an sieben russischsprachigen L1-Sprechern (4w, 3m) durch und verglichen die Ergebnisse mit denen aus Experiment I. Sie kommen zu dem Schluss, dass Sprachverarbeitung bei typologisch unterschiedlichen Sprachen weitgehend gleich verlaufe [ebd., 51ff]. Diese Aussage wird von Luke et al. in Frage gestellt [s.u.]. Es wird auch nicht erläutert, welche typologischen Unterschiede gemeint sind, aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist jedoch klar, dass keine fundamentalen Typologien (wie etwa analytisch vs. synthetisch oder agglutinierend vs. flektierend) zu Grunde liegen können. Vermutlich ist eine Wortstellungstypologie gemeint, denn die Tatsache, dass die typisch deutsche Endstellung des Partizips in Perfektsätzen im Russischen nur sehr selten (zwingend) auftritt, veranlasst die Autoren dazu, völlig neue Stimuli zu entwerfen, anstatt etwa die deutschen Sätze aus dem ersten Experiment zu übersetzen [ebd.]. Diese Entscheidung bringt Vor- und Nachteile für die Vergleichbarkeit beider Untersuchungen mit sich. Die Studie von Newman et al. könnte zum Abgleich der Daten herangezogen werden, da sie von dem gleichen Erkenntnisinteresse ausgeht und ähnliche Stimuli verwendet. Die Ergebnisse stimmen allerdings nur bedingt überein. Die Autoren stellten auffällig hohe Aktivität für semantische Verletzungen vor allem in temporo-parietalen Bereichen fest, im IFG wurde nur leichte Aktivitätssteigerung beobachtet [Newman et al. 2001, 354f], die für lexikalische Langzeitspeicherung, aber auch allgemeines semantisches Gedächtnis bekannt seien [ebd., 357]. Dass beide Aspekte bei semantischen Verletzungen wie Yesterday I sailed Todd’s hotel to China stärker beansprucht werden, wäre durchaus nachvollziehbar. Die Probanden waren dabei englische L1-Sprecher. Das dritte Experiment von Rüschemeyer et al. vergleicht dieselbe Gruppe aus Experiment I mit 14 L2-Sprechern (11w, 3m, L1: Russisch). Wie auch Hahne et al. stellten Rüschemeyer et al. trotz hoher Performanzrate der L2-Gruppe unterschiedliche Hirnaktivitäten fest, für semantische Verletzungen verminderte, aber strukturell vergleichbare Aktivität. Im linken IFG allerdings war eine flächenmäßig größere Beteiligung zu sehen. Hier nun interpretieren die Autoren, dass dieses Areal bei L2-Sprechern nicht für semantisches Langzeitgedächtnis, sondern für zusätzlich benötigten, <?page no="72"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 70 zielgerichteten und strategischen Zugriff verantwortlich sei [Rüschemeyer et al. 2005, 73]. In zwei weiteren Experimenten untersuchten Rüschemeyer et al. den Zusammenhang zwischen Arbeitsgedächtnis und Hörverstehen und entdeckten dabei einen starken Einfluss auf grammatikalische, jedoch nicht auf semantische Verarbeitung. Aufgrund der starken Beeinträchtigung des grammatikalischen Urteilsvermögens bei semantisch inkorrekten Sätzen schlussfolgern sie, dass L2-Sprecher stärker von semantischer (Kontext)information abhängig seien, um über die (In)korrektheit von Sätzen zu urteilen [ebd., 84ff; vgl. 2.4.3.]. Wartenburger et al. führten ebenfalls eine fMRT-Studie mit an Friederici und Hahne angelehnten Stimuli durch [Wartenburger et al. 2003]. Semantisch inkorrekte Sätze sind hier zum Beispiel Das Reh erschießt den Jäger oder Die Maus jagt die Katze. [ebd., 168] Sie entschieden sich für drei Probandengruppen: I) 11 Probanden mit frühem Erwerbsalter (=0) und hohem Leistungsniveau 33 , II) 12 Probanden mit spätem Erwerbsalter (>6) und hohem Leistungsniveau und III) 9 Probanden mit spätem Erwerbsalter (>6) und niedrigem Leistungsniveau. Die Auswahl und Prüfung der Probanden fand sehr sorgfältig und unter Einsatz mehrerer Methoden statt [vgl. Wartenburger 2004, 34f]. Neben den fMRT-Bildern wurden auch Korrektheit der Entscheidungen (per Knopfdruck) sowie Reaktionszeit gemessen. Die Probanden wurden der gleichen Prozedur auch in ihrer L1 (Italienisch) unterzogen. Die Performanzrate war in allen drei Gruppen recht hoch (nur leichte Leistungsabnahme von Gruppe I bis Gruppe III). Während sich die beiden ersten Gruppen in ihren Hirnaktivierungsmustern nicht unterschieden, zeigte Gruppe III stärkere Aktivierung in links-frontalen Arealen (Broca Areal, BA 44, 6). Eine verminderte Aktivität wie Rüschemeyer et al. stellt Wartenburger also nicht fest, die größere Beteiligung im Broca-Areal findet sich allerdings bestätigt. Wartenburger zieht daraus den Schluss, dass das Leistungsniveau großen Einfluss auf die semantische Verarbeitung habe, während dem Erwerbsalter eine geringe Rolle zukomme [ebd., 57], denn trotz gleicher Verhaltensleistungen zeigte Gruppe II eine schwache zusätzliche Aktivierung im IFG bei L2-Verarbeitung im Vergleich zu ihrer L1 [ebd., 55f]. Luke et al. führten eine vergleichbare Studie mit chinesischen L1-Sprechern (L2 = Englisch) durch [Luke et al. 2002]. Sie erörtern ausdrücklich die Unterschiedlichkeit der beiden untersuchten Sprachen und kommen zu dem Schluss, dass Sprachverstehen in Mandarin deutlich mehr von semantischen und pragmatischen Gesichtspunkten abhänge als im Englischen, da weniger grammatikalische Marker zu Verfügung stehen und sich 33 Bei diesen Probanden handelt es sich im Sinne dieser Arbeit also um L1-Sprecher, Wartenburger bezeichnet sie jedoch als L2-Sprecher [Wartenburger 2003, 168]. <?page no="73"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 71 daher die Bedeutungserschließung stärker auf Kontextaspekte stützen müsse [ebd., 134f]. Für die semantische Kondition zeigt das Experiment keine signifikanten sich daraus ergebenden Konsequenzen, wohl aber für die syntaktische [vgl. 2.4.3.]. Bei semantischen Verletzungen in Mandarin und Englisch wurden beidseitig inferiore, mediale und superiore frontale Areale (BA 44-47, 9, 10), anteriore temporale Areale (BA 38) sowie Bereiche im Okzipitallappen (BA 17) mit deutlich stärkerer Linksbeteiligung als relevant beobachtet, außerdem linke mediale temporale Areale (BA 21) und Gebiete des Fusiform Gyrus` (BA 37). Die am stärksten beteiligten Areale waren die im inferioren frontalen Gyrus [ebd., 137ff]. Die Probanden waren sieben Männer im Alter von 20-31 Jahren, sie hatten Englisch nach dem 10. Lebensjahr begonnen zu lernen. Semantisch und syntaktisch korrekte bzw. inkorrekte Sätze wurden ihnen visuell präsentiert, sie mussten über semantische bzw. grammatikalische Akzeptanz urteilen. Die auffällige Aktivierung im Okzipitallappen führen die Autoren auf die Art der Stimulusrezeption (Lesen) zurück. Illes et al. führten ein Experiment mit einer gemischten Probandengruppe durch [Illes et al. 1999]. Fünf Teilnehmer sprachen Spanisch als L1 und Englisch als L2, drei Teilnehmer die umgekehrte Kombination. Alle Teilnehmer beherrschten ihre L2, nach eigenen Angaben, auf sehr gutem Niveau. Ihnen wurden keine Sätze, sondern spanische oder englische Nomen in zwei verschiedenen Schrifttypen visuell präsentiert, ihre Aufgabe bestand entweder darin, zu entscheiden, ob es sich jeweils um ein konkretes oder ein abstraktes Wort handele (semantische Entscheidung), oder ob das Wort in dem einen oder dem anderen Schriftgrad präsentiert sei (nichtsemantische Entscheidung). Neben diesen zwei monolingualen Scans wurde auch ein kontrastiver Scan (semantische Entscheidung) mit zu gleichen Anteilen gemischten Nomen durchgeführt. Die Verhaltensdaten zeigten für beide Sprachen eine hohe Performanz [ebd., 252ff]. Die Analyse der fMRT-Daten ergab folgendes Bild: Im Vergleich zwischen semantischen und nicht semantischen Entscheidungen zeigten alle Probanden eine stärkere Aktivierung im linken IFG (BA 44, 45, 47). Zusätzlich war bei sechs Teilnehmern auch der rechte IFG, bei vier Teilnehmern eine Region im linken Temporallappen (BA 22) und bei anderen vier Teilnehmern der rechte mittlere frontale Gyrus (BA 9, 46) aktiv [ebd., 354ff]. Außer der allgemein größeren Aktivität und der Beteiligung des IFG bei semantischen Entscheidungen lassen sich aus diesen Daten bei solch einer kleinen Probandengruppe keine weiteren verlässlichen Schlüsse ziehen. Der IFG aber wurde auch in anderen Studien als an semantischen Aufgaben beteiligte Region identifiziert [s.o.]. Der Vergleich der beiden Sprachen bei semantischen Aufgaben zeigte keine relevanten Unterschiede. Somit bestätigt auch diese Studie die These, dass semantische Verarbeitung von L1 und L2 in den gleichen kortikalen <?page no="74"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 72 Regionen stattfindet (hauptsächlich linker IFG), zumindest bei höherem Leistungsniveau. Allerdings stellten die Autoren auch rechtshemisphärische Aktivität fest, die in vielen Läsions-, aber auch fMRT-/ PET- Studien nicht entdeckt wurde. Hagoort et al. versuchten, die Funktion des für semantische Verarbeitung offensichtlich wichtigen IFG zu spezifizieren [Hagoort et al. 2004]. Sie untersuchten holländische L1-Sprecher mit EKP und fMRT, indem sie ihnen semantisch korrekte, semantisch inkorrekte und unwahre Sätze präsentierten. (Übersetzung: Die holländischen Züge sind gelb/ sauer/ weiß.) Die letzte Kondition ist semantisch korrekt, entspricht aber nicht dem Weltwissen der (holländischen) Probanden. Die Autoren wollen anhand dieser Stimuli die unter 1.3.6.2. erläuterte Unterscheidung in Bedeutung und Referenz überprüfen. Sie fanden keinerlei Unterschiede in der kortikalen Reaktion ihrer Probanden zwischen semantisch inkorrekten und unwahren Aussagen, weder im EKP noch im fMRT - ein Hinweis darauf, dass lexikalisch-semantische Aspekte und übersprachliche Integration von Bedeutung und Weltwissen sowohl zeitlich parallel als auch in den gleichen Hirnarealen stattfinden [ebd., 439f]. Crinion et al. fanden heraus, dass für die Kontrolle darüber, in welcher Sprache rezipiert (und auch produziert) wird, der linke, in den Basalganglien gelegene Nukleus caudatus verantwortlich sei [Crinion et al. 2006]. Sie testeten das an drei bilingualen Gruppen mit hohem Kenntnisstand und sowohl mittels PET als auch fMRT. Als Stimuli dienten visuell präsentierte priming 34 - oder nicht-priming-Wortpaare, über die die Probanden eine semantische oder eine nicht-semantische Entscheidung zu fällen hatten. Sprachabhängige priming-Effekte wurden nur im Nukleus caudatus entdeckt, nicht in den bisher diskutierten kortikalen Arealen. Letztere zeigten priming-Effekte auch über den Sprachwechsel hinweg ein weiteres Indiz dafür, dass dort nicht rein lexikalisches Speichern und Abrufen, sondern kognitive Integrationsprozesse (zwischen sprachlichen und nicht sprachlichen Bereichen) beobachtet werden. Diese Daten sind für die kortikale Repräsentation insofern relevant, als dass sie Funktionen der semantisch relevanten Areale eingrenzen könnten, denn Aspekte der Sprachkontrolle werden offenbar in subkortikalen Strukturen verarbeitet 35 . 34 = Bahnung; „die verbesserte Fähigkeit zur Verarbeitung, Wahrnehmung oder Identifikation eines Reizes, die darauf beruht, daß dieser oder ein ähnlicher Reiz kurz zuvor bereits präsentiert wurde“ [Hanser et al. 2000/ III, 105] 35 Wettbewerb und Hemmung scheinen Schlüsselmechanismen bei der Sprachkontrolle zu sein; wie jedoch die Sprachunterscheidung im Detail funktioniert oder welche Form des Wettbewerbs anzunehmen ist, ist nach wie vor unklar [vgl. für einen Überblick Abutalebi et al. 2007, 243ff]. <?page no="75"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 73 Pinker, Ullman und andere Forscher untersuchten Aphasiker mit verschiedenen Symptomen im Hinblick auf deren Beeinträchtigung in Erkennung und Bildung regulärer und irregulärer Präteritumsformen des Englischen [Ullman et al. 1997]. Sie sehen in den Ergebnissen eine eindeutige Korrelation zwischen verschiedenen Formen der Aphasie und morphologischer bzw. lexikalischer Verarbeitung. Patienten mit Anomie haben Schwierigkeiten, Wörter abzurufen und zu erkennen, obwohl sie i.d.R. flüssig und grammatisch korrekt sprechen. Anomie geht häufig mit Schädigungen in posterioren Arealen des Hirns einher, insbesondere im Grenzgebiet von Parietal- und Temporallappen, schließt also auch das Wernicke-Areal ein. Nicht selten sind außerdem große Teile des gesamten Temporallappens betroffen. Solche Patienten hatten größere Schwierigkeiten, irreguläre Verben zu flektieren, konnten relativ gut unbekannte Verben flektieren und zeigten Übergeneralisierungsfehler, ähnlich denen von Kindern [Pinker 2000, 334f]. Pinker geht von grundsätzlich verschiedenen Prozessen für den lexikalischen Zugriff und das Anwenden von Regeln aus und schreibt irreguläres Bahnen dem ersten und reguläres dem zweiten zu. Dem lexikalischen und dem morphologischen Modul müssten unterschiedliche neuronale Korrelate zugrunde liegen [ebd.]. Folgt man dieser Theorie, dann wären die bei Anomiepatienten geschädigten Hirnareale möglicherweise für Speicherung und Abruf von Wörtern zuständig. Allerdings weisen die Hirnschäden solcher Patienten häufig diffuse und schwer zu skizzierende Muster auf, Patienten mit unterschiedlichen Schädigungen können ähnliche, solche mit gleichen Schädigungen unterschiedliche Symptome zeigen [ebd., 336]. Ein anderes Argument Pinkers ist die Alzheimer-Krankheit, bei der das Gedächtnis für Wörter in Mitleidenschaft gezogen wird, trotz häufig erhaltener Grammatikalität in Produktion und Rezeption. Ursache dieser Krankheit sind Ablagerungen an den Neuronen, die zu deren Absterben und der Verringerung bestimmter Neurotransmitter führt, außerdem ist das Hirngewebe chronisch entzündet. Diese Schädigung betrifft natürlich den gesamten Kortex. Die Tatsache, dass in den oben beschriebenen Arealen jedoch deutlich mehr neurofibrilläre Bündel angesiedelt seien, könnte deren stärkere Beeinträchtigung begründen [ebd., 337f]. Die hier von Pinker als für lexikalisches Speichern und Abrufen verantwortlich genannten temporo-parietalen Areale stimmen mit den wenigsten der von den vorgestellten Studien entdeckten Areale für lexikalisch-semantische Verarbeitung überein. Diese waren i.d.R. im inferioren Frontallappen angesiedelt. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass vor allem die Regionen, die bei Verletzungen auffällig reagierten, berichtet wurden. Aktivität an sich, zum Beispiel bei semantisch korrekten Kontrollaufgaben, wurde in einem noch größeren (frontal-temporalen) Netzwerk registriert. <?page no="76"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 74 2.4.3. Grammatikalische Verarbeitung Friederici et al. verstehen syntaktische Verarbeitung auf Satzebene als zweiphasigen Prozess, der durch eine frühe und eine späte Phase gekennzeichnet ist. Frühe Phrasenstrukturerkennungsprozesse spiegeln sich in der ELAN-Komponente wider und treten zwischen 150 und 200 ms nach dem kritischen Stimulus auf 36 . Prozesse der Wortarterkennung und der Kongruenz werden der LAN-Komponente (bei 350-500 ms) zugeschrieben [Friederici et al. 1996]. Beide treten allerdings nur bei Verletzungen auf. Die P600 wird als nachgeschalteter syntaktischer Reanalyseprozess interpretiert, der entweder bei Sätzen mit fehlerhafter Syntax oder solchen mit seltener Konstruktion und hoher Ambiguität auftritt 37 [ebd.]. Syntaktische Verletzungen betreffend sehen Friederici et al. mittlerweile eine Unterteilung in mindestens zwei Arten, die auch mit unterschiedlichen EKP-Mustern einhergehen. In Friederici et al. 2004 wurde an deutschen L1-Sprechern (12w, 15m, 19-31 Jahre) explizit dieser Unterschied untersucht. Die Autoren verwendeten Stimuli, die zwei Arten von Verletzungen enthielten, eine Phrasenstrukturverletzung: Er meinte auch Lisa Ärger verursacht und eine Verletzung der Verb-Argument-Struktur: Er meinte dass Lisa verursacht Ärger. Für die erste Verletzung beobachteten sie die erwartete ELAN-P600 Kombination (wobei die ELAN bei 380-450 ms sehr spät auftrat), für die Verletzung der Wortstellung eine N400-P600 Kombination [Friederici et al. 2004, 74ff]. Obwohl die N400 bisher meistens mit lexikalisch-semantischer Verarbeitung in Verbindung gebracht wurde, argumentieren die Autoren an dieser Stelle syntaktisch, indem sie auf die ungenügende Anzahl von Verbargumenten hinweisen [ebd., 76]. Ob in den Gehirnen der Probanden wirklich zwischen Phrasenstrukturen und Verb- Arbument-Strukturen unterschieden wird, ist fraglich. Nahe liegender wären bei den vorliegenden Stimuli unterschiedliche Reaktionen auf Haupt- und Nebensätze bzw. deren Erwartung. In der unter 2.4.2. bereits vorgestellten Experimentenreihe von Hahne et al. wurden den Probanden grammatisch inkorrekte Sätze präsentiert und die Reaktionen darauf mit denen auf korrekte Sätze verglichen: Die Gans wurde im gefüttert. vs. Die Gans wurde im Stall gefüttert [Hahne et al. 1998, 44]. Die dabei bei L1-Sprechern evozierten Komponenten ELAN und P600 (Experiment I) wurden im zweiten Experiment hinsichtlich ihrer Bewusstheit überprüft. Es wurden die Stimuli betreffende Erwartungshaltungen 36 zumindest bei auditivem Input [vgl. 2.4.5.2.] 37 Ergänzend sei hier auf eine Studie von Wahl verwiesen, der mittels in den Basalganglien implantierter Elektroden (Tiefenhirnstimulation) subkortikale, elektrophysiologische Aktivität vor allem im Thalamus festgestellt hat. Er identifizierte dort eine syntaxkorrelierte fehlerbezogene Komponente, die ca. 80ms nach der Skalp-ELAN und eine weitere, die ca. 70ms vor der Skalp-P600 auftreten [Wahl 2007]. Die Studie untersuchte Patienten mit verschiedenen neurodegenerativen Erkrankungen. <?page no="77"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 75 bei den Probanden erzeugt, und dies hatte Einfluss auf die P600, die somit als kontrolliert gelten kann [ebd., 52f]. Die ELAN hingegen trat automatisch auf und wurde als Prozess der Phrasenstrukturbildung bestätigt. Wie bereits erwähnt, erwies sich die ELAN in sowohl semantisch als auch grammatisch inkorrekten Sätzen wie Die Burg wurde im gefüttert als konstant, wohingegen die erwartete N400 nicht auftrat (Experiment III) [ebd., 82ff]. Die auf diesen Beobachtungen basierende Behauptung, dass die syntaktische Analyse der semantischen vorausgehe und diese erst ermögliche, wurde in Experiment V relativiert, wo die Betonung der fehlerhaften Nominalphrase (Die Gans wurde IM gefüttert) keine ELAN hervorrief. Hahne et al. argumentieren, dass initiale Phrasenstrukturbildungsprozesse durch prosodische Information wesentlich beeinflusst werden können [Hahne et al. 1998, 284]. Statt der P600 trat eine Positivierung mit deutlich geringerer Latenz auf, die sich funktional nicht einordnen ließ. In der Vergleichsstudie mit L2-Sprechern [Hahne et al. 2001a] stellten die Autoren keine ELAN für grammatisch inkorrekte Sätze fest. Eine P600 (mit leichter Verzögerung im Vergleich zur L1) bei inkorrekten Sätzen wurde hingegen beobachtet. Der Vergleich mit früheren Experimenten mit weniger leistungsstarken Probanden [Hahne et al. 2001b], in denen keine P600 beobachtet wurde, führt die Autoren zu der Annahme, dass sich die in dieser Komponente spiegelnden strukturellen Reparatur- und Analyseprozesse im Vergleich zu L1-ähnlichen semantischen Prozessen erst bei fortgeschrittenem Kenntnisstand entwickeln. Waren die EKP-Unterschiede zwischen L1- und L2-Gruppe semantische Aspekte betreffend nur quantitativer Natur, stellen die Autoren für syntaktische Verarbeitung qualitative Unterschiede fest. Die ELAN, also sehr frühe, hoch automatische strukturelle Verarbeitungsprozesse, wurde bei den L2-Sprechern nicht entdeckt. Weber-Fox et al. (1996) untersuchten chinesische L1-Sprecher, die in die USA emigriert waren, und deren zum Teil sehr frühes Erwerbsalter für Englisch Zweifel daran aufkommen lassen, inwieweit die Beobachtungen für L2-Untersuchungen generalisierbar sein können [s. 2.4.2.]. Trotzdem entdeckten die Autoren auch für Gruppe I (Erwerbsalter 1-3 Jahre) Unterschiede in den EKP-Mustern im Vergleich zu einer monolingualen Kontrollgruppe. So fanden sie keine ELAN, dafür eine P600 und sogar eine N400 bei Stimuli mit Phrasenstrukturverletzungen: The scientist criticized Max´s of proof the theorem. Bei einem solchen Satz ist eine semantische Irritation, wie sie die N400 spiegeln würde, durchaus denkbar. Gruppe II und III (4-6, 7-10 Jahre) zeigten ebenfalls keine ELAN, dafür eine P600, wie sie auch bei L1-Sprechern beobachtet wurde [Weber-Fox et al. 1996, 250f]. Für Gruppe IV (11-13 Jahre) hingegen fanden die Autoren eine der ELAN ähnliche rechtsseitige Aktivität, keine N400, dafür eine verzögerte P600. Diese <?page no="78"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 76 fehlte wiederum bei Gruppe V (>16 Jahre), N400 und eine ELAN-ähnliche Aktivität wurde nur in der rechten Hemisphäre beobachtet [ebd.]. Diese Befunde sind nicht kohärent und widersprechen in Teilen späteren Ergebnissen. Bemerkenswert ist dennoch der signifikante Unterschied zwischen semantischer und grammatikalischer Kondition, der auch in späteren Studien auffällt. Diesen Unterschied spiegeln sowohl die EKP-Muster als auch die Verhaltensdaten. Die Autoren vermuten daher eine altersbedingte Restriktion für den vollständigen Erwerb grammatikalischer Verarbeitungsprozesse wie in der L1, die in diesem Maße nicht für Semantik gilt [ebd., 247]. Weber-Fox et al. (2003) stellten Unterschiede in der Verarbeitung von Wörtern offener und geschlossener Klassen fest [s. 2.4.2]. Ein negativer Ausschlag trat für die strukturierenden Konjunktionen, Präpositionen usw. durchschnittlich 70 ms später auf als für Nomen, Verben oder Adjektive (N280 statt N350). Die Autoren räumen ein, dass dafür nicht (nur) der funktionale Unterschied zwischen den Wortklassen verantwortlich sein könnte, sondern die im Gegensatz zu Wörtern offener Klassen deutlich höhere Frequenz der Wörter geschlossener Klassen. Für letztere wurde außerdem ein breiter negativer Effekt im Okzipitallappen zwischen 400 und 600 ms beobachtet, der bei den Wörtern offener Klassen völlig fehlte. Dieser broad negative shift (BNS) wird deshalb als lexikalisch-semantischen Prozessen nachgeordnete syntaktische Verarbeitung interpretiert [Weber-Fox et al. 2003, 238ff]. Während für die semantische Kondition keine Unterschiede zwischen den beiden Probandengruppen mit durchschnittlichem und hohem Kenntnisstand beobachtet wurden, war das bei der grammatikalischen nicht der Fall. Die leistungsstärkeren Probanden zeigten eine kürzere und tendenziell frühere N280 in der linken vorderen Hemisphäre, was auf schnellere und stärker automatisierte (syntaktische) Verarbeitung hindeutet. Außerdem war die Amplitude des BNS kleiner, dafür unter stärkerer Beteiligung des rechten vorderen Kortex [ebd.]. Der BNS wurde nur bei Wörtern geschlossener Klassen beobachtet und ist besonders schwer funktional einzuordnen. Seine besondere Stabilität bei Artikeln lässt jedoch eine frequenzbasierte Deutung plausibel erscheinen. Auch diese Studie stellte Unterschiede zwischen semantischer und grammatikalischer Verarbeitung fest, dabei wurde nur teilweise mit dem häufig verwendeten Verletzungsparadigma gearbeitet. Grammatikalische Verarbeitung zeigte sich schon unter L1-Sprechern abhängig vom Leistungsniveau. Hier kann also nicht mit der grundsätzlichen Verschiedenheit von L1- oder L2-typischen Erwerbsformen argumentiert werden, vielmehr wird die Bedeutung individueller Unterschiede unterstrichen. Einen direkten Vergleich mit L2-Sprechern liefert die Studie leider nicht. Interessant ist jedoch, dass die Unterschiede zwischen L1-Sprechern ähnlicher Natur zu <?page no="79"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 77 sein scheinen wie viele der beobachteten Differenzen zwischen L1- und L2- Sprechern oder zwischen leistungsstarken und schwächeren L2-Sprechern. Rüschemeyer et al., die mit nahezu identischen Stimuli wie Friederici oder Hahne et al., aber statt mit EKP mit fMRT arbeiteten, fanden erhöhte Aktivität für syntaktische Verletzungen im superioren temporalen Gyrus bei L1-Sprechern (Experiment I). Sie sehen in diesen Aktivitäten automatisierte Phrasenstrukturerwartungen, die jedoch bei L2-Sprechern fehlen (Experiment III) [Rüschemeyer et al. 2005, 79]. Bei den L2-Sprechern fanden sie überhaupt keine signifikanten Unterschiede zwischen syntaktisch korrekten und inkorrekten Sätzen, trotz erfolgreicher Performanz. Da die L2- Sprecher jedoch in der Lage waren, syntaktisch verletzte Sätze als inkorrekt zu erkennen, nehmen Rüschemeyer et al. an, dass sie schon für die Verarbeitung korrekter Sätze ein Höchstmaß an Ressourcen benötigen [Rüschemeyer et al. 2006, 98]. Newport et al. fanden bei L1-Sprechern erhöhte Aktivität im superioren frontalen Gyrus, was sie aber trotz der topographischen Abweichungen wie Rüschemeyer et al. als Zeichen unbewusster Syntaxverarbeitung deuten [Newport et al. 2001, 355]. In Zusammenarbeit mit subkortikalen Bereichen, die für motorische Fähigkeiten verantwortlich sind, bildeten diese linksseitig frontalen Bereiche das prozedurale System [vgl. Ullman 2001; 2.3.]. In einer zusätzlich stärker involvierten Region im rechtshemisphärischen superioren lateralen Sulcus vermuten die Autoren das dem P600-Effekt zugrunde liegende neuronale Korrelat [Newman et al. 2001, 559]. Für die Überprüfung der Reaktion auf grammatikalisch inkorrekte Stimuli verwendete Wartenburger Sätze wie Der Hund laufen über die Wiese oder Das Kalender hängt an der Wand [Wartenburger et al. 2003, 168]. Die Ergebnisse weichen auf signifikante Weise von denen zur Semantik ab: Trotz gleich gutem Leistungsniveau beider Gruppen in L1 und L2 (bzw. zweiter L1) zeigte Gruppe II mit spätem Erwerbsalter deutlich stärkere Aktivierung in hauptsächlich linken frontalen Arealen (BA 44, 6); dahingegen zeigte Gruppe III mit niedrigem Leistungsniveau im Vergleich zu den anderen Gruppen eine verminderte Aktivität in linken temporo-parietalen Regionen (BA 22/ 39), sowie in zwei posterioren rechtshemisphärischen Arealen (BA 18, 40) [Wartenburger 2004, 47ff]. Die Autorin sieht in den Ergebnissen eine Bestätigung für eine kritische oder sensible Phase, da zwar Leistungsniveau und Erwerbsalter die neuronalen Substrate der L2- Verarbeitung beeinflussen, was eine eindeutige Zuweisung des Erwerbsalters schwierig macht, jedoch tun sie dies mit unterschiedlichem Effekt auf semantische und grammatikalische Verarbeitungsprozesse. Nur bei den Grammatikalitätsurteilen unterschieden sich die beiden Gruppen mit hohem Leistungsniveau auf zerebraler Ebene (nicht in den Verhaltensdaten) [Wartenburger 2004, 61]. In einem weiteren Schritt erklärt Wartenburger diese altersbedingten Unterschiede mit den unterschiedlichen Erwerbs- <?page no="80"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 78 formen bei frühem und späterem Erwerbsalter, also implizitem bzw. explizitem Lernen. Semantik werde daher sowohl in der L1 als auch der L2 explizit/ deklarativ verarbeitet, Grammatik in der L1 implizit/ prozedural, in der L2 jedoch explizit/ deklarativ [Wartenburger 2006, 62; vgl. 2.3]. Tatsuno et al. bestätigen einerseits eine erhöhte Aktivität im linken IFG bei L2-Sprechern, plädieren andererseits sehr wohl für den Einfluss des Leistungsniveaus, da diese Aktivität mit zunehmendem Niveau abnehme [Tatsuno et al. 2005, 1641f]. Sie testeten 29 japanische L1-Sprecher, die Englisch vom gleichen Zeitpunkt an ausschließlich in der Schule gelernt hatten, in zwei Gruppen. Gruppe I bestand aus 13-Jährigen, Gruppe II aus 19-Jährigen mit entsprechend höherem Kenntnisstand. Die Stimuli waren englische Verben, die visuell und in einer Präsens Aktiv Form präsentiert wurden. Im nächsten Schritt mussten die Probanden mittels Knopfdruck aus zwei angebotenen Wörtern die richtige Vergangenheitsform auswählen. Die entscheidende Beobachtung war dabei die im Vergleich zu den 13- Jährigen verminderte Aktivität der 19-Jährigen im bei allen Probanden involvierten IFG [ebd., 1638ff]. Die für sprachliche Verarbeitung relevante Region wird also erneut bestätigt, die ihre Aktivität modulierenden Einflussgrößen bleiben strittig. Luke et al. fanden bei der Untersuchung chinesischer L1-Sprecher heraus, dass diese Mandarin auf andere Weise verarbeiten als Sprecher indoeuropäischer Sprachen ihre L1 [Luke et al. 2002]. Sie fanden für syntaktische Verarbeitung keine anderen Areale aktiviert als für semantische, nur eine Gewichtung in der Intensität der Beteiligung. Während in den semantischen Konditionen am stärksten der inferiore frontale Gyrus beteiligt war, war es in den syntaktischen der mediale [ebd., 137ff]. Darüber hinaus waren keine Unterschiede zwischen semantischer und syntaktischer Verarbeitung festzustellen. Darin sehen die Autoren eine Bestätigung ihrer Erörterungen über Mandarin, das hauptsächlich semantisch verarbeitet werde [ebd., 141]. Für die L2-Verarbeitung in Englisch zeigte sich ein ähnliches Bild, die einzigen signifikanten Unterschiede waren eine insgesamt stärkere Aktivität der beteiligten Areale sowie der zusätzliche Einbezug von BA 19 und 40 (links). Die Autoren argumentieren, dass hier der Einfluss der L1 (Mandarin) sichtbar werde, denn englische L1-Sprecher zeigen andere Bilder beim Lesen von englischen Sätzen. Die Untersuchungen von Pinker et al. an Aphasikern und Patienten mit neurodegenerativen Krankheiten führen auch zur vorsichtigen Identifizierung von für morphologische und syntaktische Prozesse verantwortlichen Hirnarealen. Patienten mit Agrammatismus fällt es schwer, Wörter zu Phrasen und Sätzen zusammenzufügen, sowie komplexe Sätze zu verstehen. Außerdem haben sie Schwierigkeiten mit der Flexion. Da bei ihnen häufig umfassende Schädigungen in Gebieten um die sylvische Furche, zu denen <?page no="81"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 79 auch das Broca-Areal gehört, festgestellt wurden, schreibt Pinker ihnen die Verarbeitung dieser grammatikalischen Prozesse zu [Pinker 2000, 331ff]. An Parkinson erkrankte Patienten leiden an Tremor und haben Schwierigkeiten beim Initiieren von Bewegungen, oft sind ihre Bewegungen langsam und starr. Auch ihre Sprache ist häufig grammatisch vereinfacht, enthält mehr Nomen und Verben und weniger grammatische Morpheme. Es fällt ihnen schwer, Sätze zu verstehen, deren Bedeutung stark von exakter syntaktischer Analyse abhängt (z.B. Wortstellung im Englischen zur Identifizierung von Agens und Patiens). Ihr Wortschatz ist jedoch kaum oder gar nicht beeinträchtigt. Ursache für die Parkinson-Krankheit ist der Rückgang von Dopamin produzierenden Zellen. Dopamin ist der wichtigste Neurotransmitter innerhalb der Basalganglien, ohne den die Signalübertragung nicht mehr richtig funktioniert [ebd., 339f]. Nun sind die Basalganglien aber ein anderer Bereich als frontale kortikale Areale. Mit dem Hinweis darauf, dass Parkinsonpatienten manchmal auch bei Tests schlechter abschneiden, die Funktionen des Frontallappens wie Planen, Serialisieren oder konzentriertes Zuhören erfordern, argumentiert Pinker, dass sich die Schädigung der Basalganglien stärker auf den Frontallappen als auf Temporal- und Parietallappen auswirke und damit die Grammatikverarbeitung stärker als der Wortzugriff beeinträchtigt werde [ebd.]. Sowohl im Agrammatismus-Anomie-Vergleich als auch im Alzheimer- Parkinson-Vergleich sieht Pinker eine doppelte Dissoziation, was eine zuverlässige Aussage über die Funktion der betroffenen Areale erlaube. Die (grammatikalische) Funktion der Basalganglien sieht er außerdem durch Symptome der Huntington-Krankheit bestätigt, nämlich Übergeneralisierung der Präteritumregel, aber wenig Schwierigkeiten im Abrufen von Wörtern. Diese Generalisierungsfehler seien jedoch nicht durch die Unfähigkeit, die irreguläre Form abzurufen, sondern durch die Unfähigkeit, die Regel zu unterdrücken, begründet. Denn die für die Parkinson-Krankheit typische Degeneration von Neuronen in den Basalganglien führe zu fehlender Kontrolle und Unterdrückung von Bewegungen und eben auch grammatischer Regelanwendung [ebd., 340f; Ullman 1997, 269ff]. Während sich also die beeinträchtigen Areale bei Anomie und Alzheimer-Krankheit nicht mit den möglicherweise für lexikalisch-semantische Prozesse verantwortlichen Arealen der unter 2.4.2. behandelten Studien decken, zeigt sich für grammatikalische, vor allem morphologische Verarbeitung eine deutlichere topographische Übereinstimmung. Der Hinweis auf die zentrale Rolle der Basalganglien für grammatikalische Verarbeitung korreliert außerdem mit der Theorie über prozedurales und deklaratives Wissen von Wartenburger [s.o.; vgl. 2.3.]. Alle bisher vorgestellten Studien unterstützen mehr oder weniger deutlich die Hypothese der differenzierten Repräsentation für semantische und grammatikalische Verarbeitungsprozesse, sowohl in der Erstals auch der <?page no="82"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 80 Fremdsprache. Viele Forscher weisen außerdem darauf hin, dass sich die Hirnaktivitäten von L2-Sprechern mit zunehmendem Leistungsniveau denen von L1-Sprechern mehr und mehr annähern. 2.4.4. Das Zusammenspiel von Semantik und Grammatik Alle vorgestellten EKP-Studien lassen Sprachrezeption als seriellen Prozess erscheinen. Am Beispiel Satzverständnis lässt sich folgender grober Konsens nachzeichnen: Frühe, (voll)automatische und unbewusste syntaktische Analyseprozesse 38 , die Wortarten und bestimmte Phrasenstrukturmuster betreffen, werden gefolgt von lexikalisch-semantischem Zugriff, der Verarbeitung morphologischer Information, sowie deren Integration. Syntaktisch komplizierte, vor allem aber inkorrekte Sätze evozieren im Anschluss einen Reanalyseprozess, der meistens als syntaktischer interpretiert wird. Es wird jedoch gelegentlich eingeräumt, dass dieser nachgeordnete Prozess auch semantische Aspekte enthalten muss, da er, zumindest im Verletzungsparadigma, unterschiedlich auf nur syntaktisch inkorrekte Sätze im Gegensatz zu semantisch und syntaktisch inkorrekten Sätzen reagiert [Friederici et al. 2003, 12]. Diese Verarbeitungsschritte oder Teile von ihnen treten natürlich bei jedem Wort oder gar bei Phonemen auf, daher muss der Gesamtprozess als eine Vielzahl solcher, teilweise parallel ablaufender Prozesse, die abhängig von der jeweiligen Stelle der Analyse sind, verstanden werden. Trotzdem erscheinen semantische und grammatikalische Vorgänge als relativ strikt voneinander getrennt, die mit Verletzungen korrelierenden Komponenten zumindest verraten wenig über ein Zusammenspiel beider Aspekte des Rezeptionsprozesses. Einzig die zwischen 300 und 500 ms parallel ablaufende Verarbeitung morphologischer und lexikalisch-semantischer Information deutet darauf hin, dass beide Verarbeitungsformen voneinander abhängig sind. Die Vorstellung entspricht der von Ullman, dass an morphologischer Verarbeitung sowohl das prozedurale als auch das deklarative Gedächtnis parallel beteiligt seien [Ullman 2001, 47] und unterstützt die These Pinkers vom Wettbewerb zwischen Abruf der gespeicherten Wortform und Anwendung der Regel [Pinker 2000, 162ff], zumindest widerspricht sie ihr nicht. Dieser bei Verletzungen von LAN und N400-Effekten begleitete Prozess wird relativ einhellig als sowohl in der L1 als auch der L2 auftretender Prozess beschrieben, wohingegen das biphasische ELAN-P600-Muster nur selten bei L2-Sprechern beobachtet wird. Die frühen syntaktischen Analyseprozesse werden als von semantischer Verarbeitung unabhängig beobachtet [Hahne et al. 1998, 60]. Das gelte sogar, 38 Nicht näher eingegangen wurde auf phonologische Segmentierungsprozesse, für die das Gleiche gilt und die zeitlich den syntaktischen noch vorangehen [vgl. für einen Überblick Friederici 2005, 482ff; Rüschemeyer 2006, 87f]. <?page no="83"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 81 wenn semantische Informationen früher verfügbar sind als zum Beispiel Informationen über die Wortart [Friederici et al. 2003, 13]. Da die ELAN bei L2-Sprechern sehr selten registriert wird, stützt dieser Befund die Aussage, dass L2-Sprecher stärker von semantischer Information abhängig seien [Rüschemeyer et al. 2005, 73ff]. Die besprochenen fMRT-Studien zeigen eine Vielzahl beteiligter Hirnareale, die vor allem die grammatikalische Verarbeitung betreffend mitunter stark variieren. Die starke und über den gesamten Kortex verteilte Beteiligung an der Sprachrezeption schränkt die Vorstellung einer strengen Serialität ein. In der stärkeren Involvierung bestimmter Areale sehen viele Forscher aber einen Beweis für modulare Modelle. Problematisch ist dabei, dass in vielen Experimenten die gleichen Regionen an semantischer und grammatikalischer Verarbeitung beteiligt zu sein scheinen. Friederici vereint Daten aus EKP- und fMRT-Forschung und stellt ein stufenweises Rezeptionsmodell (für L1-Sprecher) vor, das sowohl zeitlich als auch topographisch genaue Zuordnungen vornimmt [Friederici et al. 2003, 10; s. Anhang]. Luke et al. formulieren eine weit schwächere modulare Interpretation ihrer Beobachtungen, sie finden gleiche Regionen für beide Verarbeitungsformen beteiligt (hauptsächlich linker inferiorer und medialer frontaler Gyrus), allerdings in unterschiedlichem Maße. Die Autoren sehen grammatikalische Verarbeitung von der semantischen abhängig, begründen dies aber mit der L1 der Probanden, Mandarin. Den Grund für ähnliche Beobachtungen bei Bilingualen (L2=Englisch) sehen sie auch hier im Einfluss der L1 [Luke et al. 2002, 141f]. Die außerdem festgestellte stärkere Aktivierung allgemein, sowie die zusätzliche Beteiligung inferiorer parietaler und okzipitaler Regionen (BA 40, 19), werden als zusätzlich benötigte Aufmerksamkeit interpretiert und lassen sich offenbar weder semantik- oder grammatikspezifisch, noch als beide Formen integrierender Prozess deuten [ebd., 142; s.a. MacDonald et al. 2006]. Das gilt einerseits ebenso für die von Wartenburger beobachtete stärkere Aktivierung, wie andererseits auch für die verminderte Aktivität bei Rüschemeyer et al. [s.o.]. Offenbar sind so viele nicht semantik- oder grammatikspezifische Prozesse an der Sprachrezeption beteiligt, dass es sehr schwierig ist, funktionale Unterschiede genau zu verorten. Die häufig beobachtete stärkere sowie zusätzliche Aktivität bei L2-Sprechern mit niedrigem Kenntnisstand im Vergleich zu solchen mit höherem [vgl. Abutalebi et al. 2007, 255; Dewaele 2002, 231] könnte entweder erhöhten Ressourcenbedarf für die Bewerkstelligung der gleichen Prozesse bedeuten, oder aber Mobilisierung andersartiger Prozesse (wie zum Beispiel die Suche nach einer expliziten Grammatikregel statt automatischer Mustererkennung), die zum gleichen, vielleicht zeitverzögerten Ergebnis führen,. <?page no="84"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 82 Eine ganz andere Erklärung des Zusammenspiels verschiedener beteiligter Hirnareale liefert Weiss, indem sie auf die Fähigkeit neuronaler Netzwerke, sich auf Millisekunden genau synchronisieren zu können, verweist [Weiss 2006, 42f]. Demzufolge sei für Speicherungs-, Abruf- und Integrationsprozesse nicht in erster Linie der Ort oder die topographische Nähe aktivierter Areale entscheidend, sondern vielmehr deren Synchronisationsmuster. Je höher dabei der Grad der synchronen Interaktion sei, desto mehr sinke die Störanfälligkeit und steige die Sprachleistung [ebd., 43ff], was wiederum für stärkere Aktivierung bei L1-Sprechern spricht. Zwar leugnet Weiss nicht den Zusammenhang zwischen der Art des Stimulus´ und zum Beispiel der Stärke der rechtshemisphärischen Beteiligung, doch komme es auch hier nicht so sehr auf die Lokalisation, sondern vielmehr auf die Interaktion an [ebd., 49]. Der Grad der Synchronisation ist für Roth außerdem das wesentliche Kriterium für die Beschreibung des Bewusstseins, also auch für den Unterschied zwischen Wach- und Schlafzustand [Roth 2002, IV] 39 . Leider konnte der Grad der Synchronisation bisher nicht in Hinblick auf semantische und grammatikalische Prozesse untersucht werden, aber der Ansatz bietet Erklärungsmöglichkeiten, sowohl für die Art der Interaktion unterschiedlichster Hirnareale, als auch für die Beteiligung gleicher Areale an unterschiedlichen Operationen und steht somit im Widerspruch zu lokalistischen Sichtweisen. Bates et al. sprechen sich deutlich gegen eine modulare Sichtweise auf Lexikon und Grammatik aus, sich dabei auf Erstsprachenerwerbs- und Aphasieforschung stützend. Die Autoren beziehen sich teilweise auf die gleichen Befunde wie Pinker [s.o.], doch interpretieren sie diese anders. Sie bewerten die Untersuchungen über den normalen Erstsprachenerwerb folgendermaßen: [W]e observe a constant and lawful interchange between lexical and grammatical development, of the sort that […] grammar does not dissociate from the lexicon at any point in life. [Bates et al. 1997, 513] Doch auch die Symptome von Kindern, deren L1-Erwerb aufgrund von Aphasien gestört ist, lassen sie im Widerspruch zu über 100jähriger Hirnforschung nicht an verlässliche Hinweise, weder auf Grammatik- oder Lexikmodule, noch auf sprachbezogene Hemisphärenspezialisierung, glauben [ebd., 534]. Obwohl sie drei Symptommuster von geschädigten Erwachsenen aufzeichnen und diese bestimmten Aphasien, genetischen oder neurodegenerativen Krankheiten zuordnen, sprechen diese nicht für eine überzeugende Dissoziation in Grammatik und Lexikon [ebd., 547f]. Folglich lehnen Bates et al. eine funktionale Zuordnung des Broca-Areals 39 Roth weist auf zahlreiche Bewusstseinszustände hin, die zwingend unterschieden werden müssen [ebd.]. Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, wie Bewusstsein überhaupt erklärt und verstanden werden kann, s.a. Prinz 1997. <?page no="85"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 83 für hauptsächlich grammatikalische und des Wernicke-Areals für hauptsächlich lexikalische Prozesse ab. Auch Peng bezweifelt diese Zuordnung und trifft die Aussage, „that Broca´s area is simply the exit of motor impulses and Wernicke´s area is simply an entrance of auditory impulses in the brain and not the centres that manipulate language“ [Peng 2005, 44]. Bates et al. betonen häufig die großen individuellen Unterschiede in den Krankheitsbildern der untersuchten Patienten. Allerdings verweisen sie auf besonders instabile sprachliche Strukturen, die empfindlich auf Hirnschädigung reagieren, so zum Beispiel Funktionswörter oder seltene Wortstellungen. Diese Instabilitäten lassen sich allerdings auch an gesunden Sprechern, die unter Stress stehen, beobachten, weshalb die Autoren auch bei den Patienten auf verringertes Arbeitsgedächtnis schließen [ebd., 557]. Es muss betont werden, dass nicht die Existenz von grammatikalischen Verarbeitungsprozessen geleugnet wird, doch seien diese so eng an lexikalisch-semantische Verarbeitung geknüpft, dass die Vorstellung von durch unterschiedliche Module bearbeiteter oder gar sequentieller Sprachrezeption unplausibel erscheine [ebd., 560ff]. Bei erfolgreichem Hörverstehen muss von erfolgreicher semantischer und grammatikalischer Integration ausgegangen werden, egal, welche konkrete Vorstellung beider Module oder Modi man bevorzugt. Deshalb soll ergänzend auf zwei Studien hingewiesen werden, die Textverständnis in der L1 und der L2 miteinander vergleichen. Perani et al. präsentierten neun Probanden (L1=Italienisch), die mindestens fünf Jahre Englischunterricht erhalten und mindestens einen Monat im englischsprachigen Ausland verbracht hatten, jedoch über keinerlei Japanischkenntnisse verfügten, vergleichbare Kurzgeschichten in diesen drei Sprachen [Perani et al. 1996]. Während des Hörens der Texte wurden ihre Hirnaktivitäten mittels PET aufgezeichnet, im Anschluss stellte man ihnen schwierige Verständnisfragen, die sie für Italienisch durchschnittlich mit 8, für Englisch mit 6,5 (von 10) richtig beantworteten [ebd., 2439]. Die PET-Muster zeigten die mit Abstand stärkste Aktivierung für Italienisch, in folgenden Bereichen: linkshemisphärisch die „klassischen“ Gebiete des Temorallappens beim Hören von Sprache BA 38 und 39, BA 21 und 22 (mittlerer temporaler Gyrus) und BA 45 (IFG), rechtshemisphärisch BA 31, 38 und Bereiche im Cerebellum. Der Vergleich mit Englisch zeigte deutlich verringerte Aktivität, vor allem in BA 38, 39 und im IFG. Unerwarteterweise wurde dasselbe Bild auch für Japanisch beobachtet [ebd., 2441f]. Dehaene et al. führten ein sehr ähnliches Experiment mit fMRT durch und kommen zu differenzierteren Aussagen: Beim Hören der L2 (Englisch) gab es kein Areal, das bei mehr als sechs (von acht) Probanden übereinstimmend stärker aktiviert war [Dehaene et al. 1997, 3811]. Die Variabilität war dabei weit weniger stark ausgeprägt in der L1 (Französisch), die L1- <?page no="86"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 84 sensiblen Gebiete entsprachen weitestgehend denen bei Perani et al. Die linksseitige Aktivierung bei der Fremdsprache war häufig etwas geringer, die rechtsseitige häufig stärker. Drei Probanden zeigten hingegen deutlich erhöhte Werte im Broca Areal, und zwei Probanden überhaupt keine signifikante Aktivität in der linken Hemisphäre [ebd., 3812f]. Alle Probanden hatten Englisch nach dem achten Lebensjahr und hauptsächlich in der Schule erworben und verfügten über mittleres Leistungsniveau. Neben Erwerbsalter und Unterschieden in der funktionalen Hirnorganisation halten die Autoren auch die Art des Fremdsprachenerwerbs in Kombination mit dem erreichten Kenntnisstand für eine mögliche Ursache der Ergebnisse. Grob zusammengefasst lässt sich sagen, dass diejenigen Forscher, die für eine mehr oder weniger strikte Trennung von Semantik und Grammatik im Kopf plädieren, wenig über das Zusammenwirken beider Module sagen. Dass diejenigen, die eine Trennung für unmöglich oder nicht sinnvoll halten, nichts zum Zusammenspiel sagen, erklärt sich von selbst. 2.4.5. Ursachen für die uneindeutige Forschungslage Trotz einiger übereinstimmender Beobachtungen, die nicht ignoriert werden sollen, lassen die zahlreichen Widersprüche und Abweichungen der vorgestellten Studien Fragen nach deren Ursachen aufkommen. Dass das Bild so uneinheitlich ist, überrascht nicht, denn ein Blick auf einige Metastudien zeigt, dass bei genauerem Hinsehen jeder Vergleich mehrerer Studien zur Sprachverarbeitung nur vorsichtige Verallgemeinerungen zulässt, was meistens mit methodischen Unterschieden begründet wird [Indefrey 2006, 279ff 40 ; Newman 2001, 343f; Norris et al. 2005, 723ff; Rüschemeyer et al. 2005, 24ff; Werani 1999, 27; Wartenburger 2006, 59]. Im Folgenden wird deshalb versucht, die wichtigsten Parameter getrennt und in Bezug auf die vorgestellten Studien zu behandeln, im Bestreben, die Ursachen für die uneindeutige Forschungslage aufzudecken. 2.4.5.1. Methoden und Datenerhebung Wie bereits mehrfach angekündigt, sollen in dieser Arbeit die Grenzen und Möglichkeiten der verwendeten Technik sowie der Datenerhebung nur kurz behandelt werden, es soll sich stärker auf die in den folgenden Abschnitten angesprochenen Aspekte des Experimentdesigns konzentriert werden. Die am häufigsten angewandten Methoden wurden bereits unter 2.4.1. vorgestellt, und die Auswertung der Studien zeigt deutlich, wie sehr 40 Indefrey stellt sogar fest, dass überhaupt nur ein kleiner Teil aller (hämodynamischer) L1/ L2-Vergleichsstudien signifikante Unterschiede in der Verarbeitung berichte, dieser aber weitaus mehr Beachtung finde [ebd., 282]. <?page no="87"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 85 die Ergebnisse davon abhängen, welchen Ausschnitt aller stattfindenden Hirnaktivitäten die jeweilige Technik darstellen kann und mit welcher räumlichen und zeitlichen Auflösung sie das tut. Dabei schneiden PET- Studien im Vergleich zu neueren Verfahren in beider Hinsicht schlecht ab, was bereits die Aussagekraft der Ergebnisse schwächt. Die einzige Untersuchung, die ausschließlich mit PET arbeitete, ist die von Perani et al. Versuche, die zeitlich präzisen Beobachtungen aus EKP-Studien mit den räumlich präzisen aus fMRT-Studien zu vereinen, werden unternommen [Friederici et al. 2003; s. 2.4.4.], wobei die Zuordnung in vielen Punkten weitaus kontroverser diskutiert wird, als das Modell von Friederici vermuten lässt. Es wäre daher wünschenswert, wenn möglichst viele Experimente exakten Wiederholungen mit der jeweils komplementären Methode unterzogen würden. Eine Technik, die beide Vorteile in sich vereint, wäre freilich noch erstrebenswerter. Das Magnetenzephalogramm (MEG) schürt diesbezüglich Hoffnungen, einige der in den letzten Abschnitten zitierten Forscher beziehen auch MEG-Untersuchungen in ihre Überlegungen ein. Aufgrund des extrem schwachen Magnetfeldes, das Hirnaktivitäten verursachen, müssen jedoch noch manche technische Hürden überwunden werden, bis dieses Verfahren zuverlässige Ergebnisse liefern kann [vgl. Hanser et al. 2000/ II 326]. Doch auch bei aller denkbaren technischen Weiterentwicklung ist für kritischere Wissenschaftler „klar, dass man von bildgebenden Verfahren auch bei optimaler […] Auflösung nicht erwarten kann, dass die Darstellungen sich sozusagen selbst erklären“ [Kochendörfer 2006, 82; vgl. 2.4.5.4.]. Ein Aspekt, der in der bisherigen Auswertung nicht berücksichtigt wurde, ist die Art der Datenerhebung. Norris et al. bescheinigen der Fremd- und Zweitsprachenerwerbsforschung diesbezüglich einen bescheidenen Status quo [Norris et al. 2003, 717f]. Die Autoren stellen Unzulänglichkeiten in der Datenverlässlichkeit, der Fehlermessung und -bewertung, sowie in der Auswahl der statistischen Auszählverfahren bei zahlreichen Studien fest [ebd., 741ff]. Obwohl die hier vorgestellten Studien daraufhin nicht eingehend überprüft wurden, fällt schon bei einem vergleichenden Überblick auf, dass sehr unterschiedliche statistische Verfahren zur Anwendung kamen. Bei allen in dieser Arbeit vorgestellten Studien handelt es sich um Querschnittsstudien. Longitudinalstudien mit bildgebenden oder elektrophysiologischen Verfahren sind so gut wie keine vorhanden, was mittlerweile nicht mehr nur mit der Neuartigkeit der Technik begründet werden kann. Der Einbezug von Longitudinalstudien könnte jedoch viel zur Klärung einiger strittiger Punkte beitragen [ebd., 748]. Außer Dehaene et al. berichten alle Studien hauptsächlich Mittelwerte, d.h. addierte und gegeneinander aufgerechnete Daten aller Probanden bzw. aller RoIs. Die Ergebnisse können dabei zum einen durch die gegen- <?page no="88"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 86 seitige Auslöschung einiger Daten verzerrt werden; zum anderen werden individuelle Unterschiede übergangen. Doch gerade die Studie von Dehaene et al. zeigt, wie gravierend diese sein können; sie zeigt aber auch, dass sich trotzdem die häufiger und stärker beteiligten Areale ausmachen lassen, ohne dabei eine realitätsferne Einheitlichkeit vorzutäuschen. Da allen Untersuchungen auch die Einzelwerte zur Verfügung stehen, denn anders könnten gar keine Mittelwerte getroffen werden, wäre eine stärkere Beachtung derselben vorteilhaft, besonders in Studien mit geringer Probandenzahl. 2.4.5.2. Stimuli und Aufgaben Das grundsätzliche Problem, die verschiedenen sprachlichen Ebenen wie Semantik oder Grammatik im Gehirn getrennt voneinander beobachten zu können, zeigt sich am deutlichsten in der Wahl der Stimuli und Aufgabenstellungen. Die Stimuluspräsentation kann bei Untersuchungen zur Sprachrezeption grundsätzlich auf zwei Arten geschehen: auditiv oder visuell 41 . Auditive Stimuluspräsentation verwendeten Dehaene et al. 1997, Hahne et al. 1998 und 2001a, Perani et al. 1996 und Rüschemeyer et al. 2005; alle anderen Experimente arbeiteten mit visuellen Stimuli. Die große Mehrzahl experimenteller Studien zum Sprachverstehen verwenden traditionell und immer noch visuelle Stimuli, was nicht zuletzt auch daran liegen mag, dass diese einfacher, schneller und kostengünstiger erstellt werden können. Dass Beobachtungen über Leseverstehen problemlos auf das Verstehen gesprochener Sprache übertragen werden können, bezweifeln mittlerweile viele Forscher. Hahne et al. nennen mehrere Punkte, in denen sich Sprache Hören von Lesen unterscheidet [Hahne et al. 1998, 8ff]: Während beim Lesen die Rate der Informationsaufnahme selbst bestimmt werden kann und Segmentionshilfen deutlich markiert sind (Lücken zwischen Wörtern, Kommata etc.), muss sich ein Hörer auf die Sprechgeschwindigkeit des Sprechers einlassen; und zum Beispiel Wortgrenzen sind im akustischen Signal oftmals nicht auszumachen. Gesprochene Wörter variieren in der Länge, der Amplitude, der Tonhöhe und bezüglich der Position und Dauer von Pausen. Dass aber solche prosodischen (und phonotaktischen) Parameter entscheidende Informationen über Struktur und Bedeutung eines Satzes haben können, zeigen allein schon die unter 2.4.3. kurz erwähnten Experimente mit prosodischer Variation. Darüber hinaus führen Hahne et al. an, dass die Fähigkeit zum Schreiben phylogenetisch zehntausende Jahre später entwickelt wurde, dass der Erstsprachenerwerb ontogenetisch einige Jahre ausschließlich auditiv erfolgt, 41 Eine dritte Möglichkeit wäre die Kombination aus beidem, die aber in den hier vorgestellten Studien nicht zur Anwendung kam. <?page no="89"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 87 dass Sprache auch im Erwachsenenalter wesentlich häufiger auditiv als visuell verarbeitet wird und dass neben Kindern und hirngeschädigten Patienten ohne Sprachfähigkeit auch Analphabeten in die Untersuchungen einbezogen werden können [ebd.]. Es muss noch ergänzt werden, dass sich natürliche gesprochene Sprache häufig, vor allem in Alltagssituationen, grundsätzlich in ihrer Struktur und Thematik, dem Grad der Redundanz und der Fehlerquote von geschriebener unterscheidet. In den vorgestellten Studien wurde allerdings nur gesprochene Schriftsprache verwendet. Angesichts dieser Fülle von Unterschieden zwischen beiden Modalitäten ist davon auszugehen, dass sich die Hirnaktivitäten zumindest teilweise voneinander unterscheiden. Unterschiede zwischen L1 und L2 betreffend stellen Rüschemeyer et al. fest, dass Hörverstehen weniger einheitliche Daten evoziere als Leseverstehen, was sie zu der Annahme führt, dass Lesen in der L2 in größerem Maße als Hören von den gleichen neuronalen Netzwerken wie in der L1 getragen werde [Rüschemeyer et al. 2005, 31]. All dieser Feststellungen eingedenk müsste konsequenterweise davon ausgegangen werden, dass sich sowohl die Bedeutungsherstellung während der Rezeption einer sprachlichen Äußerung, als auch die Bedeutung selbst für beide Modalitäten unterscheiden, und dieser Aussage müssten Verfechter lokalistischer wie interaktiver, symbolischer wie subsymbolischer Modelle zustimmen. Zahn et al. behaupten hingegen, dass auch bei visueller Präsentation eine auditive Umsetzung erfolge und daher bestimmte Parameter auditiver Sprachverarbeitung wie zum Beispiel Wortakzent auch bei visueller Präsentation erwartet werden müssen [Zahn et al. 2007, 57]. Vergleicht man die hier vorgestellten Studien hinsichtlich ihrer Präsentationsmodi, so stellt man abweichende Ergebnisse fest. Allerdings unterscheiden sich diese auch innerhalb der „auditiven Gruppe“, sodass es unsinnig wäre, die Art der Präsentation als Hauptursache zu postulieren. Diese kann natürlich trotzdem eine von vielen Ursachen für die widersprüchlichen Beobachtungen sein. Ein Blick auf eine Tabelle von Cabeza et al., die wesentlich mehr Studien (PET und fMRT) als in dieser Arbeit miteinander verglichen haben, zeigt, dass trotz auffälliger Varianzen innerhalb auditiver bzw. visueller Experimente stärkere Homogenität bei gleichem Präsentationsmodus besteht. Außerdem zeigt sich eine insgesamt stärkere Aktivierung bei visueller Verarbeitung [Cabeza et al. 2000, 13]. Friederici erläutert am Beispiel der LAN- und der ELAN-Komponenten, wie unterschiedlich deren Latenz bei i) auditiver oder visueller Präsentation und ii) visueller Präsentation unter Zeitdruck und mit guter Lesbarkeit oder visueller langsamer Wort-für-Wort-Präsentation bzw. schlechter Lesbarkeit gemessen werden kann [Friederici et al. 2004, 73, 76]. Die Unterscheidung der Präsentationsmodi lässt sich folglich noch differenzierter auffächern, wenn die prinzipiell unendlich vielen parasprachli- <?page no="90"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 88 chen Präsentationsnuancen bei auditiver Präsentation, unter denen der Versuchsleiter bestimmte auswählen muss, berücksichtigt werden. Beim Lesen ist nicht irrelevant, ob dem Probanden der komplette Stimulus auf einmal präsentiert wird (z.B. bei Luke et al. 2002) oder ein Satz Wort für Wort erscheint (z.B. bei Friederici et al. 2004), ob der Proband beliebig viel Zeit zur Verfügung hat oder unter Zeitdruck steht (mehr oder weniger alle Studien) u.v.m. Wort-für-Wort-Präsentation zum Beispiel macht die Untersuchung leichter operationalisierbar, wobei allerdings die Authentizität der Experimentsituation zusätzlich leidet. Neben dem Präsentationsmodus spielt außerdem die Komplexität der Stimuli eine Rolle. Es können Silben, Einzelwörter (Illes et al. 1999; Tatsuno et al. 2005), Phrasen (Luke et al. 2002), Sätze (Friederici et al. 2004; Hahne et al. 1998, 2001a; Newman et al. 2001; Rüschemeyer et al. 2005; Weber-Fox et al. 1996, 2003; Wartenburger et al. 2003) oder ganze Texte (Dehaene et al. 1997; Perani et al. 1996) zum Einsatz kommen. Es muss gefragt werden, inwieweit sich Untersuchungen zur Konjugation von Verben etwa mit solchen zur Satzsyntax vergleichen lassen. Auch die Komplexität von Sätzen kann sich signifikant auf die Hirnaktivitäten auswirken [Stowe et al. 2006, 307]. Ein Beispiel aus den vorgestellten Studien jedenfalls zeigt, dass das Experiment mit Verben [Tatsuno et al. 2005] geradezu gegensätzliche Ergebnisse innerhalb der L2-Gruppen berichtet als zum Beispiel ein Experiment mit Sätzen wie das von Wartenburger et al. 2003. De Groot kritisiert, dass bei Einzelwortstudien weitgehend nur mit konkreten Nomen gearbeitet wird [de Groot 2002, 33], denn er vermutet signifikante Abhängigkeiten sowohl zwischen der Art der lexikalisch-semantischen Repräsentation und der Wortart als auch zwischen Repräsentation und Wortfrequenz. Vor allem bei L2-Sprechern seien diese Zusammenhänge relevant und verändern sich stark in Abhängigkeit vom Kenntnisstand [ebd., 42f]. Wengenroth versucht, domänen- und kategorienabhängige Reaktionen bei akustischen Wortstimuli mittels EKP nachzuweisen und entdeckt dabei signifikante Unterschiede zumindest für Hyperonyme im Vergleich zu Hyponymen [Wengenroth 2005, 147ff]. Folglich ist nicht nur die Wortart, sondern auch die Bedeutung der Wörter verantwortlich für eventuelle Unterschiede in der kortikalen Verarbeitung. Weiss hebt die Tatsache hervor, dass die isolierte Verarbeitung von Wörtern ohne Kontext geringere neuronale Interaktion mit sich bringt [Weiss 2006, 43]. Dass kontextuell nicht eingebundener Lernstoff schlechter gespeichert wird, ist auch in der Didaktik keine neue Erkenntnis [Storch 1999, 38ff]. Wenn sich also der Grad der Kontexteinbindung auf die Qualität der neuronalen Verarbeitung auswirkt, muss er bei der Planung und bei der Auswertung von Experimenten berücksichtigt werden. Von den vorliegenden Studien arbeiteten alle außer der beiden Textverständnisstudien <?page no="91"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 89 von Perani et al. und Dehaene et al. mit wenig kontextbezogenen oder für die Probanden wenig relevanten Stimuli, d.h. mit zusammenhanglosen Wörtern, Phrasen oder Sätzen. Insofern lassen sie sich, was diesen Punkt betrifft, gut miteinander vergleichen, ob jedoch alle denkbaren semantischen Reaktionen beobachtet wurden, bleibt unklar. Textverständnis im Kontrast zur Ruhekondition (ohne Input) ist ein klassisches Beispiel für so genannte low-level control condition [Indefrey 2006, 280]. Die Entwicklung der letzten Jahre geht deutlich in Richtung spezifischerer Aufgabenstellungen, um die beobachteten Aktivitäten besser kontrollieren zu können, dabei allerdings Authentizität und Übertragbarkeit auf Situationen außerhalb des Labors einbüßend. Daher bestehen Forderungen, wieder auf komplexere Stimuli zurückzugreifen [Stowe 2006, 309]. Alle Experimente mit Phrasen oder Sätzen verglichen korrekte mit inkorrekten Stimuli. Die allzu schnelle Schlussfolgerung, dass die bei der Verarbeitung von Anomalien beobachteten Abweichungen die semantischen und grammatikalischen Gebiete oder Komponenten zu Tage treten lassen, muss mit Vorsicht behandelt werden. Gerade die Untersuchung mit L2-Sprechern zeigte zusätzliche Aktivitäten, die nicht ohne weiteres als semantische oder grammatikalische Verarbeitung interpretiert werden können [z.B. Rüschemeyer et al. 2005; s. 2.4.2.]. Die Auswahl der Stimuli geschieht häufig durch Übernahme (und leichte Variation ) aus früheren Experimenten, oder/ und indem auf Textkorpora Bezug genommen wird. Unter den hier vorgestellten Studien, die mit Sätzen arbeiteten, trifft das auf alle außer Luke et al. 2002 zu. Bei intensiver Recherche lassen sich die Bezugsstudien finden, in denen mehr oder weniger ausführlich erläutert wird, warum man sich zum Beispiel für Satztyp X bei semantischer und Satztyp Y bei grammatikalischer Verletzung entschieden hat. Meistens jedoch wird die Plausibilität der verwendeten Stimuli implizit vorausgesetzt [vgl. 2.4.5.4.]. Wartenburger et al. erwähnen, dass ihre Sätze zusätzlich von fünf deutschen L1-Sprechern überprüft und für die korrekten Konditionen nur diejenigen ausgewählt wurden, die mit 100%iger Übereinstimmung bewertet wurden [Wartenburger 2004, 29]. Ein weiterer Faktor, der die Ergebnisse maßgeblich beeinflusst, ist die Art der Aufgabenstellung. Bei Dehaene et al. und Perani et al. sollten die Probanden lediglich aufmerksam zuhören, Perani et al. stellten ihnen anschließend Verständnisfragen, deren Beantwortung aber für die Messung irrelevant waren. Illes et al. verlangten semantische Entscheidungen über Konkretheit oder Abstraktheit der präsentierten Wörter und bei Tatsuno et al. mussten Verben memoriert und verwandte Formen erkannt werden. Alle übrigen Studien verlangten von den Probanden Grammatikalitätsurteile bzw. Urteile über semantische Akzeptanz, welche i.d.R. durch Knopfdruck und in einer vorgegebenen Zeitspanne zu treffen waren. <?page no="92"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 90 Wartenburger, die ihre Ergebnisse mit expliziten und impliziten Verarbeitungsprozessen in Verbindung bringt, räumt selbst ein, dass Grammatikalitätsurteile nicht geeignet seien, um eben diesen Grad an unterschiedlichen Verarbeitungsprozessen zu bestimmen. Die Produktion langer Sätze in der L2 sei ein besseres Maß der Bestimmung, jedoch mangele es bisher an gesicherten experimentellen Paradigmen [Wartenburger 2006, 64]. Auch DeKeyser und Norris et al. beklagen die Omnipräsenz von Studien, die mit Satzbeurteilungen arbeiten und sprechen sich für frei geäußerte Diskurse als Untersuchungsgegenstand aus (wohl wissend, dass diese mit der verfügbaren Technik nicht zuverlässig gemessen werden können) [DeKeyser 2005, 336; Norris et al. 2005, 733]. Grammatikalitätsurteile werden, obwohl sie häufig zur Anwendung kommen, von vielen Seiten kritisiert. Ellis verweist auf die vielfach bestätigte Instabilität und Unzuverlässigkeit solcher Urteile sogar bei L1-Sprechern [Ellis, N. 2002, 161]. Indefrey zieht aus einer Vergleichsstudie über hämodynamische Experimente (hauptsächlich PET und fMRT) den Schluss, dass erhöhte syntaktische L2-Verarbeitung überhaupt nur dann zu beobachten sei, wenn von den Probanden metasprachliche Urteile verlangt werden [Indefrey 2006, 299]. Illes et al. räumen die Möglichkeit, dass die Art ihrer Aufgabenstellung die Verarbeitung der Probanden maßgeblich beeinflusst haben könnte, explizit ein [Illes et al. 1999, 357]. Auch andere, jedoch bei weitem nicht alle Autoren, tun das, um Inhomogenitäten in ihren oder Unterschiede zu anderen Ergebnissen zu erklären. Ein letzter wesentlicher Aspekt in der Diskussion um Stimuli und Aufgaben ist die Wahl der Kontrollaufgaben. Die Rolle von Kontrollaufgaben ist nicht zu unterschätzen, da diese den Hintergrund bilden, vor dem die Forscher die für sie relevanten Kontraste auszumachen suchen 42 . Mit anderen Worten, es muss sichergestellt werden, dass die Kontrollaufgabe gerade nicht die Art von Aktivierung evoziert, die im Zentrum des Interesses steht [vgl. Newman et al. 2001, 343ff]. Illes et al. verwendeten Urteile über die Art des Schriftgrades präsentierter Wörter als Kontrast zu semantischen Entscheidungen. Tatsuno et al. kombinierten diese Art der Kontrolle zusätzlich mit Pseudowörtern. Bei den Experimenten, die mit korrekten und inkorrekten Stimuli arbeiteten, bildet die korrekte Kondition sozusagen die Kontrollmessung, wobei natürlich nicht davon ausgegangen wird, dass bei korrekter Stimulusverarbeitung keine semantischen bzw. grammatikalischen Prozesse stattfinden. Auf die Zweifel, die an der Annahme bestehen, dass die Verarbeitung inkorrekter Stimuli die gewünschten Aktivitäten verstärkt zeigt, wurde bereits eingegangen [s.o.]. 42 Indefrey beispielsweise stellt in einer Meta-Studie fest, dass bei nicht syntaktischen Kontrollbedingungen dreimal so viele aktivierte Gebiete berichtet wurden wie bei syntaktischen [Indefrey 2003, 38]. <?page no="93"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 91 Unter den vorgestellten Studien arbeitete die Mehrzahl mit gleichen Stimuli, nämlich korrekten und inkorrekten Sätzen. Dadurch ergibt sich in diesem Punkt eine gute Vergleichbarkeit, auch über die Grenzen der verschiedenen Methoden hinweg (z.B. Hahne et al. - Rüschemeyer et al.). Wenn allerdings Zweifel an den Stimuli an sich bestehen, bleiben diese natürlich auch beim Transfer auf andere Experimente bestehen. Doch selbst wenn diese Zweifel nicht bestünden, bliebe das Ergebnis des Vergleichs das gleiche - inhomogen. Völlig verschiedenartige Stimuli hingegen bringen deutlich stärkere Unterschiede mit sich (Tatsuno et al. - Wartenburger et al.), sodass doch dem ersten Vergleich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. 2.4.5.3. Probanden und Sprachen Nach wie vor zählen in Untersuchungen die Mittelwerte einzelner gerade im Interessenfokus liegender Parameter über Gruppen von Probanden hinweg. Unverändert werden dabei „Einsprachige“ gegen „Zweisprachige“ oder „Frühlerner“ gegen „Spätlerner“ gestellt. Das große Spektrum der Normalität mit der Vielfalt individueller Lernbiographien von wie immer balancierten oder unausgeglichenen Mehrsprachigkeiten wird damit eher eingeebnet. [List 2006, 21 (Hervorhebungen im Original)] Mit diesem sehr kritischen, aber berechtigten Zitat von List, das den Aspekt der Datenanalyse des vorigen und wesentliche Punkte des nun folgenden Abschnitts aufgreift, soll die Diskussion um Probanden und Sprachen eingeleitet werden. Die Zahl der Probanden variiert in den vorgestellten Studien erheblich. Friederici et al. untersuchten 30 deutsche L1-Sprecher. Eine so hohe Probandenzahl ist eher die Ausnahme, die meisten Untersuchungen arbeiteten mit weit weniger Teilnehmern. Weber-Fox et al. (1996) standen 61 chinesische L1-Sprecher zur Verfügung, die in fünf Gruppen geteilt wurden, was aber immer noch eine Gruppenstärke von mehr als 10 Probanden bedeutete. Ähnliche Gruppenstärken ergaben sich bei Tatsuno et al., Wartenburger et al. und Hahne et al. (2001a). Teilnehmerzahlen zwischen 10 und 20 (pro Gruppe) sind die Regel. Dehaene et al., Illes et al., Luke et al. und Perani et al. hatten jedoch noch kleinere Zahlen zwischen sieben und neun aufzuweisen. Es bedarf keiner Diskussion, dass für empirische Querschnittsstudien gilt: Je mehr Probanden, desto repräsentativer das Ergebnis. Diese Aussage gilt umso mehr, wenn man die bereits mehrfach erwähnten individuellen Unterschiede, vor allem bei L2-Sprechern, in Betracht zieht. Dass hier durchweg sehr geringe Probandenzahlen vorliegen (denn auch 30 sind kaum repräsentativ), ist in erster Linie eine Frage des finanziellen und organisatorischen Aufwandes. Solange Untersuchungen mit elektrophysiologischen und bildgebenden Verfahren so aufwendig und teuer bleiben, wie sie es im Moment sind, sind realistisch betrachtet keine <?page no="94"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 92 höheren Probandenzahlen zu erwarten. Dehaene et al. und mit Einschränkungen auch Illes et al. zeigen jedoch, dass Durchschnittswerte gar nicht unbedingt die beste Datenanalyse darstellen, zumal wenn die Teilnehmerzahl ohnehin verschwindend gering ist [vgl. 2.4.4.]. Diese Ansicht wird unterstützt von Stowe [Stowe 2006, 308f], Isemonger [Isemonger 2007, 110] u.a. Ein Punkt, der möglicherweise viel mehr ins Gewicht fällt als die allgemein geringe Probandenzahl, sind Auswahl und Prüfung der Probanden. Es ist bereits auffällig, dass die wenigsten Studien der Beschreibung ihrer Teilnehmer mehr als ein paar Zeilen zumessen, während die Darstellung der technischen Details und der Datenanalyse häufig Spalten oder ganze Seiten füllt. Nun heißt das noch nicht, dass Auswahl und Prüfung von Experimentteilnehmern völlig unüberlegt geschehen, aber es ist dem allgemeinen Erkenntnisgewinn sehr abträglich, wenn erst persönlicher Kontakt zu den jeweiligen Wissenschaftlern aufgenommen werden muss, um zum Beispiel herauszufinden, wie viele Fremdsprachen die Probanden beherrschen oder auf welche Weise sie in leistungsstarke und weniger leistungsstarke Gruppen eingeteilt wurden. Friederici et al. und Hahne et al. (1998) informieren lediglich über Anzahl, Geschlechtsverhältnis, Altersdurchschnitt, Sehkraft bzw. Hörvermögen und Händigkeit ihrer Probanden. Aufgrund eigener Angaben der Probanden wurden außerdem (Sprach-)entwicklungsstörungen und Hirnschädigungen ausgeschlossen. Die Händigkeit wurde dabei zum Teil vergleichsweise aufwendig überprüft, etwa mit Hilfe eines standardisierten Tests [Friederici et al. 2003, Weber-Fox et al. 1996 u.a.]. Allein die Erwähnung all dieser Fakten zeigt deutlich, dass der Auswahl der Probanden durchaus zahlreiche Überlegungen vorangegangen sein müssen. Bei den drei genannten Studien handelt es sich außerdem um solche, die nur mit L1-Sprechern arbeiteten, und auf den ersten Blick mag es scheinen, dass viel mehr Auswahlkriterien auch nicht nötig sind. Um eventuelle Leistungsunterschiede auch zwischen L1-Sprechern nicht zu übersehen, wären jedoch außerdem eine Berücksichtigung der sozialen Herkunft und der Erstsprachenbiografie, sowie Sprachleistungstests denkbar. Weber-Fox et al. (2003) wendeten einen solchen Test an, da sie leistungsstarke und normale L1-Sprecher miteinander vergleichen wollten. Dieser standardisierte Test (TOAL-3) umfasste vier Subtests, die rezeptive und produktive Fähigkeiten überprüften, und über die Ergebnisse wird ausführlich berichtet [Weber-Fox et al. 2003, 233f]. Allein diese Testergebnisse belegen, dass deutliche Unterschiede schon zwischen L1-Sprechern bestehen können, die teilweise auch von den EKP-Scans bestätigt wurden [s. 2.4.2./ 3.]. 43 43 Eine ausführliche Überprüfung dieses oder anderer Sprachleistungstests wurde im Rahmen dieser Arbeit nicht vorgenommen. Die Schwierigkeit angemessener Sprach- <?page no="95"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 93 Noch gravierender wirkt sich die Vernachlässigung der Sprachleistungsniveaus bzw. deren unterschiedlicher Ausprägungen bei L2-Sprechern aus. Es gilt zwar mittlerweile als gesichert, dass das Sprachleistungsniveau erheblichen Einfluss auf die Art der Verarbeitung hat [s. 2.2.2.], und viele Untersuchungen fokussieren daher auch auf diesen Aspekt; jedoch ist dessen zuverlässige Ermittlung schwierig. Die Mehrzahl der vorgestellten Studien mit L2-Sprechern muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie sich fast ausschließlich auf Selbsteinschätzungen der Probanden verließ bzw. deren per Fragebogen ermittelte Sprachbiografie zur Beurteilung des Kenntnisstandes heranzog. Rüschemeyer et al. mussten aus diesem Grund im Nachhinein Daten von Probanden, die zu viele Fehler zeigten, ausschließen. Als positiv können die Einzelfallbeschreibungen und die unterschiedlichen Vergleichsparadigmen bei Illes et al. sowie die aufwendigen multimodalen Auswahlverfahren bei Weber-Fox et al. (1996) gewertet werden. Rüschemeyer et al. bemühten sich um höhere Variablenkonstanz, indem sie für ihre Vergleichsexperimente dieselben Probanden wie aus den früheren L1-Experimenten anforderten. Eine weitere unerlässliche Information ist die über Art und Intensität des L2-Kontakts (exposure). Meistens wird darunter nur die Anzahl der Jahre, die ein L2-Lerner die Fremdsprache lernt, verstanden. Dass dabei möglicherweise signifikante Unterschiede übergangen werden, steht außer Frage, denn die Fremdsprache wird im Kopf ihres Sprechers einen anderen Stellenwert besitzen, wenn dieser Chinese ist und seit vielen Jahren in den USA lebt (z.B. bei Weber-Fox et al. (1996)), oder wenn er ein 19-jähriger Japaner ist, der seit einigen Jahren Englischunterricht in der Schule genießt (z.B. bei Tatsuno et al.). Diese offensichtlichen Unterschiede als nicht erklärungsbedürftig abzutun, wäre jedoch falsch, denn wie die Ergebnisse der Probandenbefragung von Weber-Fox et al. zeigen, können der Anteil und der situative Kontext der L2 durchaus stark variieren [Weber-Fox et al. 1996, 233f]; und dass vielleicht einige der japanischen Schüler Englisch Sprechende Freunde oder Verwandte haben, oder täglich englischsprachiges Fernsehen schauen, ist nicht abwegig. Viele Vermutungen können natürlich aufgrund der gegebenen Informationen getroffen werden, woraus sich auch ein wahrscheinliches Bild über die vorherrschende Erwerbsform ergibt. Bei dem Beispiel bleibend ist anzunehmen, dass die chinesischen Probanden Englisch vor allem, wenn nicht ausschließlich, ungesteuert erwerben, hier also eigentlich von Zweitsprache die Rede sein muss, während die japanischen Schüler vorrangig gesteuertem, explizitem (Frontal- (? ))unterricht ausgesetzt sein werden. Es zeigt sich, dass hier aus fremdsprachendidaktischer Sicht eine Menge an zusätzlichen Informationen standserhebung wird aber u.a. in folgenden Titeln diskutiert: Bachmann 1995; Douglas 2000. <?page no="96"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 94 denkbar wäre, die eine präzisere, wenn auch aufwendigere, Probandenauswahl ermöglichen würde. Auf zahlreiche andere Probandenvariablen, die hier nicht besprochen wurden, die aber wenn möglich auch kontrolliert werden müssen, wie zum Beispiel Motivation, Gedächtnisleistung oder Verhaltensänderung unter Stress, wird von Norris et al. hingewiesen [Norris et al. 2005, 734]. Der Frage, inwiefern sich die Erstsprache auf die Verarbeitung sowohl von der Erstals auch der Fremdsprache auswirken könnte, wurde in zwei Studien nachgegangen, mit kontroversen Ergebnissen. Während Rüschemeyer et al. zu dem Schluss kommen, dass unterschiedliche Erstsprachen (Deutsch und Russisch) prinzipiell gleich verarbeitet werden, begründen Luke et al. die von ihnen festgestellten Verarbeitungsunterschiede in L1 und L2 gerade mit den Eigenschaften und dem Einfluss der L1 (Mandarin). Die Frage bleibt offen, schon allein weil beiden Studien sich stark voneinander unterscheidende Sprachen zugrunde liegen. Hier entsteht Konkurrenz zwischen zwei berechtigten Ansprüchen, nämlich i) die Variable Sprache möglichst konstant zu halten, um Studien besser miteinander vergleichen zu können und ii) voreilige Schlüsse durch zu einseitige Sprachenwahl zu vermeiden. Auch Anzahl und Natur weiterer Fremdbzw. Zweitsprachen können relevant sein. Es steht fest, dass ein Lerner, der bereits mehrere Fremdoder Zweitsprachen erworben hat, an eine weitere Fremdsprache anders herangeht, häufig erfolgreicher ist im Erwerb [vgl. Apeltauer 1997, 89f]. Es wäre also, besonders im Hinblick darauf, dass der L2-Erwerb auch die L1- Verarbeitung beeinflusst [Abutalebi et al. 2007, 253], durchaus möglich, dass die Verarbeitung der Fremdsprache von Anzahl und Art weiterer Fremdsprachen abhängig ist. Die einzige Studie unter den hier ausgewählten, die zu der Frage nach weiteren Fremdsprachen zumindest Auskunft gibt, ist die von Illes et al. Ein interessantes Detail in der Beschreibung der Probanden soll noch erwähnt werden - die Tatsache, dass fast alle Studien das Geschlechtsverhältnis ihrer Teilnehmer verraten, ohne auch nur einmal geschlechtsspezifische Messungen durchzuführen. Ullman verweist auf östrogenabhängige Varianz zwischen Männern und Frauen in der Art der Speicherung von Wortformen (deklaratives vs. prozedurales Gedächtnis) [Ullman 2004, 256]. Er ist nicht der Einzige, der von sprachspezifischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern ausgeht 44 . Diese lange und intensive Debatte wird von den hier ausgewerteten Studien nicht angesprochen, implizit werden aber geschlechtsabhängige Unterschiede in der Sprachverarbeitung offen- 44 vgl. Kimura 1994 (genetisch-deterministischer Standpunkt). Für einen unterhaltsamen, auf Lernunterschiede fokussierenden Vergleich zwischen Jungen und Mädchen s.a. Birkenbihl 2005. <?page no="97"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 95 bar geleugnet, denn eine nach Geschlechtern getrennte Messung wäre durchaus vorstellbar. Noch bevor auf den schwieriger greifbaren Einfluss von Modellen und Vorannahmen auf die Ergebnisse und deren Interpretation eingegangen worden ist, zeigt sich bereits an dieser Stelle, dass jede der diskutierten Studien über eine Reihe von Variablen verfügt, die mit keiner der anderen Studien übereinstimmt. Hinter jeder dieser Variablen verbergen sich aber mögliche Ursachen für Abweichungen in den Ergebnissen, wobei angesichts der hohen Varianz keine Variable eindeutig mit den Ergebnissen korreliert. Demzufolge scheint es unbedingt geboten, so viele Parameter wie möglich konstant zu halten, um Studien besser vergleichbar zu machen. Andererseits ist breite Varianz wünschenswert, um nicht nur Ausschnitte der möglichen Vielfalt in der menschlichen Sprachverarbeitung aufzudecken. Die vorgestellte Studienauswahl zu lexikalisch-semantischen und grammatikalischen Verarbeitungsprozessen zeigt eine relativ hohe Varianz der Parameter. Trotz der scheinbaren Flut von Untersuchungen zur Sprachverarbeitung wäre es dennoch schwierig gewesen, eine andere Auswahl mit hoher Variablenkonstanz und somit zuverlässigerer Vergleichbarkeit zu treffen. 2.4.5.4. Modelle und Vorannahmen Erheblich eingeschränkte Sichtfelder der Wissenschaftler bestimmen das Bild über den Menschen, über den wissenschaftliche Aussagen getroffen werden sollen. [Schwerdtfeger 2000, 282] Diese sehr skeptische Aussage bestätigt sich auch für die vorliegende Auswertung, denn welche Modelle und Vorstellungen über Sprachverarbeitung die verschiedenen Hirnforscher favorisieren, wirkt sich direkt auf die Gestaltung des Experiments und die Interpretation der Ergebnisse aus. Die häufig impliziten Vorannahmen spiegeln sich in den Experimentdetails, die in den vorigen Abschnitten zur Sprache kamen. Friederici et al. und Hahne et al. gehen von einem linearen und modularen Syntax-First-Modell des Sprachverstehens aus, das stark durch Chomsky und Fodor [vgl. z.B. Chomsky 1976; Fodor, J.A. 1983] geprägt ist und finden dieses in ihren Experimenten bestätigt. Das liegt zum Teil auch daran, dass sie Stimulusmaterial verwenden, das entsprechend ihrem Modell semantische und syntaktische Verletzungen enthält. Wären sie nicht davon überzeugt, dass ein Satz wie Die Gans wurde im gefüttert eine syntaktische, aber keine semantische Verletzung enthält, würden sie sich für einen anderen Stimulus entschieden haben. Eher kognitiv orientierte Linguisten würden bei der Analyse eines solchen Satzes zumindest die Beteiligung auch semantischer Verarbeitungsprozesse erwarten [z.B. Lakoff 1994, 289ff]. Der freilich stark vereinfachten aber dennoch in dieser <?page no="98"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 96 Form geäußerten Definition von grammatikalischen Analyseprozessen von Friederici, „Who is doing what to whom? “ [Friederici et al. 2003, 8], könnte man die Behauptung entgegenstellen, dass allein diese Frage schon semantische Aspekte enthalte. Verfechter interaktiver Modelle behaupten, dass es (zumindest in der L1) für diese Analyseprozesse keines zeitlich vorgeschalteten grammatischen Moduls bedürfe [z.B. MacDonald 1997, 121ff], strikte Konnektionisten würden eine Semantik/ Grammatik-Dichotomie grundsätzlich ablehnen [vgl. Ellis, N. 2002, 165]. Hier kommt natürlich auch wieder die Grundsatzdiskussion darüber, ob sich verschiedene kortikale Verarbeitungsprozesse qualitativ unterscheiden, ob von Symbolverarbeitung ausgegangen werden muss, oder ob alles nur eine Frage der Emergenz subsymbolischer Prozesse ist, ins Spiel, auf die bereits unter 1.1. und 1.3.6.4. eingegangen wurde. Lineare Modelle der Sprachverarbeitung sind mit Vorsicht zu behandeln, widersprechen sie doch in vielen Aspekten dem, was gerade Neurowissenschaftler über die Funktionsweise des Gehirns herausgefunden haben [vgl. Multhaup 2002, 87ff]. Insofern bietet Friedericis Sprachverständnismodell [s. Anhang] eine gute Grundlage zur weiteren Diskussion, auch weil es zeitliche und topographische Aspekte vereint, soll aber nicht unkritisch als Konsens der Neurowissenschaften über die Vorgänge während der Sprachverarbeitung verstanden werden. Durch die Übernahme eines Stimulustypus´ werden indirekt auch die entsprechenden Modellannahmen übernommen. Da sehr viele Studien mit Verletzungsparadigmen arbeiten, schränkt das auch die Vielfalt der angesichts einer unüberschaubaren Studienanzahl zu erwartenden Ergebnisse ein. Interessanterweise variieren diese trotzdem häufig, was auf die Einflussnahme anderer Parameter hindeutet. In einer mehr oder weniger deutlichen Ausprägung berichten aber all diese Studien über semantik- und grammatikspezifische Areale, sowie über relative Homogenität für Semantik und Unterschiede für Grammatik beim Vergleich von L1-Sprechern mit L2-Sprechern. Unter den vorgestellten Studien sind auch Newman et al., Rüschemeyer et al. und Wartenburger et al. in diese Reihe zu stellen, mit dem Unterschied, dass sie die Serialität der Verarbeitung nicht direkt bestätigen können, da sie mit der zeitlich unspezifischeren fMRT arbeiten. Dass modulare Modelle der Sprachverarbeitung dem größten Teil der Untersuchungen zugrunde liegen, verwundert angesichts des enormen Einflusses der von Chomsky ausgehenden Entwicklung in der Theoriebildung nicht. Die übermächtige und oftmals unbewusste Einflussnahme solcher Modelle auf viele Neurowissenschaftler bestätigen und beklagen manche Autoren auch für die Aphasiologie [Bates et al. 1997, 546f; Peng 2005, 29]. Ullman, der das deklarative/ prozedurale Modell [vgl. 2.3.] entwirft, zu dem auch Wartenburger ihre Ergebnisse in Beziehung setzt, sieht darin einen Brückenschlag zwischen dualen und konnektionistischen Modellen. <?page no="99"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 97 Während es den einen die Domänenspezifik beider Verarbeitungsmechanismen abspricht, widerspricht es den anderen darin, dass alles mittels assoziativen Gedächtnisspeichers verarbeitet werden könne [Ullman 2001, 37]. Wartenburger sieht in ihren Ergebnissen aber sowohl die Domänenspezifik angeborener Module, wie sie Chomsky postuliert, als auch Ullmans Modell bestätigt [Wartenburger 2006, 63ff]. Es wurde jedoch keiner der beiden Fragen in Wartenburgers Untersuchungen explizit nachgegangen, was auf die starke und häufig nicht hinterfragte Vorprägung durch etablierte Modelle hindeutet. Es ist unmöglich, erhobene Daten über Sprachverarbeitung ohne Modelle oder Vorannahmen sinnvoll zu beschreiben, zum einen, weil sonst kein Experiment geplant werden könnte, zum anderen, weil es keine Hirnforscher ohne Voreinstellungen gibt. Hier wird zum wiederholten Male das Dilemma des selbstreferentiellen Untersuchungsgegenstandes Gehirn deutlich [vgl. 1.1.]. Es kann somit bestenfalls die Forderung nach Bewusstmachung der prägenden Modelle und Vorannahmen und deren Überprüfung formuliert werden, wobei klar ist, dass sich eine ausführliche Reflexion darüber in jeder Studie aus pragmatischen Gründen verbietet. „Measurement is at once a data- and theory-driven undertaking“, stellt Messick bereits 1989 klar [Messick 1989, 75]. Norris et al. entwickeln deshalb ein zweiphasiges Modell des Messverfahrens, indem der konzeptuelle Teil, der sich mit den in den letzten Abschnitten behandelten Fragen im Vorhinein auseinander setzt, genauso viel Raum einnimmt wie der prozedurale Teil, der Messprozess im engeren Sinne [s. Anhang]. In der übergeordneten letzten und gleichzeitig ersten Stufe des Modells, der Interpretation, soll eine sorgfältige Überprüfung der formulierten Vorannahmen unternommen werden (construct validation), da die Autoren in vielen Studien Fehler entdecken, die auf dem Missverhältnis von Vorannahmen und Daten basieren, wie zum Beispiel construct underrepresentation oder holistic fallacy [Norris et al. 2005, 722, 732ff]. Forderungen, die in die gleiche Richtung weisen, finden sich auch bei Isemonger oder Lewandowsky [Isemonger 2007, 102, 110f; Lewandowsky 2006, 442ff]. Ergeben sich also einerseits Komplikationen aus den verschiedenen Ansichten über Sprachverarbeitung an sich, so gilt das Gleiche für die Definition der einzelnen sprachlichen Teilbereiche. Rüschemeyer sieht in einem Überblicksartikel eine Ursache für die Verschiedenartigkeit der Ergebnisse in den ebenso verschiedenartigen bzw. ungenauen Definitionen von Syntax [Rüschemeyer 2006, 89, 97]. Von den vorgestellten Studien behaupten sechs explizit, syntaktische Prozesse zu untersuchen, und sie tun das anhand von Phrasenstrukturverletzungen. Bei genauerem Hinsehen unterscheiden sich diese folgendermaßen: Hahne et al. und Rüschemeyer et al. <?page no="100"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 98 arbeiten mit Wortauslassungen, Friederici et al. (2004) 45 , Luke et al., Newman et al. und Weber-Fox et al. (1996) verändern lediglich die Wortstellung. Wartenburger et al. verwenden den gleichen Typ der Wortauslassungen wie Hahne et al. und Rüschemeyer et al., sprechen dabei aber etwas allgemeiner immer nur von grammatikalischen Prozessen. Tatsuno et al. und Weber-Fox et al. (2003) versuchen, die kategoriale Ebene so niedrig wie möglich zu halten und sprechen nur von verb identification und verb matching bzw. open und closed class words. Eine ähnliche Verwirrung zeigt sich für die Verwendung der Begriffe Lexik und Semantik. Obwohl die Trennung beider Begriffe schwierig ist, ist es nicht egal, welcher Terminus verwendet wird, denn Semantik kann sich auch auf ganze Sätze beziehen, und Prozesse des lexikalischen Zugriffs können unter Ausblendung des Bedeutungsaspekts untersucht werden [vgl. 1.3.6.2.]. Wartenburger gibt in einer kurzen Erörterung über die Natur der Sprache zu verstehen, dass für sie Semantik und das mentale Lexikon gleichbedeutend sind [Wartenburger 2004, 2f]. Dennoch gilt für die von ihr, sowie von Hahne et al., Rüschemeyer et al. und Weber-Fox et al. (2003) verwendeten Stimuli: Obwohl ein einzelnes Wort über semantische Korrektheit entscheidet, kann dies nur auf der Ebene des Satzverständnisses geschehen. Illes et al., die mit Einzelwortstimuli arbeiten, sind sich ganz sicher, ausschließlich semantische Aspekte zu beobachten. Bei Untersuchungen zu Imperfektformen von Verben, wie die von Pinker, ist bei irregulären Formen von lexikalischen Prozessen die Rede. Tatsuno et al., die ebenfalls mit regulären und irregulären Verbformen arbeiteten, halten eine lexikalisch-semantische Deutung für unwahrscheinlich. Es wird deutlich, dass viele der unter 1.3.6. diskutierten Schwierigkeiten, überhaupt geeignete Konzepte für Semantik und Grammatik, für Lexik und Syntax zu finden, bei der Auswertung von einzelnen Studien mit doppelter Kraft zurückschlagen, denn nun muss zunächst in mühsamer Analyse herausgefiltert werden, mit welchen Vorstellungen man es zu tun hat. Dabei muss als positiv bewertet werden, dass einige der zitierten Wissenschaftler ihre eigenen Vorannahmen und Modelle zumindest in manchen Punkten auf die konkrete Untersuchung bezogen hinterfragen und zur Diskussion stellen [Hahne et al. 1998, 16ff; Wartenburger 2004, 2ff u.a.]. Selbstverständlich wirken auch die Studien selbst auf die Modellbildung ein. Bereits bestehende Modelle, auf die die Ergebnisse der hier vorgestellten Studien referieren und die von diesen bekräftigt oder herausgefordert werden, sind zum Beispiel Modelle der lexikalischen Repräsentation. De Groot und Kroll et al. diskutieren mehrere Varianten des Drei-Komponenten-Modells, das zu erklären versucht, wie Repräsentation 45 Friederici et al. verändern die Wortstellung auf zwei Weisen, um dabei eine Phrasenbzw. eine Argumentstrukturverletzung zu bewirken. Hier wird die Prägung des Experiments durch die generative Grammatik deutlich greifbar. <?page no="101"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 99 von Form und Bedeutung (und anderem Wissen), sowie Abruf im bilingualen Lexikon funktionieren könnten [de Groot 2002, 29ff; Kroll et al. 2005, 104ff]. Vor allem Illes et al. oder Pinker et al. geben zumindest implizit solchen Modellen Auftrieb. Grammatikmodelle betreffend referieren alle Studien, die sich mit Grammatik bzw. Syntax beschäftigen, mehr oder weniger stark auf modulare Modelle. Grammatik wird implizit als hierarchisch organisierte, regelbasierte Strukturanalyse verstanden, wobei häufige Hinweise auf den dynamischen Charakter von Sprachverarbeitungsprozessen, die unter anderem stark vom Leistungsniveau beeinflusst werden, auch Ansatzpunkte für interaktionistische, evolutionstheoretische und/ oder konnektionistische Modelle liefern. Dennoch, den Trend innerhalb der linguistischen Theoriebildung, traditionell grammatische Phänomene stärker lexikalisch zu betrachten [Bates et al. 1997, 507; Ellis, N. 2002, 157], bestätigen die hier diskutierten Studien nicht. Generell kann festgehalten werden, dass neben Neurobiologen, -psychologen und Psycholinguisten, die die Mehrheit derjenigen, die sprachliche Prozesse im Gehirn untersuchen, bilden, eine breitere Beteiligung aller für Fragen der Kognition zuständigen Berufsfelder denkbar und wünschenswert wäre. Auch die Tatsache, dass fast ausschließlich westliche Forscher (und einige, westlich geprägte, Forscher aus Asien) das Feld beherrschen, dürfte sich ebenfalls auf Dateninterpretation und Theoriebildung auswirken. 2.4.6. Offene Fragen und Forschungsbedarf Wie in den letzten Abschnitten deutlich geworden ist, sind eine genauere Eingrenzung und Kontrolle vieler die Experimentsituation determinierender Parameter dringend notwendig, um Studien zur Sprachverarbeitung besser vergleichbar, vor allem aber aussagekräftiger zu machen. Bei genauerer Auswertung treten erhebliche Vorbehalte und Einschränkungen in Bezug auf die Ergebnisse ins Licht, deren Missachtung dem Erkenntnisgewinn nicht dienlich ist. Es fallen außerdem zahlreiche Abweichungen zwischen den Ergebnissen auf, die, sofern man nicht glaubt, dass Sprache in jedem Individuum beliebig verarbeitet wird, zwangsläufig zu der Schlussfolgerung führen, dass die Datenerhebung und -auswertung von Störfaktoren begleitet sein muss. Diese Beobachtungen treffen nicht nur auf die hier untersuchten Studien zu, sondern werden von zahlreichen Metastudien bestätigt [DeKeyser 2005; Indefrey 2006; Isemonger 2007; List 2006]. Unter den Parametern, auf die in dieser Arbeit näher eingegangen wurde, sind die Punkte Aufgaben, Stimuli, Probanden und Sprachen die, zu deren besseren Verständnis und zu deren methodisch sinnvoller Überprüfung von Seiten der DaF/ DaZ, aber natürlich auch anderer benachbarter Disziplinen, ein erheblicher Beitrag geleistet werden kann. <?page no="102"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 100 Natürlich bleibt die Hoffnung auf technischen Fortschritt, der Verfahren ermöglicht, die die angesprochenen Nachteile überwinden und möglicherweise bisher unbeobachtete und daher auch unbeachtete Dinge zum Vorschein bringen, bestehen 46 . Bestehen bleiben trotzdem auch die nicht technischen, sondern eher erkenntnistheoretischen Hürden auf dem Weg von der Experimentplanung bis zur Dateninterpretation. Trotz dieser recht kritisch ausfallenden Einschätzung der Forschungslage soll keineswegs der Eindruck entstehen, dass überhaupt keine Ergebnisse berichtet werden können. Für semantische Verarbeitung auf Wort- und auf Satzebene stellen alle Studien mit bildgebenden Verfahren eine Beteiligung der typischen „Sprachzentren“ Broca- und Wernicke-Areal (linksseitige inferiore frontale und temporo-parietale Regionen) für die L1 fest, wobei die frontalen Regionen im Verletzungsparadigma häufig stärker ansprechen. Gerade die Tatsache, dass eine mehr oder weniger starke Beteiligung dieser Regionen trotz unterschiedlicher Stimuli, Sprachen usw. berichtet wird, macht die Beobachtung glaubhaft. Dabei darf nicht vergessen werden, dass jede Untersuchung auch Aktivitäten in anderen Bereichen feststellt; diese stimmen allerdings weniger deutlich überein. Elektrophysiologische Studien berichten ebenfalls eine zuverlässige Komponente, die für lexikalisch-semantische Verarbeitung stehen könnte - die N400. Trotz leichter Varianzen schon unter L1-Sprechern [Weber-Fox et al. 2003], wird diese Komponente erneut als sehr stabil bestätigt. Eine Verbindung zwischen Aktivität im IFG und der N400-Komponente wäre nahe liegend und wird angenommen [vgl. Friederici et al. 2003; s. Anh.]. Da beiden Beobachtungen jeweils entweder die zeitlich oder die topographisch exakte Bestimmung fehlt, muss diese Aussage allerdings mit Vorsicht behandelt werden. Eine weitere signifikante Übereinstimmung liefert der Vergleich mit der Fremd- oder Zweitsprache in allen Untersuchungen. Leichte Abweichungen außer Acht lassend ließe sich diese auf die folgende Aussage verkürzen: Lexikalisch-semantische Verarbeitung in Erst- und Fremdsprache verlaufen nahezu identisch. Die Abweichungen betreffen die häufig beobachtete stärkere Aktivität im IFG und/ oder die flächenmäßig größere Beteiligung (temporo-parietal, auch rechtshemisphärisch 47 ); die N400 tritt 46 Ein hoch aktuelles, viel versprechendes Forschungsvorhaben ist das Connectome- Projekt, das sich zum Ziel gesetzt hat, jede einzelne Synapsenverbindung im Hirn zu entdecken und zu simulieren und damit eine noch nie da gewesene detaillierte Hirndarstellung zu ermöglichen [vgl. http: / / www.wired.com/ science/ discoveries/ news/ 2008/ 1/ connectomics oder http: / / iic.harvard.edu/ projects/ connectome.html (03.03.2008)]. 47 Fabbro sieht in dieser Aktivität ein Zeichen für Kompensation (impliziter) sprachlicher Defizite durch zusätzliche pragmatische Strategien [Fabbro 2002, 214f]. Diese Deutung scheint für die vorgestellten Untersuchungen allerdings wenig plausibel, da <?page no="103"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 101 oftmals leicht verzögert auf. Die Ähnlichkeit zwischen L1- und L2-Verarbeitung nimmt mit steigendem L2-Leistungsniveau zu. Der mittlerweile allseits bestätigte Einfluss des Leistungsniveaus gilt also auch für semantische Verarbeitung, allerdings scheinen die dadurch bedingten Verarbeitungsunterschiede in der L2 schneller überwunden zu werden als bei grammatikalischer Verarbeitung. Grammatikalische Verarbeitungsprozesse betreffend ergibt der Vergleich der Studien eine deutliche Übereinstimmung: Die Verarbeitung der Fremdsprache ist mit der der Erstsprache nicht identisch, sogar bei nahezu identischen Verhaltensdaten. In der Art, wie sich beide unterscheiden, divergieren die Ergebnisse. Die EKP-Studien stimmen lediglich in der Beobachtung überein, dass L2-Sprecher keine ELAN zeigen. Es werden jedoch zum Teil ELAN-ähnliche Effekte gemessen [z.B. Weber-Fox et al. 1996]; und neuere, hier nicht diskutierte Studien haben eine ELAN auch bei L2-Sprechern (mit hohem Leistungsniveau) entdeckt [Friederici et al. 2006]. Strukturell werden einerseits verminderte Aktivität in unterschiedlichen linkshemisphärischen Gebieten (superiortemporal: Rüschemeyer et al., Wartenburger et al.; superior-frontal: Newman et al.; medio-frontal: Luke et al.), anderseits verstärkte Aktivität im IFG (Wartenburger et al., Tatsuno et al.) berichtet. Auch bei grammatikalischer Verarbeitung wirkt das Leistungsniveau stark modulierend auf die Verarbeitung ein. Ein interpretatorisches Problem stellt die Beteiligung des IFG sowohl bei lexikalisch-semantischen als auch bei grammatikalischen Aufgaben dar. Friederici et al. sehen zwar eine funktionale Aufteilung innerhalb dieses Areals, mit BA 44 für syntaktische und BA 45 für semantische Aspekte [Friederici et al. 2000], diese wird allerdings nicht von allen Studien und auch nicht von den hier vorgestellten bestätigt. Doch selbst bei relativ zuverlässig bestätigten Arealen oder EKP-Komponenten birgt die Interpretation der Beobachtungen offene Fragen in sich. Die Frage, ob Erst- und Fremdsprache auf die gleiche Weise und in den gleichen Hirnarealen verarbeitet werden, kann nach wie vor nicht eindeutig beantwortet werden. Die Frage ist möglicherweise schlicht zu grob gestellt. Lexikalisch-semantische Verarbeitung und Integration scheinen sehr ähnlich zu verlaufen 48 . Aus Kenntnissen über allgemeine, nicht sprachliche aufgrund der Stimuli mit wenig Kontextbezug und der maschinellen Präsentation kaum pragmatische Hinweise zur Verfügung standen. 48 Vorbehalte bleiben, selbst bei identischer Arealbeteiligung, bestehen: Es könnte sein, dass die L2 trotzdem von anderen, aber stark benachbarten Zellverbänden verarbeitet wird und eine Detektion (noch) nicht möglich ist. Die Möglichkeit unterschiedlicher neuronaler Synchronisation [vgl. 2.4.4.] schließt auch die Aktivität derselben Neuronenverbände nicht aus. Außerdem bedeutet die Beteiligung der gleichen Areale bei unterschiedlichen Aufgaben nicht zwangsläufig, dass die funktionale Rolle in beiden Fällen die gleiche ist, denn diese kann häufig vom „neuronalen Kontext“ abhängen [vgl. Cabeza et al. 2000, 35]. <?page no="104"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 102 Funktionen von auch an der Sprachverarbeitung beteiligten Gebieten lassen sich vorsichtige Ableitungen zur Art und Weise der Rezeptionsprozesse treffen. Dementsprechend machen die Lage der involvierten Areale sowie die vorrangige kortikale Beteiligung die Interpretation, dass hauptsächlich deklarative Verarbeitungsprozesse stattfinden [Wartenburger 2006, 63ff], plausibel. Die stärkere Aktivierung des bzw. die größere Beteiligung im IFG können als zusätzlich benötigte Aufmerksamkeit (d.h. Ressourcen des Arbeitsgedächtnisses) [Rüschemeyer et al. 2005, 129] oder als Kompensation durch zwar größere, aber weniger effektive Neuronenverbände [Weiss 2006, 47ff] gedeutet werden. Wie nun genau lexikalisch-semantische Verarbeitung funktioniert, mit anderen Worten, was passiert, wenn man ein Wort versteht oder ein unpassendes Wort in einem Satz wahrnimmt, muss nach wie vor in theoretischen Debatten geklärt werden. Denn ob Wörter verteilt oder lokalistisch repräsentiert werden [vgl. Kochendörfer 2006, 73ff], ob L2-Wörter sich die Bedeutungsseite der Repräsentation mit L1-Wörtern teilen oder nicht [ebd.; De Groot 2002; Kroll et al. 2005], ob von selektivem oder kompetitivem Sprachzugriff auszugehen ist [vgl. Abutalebi et al. 2007, 243ff] oder ob die Trennung von Bedeutung und Weltwissen neurologisch sinnvoll ist [Kochendörfer 2006, 77ff], kann nicht von Neurowissenschaftlern allein entschieden werden. An grammatikalischen Prozessen sind offenbar subkortikale Bereiche der Basalganglien weitaus stärker beteiligt als an semantischen. Im Kortex scheint dem IFG erneut eine Schlüsselrolle zuzukommen, obwohl die Ergebnisse weniger homogen sind als für Semantik. Darüber hinaus werden verstärkte, zusätzliche, aber auch verminderte Aktivitäten in temporalen und frontalen Regionen berichtet, die nicht zuverlässig gedeutet werden können und daher vorerst den besprochenen Einflussparametern wie Methoden, Probanden usw. zugeschrieben werden sollen. Die kombinierte Aktivität aus Basalganglien und IFG jedoch legt die Verbindung zu motorischer Verarbeitung nahe, und diese führt zu interessanten und produktiven Theorien zum L2-Erwerb [vgl. 3.2.]. Die mehrfach berichtete verminderte Aktivität bei L1-Sprechern, sowie die ebenfalls schwächere Aktivität bei leistungsstarken L2-Sprechern im Vergleich zu leistungsschwächeren, deuten darauf hin, dass grammatikalische Prozesse, wie eben auch jegliche wiederholt stattfindende motorische Handlung, automatisiert und zunehmend prozedural verarbeitet werden. Dabei „wandert“ die Aktivität aus den anfänglich kortikalen Regionen in subkortikale Bereiche des Zwischenhirns [vgl. Roth 2002, IV]. Das hätte zur Folge, dass sowohl der energetische Aufwand als auch der Grad der Bewusstheit abnehmen, und das passt zu den Befunden über L1- und L2-Sprecher unterschiedlicher Leistungsniveaus und zu denen über L1-L2-Vergleiche. Die zusätzliche Aktivität bei L2-Sprechern (und schwachen L1-Sprechern) könnte dann mit kortikaler, deklarativer, bewusster Kompensation erklärt werden [Dewaele <?page no="105"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 103 2002, 231; Rüschemeyer et al. 2005, 81ff; Wartenburger 2006, 63ff]. Anders als bei semantischer Verarbeitung wäre also für grammatikalische Prozesse nicht nur ein quantitativer, sondern ein (zunächst) qualitativer Unterschied zwischen L1- und L2-Verarbeitung zu erwarten. Das Fehlen der ELAN-Komponente bei L2-Sprechern stützt diese These, denn unabhängig davon, welche konkreten Vorgänge man hinter dieser Komponente annimmt, spricht allein der frühe Zeitpunkt ihres Auftretens für unterbewusste, automatisierte Verarbeitung. Die bei L1-Sprechern häufig gemeinsam mit der ELAN auftretende P600, bzw. die sie auslösenden Verarbeitungsprozesse sind offenbar bewusster Natur. Die Frage, ob diese eher semantisch oder aber grammatikalisch sind, ist unvoreingenommen nicht eindeutig zu beantworten. Das Gleiche gilt für den beobachteten Einfluss prosodischer Elemente auf die Satzverarbeitung. Auch hier ist weitere Forschung notwendig. Nicht völlig geklärt ist, warum lexikalisch-semantische Verarbeitung nicht auch den Weg der ökonomischen Automatisierung gehen sollte, der hier für grammatikalische Verarbeitung angenommen wird. Hinweise darauf, dass auch lexikalisch-semantische Integration einem von Frequenz, Relevanz und sprachlichem Umfeld abhängigen dynamischen Prozess unterliegt, kommen von vielen Seiten [de Groot 2002; Ellis, N. 2002; Illes et al. 1999, Kroll et al. 2005; Schwartz et al. 2006]. Möglicherweise kann nur ein geringerer Grad der Automatisierung erreicht werden, weil sich Bedeutungserschließung immer bewusst und auf deklarativen Verarbeitungsmechanismen beruhend vollziehen muss. Es bleibt also offen, ob gut verankerte Lexik sich in weniger oder in mehr kortikaler Aktivität niederschlägt, beides wäre denkbar, zum einen aufgrund der Tendenz des Gehirns, so ökonomisch wie möglich zu arbeiten und zum anderen aufgrund größerer assoziativer Vernetzung bei steigender Erfahrung. Eine eindeutige Zuordnung von implizit zu grammatikalisch und explizit zu semantisch wäre daher sehr voreilig und soll nur unter Vorbehalten für die Diskussion im nächsten Kapitel übernommen werden. Weiterhin wäre eine stärkere Vernetzung elektrophysiologischer Befunde und denen aus bildgebenden Verfahren wünschenswert. Diese ist aufgrund besprochener methodischer Schwierigkeiten noch sehr vage, vorstellbar wären allerdings häufigere Wiederholungen derselben Experimente mit beiden Verfahren. Das im Verhältnis zu Datenlage und Interpretationsschwierigkeiten sehr eindeutige und optimistische Modell des Sprachverstehens wurde bereits vorgestellt [Friederici et al. 2003]. Neben der Tatsache, dass aufgrund für Verletzungen beobachteter Komponenten und Areale auf die normale Verarbeitung geschlussfolgert wird, ist eine Überlegung problematisch: Bei realistischer auditiver, aber auch visueller Verarbeitung (bei normalem Lesetempo) müsste der im Modell beschriebene Prozess bei jedem Wort oder sogar bei Silben in Gang gesetzt werden, was zu massiver Parallelverarbeitung führen würde. Das ist bei <?page no="106"?> 2. Unterschiede zwischen erwachsenen L1- und L2-Sprechern 104 dem heutigen Wissensstand über Aufbau und Funktionsweise des Gehirn gar nicht unwahrscheinlich, nur lässt es sich mit bisherigen Mitteln nicht überprüfen, denn zumindest die bildgebenden Verfahren können eine solch kleinschrittige Zeitabfolge nicht darstellen, es sind bestenfalls alle involvierten Gebiete zu sehen. In der Hoffnung auf technische Verbesserungen und kluge methodische Planung und Durchführung wäre eine verlässliche und unvoreingenommene Überprüfung des Modells denkbar. Schließlich sollten auch die Ergebnisse aus der Aphasiologie, die in dieser Arbeit nur am Rande beleuchtet wurden, in die Diskussion einbezogen werden. Zwar ging im 20. Jahrhundert die Hoffnung verloren, anhand ausgefallener Areale deren Funktion zu erfahren, denn das Wissen über geschädigte Areale und Sprachstörungen „cannot tell us whether the component is localised to a particular neural region at the lesion site or whether the lesion interrupts a network of anatomically distinct regions required in using a language“ [Abutalebi et al. 2007, 247]. Auch könnte die Tatsache etwa, dass es ein Mädchen ohne linke Hemisphäre gibt, die fließend Holländisch und Türkisch beherrscht [vgl. Schlobinski 2003, 86], die Aphasiologie auf den ersten Blick konterkarieren. Doch dem ist nicht so, vielmehr zeigen beide Beobachtungen bzw. Aussagen i), dass das menschliche Gehirn Wissen und Fähigkeiten verteilt und zu einem gewissen Grade redundant verarbeitet und dass das von Vorteil sein kann und ii), dass komplexe Funktionen fehlender Areale von anderen übernommen werden können 49 - beides wichtige Aspekte, die Studien zur Sprachverarbeitung von vornherein in Betracht ziehen müssen. Ein letzter Punkt, der mehrfach implizit schon angeklungen ist, betrifft die linguistische Theoriebildung im Spannungsverhältnis der verschiedenen, scheinbar gegensätzlichen Ansätze. Abgesehen von strikten konnektionistischen Modellen, die eine Trennung von Semantik und Grammatik grundsätzlich ablehnen und alle Sprachverarbeitungsprozesse mit impliziter Mustererkennung erklären wollen, sowie der ursprünglichen generativen Position, die von angeborenen, regelverarbeitenden Modulen ausgeht, die als Eckpunkte des breiten Diskurses über die Sprachverarbeitung angesehen werden können, ist eine Annäherung der unterschiedlichen Ansätze durchaus möglich 50 . Holistische und lokalistische Betrachtungswiesen müssen nicht als dichotom, sondern können als komplementär verstanden werden [Lamb 1999, 360]. Obwohl bereits viele Schritte auf diesem 49 Möglicherweise gilt das in stärkerem Maße für entnommene im Gegensatz zu abgestorbenen Regionen. Eine Bestätigung dieser These bürge enorme Chancen für die klinische Behandlung von Sprachstörungen in sich. 50 Barkowski zeigt als Möglichkeit des produktiven Ineinandergreifens verschiedener Ansätze das Zusammenspiel des Dualen Modells, des Konnektionismus´ und der Processability Theory [s. 3.1.] in Bezug auf die Fremdsprachenerwerbsforschung [Barkowski 2005]. <?page no="107"?> 2.4. Vorstellung und Diskussion von Studien aus der Hirnforschung 105 Weg getan sind, wären noch zahlreiche Entwicklungen denkbar. Das konnektionistische Chunking-Prinzip lässt sich mit den oben beschriebenen Automatisierungsprozessen in Einklang bringen. Das Verhältnis von angeborenen und erworbenen Sprachfertigkeiten sollte möglichst unvoreingenommen untersucht werden; Monyer et al. versprechen, dass diesbezüglich gerade die Neurowissenschaften in den nächsten Jahrzehnten die innige Verflechtung beider Informationsquellen herausarbeiten werden [Monyer et al. 2004, 31]. Interaktionistische Ansätze können das den modularen Auffassungen fehlende dynamische Prinzip des (Fremd)sprachenerwerbs beitragen. Theorien, die auf konnektionistischen Modellen fußen, könnten sich in Zukunft stärker an den biologischen Tatsachen orientieren. Es geht nicht darum, jegliche Differenzen wegreden zu wollen, aber unnötige Barrieren und Missverständnisse stören auf dem Weg zu einer besser verständlichen Debatte über neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse und zu weniger konfrontativem Disput zwischen den verschiedenen Ansätzen. Dabei sollte nicht nur die angewandte, sondern auch die traditionelle Linguistik in einen produktiven Diskurs mit den kognitiven Neurowissenschaften eintreten. Denn diese bilden eines der Felder, wo es die traditionsreiche Dichotomie in Natur- und Geisteswissenschaften aufzuheben gilt, damit die erstrebte „übergeordnete Theorie, die die objektive Sprache, in der wir über Gehirnprozesse reden, und die subjektive Sprache der Bewusstseinsphänomene zueinander in Beziehung setzt und im Rahmen eines einheitlichen Systems den objektiven und den subjektiven Sachverhalten ihren Platz zuweist“ [Monyer et al. 2004, 35], entstehen kann. <?page no="108"?> 3. Konsequenzen für die Fremdsprachenvermittlung 3.1. Möglichkeiten und Grenzen eines Brückenschlages zwischen Neurowissenschaften und Fremdsprachenvermittlung Wissenschaftliche und gesellschaftliche Strömungen bedingen und beeinflussen sich gegenseitig. Innerhalb der Wissenschaften gilt das Gleiche für Natur- und Geisteswissenschaften, wo eine klare Trennung überhaupt noch auszumachen ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass spätestens seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts, der von George Bush so bezeichneten „Dekade des Gehirns“ 1 , auch in der Fremdsprachendidaktik das kognitiv-konstruktivistische Prinzip Konjunktur hat und in die Diskussion um geeignete Lehr- und Lernkonzepte neben psychologischen und psycholinguistischen auch neurologische Erkenntnisse einfließen. Kognition im Sinne von Fähigkeiten des Wahrnehmens, Lernens, Denkens und Urteilens [Wolff 2000, 92] ist Konstruktion. Bereits die Wahrnehmung basiert auf konstruktiven Prozessen, „an die Stelle des externen Objekts wird seine Konstruktion oder auch Rekonstruktion gesetzt“ [Strohner 1995, 67]. Für das Sehen beispielsweise steht außer Frage, dass Phänomene wie Dreidimensionalität oder die Farbe braun physikalisch gar nicht perzipiert werden können, sondern aufgrund von Filterung, Abgleichung und „Verrechnung“ im Gehirn entstehen und man nur den Eindruck hat, als würde man sie unvermittelt wahrnehmen [Roth 2002, V]. Es handelt sich also um einen Konstruktionsprozess, der stark von Erfahrungen in der Ontogenese abhängig und folglich zu einem gewissen Grade individuell verschieden ist. Auch für Sprachverarbeitung und sprachliche Lernprozesse auf allen Ebenen gilt, dass sie als Konstruktionsprozesse zu verstehen sind. Bogner leitet daraus ein Verständnis von Fremdsprachenerwerb ab, in dem „das Gehirn nicht als Informationen aufnehmendes, sondern als Informationen schaffendes System“ gesehen wird [Bogner 2003, 409]. Wolff differenziert Inferierungs-, Kohärenz- und (Re)strukturierungsprozesse [Wolff 2000, 95f]. Die ersten beschreiben die maßgebliche Tendenz, Input sinnvoll zu vervollständigen und plausibel erscheinen zu lassen. Die aus lerntheoretischer Sicht wichtigsten Prozesse seien die der (Re)strukturierung, welche sich in Teilprozessen wie Kreation, Reorganisation, Löschung und Abstraktion fassen lassen. Diese „machen Wissenszuwachs möglich und restrukturieren den Wissensspeicher, so dass optimale Zugrif- 1 Presidential Proclamation vom 17. Juni 1990, s. www.loc.gov/ lov/ brain (31.03.2008) <?page no="109"?> 3.1 Möglichkeiten und Grenzen eines Brückenschlages 107 fe für die vorausgehende Stufe der eigentlichen Informationsverarbeitung als auch für die folgende Stufe der Automatisierung von Fertigkeiten gewährleistet sind“ [ebd.]. Hier wird auch die tragende Rolle des Gedächtnisses und der sich daraus ergebenden Interaktion zwischen vorhandenem Wissen und Umweltreizen betont. Diese ist nicht zu unterschätzen und drückt sich in der Metapher vom Gedächtnis als Sinnesorgan aus [Roth 2002, III], denn „[w]as neu und wichtig ist, ist neu und wichtig nur in Bezug auf frühere Erfahrungen“ [Bogner 2003, 410]. Ausgehend von dieser Vorstellung von Kognition lassen sich Ableitungen für erfolgreiche Lernprozesse treffen. Traoré nennt in diesem Zusammenhang Wiederholen, Elaboration und Organisation des Lernstoffes als entscheidende Lernwege vor allem im Erwachsenenalter [Traoré 2002, 22]. Die ersten beiden bedeuten die längere und ausführliche Beschäftigung mit dem Lernstoff in einem variierten Übungskontext, mit Organisation sind Ordnungs- und Gliederungsprozesse, sowie das Herstellen von Beziehungen gemeint [ebd.]. In anderen Worten, Lernprozesse sollten in eine möglichst reiche Lernumgebung eingebettet werden und durch Selbstorganisation auf Seiten der Lerner gekennzeichnet sein. Die Präsentation des Lernstoffes sollte multimodal und handlungsorientiert erfolgen und, im Hinblick auf die Eigenschaften der menschlichen Wahrnehmung, Aspekte wie Gleichheit, Kontrast, Frequenz, Kontingenz und Relevanz berücksichtigen [Barkowski 2006, 48f]. Außerdem sollten Möglichkeiten zur sozialen Interaktion vorhanden sein, denn „Lernende müssen […] explorativ Hypothesen bilden und ihre Lernergebnisse in der sozialen Interaktion erproben“ [Wolff 2000, 98]. Eine genaue Vorhersage des Lernerfolgs ist jedoch nicht möglich, da das Gehirn ein sich selbst organisierendes System ist [Multhaup 2002, 87] und viele Einflussfaktoren eine Rolle dabei spielen können, wie nachhaltig sich der Lernvorgang in den neuronalen Vernetzungen niederschlägt. Ein wesentlicher Faktor, der in der Didaktik breite Anerkennung findet und auch den Erkenntnissen der Neurowissenschaften entspricht, ist die emotionale Bewertung der Lernsituation [Apeltauer 1997, 105ff]. Bei der Verknüpfung der zu erlernenden sprachlichen Elemente mit einem emotional positiven Zustand ist das limbische System als zuverlässiges Bindeglied zwischen kortikalen Neuronen und denen des Zwischenhirns beteiligt [Traoré 2002, 23]. Mit der emotionalen Bewertung in Verbindung steht die Motivation zum Lernen, „Motivation wird zum Produkt des Reizbewertungssystems des Gehirns“ [Bogner 2003, 411]. Es ist in der Didaktik längst bekannt, dass Lernen ohne Motivation zu deutlich geringeren Erfolgen führt [vgl. Edmondson et al. 2006, 198ff]; diese Ansicht wird nun auch durch neurowissenschaftliche Studien bestätigt [Ellis, R. et al. 2000]. Die Unterschiede in <?page no="110"?> 3. Konsequenzen für die Fremdsprachenvermittlung 108 der Motivation zwischen L1- und L2-Erwerb wurden bereits eingehender unter 2.2.2. diskutiert. In der kognitiv-konstruktivistischen Fremdsprachendidaktik sind auch die Prozesse des Erstsprachenerwerbs von Interesse, wobei die Diskussion auf neurologischer Ebene starke Beachtung findet. Es wäre übereifrig, den L2-Erwerb dem L1-Erwerb möglichst identisch machen zu wollen, und dass die Unterschiede zwischen beiden Erwerbsformen ein solches Unterfangen prinzipiell unmöglich machen, wurde bereits unter 2.1. und 2.2. dargestellt. Es sei außerdem darauf hingewiesen, dass der beabsichtigte Anwendungsbereich der L2 (insbesondere einer Fremdsprache) nicht dem der L1 gleichen muss. Aus diesem Grund gibt es fachspezifischen Fremdsprachenunterricht, spezielle Ausbildungen für Dolmetscher und Übersetzer und unterschiedliche Didaktiken für lebende und tote Sprachen [Cook 2002b, 332f]. Auch für den „gewöhnlichen“ Fremdsprachenunterricht fordert Cook zuallererst „adequate descriptions of successful L2 user goals“ [ebd., 335]. Dennoch ist die Frage nach den Eigenschaften und Bedingungen, die den L1-Erwerb so erfolgreich machen, richtig. In diesem Sinne ist die oben dargelegte Berücksichtigung der menschlichen Kognitionsprozesse durchaus als Orientierung am L1-Erwerb zu verstehen, denn L1-Lerner erwerben ihre Erstsprache multimodal, kontextbezogen, mit häufiger Wiederholung, in Interaktion und in deutlicher Korrelation mit den funktional-pragmatischen Bedürfnissen. Ein wesentlicher Unterschied, vor allem zu Beginn des Erwerbs, besteht darin, dass L1-Lerner noch nicht über Vorwissen (sprachliches und Weltwissen) verfügen, zu dem sie den Input in Beziehung setzen können. Am Beispiel der Diskussion um eine sinnvolle Progression im Fremdsprachenunterricht soll der Niederschlag dieser vergleichenden Perspektive kurz erläutert werden. L1-Lerner erwerben sprachliche Strukturen in einer bestimmten Reihenfolge, die in wesentlichen Aspekten universal, also sprachunabhängig ist [vgl. 2.1.2.]. Pienemann entwirft in seiner Processability Theory eine Hierarchie der Erwerbsprozesse, beginnend bei Einzelwortverarbeitung bis hin zu unter- und nebengeordneten Sätzen [Pienemann 1998, 87]. Dabei geht es ihm nicht um die Frage eventueller angeborener Spracherwerbsmechanismen, sondern um die nachgeordnete Frage nach einer empirisch begründeten Erklärung von Spracherwerbsstufen. Multhaup schlägt darauf aufbauend ein weniger auf formalgrammatische Phänomene fokussierendes Progressionsmodell für den L2-Erwerb vor, mit dem Argument, dass L2-Lerner ähnlichen Beschränkungen in kognitiven Verarbeitungskapazitäten unterliegen wie L1-Lerner [Multhaup 2002]. Einer seiner Grundsätze ist dabei die Orientierung an der neurologischen Realität [ebd., 75]. Den Grund für die inkrementelle Progression sieht er in der begrenzten Kapazität des Kurzzeitbzw. Arbeitsgedächtnisses, dessen Kapazität nicht ausreiche, die auf komplexeren Ebenen steigende <?page no="111"?> 3.1 Möglichkeiten und Grenzen eines Brückenschlages 109 Vielfalt von Berechnungen durchzuführen. Daher sei von allmählicher Automatisierung auszugehen [ebd.]. Um diese Automatisierung auch beim L2-Erwerb zu gewährleisten, sprechen sich einige Autoren folgerichtig für i) großes lexikalisches Angebot in der Anfangsphase und ii) das Chunking begünstigende Übungsformen aus [Barkowski 2006, 46; Ellis, N. 2002, 151; Handwerker 2002, 209f; Multhaup 2002, 92]. Ein reicher Wortschatz ist wichtig, damit die funktionalen Mittel zur Verfügung stehen, um authentische Äußerungen zu verstehen und konzeptuell gefasste Rede- und Schreibabsichten umzusetzen. Durch den Prozess des Chunking werden Verarbeitungskapazitäten für komplexere sprachliche Strukturen frei. Erneut wird deutlich, dass grammatikalische Kompetenz auf lexikalisch-semantischem Wissen basiert, sowohl im L1-, als auch im L2-Erwerb. Doch während sich im L1-Erwerb ganz selbstverständlich neuronale Verbindungen zwischen lebensweltlichen Erfahrungen und den lexikalisch-grammatischen Möglichkeiten der Sprache ausbilden, kann und sollte dieser Prozess im L2-Erwerb gefördert werden. Vor diesem Hintergrund sollte auch das Lernprinzip „Sinn geht vor Form beim Erwerb“ 2 [Barkowski 2005, 6] verstanden und umgesetzt werden. Aus der vorgestellten Argumentation ergibt sich ein von der individuellen Variation weitgehend unabhängiges und mit den Neurowissenschaften im Einklang stehendes Progressionsmodell für den Fremdsprachenunterricht. Es wird betont, dass es unnütz sei, L2-Lernern etwas beibringen zu wollen, für das sie kognitiv noch nicht „reif“ sind [Barkowski 2006, 46; Multhaup 2002, 85]. Ein Modell der Lernbarkeit sprachlicher Strukturen im Erwachsenenalter ist aber nicht per se deckungsgleich mit einem Modell der Lehrbarkeit. Dafür muss die Situation im Fremdsprachenunterricht in Betracht gezogen werden. [T]eaching is an art as well as a science, and irreducibly so, because of the constantly varying nature of the classroom as a learning community. There can be no “one best method”, however much research evidence supports it, which applies at all times and in all situations, with every type of learner. [Mitchell et al. 2004, 261] In diesem Zitat werden bereits viele Aspekte angesprochen, die deutlich machen, dass die Beziehung zwischen Neurowissenschaften und Fremdsprachenvermittlung als Tätigkeit und soziale Interaktion eine viel vagere ist als die zwischen Neurowissenschaften und Fremdsprachendidaktik als 2 Diese Aussage soll nicht als Absage an formorientierte Unterrichtseinheiten missverstanden werden. Im Gegenteil sollte Formarbeit zu sinnvollen Zeitpunkten und wenn sie die semantisch-pragmatischen Funktionen der Formen einbezieht, in ihrer Leistungsstärke nicht unterschätzt werden und entspricht auch den analytischen Fähigkeiten und Bedürfnissen erwachsener Lerner [vgl. 2.2.2.]. <?page no="112"?> 3. Konsequenzen für die Fremdsprachenvermittlung 110 anwendungsorientierte Wissenschaft. Im Klassenraum 3 reagiert der Lehrende ständig auf die Impulse und Wechselwirkungen zwischen ihm und den Lernern, sowie zwischen den Lernern untereinander und greift dabei auf ein weitgehend verinnerlichtes pädagogisches Erfahrungswissen zurück. Letzteres könnte und sollte natürlich geprägt sein von Lehrkonzepten wie den hier vorgestellten, die Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns nicht unberücksichtigt lassen. Es wird dies aber immer nur teilweise der Fall sein, weil es in der konkreten Lehr-/ Lernsituation weit mehr als neurologische Realitäten zu berücksichtigen gilt. Peng unterstellt den meisten Fremdsprachenlehrern daher, dass „their students´ brain processes seem of lesser importance“ [Peng 2005, 6]. Ganz starke Zweifler könnten sogar behaupten, dass weitgehend anerkannte neurologische Befunde noch nicht beweisen, dass Methoden, die augenscheinlich nicht mit diesen im Einklang stehen, trotzdem nicht gut funktionieren können. Es wird hier aber die Position vertreten, dass der Versuch der Umsetzung neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse im Unterricht lohnenswert ist und entsprechende Prinzipien wie die oben erläuterte Handlungsorientierung oder die Lernerautonomie auch umgesetzt werden können. Damit die L2 im „handelnden Vollzug“ [Wolff 2000, 99] gebraucht werden kann, muss das Klassenzimmer als „Lern- und Forschungswerkstatt“ begriffen werden, „in der die Lernenden gemeinsam […] die Konstruktionsprozesse erwerben und einbringen, die sie für die Verarbeitung und das Lernen von Sprache benötigen. Die Rolle des Lehrers in einem solchen Klassenzimmer kann nur die eines fürsorglichen Betreuers, eines Moderators, eines Lernberaters sein“ [ebd., 104f]. Im Bild des Lehrers als eines Lernberaters spiegelt sich auch wieder die Orientierung an den Bedingungen des L1-Erwerbs, wo „fürsorgliche Betreuer“ in Form von Eltern, Verwandten und Freunden den Erwerbsprozess maßgeblich begleiten. Multhaup stellt klar, dass handlungsorientierter Unterricht mit hoher Lernerbeteiligung und -autonomie weder freie Wahl der Inhalte durch die Lerner bedeutet noch automatisch aufmerksames Lernen bewirkt. Erstens lassen sich selten Inhalte finden, die alle ansprechen, zweitens können Interesse und Motivation auch erst in der Auseinandersetzung mit den Inhalten geweckt werden, und drittens sieht sich der institutionelle Fremdsprachenunterricht, zumindest in Schule und Universität, auch einem über die Sprachvermittlung hinausgehenden Bildungsauftrag gegenüber [Multhaup 2002, 94f]. Cook bezeichnet diesen Auftrag als interne Ziele des Fremdsprachenunterrichts (im Gegensatz zu externen, die den Fremdsprachengebrauch betreffen), womit „learning skills of more general application“ wie Analyse- und Gedächtnisfähigkeiten oder das Herstellen von Interferenzen gemeint sind [Cook 2002b, 330]. In diesen Bereich gehören auch 3 Die Bezeichnung Klassenraum wird hier stellvertretend für alle denkbaren Lernräume verwendet. <?page no="113"?> 3.1 Möglichkeiten und Grenzen eines Brückenschlages 111 Kultur und Landeskunde. Diese Ziele sollen hier nicht weiter thematisiert werden, dürfen aber nicht vergessen werden und zeigen, dass eine nur auf die Spracherwerbsprozesse konzentrierte Betrachtung der Gesamtsituation im Klassenraum nicht gerecht wird. Unterrichtsmedien wie zum Beispiel Lehrwerke können einem kognitiv-konstruktivistischen Lehr- und Lernkonzept dienlich oder hinderlich sein. Funk spricht sich in der Debatte um eine geeignete Sprachbeschreibung in Lehrwerken deutlich für eine „Grammatik des Lernprozesses“, eine „Interimsgrammatik“ aus [Funk 2002, 207]. Diese habe sich in der Progression an Prinzipien der Verständlichkeit, Häufigkeit, Brauchbarkeit, Lernbarkeit, Portionierung und dem Lernerbezug zu orientieren, die alle neurologisch begründbar sind [ebd., 212] 4 . Letzteres müsse auch für die Gestaltung von Lernsequenzangeboten gelten, die von bedeutungsvollen Inhalten ausgehen und inhaltsbezogene Anwendung, induktive und individuelle Lernerführung, sowie das Erreichen fremdsprachlicher Flüssigkeit ermöglichen sollen [ebd., 213 f]. Methodisch-didaktische Entscheidungen haben im Klassenraum Vorrang vor korrekter linguistischer Sprachbeschreibung. Daher sollten didaktische Grammatiken im Sinne von strukturellen Erläuterungen für den Sprachgebrauch in Lehrwerken keine umfassenden linguistischen Modelle darstellen (die auch weder von Lernern noch von Lehrern als nutzbringend wahrgenommen werden [ebd., 206, 208f]), werden aber von diesen beeinflusst. Die in 1.3.6. unter dem Stichwort kognitiver Ansatz zusammengefassten Sprachbeschreibungsmodelle scheinen im Zusammenspiel mit funktional-pragmatischen Ansätzen am besten geeignet, um der neurologischen Realität zu entsprechen und didaktisch-methodische Umsetzungen zu ermöglichen. Andere Ansätze können, insofern sie für die Didaktik interessant bleiben sollen, unter Berücksichtigung von neurologischen und psychologischen Gesetzmäßigkeiten neu diskutiert werden. Das zeigt Barkowskis Diskussion des traditionellen dependenzgrammatischen und des funktionalen Ansatzes, in der er die alleinige „Vormachtstellung“ des Verbs ablehnt und stattdessen für ein konzeptgebundenes Modell argumentiert, in dem der Gesamtsinn einer Äußerung sowohl Nomen als auch Verb regiert [Barkowski 2002]. Unter einer solchen Neuorientierung könnte auch eine entsprechende didaktische Grammatik entwickelt werden. Ein Blick auf den bunten Markt von DaF-Lehrwerken zeigt, dass derzeit praktisch alle Modelle der letzten 40 Jahre nebeneinander existieren [Funk 2002, 205], was schlechterdings als das von Funk geforderte „ausbalan- 4 Hier zeigt sich, dass zum Beispiel eine hierarchische Satzschemadarstellung an geeigneter Stelle durchaus sinnvoll und kognitiv begründbar sein kann, obwohl sie nicht den neurologischen Gesetzmäßigkeiten während der Sprachverarbeitung entspricht. <?page no="114"?> 3. Konsequenzen für die Fremdsprachenvermittlung 112 cierte Konzept“ 5 interpretiert werden kann. Vielmehr macht es die Verwirrung der Verlage bzw. den fehlenden Bezug der Lehreraus- und weiterbildung zur Forschung deutlich, denn auch im Unterricht habe sich in den letzten 20 Jahren praktisch nichts verändert [ebd., 203f]. Die praktische Umsetzung erfolgt naturgemäß zeitverzögert zur theoretischen Forschung. Angesichts der Präsenz kognitiv-konstruktivistischer Perspektiven in vielen Bereichen der Gesellschaft wäre eine stärkere Anbindung des Unterrichtens an die Wissenschaft über das Unterrichten jedoch wünschenswert. Angst vor absoluter Absage an alles, was bisher als guter Fremdsprachenunterricht galt, ist dabei ungerechtfertigt, denn wie sich gezeigt hat, erfahren einige unterrichtliche Praktiken, alte wie neue, Bestätigung von Seiten der Spracherwerbs- und der Hirnforschung. Der Klassenraum wird nicht zuletzt durch pragmatische Gesichtspunkte wie Effektivität, Wirtschaftlichkeit und persönliche Bequemlichkeit determiniert [Barkowski 2006, 45]. Effektivität steht im Spannungsverhältnis sowohl mit Rahmenbedingungen wie Stundenumfang und Lehrplan, als auch mit gefühlter und tatsächlicher Lernerkompetenz, deutlich zu spüren bei berufsbedingten Crashkursen etwa. Mit Effektivität verbinden sich wirtschaftliche Aspekte wie Zeit, Geld und Energie, die es in den Lernprozess zu investieren gilt. Bequemlichkeit bezieht sich auf Lernende wie Lehrende und lässt allen denkbaren didaktischen Methoden mitunter sehr begrenzte Spielräume. Auch im Zweitsprachenerwerb, wo der Klassenraum eine marginale bis gar keine Rolle spielt, sind die genannten Aspekte zu berücksichtigen. Es ist deutlich geworden, dass die Fremdsprachenvermittlung ein multifaktoriales Feld ist, das neben der wissenschaftlichen Diskussion um Lehr- und Lernkonzepte auch maßgeblich von nicht wissenschaftlichen, pragmatischen Aspekten geprägt ist. Eine umfassende Beschreibung des Fremd- und Zweitsprachenerwerbs, die diesen als Prozess begreift, muss Lerner wie Lehrer ganzheitlich und in Interaktion mit sich und der Umwelt verstehen. Eine rein sprachwissenschaftliche, entwicklungspsychologische oder soziale Sichtweise kann diesem Anspruch genauso wenig gerecht werden wie eine ausschließlich neurobiologische oder -linguistische. Erst- und Zielsprache, soziale und kulturelle Herkunft, Bildung, Alter, Lernvermögen, -bereitschaft und -umfeld sind einige wichtige konkrete Einflussfaktoren auf Seiten der Lernenden, Lehrkonzept, pragmatische Rahmenbedingungen, Motivation und pädagogisches Geschick einige auf Seiten der Lehrenden. 5 „Gegenwärtig scheint ein ausbalanciertes Konzept von Training und formfokussierten sowie metakognitiven Verfahren, eingebunden in ein pragmatisches an sprachlichen Handlungen orientiertes von interkulturellen Reflexionen begleitetes Lehrwerkkonzept dem Stand der didaktischen Forschung zum Grammatikunterricht und der Fremdsprachenerwerbsforschung am ehesten zu entsprechen.“ [Funk 2002, 215] <?page no="115"?> 113 Die Metapher vom Brückenschlag zwischen den Neurowissenschaften und der Fremdsprachenvermittlung ist folglich nur bedingt bzw. unter Ausblendung wesentlicher Bezugswissenschaften zutreffend. Besser geeignet scheint die Vorstellung von einem Netzwerk, womit passend ein im Trend der Zeit liegendes Bild bemüht wäre. In diesem Netzwerk sind auch Hirnforschung, Didaktik und deren Anwendung miteinander verbunden, bedürfen jedoch häufig der Vermittlung durch andere für den Fremd- und Zweitsprachenerwerb relevante Aspekte. Die folgende Behauptung einiger Hirnforscher mag daher zwar richtig sein, darf aber nicht im Sinne einer Aufforderung zur Vorherrschaft der Neurowissenschaften in didaktischen Diskussionen missverstanden werden: Die molekularen und zellulären Faktoren, die der Lernplastizität zu Grunde liegen, verstehen wir mittlerweile so gut, dass wir beurteilen können, welche Lernkonzepte - etwa für die Schule - am besten an die Funktionsweise des Gehirns angepasst sind. [Monyer et al. 2004, 33] Die im nächsten und letzten Abschnitt dargelegten Erörterungen zur Übertragbarkeit der Ergebnisse aus konkreten Studien auf die Fremdsprachenvermittlung sollen im Kontext des beschriebenen Netzwerkes verstanden werden. 3.2. Konkretes Potential der vorgestellten Studien Die aus didaktischer Sicht zu stellende Frage an die in dieser Arbeit ausgewerteten Studien muss lauten: Welcher Art sind semantische und grammatikalische Verarbeitungsprozesse, welche Unterschiede oder Gemeinsamkeiten bestehen zwischen ihnen 6 , und wie lassen sich daraus effektive Lehr-/ Lernkonzepte ableiten? Die Studien beschäftigen sich nur mit dem ersten Teil der Frage, und wie unter 2.4.5. und 2.4.6. dargestellt wurde, fallen ihre Antworten darauf nicht eindeutig aus. Trotz zahlreicher Abweichungen lassen sich einige signifikante Übereinstimmungen in den Ergebnissen finden. Diese werden gleich im Anschluss im Hinblick auf den zweiten Teil der Frage diskutiert. Die Abweichungen, d.h. Beobachtungen, die selten von mehr als einer Untersuchung bestätigt werden (z.B. rechtshemisphärische Aktivitäten oder solche im Okzipitallappen), können folgendermaßen interpretiert werden: Entweder sind sie Ungenauigkeiten oder Fehlern des Forschungsdesigns, der Untersuchungsmethode, der Datenerhebung, der Probandenauswahl usw. zuzuschreiben [vgl. 2.4.5.]; oder sie spiegeln die große individuelle Varianz von L2-Sprechern, deren unterschiedlichen Lernbiografien, Lern- 6 Wie unter 1.3.6. und 2.4.5.4. erläutert, kann dieser erste Teil der Frage nur sinnvoll gestellt werden, wenn geklärt ist, von welchem Sprachbeschreibungsmodell ausgehend die Begriffe Semantik und Grammatik verstanden werden. 3.2 Konkretes Potential der vorgestellten Studien <?page no="116"?> 3. Konsequenzen für die Fremdsprachenvermittlung 114 und allgemeinen kognitiven Stile, Leistungsniveaus u.v.m., wider. Diese Aspekte sind zwar nicht oder nur teilweise Gegenstand der Untersuchungen, sie wurden aber auch oft nur ungenügend genau kontrolliert und gegebenenfalls ausgeklammert. Ihre umfassende Untersuchung würde außerdem ganz andere Forschungsdesigns, wie Messungen während authentischer Interaktionssituationen u.a., verlangen. Würde sich unter Berücksichtigung aller denkbaren Probandenvariablen immer noch ein so uneinheitliches Bild ergeben, spräche das für eine größere individuelle Varianz der sich selbst organisierenden Gehirne von L2-Lernern als bisher angenommen oder/ und für die Unmöglichkeit, Sprachverarbeitung isoliert messen zu können. Wahrscheinlicher ist jedoch eine zunehmende Angleichung der Ergebnisse innerhalb homogener Probandengruppen. Die fMRT-Untersuchungen, die unterschiedliche Hirnareale für semantische und grammatikalische Verarbeitung identifizieren und die EKP-Untersuchungen, die signifikante zeitliche Unterschiede zwischen beiden Verarbeitungsformen identifizieren, werden von den Autoren [Hahne 2001a, Ullman 2004; Wartenburger 2006 u.a.] als implizite und explizite Verarbeitung gedeutet. 7 Die aphasiologischen Untersuchungen von Pinker, Ullman u.a. deuten darauf hin, dass reguläre Formen eher implizit, irreguläre eher explizit-lexikalisch verarbeitet werden. Diese Erkenntnisse sollen in Bezug auf Konsequenzen für die Fremdsprachvermittlung diskutiert werden. Die Tatsache, dass L1-Sprecher und L2-Sprecher mit hohem Leistungsniveau morphologische und syntaktische Aspekte vorrangig implizit verarbeiten, L2-Sprecher mit niedrigem Leistungsniveau dafür stärker auf explizites Wissen angewiesen sind, führt zu der Schlussfolgerung, dass zunächst explizites Wissen mit zunehmendem Sprachkontakt und Leistungsniveau automatisiert, implizit wird [Bärenfänger 2002, 127f; Traoré 2002, 22]. Konkreter ausgedrückt bedeutet das, dass das in seiner Verarbeitungskapazität limitierte Arbeitsgedächtnis die Ausführung vieler Teilschritte des Sprachverarbeitungsprozesses „weiterreicht“ an spezialisierte Verarbeitungsprozeduren, die als Routinen im Langzeitgedächtnis etabliert werden [Multhaup 2002, 77]. Stehen diese Prozeduren noch nicht zur Verfügung, werden sie, wenn überhaupt, von zeit- und energieaufwendigeren, bewussten Prozessen kompensiert. Sind sie aber erst einmal etabliert, können die einzelnen Prozesse nicht mehr bewusst kontrolliert werden, nur noch deren Ergebnis. So wie für phonetische Muster unter 2.3. diskutiert, gilt das Gleiche folglich für formale Zuordnungs- und Analyseprozesse bei 7 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Prozeduralisierung zumindest teilweise auch auf lexikalischer Ebene auftritt [2.4.6.]. Von einer allzu eindeutigen Zuordnung von implizit=grammatikalisch-syntaktisch und explizit=semantisch-lexikalisch muss also Abstand genommen werden. <?page no="117"?> 3.2 Konkretes Potential der vorgestellten Studien 115 Sprachrezeption (und Sprachproduktion, wo die Verbindung zu motorischen Artikulationsprozessen noch plausibler erscheint). Das ist auch der Grund dafür, dass „prozedurale Fehler“, also das, was sich umgangssprachlich einmal eingeschliffen hat, so schwer auszumerzen sind. Bärenfänger fasst die Charakteristika implizit gewordener Verarbeitungsprozesse unter den folgenden Begriffen zusammen: Spezifizität, Schnelligkeit, geringe Varianz, Mühelosigkeit, wenig Kontrolle [Bärenfänger 2002, 131ff]. Er nennt auch verschiedene Grade der Automatisierung, die allerdings von der Mehrheit der Wissenschaftler mittlerweile eher als Kontinuum verstanden werden [ebd., 135]. Diese Feststellungen führen zu der Forderung, dass „Sprachenlernen vor allem auf der prozeduralen Ebene gefördert werden muss“ [Wolff 2000, 104] 8 , unter Berücksichtigung einer sinnvollen Progression [s. 3.1.] und mit genügend Steuerungs- und Kontrollphasen, die die Verinnerlichung von fehlerhaften Konstruktionen auf ein Minimum reduziert. Die Automatisierung sprachlichen Wissens ist grundsätzlich auf zwei Wegen vorstellbar. Eine Möglichkeit ist die völlige Vermeidung expliziter Regeln, formelhaftes Imitationslernen, das von einfachen zu immer komplizierteren Konstruktionen führt, dabei auf die kognitiven Fähigkeiten der Lerner vertrauend, mit steigender Spracherfahrung selbst Regelhaftigkeiten zu entdecken, Hypothesen zu bilden und zu überprüfen und so die Fähigkeit zu korrektem Sprachgebrauch zu erwerben. Morphologischsyntaktische Prozesse würden demnach sekundär und direkt auf prozeduraler Ebene entstehen [vgl. 2.2.2.]. Sinnvoll erscheint diese Strategie bei sprachlichen Konstruktionen, deren Aufbau und Anwendung ohnehin mittels regelhafter, expliziter Erklärung nicht oder sehr umständlich beschrieben werden können, sowie bei Phrasen, deren Bestandteile gar nicht mehr ohne weiteres erkannt werden können oder für sich genommen eine ganz andere Bedeutung haben, prototypische Chunks also wie Begrüßungs- und Abschiedsformeln. Es gibt Hinweise darauf, dass manche Konstruktionen erfolgreicher gelernt werden, wenn gar nicht auf eine eventuell vorhandene regelhafte Struktur hingewiesen wird [List 2002, 124f]. In vielen Fällen jedoch entspricht der völlige Verzicht auf explizite Erläuterung nicht dem Bedürfnis und den analytischen Fähigkeiten erwachsener L2-Lerner [vgl. 2.2.2.] und ist häufig nicht sehr effizient. Allein die benötigte Zeit, bis L2-Lerner implizit lernen, dass es im Deutschen zwar zahlreiche irreguläre Verbformen, aber durchaus auch verhältnismäßig einfache, regelmäßige 8 DeKeyser verweist zwar auf die Tatsache, dass eine Sichtung der (wenigen) Studien, die implizites bzw. explizites Lernen und Lernerfolg vergleichen, zu dem Ergebnis kommt, dass explizites Lernen fast ausnahmslos erfolgreicher ist, räumt aber ein, dass das an ungeeigneten Definitionen der Begriffe und an fehlenden Longitudinalstudien liege [DeKeyser 2005, 321ff]. <?page no="118"?> 3. Konsequenzen für die Fremdsprachenvermittlung 116 Bildung gibt, oder dass drei Genera markiert werden 9 , kann durch bloße Erwähnung dieser Tatsachen enorm verkürzt werden. Dann kann aber schon nicht mehr von rein implizitem Lernen die Rede sein. Die zweite Möglichkeit besteht in der expliziten Wissensvermittlung und der anschließenden graduellen Automatisierung 10 durch hohe Übungsintensität und Temposteigerung. Dabei muss beachtet werden, dass nicht die Regel selbst automatisiert werden soll, sondern sprachliche Äußerungen, in denen sie zur Anwendung kommt, sodass sie schließlich gar nicht mehr benötigt wird. „Abstrakte Regeln haben nur eine kognitiv stützende Wirkung. Wir lernen an Beispielen, nicht über die `Verinnerlichung´ einer abstrakten Regel.“ [Multhaup 2002, 92] Dieses abstrakte Regelwissen kann als das metasprachliche Wissen verstanden werden, das bei vielen Aufgaben mit Grammatikalitätsurteilen zu zusätzlicher, nicht zu interpretierender kortikaler Aktivität führt [vgl. 2.4.5.2.]. Wie viel abstrakte, explizite Erläuterung sinnvoll ist, hängt von der Schwierigkeit der zu lernenden Struktur ab. Für sehr einfache und sehr komplizierte Strukturen sieht De- Keyser sie als nicht sinnvoll an, für die Bereiche dazwischen ist sie pragmatisch angepasst einzusetzen [DeKeyser 2005, 331ff]. Die erst Variante, also den Aufbau prozeduralen Wissens von Grund auf, halten manche Autoren bei erwachsenen L2-Lernern für unmöglich [Figge 2000; List 2002]. Ohnehin handelt es sich bei ausschließlich explizitem bzw. implizitem Lernen um unangemessen schematische und vereinfachte Konstrukte [Raupach 2002, 113], die in ihrer Reinform nicht den Realitäten im Gehirn entsprechen [vgl. 2.3.]. Trotzdem ist ein Lehr- und Lernprozess ohne explizite Erläuterung vorstellbar, und an ihm wird erneut deutlich, wie eng Semantik und Grammatik zusammenhängen. Es wurde behauptet, dass dabei Grammatik aufgrund lexikalisch-semantischen Lernens sekundär und implizit entstehe. Umgekehrt kann aber auch implizit erworbenes Wissen über sprachliche Strukturen in der L1 und der L2 in Teilen explizit werden [Handwerker 2002, 228; Raupach 2002, 109]. Darüber hinaus unterliegt auch lexikalisches Wissen Automatisierungsprozessen, Hinweise darauf liefert die Studie von Illes et al. Um möglichst schnelle konzeptbasierte (im Gegensatz zu wortbasierter) Repräsentation von Lexik in der L2 zu erreichen und den Einfluss der L1 zu mindern, 9 Es könnte mit Recht eingewendet werden, dass Wissen über reguläre und irreguläre Verbformen oder Genera gerade nicht zu der Art von Wissen gehört, die auf prozeduraler Ebene benötigt wird. Das Beispiel soll hier so verstanden werden, dass auch das richtige Erkennen und Anwenden dieser Phänomene (ohne deren bewusste Differenzierung) auf rein implizitem Wege viel Zeit in Anspruch nimmt: „Language acquisition can be speeded by explicit instruction.“ [Ellis 2002, 145] 10 Bärenfänger argumentiert anhand der bekannten konkaven Lernkurve, die auch auf durch Wiederholung erreichte Fortschritte zutreffe, für besonders viel Übung in Lernphase I und II (dem Bereich, in dem die Lernkurve am steilsten steigt) [Bärenfänger 2002, 129ff]. <?page no="119"?> 117 schlagen manche Autoren vor, in Präsentationsphasen mit Bild/ L2-Wort- Kombination statt mit L1-Wort/ L2-Wort-kombination zu arbeiten [de Groot 2002, 44ff; Kroll et al. 2005, 119ff]. Bildpräsentation eignet sich natürlich nicht für jede Lexik, besonders nicht für abstrakte oder Funktionswörter, auch muss Wort nicht strikt im Sinne von Einzelwortpräsentation verstanden werden. Müller spricht sich im Hinblick auf die unterschiedliche kortikale Repräsentation von konkreten und abstrakten Wörtern [vgl. 2.4.5.2.] dafür aus, „im Fremdsprachenunterricht auch abstrakte Inhalte multimodal zu verankern“ [Müller, H.M. 2003, 170]. Diese Forderungen zur Wortschatzarbeit sind mit den unter 1.3.6.3. genannten konnektionistischen Lernprinzipien Ähnlichkeit, Kontingenz und Frequenz vereinbar, die erneut, und das legt die Studie von Illes et al. nahe, in ihrer Korrelation mit neuronalen Netwerken bestätigt werden. Als geeignete Lerntechniken zur effektiven Prozeduralisierung von Lernstoff nennt Barkowski lautes Imitieren, Lesen, Singen, chorisches Sprechen und rhythmisch-motorische Unterstützung [Barkowski 2006, 50; ders. 2004, 28]. Die Forderungen sind gerechtfertigt, besonders in Hinblick auf die wichtige Rolle, die Prosodie im L1-, aber auch im L2-Erwerb spielt [2.1.2., 2.2.2.]. Es wurde auf die Untersuchungen von Hahne et al. (1998) verwiesen, die den Einfluss prosodischer Elemente bestätigen [2.3.]. Einen weiteren wesentlichen Aspekt enthält die Forderung nach rhythmischer Begleitung sprachlicher Sequenzen im Unterricht zum Beispiel durch Händeklatschen, die auch auf Tänze oder andere Bewegungsabläufe erweitert werden kann: Ganzheitlichkeit und Körperlichkeit des Lernens. Wenn die wie auch immer gearteten unterstützenden Bewegungsabläufe mit den sprachlichen Äußerungen korrelieren (und nur dann sind sie sinnvoll), können sie das Lernen in erheblichem Maße verbessern. Obwohl der Zusammenhang zwischen Lernerfolg und Bewegungsabläufen bisher kaum untersucht wurde, legt die mehrfach bestätigte starke Beteiligung des inferioren frontalen Gyrus´ an prozeduralen Verarbeitungsprozessen nahe, dass diese im Gehirn in enger Verbindung mit motorischer Verarbeitung zu sehen sind. Eine weitere Lernstoffpräsentation und -festigung wurde bereits im vorigen Abschnitt angesprochen - die Nutzung von an die Verarbeitungskapazität der Lerner angepassten formelhaften Wendungen. Handwerker formuliert das anzustrebende Ziel in der Forderung, „wohlausgewählte Chunks systematisch in die Fremdsprachenlehre einzubringen und Chunking als Lernstrategie zu propagieren“ [Handwerker 2002, 209]. Sie steht auch langfristig, nicht nur im Anfängerunterricht, für lexikalisch orientiertes Lernen ein, das den Lerner vom „Word-Watcher“ zum kreativen „Chunk- Sammler“ machen soll [ebd., 228f]. Keine der erwähnten Lehr- und Lernstrategien sollte jedoch in inhaltslosen Übungssequenzen angewandt werden, da erstens neue Informatio- 3.2 Konkretes Potential der vorgestellten Studien <?page no="120"?> 3. Konsequenzen für die Fremdsprachenvermittlung 118 nen mit bereits gespeicherten assoziiert werden und zweitens auch das Üben durch Wiederholung effektiver ist, wenn es in einem kontextbezogenen, für den Lerner relevanten Umfeld geschieht 11 [vgl. 3.1.]. Prozedurales Wissen [entwickelt] sich nicht losgelöst von jeder Realität […], sondern immer im Zusammenhang mit einem deklarativen Wissen, auf das es sich bezieht und mit dem es etwas macht. [Multhaup 2002, 79] Mit anderen Worten: „Sprachkönnen ist ohne Sprachwissen nicht möglich.“ [Wolff 2000, 102] Das Nebeneinander beider Verarbeitungsformen findet sich auf allen Ebenen. Eines von vielen möglichen Beispielen dafür erläutert Barkowski anhand einfacher Aussagesatzmuster mit dem Verb sein. Er verweist darauf, dass unterschiedliche Formen der gleichen Konjugationsreihe entweder implizit oder explizit verarbeitet werden können [Barkowski 2006, 48], was jeweils mit der Relevanz und der Frequenz der Muster korreliert. Einig ist man sich in dem Punkt, dass die Erreichung eines Sprachwissens in der L2, das dem der L1 entspricht, einen sehr großen Kontakt mit der L2 voraussetzt, den der Fremdsprachenunterricht allein nicht bereitstellen kann [Barkowski 2006, 49f; Bärenfänger 2002, 120; Ellis, N. 2002, 169f]. „Nichtsdestoweniger kann Fremdsprachenunterricht eine Menge tun, um auf die Anbahnung solcher [impliziter] Kompetenzen vorzubereiten.“ [List 2000, 506] List nennt konkrete Umsetzungen wie Motivierung und Ermutigung der Lerner, sanktionsfreies Unterrichten oder Einsatz neuer Medien [ebd.]. Nach Möglichkeit sollten auch der außerunterrichtliche L2-Kontakt gefördert werden, etwa durch Filme, Satellitenfernsehen und Internet, persönliche Bekanntschaften mit L1-Sprechern u.v.m. Zur unter 2.2.2. bereits aufgeworfenen Frage, ob native-likeness von L2- Sprechern erreicht werden kann oder nicht, tragen die diskutierten Studien Belege für die zunehmende Ähnlichkeit bei steigendem Leistungsniveau bei, beobachten aber selbst bei sehr hohem Kenntnisstand und gleicher Performanzrate Abweichungen in der kortikalen Verarbeitung (bei Grammatik) im Vergleich zu L1-Sprechern. Diese können in der Diskussion um Methodik und Didaktik vernachlässigt werden, da es nicht das Ziel der Fremdsprachenvermittlung sein kann, identische Hirnstrukturen und - prozesse zu schaffen, sondern möglichst hohe Performanz zu erreichen. In Anbetracht der zahlreichen voneinander abweichenden biologischen und kognitiven Voraussetzungen für L1- und L2-Lerner [vgl. 2.1., 2.2.] sollte ein ständiges Messen der L2-Lerner an L1-Sprechern der Zielsprache, bei dem die Lerner immer schlechter abzuschneiden scheinen, in Frage gestellt werden, nicht zuletzt aus motivationalen Gründen [Cook 2002b, 331ff]. 11 Eine geeignete Methode, um Lernstoff in situative Kontexte mit emotionalen Bezügen einzubetten, ist das Rollenspiel [Müller, H. M. 2003, 170]. <?page no="121"?> 119 Eine umstrittene pädagogische Strömung, die sich seit ihrer Entstehung in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts an der Funktionsweise des Gehirns orientiert hat, ist die Suggestopädie. Umstritten ist sie aufgrund ihrer kommerziellen Verbreitung und der oft pseudowissenschaftlichen Fundierung und Weiterentwicklung zu so genannten Superlearning-Methoden. Bemerkenswert ist jedoch ihr zentrales Anliegen, Lerneffektivität und Gedächtniskapazität durch ganzheitliches, positiv konnotiertes und zum Teil unbewusstes Lernen zu erhöhen. Den Effekt, der in bestimmten, stark ritualisierten Lernphasen (der Sprachaufnahme und Einprägung) erreicht werden soll, nennt Baur psychische Pseudopassivität, und er zeichnet sich durch den Abbau selektiver Wahrnehmungsmechanismen und die Überwindung logisch-kritischer Barrieren aus [Baur 1994, 65ff]. In diesem Bestreben widerspricht die Suggestopädie den bei erwachsenen Lernern als wichtig und unbedingt zu berücksichtigend bezeichneten kognitiv-konstruktivistischen Prinzipien. Mit dem Ziel, einen ungefilterten und unbewussten Lernzustand zu erreichen, versucht sie jedoch, direkt implizites Lernen zu ermöglichen. Roth zufolge ist „unbewusstes Lernen […] semantisch flach“ [Roth 2002, V], was bedeutet, dass keine komplizierten Sachverhalte gelernt werden können und sehr viel Wiederholung nötig ist. Auf Autoren, die direktes implizites Lernen im Fremdsprachenunterricht für unmöglich halten, wurde in diesem Abschnitt bereits hingewiesen. Dennoch wäre eine wissenschaftliche Überprüfung der Frage, inwieweit die suggestopädische Methode diesem Anspruch gerecht werden kann, wünschenswert. Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sie viele der hier als effektiv und im Einklang mit dem Wissensstand zur Funktionsweise des Gehirns stehenden Techniken und Methoden anwendet, verdient sie Beachtung in der Diskussion um Hirnforschung und Fremdsprachenlernen. Fremdsprachenunterricht, der auch die Erkenntnisse der Hirnforschung berücksichtigt, muss einen dynamischen Wechsel zwischen inhaltsorientierten und formorientierten Phasen anbieten, die den funktionalen Aspekten und den Verarbeitungskapazitäten der Lerner entsprechen. Dass aus Sprachwissen Sprachkönnen wird, ist umso wahrscheinlicher, je relevanter die Bedeutung des Lernens der L2 empfunden wird und je stärker damit die Motivation steigt. Eine viele der genannten Forderungen umsetzende Unterrichtspraxis, die etwas chaotisch und ungeordnet erscheinen mag [Barkowski 2006, 50f] und die Lehrenden in ihren Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten einschränkt, sollte diese nicht davon abhalten, sich an der Effektivität der Lernprozesse zu orientieren. Auf Barkowski, Edmondson und Götze Bezug nehmend wird abschließend eine Übersicht über die Konsequenzen erstellt, die die Berücksichtigung kognitiv-konstruktivistischer Prinzipien, die von neurowissenschaft- 3.2 Konkretes Potential der vorgestellten Studien <?page no="122"?> 3. Konsequenzen für die Fremdsprachenvermittlung 120 lichen Erkenntnissen gestützt werden, für den Fremdsprachenunterricht hat: Fremdsprachenunterricht ist umso erfolgreicher, • je motivierender er ist und je positiver er von den Lernern bewertet wird; • je differenzierter er den je individuellen Lernprozess mit deklarativem und implizitem Wissen fördert und metasprachliche Regelerläuterung genau dann anbietet, wenn die Lerner in ihrem (natürlichen) Erwerbsprozess diesen Punkt erreicht haben und der weitere Lernprozess dadurch gefördert wird; • je abwechslungsreicher er daher gestaltet ist, logisch-rationale, kreativintuitive und sozial-kommunikative Elemente verbindet, damit das Gehirn in seiner Vielfalt von Aufnahme- und Verarbeitungsmöglichkeiten angesprochen wird; • je mehr Raum er dem individuellen Konstruktionsprozess der Lerner lässt und ihnen Möglichkeiten gibt, Erfahrungen zu sammeln, zum Beispiel durch angemessene Arbeitsformen; • je effektiver er es schafft, Automatisierungsprozesse auf Seiten der Lerner zu fördern, wozu ein ausreichendes Wiederholungs- und Übungsangebot gehört; • wenn er Methodenpluralismus und eine dem Gehirn entsprechende Variabilität der Vorgehensweisen zulässt; • wenn er ein pragmatisch-didaktisches Konzept von Grammatik verwendet und dieses als Mittel zum Zweck betrachtet; • wenn er die Präsentation von Lernstoff an Erkenntnissen über Wahrnehmen und Lernen ausrichtet; • wenn er die Lerner nicht infantilisiert und ihnen nicht das Gefühl gibt, Ungenügende und Benachteiligte im Vergleich zu L1-Sprechern der Zielsprache zu sein. Dazu gehört auch ein Korrekturverhalten, das möglichst motivationssteigernd wirkt und dem sprachlichen Leistungsniveau der Lerner entspricht. • wenn er seine Aufgabe, auch nicht sprachliche Kompetenzen wie Empathiefähigkeit, Allgemeinbildung, Sensibilisierung für Stereotype u.v.m. zu entwickeln, wahrnimmt. [vgl. Barkowski 2005, 7ff, Edmondson 2002, 67f; Götze 1997, 13] <?page no="123"?> 4. Zusammenfassung Um die vorliegende Arbeit übersichtlich zusammenzufassen, habe ich mich dafür entschieden, die eingangs gestellten Fragen noch einmal aufzulisten und zu überprüfen, inwieweit sie beantwortet werden konnten. Die erste Frage lautete: • Welche Vorstellungen und Theorien über Semantik und Grammatik eignen sich am ehesten für die Untersuchung des Gehirns, bzw. ist das Festhalten an der Unterscheidung von Semantik und Grammatik dafür überhaupt sinnvoll? Für ihre Beantwortung wurde der Diskussion der einerseits so grundlegenden und andererseits so schwer zu fassenden Begriffe Semantik und Grammatik bereits in Kapitel I verhältnismäßig viel Platz eingeräumt. Dabei konnte und sollte nicht endgültig geklärt werden, wo genau die Grenzen zwischen Semantik und Grammatik liegen, denn das ist von der jeweiligen Vorstellung über Sprache abhängig. Im Ergebnis der Diskussion dieser Vorstellungen und entsprechender Modelle stellten sich kognitiv-konstruktivistische und mit Einschränkungen funktional-pragmatische Ansätze als die am besten geeigneten heraus, um das Gehirn auf Sprachverarbeitung hin zu untersuchen. Sie sind neben generativen Sichtweisen die einzigen, die nach der internen Repräsentation von Sprache fragen. Generative Ansätze gehen aus meiner Sicht von zum Teil ungesicherten Postulaten aus, die von vielen der unter 2.1.-2.3. getroffenen Aussagen über L1- und L2-Erwerb in Frage gestellt wurden. Alle anderen Ansätze beschreiben Sprache von einer äußeren Sicht, deren Erklärungspotential für viele Bereiche nicht geleugnet werden sollte, die allerdings als Grundlage für neurowissenschaftliche Untersuchungen weniger tauglich schienen. • Welche Aussagen über die Verarbeitung lassen sich aufgrund der Unterschiede zwischen Erst- und Fremdbzw. Zweitsprachenerwerb treffen? Bei der Behandlung dieser Frage war es mir wichtig, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Erwerbsformen herauszuarbeiten, die einerseits Hinweise auf die Funktionsweise semantischer und grammatikalischer Verarbeitungsprozesse und andererseits auf Differenzen zwischen L1- und L2-Lernern liefern. Außerdem wurden die wichtigsten die Erwerbsprozesse begleitenden Einflussgrößen, die für Kapitel drei wichtig sein würden, angesprochen. Die wesentlichsten Erkenntnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: • Der L1-Erwerb findet unter nicht zu wiederholenden Bedingungen statt, die eine den Spracherwerb in besonderer Weise fördernde Um- <?page no="124"?> 4. Zusammenfassung 122 welt schaffen. Dazu zählt die motherese, Zeit und Raum für sprachliche „Experimente“ und ausgiebige Wiederholung, massiver sprachlicher Input u.v.m. Kognitive und sprachliche Fähigkeiten bilden sich parallel aus. Grammatik im Sinne von Mustererkennung und der Fähigkeit zur Bildung abstrakter Konstruktionen entwickelt sich sekundär und vorrangig implizit. Die ersten zwei Jahre sind vor allem durch konkretes Imitationslernen geprägt. • Der L2-Erwerb findet in Köpfen von Lernern statt, die bereits eine oder mehrere Erstsprachen erworben haben. L2-Lerner verfügen über die zum Teil sogar zwingende Möglichkeit, Sprache explizit zu lernen. So können sie zum Beispiel grammatische Regeln lernen, ohne deren Anwendung zu beherrschen. Sie sind außerdem Persönlichkeiten mit ausgeprägten Vorlieben, Stärken, Schwächen, Lernstilen und bewussten Motiven. Fremd- und Zweitsprachenerwerb können sich in der Lernumgebung stark voneinander unterscheiden, was Konsequenzen für den Erwerbsprozess hat, den Zweitsprachenerwerb jedoch nicht dem L1-Erwerb gleich macht. Automatisierungsprozesse spielen auch im L2- Erwerb eine entscheidende Rolle, können sich aber von denen im L1- Erwerb unterscheiden. Alle bis dahin angestellten Erörterungen sollten die gründliche Auswertung von ausgewählten neurowissenschaftlichen Studien und somit die Beantwortung der folgenden Fragen ermöglichen: • Welche Erkenntnisse über die Funktionsweise semantischer und grammatikalischer Verarbeitung (in Erst- und Fremdsprache) kann die Hirnforschung berichten? • Wie lassen sich die Forschungsergebnisse sinnvoll interpretieren, so dass eine kohärente Beschreibung der Prozesse erreicht wird? Von allen Studien, die Semantik und Grammatik untersuchten, werden signifikante Unterschiede in der Verarbeitung berichtet. Alle Studien, die L1mit L2-Sprechern verglichen, stellen Abweichungen zwischen ihnen fest. Die signifikantesten und zuverlässigsten Beobachtungen sind die folgenden: • Semantische Verarbeitungsprozesse (lexikalisch-semantische Integration in die Gesamtbedeutung eines Satzes) und grammatikalische Verarbeitungsprozesse (Reaktionen auf falsche Genera oder Wortstellung) finden in unterschiedlichen Zeitfenstern und vorwiegend in unterschiedlichen, aber benachbarten Arealen statt. • Semantische Verarbeitung von L2-Sprechern ähnelt häufig und den Kenntnisstand betreffend früher der von L1-Sprechern. Grammatikalische Verarbeitung unterscheidet sich in den Aktivitätsmustern immer, <?page no="125"?> 4. Zusammenfassung 123 obgleich mit abnehmender Signifikanz bei zunehmendem Kenntnisstand. • Semantische Verarbeitung findet hauptsächlich in der Großhirnrinde statt, was darauf hindeutet, dass sie vorrangig deklarativer Natur ist. Grammatikalische Verarbeitung korreliert mit kortikaler Aktivität bei Beteiligung motorischer Areale, was auf vorrangig implizite Verarbeitung verweist. An beiden ist der linke inferiore frontale Gyrus, der als „Sitz des Arbeitsgedächtnisses“ angesehen werden kann, maßgeblich beteiligt. Der Grad der Aufmerksamkeit spielt somit eine modulierende Rolle. • Einige aphasiologische Untersuchungen bestätigen die unterschiedlichen Funktionsweisen beider Verarbeitungsprozesse, berichten aber andere Regionen für Semantik; andere Untersuchungen lehnen die Trennung von semantischer und grammatikalischer Verarbeitung ab. Die Auswertung brachte jedoch auch auffällige Inhomogenitäten ans Licht, die die Aussagekraft der Ergebnisse schmälern. Die Suche nach Ursachen für die zum Teil widersprüchliche Forschungslage lieferte Hinweise auf noch nicht lösbare Probleme im Bereich Methoden. Unzulänglichkeiten, die überwunden werden können, fanden sich in den Bereichen Datenerhebung, Probanden, Stimuli und Modellprägung. Die Diskussion der letzten beiden Punkte hat gezeigt, dass bei der Interpretation der Daten eine kognitiv-konstruktivistische Betrachtungsweise kaum, eine funktional-pragmatische überhaupt nicht zum Zuge kommt. Vielmehr herrscht ein generatives Sprachbild vor, das sowohl die Ergebnisse als auch die Aussagen der Studien prägt. In den meisten Punkten, die das Experimentdesign betreffen, sind die Forscher vor eine Wahl von einer unter mehreren Alternativen gestellt, von der jede über Vor- und Nachteile verfügt. Das gilt in besonders starkem Maße für die Bereiche Aufgabenstellung und Sprachen. Insgesamt fiel die Auswertung der Studien ziemlich kritisch aus. Die einschlägigen Ergebnisberichte in den abstracts der veröffentlichten Artikel verlieren häufig an Eindeutigkeit und Aussagekraft, wenn man versucht, die zugrunde liegenden Untersuchungen im Detail nachzuvollziehen. Angesichts der noch jungen Geschichte der kognitiven Neurowissenschaften ist dieser Befund einerseits nicht verwunderlich und entsprechend groß der Forschungsbedarf. Andererseits könnte die stärkere Beachtung einiger der in dieser Arbeit aufgedeckten potentiellen Fehlerquellen eine Verbesserung der Forschungslage bewirken. Aus einer ganz anderen Perspektive ist es meiner Meinung nach gar nicht als nur negative Nachricht aufzufassen, dass so Vieles über das Verständnis der Funktionsweise des Gehirns noch im Dunkeln liegt, bzw. ein solches Verständnis offenbar nicht allein durch neurowissenschaftliche Er- <?page no="126"?> 4. Zusammenfassung 124 klärungen erreicht werden kann. Das folgende Zitat soll diesen Gedanken veranschaulichen und gleichzeitig den Bogen spannen zu ähnlichen Betrachtungen am Anfang dieser Arbeit: „If the brain were simple enough for us to understand, we would be too simple-minded to understand it.“ [anonym, zit. nach Lamb 1999, 293] Leider erwiesen sich die Schlussfolgerungen, die aus den Studien für die Fremdsprachenvermittlung gezogen werden konnten, als weniger eindeutig als erwartet. • Lassen sich aus den derzeitig vorliegenden Forschungsergebnissen gültige Ableitungen für die Fremdsprachenvermittlung finden und wenn ja, welche? Diese letzte Frage meiner Arbeit konnte daher nur vorsichtig beantwortet werden. Auf einen der produktivsten Hinweise aus den vorgestellten Studien, die Belege für implizite und explizite Verarbeitung und den Weg der Automatisierung, wurde ausführlicher eingegangen; entsprechende Techniken für den Unterricht wurden genannt. Die Unterscheidung von Semantik und Grammatik im Fremdsprachenunterricht ist nach wie vor sinnvoll. Didaktische Grammatiken können in expliziten Erläuterungen durchaus von linguistischen Sprachbeschreibungsmodellen abweichen. Wohl aber sollten die Präsentation und die Einübung des Lernstoffs in Korrelation mit dem Wissen über effektives Wahrnehmen und Lernen, zu dem die Neurowissenschaften viel beigetragen haben, erfolgen. Dass ein Großteil bisher entwickelter (und teilweise wieder verworfener) methodischer Praktiken im Einklang mit dem derzeitigen Forschungsstand der Kognitionswissenschaften steht, ist ebenso richtig wie die Erkenntnis, dass eine mutige Konfrontation der Lehrenden überall auf der Welt mit diesem Forschungsstand angebracht ist. <?page no="127"?> Literaturverzeichnis - Abutalebi, J. et al. (2007): „Bilingual language production: The neurocognition of language representation and control.“ In: Journal of Neurolinguistics 20, 242-275 - Anderson, J.R. et al. 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