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Per attentam Caesaris aurem: Satire - die unpolitische Gattung?

Eine internationale Tagung an der Freien Universität Berlin vom 7. bis 8. März 2008

1007
2009
978-3-8233-7501-2
978-3-8233-6501-3
Gunter Narr Verlag 
Fritz Felgentreu
Felix Mundt
Nils Rücker

Anders als Lucilius stehen die Satiriker Horaz, Persius und Juvenal in dem Ruf, Abstand von politischen Fragen gehalten zu haben. Die Satire scheint ihre Kritiklust unter dem Prinzipat nur im allgemein Menschlichen zu behaupten. Der vorliegende Sammelband geht von der These aus, dass Satire als unpolitisches Phänomen nicht denkbar ist. Um Charakter und Wirkung von Satire innerhalb der politischen Spannungsfelder zu bestimmen, in die sie gesetzt ist, soll sie als politische Gattung ernst genommen werden. Mit Beiträgen (u.a.) von E. Gowers, N. Holzberg, G. Manu wald, W. Raschke, A. Schmitt, Chr. Schmitz, U. Schmitzer.

<?page no="1"?> Leipziger Studien zur klassischen Philologie 5 Neubegründet von Ekkehard Stärk (†) und Kurt Sier Herausgegeben von Marcus Deufert, Ursula Gärtner und Kurt Sier <?page no="3"?> Fritz Felgentreu / Felix Mundt / Nils Rücker (Hrsg.) Per attentam Caesaris aurem: Satire - die unpolitische Gattung? Eine internationale Tagung an der Freien Universität Berlin vom 7. bis 8. März 2008 Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Umschlagabbildung: Katrin Haase, Berlin Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Felix Mundt, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-8233-6501-3 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Fritz Felgentreu/ Felix Mundt/ Nils Rücker Einleitung ............................................................................................................. VII Arbogast Schmitt Aristoteles‘ Theorie des Komischen und der Komödie ................................. 1 Robert Kirstein Sonne, leb wohl! - Satire im Hellenismus? ..................................................... 27 Gesine Manuwald Concilia deorum: Ein episches Motiv in der römischen Satire ........................ 46 Beatrice Baldarelli Moralreflexion im Dienste der Politik? Die Frage nach der politischen Wirkung von Varros Menippeischen Satiren ............................. 62 Emily Gowers Eupolitics: Horace, Sermones I, 4 ..................................................................... 85 Ulrich Schmitzer Der Maecenaskreis macht einen Ausflug, oder: Wie Horaz die Politik zur Privatsache macht ................................................. 99 Niklas Holzberg Satire und Selbstreflexion in Horaz’ zweitem Epistelbuch. Die großen Literaturbriefe - linear gelesen ..................................................... 116 Wendy J. Raschke Imperium sine fine - Boundaries in Juvenal ...................................................... 131 Markus Mülke Ein Satiriker und seine Stadt. Juvenals (politische? ) Anspielungskunst in den Rahmenpartien der dritten Satire ......................................................... 148 Thorsten Fögen Flavius ultimus: Juvenals Auseinandersetzung mit der Zeit Domitians ...... 167 Christine Schmitz Satire/ Invektive und Panegyrik in Claudians politischen Epen ................. 192 <?page no="7"?> Einleitung Anders als Lucilius, der sich einer freimütigen Sprechweise bediente und auch vor politischen Stellungnahmen nicht zurückschreckte, 1 stehen die vollständig erhaltenen Satiriker Horaz, Persius und Juvenal in dem Ruf, bewusst und programmatisch Abstand von politischen Fragen gehalten zu haben. Die Schmäh- und Kritiklust der Satire erscheint als konstitutives Element ihres Gattungsprofils, das sie unter den Bedingungen des Prinzipats aber nur im Privaten und allgemein Menschlichen behaupten kann. Diese weite Definition der Kritiklust als des einzig sicheren Gattungsmerkmals der Satire, die allen Satirikern gemeinsame, wie auch immer individuell ausgeprägte ‚satirische Sprechweise’ führte bei antiken und neuzeitlichen Gelehrten sogar zu Schwierigkeiten bei der Definition dessen, was ‚Satire’ eigentlich sei. Wilamowitz geht hier am weitesten, wenn er postuliert, es gebe keine Gattung Satire, sondern nur Lucilius, Horaz, Persius und Juvenal. 2 Der Weg, politische Konzepte bei den späteren Satirikern nachzuweisen, wird eher selten beschritten. 3 Die allgemeine Tendenz in den Literaturwissenschaften, die historische Person des Autors bei der Analyse von Texten weitgehend auszublenden, findet in der Forschung zur römischen Satire ihren Niederschlag in der persona-Theorie: Der Autor verbirgt sich jeweils hinter verschiedenen satirischen Masken und Rollen: Er kann in der Maske des verärgerten und agressiven Kritikers auftreten, aber auch in der des milde spottenden und lachenden Beobachters, der über den Dingen steht. Die Realität wird durch diese Maske verzerrt, die eigentliche Gestalt, die historische Person des Autors, scheint so kaum mehr erkennbar zu sein. 4 1 Vgl. E. Lefèvre, Lucilius und die Politik, in: G. Manuwald (Hg.), Der Satiriker Lucilius und seine Zeit, München 2001, 139-149. Fassbar ist weniger der Dich- 2 U. von Wilamowitz-Möllendorf, Griechische Verskunst, Berlin 1921 (ND Darmstadt 1962), 42. Grundsätzlich zu dieser Problematik K. Freudenburg, Satires of Rome. Threatening poses from Lucilius to Juvenal, Cambridge 2001, 1f.; W. W. Ehlers, Satirische Emotionen, in: D. Bormann/ F. Wittchow (Hgg.), Emotionalität in der Antike. Zwischen Performativität und Diskursivität. FS Johannes Christes, Berlin 2008, 157-167. 3 Exemplarisch - und überzeugend - noch immer I. M. Le M. DuQuesnay, Horace and Maecenas. The propaganda value of Sermones I, in: T. Woodman/ D. West (Hgg.), Poetry and politics in the age of Augustus, Cambridge 1984, 19-58. 4 Zu den möglichen personae eines Satirikers vgl. S. Morton Braund, The Roman Satirists and their Masks, Bristol 1996, 1f. (Warnung vor autobiographischer Lektüre). Ein konzises persona-Modell entwickelt K. Freudenburg, The Walking Muse, Princeton 1993, 1- 8. Vorläufer haben Braund und Freudenburg in Alvin Kernan, The Cankered Muse, New Haven 1959, 14-30 und W. S. Anderson, Anger in Juvenal and Seneca, Berkeley 1964, 127-130. <?page no="8"?> VIII ter selbst als vielmehr seine Dichtung, hinter der sich die Realität bestenfalls erahnen lässt. So richtig diese Erkenntnisse sind, gerät darüber jedoch leicht in Vergessenheit, dass auch die satirische persona immer dem Gestaltungswillen des Dichters unterliegt: Er ist derjenige, der die persona handeln und sie auf verschiedene Weisen sprechen lässt. 5 Der Dichter und Gestalter selbst aber ist immer ein Teil seiner Umgebung. Auch wenn seine Dichtung keinen Aufschluss über seine Persönlichkeit zulässt, so ist sie doch aufschlussreich, was den moralischen und politischen Zustand der Gesellschaft angeht. Wenn also ein Dichter wie Persius, der sich jedenfalls im Umkreis der ‚stoischen Opposition‘ bewegt, 6 seine Satiren so gestaltet, dass die persona die politische Situation unter Nero konsequent übergeht, dann liegt bereits in der Vermeidung auch eine politische Haltung. 7 Persius will ein bestimmtes Bild römischer Kultur und Gesellschaft unter Nero zeichnen: d.h. Persius spiegelt nicht römische Realität, sondern er konstruiert sie. 8 Der Satiriker ist Teil der Gesellschaft, sein Werk daher automatisch mehr als nur intelligent gemachte Unterhaltung. Die Satire als gänzlich unpolitisches Phänomen ist folglich schlechterdings nicht denkbar. 9 In einem diachronen Panorama, das vom 4. Jh. v. Chr. bis zum 5. Jh. n. Chr. reicht, zeigen die vorliegenden Beiträge, wie sich die Gattung Satire und die ‚satirische Sprechweise‘ in anderen literarischen Formen mit dem Politischen im oben genannten Sinne berühren. Das bedeutet aber auch, dass wir den Begriff „Satire“ nicht eng auf die so benannte Gattung eingrenzen, Wer nach den Zusammenhängen von Satire und Politik fragt, wird untersuchen müssen, wo die Dichtung der Satiriker ihren Sitz im Leben hat und wie sie das gesellschaftliche und politische Leben ihrer Zeit repräsentiert. 5 Vgl. z.B. E. Oliensis, Horace and the Rhetoric of Authority, Cambridge 1998, 2: „Horace is present in his personae, that is not because these personae are authentic and accurate impressions of his true self, but because they effectively construct that self (…). The theatrical metaphor [sc. of the persona] is misleading insofar as it obscures Horace’s interest in the doing of his faces - obscures, that is, the extent to which Horace is in fact doing things with his faces, whether they bear the name ‚Alfius’ or the name of the author. It may not always be Horace speaking, but it is always Horace acting.” Zur neueren Kritik an der Persona-Theorie vgl. ferner M. Plaza, The Function of Humour in Roman Verse Satire. Laughing and Lying, Oxford 2006, 22 Anm. 56. 6 Die Vita Persi erwähnt (15-31; 55) Persius‘ Bekanntschaft mit Seneca, Thrasea Paetus und Servilius Nonianus. Vgl. ferner D. Bo, Persio e l‘opposizione antineroniana, in: Filologia e forme letterarie: Studi offerti a F. Della Corte, Urbino 1987, vol. III, 403-418. 7 Vgl. z.B. Pers. 1, 8-12 und 119-121; dazu A. Cucchiarelli, The Stoic paradoxes of Persius, in: K. Freudenburg (Hg.), The Cambridge Companion to Roman Satire, Cambridge 2005, 62-80, 75f. 8 Vgl. z.B. Freudenburg, Satires of Rome (wie Anm. 2), 125-127. 9 C. Keane, Figuring Genre in Roman Satire, Oxford 2006, 4: „Satirists (…) do not just describe, distort, and criticize social life. They claim to intervene in it as well - at least in an indirect manner through their texts.“ <?page no="9"?> IX sondern ihn auf eine bestimmte Kommunikationsform beziehen: Satirisches Sprechen ist eine bestimmte Form der Kommunikation, die je nach historischer Situation und nach Adressat unterschiedlich auftritt, unterschiedliche Ziele verfolgt und unterschiedliche Reaktionen hervorruft. 10 Satirisches Sprechen kann sich - wie bei Horaz, Persius und Juvenal - in einer Satire äußern, aber auch - wie bei Claudian - eingebettet in die Formen spätantiker Epik. 11 Dass etwa die spätantiken Dichter satirisches Sprechen tatsächlich als eine bestimmte Kommunikationsform begreifen, zeigen z. B. Paulinus von Nola, wenn er im Briefwechsel mit Ausonius die (dem Freundschaftsbrief nicht angemessene) satirische Sprechweise des Freundes scharf kritisiert, 12 und Sidonius Apollinaris in der cena Maioriani. 13 Dichtung kann - das zeigt nicht nur die jüngste Welle an Monographien zur Dichtung der flavischen Zeit, besonders zu Statius und Martial, in eindrucksvoller Weise - nie außerhalb von politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen gedacht werden. Die Berliner Satire-Tagung, aus der die vorliegende Publikation erwachsen ist, sollte deshalb dazu beitragen, eine Lücke zu schließen, die für andere Gattungen in jüngerer Zeit bereits gesehen und ansatzweise geschlossen wurde. Das Ziel ist dabei, die Gattung Satire auch als politisches Dokument ernst zu nehmen. In den hier versammelten Beiträgen stehen so zwar die eigentlichen Satiriker Horaz und Juvenal im Mittelpunkt, darüber hinaus aber werden Autoren einbezogen, die auf ihren eigenen Wegen auf das Terrain der Satire vorgestoßen oder von ihr ausgegangen sind. Die Tagung, die am 7. und 8. März 2008 in Berlin stattfand, wurde durch großzügige Förderung von Seiten der DFG und die Unterstützung durch die Freie Universität Berlin ermöglicht. Ihr Anlass war der Eintritt von Widu- Wolfgang Ehlers in den Ruhestand. Wer die Publikationen des Geehrten kennt, weiß, dass kein Thema für eine solche Tagung besser geeignet war als die römische Satire; 14 10 Zur Unterscheidung von ‚Satire‘ als Gattung und als gattungsüberschreitender Qualität vgl. Ch. Schmitz, Das Satirische in Juvenals Satiren, Berlin/ New York 2000 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 58), 4ff. Zu literarischen Gattungen als Kommunikationsformen vgl. grundsätzlich J. Styka, Die literarische Gattung als Form der Kommunikation in der Antike, in: G. Binder/ K. Ehlich, Kommunikation durch Zeichen und Wort, Trier 1995 (Stätten und Formender Kommunikation im Altertum 4), 195- echischen und römischen Autoren, ebd. 207-223. wer ihn und seine Freude an treffend-ironischen For- 11 Zu Claudian vgl. den Beitrag von Christine Schmitz in diesem Band S. 192-227. 12 Vgl. Paul. Nol. carm. 10, 260-264: Multa iocis pateant; liceat quoque ludere fictis. / Sed lingua mulcente grauem interlidere dentem, / ludere blanditiis urentibus et male dulces / fermentare iocos satirae mordacis aceto / saepe poetarum, numquam decet esse parentum. 13 Sidon. epist. 1, 11, 13. 14 Als junger Hochschullehrer an der Universität Hamburg sorgte Widu-Wolfgang Ehlers <?page no="10"?> X mulierungen aus dem persönlichen Gespräch, aus Vorlesungen oder seinen stets intelligenten, konzisen und kurzweiligen akademischen Gelegenheitsreden kennt, weiß es noch besser. Von 2003 bis 2007, in einer Zeit der Studienreformen und finanziellen Einschnitte, bekleidete W.W. Ehlers (zum dritten Mal in seiner Laufbahn) das Amt des Dekans. Was er in dieser Zeit für das Institut für Griechische und Lateinische Philologie und die Geisteswissenschaften an der Freien Universität erreicht hat, beweist, dass gute Satiriker auch gute Politiker sein können. Dass nicht alle Beiträge jeweils in gleicher Weise auf beide im Titel genannten Hauptthemen - die Politik und die Satire - eingehen, geht darauf zurück, dass der vorliegende Tagungsband auch eine Art Festschrift ist. Der Bedeutung, die sie für das bessere Verständnis der satirischen und politischen Elemente der jeweils im Zentrum der Betrachtung stehenden Texte haben, tut das jedoch keinen Abbruch. A RBOGAST S CHMITT legt in seinem Beitrag zur Theorie des Komischen bei Aristoteles das Fundament für die folgenden Analysen einzelner Satiriker, indem er wirkungsmächtige Definitionen des Komischen und des Satirischen in der antiken Literaturtheorie vorstellt. Satire und Komödie sind so eng miteinander verwandt, dass Horaz sich bekanntlich genötigt fühlte, die eigene Dichtung von der Alten Komödie (und damit Lucilius) abzugrenzen. 15 Ein nicht unwesentlicher Aspekt dieser Verwandtschaft besteht darin, dass das Drama wie die Satire ein Medium der Zeit- und Gesellschaftskritik ist. 16 dafür, dass die dritte, wesentlich verbesserte und erweiterte Auflage des Standardwerkes „Die römische Satire“ seines Lehrers Ulrich Knoche nach dessen Tod erscheinen konnte. Vor allem Horaz, Persius, Petron und Juvenal prägen neben Valerius Flaccus, seinem zweiten großen Arbeitsfeld, Ehlers‘ Schaffen als Gelehrter, das er in wegweisenden Aufsätzen einer breiten akademischen Öffentlichkeit vorlegte: Das Iter Brundisinum des Horaz, in: Hermes 113 (1985), 69-83; Sokrates und Alkibiades in Rom: Persius‘ vierte Satire, in: Filologia e forme letterarie III (wie Anm. 6), 419-429; Zur Rezitation der Satiren des Persius, in: G. Vogt-Spira (Hg.), Strukturen der Mündlichkeit in der römischen Literatur, Tübingen 1990, 171-181; Von Bibern und Menschen. Anmerkungen zur 12. Satire Juvenals, in: C. Klodt (Hg.), Satura Lanx. FS W. Krenkel, Hildesheim 1996, 57-73; D. Junius Juvenalis, in: O. Schütze (Hg.), Metzler Lexikon antiker Autoren, Stuttgart-Weimar 1997, 379-382; Satirische Emotionen (s. Anm. 2). Einen vorläufigen Abschluss finden seine Arbeiten zur Satire in dem Artikel „Horaz. Vita. Satiren. Episteln I.“ für den (noch nicht erschienenen) zweiten Band des Handbuchs der Lateinischen Literatur. 15 Sat. 1, 4 1-8; vgl. Plaza (wie Anm. 5) 279-283; K. Heldmann, Die Wesensbestimmung der Horazischen Satire durch die Komödie, in: A&A 33 (1987) 122-139; Emily Gowers in diesem Band S. 85-98. 16 Vgl. zuletzt B. van Wickervoort Crommelin, Die Rolle des Theaters im politischen Leben Athens, in: G. Lohse/ S. Malatrait (Hgg.), Die griechische Tragödie und ihre Aktualisierung in der Moderne. Zweites Bruno-Snell-Symposion der Universität Hamburg am Europa-Kolleg, München/ Leipzig 2006 (= BzA 224), 13-44, insbes. 37-47. <?page no="11"?> XI R OBERT K IRSTEIN analysiert in seinem Beitrag zu Religionskritik und Philosophensatire im Hellenismus Texte einer weiteren eng verwandten Gattung. Das satirische oder skoptische Epigramm, das innerhalb der Epigrammatik eine zentrale Rolle spielt 17 und in der späteren Epigrammtheorie gar zum einzig wahren Epigramm erklärt wurde, 18 wird hier am Beispiel der kallimacheischen Kritik an einzelnen Philosophen und ihren Schulen analysiert. Insbesondere für Horaz ist eine ähnliche satirische Auseinandersetzung mit Konzepten der hellenistischen Philosophie und der Gestalt des Philosophen kennzeichnend. 19 G ESINE M ANUWALD legt dar, wie die Götterversammlungen, die concilia deorum, die in der römischen Satire von Lucilius bis Seneca (Apocolocyntosis) immer wieder eine zentrale Rolle spielen, nicht nur die Welt des Epos parodieren, sondern auch politisch instrumentalisiert werden. B EATRICE B ALDARELLI geht es in ihrem Beitrag darum, die menippeischen Satiren Varros von dem Vorurteil zu befreien, sie seien wegen ihrer engen Bezüge zur kynischen Philosophie, die ja eine Abkehr vom politischen Leben forderte, grundsätzlich apolitisch. Insbesondere wird die Bekanntschaft Varros mit Pompeius in die Interpretation der Satiren einbezogen. Drei Aufsätze widmen sich dem satirischen Oeuvre des Horaz: N IKLAS H OLZBERG analysiert die poetologischen Reflexionen im zweiten Epistelbuch und der Ars poetica anhand der Methode des sequential reading, wobei das Augenmerk besonders auf der Satire nahe stehende Passagen gelegt wird, die die beiden Episteln und die Ars poetica zusammenbinden. E MILY G OWERS unterzieht die meist allein unter literaturgeschichtlichen und poetologischen Aspekten rezipierte Kritik der Alten Komödie in Satire 1, 4 einer Lektüre, die Verbindungen zu zeitgenössischen politischen Diskursen aufzeigt. U LRICH S CHMITZER zeigt an Satire 1, 5 (dem sog. Iter Brundisinum), wie Horaz die Vorverhandlungen zum Vertrag von Tarent im Jahr 37 v. Chr., die unter Beteiligung des Maecenas in Brindisi stattfanden, in Form einer vordergründig unpolitisch-heiteren Reisebeschreibung thematisiert. In den drei Juvenal gewidmeten Beiträgen untersuchen M ARKUS M ÜLKE und W ENDY R ASCHKE , wie Juvenal die römische Gesellschaft und die Stadt Rom zur Zielscheibe seiner Satire macht und den Stadt-Land-Gegensatz sowie allgemein das Thema „Grenzen“ metaphorisch für politische Aussagen nutzbar macht. T HORSTEN F ÖGEN zeigt, wie Juvenal in seiner 4. Satire die 17 Vgl. G. Nisbet, Satiric Epigram, in: P. Bing/ J. S. Bruss, Brill’s Companion to Hellenistic Epigram, Leiden 2007, 353-369. 18 John Owen, epigr. 2, 181 (Ioannis Audoeni Epigrammatum vol. 1, ed. John R. C. Martyn, Leiden 1976, 71): Nil aliud Satyrae quam sunt Epigrammata longa; / est, praeter Satyram, nil Epigramma, brevem. / Nil Satyrae, si non sapiunt Epigrammata, pungunt; / ni Satyram sapiat, nil Epigramma iuvat. Vgl. H. Wiegand, Texte zur Theorie des Epigramms, in: AU 38/ 6 (1995) 9-14. 19 Vgl. sat. 1, 3, 124 ff.; 2, 2; 2, 3. <?page no="12"?> XII Regierung Domitians, des Flavius ultimus, kritisiert. C HRISTINE S CHMITZ schließlich macht die politische Instrumentalisierung satirischer Elemente in den Invektiven und der Panegyrik Claudians zum Thema: Nur vor der Folie der satirisch bloßgestellten Widersacher habe Stilicho zu einer Lichtgestalt werden können. Das Fehlen eines oder mehrerer Beiträge zu Persius, die ursprünglich im Tagungsplan vorgesehen waren, empfinden auch die Herausgeber als schmerzliche Lücke. Dennoch bleibt zu wünschen, dass vom vorliegenden Band weitere Impulse für eine Satireforschung, vielleicht auch für eine Persius-Forschung ausgehen, die darum bemüht ist, die gesellschaftliche und politisch Dimension auch solcher satirischer Texte zu würdigen, die auf den ersten Blick allein in gleichsam zeitloser Form der Erbauung und Unterhaltung dienen. Insbesondere der konservativ-affirmative Charakter der Satire kann durch den hier gelieferten Überblick in hellerem Licht dokumentiert werden, als es durch Einzelanalysen etwa zu Horaz und Juvenal möglich erscheint. Berlin/ Bamberg im September 2009 Fritz Felgentreu, Felix Mundt, Nils Rücker <?page no="13"?> Arbogast Schmitt Aristoteles‘ Theorie des Komischen und der Komödie Wenn man Aristoteles’ Urteil über das Komische ermitteln will, muss man unterscheiden zwischen seiner Theorie der Komödie, die uns weitgehend verloren ist, und seinen Äußerungen über das Lächerliche als dem eigentlichen Gegenstand des Komischen. Über die Frage, was das Lächerliche oder Lachenerregende ist, welche Formen es davon gibt und wie sie zu beurteilen sind, gibt es ausdrückliche Darstellungen durch Aristoteles, vor allem in seinen Ethiken. Durch den gedanklichen Zusammenhang dieser ethischen Schriften ist auch die Funktion, die das Lächerliche für menschliches Handeln hat, bestimmbar. Dazu kommt, dass Aristoteles eine richtige Weise und verschiedene falsche Weisen, sich am Lächerlichen zu vergnügen, unterscheidet und diesen Unterschied an verschiedenen Formen der Komödien, die es bis zu seiner Zeit gab, erklärt. Diese Exemplifizierung des Komischen an historischen Formen der Komödie durch Aristoteles selbst bringt dem Philologen die Berechtigung, die theoretischen Erläuterungen des Komischen zur Deutung dessen, was Aristoteles unter einer Komödie verstanden haben könnte, zu benutzen. Eine Reihe von Äußerungen über die Komödie gibt es auch innerhalb des erhaltenen Teils der Poetik, die wichtigsten sind die folgenden: 1 Kapitel 2, 1448a16-18: Genau hier liegt auch der Unterschied zwischen Tragödie und Komödie: Die eine nämlich will Charaktere nachahmen, die dem heutigen Durchschnitt unterlegen, die andere aber solche, die ihm überlegen sind. Kapitel 4, 1448b34-1449a6: Wie aber von bedeutenden Handlungen Dichter im besten Sinn Homer war (er allein hat nicht nur gut gedichtet, sondern seine Nachahmungen auch als dramatische Handlungen gestaltet), so war er auch der erste, der den Gattungscharakter der Komödie aufgewiesen hat, und zwar dadurch, dass er <sich> nicht <auf> Polemiken <beschränkt>, sondern das Lächerliche in 1 Übersetzungen vom Verfasser. <?page no="14"?> Arbogast Schmitt 2 dramatischer Handlung dargestellt hat. Denn der Margites ist nicht ohne Entsprechung geblieben: Wie sich die Ilias und die Odyssee zu den Tragödien verhalten, so verhält er sich zu den Komödien. Als aber Tragödie und Komödie aufkamen, da verfassten von denen, die je nach ihrer Wesensart zu der einen oder der anderen Dichtungsart tendierten, die einen keine Invektiven mehr, sondern gestalteten komische Handlungen, die anderen verfassten keine epischen Gesänge mehr, sondern gestalteten tragische Handlungen, weil diese Formen in sich bedeutender waren und in höherem Ansehen standen als jene. Kapitel 5, 1449a32-1449b8: Die Komödie aber ist, wie gesagt, Nachahmung von zwar schlechteren Menschen - aber nicht in jedem Sinn von Schlechtigkeit, sondern nur zum Unschönen gehört das Lächerliche. Denn das Lächerliche ist eine bestimmte Art der Verfehlung <des Handlungszieles> und eine Abweichung vom Schönen, die keinen Schmerz verursacht und nicht zerstörerisch ist. So ist ja bereits die Komödienmaske irgendwie hässlich und verzerrt, aber ohne Ausdruck von Schmerz. Die Entwicklungsprozesse der Tragödie nun und die Namen der dafür Verantwortlichen sind ganz gut bekannt, die Komödie dagegen führte wegen ihrer unbedeutenden Inhalte von Beginn an ein Schattendasein. Auch der Komödienchor wurde ziemlich spät erst <offiziell> durch den Archon bestellt; zunächst beteiligte sich, wer wollte. Erst als sie bereits bestimmte feste Formen erhalten hatte, begann man damit, die Namen ihrer bekannteren Dichter zu überliefern. Wer aber die Masken einführte und die Prologe oder die Anzahl der Schauspieler festlegte oder anderes von dieser Art, ist nicht bekannt. Die literarische Darstellung <komischer> Handlungen kam ursprünglich aus Sizilien (von Epicharm und Phormis), von den Komödiendichtern in Athen löste sich Krates als erster von der Form bloßer Verspottungsszenen und begann damit, überhaupt Geschichten als durchkomponierte Handlungen zu konzipieren. Kapitel 9, 1451b6-15: Die Dichtung nämlich stellt eher etwas Allgemeines, die Geschichtsschreibung Einzelnes dar. ‚Etwas Allgemeines’ aber meint, dass es einem bestimmten Charakter mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit zukommt, Bestimmtes zu sagen oder zu tun. Dieses <Allgemeine eines Charakters> versucht die Dichtung <?page no="15"?> Aristoteles‘ Theorie des Komischen und der Komödie 3 darzustellen, die <einzelnen> Namen werden dazugesetzt; ‚Einzelnes’ meint: das, was Alkibiades getan und was er erlitten hat. Bei der Komödie ist dies bereits deutlich geworden. Denn ihre Dichter konstruieren eine wahrscheinliche Handlung und geben den Personen dann passende Namen und beziehen ihre Dichtung nicht wie die Jambendichter auf konkrete einzelne Personen. Kapitel 13, 1453a30-39: Die zweitbeste Struktur <einer Tragödie>, die manche für die beste halten, ist die, die wie die Odyssee einen Doppelschluss hat und für die Guten und für die Bösen zu einem entgegengesetzten Ende führt. Dass dieser Verlauf als der beste gilt, liegt an der Schwäche des Publikums. Dieser Schwäche beugen sich nämlich die Dichter und schreiben den Zuschauern zu Gefallen. Das ist aber nicht die Lust, die aus der Tragödie kommt, sondern gehört eher zur Komödie. Denn dort verlassen die, die während der ganzen Handlung die größten Feinde sind, wie z. B. Orest und Aigisthos, am Ende als Freunde die Bühne, und es stirbt keiner durch keinen. Trotz der Tatsache, dass Aristoteles sich in diesen Partien der Poetik nur nebenbei mit der Komödie beschäftigt und daher sehr knappe Aussagen macht, enthalten sie doch nicht weniger als die Grundzüge einer Theorie der Komödie. Besonders wichtig ist ihm die Unterscheidung bestimmter, in seinem Sinn noch vorliterarischer Formen des Komischen: des Spotts, der Invektive oder Polemik, die unmittelbar an bestimmte Situationen gebunden sind und in sie eingreifen bzw. die sich direkt gegen bestimmte ‚historische’ Personen richten und sie angreifen, von einer Integration des Komischen in eine durchkomponierte, vollständig aus- und durchgeführte Handlung. Erst diese letztere Form der Komposition und Darstellung ist Dichtung ‚im Sinn der Kunst‘, erst sie hat für ihn literarischen Charakter. Er betont dies wiederholt und mit Nachdruck, so dass es fast verwunderlich erscheinen muss, dass es von vielen Interpreten (die der Komödie im Allgemeinen und der Aristophanischen im Besonderen nicht selten eine einheitliche Handlungsgestaltung ganz absprechen) kaum beachtet wird. Ähnlich wie für die Tragödie sieht Aristoteles auch für die Komödie das erste und zugleich herausragende Vorbild in Homer. Er habe sich von bloßer Polemik gelöst und in seinem Margites das Lächerliche in dramatischer Handlung dargestellt. Im fünften Jahrhundert musste dieses Ziel neu entdeckt und der Weg, es zu erreichen, neu ermittelt werden. Ausgangs- und Endpunkt beschreibt Aristoteles aber wie bei Homer: Es geht darum, die Form bloßer Verspot- <?page no="16"?> Arbogast Schmitt 4 tungsszenen zu überwinden und zu (er-)finden, wie man das Lächerliche in einer durchkomponierten Handlung zur Darstellung bringt. Bereits im ersten Satz der Poetik hatte Aristoteles als wichtigste Aufgabe einer ‚Kunstlehre der Dichtung’ ( ) beschrieben, dass sie erklären muss, wie man ‚Mythen‘, d.h. einheitlich durchkomponierte Handlungen (‚mythos’ als sýstasis oder sýnthesis t át , 1450a4f., 1450a32f.), so verfasst, dass sie ‚kunstgemäß’ sind (1447a2-3). Die Erfüllung dieser Aufgabe ist also keine Besonderheit der Komödie, es ist aber das, was ihren poetischen Charakter ausmacht. Es ist deshalb klar, dass das, was Aristoteles über die Besonderheiten einer literarischen Handlungsdarstellung bei der Tragödie sagt, auch für die Komödie gilt. In Kapitel 7 zeigt er, dass eine Handlung vollständig und ganz sein und eine gewisse Größe haben müsse. Vollständig und ganz ist eine Handlung, wenn sie Anfang, Mitte und Ende hat. In Bezug auf eine Handlung in dem Sinn, wie Aristoteles sie etwa in den Ethiken erläutert, ist der Anfang einer Handlung eine bestimmte Entscheidung, in der jemand sich entschließt, etwas vorzuziehen oder zu meiden. ‚Mitte’ ist die Durchführung, der Weg, auf dem jemand versucht, das, was er bevorzugt oder ablehnt, zu erreichen. Das Ende ist, das wird viel zu wenig in Rechnung gestellt, nicht der Abschluss eines Geschehens, eines ‚plots’, sondern die Lust oder Unlust, die man beim Erreichen oder Verfehlen des gesetzten Ziels empfindet. Aristoteles unterscheidet streng zwischen poiein (machen) und prattein (handeln). Bei dem, was man ‚macht’, um eine Handlung durchzuführen, muss man sich nach äußeren Bedingungen richten. Wer ein Gift mischen will, muss wissen, welche Ingredienzien er auf eine bestimmte Weise verbinden muss. Das Handlungsziel, das mit dem ‚gemachten’ Gift erreicht werden soll, ist aber nicht einfach die erfolgreiche Vergiftung von jemandem, sondern es ist die Lust über das damit erreichte Ziel. Diese Lust kann auch in Unlust enden, etwa wenn man das, was man in einer heftigen Erregung ‚gemacht’ hat, bereut, weil man viel zu weit gegangen ist und sich selbst geschädigt hat. Das Ende eines ‚Machens’ und das Ende einer ‚Handlung’ können also auseinanderfallen, denn sie haben unterschiedliche Ziele. 2 Diesen subjektiven Charakter des Ziels einer Handlung arbeitet Aristoteles im 8. Kapitel der Poetik (1451a22-35) heraus und noch einmal in einer zentralen Passage des 23. Kapitels (1459a17-30). Viele meinen, so führt er aus, dass man eine einheitliche Handlungsdarstellung dadurch erreichen könne, dass man sich einen Menschen oder einen zusammenhängenden Abschnitt aus seiner Biographie zum Vorwurf nehme. Die Kontinuität der Zeit und die Einheit der Person scheinen auch einen einheitlichen Erzählverlauf zu garantieren. In analoger Weise wählen viele 2 S. zu dieser Unterscheidung v.a. Metaphysik 1025b19-1026a23, 1064a17-b5; Nikomachische Ethik VI, 4, 1140a1-23, 1140b4-7. <?page no="17"?> Aristoteles‘ Theorie des Komischen und der Komödie 5 bestimmte zusammenhängende Ereignisfolgen, um dadurch auch einen einheitlichen Gegenstand ihrer Erzählung oder Darstellung zu gewinnen. Aristoteles kritisiert ein solches temporales Narrationsverständnis, weil das, was in einem Zeitverlauf ‚gemacht’ wird, zu vielen, ganz verschiedenen und nicht zusammengehörenden Handlungszielen und damit auch zu verschiedenen Handlungen, ja sogar zu einem bloß passiven Bewegtwerden, d.h. zu einer Phase oder einem Zustand gehören kann, in dem jemand gar nicht (aus sich heraus) handelt. Vorbild für die richtige Form der Handlungsdarstellung ist ihm auch in dieser Frage Homer, der‚ „überlegen wie er auch in allem übrigen ist, auch hier das Richtige gesehen zu haben scheint“ (1451a22-24). Tatsächlich hat Homer in seiner Ilias nicht das ganze Geschehen des Troianischen Kriegs dargestellt, „obwohl er einen bestimmten Anfang und ein Ende hatte“ (1459a31f.), sondern sich, wie Aristoteles sagt, „auf eine Handlung, wie wir sie verstehen“ (1451a28f.) konzentriert: auf die Darstellung der Entstehung, des Verlaufs und (des in mehreren Phasen sich einstellenden) Endes des Zorns des Achill (sc. darüber, dass er daran gehindert wird, der Zerstörer Troias zu werden). Anfang, Mitte und Ende der Ilias ergeben sich aus dieser Handlung, nicht aus dem geschichtlichen Verlauf des Krieges. Wenn man die Bedeutung, die die gegenwärtige Narrationsforschung der Zeit einräumt, zum Vergleich nimmt, kann man die Ilias und die Odyssee geradezu als ein (bewusstes) Spiel mit der Zeit verstehen. Man erfährt in der Ilias fast alles, was man über den Verlauf des troianischen Kriegs wissen muss, aber man erfährt es nicht an der Zeitstelle, zu der es gehört, sondern an der jeweiligen Stelle der Handlung, der es funktional dient. Nicht die Zeit, die Handlung ist bei Homer strukturbildend. Wenn man zum Beispiel wissen will, was die Griechen neun Jahre lang vor Troia (bis zum Beginn der Ilias-Handlung) unternommen haben, dann liest man das nicht in einer Einleitung, in der auf die erzählte Handlung hingeführt wird, sondern in einer Rede Achills, in der er der Bittgesandtschaft, die ihn zum Nachgeben bewegen will, die Gründe für seine Verweigerung darlegt. In der Antwort auf die Rede des Odysseus beschreibt Achill, wie die Griechen, da sie Troia selbst nicht erobern konnten, die Städte im Umland angegriffen haben, und er erzählt dies nicht, um von diesem Geschehen zu berichten, sondern um zu erklären, dass er immer „wie eine Vogelmutter“ sich um alle gekümmert und immer nur seinen gerechten Teil in Anspruch genommen habe, und um damit zu begründen, weshalb er den Bitten, wieder mitzukämpfen, nicht nachgeben könne. Ähnlich steht es mit der Erzählung von der Verwundung des Odysseus durch einen Eber, die Aristoteles selbst als Beispiel für die in seinem Sinn überlegene Erzählweise Homers anführt (1451a23-30, v.a. 26). Diese Erzählung gehört zur Jugendgeschichte des Odysseus, die für die Odysseehandlung, d.h. für die Erfüllung der Sehnsucht des Odysseus, endlich wieder mit <?page no="18"?> Arbogast Schmitt 6 seiner Frau in seinem Königreich zusammen zu sein, keine Funktion hat. Denn es war, wie Aristoteles formuliert, „weder notwendig noch wahrscheinlich, dass, wenn das eine [die Verwundung durch den Eber] geschehen war, das andere [das Gelingen der Heimfahrt] geschehen musste“. Wenn Homer dennoch von dieser Geschichte erzählt, dann gleichsam gegen die Zeit, an einer hochdramatischen Stelle, an der Odysseus aus Unvorsichtigkeit sich von seiner alten Magd Eurykleia die Füße waschen lässt. Dabei entdeckt diese die Wunde und erkennt ihren Herrn. Diese dramatisch aufgeladene Stelle benutzt Homer, um von der Entstehung der jetzt für Odysseus noch einmal so gefährlich werdenden Wunde zu berichten. Die Art und Weise, wie bei Homer die Wahrscheinlichkeit einer Handlungsfolge nicht auf der Wahrscheinlichkeit des kausalen und zeitlichen Verlaufs einer Geschichte beruht, sondern auf der Wahrscheinlichkeit, mit der das, was ein Handelnder sagt oder tut, auf das folgt, was in seiner vorausgehenden Handlungsweise angelegt war, verweist auch auf die genaue funktionale Stelle, die bei Aristoteles die Forderung nach Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit einnimmt. Dass Achill etwa von der Eroberung der Städte rund um Troia berichtet, ergibt sich nicht aus der Wahrscheinlichkeit des Verlaufs eines Kriegs, in dem eine überlegene Streitmacht einem Gegner, der nicht direkt besiegbar ist, wenigstens indirekt Schaden zufügt, sondern es ergibt sich aus den allgemeinen Charaktertendenzen des Achill, die sich in einer bestimmten einzelnen Situation wieder durchsetzen: Achill ist sehr hilfsbereit, aber zugleich sehr empfindlich gegen Ungerechtigkeit. Der Appell an seine Hilfsbereitschaft erinnert ihn an diese Verletzung. Deshalb berichtet er von seiner großen Hilfsbereitschaft und seinem Gerechtigkeitsstreben und erzählt die dazu passende Geschichte. Besonders aufschlussreich für Aristoteles’ Verständnis der Komödie ist, dass er genau diese Wahrscheinlichkeit, die Wahrscheinlichkeit des Handlungsverlaufs in seinem prägnanten Sinn und nicht die Wahrscheinlichkeit, mit der etwas im Leben der Menschen zu geschehen pflegt (in dem Sinn, in dem die Komödie als ‚Spiegel des Lebens’ verstanden werden kann), an der Komödie noch deutlicher als an der Tragödie realisiert sieht. Bei der Tragödie halte man sich meistens an die geschichtliche Wirklichkeit und gewinne daraus auch zum Teil die Glaubwürdigkeit des Dargestellten, bei der Komödie dagegen gehe es zuerst um den Zusammenhang zwischen dem, was ein bestimmter Charakter verfolgt oder meidet, und den dazu passenden Worten und Taten. Zuerst werde ein Handlungszusammenhang konzipiert, der aus den allgemeinen Tendenzen eines Charakters mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit folgt, dann gebe man den handelnden Personen beliebige Namen. Der Name bezeichnet den Träger der Handlung, er ‚referiert’ nicht auf eine vorhandene wirkliche Person der Geschichte, er steht aber dafür, dass der Handelnde als eine einzelne, individuelle Person vorgestellt wird (1451b7-19). <?page no="19"?> Aristoteles‘ Theorie des Komischen und der Komödie 7 Wenn man fragt, weshalb die Komposition einer Handlung im Urteil des Aristoteles Ursache des literarischen Charakters einer Darstellung ist, so ergibt sich aus seinen Erläuterungen eine zweifache Antwort: Sie ist zum einen verantwortlich für die Disposition einer Darstellung, d.h. für die Ordnung der einzelnen Teilhandlungen untereinander und zum Ganzen, sie ist zum andern für den sprachlichen Stil einer Darstellung verantwortlich. Denn das, was ein bestimmter Handelnder in einer bestimmten Situation sagt, ist dann wahrscheinlicher oder notwendiger Ausdruck seines Charakters. Dasselbe gilt für die Disposition der Handlung. Anfang, Mitte und Ende sind dann von der Art, dass man, wie Aristoteles sagt, „keinen Teil umstellen oder wegnehmen kann, ohne dass das Ganze sich ändern würde“ (1451a33f.), denn alle Handlungsschritte, die wirklich Ausdruck der charakterlich bestimmten Entscheidung einer Person sind, sind auf ein Handlungsziel gerichtet und stützen und ergänzen sich gegenseitig. Etwas Vergleichbares gibt es in der Wirklichkeit (deren Nachahmung Aristoteles ablehnt, nicht fordert) in der Regel nicht. In den meisten Fällen kommt im wirklichen Leben vieles vor, was nicht charakteristisch für ein augenblickliches Handeln ist. Es kann da oder nicht da sein, ohne dass sich an der Handlung etwas ändert. Aristoteles verweist etwa darauf, dass man nichts über Achill sagt, wenn man ihn als Kämpfer vor Troia bezeichnet. Das ist er ‚in Wirklichkeit’, aber das sind eben viele andere auch. Genauso tut Achill vieles, was nicht für die Handlung, die die Ilias beschreibt, relevant ist. Er isst und trinkt z.B. täglich wie alle anderen. Davon berichtet Homer nicht, wohl aber z.B. von der Art und Weise, wie er die Bittgesandtschaft, die ihn umstimmen will, oder wie er Priamos, der über den Tod seines Sohnes unglücklich ist, mit größter Höflichkeit und Aufmerksamkeit bewirtet. Diese Bewirtung sagt etwas über Achill (im allgemeinen) aus, und sie sagt etwas über die besondere Handlungsphase aus, in der Achill sich gerade befindet. Die große Bedeutung, die Aristoteles der Handlungskomposition für den literarischen Charakter auch einer Komödie beimisst, verweist darauf, dass auch das Hamartema (der Fehler oder die Verfehlung), das für das Lächerliche (geloion) in einer Komödie verantwortlich ist (1449a34f.), nicht so ausgelegt werden darf, als seien damit einzelne Fehlgriffe beim Sprechen oder im Handeln gemeint, über die man lacht, weil sie nicht wehtun. Diese verbreitete Deutung geht an den Bedingungen der ‚Literarizität’ einer Komödie vorbei. Natürlich lacht man auch nach Aristoteles, wenn jemand den Obersophisten Sokrates als ‚mein Sokrätchen’ anspricht, oder wenn ein Gott verprügelt wird, weil er sich als sein Diener verkleidet hat, usw. Solche einzelnen Hamartemata müssen in einer Komödie vorkommen, aus einer Anhäufung dieser Fehlleistungen würde aber niemals eine geformte Einheit entstehen können. Man wird deshalb zumindest vermuten und diese Ver- <?page no="20"?> Arbogast Schmitt 8 mutung überprüfen müssen, ob nicht auch das komische Hamartema in einer Analogie zur Hamartia (tragische Verfehlung) der Tragödie gesehen und also als derjenige Fehler bzw. als diejenige Gruppe von Fehlern verstanden werden muss, die für das Scheitern der komischen Handlung ursächlich ist. Dass es dafür gute Gründe gibt, versuche ich im Folgenden zu zeigen. Für die Konstitution einer literarischen Gattung sind nach Aristoteles vor allem drei Komponenten ausschlaggebend: das Medium oder die Medien, in denen etwas dargestellt wird, z.B. in Farbe, Tönen oder in der Sprache, der Gegenstand, der dargestellt wird, und drittens die Art und Weise, wie der Gegenstand in einem bestimmten Medium dargestellt wird. Gegenstand einer Komödie ist das Handeln von Menschen mit Charakterdefekten, die aber nicht verbrecherisch sind. Das Komische kommt aus einer Verfehlung des Handlungsziels, die in diesen Charakterdefekten ihren Grund hat. Dargestellt wird dieser komische ‚Gegenstand’ im Medium der Sprache und in direkter dramatischer Darstellung. Wenn man über diese Grundzüge, die weitgehend aus der Poetik direkt ableitbar sind, hinauskommen und auch die konkrete Ausgestaltung dieser Züge durch Aristoteles, so weit sie noch erschließbar sind, ermitteln will, muss man über die Poetik hinaus auf andere Schriften des Aristoteles und auf Berichte über die Aristotelische Komödientheorie zurückgreifen, die auf verschiedene Weise überliefert sind. Aristotelische und nacharistotelische Quellen zur verlorenen Theorie der Komödie in der Poetik Eine Theorie des Komischen und der Komödie sollte, wie Aristoteles selbst sagt, 3 auf die Behandlung der Tragödie und des Epos folgen. Diese Abhandlung ist verloren. Der Zeitpunkt des Verlusts ist unklar, das erste Indiz für einen terminus ante quem ist die Tatsache, dass der syrische Übersetzer der Poetik, der nicht später als 900 tätig war, ein Exemplar benutzte, das das zweite Buch nicht mehr enthielt. 4 3 Poetik 6. Kap. (1449b21f.). Ich halte mich im Folgenden weitgehend an das, was ich in dem Kommentar zur Poetik darzulegen versucht habe. S. Aristoteles, Poetik, übers. und erl. von Arbogast Schmitt, Berlin 2008, Erläuterungen zu Kapitel 5. Außer einigen verstreuten Bemerkungen v.a. in den Ethiken, der Rhetorik und der Politik gibt es also von Aristoteles selbst keine expliziten Erklärungen seiner kurzen Definition der Komödie zu Beginn des 5. Kapitels. Es gibt aber in einem Kodex vermutlich aus dem 10. Jahrhundert, der - ursprünglich im Besitz eines Klosters auf dem Berg Athos - jetzt zur Sammlung Coislin der Nationalbibliothek Paris gehört, 4 Zu den syrischen Übersetzungen s. L. D. Reynolds u. N. G. Wilson, Scribes and Scholars, Oxford 1968, S. 31. <?page no="21"?> Aristoteles‘ Theorie des Komischen und der Komödie 9 ‚Exzerpte’ aus der Komödientheorie des Aristoteles (bei denen umstritten ist, wie weit sie eine authentische Wiedergabe sind). Dazu kommen einige einführende Erklärungen des Komischen (Prolegomena), die in Aristophanes- Handschriften erhalten sind, die zum Teil mit dem Codex Coislinianus übereinstimmen, außerdem noch einige Verse aus einem Lehrgedicht über die Komödie eines Byzantinischen Gelehrten (Johannes Tzetzes) aus dem 12. Jahrhundert. 5 Einige Vermutungen über Elemente der Aristotelischen Komödientheorie lassen sich aus diesem Material zusammenstellen, vieles ist in der gegenwärtigen Forschung aber immer noch umstritten: Da von einer Komödie im eigentlichen Sinn nach Aristoteles erst die Rede sein kann, wenn sie eine Handlungskomposition hat, liegt es, wie ich schon wahrscheinlich zu machen versucht habe, nahe, die ‚Verfehlung des Richtigen’ (hamárt ), von der er auch beim Lächerlichen spricht, wie in der Tragödie auf das Scheitern des Handelns zu beziehen. 6 Das komische Scheitern ist aber, wie er sagt, nicht vernichtend, d.h. es endet nicht im Unglück, und es ist nicht mit Leid verbunden. Das Mitverfolgen des tragischen Scheiterns einer Handlung führt zu Mitleid und Furcht, und zwar zu einer richtigen, dem Gegenstand und seiner Bedeutung angemessenen Empfindung von Mitleid und Furcht. Dadurch dass die Tragödie dazu erzieht, Mitleid und Furcht in einer dem Gegenstand und seiner Bedeutung angemessenen Weise zu empfinden, bewirkt sie eine Katharsis, eine Reinigung dieser Gefühle (sc. von fehlgeleiteten, unkultivierten Formen der Empfindung dieser Gefühle). In Analogie dazu kann man schließen, dass auch die Komödie mit der Darstellung scheiternden Handelns eine Katharsis bewirken möchte. Über eine solche komische Katharsis macht der Tractatus Coislinianus eine Aussage, die allerdings vielen Interpreten nicht glaubwürdig erscheint, weil sie Teil einer Definition der Komödie ist, die in allen Gliedern und Formulierungen der Definition der Tragödie aus Kap. 6 der Poetik entspricht. Das sieht nach Nachahmung aus und ist verdächtig, außerdem ist es v.a. seit der Romantik 7 allgemeine Überzeugung, dass man die Aristotelischen Klassifikationen nicht auf die altattische Komödie anwenden dürfe. 8 5 Texte s. W. J. W. Koster (Hg.), Scholia in Aristophanem, Pars I, Fasc. IA., Groningen/ Amsterdam 1975 (= Scripta Academica Groningana). Übersetzung vieler einschlägiger Texte und eingehende Interpretation jetzt bei R. Janko, Aristotle on Comedy. Towards a Reconstruction of Poetics II, London 1984. 6 Anders auch noch S. Halliwell, Aristotle’s Poetics: a Study of philosophical Criticism, London 1986, S. 275. 7 S. v. a. A. W. Schlegels Behandlung der Aristophanischen Komödie in seinen Vorlesungen über die dramatische Kunst und Literatur I, A. W. Schlegel, in: Kritische Schriften und Briefe, Bd. 5, hg. v. E. Lohner, Stuttgart u.a. 1966, S. 130-155. 8 S. z.B. auch T. Zielinski, Die Gliederung der altattischen Komödie, Leipzig 1885. <?page no="22"?> Arbogast Schmitt 10 Die Definition des Tractatus enthält aber (zusammen mit anderen, vielleicht aus derselben peripatetischen Quelle schöpfenden antiken literarkritischen Urteilen zur Komödie) zugleich eine Nachlässigkeit, die sich ein Fälscher, der auf den Eindruck einer korrekten aristotelischen Methodik bedacht sein musste, kaum hätte zuschulden kommen lassen, die aber für Aristoteles selbst nicht ungewöhnlich wäre. Die Definition lautet nämlich: „Die Komödie ist Nachahmung einer lächerlichen Handlung …, die durch ‚Lust’ ( ) und Lachen ( ) eine Reinigung derartiger Gefühle bewirkt“. 9 Das ist natürlich kein korrektes Gegenstück zur Tragödiendefinition, und zwar offenkundig. Denn die Lust ist kein für die Komödie spezifisches Gefühl - wie etwa das Mitleid für die Tragödie -, sondern ein Wesensmerkmal vieler und eben auch tragischer Gefühle. Janko konnte aber (nach anderen, auf die er sich stützt) plausibel machen und aus dem Aristotelischen Sprachgebrauch belegen, dass Aristoteles, dem auch sonst der gemeinte Sinn wichtiger ist als das exakt passende Wort (s. Metaphysik VII, 1030a27f.), auch von einen engeren und einen weiteren Gebrauch machen kann. Der engere, für die Komödiendefinition relevante Sinn ist etwa: ‚Amüsement’, ‚Ergötzung’, ‚Belustigung’. Gemeint ist dasjenige Amüsement, das man in Phasen der anápausis, der ‚Erholung’ von ernsthafter Anstrengung bei Scherz und Spiel (paidiá) genießt. Ein späterer Begriff, den die Aristoteliker dafür gebraucht haben, ist cháris (‚heiteres Ergötzen’). 10 Dieser Begriff ist aus dem Aristotelischen Sprachgebrauch heraus entwickelt, denn Aristoteles spricht in diesem Zusammenhang von Menschen, die cháris haben, 11 Bei den Gefühlen, die mit Spott, Scherz, Witz, Lachen verbunden sind, kennt Aristoteles ein Zuviel, ein Zuwenig und eine genaue Mitte, die lateinischen Übersetzungen der Aristoteles-Kommentare benutzen delectatio. 12 Eine unangemessene Lust und ein falsches Streben hat der ist der, „der an den Opferaltären herumlungert“ und nach allem giert, was irgendwie abfällt. In übertragenem Sinn ist ein der, dem jeder Witz, gleichgültig, ob er passt und wen er trifft, recht ist, wenn er nur irgendwie damit Lachen erregen kann. Das Gegenteil dazu ist ein unkultivierter (ágroikos), sturer, ‚frostiger’ Ernst, der schon beim geringsten Scherz oder Spott unwillig wird. Die richtige - nicht etwa die gemäßigte, z.B. nur harmlos unbedeutende Scherze akzeptierende - Mitte ist die, die „in der Melodie bleibt“, es gibt bei ihnen also die Möglichkeit, sie von Falschem zu ‚reinigen’ und eine richtige, angemessene Empfindung zu erreichen. 13 9 Janko 1984, IV, S. 24. die Freude an Scherz, Spaß und Spott hat, wenn sie Quali- 10 S. Janko 1984, S. 156-160. 11 Z.B. Nikomachische Ethik 1128a15, 1128b1. 12 S. Nikomachische Ethik IV, 8; Eudemische Ethik III, 7; Politik VIII, 3. 13 Nikomachische Ethik 1128a9f. <?page no="23"?> Aristoteles‘ Theorie des Komischen und der Komödie 11 tät haben, d.h., wenn sie demjenigen Freude machen, der ein richtiges Urteil hat. 14 Von diesen Charaktereigenschaften, die man hat, wenn man am Lachen zu viel, zu wenig oder in angemessener Weise Lust hat, sagt Aristoteles ausdrücklich, dass sie (für sich noch) keine Tugenden oder Laster sind, sondern páth , Gefühle, Emotionen: Wer diese Mitte einhält, ist (‚sich zum Rechten hinwendend’) oder eutrápelos (‚gewandt’), es ist der, der im gesellschaftlichen Umgang den richtigen Geschmack hat. 15 Man empfindet bei diesen Tätigkeiten Lust oder Unlust und erstrebt oder meidet etwas. Die Meinung vieler Interpreten, die Lust am Lächerlichen in der Komödie sei mit der tragischen Lust an Mitleid und Furcht nicht vergleichbar, weil das Lachen für Aristoteles überhaupt keine Emotion sei, 16 Der neuplatonische Philosoph Jamblich sagt De mysteriis I, 11: „In der Komödie und der Tragödie entwickeln wir beim Betrachten fremder Gefühle angemessene Gefühle, bringen sie in ein richtigeres Maß und reinigen sie.“ Im Sinn dieser Auslegung spricht auch der Tractatus Coislinianus von einer Symmetrie, einem richtigen Maß bei den Gefühlen (der Furcht, des Mitleids, des sich Ergötzens und Lachens), das durch die in Tragödie oder Komödie erfahrene Katharsis hergestellt werde. hat vielleicht darin ihren Grund, dass sie nur die Techniken, Lächerlichkeit zu erzielen, in ihr Urteil einbeziehen. Es geht aber um die Empfindungen gegenüber dem Lächerlichen und darum, wie man es sucht oder meidet. Erkenntnis, begleitende Lust oder Unlust und Streben oder Meiden sind aber genau die Akte, die nach Aristoteles ein páthos, ein Gefühl konstituieren. Wer die Unverdientheit eines Unglücks erkennt, dabei Unlust empfindet und danach strebt, dieses Unglück abzuwehren, empfindet Mitleid. Genauso entwickelt der, der etwas als Spott erkennt, dabei Unlust empfindet und ihn unwillig abwehrt, Gefühle einer unkultivierten Sturheit. 17 Die Beziehung der verschiedenen Formen des Komischen auf die Entwicklung verschiedener Formen der Komödie durch Aristoteles Ein wichtiger Beleg dafür, dass Aristoteles der Komödie eine kathartische Aufgabe mit diesem Ziel zuerkannt haben könnte, ist, dass er im Anschluss an die Behandlung der richtigen und der falschen Formen der Gefühle gegenüber dem Lächerlichen in der Nikomachischen Ethik diesen Unterschied 14 S. v.a. Eudemische Ethik III, 7. 15 Eudemische Ethik III, 7, 1234a24-35. 16 So wieder M. Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, S. 63; 67; s. auch Halliwell 1986, S. 275. 17 S. Janko 1984, III, IV, s. auch R. Janko, From Catharsis to the Aristotelian Mean, in: A. Oksenberg Rorty (Hg.), Essays on Aristotle’s Poetics, Princeton, N. J. 1992, S. 341-358. <?page no="24"?> Arbogast Schmitt 12 selbst an der Komödie exemplifiziert (1128a22-25). Für den Unterschied nämlich, ob jemand wie ein gebildeter, freier oder wie ein ungebildeter, unfreier Mensch mit Scherz und Spiel umgehe, könne man das Verhältnis der Komödie der Alten zur Komödie der Neuen als Beispiel nehmen. Die Alten hätten ihren Spaß in der direkten Beschimpfung (aischrología, ‚Hässliches aussprechen’) gefunden, die Neuen suchten ihn in der Form der , der ‚Andeutung’. Da für Aristoteles die Vollendung der Komödie gegenüber ihren ‚jambischen’ Anfängen in der durchkomponierten Handlung liegt, die Lächerlichkeit eines Handelns aber erst aus dieser erschlossen werden muss, auch wenn dabei einzelne Personen des ‚wirklichen’ Lebens beschimpft oder lächerlich gemacht werden, gewinnt der Zuschauer in der neuen Form der Komödie ein indirekteres, gebrocheneres und damit freieres, der Erkenntnis freieren Raum gebendes Verhältnis zum Lächerlichen. Versucht man diese mögliche und plausible Deutung auf das anzuwenden, was wir von der antiken Komödie vom 6. bis ins 4. Jahrhundert vor Christus wissen, gerät man allerdings vor eine Reihe von Schwierigkeiten, die sich aber zum Teil auflösen lassen und so nicht wenig zu einem adäquaten Verständnis beitragen. Schon die antiken Philologen haben die Komödie in eine alte, mittlere und neue Komödie eingeteilt. Als Hauptvertreter der Alten Komödie gilt heute Aristophanes, bis auf seine letzten Stücke, die man bereits der mittleren Komödie zurechnet, die ‚Neue Komödie’ lässt man mit Menander um 320 beginnen. Den Hauptunterschied zwischen diesen Komödienformen glaubt man ungefähr in dem ausmachen zu können, was Aristoteles an der eben angeführten Stelle sagt: Aristophanes gehöre wegen seiner Zoten und Unflätigkeiten zur alten Komödie, Menander mit seinem urbanen, bürgerlich dezenten Witz begründe die neue Form der Komödie (deren Wirkung über Plautus und Terenz bis zur Komödie der Neuzeit reicht). 18 Gegen diese Zuordnung sprechen aber, auch wenn man davon absieht, dass Aristoteles Menanders Komödie noch nicht gekannt haben kann - er könnte sich ja vielleicht auf uns nicht mehr erhaltene Vorformen aus der Mitte des 4. Jahrhunderts bezogen haben -, wichtige Gründe. Zunächst: Die Tendenz, Aristophanes zum Vertreter der alten Komödie zu machen, ist nachmenandrisch. 19 18 Zur sogenannten ‚Mittleren Komödie‘ s. v.a. Nesselraths grundlegende und die Forschung zusammenfassende Arbeit: H. G. Nesselrath, Die attische mittlere Komödie, Berlin/ New York 1990. Mehrere antike literarkritische Darstellungen der Entwicklung der Komödie rechnen Aristophanes, selbst wenn sie Menander kennen, zur mittleren Komödie und unterscheiden die alte und die mittlere Komödie an den aristotelischen Kriterien, ob eine Komödie noch jambischen, d.h. direkt Spott und Tadel äußernden Charakter hat, oder schon eine in Handlung eingekleidete, verhüllte Form von Kritik. In der alten Komödie 19 S. v.a. Horaz, Satire I, 4, 6. <?page no="25"?> Aristoteles‘ Theorie des Komischen und der Komödie 13 (zu der etwa Susarion und Kratinos gerechnet werden) seien Spott und Kritik offen und unverhüllt, in der mittleren oder zweiten (mit Eupolis, Aristophanes, Platon, dem Komiker) verhüllt oder andeutend. In beiden Formen seien in die Kritik aber alle Mitglieder der Gesellschaft, hoch wie niedrig, eingeschlossen, bei Menander gebe es gar keine allgemeine Kritik mehr, nur noch gegenüber Sklaven und Dienern. 20 Dafür, dass Aristoteles die Aristophanische Komödie nicht mehr zu den alten, jambischen Vorformen gerechnet hat, spricht auch, dass er Aristophanes im dritten Kapitel der Poetik nicht nur mit Homer und Sophokles in einem Atemzug nennt, sondern auch ausdrücklich als Vertreter einer dramatisierten Handlungsdarstellung in Anspruch nimmt (1448a25-28). Die Fähigkeit, Komisches in Mythen, in durchkomponierten Handlungen, darzustellen, ist nach Aristoteles in Athen mit Krates, einem etwas älteren Zeitgenossen des Aristophanes bereits erreicht (1449b7-9). Bei der Komödie Menanders, die wir heute die ‚neue’ nennen, fehlt im Unterschied zu dieser mit Krates und Aristophanes erreichten Form der Komödie ein Handlungscharakter im aristotelischen Sinn. Denn Glück und Unglück sollen sich, wie Aristoteles betont, 21 aus dem Handeln selbst ergeben, in der Komödie Menanders ist das Glück aber zu einem guten Teil Folge eines wohlmeinenden Schicksals, das sich für die Handelnden als günstiger Zufall darstellt. 22 Dass viele Interpreten diese Zeugnisse kennen und dennoch daran festhalten, Aristoteles habe Aristophanes nur zur Komödie der Alten zählen können, liegt an einer Reihe von Eigentümlichkeiten der Aristophanischen Komödie, von der viele glauben, sie seien mit dem Dichtungsverständnis der Poetik unvereinbar. Aristoteles spricht im 9. Kapitel einer dichterischen Darstellung eine über das Einzelne hinausweisende Allgemeinheit zu und verlangt von ihr, so scheint es, sie müsse „den Regeln der Wahrscheinlichkeit gehorchen“. Natürlich wirken auch bei Menander die handelnden Personen aktiv am Erreichen ihrer Ziele mit, es gibt aber, und dafür zeugt die hohe Bedeutung des Zufalls, eine providentielle Gesamtregie. Sie setzt sich auf eine Weise durch, die nicht strenge Folge des eigenen Handelns ist, sondern diesem gegenüber den Charakter einer glücklichen Wende hat. 23 „Beides reimt sich schlecht mit den Stücken des Aristophanes, die mit ihren zahlreichen Attacken gegen bedeutende Zeitgenossen in hohem Maße ‚jambischen’ Charakter zeigen und deren Phantastik jeglicher Wahrscheinlichkeit Hohn spricht“. 24 20 S. Koster 1975, I, II, XIb, XIc, XVIIIa; s. dazu Janko 1984, S. 244-250. Aristophanes konnte oder wollte, wie es scheint, eine Handlung mit aristotelischer Konsequenz noch nicht 21 S. Poetik, Kap. 6, 1449b38-50a3, 1450a16-20. 22 S. G. Vogt-Spira, Dramaturgie des Zufalls. Tyche und Handeln in der Komödie Menanders, München 1992. 23 S. Fuhrmann 1973, S. 63. 24 S. ebda. <?page no="26"?> Arbogast Schmitt 14 gestalten, im Unterschied zur Tragödie müsse man also davon ausgehen, dass die Komödie (trotz 1449b7-9) für Aristoteles noch in einem Stadium der Entwicklung auf ihre eigentliche ‚Natur’ hin sei. 25 Aristophanes verstößt, das wird man nicht bestreiten, mit seiner oft märchenhaften Phantastik gegen die ‚Regeln der Wahrscheinlichkeit’, wenn man unter Wahrscheinlichkeit das versteht, was in der empirischen - natürlichen oder gesellschaftlichen - Wirklichkeit mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit antreffbar ist. Ob er deshalb aber auch gegen den von Aristoteles entwickelten Handlungsbegriff und die von diesem geforderte Wahrscheinlichkeit verstößt, ja ob Aristoteles überhaupt eine solche empirisch begründbare Wahrscheinlichkeit im Auge gehabt hat, wenn er von einer dichterischen Darstellung fordert, sie solle „gemäß der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit“ (1451b9) geschehen, ist nicht erwiesen. Im Gegenteil: Gegen die beiden zentralen Beispiele gelungener Handlungskomposition, auf die sich Aristoteles immer wieder beruft, gegen die Odyssee Homers und den König Ödipus des Sophokles, gelten die gleichen Einwände. Wie wahrscheinlich ist es, dass der Mann, den Ödipus erschlägt, zufällig sein Vater, die Frau, die er heiratet, zufällig seine Mutter ist, dass der Bote, der ihn zum König von Korinth beruft, zufällig dieselbe Person ist, die ihn vor vielen Jahren als Kleinkind in Empfang nahm, dass der Hirte, der dieser Person den kleinen Ödipus übergab, zufällig der einzige ist, der Ödipus am Dreiweg entkam, usw.? Das alles trifft wie in einem (schlimmen) Märchen, nicht wie in einer nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit verlaufenden Wirklichkeit zusammen. Wie wahrscheinlich ist es überhaupt, dass es Personen wie Ödipus oder Odysseus gibt? Die Wahrscheinlichkeit, die Aristoteles meint, betrifft, wie die Interpretation des 9. Kapitels zeigen wird, nicht die Ereignisfolge als solche, die in einer Dichtung dargestellt wird, sondern das Verhältnis zwischen Charakter und Handlung. Die vom Dichter komponierte Handlung soll so sein, dass sie sich wahrscheinlich aus dem, was ein bestimmter Charakter im allgemeinen vorzieht oder meidet, ergibt. Deshalb ist auch ‚das Allgemeine’, das eine Komödie in konkreter Handlung ‚nachahmt’, nicht ‚das allgemeine Schlechte’, es sind nicht ‚Typen’ und deren ‚typische Fehler’, die die Komödie ‚dem Gelächter preisgibt’, 26 25 S. z.B. S. Halliwell, Aristotle‘s Poetics, with a new introd., Chicago 2 1998, S. 273f.; s. ähnlich z.B. schon W. Süß, Aristophanes und die Nachwelt, Leipzig 1911, S. 11f., der meint, für Aristoteles sei „die aristophanische Komödie eine minderwertige Vorstufe der eigentlichen Entwicklung der Gattung“ gewesen. sondern es sind die allgemeinen charakterlichen Gründe, aus denen sich ergibt, warum ein bestimmter Mensch so und nicht anders handelt, und aus denen dieses Handeln daher verstanden werden kann. 26 S. Fuhrmann 1973, S. 65. <?page no="27"?> Aristoteles‘ Theorie des Komischen und der Komödie 15 Die Neue Komödie seit Menander hat in der Tat gewisse Typen ausgearbeitet: den geizigen Alten, den verliebten Jungen, die ehrsame Dirne, den prahlerischen Soldaten, den Kuppler, den pfiffigen Sklaven usw. (auch wenn Menander diesen Typen wieder individuelle Züge gegeben hat), in der Komödie des Aristophanes kommen solche Typen gar nicht vor. Natürlich ist etwa Dikaiopolis, der Held der Acharner, in gewissem Sinn ein typischer attischer Bauer, er unterscheidet sich aber auch erheblich von diesem Typischen, z.B. will er etwas und traut sich etwas zu, was dem Durchschnitt fern liegt. Ähnlich steht es etwa mit Lysistrate (in der Lysistrate des Aristophanes). Sie hat vieles von einer typischen jungen Athenerin ihrer Zeit an sich, aber auch sie hat Ideen, Kraft, Durchhaltevermögen, Charme, Überredungsgabe usw., durch die sie den Durchschnitt weit, sogar unwahrscheinlich weit, übertrifft. Alle Personen der Aristophanischen Komödie können aber vor allem deshalb nicht als Typen gedeutet werden, weil sie gemischte Charaktere sind. Sie sind nicht Charaktere in dem Sinn, in dem Theophrast eine Reihe von Menschen beschrieben hat, bei denen einzelne Züge zum wesensbestimmenden Merkmal geworden sind - den Schmeichler, den Besserwisser, den Gefallsüchtigen, den Geizigen, den Prahler, den Ironiker usw. -, die deshalb in peripatetischer Perspektive eher als (komisch skurrile) Verfallsformen von Charakter denn als Charaktere verstanden werden müssen. Figuren wie Dikaiarchos (Acharner), Lysistrate (Lysistrate), Strepsiades (Wolken), Chremylos (Plutos) usw. lassen sich nicht derartigen Kategorien zuordnen, weil sie zwar nicht gerade herausragend durchgebildete Charaktere sind, aber eben Charaktere, d.h. Menschen, bei denen verschiedene Fähigkeiten und Anlagen in einer gewissen Mischung zu Tendenzen, Bestimmtes vorzuziehen und zu meiden, entwickelt sind. (Auch Euripides und Aischylos, die Aristophanes in den Fröschen auf die Bühne bringt, sind zwar Vertreter einer unterschiedlichen Auffassung über die Ziele der Dichtung, nicht aber Verkörperungen bestimmter Typen von Dichtung.) Obwohl die Personen der Komödie weniger individuell sind als die der Tragödie (sie sind ja weniger selbständig geformte und deshalb mehr dem Durchschnitt folgende Charaktere) - es sind gerade ihre individuelleren Züge, die sie geeignet machen, Träger der komischen Handlung zu sein, über die Aristophanes ‚in verhüllter Form’ seine Kritik an Personen oder Zuständen seiner Gesellschaft vorbrachte. Wenn viele Interpreten in der Aristophanischen Komödie die (vorgeblich von Aristoteles geforderte) Wahrscheinlichkeit und die sich aus ihr ergebende Allgemeinverbindlichkeit vermissen, so ist das auch eine Folge einer im Verhältnis zur Aristotelischen Lehre zu scharfen und kategorischen Entgegensetzung des Allgemeinen und des Individuellen. Im Sinn dieser Entgegensetzung ist das Allgemeine das, was bei vielen Einzelnen immer wieder gleich vorkommt. Das Wahrscheinliche ist dann genau dasjenige <?page no="28"?> Arbogast Schmitt 16 Allgemeine, das bei vielen konkreten, empirisch beobachtbaren Menschen der Fall ist: Alte Männer sind stur und unbeweglich, verlassene Frauen sind beleidigt und unversöhnlich, Besserwisser wissen alles besser usw. Die Richtigkeit einer poetischen Darstellung, etwa wenn Vergil (im 6. Buch seiner Aeneis) darstellt, wie Dido sich selbst in der Unterwelt noch von Aeneas abwendet, bemisst sich demgemäß an der Wahrscheinlichkeit, in der das Dargestellte allgemein und deshalb wahrscheinlich zutrifft: Verlassene Frauen sind eben unversöhnlich. 27 An einem Wahrscheinlichkeitsbegriff dieser Art orientiert sich in der Tat die sogenannte Neue Komödie und mit ihr ein großer Teil der Komödien der Neuzeit, wenn in ihnen ‚der Geizige’, ‚der Misanthrop’, ‚der Heuchler’ usw. auf die Bühne gebracht werden. In diesen ‚Typen’ sind ‚typische’ Züge, die in der Erfahrung bei vielen Einzelnen anzutreffen sind, gesammelt und konzentriert. Sie bilden in diesem Sinn einen ‚Spiegel des Lebens’, eine Wiedergabe, wie es im Leben allgemein zuzugehen pflegt. 28 Ganz anders ist es bei Aristophanes. Seine Komödien enthalten nicht nur viel frei Erfundenes und Fiktives, das sich an keiner möglichen Wirklichkeit orientiert: einen Mistkäfer, auf dem man zum Himmel fliegen kann, ein ‚Wolkenkuckucksheim’, ein Vogelimperium, einen sehend gewordenen Reichtum usw., auch die ganz der Realität entnommenen handelnden Personen, die in diese fiktiven Geschichten verwickelt werden, verhalten sich in ihrem Handeln nicht den ‚Gesetzen der Wahrscheinlichkeit’ gemäß. Es ist nicht wahrscheinlich, dass attische Bauern sich einen Privatfrieden mit Sparta aushandeln können (Acharner), dass junge Athenerinnen sich ihren Männern verweigern, um sie zu zwingen, Frieden zu schließen (Lysistrate), dass Dichter von Göttern aus der Unterwelt wieder ins Leben zurückgeholt werden (Frösche), usw. Das letzte Beispiel erinnert aber noch einmal daran, dass die Unwahrscheinlichkeiten der Komödie sich zwar vielleicht durch die Art, nicht aber grundsätzlich von denen der Tragödie unterscheiden. Beide, die Unwahrscheinlichkeiten der Komödie wie der Tragödie verweisen darauf, dass Aristoteles eine andere, prägnantere Vorstellung von der Darstellung einer Handlung hat als viele seiner neueren Interpreten. Man stellt Handeln nicht dann schon dar, wenn man ein Geschehen erfindet, das den Gesetzen der Kausalität der Wirklichkeit entsprechend verläuft, sondern erst, wenn man zeigt, wie jemand auf Grund seiner inneren, charakterlichen Motive sich 27 Das ist ein beliebtes Beispiel, das schon die Poetik-Kommentatoren der Renaissance zur Erklärung benutzen, s. z.B. R. Robortello, Explicationes in librum Aristotelis, qui inscribitur De Poetica (1548), München 1968, (= Poetiken des Cinquecento 8), S. 83. 28 Die häufig zu findende Auslegung tragischen Handelns als ‚image of life‘ - so etwa S. H. Butcher: Aristotle s Theory of Poetry and the Fine Art, with a Critical Text and Translation, London 4 1951 (= 1907), S. 336 - nähert die Tragödie der hellenistischrömischen Komödie an. <?page no="29"?> Aristoteles‘ Theorie des Komischen und der Komödie 17 entscheidet, etwas vorzuziehen oder zu meiden, und im Blick auf dieses selbstgewählte Gut seine einzelnen Taten organisiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass es Taten in dieser so organisierten Form gibt, hängt dann davon ab, dass es wahrscheinlich ist, dass jemand mit diesen Neigungen und Abneigungen genau dies und nichts anderes sagt oder tut, nicht aber davon, ob das, was er sagt oder tut, irgendwelchen Regelmäßigkeiten der erfahrbaren Wirklichkeit entspricht. Bei dieser Art von Wahrscheinlichkeit braucht man nicht zu fragen, ob es vorstellbar ist, dass dieses oder jenes Handeln einer bestimmten Person in einer bestimmten historischen Situation hat stattfinden können. Die Frage ist nicht: Kann es einen Menschen mit den überlegenen Geistesgaben und Charakterstärken wie den homerischen Odysseus je gegeben haben? Die Frage ist vielmehr: Ist das von Homer dargestellte Handeln genauso, wie es sein müsste, wenn ein Mensch mit diesen Charaktervorzügen in eine bestimmte historische Situation eingreifen und sich seinem Charakter gemäß verhalten würde? Analoges gilt dann auch für eine Lysistrate. Die Frage ist nicht, ob sich Aristophanes an die Realität des Athen seiner Zeit gehalten hat, wenn er seine Lysistrate z.B. mit überlegenen ökonomischen oder politischen Einsichten ausstattet, die Frage ist allein, ob das, was Lysistrate auf der Bühne sagt und tut - und die Lysistrate ist mindestens ebensosehr ein Argumentationswie ein Ereignisdrama - ‚mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit’ zu der Art von Mensch gehört, der zur Entwicklung und Durchführung solcher Ziele fähig ist wie die Aristophanische Lysistrate. Nimmt man diese Form der Wahrscheinlichkeit zum Maßstab des Urteils, dürften auch die meisten Aristophanes-Interpreten übereinstimmen, dass ihr Aristophanes in hohem Maß gerecht geworden ist. Das gilt dann auch für die Frage, ob die Aristophanischen Komödien eine ‚richtige’ Handlung haben. Viele glauben ja, und Rainer Warning hat dies 29 noch einmal neu als die Besonderheit des Komischen überhaupt herausgearbeitet, 30 Auf die Lysistrate trifft diese Theorie des Komischen in keiner Weise zu. Alle Szenen - die Abwehr der alten Marathonkämpfer, die (vor allem intellektuelle) Abfertigung des Probulen (einer von den zehn Männern, denen in Athen nach der verlorenen Sizilienexpedition, kurz vor der Aufführung der Lysistrate (412), die ganze Entscheidungsgewalt übertragen worden war), die Verhinderung, dass die Frauen schwach werden, oder umgekehrt, die geschickte Weise, wie Myrrhine ihren Mann schwach macht, usw. - alles das dass die Handlung in einer Komödie eine eher sekundäre Funktion habe. Sie bilde nur ein mehr oder weniger loses Gerüst für die additive Aneinanderreihung einzelner komischer Effekte. 29 In Rückgriff v.a. auf Eduard von Hartmann: Ästhetik, in: Ausgewählte Werke, Bd. 4, Leipzig 1888. 30 S. zuletzt: R. Warning, Komik/ Komödie, in: U. Ricklefs (Hg.), Fischer-Lexikon Literatur, Frankfurt a.M. 1997, S. 910-913. <?page no="30"?> Arbogast Schmitt 18 steht in klarem funktionalen Zusammenhang mit den Handlungszielen Lysistrates - nicht anders als etwa die einzelnen Handlungsschritte der Euripideischen Medea, die sie im Dienst des Ziels, die ihr zugefügte Entehrung wettzumachen, unternimmt. Und auch die Chorgestaltung ist diesem Handlungskonzept untergeordnet: Wie der Chor der korinthischen Frauen in der Medea sich Medea verwandt fühlt und ihre Ziele versteht, ja teilt (außer der letzten Konsequenz), so steht es auch mit dem Frauenchor in der Lysistrate, der kongenial mithandelt. Da Aristoteles Homer eine Vorbildfunktion für die Entwicklung der Komödie zuspricht, weil er in seinem Margites gezeigt habe, wie man das Lächerliche in eine Handlung integrieren könne, und weil er diese Stufe der Entwicklung zur Zeit des Aristophanes bereits für erreicht hält, muss man davon ausgehen, dass auch die Art von ‚Fehler’ oder ‚Verfehlung’ (hamárt , 1449a34f.), die nach seinen Worten ausmacht, dass etwas als lächerlich empfunden wird, in der Anlage der Handlung gesucht werden muss und nicht auf einzelne in der Sprache oder beim Handeln beschränkt sein kann, auch wenn das, was der Tractatus Coislinianus (noch) zu bieten hat, ganz auf diese einzelnen Ursachen des Lächerlichen bezogen ist. Es geht in den Paragraphen V und VI im Codex Coislinianus um komische Effekte: (A) in der Sprache durch: (1) Homonyme, (2) Synonyme, (3) Geschwätzigkeit, (4) Paronyme, (5) Verkleinerungen, (6) Wortverdrehungen, (7) Parodien, (8) falsche Metaphern oder auch durch die (9) Sprechweise - oder (B) in einzelnen Handlungen: (1) bei denen jemand sich täuschen lässt, (2) sich als ein anderer darstellt, als er ist, (3) bei denen jemand etwas Unmögliches tut oder tun will oder (4) etwas, was zwar möglich ist, aber nicht <aus dem, was er getan hat,> folgt, (5) wenn etwas von dem Erwarteten abweicht, (6) wenn sich hohe Personen ordinär geben, (7) durch vulgäres Tanzen, (8) wenn jemand das Beste bekommen könnte und das Schlechteste wählt, (9) wenn eine Geschichte keinen Zusammenhang hat und jeder Konsequenz entbehrt. Da sich für beinahe alle diese ‚Ursachen’ des Lächerlichen Belege bei Aristoteles beibringen lassen, die zeigen, dass auch Aristoteles diese Entstehungsgründe des Lachens kennt oder sogar analysiert hat, 31 scheint der Tractatus genau die Position zu bestätigen, die die moderne Forschung gegenüber der Komödie einnimmt: „Der einen tragischen Hamartia, die eingeflochten ist in das Ganze der Handlung mit Anfang, Mitte und Ende, entspricht <in der Komödie> eine Vielzahl lächerlicher Hamartemata, die sich in ihrer Episodizität nicht kausal verknüpfen, sondern nur reihen lassen.“ 32 31 S. Janko 1984, Kommentar zu §§ V-VI des Tractatus. 32 S. Warning, a.a.O., S. 910. <?page no="31"?> Aristoteles‘ Theorie des Komischen und der Komödie 19 Abgesehen davon, dass das Postulat einer ‚kausalen Verknüpfung’ unaristotelisch ist - hätte Aristoteles bei der komischen Handlung an eine solche Reihung von gedacht, hätte er ihr genau das abgesprochen, was nach seiner eigenen nachdrücklich vertretenen Lehre den Kunstcharakter einer Dichtung ausmacht. Nachdem er schon im ersten Kapitel gezeigt hat, dass es der Inhalt und nicht die Form ist, die Dichtung und Prosa unterscheidet, ist es in den Kapiteln 7-9 das zentrale Anliegen, die Bedingungen herauszuarbeiten, die die Dichtung als etwas, was Einheit und Form hat, von der bloßen Wiedergabe der Wirklichkeit unterscheiden, die ‚unbestimmt Vieles’ sein kann, d.h. die Merkmale von Ordnung und Konfusion in unterschiedlicher Mischung enthalten und deshalb niemals Kriterium für geformte Einheit sein kann. Diese Aufgabe, Orientierungsmaß für die Durchformung und einheitliche Gestaltung des Materials zu sein, erfüllt für Aristoteles allein der Mythos, die sýstasis t át , d.h. die Herleitung der Handlungskomposition aus charakterlich begründeten Entscheidungen. Das ist der Inhalt, aus dem sich die sprachliche wie die strukturelle Form einer Dichtung ergibt. Eine bloße Aneinanderreihung von lächerlichen Szenen hätte nach Aristoteles daher nicht nur keine Handlung, sie könnte eben deshalb niemals Kunstcharakter haben. Vielleicht muss man Aristoteles hier einfach zustimmen. Eine bloße Aufeinanderfolge sprachlicher und nichtsprachlicher Lächerlichkeiten würde, selbst wenn ihnen irgendeine ‚anderweitige Handlung’ 33 Von Aristoteles her gesehen kann man daher auch dem Urteil vieler Aristophanes-Interpreten nicht zustimmen, die glauben, dass viele Aristophanische Komödien in einer Art episodischem Kehraus endeten, wenn nach dem Sieg des Komödienhelden der Reihe nach die jetzt überwundenen Gegner abgefertigt werden. Richtig ist an diesem Urteil, dass diese Abfertigung oft der Reihe nach geschieht, nicht zutreffend ist aber, dass diese Reihung episodisch sei. Sie ist nämlich niemals beliebig, sondern immer in strengem Bezug zur Hauptintention der Handlung des ‚Helden’, die in allen ihren wesentlichen Aspekten erfüllt wird, etwa wenn im Plutos (Der Reichtum) der Reihe nach alle diejenigen auftreten, die davon, dass der Reichtum nicht mehr blind ist, Nutzen oder Schaden gehabt haben: der brave Mann und der ausgenützte Liebhaber auf der einen Seite, der Sykophant (Denunziant), die alte Kokotte, Hermes, der Priester auf der anderen. Es sind nicht irgendwelche Figuren, die auftreten, sondern genau die, mit denen oder unter denen der ‚Held’ Chremylos gelitten hatte und derentwegen er ausgeunterlegt wäre, von keinem Kritiker als etwas Gelungenes beurteilt werden können. Sie hätte außer dem Gieren nach dem Lacherfolg keine Darstellungsintention, nicht einmal eine identifizierbare Aussage. 33 S. v. Hartmann 1888, Bd. 4, S. 333. <?page no="32"?> Arbogast Schmitt 20 zogen war, um beim Gott um Hilfe nachzufragen. Anfang, Mitte und Ende sind konsequent aufeinander bezogen. Aristoteles‘ Theorie der Komödie - Versuch einer Rekonstruktion Auch wenn angesichts der Tatsache, dass Aristoteles‘ Komödientheorie verloren ist, eine verbindliche Deutung nicht möglich ist, kann man aus dem bisher Entwickelten doch einige wahrscheinliche Folgerungen ziehen: Das Lachen muss in der Komödie aus der Handlung entstehen. Die einzelnen können ihre Funktion nur im Dienst dieser Handlung haben, d.h. sie müssen zur Charakterisierung der Handlungsintentionen der handelnden Personen beitragen. Daraus ergibt sich auch die Indirektheit der Kritik der Komödie, durch die sie die Form des bloß ‚Jambischen’ überwindet. Als Teil einer erfundenen, niemals realisierbaren Handlung hat selbst der Spott auf eine mit Namen genannte historische Person (z.B. Kleon, Sokrates) eine andere Wirkung, während umgekehrt das Bedürfnis, Spott und Hohn direkt auf eine konkrete Person zu richten, das Festhalten an einem konsequenten Handlungszusammenhang erschwert. So urteilt z.B. schon der vermutlich byzantinische Gelehrte Platonios (der sich auf hellenistische Quellen stützt) über den Hauptvertreter der ‚Alten Komödie’ Kratinos: Er habe durch seine ständigen Diffamierungen seine Komödien um ihren Handlungszusammenhang gebracht. 34 Aristophanes selbst distanziert sich (v.a. in zwei berühmten Parabasen, d.h. in direkten Hinwendungen des Chors zum Publikum) von den zu groben und unvermittelten Schmähungen seiner Vorgänger und beansprucht, mit der Kunst seiner Komödie dem Spott mehr Kultiviertheit und cháris verschafft zu haben. 35 Es gibt also gute Gründe dafür, anzunehmen, dass Aristoteles nicht nur sagt, sondern auch meint, dass Aristophanes der klassische Dichter komischer Handlungen ist, und dass Aristophanes deshalb für ihn zu den Vertretern der Komödie der Neueren gehört, bei denen Scherz und Spott von der Art sind, wie sie zu freien und gebildeten Menschen passen, d.h. so, dass ein Mensch mit Verstand daran Freude empfindet. Wenn das richtig ist, dann bietet Aristophanes zugleich viele gelungene Beispiele zum Verständnis dessen, was Aristoteles unter der richtigen Mitte beim Lachen versteht. Dass so viele meinen, die Aristophanische Komödie könne nicht dem Begriff des Komischen entsprechen, den Aristoteles für ideal hält, liegt ja nicht zuletzt daran, dass den meisten die Aristophanische Komik und die Aristotelische ‚Metriopathie’ (‚Empfinden im richtigen Maß’) durch Welten geschieden erscheinen. Dabei betont Aristoteles selbst unmit- 34 Vorzügliche Ausgabe und Kommentar durch F. Perusino, Platonio. La Commedia Greca, Urbino 1988, hier: S. 38 . 35 S. Wespen, vv 1014-1050; Wolken vv 518-594. <?page no="33"?> Aristoteles‘ Theorie des Komischen und der Komödie 21 telbar im Anschluss an seine Beschreibung der ‚richtigen Mitte’ bei Scherz und Spiel, dass diese Mitte nicht das Mittelmaß des ‚Nur nicht zuviel’ ( ágan, ne quid nimis) erstrebt, 36 Dass die Lysistrate eine Handlung hat, die einem Menschen mit richtigem Urteil gefällt, wird jemand, der keinen ‚frostigen’ Charakter hat, kaum bestreiten: Das Handlungsziel, das Lysistrate verfolgt, ist vernünftig und heilsam (und kaum ein antiker Literarkritiker versäumt es zu versichern, dass Aristophanes zum Wohl seiner Vaterstadt gewirkt habe), zugleich gibt die Durchführung dieser Handlung vielfältigen Anlass, die Überlegenheit dieses richtigen Handelns über viele Fehlformen zu demonstrieren und sich an dieser Überlegenheit zu erfreuen: wie die naive Selbstüberschätzung und Verbohrtheit der alten Kriegsveteranen vorgeführt wird, wie der Vertreter des hohen Rats, für den die Frauen mit nichts als Wolle und Spinnen befasst sind, eine Lektion in politisch und ökonomisch richtigem Denken bekommt, usw. sondern das, was einem Menschen, der ein richtiges Maß, d.h. ein richtiges Urteil hat, gefällt. In einer guten Komödie darf nach Aristoteles also durchaus kräftig geschimpft, gelästert, gespottet werden. Zwei Forderungen aber müssen erfüllt sein: Der Spott muss ein Spott mit Verstand sein, und das heißt von Aristoteles‘ Rationalitätsverständnis her, es muss ein Spott sein, der zur Sache, zur Person passt, in der dazugehörigen Sprache formuliert ist usw., und es muss der Spott eingebettet sein in eine Handlung, zu der er gehört und von der her er verstanden werden muss. Auch wenn es innerhalb der Handlung direkte Hinwendungen an einzelne Personen gibt, bleibt dadurch die einzelne grobe Rede oder Tat an die Handlung und deren Voraussetzungen gebunden und richtet sich nicht in unmittelbarer Direktheit auf die ‚Realität’. Wenn etwa am Ende der Wolken Sokrates’ Wolkenkuckucksheim brennt, dann ist das kein unmittelbarer Angriff auf Sokrates, sondern das Handeln eines Vaters, der die Wirkung der neuen sophistischen Lehre, die der Sohn bei dem Obersophisten erlernt hat, am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte (der Sohn hat ihm mit Hilfe der neuen Rhetorik bewiesen, dass es gerecht ist, wenn der Sohn den Vater schlägt - und hat diese ‚Gerechtigkeit’ auch verwirklicht). Natürlich ist das, was Lysistrate erreichen will, etwas Unmögliches, genauso wie man niemandem im Theater sagen muss, dass es ‚nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit’ unmöglich ist, dass sich ein attischer Bauer einen Privatfrieden mit Sparta aushandelt (Acharner), oder dass jemand den Reichtum dazu bringt, seine Gaben nur noch gerecht zu verteilen (Plutos), oder dass sich ein Winzer die Göttin des Friedens vom Himmel holt (Der Frieden), usw. 36 Etwa, dass man niemandem mit seinem Spott wehtun soll, Eudemische Ethik III, 7, 1234a20-24. <?page no="34"?> Arbogast Schmitt 22 Unter diesem Aspekt ist auch für die Aristophanische Komödie ein ‚Kontrast von Mangel und Realität’, 37 ein „Kontrast des Wesentlichen und seiner Erscheinung, des Zwecks und der Mittel“ 38 charakteristisch. Das Besondere der Komik liegt aber bei Aristophanes nicht einfach in diesem Kontrast. Dieser ist auch nicht deshalb schon komisch und nicht tragisch, weil er harmlos ist (oder sich gibt) und nicht in Schmerz und Unglück endet. Das tägliche Leben ist voll von solchen harmlosen Kontrasten zwischen Wesen und Erscheinung, denen man gerade wegen ihrer harmlosen Bedeutungslosigkeit eher mit einer indifferenten Gleichgültigkeit begegnet, und die niemanden zum Lachen bringen. Grund zum Lachen kann ein solcher Kontrast nur werden, wenn er mit erfreulichen Gefühlen verbunden ist. Erfreuliche Gefühle können beim Betrachten einer Handlung nur aus der Erkenntnis kommen. Wer den in einer Komödienhandlung dargestellten Kontrast begreift, muss dadurch in einen seiner - menschlichen - Natur gemäßen Zustand versetzt werden, in den man, wie Aristoteles lehrt, am besten durch das Erkennen kommt. 39 Dass man genau solche Erfahrungen beim Lesen oder Sehen Aristophanischer Komödien macht, dürfte unbestritten sein: Das, was Lysistrate will, ebenso wie die Mittel, die sie einsetzt, sind etwas, was für sie selbst und für die ganze Gemeinschaft wohltuend und heilsam ist. Das gleiche gilt für die anderen Aristophanischen Komödien. Selbst wenn Strepsiades in den Wolken am Ende die Denkerbude der sophistischen Neuerer in Brand setzt, dann tut er das, um Schluss damit zu machen, dass der Schein des Gerechten für das Gerechte selbst genommen wird, usw. Die Akte des Erkennens, die man vollzieht, müssen in sich vollendete und in dieser Vollendung als lustvoll erfahrene Akte sein. Das können sie nur sein, wenn das Erkannte als richtig und gut erfahren wird, und das heißt beim Handeln: als etwas, das zum guten und glücklichen Leben beiträgt. Diese Hinordnung der komischen Handlung auf ein Handlungsziel, das wegen guter Gründe erfreulich ist, hat einen doppelten Effekt: 1. Sie bewirkt, dass auch der, der ein gutes Urteil hat, sich an der grundsätzlichen Fehlkonstruktion der komischen Handlung erfreuen kann. Eine komische Handlung scheitert ja - anders als die im Unglück endenden tragischen Handlungen - nicht als sie selbst, sondern lediglich im Vergleich mit der außertheatralischen Wirklichkeit. Die komischen Helden wollen etwas Richtiges, etwas, was ein vernünftiger Beurteiler der gesellschaftlichen Realität auch wollen würde, aber sie wollen es auf eine unmögliche und mög- 37 S. G. E. Lessing, Werke und Briefe, 12 Bde., hg. v. W. Barner, Frankfurt a. M. 1985f., Bd. 6: Hamburgische Dramaturgie 1985, 28. Stück. 38 S. G. W. F. Hegel, Theorie-Werkausgabe, hg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, 20 Bde., Frankfurt a.M. 1969ff., Bd. 15, Teil III, S. 527. 39 S. Poetik Kap. 4, 1448b16 und s. Rhetorik I, Kap. 11, v.a. 1369b33-70a10, 1369a27-30, 1371a31-b12; s. schon Platon Philebos 32a; Timaios 64d. <?page no="35"?> Aristoteles‘ Theorie des Komischen und der Komödie 23 lichst uneingeschränkte Weise durchsetzen. Trotz dieser offenkundigen Verrücktheit ist dieses Handeln daher nicht nur lächerlich, sondern zugleich erheiternd, ergötzend (das dürfte der Sinn der als cháris gedeuteten in der Komödiendefinition des Tractatus Coislinianus sein). Dass Orest und Aigisth am Ende zu Freunden werden, 40 Dennoch ist diese Fehlkonstruktion der komischen Handlung nicht Zeichen davon, dass diese Handelnden irgendwelche Verrücktheiten begehen, nur um sich in Szene zu setzen. Von solchem Handeln eines unterscheidet sich die komische Handlung durch die Richtigkeit der Ziele und dadurch, dass auch der Weg, sie zu verfolgen, nicht einfach blind, sondern an sich vernünftig, nur in Bezug auf die Verwirklichung gegenüber bestimmten Personen oder in bestimmten Situationen und dgl. maßlos und unmöglich ist. Nur auf diese Weise der illusionären Verwirklichung werden genau die Defekte aufgedeckt, die ihr entgegenstehen, d.h. die die Wirklichkeit wirklich hat und die wirklich der Kritik bedürfen. gibt es eben nur in der fiktiven Handlung der Komödie (Aigisth hat zusammen mit Klytämnestra Agamemnon, den Vater des Orest, bei dessen Heimkehr aus Troia erschlagen). Genauso ist es von vornherein evident, dass es ein unmögliches, unrealisierbares Unternehmen ist, wenn Lysistrate alle Frauen Griechenlands einen und mit ihnen auch noch den Krieg beenden will, wenn Dikaiopolis einen Privatfrieden mit Sparta schließen will, usw. Entscheidend für die komische hamartía (‚Verfehlung‘) ist offenbar dieses Verfolgen unmöglicher Handlungsziele, nicht der bloße Konflikt mit irgendwelchen Regeln der Wahrscheinlichkeit. Natürlich widersprechen der Flug auf einem Mistkäfer (Frieden) oder die Errichtung eines Vogelreichs zwischen Himmel und Erde (Vögel) allen Regeln der Wahrscheinlichkeit, aber diese Unwahrscheinlichkeiten sind nicht das Entscheidende, sie stehen im Dienst eines unmöglichen Handlungsziels und sind in gewisser Weise Ausdruck und Symbol dieser Unmöglichkeit. Diese realen Unwahrscheinlichkeiten können in einer Komödie daher auch fehlen (wie z.B. weitgehend in der Lysistrate), nicht aber die hamartía in der Handlungskonstruktion. Orest und Aigisth sind allein wegen der gegensätzlichen Handlungsziele, die sie verfolgen, unversöhnbar, es braucht überhaupt keine kausallogische Regelwidrigkeit im Geschehensverlauf dazuzukommen, um deutlich zu machen, dass das Komödienende, das die beiden als Freunde zeigt, Resultat einer (wenn auch wünschenswerten) Fehlbeurteilung der Handlungsmöglichkeiten dieser beiden Charaktere ist. Auch eine fiktive Versöhnung zwischen Orest und Aigisth muss an etwas ansetzen, was wirklich zur Versöhnung gerade dieser beiden Charaktere beitragen würde, auch wenn klar ist, dass diese beiden dazu nicht fähig sind - sonst stünde eine Versöhnungsgeschichte zwischen ihnen in gar kei- 40 S. Poetik Kap. 13, 1453a35-39. <?page no="36"?> Arbogast Schmitt 24 nem Kontrast zur Realität, sondern wäre eine beliebige, überall mögliche und deshalb für niemanden interessante Geschichte. Am Fehler (hamartía) dieser Handlungskonstruktion freut sich also jeder, der ein richtiges Urteil hat, weil diese fiktiv-unrealistische Konstruktion genau das als realisiert zeigt, was auch wirklich realisiert werden müsste. 2. Durch ihre Beziehung auf diese ‚unmögliche’ Handlungskonstruktion erhalten auch die vielen einzelnen beim Sprechen wie beim Handeln, die der Tractatus Coislinianus aufzählt, erst ihre komische Funktion. Natürlich wirkt es auch schon lächerlich, wenn jemand ‚Sokrätchen’ ( ídion) statt ‚Sokrates’ sagt (Wolken v 225) oder wenn ein Gott in den Kleidern seines Dieners malträtiert wird (Frösche vv 460-673, v.a. 605ff.) usw. Diese Formen des Lächerlichen entstehen nach der Analyse Platons aus einer Mischung aus den Unlustgefühlen des Neids und dem Lustgefühl, das entsteht, wenn man sieht, wie dem Beneideten übel mitgespielt wird. 41 Alles Hässliche, zu dem auch Aristoteles das Lächerliche rechnet, ist nach Platon durch einen Mangel an Symmetrie, durch eine ametría, eine ‚Disproportionalität’ charakterisiert. Diese ametría bestehe darin, dass man bei einer Tätigkeit das ihr angemessene Ziel verfehlt. Solche gemischten Gefühle zu haben oder zu erzeugen, ist nicht nur nach Platon, sondern auch nach Aristoteles unerwünscht, denn sie sind kleinlich und passen nicht zu einem gebildeten, großgesinnten Menschen. Unter diesem Gesichtspunkt könnte etwa auch die Art und Weise, wie ein hoher Amtsträger von Lysistrate abgefertigt wird, nur Anlass zu einem primitiven Lachen sein. Aber Lysistrate lebt nicht die Lust des kleinen Mannes aus, einmal über den verhassten Herrn zu triumphieren, sondern sie konfrontiert ihn mit richtigen Argumenten und richtigen Zielen, denen dieser sich nicht gewachsen zeigt, so dass allen offenbar wird, dass er sich zwar einbildete, etwas von der richtigen Staatsführung zu verstehen, in Wahrheit aber nur Klischees zu seiner Verteidigung zur Verfügung hatte, ohne eigenes kritisches Urteil. Die Freude darüber, dass er an Lysistrate scheitert und erniedrigt abziehen muss, ist daher kein primitives Triumphgefühl, sondern die Freude am Sieg des Richtigen, die gerade der, der die komische Szene mit richtigem Urteil sieht, empfindet. 42 Hauptgrund dieser Verfehlung (hamartía) sei, dass man sich selbst nicht kennt. Man schätzt die Mittel, über die man verfügt, seine physischen Fähigkeiten oder seine Ausstrahlung, vor allem aber sein Wissen von etwas falsch ein. 43 Von diesen Fehleinschätzungen 44 41 S. Platon, Philebos 48a-50b. befreit zu werden, sei für einen selbst von größtem Nutzen - nur so kann man ja die Hindernisse, die zum Verfehlen des Richti- 42 S. Platon, Sophistes 228c. 43 S. Platon, Philebos 48e. 44 Die in den Bereich des Lächerlichen fallen, wenn sie harmlos sind, Philebos 49b-c. <?page no="37"?> Aristoteles‘ Theorie des Komischen und der Komödie 25 gen führen, beseitigen - es sei aber auch für die, die eine solche ‚Reinigung’, Katharsis, miterleben, überaus lustvoll. 45 Natürlich denkt Platon bei dieser Katharsis in erster Linie an das elenktische Gespräch und damit an eine Form der máthesis, der Belehrung, die aber auch in seinem Sinn in einer poetischen Weise durchgeführt werden kann. Beispiel im eminenten Sinn dafür sind seine eigenen Dialoge. 46 Diese Lust kommt dann auch weder aus dem Gelächter des , der sich bloß an den Witzen überhaupt freut, etwa wenn er sieht, wie die aufgeblasenen alten Krieger mit Wasser übergossen werden, noch aus der Genugtuung des Moralapostels, der nur auf die Ausmerzung des Bösen aus ist, sondern aus einem kultivierten Lachen - kultiviert nicht in dem Sinn, dass man nur vornehm lächelt, sondern in dem Sinn, dass man den belachten Gegner nicht zum beliebigen Objekt seiner Lachgier macht und auch Auch für Aristoteles ist Dichtung keine belehrende Erkenntnisvermittlung im strengen Sinn. Belehrung und dichterische Erfahrung sind für ihn aber nicht kategorial geschieden, sondern nur in der Form und dem Ausmaß der Erkenntnis. Dichtung gehört für ihn ja weder zu den beweisenden oder argumentierenden Wissenschaften (Apodeiktik, Dialektik, Topik) noch zu einer rhetorischen Form des Überzeugens, wohl aber hat sie eine ihr eigentümliche Erkenntnisweise: das unmittelbare Begreifen einer Handlung aus den in ihr selbst liegenden Gründen. Wenn eine komische Handlung so konstruiert ist, dass sie Lachen über das erregt, worüber man zu Recht lacht, in der Weise und dem Ausmaß, in dem man über einen solchen Gegenstand lacht (usw.), dann erzeugt sie bei dem, der bei einer solchen Handlung auch wirklich mitgeht und sich nicht auf einzelne Witze oder einzelne Vorwürfe fixiert, ein Gefühl, das im Sinn des aristotelischen Rationalitätsbegriffs das Prädikat ‚rational’ verdient. Gemeint ist damit ja nicht, dass man seine Gefühle bewusst oder reflektiert kontrolliert und steuert; gemeint ist, dass man beim Miterleben der Handlung auf die richtigen Unterschiede achtet. Dieses Miterleben ist von sich her erfreulich und angenehm, denn es beruht auf der Vorstellung, dass etwas so, wie es sein soll, wieder hergestellt wird. Wer das Wohltuende der Handlungsziele Lysistrates begreift und schätzt, dessen Lachen wird ein wirklich angenehmes Lachen sein, wenn er mitverfolgt, wie Lysistrate durch das Gelingen ihrer ‚unmöglichen’ Handlung einen Gegner und ein Hindernis nach dem anderen überwindet. Und wenn der bloßgestellte Ratsherr als jemand, der von seinem Amt nichts versteht, abziehen muss, freut man sich an dieser Blamage nicht aus niedriger Missgunst, sondern weil ihm etwas demonstriert worden ist, was heilsam und reinigend für ihn ist, bzw. was der Zuschauer als reinigend empfindet. 45 S. Platon, Sophistes 230b-d. 46 S. S. Büttner, Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen/ Basel 2000, S. 215ff. <?page no="38"?> Arbogast Schmitt 26 nicht nur zum verständnislos abgeurteilten Bösewicht. Die Mitte zwischen diesen beiden Formen ist kein Mittelmaß, sondern ein genaues, genau richtiges Maß. In diesem Sinn wird man mit gutem Grund voraussetzen können, dass auch der komische Held für Aristoteles kein Verbrecher sein kann, über dessen Verhalten, auch wenn es kabarettistisch dargestellt wird, niemand wirklich lachen könnte. Auch der komische Held muss die Mitte einhalten zwischen Unschuld und Bosheit. Und man sieht dieses Maß ja auch in den erhaltenen Komödien eingehalten - wie etwa in der Lysistrate, in der man mit den lächerlich gemachten alten und jungen Männern zugleich mitfühlt. <?page no="39"?> Robert Kirstein Sonne, leb wohl! - Satire im Hellenismus? 1 Vorbemerkung Die moderne Literaturgeschichtsschreibung kennt zahlreiche Dichter und Prosaschriftsteller, die als ‚Satiriker’ gelten, so, um nur einige zu nennen, Aristophanes, Horaz, Persius und Juvenal, Lukian, Erasmus, Rabelais, Jonathan Swift und Voltaire. In einem engeren Sinne ist die Gattung ‚Satire’ schon früh von den Römern als originäre Erfindung beansprucht worden. Quintilians vielzitierte Feststellung satura tota nostra est (10, 1, 93) zeigt den Stolz der Römer, auf dem ansonsten von den Griechen beherrschten Gebiet der Literatur Eigenständiges geleistet zu haben. Sie verrät zugleich aber auch ein sicheres Gespür für die Dynamik der Gattungsgenese, innerhalb derer literarische Traditionen an bestimmten Wendepunkten zu etwas Neuem verschmelzen und als eigene, bisher noch nicht dagewesene Formen manifest werden. Tatsächlich gibt es für das, was wir heute als ‚Römische Verssatire’ bezeichnen, in der griechischen Literatur keine unmittelbaren Vorbilder. In einem weiteren Sinne hat es ‚Satire’ aber auch schon in der griechischen Literatur gegeben, so im Satyrspiel, in der Komödie des Aristophanes, in der Iambik des Archilochos, Hipponax und Kallimachos, in den Mimiamben des Herondas und nicht zuletzt in den prosimetrischen Werken des Kynikers und Philosophen Menippos von Gadara. Innerhalb der römischen Literatur selbst gibt es literarische Manifestationen des Satirischen auch außerhalb der Grenzen der durch den Hexameter gekennzeichneten Verssatire, so in Petrons Satyrica oder in Senecas Apocolocyntosis. Hierzu gehören auch die satirischen Epigramme Martials, in denen etwa das dekadente Leben des zeitgenössischen Rom und die Produktion der literarischen Konkurrenz als Zielscheiben satirischer Angriffe dienen. Es soll hier nicht darum gehen, einen Beitrag zur Theorie der Gattung ‚Satire’ und zum Verständnis des ‚Satirischen’ an sich zu erbringen. 1 1 Einen guten Überblick über die Forschungslage bietet etwa Chr. Schmitz, Das Satirische in Juvenals Satiren, Berlin 2000 (UaLG 58), 1-19, Literaturangaben ibid. 289-291. Ich beschränke mich darauf, in Anschluß an die Arbeiten von Wolfgang Weiß, <?page no="40"?> Robert Kirstein 28 Christine Schmitz 2 und anderen zwischen einem engeren Satire-Begriff - Satire als historische Gattung - und einem weiteren Satire-Begriff - Satire als „gattungsüberschreitende Schreibart“ (Schmitz) 3 Was sind - im Horizont dieser weiteren Definition - die Kennzeichen der ‚Satire’ als „gattungsüberschreitender Schreibart“? Gero von Wilpert umreißt sie als die - zu unterscheiden. Die folgenden Untersuchungen befassen sich ausschließlich mit Satire in dem letztgenannten Sinn. „literarische Verspottung von Mißständen, Unsitten, Anschauungen, Ereignissen, Personen, Ständen, Institutionen, Parteiungen, Literaturwerken usw. je nach den Zeitumständen, allgemein mißbilligende, verzerrende Darstellung und Entlarvung des Normwidrigen, Überlebten, Kleinlichen, Schlechten, Ungesunden in Menschenleben und Gesellschaft und dessen Preisgabe an Verachtung, Entrüstung und Lächerlichkeit, als Schreibart ohne eigene Form in allen literarischen Gattungen vom Gedicht, Epigramm, … Spruch, Dialog, Brief, Fabel, Schwank, Komödie, Fastnachtsspiel, Drama, Epos, Erzählung, Karikatur bis zum satirischen Roman, meist mit didaktischem Einschlag, und in allen Schärfegraden und Tonlagen, je nach Haltung des Verfassers: sarkastisch, bissig, zornig, ernst, pathetisch, ironisch, komisch, witzig, humoristisch, heiter, liebenswürdig.“ 4 Diese Art satirischen Schreibens (oder satirischen Redens) soll im Folgenden am Beispiel des Epigramms, genauer des Grabepigramms, näher untersucht werden. Das Grabepigramm gehört seinem Gegenstand nach zur Trostliteratur, ist also zunächst kein literarischer Ort, an dem sich Elemente des Spotts, der Satire, der Komik oder gar der Polemik fanden. Erst durch die Literarisierung des Epigramms im Laufe des 4. und 3. Jahrhunderts v. Chr. erweiterte sich zunehmend der Themenkreis des inschriftlichen Epigramms in dem Maße, in dem seine ursprüngliche Funktion als ‚Aufschrift’ in den Hintergrund trat. Das einsetzende Spiel mit der literarischen Konvention, mit den immer gleichen Topoi dieser gleichermaßen archaischen wie konservativen Dichtungsart blieb jedoch nicht darauf beschränkt, neue Themen einzuführen. Die Dichter des Hellenismus gingen darüber hinaus, indem sie die althergebrachten Topoi zuweilen geradezu in ihr jeweiliges Gegenteil umwandelten. So verfaßte Kallimachos, der Meister dieses Spiels, Grabepigramme, die den Namen des Verstorbenen nicht nennen, also dem Leser 2 W. Weiß, Probleme der Satireforschung und das heutige Verständnis der Satire, in: W. Weiß (Hrsg.), Die englische Satire, Darmstadt 1982 (WdF 562), 1-16, hier 12-13, und Schmitz (wie Anm. 1) 4 mit Anm. 16. 3 Schmitz (wie Anm.1) 4; s. auch B. Meyer-Sickendiek, Art. ‚Satire’, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 8, 2007, 447-469. 4 G. von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 8 2001, 718. <?page no="41"?> Satire im Hellenismus? 29 genau diejenige Information vorenthalten, die ursprünglich zum Kernbestand des Grabepigramms gehört hatte. 5 2 Kallimachos Zu den Epigrammen, die mit der Erwartung des Lesers spielen, indem sie genau das Gegenteil dessen bieten, was die literarische Konvention verlangt, gehören auch einige Grabgedichte des Kallimachos, in denen sich der Dichter mit den traditionellen religiösen und philosophischen Jenseitsvorstellungen seiner Zeit auseinandersetzt. Das bekannteste Gedicht dieser Art ist das Kleombrotos-Epigramm. Es handelt von einem ‚philosophischen’ Selbstmord als Folge der Lektüre von Platons Dialog Phaidon (G-P 53; 23 Pf.; AP 7, 471): ! " #$ % & ' () * +, - . ' / 0 1 2 3 * ! 4 1 5 6 3 7 $2 8 9 1 ! ,1 : Es sagte Sonne, leb wohl! Kleombrotos der Ambrakier und sprang von einer hohen Mauer hinab in den Hades. Er hatte nichts Übles gesehen, was es wert war zu sterben, aber eine einzige Schrift Platons, die über die Seele, hatte er gelesen. Das Epigramm beginnt - darin typisch kallimacheisch - konventionell: Die Wiedergabe der letzten Worte des Verstorbenen im ersten Vers ( ), 6 die Nennung seines Namens ( ) und die Angabe seiner Herkunft ( ; < ) sind gattungstypische Elemente des Grabepigramms. Hier dienen sie jedoch nur als kontraststeigernder Hintergrund für die nun im zweiten Vers folgende Information, daß Kleombrotos durch Selbstmord gestorben sei, indem er sich von einer hohen Mauer geworfen habe ( = ! " #$ % & ' () ). 7 5 S. beispielsweise G. Hutchinson, Hellenistic Poetry, Oxford 1988, 71. Die an sich schon überraschende Wendung, daß Kleombrotos durch eigene Hand zu Tode gekommen sei, erfährt im dritten und vierten Vers eine weitere Steigerung durch die Angabe, Kleombrotos habe nicht aufgrund eines erfahrenen Übels gehandelt 6 Dazu allgemein K. S. Guthke, Letzte Worte. Variationen über ein Thema der Kulturgeschichte des Westens, München 1990. 7 Inschriftliche Epigramme auf Selbstmörder: R. Merkelbach - J. Stauber, Steinepigramme aus dem griechischen Osten, Bd. 1: Die Westküste Kleinasiens von Knidos bis Ilion, Stuttgart 1998, Nr. 01/ 15/ 04; H. Beckby, Anthologia Graeca. Griechisch-Deutsch, 4 Bde, München 1957-1958, Bd. 4, 602, Index s.v. „Freitod“. S. weiter D. Meyer, Inszeniertes Lesevergnügen. Das inschriftliche Epigramm und seine Rezeption bei Kallimachos, Stuttgart 2005 (Hermes Einzelschriften 93), 164 mit Anm. 117. <?page no="42"?> Robert Kirstein 30 ( - . > ? * sondern weil er Platons ‚Schrift über die Seele’ ( 3 4 7 $2 8 9 1 ) gelesen habe ( ! ,1 ). Es handelt sich somit - in der Terminologie der modernen Psychologie - um eine ‚medien-induzierte Selbsttötung’. Mit der ‚Schrift über die Seele’ ist mit großer Wahrscheinlichkeit Platons Dialog Phaidon gemeint, der in der Antike auch sonst unter dem Titel 4 7 $2 8 kursierte. 8 Über die Person des Kleombrotos ist nur wenig bekannt. Der Name (‚Berühmt unter den Leuten’) ist verbreitet, hier assoziiert man denjenigen Kleombrotos, von dem Platon im Phaidon mitteilt, er sei, gemeinsam mit Aristippos, beim Tod des Sokrates nicht in Athen gewesen (59c4). 9 Antike Autoren der nachfolgenden Jahrhunderte haben das Kleombrotos-Epigramm ungewöhnlich häufig zitiert, 10 die Geschichte kann geradezu als sprichwörtlich gelten. 11 8 U. von Wilamowitz-Moellendorff, Hellenistische Dichtung in der Zeit des Kallimachos, 2 Bde, Berlin 2 1962 ( 1 1924) Bd. 1, 177; A. S. F. Gow - D. L. Page, The Greek Anthology. Hellenistic Epigrams, 2 Bde, Cambridge 1965, Bd. 2, 204-205. Vgl. auch die Formulierung bei Cicero, Tusc. 1, 24: eum librum qui est de animo sowie Diogenes Laertios 3, 57-58 über Doppeltitel, die Thrasyllos Platons Werken gegeben habe: @ & 5 A 7 $2 8 * B0 . Dazu J. Mansfeld, Prolegomena. Questions to be Settled before the Study of an Author or a Text, Leiden 1994; B.-J. Schroeder, Titel und Text. Zur Entwicklung lateinischer Gedichtüberschriften, mit Untersuchungen zu lateinischen Buchtiteln, Inhaltsverzeichnissen und anderen Gliederungsmitteln, 1999 (UaLG 54), hier 41-43. - Zur Bedeutung von 9 C * ‚Buch/ Schrift’, s. R. Pfeiffer, Callimachus, 2 Bde, Oxford 1949- 1953 (Bd. 1: 2 1965), Bd. 1, 354-355 und unten Anm. 27. Ursache für diese Popularität ist das Motiv des philosophisch motivierten Selbstmordes. Besonders die Römer führten es 9 So auch K. J. Gutzwiller, Poetic Garlands. Hellenistic Epigrams in Context, Berkeley 1998 (Hellenistic Culture and Society 28), 205. - Zu Kleombrotos: Gow-Page (wie Anm. 8), Bd. 2, 204, und G. D. Williams, Cleombrotus of Ambracia. Interpretations of a Suicide from Callimachus to Agathias, CQ N.S. 45 (1995) 154-169, hier bes. 155-158. Personen mit Namen ‚Kleombrotos’ verzeichnen P. M. Frazer - E. Matthews, A Lexicon of Greek Personal Names, Bd. 1, Oxford 1987, 261-262, dort allein vierzehn Einträge für Ägina. Zur Person des Kleombrotos im Phaidon: Th. Ebert, Platon. Phaidon. Übersetzung und Kommentar, Göttingen 2004 (Platon, Werke I 4), 101-102 mit Anm. 16. 10 Die Testimonien bei Gow-Page (wie Anm. 8), Bd. 1, 70 und 2, 204 ad locum. Ausführliche Behandlung bei T. Sinko, De Callimachi epigr. XXIII W., Eos 11 (1905) 1-10; L. Spina, Cleombroto, la fortuna di un suicidio, Vichiana 18 (1989) 12-39; H.P. Dörrie, Der Platonismus in der Antike. Grundlagen-System-Entwicklung, Bd. 2: Der hellenistische Rahmen des kaiserzeitlichen Platonismus. Bausteine 36-72: Text, Übersetzung und Kommentar. Aus dem Nachlaß hrsgg. und bearb. von M. Baltes unter Mitarbeit von A. Dörrie und Fr. Mann, Stuttgart 1990, 283-285, hier Baustein 42 „Der unpraktische Platon“; St. A. White, Callimachus on Plato and Cleombrotos, TAPhA 124 (1994) 135-161, hier 136-142 „The Legend of Cleombrotos“ und Williams (wie Anm. 9) passim. 11 Vgl. beispielsweise das Epigramm des Agathias AP 11, 354, 17-18 mit direkter Erwähnung des ‚kallimacheischen’ Kleombrot " ' D0E * 3 ( F % 7 9E5 3 E D 1 * sowie die Nachahmung von Kallimachos’ Epigramm durch Meleager in AP 7, 470 (s. auch Anm. 41). <?page no="43"?> Satire im Hellenismus? 31 gerne als positives exemplum für einen Akt autonomer Willensentscheidung an. Cicero kommt auf das Epigramm gleich zweimal zu sprechen: Einmal in der Rede Pro Scauro aus dem Jahr 54. v.Chr. Kleombrotos erscheint dort in einer Reihe mit vier berühmten römischen Senatoren, die alle Selbstmord begangen hatten (1-5). 12 Die andere Erwähnung findet sich kurze Zeit später im ersten Buch der Tusculanen, das dem Thema De contemnenda morte gewidmet ist. Cicero verteidigt dort die Indifferenz der Stoiker gegenüber dem Tod mit einer Reihe historischer Beispiele, darunter auch wieder dem Selbstmord des Kleombrotos (1, 84). 13 Eine vergleichbare argumentative Funktion erfüllt die Geschichte später bei Augustinus. In De civitate dei geht der Kirchenlehrer der Frage nach, ob Selbstmord als ein Zeichen für Seelengröße (magnitudo animi) gelten dürfe (1, 22), und kommt zu dem (vorsichtig formulierten) Schluß, daß dies für den Fall des kallimacheischen Kleombrotos durchaus gelten dürfe, da dieser ja nicht aus Not (nihil enim urguebat …), sondern aus freien Stücken gehandelt habe. Augustinus schließt diesen Abschnitt allerdings nicht ohne den Hinweis, daß die Tat des Kleombrotos im Widerspruch zu Platons eigentlicher Lehre stünde. 14 12 Cicero, Scaur. 4: at Graeculi quidem multa fingunt, apud quos etiam Cleombrotum Ambraciotam ferunt se ex altissimo praecipitasse muro, non quo acerbitatis accepisset aliquid, sed, ut video scriptum apud Graecos, cum summi philosophi Platonis graviter et ornate scriptum librum de morte legisset, in quo, ut opinor, Socrates illo ipso die quo erat ei moriendum permulta disputat, hanc esse mortem quam nos vitam putaremus, cum corpore animus tamquam carcere saeptus teneretur, vitam autem esse eam cum idem animus vinclis corporis liberatus in eum se locum unde esset ortus rettulisset. num igitur ista tua Sarda Pythagoram aut Platonem norat aut legerat? qui tamen ipsi mortem ita laudant ut fugere vitam vetent atque id contra foedus fieri dicant legemque naturae. aliam quidem causam mortis voluntariae nullam profecto iustam reperietis. 13 Cicero, Tusc. 1, 84: Callimachi quidem epigramma in Ambraciotam Theombrotum [zur Fehlschreibung des Eigennamens s. S. Lundström, Falsche Eigennamen in den Tuskulanen, Eranos 58 (1960) 66-73 und Dörrie (wie Anm. 10) 285] est, quem ait, cum ei nihil accidisset adversi, e muro se in mare abiecisse lecto Platonis libro. eius autem, quem dixi, Hegesiae liber est A G , quo vita quidem per inediam discedens revocatur ab amicis; quibus respondens vitae humanae enumrat incommoda. possem idem facere, etsi minus quam ille, qui omnino vivere expedire nemini putat. mitto alios: etiamne nobis expedit? qui et domesticis et forensibus solaciis ornamentisque privati certe si ante occidissemus, mors nos a malis, non a bonis abstraxisset. Zu Ciceros Interpretation des Kleombrotos-Epigramms s. auch Williams (wie Anm. 9) 163-166 „The Ciceronian Verdict“. - Zur Bewertung des Selbstmordes bei den Stoikern s. F. H. Sandbach, The Stoics, London 2 1989, 48-52; allgemein M. Baltes, Die Todesproblematik in der griechischen Philosophie, Gymnasium 95 (1988) 97-128, auch in: M. Baltes, HI<JKLM<N<: Kleine Schriften zu Platon und zum Platonismus. Hrsgg. von A. Hüffmeier, M.-L. Lakmann und M. Vorwerk, Stuttgart 1999 (BzA 123), 157-189. 14 Augustinus, civ. 1, 22: … ille potius Theombrotus [s. oben Anm. 13] in hac animi magnitudine reperitur. Vgl. Gregor v. Nazianz, Adv. Jul. 1, 70 (PG 35, 592) und Virt. 680-683 (PG 37, 729), sowie Hieronymus, Epist. 39, 3. Dazu White (wie Anm. 10) hier bes. 137. <?page no="44"?> Robert Kirstein 32 In einer anderen Linie der Rezeption ist die Kleombrotos-Geschichte nicht als positives, sondern als negatives exemplum aufgefaßt worden. Christlichen Autoren wie Lactanz diente Kallimachos’ Epigramm als warnendes Beispiel für den gefährlichen Einfluß, den die heidnische, hier platonische, Philosophie auf den Menschen ausübe. 15 In dieser Lesart ist nicht dem ‚Schüler’ Kleombrotos, sondern dem ‚Lehrer’ Platon die Schuld am Selbstmord anzulasten. Neuplatoniker wie z.B. Ammonios haben dagegen das Defizit in einem unzureichenden Verständnis des Kleombrotos gesehen und auf diese Weise Platon von ebendieser Verantwortung freigehalten. 16 Die moderne Forschung hat das Kleombrotos-Epigramm ganz überwiegend ‚satirisch’ gelesen und zwar als Satire auf einen als naiv entlarvten Jenseitsglauben. Der Witz des Epigramms liegt dann darin, daß der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele eine tödliche Folge hat. Diese Deutung findet sich beispielsweise bei Wilamowitz, Livrea, Gutzwiller und Meyer. 17 Meyer spricht explizit von „einem satirischen Epigramm mit einem philosophiekritischen Hintergrund“. In einer älteren Arbeit hat Sinko darüber hinaus die These vertreten, dem Gedicht liege eine dezidiert gegen Platon und die platonische Philosophie gerichtete Polemik zugrunde. Gegen diese ‚antiplatonische’ Sichtweise haben Mitte der 90er Jahre White und Williams den Versuch unternommen, dem Epigramm eine geradezu pro-platonische Lesart abzugewinnen. In der von White und Williams vertretenen Interpretation wird die satirische Eigenart des Epigramms an sich nicht bestritten, diese aber - ähnlich der neuplatonischen Deutungsweise - ausschließlich auf eine Naivität des Kleombrotos bezogen. 18 15 Lact., inst. 3, 18. Dazu Williams (wie Anm. 9) 161. 16 Ammonios, In Porph. 4, 18-25 (CAG 4, 3, 4, 18ff.). Dazu White (wie Anm. 10) 136-148; Williams (wie Anm. 9) 161-163. Vgl. auch J. M. Dillon, Singing without an Instrument. Plotinus on Suicide, in: ders., The Great Tradition. Further Studies in the Development of Platonism and Early Christianity, Aldershot 1998, 231-238. 17 Wilamowitz (wie Anm. 8) Bd. 1, 177: „Denn darin liegt der Hohn, daß die Verkündigung der unsterblichen Seele solche Folgen hat“; E. Livrea, Tre epigrammi funerari Callimachei, Hermes 118 (1990) 314-324, auch in: ders., O PPKJ< Q<P <JILP . Quindici studi di poesia ellenistica, Messina 1993, 77-93; vgl. e.g. 318 [83] „polemica antispiritualistica“, vollständiges Zitat unten Anm. 54; Gutzwiller (wie Anm. 9) 205: „… [i.e. the epigram] satirizes belief in immortality“ (vgl. ibid. 206 und 207); Meyer (wie Anm. 7) 164; Gow-Page (wie Anm. 8) Bd. 2, 204. 18 Für die ‚anti-platonische’ Richtung s. Sinko (wie Anm. 10) passim; A. Riginos, Platonica, Leiden 1976, 181; Wilamowitz (wie Anm. 8) Bd. 1, 177. - Für die ‚pro-platonische’ v.a. White (wie Anm. 10) 136: „I hope to show … that he had more regard for philosophers in general and Plato in particular than most of his readers now suppose“, und 159: „The homage to Plato is redoubled: his eloquence, the poet implies, enables his thought to transcend mortality“; Williams (wie Anm. 9) passim und bes. 159-161 „Was Callimachus anti-Platonic? “ (Auseinandersetzung v.a. mit Sinko). <?page no="45"?> Satire im Hellenismus? 33 Im Folgenden soll die vieldiskutierte Frage nach der philosophischen Haltung des Kallimachos nicht weiter verfolgt werden. 19 (1) Als erstes ist der paradoxe Abschluß des Gedankens zu nennen. Dieses Mittel ist nicht nur typisch für die Gattung Epigramm, sondern gehört nach Christine Schmitz zu den „stilkonstituierenden Mitteln satirischer Sprach- und Darstellungskunst“. Statt dessen soll es darum gehen, die Elemente des ‚Satirischen’ auf der Ebene des Sprachlichen und Stilistischen genauer zu analysieren. Es lassen sich mindesten drei Charakteristika dessen ausmachen, was in dem eingangs definierten Sinne als „satirische Schreibart“ (S. 28) gelten darf: 20 In der sukzessiven Entfaltung der Informationen über den Tod des Kleombrotos läßt sich sogar ein zweifaches Moment des feststellen: Zunächst erfährt der Leser von der ungewöhnlichen Art des Todes: Kleombrotos hat sich durch Sturz von einer hohen Mauer selbst das Leben genommen ( ! "= #$ % & ' (& ). Selbstmord kommt nach den Maßstäben der Gattungskonvention außerordentlich selten im Grabepigramm vor und läuft deshalb der ‚normalen’ Lesererwartung zuwider. 21 (2) Zu den „Kategorien des Satirischen“ zählt Schmitz weiter die Reduktion auf ein entscheidendes Detail. Sie gehört - zusammen mit der Übertreibung oder der Vermenschlichung der Objektwelt - zu dem übergeordneten Bereich der „Verzerrung“. In einer zweiten Stufe wird dann das Motiv für die an sich schon ungewöhnliche Tat mitgeteilt: nicht Not, wie es ausdrücklich heißt ( - . > ), sondern die Lektüre ( ! ,1 , pointiert an Vers- und Gedichtende) von Platons Schrift Phaidon hat Kleombrotos zur Selbsttötung motiviert. Der Gedanke der Unsterblichkeit der Seele und die darauf aufbauende Jenseitshoffnung sind zwar nicht eigens ausgesprochen, im Hinweis auf Platons Schrift aber deutlich impliziert. 22 Eine solche Reduktion findet sich auch im Epigramm des Kallimachos: Im letzten Vers heißt es, Kleombrotos habe von Platon ‚die eine (einzige)’ Schrift ‚Über die Seele’ gelesen ( 6 3 4 7 $2 8 9 1 ). 23 19 Zu Kallimachos’ Kenntnis der Philosophie s. White (wie Anm. 10) passim; unten Anm. 56. Die Stellung des Zahlworts R am Versanfang verleiht diesem 20 Schmitz (wie Anm. 1) bes. 117-128. 21 S. oben Anm. 7. 22 Schmitz (wie Anm. 1) bes. 150-161. Bei Schmitz geht es primär um die „satirische Reduktion eines Menschen auf das entscheidende Detail“ (Hervorhebung vom Verf.), s. aber auch ibid. 166. - Zum Begriff der ‚Verzerrung’ s. auch oben S. 28 (G. v. Wilpert). 23 Dies kommt besonders deutlich zum Ausdruck in den Übersetzungen von F. Nisetich, The Poems of Callimachus. Translated with Introduction, Notes, and Glossary, Oxford 2001, 183: „… he had read one book of Plato’s, the one about the soul“ und M. Asper, Kallimachos. Werke. Griechisch und deutsch. Herausgegeben und übersetzt, Darmstadt 2004, 487: „… sondern nach der Lektüre nur einer Schrift Platons, der über die Seele“. <?page no="46"?> Robert Kirstein 34 Aspekt besondere Emphase und verstärkt den satirischen Effekt: Kleombrotos ist ein so naiver ‚Leser’, daß die Lektüre einer einzigen platonischen Schrift genügte, um ihn zu einer so folgenschweren und unumkehrbaren Tat zu motivieren. 24 (3) Ein „stilkonstituierendes Mittel satirischer Sprach- und Darstellungskunst“ ist schließlich die ambivalente Formulierung. Schmitz spricht von „der epigrammatischen Prägnanz doppeldeutiger Formulierungen“. - Natürlich könnte man, im Sinne der erwähnten christlichen Deutung des Epigramms, auch hierin einen Hinweis auf eine besondere Gefährlichkeit platonischer Schriften sehen, die bereits nach oberflächlichem Studium desaströse Folgen zeitigen. 25 Kallimachos’ Epigramm enthält mindestens eine doppeldeutige Wendung dieser Art: Das letzte Wort des Gedichts ( ! ,1 ) wird zumeist einfach mit ‚lesen’ übersetzt. In der Tat ist das Kompositum ! - T9 0 in dieser metaphorischen Bedeutung auch sonst belegt, allerdings nur selten und erst spät, so etwa in einem Epigramm des Asklepiades auf die Lyde des Antimachus (AP 9, 63). 26 Dieses ist dem gesamten Ausdruck nach dem Kleombrotos-Epigramm so ähnlich, daß man eine direkte Verbindung zwischen den Epigrammen des Asklepiades und des Kallimachos vermuten darf. 27 Doppeldeutig wird ! ,1 dadurch, daß ! T9 0 in eigentlicher Verwendung ‚auflesen / aufsammeln’ bedeutet. 28 24 Vgl. Schmitz (wie Anm. 1) 65-96 „Satire in einem einzigen Wort“, hier bes. Kapitel B. I. 3 „Die emphatische Betonung eines Wortes“. Legt man diese Bedeutung an der vorliegenden Stelle zugrunde, verstärkt sich der Eindruck der Oberflächlichkeit und des Zu-schnell-Handelns von Seiten des Kleombrotos. Er 25 Schmitz (wie Anm. 1) 109. 26 LSJ 110-111 s.v. „ ! T95 III.1. (Med.) read through“, mit Verweis auf Kallimachos’ Kleombrotos-Epigramm; F. R. Andrados, Diccionario Griego-Español, Bd. 1, Madrid 1980, 248 s.v. „ ! T95 2 leer completamente, de arriba abajo“. Vgl. D.H. 1, 89 U . V D 7 W D9E X Y " & ! 2 Z [ 5 7 \5 &5 2 ! , E ] 9 " # . % G \5 &5 9E 2 * 1 = D & . - An der Stelle Plutarch 582a (De genio Socratis), auf die LSJ und Andrados vergleichend verweisen, ist die ursprüngliche Bedeutung von ! T9 0 gegeben: ! ^ + 9 1 5 2 1 5 ; G _ &9 [0 7 " % ` "` ! & + 9 3 D W 5 ! E9 0 E 2 91 2 a 1 2 E 2 * 7 & 5 1, 7 0[ E5 > : ; vgl. auch 711d (Lysander 19, 7) ,1 . D + 5 . - . ! E, 0 W G 9 1 5 2 "` - D 5 * ! E 5 > : 27 AP 9, 63 (Asklepiades) bW 7 9E ' 7 7 c d G ! 3 2 F E G ' ( & : F & 9 e - f g & - ! E, bW * F 3 ,2 3 M 2 G 9 1 7 ( 1 2 ; - Dazu Gow-Page (wie Anm. 8) Bd. 2, 139. Zum Einfluß des Asklepiades auf Kallimachos s. z.B. Hutchinson (wie Anm. 5) 264-265; Gutzwiller (wie Anm. 9) 214-215 u.ö. 28 LSJ 110-111 s.v. „ ! T95 I. (Med.) to pick up for oneself“, mit Verweis auf Herodot 3, 130 8 > ! E9 . - S. auch LSJ Suppl. 28 s.v. „ ! T95 ” mit Zufügung von SEG 31, 985 D 14: „read out, recite“. <?page no="47"?> Satire im Hellenismus? 35 hätte dann das eine Buch Platons noch nicht einmal gelesen, sondern nur flüchtig en passant mitgenommen - ‚aufgelesen’ - bevor er sich von der Mauer warf. Kehren wir noch einmal zu der eingangs getroffenen Interpretation zurück, daß die Pointe des Epigramms darin liegt, Kleombrotos’ naiver Glaube an eine jenseitige Fortexistenz der Seele habe ihn zum Suizid verleitet (oben S. 32). Meyer weist in ihrer Analyse darauf hin, daß ja gar nicht gesagt wird, Kleombrotos habe an die Unsterblichkeit der Seele geglaubt, sondern lediglich, daß er ein Buch zu diesem Thema gelesen habe. In der Tat enthält Platons Phaidon auch keinerlei Aufforderung zum Selbstmord, Platon lehnt ihn in derselben Schrift vielmehr ausdrücklich ab. 29 Meyer leitet aus dieser Beobachtung den Schluß ab, daß es Kallimachos neben der Kritik an einem „pseudo-philosophischen Rigorismus“ auch um eine Kritik an einer „oberflächlichen Bildung“ gegangen sei. 30 Zu dem bisher Gesagten fügen sich noch zwei weitere Gesichtspunkte, die in der Interpretation des Gedichts bisher nur unzureichende Aufmerksamkeit gefunden haben: Der Akt des Suizids an sich - die Art und Weise seiner Durchführung - sowie die Frage nach seiner psychologischsoziologischen Einordnung. Dann liegt der Witz des Epigramms zugleich darin, daß nicht allein ein naiver Jenseitsglaube, sondern auch die unzureichende Lektüre eines Textes tödliche Konsequenzen haben kann. Diese Interpretation erhält Unterstützung durch die oben gemachten Beobachtungen zum satirischen Charakter des Epigramms: Kleombrotos hat den offensichtlichen Fehler begangen, nur eine einzige Schrift Platons gelesen zu haben ( 6 3 4 7 $2 8 9 1 ). Die Doppeldeutigkeit von ! ,1 steigert diesen Aspekt der Oberflächlichkeit noch, wenn man ! T9 0 in seiner ursprünglichen Wortbedeutung ‚aufheben’ auffaßt und nicht im übertragenen Sinne von ‚lesen’. Die Selbsttötung des Kleombrotos durch Herabspringen (iactatio) ist auffällig. In der Antike galt das Sich-Herabstürzen von einem Felsen, einer Mauer oder einem anderen erhöhten Punkt als eine Handlungsweise, die offenbar in einem gewissen Widerspruch zur Überlegtheit des philosophisch Gebildeten empfunden wurde. In der Tat erfordert die genannte Selbsttö- 29 Platon, Phaidon 62b1-c8, vgl. auch Leges 873c-d. Platon über Suizid: D. Gallop, Plato. Phaedo. Translated with Notes, Oxford, 1975, 83-85; Williams (wie Anm.9) 158-159; M. Miles, Plato on Suicide (Phaedo 60c-63c), Phoenix 55 (2001) 244-258; allg. A. J. L. van Hooff, From Autothanasia to Suicide. Self-Killing in Classical Antiquity, London 1990, hier 181-197 „Philosophers and Theologians“. 30 Meyer (wie Anm. 7) 164-165: „Der Sprecher sagt nicht, daß Kleombrotos starb, weil er an die Unsterblichkeit der Seele glaubte, sondern weil er ein Buch des Platon über die Seele gelesen hatte“ (Zitat ibid. 165). Ähnlich bereits Gutzwiller (wie Anm.9) 206: „… since the Phaedo forbids suicide, Cleombrotus is guilty as well of misreading the Text“ (Hervorhebung vom Verf.). <?page no="48"?> Robert Kirstein 36 tungsart besonders wenig an Vorbereitung, etwa im Gegensatz zu alternativen Arten des Suizids wie der Einnahme von Gift oder dem Aderlaß im Bad. 31 Am Leukadischen Felsen waren es - neben Verbrechern, die zur Bestrafung herabgestürzt wurden - vor allem unglücklich Liebende, die sich dort aus Verzweiflung und aus einem Gefühl der Ausweglosigkeit heraus den Freitod gaben. 32 In Juvenals sechster Satire wird der Adressat Postumus eindringlich davor gewarnt, sich auf eine Eheschließung einzulassen. 33 Wie könne er, so heißt es dort, einen derartigen Schritt wagen, wo sich doch zahlreiche Möglichkeiten anböten, diesem Schicksal zu entgehen - beispielsweise durch Freitod. Stricke, so lauten die nun konkreter werdenden Ratschläge, gäbe es doch in großer Anzahl, außerdem Fenster in luftiger Höhe oder auch die Ämilische Brücke, von der man sich herabstürzen könne (6, 25-32). 34 In seiner Arbeit zum Suizid in der Antike kommt van Hooff zu dem Ergebnis, daß das Sich-Herabstürzen insgesamt untypisch für einen philosophisch motivierten Selbstmörder sei und der Fall des Kleombrotos in dieser Hinsicht eine Ausnahme darstelle. 35 31 Zu den verschiedenen Mitteln des Selbstmordes s. R. Hirzel, Der Selbstmord, Archiv für Religionswissenschaft 11 (1908) 75-104. 243-284. 417-476. [Sonderausgabe Darmstadt 1967], hier bes. 243-244. - Gow-Page (wie Anm. 8) Bd. 2, 204-205 gehen beispielsweise auf die Art des Selbstmordes gar nicht ein. Genau darin liegt der Witz, denn Kleombrotos ist ja kein ernstzunehmender Philosoph, sondern, wenn überhaupt, nur ein naiver und oberflächlicher ‚Pseudo-Philosoph’. Das Herabspringen von der Mauer steht in einer ganz offensichtlichen Korrelation zu der Oberflächlichkeit seiner Philosophie-Kenntnisse. Die satirische Verspottung der Kleombrotos-Figur gewinnt durch die Art und Weise der Selbsttö- 32 Erwogen (und verworfen) bei Dörrie (wie Anm. 10) 284; s. auch ders., Ovidius Naso. Der Brief der Sappho an Phaon, mit literarischem und kritischem Kommentar im Rahmen einer motivgeschichtlichen Studie, München 1975 (Zetemata 58), 33-49. 33 Das ganze Stück ist ein ! 3 9C 2* der teilweise geradezu ein $h9 92 G ist; s. E. Courtney, A Commentary on the Satires of Juvenal, London, 1980, 252. 34 Iuvenal, Satura 6, 25-32: conuentum tamen et pactum et sponsalia nostra / tempestate paras iamque a tonsore magistro / pecteris et digito pignus fortasse dedisti? / certe sanus eras. uxorem, Postume, ducis? / dic qua Tisiphone, quibus exagitere colubris. / ferre potes dominam saluis tot restibus ullam, / cum pateant altae caligantesque fenestrae, / cum tibi uicinum se praebeat Aemilius pons? Es folgt der Ratschlag, sich, wenn die genannten Ausweichmöglichkeiten nicht gefielen, sich doch einen Knaben (pusio) zu nehmen. 35 Van Hoof (wie Anm. 29) 73-77 hier bes. 76-77: „Parallel to the curve of age runs the line of motives: they remain on the lower side of the spectrum. Only Kleombrotos’ suicide might be regarded as a philosophical demonstration …: he jumped from a wall after reading the book of Plato. Had he ceased to be a ‚vir unius libri’ by reading, apart from the Phaedo, Plato’s Laws, he could have reached different conclusions. Callimachus’ epigram about this pointedly mocks such ‚precipitate’ behaviour by intellectuals who have lost common sense“; vgl. 215 und 237, sowie P. Moron, Le suicide, Paris 1 1975. 8 2006, 37: „Historiquement, et culturellement, la mort par précipitation a toujours eu un caractère infamant“. <?page no="49"?> Satire im Hellenismus? 37 tung eine weitere Nuance: Kleombrotos liest in einer einzigen Platonschrift, der über die Seele, mißversteht den Inhalt des Textes und wirft sich in leichtfertigem Vertrauen auf die Unsterblichkeit der Seele von einer Mauer. Davon, daß Kleombrotos seine Tat noch einmal überdenkt, bevor er sie ausführt, ist in dem Epigramm keine Rede. Eine gewisse Parallele bietet vielleicht die von Diogenes Laertios berichtete Geschichte vom Tod des Empedokles, der sich durch einen Sprung in die Lavaströme des Ätna das Leben genommen habe (8, 51-77). 36 Diese Version - Selbsttötung weniger durch Sturz als durch Verbrennung 37 - stellt allerdings nur eine von zahlreichen Legenden dar, die sich um das Ende des Philosophen ranken. Nach Favorin, ebenfalls bei Diogenes, soll Empedokles durch Sturz von einem Wagen gestorben sein (Diog. L. 7, 73), nach Demetrios von Troizen durch eigenhändiges Erhängen (Diog. L. 7, 74). 38 Zwischen den beiden Fällen besteht jedoch auch ein signifikanter Unterschied: Empedokles stirbt nicht als junger, sondern als alter und weiser Mensch; im Vordergrund der verschiedenen Legenden um seinen Tod steht jeweils das Besondere seines Ablebens und nicht der Wunsch nach weiterem Erkenntnisgewinn wie bei Kleombrotos. 39 36 Diogenes zitiert zwei eigene Epigramme auf den Tod des Empedokles (8, 75 ? i @E . 7 j G ' - 3 D Y 4 E ] 5 3 E * % e 3 : k 7 W * l * Y " 97 G 0[ F % ! 3 [ 5 e ! 0 1 5 d F - D E5 m 2 3 n / 1 D o < * F ! 0 D0E 5 e - D0E 5 ." (AP 7, 123) 7 + d „ 7 ` l 8 0 9 ^ ! 1, F e 7 3 1 , d F ' . 2 3 8 D [ 7 & 3 p8 * F G q e D M 91 & 2 % 1" g “ (AP 7, 124). Die Version vom Tod des Philosophen im Ätna findet sich auch bei Horaz: dicam Siculique poetae / narrabo interitum. deus immortalis haberi / dum cupit Empedocles, ardentem frigidus / insiluit (De arte poetica 463-466), bei Strabon (6, 274 [II 188, 14-17 Radt]), sowie in der Suda (s.v. „ 8 MT 5 “ [Adler II 258, 6-21]). Sie geht vielleicht auf Herakleides Pontikos zurück (frgm. 85 Wehrli), dazu W. K. Guthrie, A History of Greek Philosophy, Bd. 2: The Presocratic Tradition from Parmenides to Democritus, Cambridge 1965, 131 mit Anm. 1. Vgl. H. Diels - W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokatiker. Griechisch und Deutsch, 3 Bde., 1 1952. 2 1964, 31 A 1-2; G. S. Kirk, J. E. Raven, M. Schofield, The Presocratic Philosophers, Cambridge 2 1983, 281. 37 Da Empedokles sich in den lavagefüllten Ätna stürzt, muß sein Selbstmord in die Rubrik ‚Tod durch Feuer’ eingeordnet werden, dazu van Hooff (wie Anm. 29), 57-59 „Fire as Exotic Means“, hier 58; vgl. AP 7, 123, 1-2 (oben Anm. 36) und Suda s.v. „ 8 MT 5 “ rstuvw xx yz{* |z e $ n 2 3 ' 8 2 h ). 38 Diog. L. 8, 67-75. Eine Übersicht über die verschiedenen Legenden bietet E. Wellmann, Art. „Empedokles 3“, RE V/ 2 (1905) 2507-2512, hier 2507. 39 Van Hooff (wie Anm. 29) 36: „For the Greek world self-killing is attributed to a series of old intellectuals: Pythagoras at the age of 82, Anaxagoras 72, Empedokles 60, Speusippos 68, Diogenes 80, Aristotle 62, Epicurus 71, Zeno the Stoic 72, Dionysios circa 80, Kleanthes 72. These ages are generally given according to Diogenes Laertios. Especially in his series of lives of philosophers self-killing looks like an obligatory last act. In or- <?page no="50"?> Robert Kirstein 38 Der Selbstmord lädt über den Gesichtspunkt der gewählten Todesart hinaus noch zu weiteren Fragestellungen ein: In seiner Untersuchung Suicide von 1897 hat Émile Durkheim das Phänomen der Selbsttötung unter soziologischen Gesichtspunkten analysiert und vier idealisierte Typen herausgearbeitet: den egoistischen Typ, den altruistischen, den fatalistischen und den anomischen (d.h. Gesetz- und Regellosigkeit führt zur Verängstigung des Individuums, diese dann zur Selbsttötung). 40 Aufschlußreich ist ein Vergleich mit einem anderen Grabepigramm des Kallimachos, das ebenfalls von Selbstmord handelt. Im Basilo-Gedicht geht es um eine junge Frau ( 0 } ) die sich mit eigener Hand ( - & ) Legt man diese Systematisierung zugrunde, so ist der Suizid des Kleombrotos am ehesten dem ersten Typ, der Selbsttötung aus egoistischen Motiven, zuzuordnen. Fatalismus und Anomie werden durch den Hinweis im dritten Vers, er habe ‚ohne Not’ gehandelt ( +, - . ' / 0 1 2 ) ausgeschlossen, für Altruismus als Motiv, etwa im Sinne der euripideischen Alkestis, gibt es ebenfalls keinen Hinweis im Text. Es ist offensichtlich die reine Neugier, das bei Platon Gelesene durch eigenes Erleben bestätigt zu finden - und dies, so legt es die gewählte Todesart durch Mauersprung nahe, möglichst schnell. 41 an demselben Tag das Leben genommen hat, an dem ihr Bruder zu Grabe getragen wurde (Gow-Page 32). 42 der to be convincing the old philosopher is expected to express his views by the way he dies.“ Zu Empedokles auch ibid. 37. Als Grund wird genannt, daß Basilo nach dem Tod ihres Bruders keinen Mut mehr zum Weiterleben empfand. Man kann dieses Motiv mit dem dritten Typ Durkheims, dem fatalistischen, identifizieren. Die Komplexität und Ambiguität des Selbstmordes wird in diesem Epigramm allerdings dadurch zum Thema, daß zugleich vom ‚doppelten Leid’ ( & 2 > h ) der Eltern die Rede ist, die morgens ihren Sohn und abends ihre Tochter zu betrauern haben. Das Unglück der Eltern wird 40 É. Durkheim, Der Selbstmord, Frankfurt a. M. 2006 [orig. Paris 1897: Le suicide. Étude de sociologie], e.g. 162. 242. 273. 318 mit Anm. 29. Durkheim geht in seiner empirisch angelegten Untersuchung von Fällen des Selbstmords aus, die im Frankreich seiner Zeit bezeugt waren. Zu Durkheims Beschäftigung mit dem klassischen Altertum und seiner Bedeutung für die moderne Altertumswissenschaft s. z.B. G. E. McCarthy, Classical Horizons. The Origins of Sociology in Ancient Greece, New York 2003, hier bes. 145- 147. 41 Hervorgehoben durch Enjambement und Stellung an der Versspitze. Zu Stellung und Ausdruck vgl. das Epigramm des Meleager AP 7, 470, 5-6 (oben Anm. 11): ~ 20  F - 0 &* &5 9 2 1 2 & 5 : 42 Gow-Page 32; AP 7, 517; Pf. 20: € M 1 D01 * B & 2 T F 2 E 2 Q / 1 0 0 } F - &d p 9 ! " 3 D 2 7 0 F - e : & 2 ‚ D h F 3 ( & d [" . 2 [ F ƒ 3 c 8 ' % . Zu diesem Epigramm s. jüngst A. Ambühl, Zwischen Tragödie und Roman. Kallimachos’ Epigramm auf den Selbstmord der Basilio (20 PF., 32 Gow-Page, AP 7.517), in: M. A. Harder, R. F. Regtuit, G. C. Wakker (Hrsgg.), Hellenistic Epigrams, Leuven 2002 (Hellenistica Groningana 6), 1-26. <?page no="51"?> Satire im Hellenismus? 39 noch weiter durch den Umstand gesteigert, daß sie, so heißt es im letzten Vers, keine weiteren Kinder haben, ihr Haus ist jetzt 8 , ‚verwaist’ ( 3 c 8 ' % ). 43 Indem Basilo den Schmerz ihrer Eltern vergrößert, weil sie selbst den ihren nicht zu tragen vermag („suicide from grief“ [Gow-Page]), kommt in ihre Tat ein Element des egoistischen und dadurch schuldhaften Handelns hinein, das wiederum dem ersten Typ innerhalb der Durkheim’schen Systematisierung entspricht. Es erübrigt sich zu bemerken, daß dem Basilo-Epigramm jegliches satirische Element abgeht. Gerade im Kontrast zu der gleichermaßen notwie schuldbeladenen Basilo tritt die ‚unkomplexe’ Handlungsweise des Kleombrotos besonders deutlich hervor und bestätigt noch einmal den satirischen Charakter dieses Epigramms. 44 Wie lassen sich die übrigen Grabepigramme deuten, in denen Kallimachos das Thema ‚Tod und Jenseitsglauben’ behandelt? Die engste Parallele bietet das Epigramm auf Timarchos (G-P 33; 10 Pf.; AP 7, 520): „ &p… N& D †‡ * ˆ" W0 f 7 $2 8 A 1 * G e * &p 0 "2 8 4 ‰ 2ŠE h 4 2 & 2d [ - 3 D - E5 : Wenn du Timarchos suchst im Hades, um etwas zu erfahren über die Seele oder wie du fortleben wirst, 45 suche dann nach Pausanias’ Sohn aus der Phyle Ptolemaïs: Finden wirst du ihn unter den Frommen. Die Formulierung 7 $2 8 im zweiten Vers hat eine direkte Entsprechung im Kleombrotos-Epigramm, wo dieselben Worte als Werkbeschreibung für Platons Phaidon dienen (v. ‹ 6 3 4 7 $2 8 9 1 ). Im Kontext eines Grabepigramms zunächst weniger auffällig ist die Erwähnung des Hades im ersten Vers, die uns ebenfalls aus dem Selbstmörder-Epigramm bekannt ist (v. 2 ' () ). 46 43 Zur Bedeutung von c $ an dieser Stelle s. Gow-Page (wie Anm. 8) Bd. 2, 190 ad locum: „The implication is not that there were other children but that the two, now both dead, were worthy.“ Die grundsätzliche Ähnlichkeit der beiden Epigramme 44 Zur kontrastiven Beziehung der beiden Kallimachos-Epigramme s. Meyer (wie Anm. 7) 165. Zur ‚Sequenz’ AP 7, 517 bis 525 s. Gutzwiller (wie Anm. 9) 200-213, hier bes. 203. 45 Hier verstanden im Sinne von „how it shall be with thee hereafter“, so paraphrasiert bei Gow-Page (wie Anm. 8) 2, 191, ebenso bei Gutzwiller (wie Anm. 9) 201 „… or about your fate after death“. 4G ist dann im Sinne von aufzufassen (Belege wie e.g. Ilias 11, 838 bei Gow-Page ad locum). Gow-Page selbst bevorzugen das Verständnis der Stelle im Sinne von „comment survivras (Cahen)“, so offensichtlich auch Meyer (wie Anm. 7) 173 „… oder wie du weiterleben wirst“. 46 Zu den sprachlichen Bezügen der beiden Epigramme s. Gutzwiller (wie Anm. 9) 204- 205 mit Anm. 50; Meyer (wie Anm. 7) 175. <?page no="52"?> Robert Kirstein 40 weist jedoch auch dieser sprachlichen Übereinstimmung eine erhöhte Signifikanz zu. Wie im Kleombrotos-Epigramm, so lassen sich auch im Timarchos- Epigramm stilistische und motivische Merkmale des ‚Satirischen’ feststellen: (1) Die Reduktion auf ein entscheidendes Detail (oben S. 33). Der Aspekt des ‚Suchens’ wird insgesamt nicht weniger als dreimal zur Sprache gebracht: Zweimal durch das anaphorische &p… F &p 0 (jeweils zusätzlich hervorgehoben durch die Stellung am Anfang der beiden Distichen) und dann noch ein drittes Mal durch das bedeutungskomplementäre [ , ‚du wirst finden’, im letzten Vers. Das Suchen und Finden des Timarchos im Hades bildet das Hauptthema des Gedichts, es beginnt mit dem Suchen: A &p… N& D †‡ (v. 1) und endet mit dem Finden i [ = - 3 D - E5 (v. 4). Die philosophische Frage nach dem Schicksal der Seele tritt dagegen zurück und nimmt kaum mehr als einen Vers ein i ˆ" W0 F f 7 $2 8 A 1 * G e (v. 1-2). Die Häufung des Begriffsfeldes ‚Suchen / Finden’ wirkt im Kontext des kurzen Gedichts und verstärkt durch die anaphorische Wortwiederholung &p… F &p 0 hyperbolisch und erzeugt dadurch einen satirischen Effekt. (2) Die doppeldeutige Formulierung (oben S. 34). Ein etymologisches Wortspiel birgt der Ortsname 4 C‡ (v. 3). Der Genitiv 4 ‰ läßt sich auch als aus 4 - und - ‰ zusammengesetzt lesen. Was auf den ersten Blick gesucht klingt, wird evident, wenn man die Versposition der zweiten Worthälfte - ‰ berücksichtigt. Sie ist identisch mit der Position, an der im ersten Vers †‡ steht. 47 Das Wort 4 C‡ ist darüber hinaus auch auf einer inhaltlichen Ebene doppeldeutig, weil es eine Phyle mit diesem Namen in hellenistischer Zeit sowohl in Alexandria als auch in Athen gegeben hat. Letztere war in Athen kurz nach Errichtung eines Kultes für Ptolemaios III. (Regierungszeit 246-221 v.Chr.) zu dessen Ehre als dreizehnte Phyle errichtet worden. 48 (3) Schließlich läßt sich in dem Timarchos-Epigramm ein weiteres Merkmal ausmachen, das zu den „stilkonstituierenden Mitteln“ der Satire gehört, 47 C. Meillier, Callimaque et son temps. Recherches sur la carrière et la condition d’un écrivain à l’époque des premiers Lagides, Lille 1979, 197-198. Zum Wortspiel allgemein J. J. O’Hara, True Names. Vergil and the Alexandrian Tradition of Etymological Wordplay, Ann Arbor 1996, hier bes. 21-42 zu den alexandrinischen Dichtern. 48 Chr. Habicht, Athen in hellenistischer Zeit. Gesammelte Aufsätze, München 1994, 146 und 184 zur Phyle ‚Ptolemaïs’ in Athen. - Die Scholien zu Apollonios Rhodius berichten von einer Phyle ‚Ptolemaïs’ in Alexandria: ( ; G ( 9 2 G ` 3 . 9E Œ ( , X "2 8 4 ‰ (p. 1, 5-6 Wendel); s. Gow-Page (wie Anm. 8) Bd. 2, 190 ad locum. In Ägypten ist Ptolemaïs zugleich der Name einer der drei großen Griechenstädte (neben Naukratis und Alexandria), dazu W. Huß, Ägypten in hellenistischer Zeit. 332-30 v.Chr., München 2001, 223 u.ö. <?page no="53"?> Satire im Hellenismus? 41 die Inkongruenz: 49 Der (nicht näher bezeichnete) Sprecher fordert den fiktiven Leser dazu auf, im Hades nach dem Sohn des Pausanias aus der Phyle Ptolemaïs zu suchen, er werde ihn dann unter den Frommen ( D - E5 ) finden. Hier wird der Eindruck erweckt, als setzte sich die bürgerliche Polis- Ordnung der Oberin der Unterwelt unverändert fort: Sucht man eine bestimmte Person im Hades, so muß man nur Namen und Phyle angeben, um den Betreffenden zu finden. Meyer weist zwar zu Recht darauf hin, daß Phylenangaben auch sonst im Grabepigramm durchaus nicht ungewöhnlich sind. 50 Das genaue Verständnis des Timarchos-Epigramms hängt zu einem nicht geringen Teil von der Identität der Hauptperson ab. Das Interesse an Timarchos als einem ‚Fachmann’ über Fragen der Seele und des Jenseits (v. 1-2 ˆ" W0 F f 7 $2 8 A 1 * G e ) erlaubt die Vermutung, daß mit dem Genannten ein Philosoph gemeint ist, vielleicht sogar einer, der eine Schrift 4 7 $2 8 verfaßt hat. Der Witz an der vorliegenden Stelle liegt jedoch darin, daß die Angabe nicht der Vorstellung eines Verstorbenen dient, sondern die Suche nach ihm im Hades erleichtern soll. 51 Gow-Page nennen drei Philosophen mit Namen Timarchos, die für eine Identifizierung in Frage kommen könnten. Unter diesen befindet sich auch ein aus Alexandrien stammender Kyniker, der ein Schüler des Kleomenes und ein Enkelschüler des Metrokles gewesen sein soll. 52 Der Einschätzung von Gow-Page, daß dieser Alexandriner mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf den bei Kallimachos erwähnten Timarchos bezogen werden dürfe, sind in jüngerer Zeit auch Meillier und Livrea gefolgt. 53 Livrea hat, ausgehend von der Gleichsetzung mit diesem Kyniker Timarchos, das Epigramm so interpretiert, daß der Philosoph nur als Name in einer Phylenliste und als berühmt für seine - T fortlebe. 54 49 Vgl. dazu Schmitz (wie Anm. 1) bes. 97-117. In Fortführung von Livreas Interpretation hat Gutzwiller die The- 50 Meyer (wie Anm. 7) 176 mit Anm. 171 mit Verweis auf CEG 2, 523: D 0C ! ` ! 9 03 C #h F "2< >8 < > M  : 51 S. oben Anm. 8. 52 Gow-Page (wie Anm. 8) Bd. 2, 190; s. auch den Forschungsüberblick bei Meyer (wie Anm. 7) 173-174. Die Quelle ist Diogenes Laertios 6, 95 i 0 7 - % Ž 7 E * Ž 2 H [ ; ( , W * E 2 N& ( , X 7 l 8 l"E . 53 Gow-Page (wie Anm. 8) 2, 190: „Of the three the Alexandrian would be the obvious choice“, gegen Wilamowitz (wie Anm. 8) Bd. 1, 176 Anm. 2, der die Identifikation mit dem Alexandriner Timarchos aus chronologischen Gründen als „ganz windig“ abgelehnt hatte. Meillier (wie Anm. 47) 197-199; Livrea (wie Anm. 17) 314-318. 54 Livrea (wie Anm. 17) 318 [83-84]: „La polemica antispiritualistica, concentrata nel primo distico, si traduce insomma in un’amara parenesi ai filosofi convinti di poter incontrare nell’Ade la $2 } di Timarco per confutare le sue idee sull’anima e la resurrezione: cerchino il nome del morto nei registri funterari, è tutto ciò che ne rimane assiemo al ricordo della sua - T , il tradizionale ascetismo cinico.“ <?page no="54"?> Robert Kirstein 42 se vertreten, daß die systematisierende Phylenangabe eine Anspielung auf die Autorenbiographien enthalte, die Kallimachos für sein Literaturarchiv angefertigt habe. 55 Die skizzierten Interpretationsansätze bleiben alle in dem Maße spekulativ, in dem die Person des Timarchos greifbar bzw. ungreifbar bleibt. Doch bietet sich auch eine Möglichkeit, das Epigramm aus sich selbst heraus zu deuten: Das unterstellte Interesse des Lesers, Timarchos im Hades aufzusuchen, um etwas über Tod und Jenseits in Erfahrung zu bringen, bedeutet - so kann man im Umkehrschluß folgern - daß sich über dieses Thema in der Oberwelt nichts in Erfahrung bringen läßt. Ansonsten wäre der Gang in die Unterwelt ja gar nicht erst erforderlich. Eine solche Interpretation des Epigramms als Ausdruck einer skeptizistischen oder rationalistischen Haltung fügt sich sowohl zu den beobachteten satirischen Stilelementen als auch zu dem Gesamtbild, das sich bisher aus Kallimachos’ Äußerungen ergeben hat. 56 Dieses wird durch ein weiteres Grabepigramm des Dichters bestätigt. Auch in dem Charidas-Epigramm geht es um die Frage, was der Mensch nach dem Tod zu erwarten hat (G-P 31; 13 Pf.; AP 7, 524): -  o # 3 7 ‘ & ! W g - ' 3 ( & % 2 & 2 E9 * # D &: - ’ ‘ & * & E 0 g - 4 X : - <Š = + &g - “ % : - ” . 4 W 5 g - M%0 : - ( 5 0 : - K• D 3 9 c ! 0 d ' . 3 j  W * 4 & 2 % E9 ' (& …: - Ruht unter dir wirklich Charidas? - Wenn du den Sohn des Arimmas aus Kyrene meinst, (der ruht) unter mir. - Charidas, wie ist es da unten? - Große Finsternis. - Und die Rückwege? - Lüge. - Aber Pluto? - Lüge. - Wir sind verloren! - Dies ist meine wahre Rede für Euch: wenn du aber die angenehme willst: für einen Pellianer gibt es einen großen Ochsen im Hades. (Ü nach Meyer) 55 Gutzwiller (wie Anm. 9) 205: „The reference to Timarchos as son of Pausanias from the Ptolemais tribe suggests, not just local citizenship records, but also the biographies attached to Callimachus’ own literary inventories, which apparently began with name of father and place of origin.“ 56 Vgl. auch Wilamowitz (wie Anm. 8) Bd. 1, 177 in Bezug auf das Kleombrotos- Epigramm: „Dieser Rationalismus steckt dem Kallimachos tief im Innern. Philosophie hat nichts damit zu tun; sie berührt ihn nicht. Seinen Landsmann Hegesias mag er gekannt oder von ihm gehört haben, für seinen Pessimismus würde er nur ein Achselzucken gehabt haben.“ <?page no="55"?> Satire im Hellenismus? 43 Das Epigramm ist dem Timarchos-Stück thematisch eng verwandt, die narrative Disposition jedoch verschieden. 57 Auch hier lassen sich wieder Stilmittel beobachten, die konstitutiv für die Satire sind. Doppeldeutig (oben S. 34) ist die Verwendung von %0 im vierten Vers, das hier sowohl in der Bedeutung ‚mythische Erzählung’ als auch in der Bedeutung ‚Legende / Fiktion / Lüge’ aufzufassen ist. Die Frage nach möglichen Rückwegen im dritten Vers ( Š + &) kann man als Inkongruenz (oben S. 41) zweier eigentlich unvereinbarer Gedanken auffassen, weil der Hades geradezu sprichwörtlich als der Ort ohne Rückkehr gilt. Diese Regel wird nur im Mythos gelegentlich durchbrochen (von Herakles, Orpheus, Adonis) - der Mythos wird aber sogleich, in Bezug auf Pluto, als ‚Lüge’ gekennzeichnet. Das Charidas-Epigramm ist als Dialog angelegt, der sich zwischen dem imaginierten Sprecher auf der einen und dem Grabstein bzw. dem Verstorbenen Charidas auf der anderen Seite entfaltet. Dadurch, daß der Sprecher erst mit dem Grabstein und dann mit dem Verstorbenen selbst spricht, wandert der Blick sukzessiv von der Oberzur Unterwelt. Der Dialog zwischen dem Sprecher und Charidas, zwischen Diesseits und Jenseits, ergibt nichts Hoffnungsvolles: Dreimal erkundigt sich der Sprecher nach der Situation im Hades, und dreimal ist die Antwort des Charidas so kurz wie entmutigend (v. 4 ! 5 0 ): es herrscht Finsternis, es gibt keinen Weg zurück, Pluto existiert nicht (v. 3-4 X - $ % - %0 ). 58 3 Schluß Die Grabepigramme des Kallimachos, die explizit auf Jenseitsvorstellungen Bezug nehmen, sind von einer skeptischen Grundhaltung, wie sie Livrea und andere fordern (oben S. 41f.), gekennzeichnet. Alle drei hier näher untersuchten Gedichte negieren auf ihre Weise eine irgendwie trostgebende Vorstellung von der Fortexistenz des Menschen nach dem Tod. Das Kleombrotos-Epigramm nimmt direkten Bezug auf Platon, und obwohl nicht dieser im Zentrum des Spottes steht, sondern sein ‚naiver’ Leser Kleombrotos, so erscheint es dennoch unmöglich, das Epigramm mit White und Williams auf pro-platonische Art zu interpretieren. Dies ist um so schwieriger, als auch die beiden anderen Gedichte nichts enthalten, was auf eine Fortexi- 57 Dazu Meyer (wie Anm. 7) 159-224 „Die Inszenierung des Sprechakts in den Epigrammen des Kallimachos“, hier bes. 211-214. - Zur einer möglicherweise hervorgehobenen Stellung dieses Epigramms in einer ursprünglichen Epigramm-Sammlung des Kallimachos s. Gutzwiller (wie Anm. 9) 39-40 und 210. 58 Auf das schwer zu verstehende letzte Distichon kann hier nicht eingangen werden; s. Meyer (wie Anm. 7) 212-132; weitere Lit. bei L. Lehnus, Nuova bibliografia callimachea (1489-1998), Alessandria 2000 (Hellenica 3), 302. <?page no="56"?> Robert Kirstein 44 stenz oder gar Befreiung der Seele im Sinne der platonischen Philosophie schließen läßt. Das Timarchos- und das Charidas-Epigramm befinden sich gedanklich auf derselben Linie. Im Timarchos-Epigramm bleibt allerdings unsicher, ob der Spott sich ausschließlich auf den Jenseitsglauben oder auch auf die Person des Timarchos bezieht, solange man nicht sicher weiß, wer sich hinter diesem Namen verbirgt. Weitere Epigramme können dieses Bild abrunden, wie beispielsweise Kallimachos’ Epigramm auf Heraklit (AP 7, 80; 34 G-P; 2 Pf.), das mit dem Gedanken schließt, Heraklit lebe - ausschließlich - durch sein literarisches Werk ( ! ) 59 fort. Dieses Werk, so heißt es, könne selbst vom Hades, dem ‚Räuber von allem’ ( ; 1 5 F — ` (& ), nicht angegriffen werden. 60 Die stilistische Untersuchung der Epigramme bestätigt diese Interpretation, indem sie, gewissermaßen parallel zur inhaltlichen Ebene, die Nähe zu dem aufweisen, was man im eingangs zitierten Sinne als ‚satirische Schreibart‘ (oben S. 28) bezeichnen kann und was sich später in Rom als eigene Gattung im engeren Sinne manifestiert hat. Kehren wir für einen Moment zurück zur römischen Literatur als dem referentiellen Ausgangspunkt für die Bestimmung dessen, was das Wesen des ‚Satirischen’ ausmacht, so zeigt sich, daß gerade Philosophen und philosophische Lehrgebäude zu den beliebten Sujets der römischen Vers-Satire gehören. Braund nennt insgesamt sechs solcher Themen, neben der Philosophie noch das römische Stadtleben, das Patronagesystem, körperliche Gelüste, Literaturtheorie und die Parodie auf andere Gattungen wie beispielsweise das Epos. 61 „Satiren und Satiriker“, so hat Dimitri Tschizeswkij es formuliert, kommen „in der Literaturgeschichte außerordentlich oft vor, besonders vielleicht bei den jungen Kultur- und Staatsbildungen. Man muß dabei besonders viele ‚versteinerte’ Lebensformen abschütteln, und es gibt kaum ein stärker wirkendes Mittel als die Komik, die ohne schmerzliche Operationen das Veraltete beseitigen kann. Aus diesem Grund sind die Satiren zur europäischen Renaissancezeit so zahlreich gewesen, und aus demselben Grund verlangte die neue Kultur Rußlands so viele Satiren, so daß man später bereit war und noch ist, alle Dichtung für satirisch zu erklären.“ 62 59 Zu dem metaphorischen Gebrauch s. Gow-Page (wie Anm. 8) Bd. 2, 192 ad locum. Der Zusammenhang zwischen satirischer Dichtung und politischer Wirklichkeit, den 60 In diesem Sinne auch z.B. J. G. MacQueen, Death and Immortality. A Study of the Heraclitus Epigram of Callimachus, Ramus 11 (1982) 48-56; Gutzwiller (wie Anm. 9) 206-207; Meyer (wie Anm. 7) 222. 61 S. Braund, Art. ‚Satire’, in: Der Neue Pauly, Bd. 11, 2001, 101-104, hier 103. 62 Tschizeswkij, D., Satire oder Groteske, in: W. Preisendanz - R. Warning (Hrsgg.), Das Komische, München 1976 (Poetik und Hermeneutik 7), 269-278, hier bes. 272-273. <?page no="57"?> Satire im Hellenismus? 45 Tschizeswkij anhand der russischen Literatur erörtert, gilt wohl auch für die griechisch-römische Antike. Das Thema ‚Selbstmord’, das uns in dem Kleombrotos-Epigramm begegnet, konnte im ptolemäischen Ägypten durchaus politische Brisanz erhalten. Wir wissen von einem gewissen Hegesias, der in Alexandria öffentlich zum Selbstmord aufgerufen haben soll und der deshalb den Beinamen 01 (‚Todesprediger’) trug. 63 Nach Cicero belegte Ptolemaios (entweder Ptolemaios Soter oder Ptolemaios Philadelphos) Hegesias mit einem Redeverbot. 64 Das Thema ‚Jenseitsglaube’ hatte darüber hinaus gerade im ptolemäischen Ägypten eine eminent politische Bedeutung durch die Praxis der Vergöttlichung von Mitgliedern des Königshauses. Kallimachos selbst hat ein Gedicht auf die Deifikation der Arsinioë II. (316% ' * + @ * \ ^ Gattin und Schwester von Ptolemaios II. Philadelphos war 270. v.Chr. gestorben und unmittelbar zur Göttin erhoben worden, ihr Kult verbreitete sich schnell im gesamten östlichen Mittelmeerraum. 65 63 Diog. Laert. 2, 86: ˜9 & ; 01 . - Zur Person des Hegesias s. White (wie Anm. 10) 141-142, Williams (wie Anm. 9) 165 Anm. 51 und Huß (wie Anm. 48) 232; s. auch oben Anm. 56. Die Frage, wie sich das Arsinioë-Gedicht zu der in den Epigrammen zum Ausdruck kommenden rationalistischen Ablehnung eines Unsterblichkeitsglaubens verhält, muß hier offen bleiben. 64 Cicero, Tusc. 1, 83-84: a malis igitur mors abducit, non a bonis, verum si quaerimus. et quidem hoc a Cyrenaico Hegesia sic copiose disputatur, ut is a rege Ptolomaeo prohibitus esse dicatur illa in scholis dicere, quod multi is auditis mortem sibi ipsi consciscerent. Callimachi quidem epigramma in Ambraciotam Theombrotum est … 65 Frgm. 228 Pf. <?page no="58"?> Gesine Manuwald Concilia deorum: Ein episches Motiv in der römischen Satire Götterversammlungen, concilia deorum, sind seit dem Beginn der abendländischen Ependichtung ein charakteristisches Motiv in dieser literarischen Gattung: In der homerischen Ilias ist - dem wechselnden Verlauf der Auseinandersetzung zwischen Griechen und Trojanern entsprechend - mehrfach eine Beratung im Kreise der Götter eingefügt, in der unter Leitung von Zeus über den Kriegsverlauf sowie die Konsequenzen für einzelne Personen gesprochen wird; in der Odyssee geht es in zwei Götterversammlungen um das Schicksal des Odysseus (vgl. Hom. Il. 1, 533-604; 4, 1-73; 8, 2-41; 20, 4- 31; 22, 166b-187; 24, 23-120; Od. 1, 22-96; 5, 3-43). Als die Römer begannen, in Anlehnung an die griechischen eigene Epen zu verfassen, übernahmen sie das Motiv der Götterversammlung wie überhaupt die Grundkonzeption eines Götterapparats. Nahezu alle vollständig erhaltenen römischen Epen der klassischen Zeit enthalten (wie die homerischen Epen) Götterversammlungen oder wenigstens beratende Gespräche zwischen zwei oder mehreren Göttern, und Entsprechendes ist für die fragmentarisch erhaltenen Werke zu erschließen. Typologisch ist eine epische Götterversammlung so zu charakterisieren, dass die olympischen Götter beim obersten der Götter zusammenkommen, um über ein die Menschen betreffendes Problem zu beraten, zu dem sie teilweise kontroverse Ansichten vertreten; schließlich wird ein Beschluss durch die Autorität von Zeus bzw. Iuppiter sanktioniert, und es werden entsprechende Verhaltensmaßregeln für das weitere göttliche Vorgehen gegeben. Eine solche Erzählstruktur eröffnet den Dichtern die Möglichkeit, den epischen Handlungsablauf aus anderer Perspektive in den Blick zu nehmen und dabei Kausalzusammenhänge und Sinndeutungen des menschlichen Geschehens auf Erden einzubringen. Diese können sich sowohl auf bereits vergangene Handlungskontexte beziehen, die dadurch eine Erklärung finden, als auch auf zukünftige Entwicklungen, wobei jeweils eine über den literarisch konzipierten göttlichen Willen hinausführende Rechtfertigung für das weitere Geschehen nicht geboten werden muss. Während die Übernahme des Motivs der concilia deorum aus dem griechischen ins römische Epos sich ohne Weiteres gattungsspezifisch erklären lässt, ist das Phänomen überraschend, dass in Rom Götterversammlungen außer im Epos auch in der Satire vorkommen und sich intertextuelle Bezüge <?page no="59"?> Concilia deorum 47 zwischen den Ausgestaltungen in den beiden Gattungen beobachten lassen. 1 Als Grund für dieses Phänomen wird häufig eine ironisch-,satirische’ Verwendung des epischen Motivs konstatiert, und es ist umstritten, welche Rolle gattungsübergreifenden intertextuellen Bezugnahmen zukommt. 2 Im Folgenden sollen daher signifikante Darstellungen von Götterversammlungen im römischen Epos und in der Satire aus diesem Zeitraum diskutiert werden. Den Fragen, warum Götterversammlungen in der Satire vorkommen, welche Funktion sie dort haben und welche Entwicklung das Motiv - auch in Korrespondenz zu derjenigen im Epos - in der Satire erfahren hat, ist jedenfalls noch nicht grundsätzlicher nachgegangen worden. Da aufgrund der Genese die Akzeptanz einer Verortung des epischen Motivs in der Satire in der Frühzeit der römischen Literatur zu suchen ist, bietet es sich an, vor allem concilia deorum-Konzeptionen aus der Zeit der Republik und der frühen Kaiserzeit zu betrachten. 3 1 Vgl. bereits P. Moeller, Deos consiliantes qua ratione Lucilius in libro primo aliique effinxerint, Diss. Jena 1911, Weidae 1912, 7; S. Timpanaro, Quanti concilii degli dei negli «Annali» di Ennio? , GIF 41, 1989, 209-231; wieder abgedruckt in: S. Timpanaro, Nuovi contributi di filologia e storia della lingua latina, Bologna 1994 (Testi e manuali per l’insegnamento universitario del latino 38), 203-225 (danach zitiert), hier: 206. Dabei wird es weniger um die formale und literarische Gestaltung im Detail gehen als vielmehr um die jeweilige Instrumentalisierung und gesellschaftliche Relevanz dieses Motivs sowie die diesbezügliche 2 Vgl. z.B. F. Marx, C. Lucilii carminum reliquiae. Vol. I-II, Leipzig 1904-1905 (ND Amsterdam 1963), II 3; W. Reissinger, Formen der Polemik in der römischen Satire. Lucilius - Horaz - Persius - Juvenal, Diss. Erlangen-Nürnberg 1975, 49; C.J. Classen, Grundlagen und Absicht der Kritik des Lucilius, in: C. Klodt (ed.), Satura lanx. Festschrift für Werner A. Krenkel zum 70. Geburtstag, Hildesheim/ Zürich/ New York 1996 (Spudasmata 62), 11-28, hier: 16; H. Prinzen, Ennius im Urteil der Antike, Stuttgart/ Weimar 1998 (Drama Beiheft 8), 108; F. Muecke, Rome’s first „satirists”: themes and genre in Ennius and Lucilius, in: K. Freudenburg (ed.), The Cambridge Companion to Roman Satire, Cambridge 2005 (Cambridge Companions to Literature), 33-47, hier: 46. - Für einige Bemerkungen zu Verbindungen zwischen Götterversammlungen in der römischen Literatur vgl. R. Degl’Innocenti Pierini, Il concilio degli dèi tra Lucilio e Ovidio, A&R 32, 1987, 137-147 (danach zitiert); wieder abgedruckt in: R. Degl’Innocenti Pierini, Tra Ovidio e Seneca, Bologna 1990, 13-30. 3 Auf Götterversammlungen in der griechischen Literatur (etwa bei Lukian und Menipp) und weitere Ausprägungen in der späteren römischen Literatur kann daher in diesem Rahmen nicht im Einzelnen eingegangen werden (vgl. z.B. Apul. met. 6, 23-24; Mart. Cap. 1, 63-97; Claud. Gild. 17-208; rapt. 3, 1-66). Inwiefern eine Verwendung von Götterversammlungen in anderen Gattungen als dem Epos in der griechischen Literatur vor der Entwicklung in Rom nachweisbar ist und eventuell einflussreich gewesen sein könnte, ist unsicher und umstritten (für einige Überlegungen vgl. z.B. R. Helm, Lucian und Menipp, Leipzig/ Berlin 1906 [ND Hildesheim 1967], 158-165; P. T. Eden, Seneca. Apocolocyntosis, Cambridge/ London/ New York/ New Rochelle/ Melbourne/ Sydney 1984 [Cambridge Greek and Latin Classics], 98). <?page no="60"?> Gesine Manuwald 48 Bedeutung der gattungsübergreifenden Beziehungen. 4 Die erste mit größerer Sicherheit identifizierbare Götterversammlung in der lateinischen Literatur findet sich in den Annales (vgl. ann. 51-56 Sk. _ `'- 64 W.) des Ennius (239-169 v. Chr.), wenn es auch Gespräche zwischen Göttern bereits in den früheren römischen Epen, der Odusia des Livius Andronicus (vgl. Od. 2; 3-4 W. = 2; 3 FPL 3 ) und dem Bellum Poenicum des Naevius (vgl. Pun. 16; 17 W. = 15; 16 FPL 3 ), gegeben zu haben scheint. Spätestens also bei Ennius wird das Motiv der concilia deorum aus dem griechischen Epos in eines über Ereignisse aus der römischen Geschichte aufgenommen. Denn es wird sich vom literarischen Befund her ergeben, dass eine mögliche Erklärung für diese Verwendung des spezifisch epischen Motivs in dessen ‚politischer’ Funktion zu finden ist. ‚Politisch’ ist in diesem Kontext nicht als ‚tagespolitisch’ oder ‚verfahrenstechnisch’ zu verstehen, sondern in einem umfassenderen Sinn als ‚die Gesellschaftsstruktur der Bürgerschaft bzw. deren formale Verfasstheit und die darin zu bestimmende Rolle Einzelner betreffend’. 5 Wie häufig bei den spärlichen Überresten der frühen römischen Literatur sind wegen des fragmentarischen Erhaltungszustands die Einzelheiten von Ennius’ Einsatz des traditionellen Motivs unsicher; aufgrund innerer Wahrscheinlichkeit und anhand von Reflexen in späterer Literatur lässt sich jedoch mit der gebotenen Vorsicht Folgendes feststellen: Vermutlich im ersten Buch der Annales - innerhalb der Romulus-Geschichte - gab es eine Versammlung der zwölf olympischen Götter (vgl. ann. 240-241 Sk. = 60-61 W.) in einem göttlichen Palast im Himmel (vgl. ann. 51; 52 Sk. = 57; 58 W.). Zumindest Iuno und sicherlich Iuppiter äußerten sich (vgl. ann. 53 Sk. = 62 W.). Und es ging um das Schicksal der Mars-Söhne Romulus und Remus: Es wurde angekündigt, dass nur einer der Mars-Söhne vergöttlicht werde (vgl. ann. 54-55 Sk. = 63-64 W.). 6 4 Für wichtige Kategorien des hier relevanten Konzepts der ‚Intertextualität’ vgl. S. Hinds, Allusion and Intertext. Dynamics of appropriation in Roman poetry, Cambridge 1998 (Roman literature and its contexts). - Nach E.A. Schmidt (Lucilius: Römische Gesellschaft in der Satire. Individualismus und Moral, in: E.A. Schmidt, Musen in Rom. Deutung von Welt und Geschichte in großen Texten der römischen Literatur, Tübingen 2001, 23-35, hier: 34-35) ist die Götterversammlung des Lucilius ein „Musterbeispiel für Intertextualität lateinischer Texte". 5 Ennius’ Annales werden nach der Edition von O. Skutsch (The Annals of Q. Ennius. Edited with Introduction and Commentary, Oxford 1985 [ND 1986, 1998]) zitiert (Sk.); zur einfacheren Auffindung der Stellen ist außerdem die Zählung nach der Ausgabe von E.H. Warmington (Remains of Old Latin. Newly edited and translated. Vol. I. Ennius and Caecilius, London/ Cambridge [MA] 1935 [The Loeb Classical Library 294]) angegeben (W.). 6 Zu dieser Szene vgl. z.B. J. Vahlen, Ennianae poesis reliquiae, Leipzig 2 1903 (= 3 1928, ND Amsterdam 1963, 1967), CLIX-CLXI; E. Norden, Ennius und Vergilius. Kriegsbilder aus Roms grosser Zeit, Leipzig / Berlin 1915 (ND Stuttgart bzw. Darmstadt 1966), 41-52; D.C. Feeney, The Reconciliations of Juno, CQ 34, 1984, 179-194 (danach zitiert); wieder abgedruckt in: S. J. Harrison (ed.), Oxford Readings in Vergil’s Aeneid, Ox- <?page no="61"?> Concilia deorum 49 Die Götter verhandeln also (wie in Ilias und Odyssee) über das Schicksal von Figuren des Epos, deren Lebensgeschichte Bestandteil der Handlung ist, und am Ende steht ein Beschluss über deren zukünftiges Schicksal. Der Ausgang des erzählten Geschehens erscheint so als von göttlicher Warte aus vorherbestimmt und sanktioniert und wird damit für die Leser erklärt. Im Unterschied zu Achilles oder Odysseus, um die es den Göttern in Ilias und Odyssee geht, ist Romulus jedoch nicht nur ein hervorragender Held, vielmehr gilt er als Stammvater der Römer und ist sein Schicksal insofern für die politische Gemeinschaft von konstitutiver Relevanz. Durch die Deutungsebene der Götterversammlung wird für das römische Publikum offensichtlich gemacht, dass Romulus zu Recht als Stammvater angesehen wird und er von den Göttern akzeptiert ist. Wenn die Szene nicht nur Iuppiters Entschluss zur Vergöttlichung des Romulus enthielt, sondern auch, wie man vermuten kann, Iunos Zustimmung und damit ihre teilweise Versöhnung mit den Trojanern bzw. Römern, 7 wurde gezeigt, dass die Götter insgesamt Rom und dessen Zukunft von Anfang an positiv begleiten. D.h., innerhalb der epischen Tradition erhält das von den Griechen übernommene Motiv der Götterversammlung bei den Römern durch die Verbindung mit einem national-historischen Stoff eine politische Dimension. Die durch die epische Szenerie mögliche Affirmation auf höchster göttlicher Ebene trägt am Beispiel der Person des Romulus zu einer entsprechenden Sicht auf die eigene Geschichte bei und vermittelt den Rezipienten eine Stärkung des Selbstbewusstseins und des Nationalgefühls. Im Hinblick auf die historisch-politische Überhöhung des epischen Motivs der Götterversammlung bei Ennius ist es um so auffälliger, dass bald nach den Annales eine Götterversammlung in dem stilistisch und inhaltlich anderen Kontext der römischen Satire zu finden ist, zwar nicht bei Ennius selbst (der ein Werk Satura, offenbar aus mehreren Büchern vermischter Gedichte bestehend, verfasst hat), sondern bei dem eigentlichen Begründer der römischen Satire in ihrer später kanonischen Form, bei Lucilius (ca. 180-103/ 102 v. Chr.). Im heute ersten Buch von Lucilius’ Satiren, d.h. dem einleitenden Buch der in Hexametern gehaltenen zweiten Sammlung (ca. 126-107/ 06 v. Chr.), ließ er die olympischen Götter über das Schicksal eines römischen ford/ New York 1990, 338-362; D.C. Feeney, The Gods in Epic. Poets and Critics of the Classical Tradition, Oxford 1991, 120-128; Skutsch (wie Anm. 5), 202-206 (mit weiterer Literatur). - Vermutlich gab es in den gesamten Annales lediglich eine Götterversammlung im ersten Buch (so z.B. Warmington [wie Anm. 5], 23 Anm. a; Timpanaro [wie Anm. 1]; Skutsch [wie Anm. 5], 11, 368) und nicht noch eine zweite im siebten oder achten Buch (so z.B. Vahlen, CLXI; Marx [wie Anm. 2], II 3; Norden, 41-52). 7 Vgl. Feeney 1984 [wie Anm. 6]; 1991 [wie Anm. 6], 120-128 (mit Verweis auf Hor. carm. 3, 3). <?page no="62"?> Gesine Manuwald 50 Bürgers beraten. 8 Der metrische Befund und die identische Platzierung in einem Eröffnungsbuch verleihen der Übernahme des epischen Motivs eine besondere Bedeutung. 9 Das gesamte erste Satirenbuch des Lucilius oder eine einzelne Satire daraus trug (zumindest in der späteren Überlieferung) den Titel concilium deorum (vgl. Lact. inst. 4, 3, 12). 10 Dass Lucilius mit seiner satirischen Umsetzung des epischen Motivs auf die Darstellung der Götterversammlung bei Ennius zielte, kann man prinzipiell als wahrscheinlich ansehen, da er sich an anderen Stellen intensiv und differenziert mit ihm und der Gattung Epos auseinandersetzte. Offenbar kritisierte er einzelne Verse des Ennius, ohne allerdings den Gesamtwert 8 Lucilius’ Saturae werden nach der Ausgabe von W. Krenkel (Lucilius. Satiren. Lateinisch und Deutsch. Vol. I-II, Berlin bzw. Leiden 1970.) zitiert (K.); zu einfacheren Auffindung der Stellen sind zusätzlich die Zählungen von F. Marx (wie Anm. 2) und von E.H. Warmington (Remains of Old Latin. Newly ed. and transl. Vol. III. Lucilius, The Twelve Tables, London/ Cambridge [MA] 1938, rev. and repr. 1979 [The Loeb Classical Library 329]) angegeben (M.; W.); vgl. auch F. Charpin, Lucilius. Satires. Tome I (Livres I-VIII). Texte établi, traduit et annoté, Paris 1978 (CUF). - Zu Lucilius vgl. z.B. C. Cichorius, Untersuchungen zu Lucilius, Berlin 1908 (ND Zürich/ Berlin 1964); N. Terzaghi, Lucilio, Torino 1934 (ND Roma 1970 [Studia Philologica 14] u. Hildesheim / New York 1979); Krenkel; J. Christes, Lucilius, in: J. Adamietz (ed.), Die römische Satire, Darmstadt 1986 (Grundriß der Literaturgeschichten nach Gattungen), 57-122; Classen (wie Anm. 2); U.W. Scholz, Die sermones des Lucilius, in: M. Braun/ A. Haltenhoff/ F.- H. Mutschler (edd.), Moribus antiquis res stat romana. Römische Werte und römische Literatur im 3. und 2. Jh. v. Chr., München/ Leipzig 2000 (BzA 134), 217-234; D.M. Hooley, Roman Satire, Oxford 2007 (Blackwell Introductions to the Classical World), 20-26. 9 Vgl. auch Scholz (wie Anm. 8), 222; Prinzen (wie Anm. 2), 99-100, 103. - Offenbar wegen des Unterschieds zur Darstellung im Epos wurde Lucilius’ Götterversammlung als erste Götterversammlung der Literatur in ganz anthropomorphen Gewand bezeichnet (so J. Michelfeit, Zum Aufbau des ersten Buches des Lucilius, Hermes 93, 1965, 113-128, hier: 118; vgl. auch Terzaghi [wie Anm. 8], 261-262). 10 Zum Titel vgl. z. B. Marx (wie Anm. 2), II 11-12; Charpin (wie Anm. 8), 78 Anm. 3. - Zu Lucilius’ concilium deorum vgl. z.B. Helm (wie Anm. 3), 158-161; Cichorius (wie Anm. 8), 219-232 Moeller (wie Anm. 1), 26-54; Terzaghi (wie Anm. 8), 261-279; Reissinger (wie Anm. 2), 49-54; N. Rudd, Themes in Roman Satire, London 1986 (ND Bristol 1998), 48; Prinzen (wie Anm. 2), 102-108; Schmidt (wie Anm. 4), 31-35. - Zur Bezugnahme dieser Szene auf Ennius vgl. z.B. Helm (wie Anm. 3), 158; Terzaghi (wie Anm. 8), 261; J.H. Waszink, Zur ersten Satire des Lucilius, WS 70, 1957 (Festschrift für Karl Mras), 322-328; wieder abgedruckt in: D. Korzeniewski (ed.), Die römische Satire, Darmstadt 1970 (WdF CCXXXVIII), 267-274 (danach zitiert), hier: 269; M. Mosca, I presunti modelli del concilium deorum di Lucilio, PP 15, 1960, 373-384, hier: 373-378; Reissinger (wie Anm. 2), 49, 53-54; Charpin (wie Anm. 8), 81; Christes (wie Anm. 8), 105; M. Coffey, Roman Satire, Bristol 2 1989 (London/ New York 1 1976), 42-43; Classen (wie Anm. 2), 16; Prinzen (wie Anm. 2), 98-124; C. Connors, Epic allusion in Roman satire, in: K. Freudenburg (ed.), The Cambridge Companion to Roman Satire, Cambridge 2005 (Cambridge Companions to Literature), 123-145, hier: 127; Muecke (wie Anm. 2), 46. - Helm ([wie Anm. 3], 158), Terzaghi ([wie Anm. 8], 269-270) und Mosca (378-384) betonen außerdem die Einwirkung griechischer Vorbilder. <?page no="63"?> Concilia deorum 51 von dessen Dichtung in Frage zu stellen (vgl. Hor. sat. 1, 10, 53-55; Serv. ad Verg. Aen. 11, 602; Lucil. 1190 M. = 1211 K. = 413 W.); bei der Unterscheidung zwischen poesis und poema sah er erstere durch große Werke wie Ennius’ Annales oder die Epen Homers verkörpert (vgl. Lucil. 338-347 M. = 376-385 K. = 401-410 W.); und er gestand Ennius die von diesem beanspruchte Bezeichnung alter Homerus zu (vgl. Lucil. 1189 M. = 1210 K. = p. 130 W.). Für sich selbst jedoch wies er, vermutlich im Prolog (Buch 26) und im Epilog (Buch 30) zu seiner ersten Sammlung, das Ansinnen, ein Epos zu schreiben, ab. 11 Vor dem Hintergrund dieser sachlichen und wertenden Auseinandersetzung mit dem Epos stellt sich die Frage, wie die Einbeziehung des epischen Motivs der Götterversammlung in die Satire zu verstehen ist. Einerseits nobilitiert es die sich in Rom etablierende Gattung, wenn in sie ein Element integriert werden kann, das ursprünglich aus dem griechischen Epos stammt und entsprechendes Ansehen genießt. Andererseits ergibt sich sicherlich die der Gattung Satire entsprechende parodistische Spannung, wenn etwas Vertrautes in einem anderen Kontext erscheint, wodurch für die Rezipienten ein besonderes Vergnügen erzeugt wird. Jedoch stellt sich die Frage, welche Zielrichtung man für diese Parodie erschließen kann, ob der Spott auf die Erhabenheit der epischen Konvention dieses Motivs zielt oder möglicherweise auf die durch das Motiv der Götterversammlung etwa von Ennius vermittelte Botschaft. Um der Entscheidung dieser Frage näherzukommen, müssen die Zeugnisse, die zu Lucilius’ Darstellung des concilium deorum erhalten sind, genauer betrachtet werden. Glücklicherweise ist für Lucilius’ Konzeption der Götterversammlung etwas mehr Material erhalten als für die des Ennius (Lucil. 4-54 M. _ -55 K. _ `-46 W.): Man kann erschließen, dass bei Lucilius die Götter ein concilium abhielten, um über das Schicksal des römischen Richters und Magistrats Lucius Cornelius Lentulus Lupus 12 11 Zu dem recusatio-Kontext vgl. Prinzen (wie Anm. 2), 117-123; bes. J. Christes, Der frühe Lucilius. Rekonstruktion und Interpretation des XXVI. Buches sowie von Teilen des XXX. Buches, Heidelberg 1971 (Bibl. der klass. Altertumswiss., N.F., 2. Reihe, Bd. 39), 72-102, 141-195; J. Christes, Lucilius und das Epos, in: G. Manuwald (ed.), Lucilius und seine Zeit, München 2001 (Zetemata 110), 51-62. zu diskutieren und ein Urteil über ihn zu fällen. Dabei ging es ihnen nicht allein um das Schicksal dieser einzelnen 12 Lucius Cornelius Lentulus Lupus (vgl. F. Münzer, Cornelius [224], RE IV 1 [1900] 1386- 1387): consul 156 v. Chr., censor 147 v. Chr., princeps senatus ab 131 v. Chr., gest. ca. 128- 123 v. Chr. (Todesdatum unsicher und umstritten); zu Lupus und Lucilius’ Kritik vgl. auch Val. Max. 6, 9, 10; Schol. ad Hor. sat. 2, 1, 67. - Die Frage, ob Lucilius aus Unterstützung und Treue gegenüber Scipio gegen Lentulus vorgeht, kann hier offenbleiben (so bes. W.J. Raschke, Arma pro amico - Lucilian Satire at the Crisis of the Roman Republic, Hermes 115, 1987, 299-318; vgl. dagegen E.S. Gruen, Lucilius and the Contemporary Scene, in: E.S. Gruen, Culture and National Identity in Republican Rome, Ithaca [NY] 1992 [Cornell Studies in Classical Philology LII], 272-317). <?page no="64"?> Gesine Manuwald 52 Person, sondern, wenn Servius richtig berichtet (vgl. Serv. ad Verg. Aen. 9, 225), lautete ein Vers: consilium summis hominum de rebus habebant (Lucil. 4 M. = 6 K. = 5 W.). Offenkundig wurde die Situation der Menschen, und zwar die der in Rom lebenden, mit Lupus’ Verhalten in Zusammenhang gebracht. 13 Aus einem weiteren Textzeugnis ergibt sich, dass ein Sprecher / eine Sprecherin auf eine frühere beratende Zusammenkunft der Götter verweist, bei der der / die Sprecher nicht anwesend waren (Lucil. 27-29; 30 M. = 10- 12; 32 K. = 20-22; 23 W.). Ein solches früheres concilium ist in Lucilius’ Satiren nicht nachzuweisen; daher könnte sich die Anspielung entweder auf ein in der Vergangenheit der Erzählung liegendes Ereignis oder auf das in Ennius’ Annales geschilderte Zusammentreffen beziehen, 14 womit der intertextuelle Zusammenhang explizit würde. 15 Die neu hinzugekommene Person müsste dann Romulus sein, da dieser erst in Ennius’ Götterversammlung zum Gott gemacht wurde. 16 Vermutlich verfasste Lucilius seine Götterversammlung kurz nach Lupus’ Tod (ca. 128-123 v. Chr.), der durch diese Darstellung ex eventu eine besondere Sinndeutung erfährt (vgl. Serv. ad Verg. Aen. 10, 104). 17 Das Bild, das sich von Lupus aus dem, was sich von Lucilius’ Polemik erhalten hat, ergibt, ist das eines moralisch verdorbenen und ausgelassen lebenden Menschen, eines Gottesleugners und überstrengen Richters. Die Lupus war in führenden Positionen politisch tätig gewesen; so war er Konsul, Zensor und ab 131 v. Chr. princeps senatus. Lupus’ Tätigkeit als Richter hatte Lucilius bereits in Buch 28 seiner Satiren (in der ersten Sammlung von 132- 129 v. Chr.) kritisch beschrieben (vgl. Lucil. 784-790 M. = 789-795 K. = 805- 811 W.). Und später muss Lupus als Opfer von Lucilius’ Spott und als Beispiel für dessen offene Kritik an Zeitgenossen prototypisch geworden sein: Das bezeugen sowohl Horaz als auch Persius (vgl. Hor. sat. 2, 1, 62-70; Pers. 1, 114-115). 13 Vgl. auch Cichorius (wie Anm. 8), 220. 14 Vgl. z.B. Cichorius (wie Anm. 8), 221-222; Moeller (wie Anm. 1), 38; Terzaghi (wie Anm. 8), 271; Krenkel (wie Anm. 8), 109, 117; Charpin (wie Anm. 8), 204; Timpanaro (wie Anm. 1), 207-208; Connors (wie Anm. 10), 128. 15 Neben der parodistischen Imitation der Struktur hat man konkrete Kritik an einzelnen bei Ennius beliebten Ausdrücken und Aussageformen festzustellen gemeint (so Prinzen [wie Anm. 2], 105-108). Jedoch muss beispielsweise Lucilius’ Kritik an bestimmten für die Götter verwendeten Bezeichnungen nicht auf Ennius Bezug nehmen, der ebendiese Wörter zwar häufiger gebracht, jedoch großenteils in anderen und sachlich erklärbaren Zusammenhängen. 16 Vgl. z.B. Cichorius (wie Anm. 8), 222-224, 227-228; Moeller (wie Anm. 1), 38; Charpin (wie Anm. 8), 80; Timpanaro (wie Anm. 1), 207-208; Schmidt (wie Anm. 4), 31; Connors (wie Anm. 10), 127-128. 17 Für Überlegungen zur absoluten Datierung vgl. z.B. Cichorius (wie Anm. 8), 77-86; Charpin (wie Anm. 8), 87-88; Christes (wie Anm. 8), 70-71. <?page no="65"?> Concilia deorum 53 Götter haben ihm jedenfalls wohl einen entsprechenden Tod bestimmt, der ihn in seiner Unersättlichkeit und strengen Richtertätigkeit trifft. 18 Die vorausgehenden Verhandlungen unter den Göttern, wurden, wenn man darin dem Zeugnis des Servius Glauben schenkt, im Stile einer Senatssitzung mit abschließender Stimmabgabe der beteiligten Götter geführt. 19 Vergil habe nämlich bei der Konzeption seiner Götterversammlung (in der Aeneis) in diesem Punkt, obwohl ihm Lucilius als Vorbild gedient habe, Änderungen vorgenommen, weil ein solches Verfahren für ein Epos unangemessen gewesen wäre (vgl. Serv. ad Verg. Aen. 10, 104). Dass durch einen Götterrat ausgerechnet der Richter und princeps senatus Lupus gewissermaßen mit ‚seinem eigenen’ Gremium auf höherer Ebene konfrontiert werden kann, 20 Während es jedoch bei Ennius den Göttern um die Ehrung eines Wohltäters für das römische Volk ging, beraten sie bei Lucilius über die Eliminierung eines unwürdigen Bürgers. Nach den erhaltenen Fragmenten bleiben allerdings - abgesehen davon, dass wohl Lupus’ abstoßende äußere Erscheinung beschrieben wird (Lucil. 43; 44; 46 M. = 37; 38; 39 K. = 36; 37; 38 W.) - die genauen Einzelheiten der Vorwürfe unklar. Es gibt aber Textzeugnisse, die wahrscheinlich der Götterversammlung zuzuordnen sind und die deutliche Kritik am zeitgenössischen Lebensstil erkennen lassen: Klagen über die gegenwärtige Dekadenz der Römer, die in Luxus schwelgten und könnte einer der Gründe für Lucilius gewesen sein, eine derartige Szene in seine Satire zu integrieren. 18 Ob das Fragment occidunt, Lupe, saperdae te et iura siluri (Lucil. 54 M. = 55 K. = 46 W.), das vielfach als Verurteilung gesehen wird (vgl. z.B. Warmington [wie Anm. 8], 17), zu der Szene der Götterversammlung gerechnet und so verstanden werden kann, ist allerdings unsicher (vgl. Marx [wie Anm. 2], II 27-28; Cichorius [wie Anm. 8], 231). Auf jeden Fall liegt ein Wortspiel in Bezug auf den Namen ‚Lupus’ vor; aber die direkte Anrede an Lupus und der Indikativ machen es schwierig, diesen Vers als das Ergebnis der Beratungen der Götter anzusehen. Aber selbst wenn es aus diesem Fragment nicht zweifelsfrei zu erschließen ist, muss sachlich Lupus’ Tod das Ergebnis der Beratungen gewesen sein. - Wohl wegen dieses Verses sieht Schmidt ([wie Anm. 4], 34) in Lucilius’ Götterversammlung ein Grundmotiv der römischen Satire, das Essen, repräsentiert. In den übrigen aus diesem Kontext erhaltenen Fragmenten scheint es jedoch keine größere Rolle gespielt zu haben. Vergleichbar ist vielleicht, dass in Archippos‘ Ichthyes ein Schlemmer Fischen zum Fraß übergeben werden soll (Hinweis von Ian C. Storey). 19 Zu dieser Verbindung vgl. z.B. Marx (wie Anm. 2), 3; Helm (wie Anm. 3), 158; Terzaghi (wie Anm. 8), 261; Krenkel (wie Anm. 8), 117; Reissinger (wie Anm. 2), 53-54; Charpin (wie Anm. 8), 81; Christes (wie Anm. 8), 105; Coffey (wie Anm. 10), 43; zu den Folgen einer Verbindung einer epischen Götterversammlung mit den Konventionen einer römischen Senatssitzung vgl. Mosca (wie Anm. 10), 377. - Vielfach wird angenommen, dass sich Lucilius’ concilium deorum in zwei Teile gliedere, einen ersten konventionellen und einen zweiten, einer römischen Senatssitzung entsprechenden (vgl. z.B. Mosca [wie Anm. 10], 382; Michelfeit [wie Anm. 9], 116). 20 Vgl. auch Terzaghi (wie Anm. 8), 263; J. Adamietz, Senecas ‚Apocolocyntosis‘, in: J. Adamietz (ed.), Die römische Satire, Darmstadt 1986 (Grundriß der Literaturgeschichten nach Gattungen), 356-382, hier: 365. <?page no="66"?> Gesine Manuwald 54 eine affektierte griechische Ausdrucksweise verwendeten (Lucil. 11; 12; 13; 15-16; 17 M. = 31; 14; 15; 16-17; 18 K. = 11; 12; 13; 15-16; 14 W.). Und ein Gott lässt sich darüber aus, dass die Menschen jeden von ihnen als ‚Vater’ anreden; Apollo beanstandet, dass man ihn ‚schön’ nenne, so dass er sich etwa mit Leda vergleichen könne (Lucil. 19-22; 23-25 M. = 23-26; 27; 28-29 K. = 24-27; 28-29 W.). Offenkundig ließ Lucilius die Götter ein Spektrum von Fehlentwicklungen im gesellschaftlichen und religiösen Verhalten der Römer beklagen, die möglicherweise in Zusammenhang zu sehen sind mit dem Reichtum, den das Erbe, das König Attalus III. im Jahr 133 v. Chr. den Römern überließ, mit sich brachte (vgl. Iust. 36, 4, 9; Plin. nat. 33, 148-149). 21 Die Situation Roms insgesamt habe, jedenfalls nach Ausweis der Fragmente, bereits einen Punkt erreicht, an dem jemand, vielleicht Iuppiter, die Frage stellt, auf welche Weise er Rom und dessen Bevölkerung retten oder wenigstens die Katastrophe aufschieben könne (Lucil. 5-6; 7 M. = 20-21; 22 K. = 6-7; 8 W.). Die Vermutung liegt nahe, dass die satirische Lösung schließlich mit der Eliminierung von Lupus gefunden wird. Damit besteht die Götterversammlung nicht nur aus destruktiver Kritik, sondern deutet auch Möglichkeiten einer Lösung an. 22 Mit dieser Konstellation hat Lucilius das epische Motiv der Götterversammlung in der römischen Verssatire etabliert als ein Instrument, mit dem auf unterhaltsame Weise eine Einzelperson bloßgestellt und zugleich, indem sie als Exponent von Zeiterscheinungen fungiert, eine alle betreffende moralische Botschaft vermittelt werden kann. Die konkrete Götterentscheidung betrifft nur das Schicksal eines Einzelnen, von dem im Text die Rede ist und dessen realer Tod eine nach Meinung des Satirikers passende Sinndeutung erhält, die Quintessenz der Szene jedoch ist kollektiv zu verstehen und geht alle Römer an. Insofern hat sich das Motiv gegenüber dem Erzählkontext verselbstständigt. Wie bei Ennius wird die Autorität der göttlichen Ebene funktional eingesetzt, um auf das Bewusstsein der politischen Gemeinschaft positiv einzuwirken. 23 21 So z.B. Cichorius (wie Anm. 8), 228-229; Warmington (wie Anm. 8), 7 Anm. b; Krenkel (wie Anm. 8), 111. - Eine konkrete Beziehung der Szene zu zeitgenössischen Diskussionen über Landverteilungen (so Connors [wie Anm. 10], 129) ist vielleicht weniger wahrscheinlich. Wie Horaz schon feststellte, griff Lucilius unter- 22 Vgl. auch Cichorius (wie Anm. 8), 224; Reissinger (wie Anm. 2), 50; Prinzen (wie Anm. 2), 103. 23 Man könnte einwenden, dass Lucilius lediglich seine eigenen moralischen Wertmaßstäbe propagiere, auch unter Hinweis auf Horaz’ Bemerkung, dass in Lucilius’ Büchern dessen gesamtes Leben vorliege (vgl. Hor. sat. 2, 1, 30-34), und verschiedene Fragmente, die sich als persönliche Aussagen des Lucilius verstehen lassen (vgl. z.B. Lucil. 592- 593; 595-596; 671-672 M. = 594; 591-593; 656-657 K. = 635; 632-634; 650-651 W.). Die Subjektivität ist bei einem moralisch-politischen Anliegen nicht auszuschließen, entscheidend ist jedoch die gesamtgesellschaftliche Intention. <?page no="67"?> Concilia deorum 55 schiedslos Einzelne und einzelne Gruppen an, während er immer ein Unterstützer von virtus und deren Anhängern war (vgl. Hor. sat. 2, 1, 68b-70). Bei aller inhaltlichen und funktionalen Vergleichbarkeit mit der Götterszene des Ennius wird erst bei Lucilius die über eine Einzelperson hinausgehende Bedeutung der Szene für die römische Gesellschaft wirklich klar, wenn auch der Gattung entsprechend mit kritischer Ausrichtung. Dadurch konnte Lucilius mehr als Ennius zum Modell werden für Götterszenen, die ausdrücklich für die römischen sozialen und historischen Verhältnisse insgesamt relevant sind. Von hier aus wird vielleicht die Bemerkung des Servius verständlich, Vergil habe bei seiner Konzeption der Götterversammlung zu Beginn des zehnten Aeneis-Buchs totus hic locus (was sich auf die gesamte Szene oder auf einen Teil davon beziehen kann) aus dem ersten Buch des Lucilius übernommen (vgl. Serv. ad Verg. Aen. 10, 104). 24 Das kann nicht nur wegen der Gattungsverschiedenheit, sondern auch wegen der parodistischen Umsetzung des epischen Motivs in die Satire kaum wörtlich genommen werden. Dass aber Servius nicht auf Ennius, sondern auf Lucilius verweist, hat vermutlich doch einen Grund in der Sache: Wie bei Lucilius hat die vergilische Szene, wenn auch in ernster Form, über das homerische Modell hinaus eine ausgeprägte, sich auf das römische Volk in seiner Gesamtheit beziehende Bedeutung. Vergils Götterversammlung betrifft zwar einen Gegenstand aus der mythischen Frühgeschichte Roms, aber mit Ausblick auf die Zukunft, womit der Ausgang der gegenwärtigen Auseinandersetzung impliziert ist: Die Götter äußern ihre kontroversen Positionen zu dem weiteren Kampf zwischen Trojanern und Latinern, und Iuppiter gibt schließlich den Kampf frei (Verg. Aen. 10, 1-117). 25 Damit wird einerseits eine Entscheidung für die weitere epische Erzählung getroffen, andererseits bedeutet sie eine darüber hinausgehende göttliche Sanktionierung für die militärische Landnahme der Trojaner bzw. Römer. 24 Zu vergilischen Götterszenen vgl. A. La Penna, concilium, in: Enciclopedia Virgiliana I, Roma 1984, 868-870; zu dieser Szene vgl. z.B. Moeller (wie Anm. 1), 55-59; G. Highet, The Speeches in Vergil’s Aeneid, Princeton (NJ) 1972, 65-72; 259-263. - Zum Text der Servius-Stelle vgl. z.B. C.E. Murgia, Lucilius, Fragment 3 (Marx), TAPhA 101, 1970, 379-386. 25 Servius’ Ausdrucksweise kann man eigentlich nur so verstehen, dass Vergil - im Unterschied zu Lucilius - nicht den Ablauf einer römischen Senatssitzung imitiert, sondern einige Götter als Vertreter verschiedener Parteien reden und den obersten Gott schließlich eine Entscheidung fällen lässt (vgl. auch Mosca [wie Anm. 10], 375-376). Hingegen meinen manche Forscher, dass auch Vergils Götterversammlung zumindest in Teilen dem Ablauf einer römischen Senatssitzung folge (vgl. Moeller [wie Anm. 1], 59; Michelfeit [wie Anm. 9], 114-115). <?page no="68"?> Gesine Manuwald 56 Dass der ‚politische’ Bezug des epischen Motivs der Götterversammlung auf weit zurückliegende historische oder auf zeitgeschichtliche Ereignisse, wie er durch Ennius und mehr noch durch Lucilius konstituiert wurde, als wesentlicher angesehen wurde als die Gattungszugehörigkeit der jeweiligen Ausprägung, kann man vermuten, und diese Entwicklung wird Vergil ebenfalls beeinflusst haben. Denn bereits Cicero erwägt in einem Brief an seinen Bruder Quintus, in sein geplantes Epos De temporibus suis eine Götterversammlung einzufügen (vgl. Cic. ad Q. fr. 3, 1, 24 [fr. 15 FPL 3 ]). Apollon solle darin im Rat der Götter über die Heimkehr von zwei Feldherren berichten, von denen der eine sein Heer verloren, der andere es verkauft habe. Damit beabsichtigte Cicero als mirificum embolium die schmähliche Rückkehr von A. Gabinius und L. Calpurnius Piso (cos. 58 v. Chr.) ca. 55 v. Chr. anzuprangern. 26 Diese Instrumentalisierung der Götterentscheidung ist aber nicht mit einer Geringschätzung des Motivs durch Cicero gleichzusetzen. Denn in einer weiteren Götterversammlung in seinem anderen zeitgeschichtlichen Epos De consulatu suo hat sich Cicero - jedenfalls nach dem, was man erschließen kann - selbst im Kreis der Götter gezeigt und sich als Retter Roms in die Stadt schicken lassen (vgl. [Sall.] inv. in Cic. 2 ,3; 4, 7). In den epischen Kontext wollte er also das traditionelle Motiv im Stile des Lucilius mit satirisch-kritischer Akzentuierung zu Lasten von Zeitgenossen einfügen. 27 Das dürfte nicht satirisch gemeint gewesen sein, vielmehr als nachträglich rechtfertigende Sinngebung, dass der Staatsmann Cicero bei seinem Tun quasi in göttlichem Auftrag tätig gewesen ist. Die implizierte Voraussetzung, dass die gegenwärtige Gefährdung Roms das Eingreifen der Götter und eine solche Rettungstat überhaupt notwendig machte, entspricht allerdings der von Lucilius in der Satire etablierten Verbindung von Gesellschaftsanalyse bzw. Kritik an der zeitgenössischen Situation und dem durch den Einsatz der epischen Götterversammlung aufgewiesenen Lösungsansatz. Dass diese Verbindung im römischen Epos offenbar eine gewisse Selbstverständlichkeit bekam, lässt sich an der Götterversammlung im ersten Buch von Ovids Metamorphosen beobachten (Ov. met. 1, 163-252): Sie fügt sich in die Darstellung der Frühzeit der Menschheit ein; sie folgt auf die Ausführungen über die moralische Entartung der Menschen bis zum ehernen Zeit- 26 Zu der Szene vgl. S.J. Harrison, Cicero’s ,De temporibus suis’: The Evidence Reconsidered, Hermes 118, 1990, 455-463, hier: 456-457; S.M. Goldberg, Epic in Republican Rome, New York/ Oxford 1995, 166. 27 Vgl. Harrison (wie Anm. 26), 458-459; Goldberg (wie Anm. 26), 167-169. - Zu Ciceros Epen vgl. R. Häußler, Das historische Epos der Griechen und Römer bis Vergil. Studien zum historischen Epos der Antike. I. Teil: Von Homer zu Vergil, Heidelberg 1976 (Bibl. der klass. Altertumswiss., N.F., 2. Reihe, Bd. 59), 278-286; Harrison (wie Anm. 26); Goldberg (wie Anm. 26), 166-169. <?page no="69"?> Concilia deorum 57 alter und die Angriffe der Giganten auf die Götter. Aus Zorn über das Verhalten der Menschen und vor allem den Angriff Lycaons auf ihn persönlich ruft Iuppiter die Götter zusammen. Diese seien sofort zu dem Versammlungsort gekommen, den Ovid als gewissermaßen einen ‚Palatin im Himmel’ bezeichnet (Ov. met. 1, 175-176). Allein die Rede Iuppiters wird wiedergegeben, der den Göttern seinen Entschluss, die Menschheit zu vernichten, mitteilt und berichtet, wie Lycaon ihn habe umbringen wollen und welche Strafe dieser erlitten habe. Die Reaktion der anderen Götter ist Empörung über den Übeltäter und Zustimmung zu Iuppiters Vorhaben. Trotz der historischen Distanz zu der dargestellten mythischen Zeit ist die Struktur der Szene durch aktuelle politische Anspielungen (und vielleicht auch durch die Platzierung) dem Modell des Lucilius verpflichtet, zumal Ovid durch Bezüge auf die Gegenwart die politische Dimension dieser Götterversammlung ins Bewusstsein hebt. 28 Da ist nicht nur die Bezeichnung des Versammlungsortes zu nennen, sondern die empörte Reaktion der Götter wird auch ausdrücklich mit der der Römer in der Situation verglichen, als Augustus in Gefahr gewesen sei (vgl. Ov. met. 1, 199-205); die dankbare Liebe der Römer zu Augustus sei nicht geringer als die der Götter zu Iuppiter. 29 28 Vgl. Degl’Innocenti Pierini (wie Anm. 2), 144; Feeney 1991 (wie Anm. 6), 199-200. - Zu der Szene vgl. z. B. H. Herter, Das Concilium Deorum im I. Metamorphosenbuch Ovids, in: G. Wirth, unter Mitwirkung v. K.-H. Schwarte u. J. Heinrichs (edd.), Romanitas - Christianitas. Untersuchungen zur Geschichte und Literatur der römischen Kaiserzeit. Johannes Straub zum 70. Geburtstag am 18. Oktober 1982 gewidmet, Berlin/ New York 1982, 109-124; Degl’Innocenti Pierini (wie Anm. 2), 143-147. - Vielfach wird ein Bezug zu Lucilius’ Lupus-Szene auch in dem Namen ‚Lykaons’ und dessen Verwandlung in einen Wolf (‚Lupus’) gesehen (vgl. z.B. U. Schmitzer, Zeitgeschichte in Ovids Metamorphosen. Mythologische Dichtung unter politischem Anspruch, Stuttgart 1990 [BzA 4], 59). Durch diese Parallelisierungen erhält die Götterversammlung eine affirmative Konnotation für die Bewahrung des römischen Kaisers, obwohl sich Iuppiters Beschluss inhaltlich nicht auf Augustus bzw. das zeitgenössische Rom bezieht. Die gesamte Szene ist überdies den gewandelten Bedingungen der Kaiserzeit angepasst: Es findet keine Götterversammlung im Stil einer Senatsversammlung statt; vielmehr eilen die anderen Götter beflissen herbei, und ihre Möglichkeit, aktiv mitzuwirken, ist reduziert auf eine Zustimmung zu Iuppiters Entscheidung. Ob man darin verhaltene Kritik am politischen System vermuten 29 Ob tatsächlich ein Attentatsversuch auf Augustus gemeint ist oder ob nicht auf Caesars Ermordung angespielt sein könnte (vgl. Schmitzer [wie Anm. 28], 60), ist umstritten; die Mehrheit der Forscher scheint die Aussage jedoch auf Augustus zu beziehen, was im Kontext besser passt (vgl. z.B. Herter [wie Anm. 28], 111 [mit Kritik an der Einfügung zeitgeschichtlicher Elemente]). - Die gesamte Szene ist ein oft herangezogenes Beispiel in der Diskussion über Ovids Verhältnis zu Augustus, wobei die Ansichten von affirmativ bis ironisch reichen (für Überblicke vgl. Herter [wie Anm. 28]; Schmitzer [wie Anm. 28], 52-60). <?page no="70"?> Gesine Manuwald 58 kann, sei dahingestellt, auf jeden Fall fehlt eine satirisch zugespitzte Akzentuierung. 30 Eine politische Aktualisierung des Motivs der Götterversammlung führt Ovid auch da durch, wo er innerhalb der epischen Tradition bleibt: Im vierzehnten Buch der Metamorphosen, nach der Entscheidung des Romulus, Sabinern und Latinern gleiches Recht zu geben, lässt Ovid den Gott Mars Iuppiter an sein Versprechen in einer einstmals stattgefundenen Götterversammlung erinnern, in der Iuppiter die Vergöttlichung eines der Mars-Söhne zugesagt habe. Iuppiter nickt daraufhin bejahend, und es folgen Tod und Vergöttlichung des Romulus (Ov. met. 14, 805-828). Da eine solche frühere Götterversammlung in den Metamorphosen nicht enthalten ist, wird mit Recht angenommen, dass es sich um einen Rückbezug auf diejenige in Ennius’ Annales handelt, was auch durch ein wörtliches Zitat nahegelegt wird (Ov. met. 14, 814). 31 In den Fasten nimmt Ovid ebenfalls Bezug auf das ennianische concilium deorum, allerdings ohne es als solches zu nennen (vgl. Ov. fast. 2, 481-489). Vielmehr geht es lediglich um das, wiederum wörtlich zitierte, frühere Versprechen Iuppiters, Romulus zu vergöttlichen (Ov. fast. 2, 487). Ovid lässt Mars dessen Erfüllung einfordern, nachdem er die Errichtung der Mauern und die von Romulus geführten Kriege betrachtet habe. Die Szene bleibt also eher in mythischer Zeit, dabei ist die in der epischen Götterversammlung inaugurierte Vergöttlichungsszene so selbstverständlich geworden, dass sie auch in anderen Gattungen nur anzitiert zu werden braucht. Durch die zeitliche Bestimmung mit quondam (Ov. met. 14, 812) wird die von Ennius geschilderte Götterversammlung in eine weit vergangene Zeit gerückt; der Vollzug des dort gefassten Beschlusses wird in einen für das politische Leben der Römer konkreten Kontext gebracht und göttlich sanktioniert. Zuletzt sei auf die evident politische Funktion des Motivs der Götterversammlung in der unter dem Titel Apocolocyntosis bekannten satirischen Schrift Senecas eingegangen. 32 30 Vgl. auch Schmitzer (wie Anm. 28), 59-60 zur ‚zeitgeschichtlichen Akzentuierung des Mythos’. Zwar steht diese im Unterschied zu Lucilius’ 31 So z.B. Warmington (wie Anm. 5), 20-21 Anm. a. 32 Zur Apocolocyntosis vgl. z.B. A. Momigliano, Claudius. The emperor and his achievement. Translated by W.D. Hogarth. With a new bibliography (1942-59), Cambridge 1961 (ND Westport 1981), 74-79; Eden (wie Anm. 3); Adamietz (wie Anm. 20); O. Schönberger, Lucius Annaeus Seneca. Apocolocyntosis Divi Claudii. Einführung, Text und Kommentar, Würzburg 1990; A.A. Lund, L. Annaeus Seneca. Apocolocyntosis Divi Claudii. Hg., übers. u. komm., Heidelberg 1994 (Wiss. Komm. zu gr. u. lat. Schriftstellern); Hooley (wie Anm. 8), 144-147; zu den Zitaten in der Apocolocyntosis vgl. E. O’Gorman, Citation and authority in Seneca’s Apocolocyntosis, in: K. Freudenburg (ed.), The Cambridge Companion to Roman Satire, Cambridge 2005 (Cambridge <?page no="71"?> Concilia deorum 59 Verssatiren in der seit Varro in Rom eingeführten Tradition der Menippeischen Satire, aber wie bei Lucilius lässt Seneca die Götter im Stile einer Senatsversammlung debattieren, sogar die Anrede patres conscripti verwenden sie in ihren Reden. 33 Zugleich wird über diese Fiktion konkret Kritik am zeitgenössischen Senat zum Ausdruck gebracht; denn der Beratungsgegenstand des göttlichen ‚Senats’ wurde auch vor dem römischen Senat verhandelt: die Vergöttlichung des verstorbenen Kaisers Claudius (vgl. Sen. apocol. 8-11). Der irdische Senat hatte dem pflichteifrig zugestimmt (vgl. Tac. ann. 12, 69, 2-3), während der göttliche den von Mercurius vertretenen Antrag abweist. Dass Seneca in seiner Eigenschaft als aktiver Politiker selbst vermutlich hinter offiziellen Äußerungen zu Claudius’ Tod steckte (vgl. Tac. ann. 13, 3, 1), gibt der Szenerie eine besondere Brisanz. Das literarisch etablierte Motiv einer Götterversammlung, in der eine Entscheidung über eine Vergöttlichung gefällt wird, gibt dem Autor jedoch den nötigen Freiraum, Kritik an der gegenwärtigen Situation zu artikulieren, die wie die des Lucilius die Person des Attackierten meint und gleichzeitig das gesellschaftliche Umfeld umfasst. Während jedoch zu Lucilius’ Zeit einer Senatsdebatte eine tatsächliche politische Wirkungsmöglichkeit entsprach, ist dieser intertextuelle Bezug bei den veränderten Machtbefugnissen des Senats in der Kaiserzeit nicht ohne Pikanterie. 34 Companions to Literature), 95-108. - Zitiert wird nach der Ausgabe von R. Roncali (L. Annaei Senecae <  ™5 , Leipzig 1990). - Zu der Götterversammlung vgl. auch z.B. Helm (wie Anm. 3), 161-162; Moeller (wie Anm. 1), 59-63; O. Weinreich, Senecas Apocolocyntosis. Die Satire auf Tod / Himmel- und Höllenfahrt des Kaisers Claudius. Einführung, Analyse und Untersuchungen, Übersetzung, Berlin 1923, 84- 106. 33 Vgl. z.B. Helm (wie Anm. 3), 161; Weinreich (wie Anm. 32), 85-86; Eden (wie Anm. 3), 98; Adamietz (wie Anm. 20), 365; E.W. Leach, The Implied Reader and the Political Argument in Seneca’s Apocolocyntosis and De clementia, Arethusa 22, 1989, 197-230 (danach zitiert); wieder abgedruckt in: J.G. Fitch (ed.), Oxford Readings in Classical Studies. Seneca, Oxford 2008, 264-298, hier: 214; Hooley (wie Anm. 8), 146. - Das Gespräch der Götter ist in zwei Teile gegliedert (vgl. Sen. apocol. 8; 9-11), in eine erste ungeordnete Phase und in eine durch Iuppiters Eingreifen eingeleitete zweite Phase, die den Regeln des römischen Senats folgt (vgl. Weinreich [wie Anm. 32], 91-92; Mosca [wie Anm. 10], 382; Michelfeit [wie Anm. 9], 118; J. Blänsdorf, Senecas Apocolocyntosis und die Intertextualitätstheorie, Poetica 18, 1986, 1-26, hier: 16). - Wegen deren schlechten Erhaltungszustands bzw. des jeweils anderen Kontexts der möglichen Vorbilder ist die These problematisch, dass Seneca in der Anpassung an eine römische Senatssitzung weiter gegangen sei als seine Vorgänger (so Eden [wie Anm. 3], 98). 34 Zu den Beziehungen zu Lucilius vgl. z.B. Marx (wie Anm. 2), II 3-4; Cichorius (wie Anm. 8), 220; Weinreich (wie Anm. 32), 94; Waszink (wie Anm. 10), 272; K. Bringmann, Senecas Apocolocyntosis und die politische Satire in Rom, A&A 17, 1971, 56-69, hier: 63-64; Charpin (wie Anm. 8), 81, 87; Adamietz (wie Anm. 20), 386; Blänsdorf (wie Anm. 33), 20; Coffey (wie Anm. 10), 175; Hooley (wie Anm. 8), 146. - Zu einer möglichen Verbindung zwischen Ennius, Lucilius und Seneca anhand der (rekonstruierten) <?page no="72"?> Gesine Manuwald 60 Die Entscheidung der Götter gegen die Vergöttlichung des Claudius fällt, nachdem die traditionellen Götter Ianus und Diespiter sich befürwortend geäußert hatten, aufgrund einer Rede des Augustus. Er nimmt als neuer Gott an der Versammlung teil, wie in Lucilius’ Götterversammlung Romulus, dessen Vergöttlichung gleichsam im Epos des Ennius beschlossen worden war (vgl. Lucil. 27-29 M. = 10-12 K. = 20-22 W.). Seneca lässt Augustus eine Bestrafung des Claudius wegen der an seinen Verwandten begangenen Verbrechen fordern, was dann in die Tat umgesetzt wird (Sen. apocol. 10- 11). So entspricht der Apotheose auf der Erde eine Verurteilung im Himmel, es ist aber eigentlich ein Mensch, der über Claudius urteilt, und zwar aus persönlich plausiblen Gründen. Mit dem Verdammungsurteil über Claudius’ mörderisches Regiment setzt Augustus gleichzeitig moralische Standards, so dass Seneca offenbar, obwohl er auch lächerliche Eigenheiten des Augustus offenlegt, ihn selbst und den Prinzipat nicht grundsätzlich angreifen wollte. Vor dem Hintergrund der Kontrastierung von Claudius und Augustus, den Nero als sein Vorbild angegeben haben soll (vgl. Suet. Nero 10,1), ist nicht auszuschließen, dass Seneca, wie in dem zu Neros Amtsantritt verfassten Fürstenspiegel De clementia, mit der Apocolocyntosis über eine satirische Variante ebenfalls protreptisch auf den jungen Kaiser einzuwirken und ihm ein kontrastierendes Idealbild des wahren Princeps vorzuführen versuchte. 35 Phrase Romulus in caelo ferventia rapa vorare (vgl. Enn. ann. 110-111 Sk. = 114-115 W.; Lucil. 1357 M. = 1375 K.; Sen. apocol. 9, 5; vgl. auch Mart. 13,16) vgl. Marx (wie Anm. 2), II 432; Cichorius (wie Anm. 8), 223; Skutsch (wie Anm. 5), 260-262; Connors (wie Anm. 10), 126-127. - Eden ([wie Anm. 3], 98) weist auf weitere mögliche Vorbilder hin; auch Helm ([wie Anm. 3], 161-162, 164-165) betont den Einfluss Menipps (zur Relevanz der Traditionen der Menippeischen Satire vgl. J.C. Relihan, Ancient Mennipean Satire, Baltimore / London 1993, 77, 83-84). 35 Vgl. auch die Überlegungen von Weinreich (wie Anm. 32), 105-106; Momigliano (wie Anm. 32), 77; Leach (wie Anm. 33); Schönberger (wie Anm. 32), 26-27; Hooley (wie Anm. 8), 147. - Ein persönliches Motiv für die Abfassung vermutet Adamietz ([wie Anm. 20], 358). Andere haben hingegen weitergehende politische Motive postuliert und angenommen, dass Seneca auf diese Weise den Wert der Vergöttlichung erhalten wolle, indem er diesen Status Augustus, nicht aber Claudius zugestehe und damit einen Rahmen für Nero entwerfe (vgl. S. Cole, Elite Scepticism in the Apocolocyntosis: Further Qualifications, in: K.Volk/ G.D. Williams [edd.], Seeing Seneca Whole. Perspectives on Philosophy, Poetry and Politics, Leiden / Boston 2006 [Columbia Studies in the Classical Tradition XXVIII], 175-182), oder die nicht-julische Herkunft des Claudius und den Gegensatz zu den julischen Augustusnachkommen als Hauptthema des Werks angesehen (vgl. K. Kraft, Der politische Hintergrund von Senecas Apocolocyntosis, Historia 15, 1966, 96-122; Schönberger [wie Anm. 32], 26), oder es als Verurteilung des Prinzipats generell einschließlich Augustus verstanden (vgl. S. Wolf, Die Augustusrede in Senecas Apocolocyntosis. Ein Beitrag zum Augustusbild der frühen Kaiserzeit, Meisenheim am Glan 1986 [Beiträge zur Klassischen Philologie 170], 112- 117). <?page no="73"?> Concilia deorum 61 Mit einer solchen Intention, auf witzige Weise durch das Motiv der Götterversammlung eine moralische Botschaft zu sanktionieren, stünde er in der Tradition des Lucilius. 36 Überblickt man die skizzierte Entwicklungslinie, kann man feststellen, dass in der römischen Literatur das epische Motiv des concilium deorum, zumindest seit es Ennius in seinem historischen Epos auf die Vergöttlichung des Romulus bezogen hatte, mit einem über den Erzählkontext hinausreichenden Anspruch verbunden war. Lucilius’ Übernahme des Motivs in die Satire bedeutete nicht einfach eine Parodie des Epischen, sondern eine über Ennius hinausgehende politische Instrumentalisierung in mehrfacher Hinsicht: Indem sich die Beratung der Götter auf ein Problem und eine Person der Zeitgeschichte richtet, kann durch deren Beschluss eine aktuelle Stellungnahme vermittelt werden, wobei die Beratungskonstellation eine Verbindung von deutlicher Kritik und positiver Alternative ermöglicht. Zugleich kann, wie Lucilius demonstriert, das Motiv als solches doppelt funktionalisiert werden, da sowohl das beratende Gremium als auch der Beratungsgegenstand der Kritik unterzogen werden. Das durch Ennius und Lucilius in Rom eingeführte Verwendungsspektrum des Motivs einer Götterberatung über Gegenstände von gesamtgesellschaftlicher Relevanz haben die späteren Autoren in dem betrachteten Zeitraum - unabhängig von der Gattungszugehörigkeit ihrer Werke - genutzt. 37 36 Eine letzte satirische Ausprägung des Beratungsmotivs im ersten Jahrhundert n. Chr. findet sich in Iuvenals vierter Satire. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein concilium deorum, sondern um den Rat des Kaisers, der darüber debattiert, was mit einem dem Kaiser verehrten überdimensional großen Fisch geschehen solle. Die Kritik an der Hörigkeit der Ratsherren und an der Unwichtigkeit der von der politischen Führung behandelten Themen ist offenkundig. Indem auf die göttliche Ebene verzichtet wird, fehlen eine entsprechende Sanktionierung und das Aufzeigen positiver Alternativen zur gegenwärtigen Situation, und die zum Kronrat des Kaisers mutierte Götterversammlung wird direkt parodiert (wobei allerdings konkrete lebende Personen nicht genannt werden). Das epische Motiv eines Beratungsgremiums, das aufgrund seiner Göttlichkeit weit mehr Einsicht haben sollte als die Menschen, um deren Schicksal es geht, wird in Epos und Satire eingesetzt, um im öffentlichen Diskurs der Gegenwart Stellung zu beziehen. Die affirmative Bedeutung eines Beschlusses einer Götterversammlung wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt, die satirische Akzentuierung (zum Teil auch im Epos) bietet jedoch neben dem Erkenntnisauch einen Unterhaltungswert. Das scheint für die Römer, so wird man sagen können, dieses Motiv attraktiv gemacht zu haben. 37 Zu Anspielungen auf das Epos in der Satire vgl. Connors (wie Anm. 10). <?page no="74"?> Beatrice Baldarelli Moralreflexion im Dienste der Politik? Die Frage nach der politischen Wirkung von Varros Menippeischen Satiren Der Frage nach den politischen Komponenten in Varros Menippeischen Satiren kann nur unter besonderer Berücksichtigung der Beziehung des römischen Antiquars zu Pompeius Magnus nachgegangen werden, da der Feldherr die Jahre, in denen das Werk verfasst wurde, maßgeblich prägte. Die Forschung scheint sich mit wenigen Ausnahmen einig darüber zu sein, dass die Menippeen eher als ein unpolitisches Werk zu betrachten seien, da sich die Erwähnungen von zeitgenössischen Persönlichkeiten in Grenzen hielten und die Angriffslust, der satirische Biss und die Furchtlosigkeit eines Lucilius angeblich fehlten. 1 1 Vgl. E. Norden, In Varronis Saturas Menippeas observationes selectae, Jahrbücher für klassische Philologie - Suppl. Bd 18, 1892 (Diss. Leipzig 1891), 265-352, auch in: B. Kytzler (ed.), Kleine Schriften zum klassischen Altertum, Berlin 1966, 1-114; U. Knoche, Die römische Satire, 4. bibl. erw. Aufl., Göttingen 1982, 4; J.-P. Cèbe, La caricature et la parodie dans le monde romain antique des origines à Juvénal, Paris 1966, 192: „Mais il manquait à Varron quelque chose pour être un ‚Satirique complet‘ et un grand Satirique: c’est la passion politique“. Es läge in der Natur der Menippeischen Satire, dass darin keine persönlichen Angriffe Raum finden, vgl. C. Witke, Latin Satire, Leyden 1970, 156. Selbst wenn man anerkennt, dass Varros Satiren eine starke Komponente der Aktualität aufweisen, sieht man in der Regel in diesen aktuellen Bezügen eher eine ethische Intention. Exemplarisch dazu die Bemerkung von U. W. Scholz, Varros Menippeische Satiren, in: A. Haltenhoff/ A. Heil/ F.-H. Mutschler (edd.), O tempora, o mores! : römische Werte und römische Literatur in den letzten Jahrzehnten der Republik, München 2003, 165-185, 184: „Die Gegenwartsprobleme, so wie sie die Menippeen- Fragmente erkennen lassen, sind nicht geschichtlich-politischer Art. Es sind Gesellschaftsprobleme des zur Weltmacht aufgestiegenen Rom, in dem die großen Einzelpersönlichkeiten immer stärker die politische Bühne beherrschten und damit eine Entwicklung beförderten, in der der römische Staatsbürger sein Gemeinschaftsbewußtsein immer stärker einbüßte“. Als problematisch wurde auch der Einfluss des Pompeius auf das Werk gesehen, denn in den Menippeen wünschte sich Varro die Rückkehr zur Rechtschaffenheit des altrepublikanischen Roms. Da Pompeius eigentlich als Vertreter eines neuen, aggressiven und skrupellosen politischen Agierens auftrat, kommt z. B. Anderson (W. S. Anderson, Pompey, his friends, and the literature of the first century b.C., Berkeley and Los Angeles 1963) zu dem Schluss: „Varro’s Menippean Satires had no explicit connection with Pompey’s political purpose” (70). Dagegen hielt Della Corte (F. Della Corte, Varrone, il terzo gran lume romano, Firenze 2 1970, 48) einen Einfluss des Pompeius auf die Menippeen für durchaus möglich, ja er sah sogar in der politischen Intention eine der wichtigsten Funktionen der Satiren: “E non era soltanto un <?page no="75"?> Moralreflexion im Dienste der Politik? 63 Auf Grund der überlieferten Daten aus Varros Leben hat Cichorius mit einer gewissen Sicherheit dessen militärisch-politische Laufbahn rekonstruiert, die anfänglich vor allem unter dem Einfluss des mächtigen Freundes stand. 2 Daher richte ich hier vorerst das Augenmerk auf den von Cichorius für die Abfassung der Menippeen festgelegten Zeitraum: also auf die Jahre 80-67 v. Chr., d.h. vom Studienaufenthalt in Athen bis zur Rückkehr aus den Seeräuberkriegen, in denen Varro als Legat des Pompeius gedient hatte. 3 Das Verhältnis Varros zu Pompeius war eng und geprägt von fides. Gewisse biographische Fakten sprechen dafür, dass sich Varros Karriere an der des Pompeius orientierte. So gelangte er relativ spät zum Volkstribunat, nämlich erst im Jahre 70, als Pompeius das Konsulat bekleidete. Damals war der Reatiner bereits 46 Jahre alt, was normalerweise für den politischen Aufstieg eher ein Hindernis hätte bedeuten müssen. 4 messaggio filosofico, ma anche letterario e soprattutto politico, sia che da Roma raggiungesse i più lontani amici sperduti in qualche provincia, i quali volevano essere informati delle vicende di Roma, sia che dalla periferia tornasse a Roma” (46). In diese Richtung gehen auch die Deutungen von Mosca (B. Mosca, Satira filosofica e politica nelle Menippee di Varrone, in: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa - Lettere, Storia, Filosofia, Serie 6, 1937, 41-77): “…tutta la sua satira … ha sempre un intimo significato politico, perché ad essa presiede la concezione affatto romana di una repubblica dominatrice assoluta della vita materiale e spirituale di un popolo” (62). Mosca glaubt, v.a. die Menippeen der späteren Jahre seien mit politischer Absicht geschrieben worden (71f.). Politische Intentionen erkennt auch Krenkel in seiner jüngsten Ausgabe der Fragmente (Marcus Terentius Varro, Saturae Menippeae, ed. W. Krenkel, St. Katharinen 2002, Bd. 1, XLII-XLV): „Eine ähnliche Rolle wie Lucilius für Scipio konnte Varro für Pompeius übernehmen: Er … bezog … mit seinen Satiren durchaus auch Stellung zu politischen Tagesfragen“ (XLIII). Über Varros politisches Engagement vgl. auch A. Garzetti, Varrone nel suo tempo, in: B. Riposati (ed.), Atti del congresso internazionale di studi varroniani, vol. 1, Rieti 1974, 91-110. Wenn er sich trotzdem mit einer solchen Verzögerung zufrieden gab und nicht gleich versuchte, die 2 K. Cichorius, Historische Studien zu Varro, in: Römische Studien, ed. anast. inv. Leipzig/ Berlin 1922, Roma 1970, 189-241. Dazu auch H. Dahlmann, M. Terentius Varro, RE Suppl. VI, 1172-1277, v.a. 1172-1181; E. Woytek, Varro, in: J. Adamietz, (ed.), Die römische Satire, Darmstadt 1986, 311-355, dort 313-315; Krenkel, I-XIV. 3 Es wird sich allerdings zeigen, dass einige Fragmente Indizien für eine spätere Datierung bieten, die jedoch das Jahr 58 nicht überschreiten dürfte. Trotzdem halte ich Cichorius’ Eckdaten für einen sinnvollen Rahmen, was die wichtigsten Menippeen betrifft. 4 Vgl. Cichorius, 202: „Dabei war die Bekleidung dieses Amtes für ihn zur Erlangung höherer Ämter gar nicht notwendig, im Gegenteil, sie verzögerte besonders durch das anschließende Intervall die Erreichung der Praetur um mindestens zwei Jahre“. Della Corte (1970), 61, bemerkt kommentarlos, dass Varro für römische Gewohnheiten das Amt spät bekleidete. Bei Krenkels Rechnung, das Jahr sei der frühestmögliche Termin für die Wahl zu diesem Amt gewesen, muss zweifellos ein Fehler vorliegen, da er sonst explizit behauptet: „Das Mindestalter … betrug 37 Jahre“ (Krenkel, VIII). Varros Geburtsjahr ist aber 116 gewesen, d.h. er war im Jahr 70 eben 46 Jahre alt. <?page no="76"?> Beatrice Baldarelli 64 Prätur zu erreichen, dürfte er dafür gute Gründe gehabt haben. Cichorius vertrat die Auffassung: „… es musste für ihn [Pompeius] natürlich von großer Wichtigkeit sein, während seines Amtsjahres im Tribunenkollegium ihm unbedingt ergebene zuverlässige Persönlichkeiten zu haben, die ihn bei seiner Politik unterstützen konnten … so drängt sich die Vermutung auf, daß Varro … dem Freunde zuliebe sich bereit fand, während dessen Amtsjahres als Tribun in seinem politischen Interesse zu wirken“. 5 Diese Erkenntnis macht es schwierig, Andersons Überzeugung zu teilen, dass Varro den popularen Kurs der Politik des Pompeius, der seine Macht auf den Konsens des Volkes und des von ihm wieder gestärkten Volkstribunats aufbaute, nicht gebilligt, ja gar kein Interesse für die Programme der Popularen gezeigt habe. 6 Denn Varro zählte zwar zur konservativen plebejischen Nobilität, war aber durch seine italische Herkunft dem Pompeius bereits in jungen Jahren verpflichtet, gehörte er doch zu dessen picenischer Klientel. 7 Darüber hinaus konnte die Freundschaft zwischen Varro und Pompeius auch der Umstand nähren, dass Pompeius ein Mann war, der von Philosophie und Literatur zwar fasziniert war, in seinem rasanten militärischen Aufstieg jedoch nie die Gelegenheit gehabt hatte, literarische und philosophische Interessen zu pflegen; er schätzte grammatici und rhetores und bewunderte griechisches Kulturgut. 8 5 Cichorius, 202f. Er wollte von der griechischen und römischen Welt nicht als ungehobelter Soldat, sondern als kultivierte Persönlichkeit wahrgenommen werden; daher suchte er die Gesellschaft von Antiquaren und Gelehrten und förderte die Studien seiner loyalen Freigelassenen, des Historikers Theophanes von Mytilene und des grammaticus Le- 6 Vgl. Anderson, 71: „Moreover, whereas Pompey in the 70’s and even more patently in the 60’s posed as a friend of the people and secured his overwhelming support from the populace and the tribunes whom he restored to power, Varro exhibited no interest in the popular programs“. 7 Vgl. Garzetti, 92; B. Zucchelli, L’enigma del NOI <O<JKP : Varrone di fronte ai triumviri, in: B.Riposati (ed.), Atti del congresso internazionale di studi varroniani, vol. 2, Rieti 1974, 609-625, dort 610. 8 Vgl. Anderson, 57-61; über die Propaganda, die Pompeius als römischen Alexander präsentierte, s. M. Gelzer, Pompeius. Lebensbild eines Römers, Nachdr. der auf der 2. überarb. Aufl. von 1959 basierenden Paperback-Ausg. von 1973, erg. um den Nachlass von Matthias Gelzer, Wiesbaden 1984, 109 Anm. 62-65; über den hellenistisch anmutenden Triumph des Pompeius nach dem Sieg im mithridatischen Krieg s. P.A. Greenhalgh, Pompey. The Roman Alexander, London 1980, 168-173, und H. Bellen, Das Weltreich Alexanders des Großen als Tropaion im Triumphzug des Cn. Pompeius Magnus (61 v.Chr.), in: W. Will, (ed.), Zu Alexander dem Großen. Festschrift für Gerhard Wirth zum 60. Geburtstag am 9.12.1986, Amsterdam 1988, 865-878. Über die ikonographische Verwendung des Bildes von Alexander in der Propaganda des Pompeius vgl. D. Michel, Alexander als Vorbild für Pompeius, Caesar und Marcus Antonius. Archäologische Untersuchungen, Bruxelles 1967, v.a. 35ff. <?page no="77"?> Moralreflexion im Dienste der Politik? 65 naeus. 9 Bekanntlich legte Pompeius großen Wert auf wissenschaftlich fundierte Familienforschung und beauftragte seinen ehemaligen Lehrer Voltacilius, in einem Geschichtswerk das Andenken seines Vaters Pompeius Strabo vor der Öffentlichkeit zu rehabilitieren. 10 Varro selbst schrieb für ihn einen ' 959 - eine praktische Einführung zum Konsulat - und eine Ephemeris navalis - einen Bericht über die während des Seeräuberkriegs besuchten Örtlichkeiten. 11 Später verfasste er sogar ein Werk de Pompeio in drei Büchern, was Zucchelli dazu bewegt, ihn überspitzt als „storico Pompeiano“ zu betiteln. 12 Vor solchem Hintergrund stellt sich die Frage, ob auch das „unterhaltsamste“ der Werke Varros, die Menippeischen Satiren, einen politischen Charakter aufweisen. Da formales Modell des Werks bekanntlich die Schriften des kynischen Predigers Menippos von Gadara sind 13 , sah die ältere Forschung ihre Aufgabe hauptsächlich darin zu klären, was in Varros Satiren als Menippeisch 14 zu betrachten sei, und dabei richtete man den Blick vornehmlich auf äußere Merkmale - die dialogische Gesprächsform, die Mischform des Prosimetrons -, aber auch auf die programmatische Wahl des 2 9E 15 9 Er ermutigte ihn, die medizinische Fachliteratur in der Bibliothek des Mithridates herauszugeben, vgl. Anderson, 62. Della Corte (1970), 58, mit Verweis auf Cic. Brut 68, 239, ist der Meinung, dass, da Pompeius angeblich ein schlechter Redner war (vgl. Vell. 2, 29, 2; Plut. Pomp. 1), er „veri e propri consulenti letterari“ brauchte, die seine Reden verfassten. Solch eine Rolle dürfte dem Theophanes und dem Varro zugekommen sein. , das Miteinander von ernsten, moralischen Themen und 10 Vgl. Sueton. gramm. 27; Anderson, 55f. 11 Über den ' 959 vgl. Gell. 14, 7, 2-3. Dazu Della Corte (1970), 59f.; Krenkel, VIII. Die Ephemeris navalis ad Pompeium wird in Itin. Alex. 6 als Vorbild betrachtet, s. Della Corte (1970) 52f.; Krenkel, VII. Vgl. auch M. Peglau, Varro: ein Antiquar zwischen Tradition und Aufklärung, in: O tempora, o mores! (s.o. Anm. 1), 137-164, 160. 12 Zucchelli, 624. 13 Vgl. Varro Men. 542 (der Zählung der Fragmente der Menippeen sowie dem Text liegt hier, wenn nicht explizit anders angegeben, Krenkels Ausgabe zugrunde); Probus ad Verg. ecl. 6, 31: Varro … Menippeus … a societate ingenii, quod is quoque omnigeno carmine satiras suas expoliverat; Gell. 2, 18, 7; Cic. ac. 1, 8, der Varro so sprechen lässt: in illis veteribus nostris, quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritate conspersimus. Dazu s. Krenkel XXIIIf. Über Ciceros Urteil über die Menippeen vgl. C. Rösch-Binde, Vom „ 3 ! } “ zum „diligentissimus investigator antiquitatis“. Zur komplexen Beziehung zwischen M. Tullius Cicero und M. Terentius Varro, München 1998 (Diss. Köln 1997), 562-569. 14 Über die kynischen Züge der Satiren s. Knoche, 34-36 (Gegensätze Varro-Menippos 36f.); Della Corte (1970), 39-49; Woytek, 326-328 (Unterschiede zur kynischen Philosophie 328f.); Scholz, 171-173; Krenkel, XXIV: “Varro war kein Kyniker, er spielte ihn gelegentlich, um Sachen so darstellen zu können, daß sie nicht akzeptiert werden konnten und nicht akzeptiert wurden”. 15 Vgl. dazu Krenkel, 1071f. <?page no="78"?> Beatrice Baldarelli 66 von Spaß und Spott im Sinne von Horazens ridentem dicere verum. 16 Varro Men. 13: factus sum vespertilio, neque in muribus plane neque in volucribus sum. Varro selbst charakterisiert in einem Fragment diese hybride Form, indem er sich als Schöpfer mit seinem Werk identifiziert: 17 Inhaltlich lässt sich nur Weniges mit Sicherheit rekonstruieren: Philosophische Themen nicht unbedingt ausschließlich kynischer Herkunft 18 alternieren mit Literaturkritik, Mythologischem, Religiösem und anderem; der satirische Ton scheint das vielen Fragmenten, jedoch längst nicht allen, gemeinsame Merkmal zu sein. Der Autor ist oft präsent als Sprecher und Charakter zugleich, die häufig vorkommende Selbstironie scheint auf Horaz vorauszuweisen: Der Satiriker Varro kann sogar über Varro, den Gelehrten, lachen und ihn als ruminans antiquitates verspotten. 19 Wenn Cichorius’ Datierungshypothese stimmt - denn sie wurde gelegentlich in Frage gestellt, vor allem von italienischer Seite 20 -, hat Varro das Werk in den Jahren seiner Militärzeit geschrieben - während der Reisen nach Dalmatien, Spanien, dem Osten, und als er die wichtigsten zivilen Staatsämter bekleidete -, sozusagen „in der spärlichen Muße“ 21 16 In einem Fragment aus der Satire Nescis quid vesper serus vehat (Varro Men. 340) werden zum Symposion Lektüren empfohlen, potissimum quae simul sint 5" 8 et delectent potius. Dazu Krenkel, 613f. zwischen der einen und der anderen Schlacht, an der er unter dem Kommando des Pompeius teilnahm. Ist diese literarische Tätigkeit somit nur als „geistige 17 Varro Men. 13 (Agatho). Nonius (p. 67, 1) glossiert vespertilio = animal volucre biforme. Die Formulierung kann sowohl auf die formale Mischung von Prosa und Versen als auch auf die inhaltliche von Ernstem und Spott hinweisen. Vgl. Scholz, 173 und Krenkel, 29. 18 Über Varros philosophische Orientierung vgl. Della Corte (1970), 158f.; Krenkel, IIIf.; XXIII-XXVI; Cicero (ac. 1, 4ff.) präsentiert Varro als Vertreter des Antiochos von Askalon gegen den Skeptizismus des Philo von Larissa, dazu s. E. Bolisani, Varrone Menippeo, Padova 1936, XV-XVII (über Varro und Antiochos) und XVIII-XXVIII (über Varro und Menippos). Vgl. auch Della Corte (1970), 173f; Woytek, 344f.; T. Baier, Werk und Wirkung Varros im Spiegel seiner Zeitgenossen. Von Cicero bis Ovid, Stuttgart 1997, 37f. 19 Varro Men. 505 (Sexagessis). 20 Eine spätere Datierung für die letzten Satiren (bis zum Jahr 45) vermuten u.a. L. Bolisani; E. Bignone, Le satire menippee di Varrone, in: Studi di filosofia greca, Bari 1936, 324; F. Della Corte, Varronis Menippearum Fragmenta, Torino 1953, 132; A. Marzullo, Le satire menippee di M. Terenzio Varrone, la commedia arcaica e i sermones, Modena 1957, 3; B. Riposati, in: Atti (s.o. Anm. 7), 59-89, dort 82; Knoche, 35, bleibt vage, aber vermutet, der Kern der Satiren sei in den Jahren der aufkeimenden Gegensätze zwischen Caesar und Pompeius entstanden. Gegen diese späte Datierung Woytek, 323- 325. 21 Cichorius, 226. <?page no="79"?> Moralreflexion im Dienste der Politik? 67 Ausspannung und Erholung“ zu betrachten? 22 In der Tat begegnen darin zwar oft bezeichnenderweise die einfachen Freuden des Lebens fern vom Kriege, das Hohelied auf die Familie und die schöne Gattin, der nostalgische Blick auf die Natur, der maßvolle Genuss von Wein und Speisen, kurz die Vorzüge „della vita onestamente e festosamente vissuta“. 23 Es entbehrt jedoch die Vermutung nicht eines gewissen Reizes, dass eben der Feldherr und Politiker, für den Varro militärische und politische Anleitungen verfasst hatte, gleichfalls der privilegierte Adressat auch dieser vordergründig weniger anspruchsvollen Schriften gewesen sein könnte. Wenn man auch meint, dass Varros Menippeische Satiren in keiner unmittelbaren Verbindung zu Pompeius’ politischer Zielsetzung stünden, sollte doch gerade die Wahl einer Dichtungsform nicht außer Acht gelassen werden, die bereits Lucilius als höchst raffinierte politische Waffe eingesetzt hatte. Längst hat man gesehen, dass Pompeius’ Verwandtschaft mit Lucilius 24 im Geflecht der politischen und literarischen Freundschaften des Feldherrn ein Element darstellt, das man in seiner Bedeutung nicht unterschätzen sollte. Pompeius wuchs mit dem Andenken an seinen illustren Ahnen auf und vieles spricht dafür, dass er die Entstehung von Kommentaren und Forschungen zum Werk des Lucilius gefördert hat. Lenaeus, Curtius Nicias, Valerius Cato, sie alle waren, wie Marx bewiesen hat, Herausgeber bzw. Kommentatoren des Lucilius und zugleich treue Freigelassene bzw. Klienten des Pompeius. 25 Es ist nicht zu leugnen, dass Varro ein im Hinblick auf seine sonstigen literarischen Neigungen außergewöhnliches Interesse an der Satire - und zwar in Theorie und Praxis - an den Tag legte. 26 22 So Cichorius, ibidem. Die Vermutung, dass dieses Interesse nicht zuletzt von seiner freundschaftlichen Beziehung zu Pompeius beeinflusst worden ist, liegt nahe. Vor allem Pompeius’ Bestreben, die eigene Familie durch das Prestige eines ihrer prominentesten Angehörigen kulturell zu adeln und sich zu diesem Zweck mit hochkarätigen literarischen Persönlichkeiten zu umgeben, scheint den hohen Wert, welcher der satirischen Gattung bei den Pompeianern zukommt, zu erklären. 23 L. Alfonsi, Le Menippee di Varrone, ANRW I 3, 1973, 26-59, dort 34. 24 Er war sein Großneffe (vgl. Porph. Hor. sat. 2, 1, 75; Vell. Pat. 2, 29, 2). Dazu W. Krenkel, Lucilius. Satiren, Leiden 1970, 19; K. Cichorius, Untersuchungen zu Lucilius, Repr. der Ausg. Berlin 1908, Berlin 1964, 6; Knoche, 25; Krenkel, XL-XLII. 25 Vgl. F. Marx, C. Lucilii carminum reliquiae, Leipzig 1904, Bd. 1, LI. Dazu Anderson, 62. Anderson, 74f., geht so weit, einen literarischen Kreis wie bei Scipio Aemilianus zu postulieren, der durch die intelligente und lebhafte Frau von Pompeius, Julia, inspiriert wurde. “I would propose … that we view Pompey after his marriage with Julia … as a great hellenistic patron, the first of the century, but no means the last” (79f.). 26 Er schrieb ein de compositione saturarum, in dem er einige Theorien über den Ursprung der römischen Satire formulierte, die vielleicht in Livius’ Bericht 7, 2 eingeflossen sind. Dazu s. F. Leo, Varro und die Satire, Hermes 24, 1889, 67-84 (= E. Fraenkel (ed.), Ausgewählte kleine Schriften, Roma 1960, Bd. 1, 283); Baier, 71-92. <?page no="80"?> Beatrice Baldarelli 68 Dennoch trifft es wahrscheinlich zu, dass es nicht Varros primäres Ziel war, politische Propaganda zu betreiben - obwohl, wie es sich hoffentlich zeigen wird, in den Menippeen politische Anspielungen durchaus nicht fehlen; vielmehr ist eher damit zu rechnen, dass er politisch-erzieherisch auf Pompeius wirken, ihm den rechten staatsmännischen Weg weisen wollte, und zwar in den Bereichen, in denen es am schwierigsten war, auf den erfolgreichen und ehrgeizigen Feldherrn Einfluss zu nehmen. Mit der Entscheidung für ein satirisches Werk konnte Varro auf die für die Gattung charakteristische Ausweichtaktik zurückgreifen, bei der Polemik und Kritik in raffinierter Weise unter dem Deckmantel von Spott und Ironie, die augenzwinkernd auch die eigene Person als Ziel nicht aussparten, gewissermaßen verharmlost und entschärft werden. 27 Die exotische Form erlaubt ihm darüber hinaus Moralreflexion zu betreiben, ohne dabei zeitfern und weltfremd zu erscheinen. Er weiß um die wichtige Rolle, welche die literarische Tradition der Griechen für die Gewährleistung einer effizienten, zeitgemäßen und weltoffenen Kommunikation spielt. Dabei ist das mutige metrische Experimentieren ebenso sehr Zeichen seiner Gelehrsamkeit wie Ausdruck seiner literarischen Modernität. 28 Dies gibt auch Aufschluss über die politische Stellung Varros, der als gemäßigter Konservativer für sich eine vermittelnde Funktion in Anspruch nimmt. 29 Einer der Gründe, warum man den Menippeen keine politischen Intentionen zuerkennen wollte, lag in der Tatsache, dass die kynische Philosophie, die Varros Satiren wenigstens von ihrer Bezeichnung her inspiriert, programmatisch eine Beteiligung am politischen Leben ablehnt und die althergebrachten Institutionen, bürgerlichen Werte und Moralprinzipien in ihrer Allgemeingültigkeit parodierend in Frage stellt. Unvereinbar mit dieser Voraussetzung ist aber Varros Einstellung zum Verfall der republikanischen Werte, seine Vorliebe für die altrömischen Traditionen, seine Achtung vor dem mos maiorum - alles unbestreitbare Komponenten seiner Menippeen. Ein Fragment aus der Satire Testamentum bringt die Tatsache zum Ausdruck, dass die Satiren durchaus als Schriften zu verstehen sind, welche mit Varros Verständnis staatsbürgerlicher Pflichten im Einklang stehen, ja sogar als Ergänzung der im Dienste der Republik übernommenen Ämterführung betrachtet werden können: Varro Men. 542: e mea " "0 &š natis, quos Menippea haeresis nutricata est, tutores do „qui rem Romanam Latiumque augescere vultis”. 30 27 Zu dieser satirischen Technik vgl. G. A. Seeck, Die römische Satire und der Begriff des Satirischen, A&A 37, 1991, 1-21. 28 Vgl. Scholz, 176. 29 Vgl. Scholz, 184f. 30 Varro Men. 542. Varro zitiert hier Ennius Ann. 494-495 Sk. Scholz übersetzt das hapax " "0 & mit „Liebe zum Lästern“ (168), Bolisani weniger treffend mit „passione per <?page no="81"?> Moralreflexion im Dienste der Politik? 69 Wird also anerkannt, dass auch Formen gesellschaftlicher Polemik als Zeichen einer politischen Funktionalisierung der Satiren zu gelten haben, dann liefert Varro dafür mehr als reichliches Material. 31 Denn wenn es nun auch im Einzelnen höchst problematisch ist, Satiren rekonstruieren zu wollen, lassen sich doch mehrere Themenkomplexe ausmachen, wie sie in der gesellschaftlich-politischen Szene jener Jahre, in denen die Macht des Pompeius wächst und sich festigt, von Relevanz sind. So beinhaltet eine Reihe von Büchern, vielleicht die bekanntesten, eine kritische Auseinandersetzung mit der korrumpierten Gegenwart, eine Auseinandersetzung, die auf einem Vergleich mit der verklärten Vergangenheit fußt und durch die in mehreren Variationen rekurrierende Polarisierung tunc-nunc versinnbildlicht wird; 32 dabei bewahrt eine erfrischend unbeschwerte Ironie diese laudatio temporis acti vor allzu großer Penetranz. Gerade diese Ironie entlarvt Varro als gemäßigten, ja pragmatischen Moralisten, der auf der Suche nach einer vertretbaren ethischen goldenen Mitte ist. So entsteht vor allem in den Satiren Sexagessis („Der Mann von sechzig Jahren“), 33 Gerontodidaskalos („Lehrer der Alten“ oder „alter Lehrer“), 34 l’invidia“ (286). S. dazu J.P. Cèbe, Varron, Satires ménippées. Edition, traduction et commentaire, Rom 1972-1999 (13 Bde.), 12, 1998, 2019; 2024-2026; Woytek, 239; Krenkel, 1070. Prometheus liber (wo der Schöpfer der Men- 31 Dagegen Scholz: „Konkrete Hinweise auf eine typisch römische Werteskala fehlen ebenso wie Bezüge zur römischen Politik, und auch die bei Lucilius noch so gepflegten persönlichen Attacken sucht man vergeblich: Varro geht es nur um die Sache, um ein vernünftig eingestelltes bürgerliches Leben in der Gemeinschaft, nie um einzelne Personen. Darin steht Varro den Satiren des Horaz näher als denen des Lucilius“ (183). 32 Vgl. Riposati, 83-86; Woytek, 329-333; B. Cardauns, M. Terentius Varro. Einführung in sein Werk, Heidelberg 2001, 43f. 33 Über eine konkrete Identifizierung des Titelgebers mit dem 60jährigen Varro vgl. L. Robinson, Marcus Terentius Varro, Sexagesis or born sixty years too late, Atti (s. Anm. 7), 477-484, dort 482. Darin erwacht der Sprecher nach einem fünfzigjährigen „Nickerchen“ und muss sich als plötzlich gealterter Mann tiefgreifenden Veränderungen gegenübersehen, die zwischenzeitlich in Rom vor allem der Sittlichkeit zugesetzt haben. Exemplarisch steht dafür Varro Men. 488, wahrscheinlich eine Äußerung des erstaunten Greises: ergo tunc Romae parce pureque pudentis / vixere, in patria, nunc sumus in rutuba („damals lebte in Rom man bescheiden, sauber und schamhaft. / Schau auf das Vaterland jetzt: Chaos - und wir mittendrin“, Üb. Krenkel, 921; zu rutuba s. ibidem 921f.). Zur laudatio temporis acti in der Satire Sexagessis s. auch Cèbe 12, 1998, 1895-1941; Krenkel, 912f. 34 Die Satire beinhaltete wahrscheinlich einen Dialog zwischen einem älteren und einem jüngeren Gesprächspartner, wobei der erste die gute alte Zeit in einer nostalgischkritischen Sehweise der gegenwärtigen Lage Roms gegenüberstellte (so P. Lenkeit, Varros Menippea „Gerontodidaskalos“, Diss. Köln 1966, 92 und 100; Mosca, 71). Nicht zu verkennen ist hier jedoch die oben angesprochene leichte Ironie, mit der Varro das übertriebene Lob der goldenen Vergangenheit würzt. Nach Krenkel, 318, war der Lehrer ein „naseweiser, altkluger Dummkopf”, der einen viel klügeren Gesprächspartner zu belehren versuchte. Vorsichtig gegenüber der Hypothese eines Dialogs Cèbe, 5, 1980, 831-892; skeptisch Woytek, 331f. <?page no="82"?> Beatrice Baldarelli 70 schen, der mit den modernen „Modellen“ höchst unzufrieden ist, als Sprecher auftritt), 35 Eumenides (gegen die Fremdkulte der Kybele und der Isis), 36 Lex Maenia (gegen den Zerfall der Familie), 37 Baiae 38 - um nur einige zu nennen - ein ebenso anschauliches wie witziges Kontrastbild, in dem die Vergangenheit durch Sittenreinheit (Frg. 181), Anspruchslosigkeit (Frg. 63, 186, 188), Religiosität und weibliche Frömmigkeit (Frg. 190) charakterisiert ist - alles Vorzüge, die sich in der Gegenwart ins Gegenteil verkehrt haben. 39 35 Darin scheint Varro die Polarisierung tunc-nunc in die Welt der literarischen Mythenparodie zu verlegen, so dass der Leser das Hyperbolische als solches wahrnehmen soll und sich trotz des beißenden Spotts nicht direkt angegriffen fühlen muss. Prometheus tritt als gewissenhafter Handwerker auf, der in einer verklärten Urzeit ein gut gebautes (Varro Men. 428: humanae quandam gentem stirpis concoquit, / frigus calore atque umore aritudinem miscet) und hervorragend funktionierendes Menschenmodell (429: cum sumere coepisset, voluptas detineret, cum sat haberet, satias manum de mensa tolleret) gewissermaßen zum Patent angemeldet hat. Wie ein geschickter Verkäufer lobt er in derb-naiver Begeisterung sogar die „technische“ Vollkommenheit seiner damaligen Kreation (430: retrimenta cibi qua exirent, per posticum vallem feci). Aber heutzutage bekommt er nur Aufträge für nutzlose „Luxusmodelle“ (432: Chrysosandalos locat sibi amiculam de lacte et cera / Tarentina quam apes Milesiae coegerint ex omnibus / floribus libantes, sine osse et nervis, sine pelle, / sine pilis puram putam proceram candidam teneram formosam). Zum Prometheus Liber s. Cèbe, 11, 1996, 1757-1794; Woytek, 334f.; Krenkel, 792-795. 36 Dazu s. Woytek, 335-337 und Cardauns, 44-46; Cèbe 4, 1977, 525-747 (mit einem kritischen Überblick über die Rekonstruktionsversuche, 748-754); L. Trilli Pari, Alcune precisazioni sulle Eumenides di Varrone, in Atti [s. Anm. 7], 565-570. 37 Die Satire behandelte das heikle Thema in einem weiten gedanklichen Spektrum: Das erstreckt sich von der Notwendigkeit, dass jeder Bürger einen Beitrag zur Steigerung der im Sinken begriffenen Geburtenzahlen leiste, um so die für den Staat ruinöse Kinderlosigkeit einzudämmen (Varro Men. 235: si qui patriam, maiorem parentem, extinguit, in eo / est culpa; quod facit pro sua parte is qui se eunuchat/ aut alioqui liberos perdit), über den Mangel an wechselseitiger Fürsorge zwischen Kindern und Eltern und die frevelhafte Vernachlässigung der Religion (240: signa tunc sacra esse desierunt, posteaquam homines / sunt facti sacri), bis hin zu dem brisanten Problem der Gewalt in den Familien, und zwar hier der Kinder gegen die Eltern. Denn die sonst unbekannte Lex Maenia muss eigentlich, so Krenkel, 425, ein „Elternschutzgesetz“ gewesen sein, erlassen zum Schutz der alten Väter vor den prügelfreudigen, ewig um Geld verlegenen Söhnen (238: contra lex Maenia est in pietate, ne filii patribus / luci claro suggillent oculos). Woytek, 340, will in der Satire auch „gesellschaftspolitische[n] Überlegungen“ erkennen. Übergreifendes Thema der Satire scheint die pietas gewesen zu sein, wobei die Gültigkeit des Begriffes in all seinen Wirkungsbereichen (Vaterland, Eltern, Götter) auf den Prüfstand gestellt wurde. 38 Die für die Satire typische groteske Umkehrung des Normalen findet sich in einem Fragment, das die Auswirkungen eines Aufenthaltes in dem mondänen Badeort Baiae fast mit der Bissigkeit eines Martial schildert: Der Ort ist gefährlich, quod non solum innubae fiunt communis, sed etiam veteres repuerascunt et multi pueri puellascunt (Varro Men. 44). Dazu Woytek, 338. 39 Vgl. Varro Men. 49 (Sexagessis): in quarum locum subierunt inquilinae impietas, perfidia, impudicitia. <?page no="83"?> Moralreflexion im Dienste der Politik? 71 Die kritische Auseinandersetzung des Satirikers Varro mit Roms gegenwärtiger Lage zielt aber nicht nur auf sittliche Verfehlungen und Auswüchse, sondern auch auf die Missstände im politischen Leben der Urbs. Durch maßlose ambitio verursachte Ämterhäufung, Korruption im Wahl- und Rechtssystem, schlechte Verwaltung der Provinzen, Amtsmissbrauch bei den Statthaltern - das eine ist Auswahl der modernen Übel, an denen die Politik in Rom krankt. Die guten Gesetze und Institutionen der alten Zeit wurden samt und sonders abgeschafft, 40 das Forum ist nicht mehr der Ort des freien politischen Meinungsaustausches, sondern ein Saustall geworden - eine Metapher, die Varro gerne benutzt. 41 Selbst ein Hercules, der fähig war, die Ställe des Augias auszumisten, wäre mit den skandalösen Verhältnissen, die jetzt auf dem Forum herrschen, schlichtweg überfordert: 42 Es ist zur Bühne geworden, auf der die Käuflichkeit der Wähler zur Schau gestellt wird. 43 Bekanntlich hatte der Handel mit den Stimmen der tribus und centuriae zwischen 67 und 63 einen so bedenklichen Umfang erreicht, dass der Staat mit der Lex Calpurnia und der Lex Tullia gegen die divisores (die Geldverteiler) einschreiten musste. 44 Die brisantesten Prozesse der pompeianischen Zeit, die Fälle des Verres und des Clodius, hatten das Vertrauen der Bürger in die Justiz erschüttert. 45 Verres diente wahrscheinlich auch in der Satire mit dem rätselhaften Titel Flextabula („Die verdrehte Gesetzestafel“? 46 40 Varro Men. 537 ( N<@L M JI44K› ): haec Numa Pompilius fieri si videret, sciret suorum institutorum nec volam nec vestigium apparere. ) als abschre- 41 Vgl. Varro Men. 435 (Prometheus Liber): in tenebris ac suili vivunt; nisi non forum hara atque homines, qui nunc, plerique sues sunt existimandi; 349 ( KJKP b›O<P ): <…> si quis 5 vœ™ ˆ  / praesepibus se retineat forensibus. 42 Varro Men. 70 (Bimarcus): " # $ % &'*+ 43 Varro Men. 497 (Sexagessis): ubi tum comitia habebant, ibi nunc fit mercatus; 498: quod leges iubent, non faciunt. 3 7 C fervit omnino. 44 Zur Lex [Acilia] Calpurnia de ambitu (67 v. Chr.) vgl. Dio Cass. 36, 38, 5; Cic. Mur. 23, 46; 32, 67; Sull. 26, 74; Sall. Cat. 18; dazu G. Rotondi, Leges publicae populi Romani, reprogr. Nachdr. der Ausg. Milano 1912, Hildesheim 1966, 374. Zur Lex Tullia de ambitu, auf einem Gesetzesvorschlag des Cicero basierend, vgl. Cic. Mur. 2, 3; 23, 47; 32, 67; 41, 89; Sest. 64, 133; Planc. 34, 83; Dio Cass. 37, 29, 1; Rotondi, 379. Über den Bezug dieser Gesetze zu Varros Satire s. Krenkel, 951. 45 Zu den Angeklagten als „eine von Hermes offenbarte Goldgrube“ (Krenkel, 954) für die Richter s. Varro Men. 499: avidus iudex reum ducebat esse 3 Z 8 . 46 So Krenkels Übersetzung des umstrittenen Titels (302). Bolisani, 102, konjizierte Flexibulae („Gli incostanti“) und wollte in der Satire eher eine philosophische Reflexion über die autárkeia als Haupteigenschaft des ehrlichen Provinzverwalters sehen. Cèbe 5, 1980, 810-811, übernimmt in der Folge von Della Corte (F. Della Corte, La poesia di Varrone Reatino ricostituita, Mem. R. Acc. Sc. Torino, 2. Ser., 69, 2. parte, 1937-1939, 65) die Variante Flaxtabulae, welche Flextabulae gleichwertig ist. Der Titel beziehe sich auf „les multiples infractions des gouverneurs aux lois qu’ils êtaient censés appliquer dans les territoires soumis à leur autorité; non seulement ils violaient ces lois, mais ils déformaient, les altéraient et les tournaient à leur avantage pour mieux réussir dans leurs <?page no="84"?> Beatrice Baldarelli 72 ckendes Beispiel. Vorausgesetzt war darin offenbar die allgemeine Praxis, dass der Senat den Prokonsuln, die sich auf den Weg in die eigene Provinz machten, bestimmte Richtlinien mitgab, aus denen sie eine Art „Regierungserklärung“ 47 Varro Men. 176: multi enim, qui limina intrarunt integris oculis, strabones sunt facti; habet quiddam enim n 2 3 provincialis formonsula uxor. zu formulieren hatten. Varro ging es in der Satire wahrscheinlich um die Verletzung eines solchen Antrittsedikts. Ein Fragment daraus scheint auf einen besonders schändlichen Auswuchs im Verhalten der Provinzstatthalter anzuspielen: 48 Bekanntlich durften normalerweise Ehefrauen die eigenen Männer nicht in die Provinz begleiten und Ehebruch war dort weit weniger gefährlich als in Rom, so dass oft skrupellose Statthalter ihre Position ausnutzten, um die lokalen Schönheiten zu umwerben und zu verführen. 49 Ein weiterer Angriffspunkt resultiert wohl aus der Tatsache, dass Statthalter fast immer zugleich als Feldherren an lokalen Kriegen beteiligt waren. Auf die Schäden, die manche dieser Feldherrn mit ihrer avaritia in den Provinzen anrichteten, scheinen sich zwei Fragmente aus dem Bimarcus 50 malversations“. Der griechische Untertitel ( 7 D G , „über die Provinzbeamten“) scheint diese Interpretation zu bestätigen. Die Satire, so Cèbe, 813f., sei als in zwei Abschnitte gegliedert denkbar: in einen „negativen“, abschreckend beispielhaften Teil und einen „positiven“ Teil, in dem ein fiktiver guter Gouverneur das richtige Vorgehen bei der Administration einer Provinz vor Augen führte. In diesem Sinne sei die Satire mit der gleichen Intention wie die „Anleitungen“ für Pompeius (Ephemeris und ' 959 , s. o. Anm. 11) und vielleicht im Jahr 66, als Pompeius gerade Prokonsul in Asien war, geschrieben worden. zu beziehen: 47 Krenkel, 305. 48 Dazu Krenkel, 307f. Della Corte (1937-39), 66, dachte an eine Metapher über die „Ehe“ des Verwalters mit seiner Magistratur. Dagegen plädiert zu Recht Cèbe, 5, 1980, 817, für den eigentlichen Sinn. 49 So auch Verres, der, als er sich mit einem sizilianischen Klienten des Pompeius überworfen hatte, zu dessen Feind Agathinos gezogen war, der eine schöne Schwiegertochter hatte, quod eum … figura et liniamenta hospitae delectabant (Cic. Verr. 2, 2, 89). Für Pompeius konnte das Thema weder verfänglich sein, noch einen Vorwurf bedeuten, da er bekanntlich so vernarrt in seine Ehefrau Julia war, dass er zeitweilig Heere und Provinzen den Legaten überließ, um mit ihr zusammen durch ganz Italien zu reisen (Plut. Pomp. 48, 8; 53); s. dazu Gelzer, 122 und Krenkel, 308. 50 Della Corte (1937-1939), 72-78, dachte, der Bimarcus sei keine Menippee, sondern eine der Satiren im Stil von Ennius, wie sie für Varro in vier Büchern attestiert sind. Dagegen Cèbe, 12, 1974, 203. Über die Schwierigkeit, ein einheitliches Thema fassbar zu machen und die unterschiedlichen Rekonstruktionsversuche s. Cèbe, ibidem, 205-211, v.a. Anm. 3, 211. Cèbe tendiert dazu - so wie neuerdings auch Krenkel, 80 - in dem Titel Bimarcus die Bezeichnung zweier in der Satire auftretender, unterschiedlicher Persönlichkeiten Varros zu sehen. <?page no="85"?> Moralreflexion im Dienste der Politik? 73 Varro Men. 64: sociis es <hostis>, hostibus socius; bellum ita geris, ut bella omnia domum auferas Varro Men. 66: non te pudet, Mani, cum domi tuae vides commilitonum tuorum cohortis servis tuis ministrare caementa? So ein schlechter Feldherr behandelt seine Verbündeten wie Feinde, seine Feinde wie Freunde; seine Soldaten missbraucht er für private Zwecke. Die Habgier treibt ihn zu hemmungslosen Plünderungen. Diese Vorwürfe erinnern an eine Passage aus der Rede Pro lege Manilia (66), in der Cicero die Feldherren, die vor Pompeius gegen Mithridates gekämpft haben, wegen ihrer avaritia auf schärfste kritisiert : pro sociis vos contra hostis exercitus mittere putatis an hostium simulatione contra socios atque amicos? … qua re, etiam si quem habetis, qui conlatis signis exercitus regios superare posse videatur, tamen, nisi erit idem, qui a pecuniis sociorum, qui ab eorum coniugibus ac liberis, qui ab ornamentis fanorum atque oppidorum, qui ab auro gazaque regia manus, oculos, animum cohibere possit, non erit idoneus, qui ad bellum Asiaticum regiumque mittatur. Varro könnte sich hier also auf Missstände beziehen, die in der Zeit des dritten Mithridatischen Krieges ans Licht kamen. Cicero warf z.B. dem mit dem Krieg beauftragten General Lucullus vor, sich mit der Beute aus Asien in Rom eine prunkvolle Villa gebaut zu haben. Dass Varro diese Themen so am Herzen lagen, braucht angesichts seiner hohen moralischen Ansprüche nicht zu verwundern. Zum anderen mag es kaum zufällig sein, dass Pompeius, als er im Jahr 70 v. Chr das Konsulat antrat, eine Rede hielt, in der er versprach, sich während seines Amtsjahres auf drei Brennpunkte des öffentlichen Interesses zu konzentrieren: auf das Volkstribunat, die Gerichte und die Provinzverwaltung. 51 Auch nur anhand der die Satiren nährenden Moralreflexion über den Verfall Roms kann man also eine politische Intention erkennen. Wenden wir uns nun der Frage zu, ob es wirklich als selbstverständlich anzusehen sei, dass Varro persönliche Erwähnungen und Angriffe von Zeitgenossen vermied. Diese Behauptung beruht auf einem einzigen Fragment: Wenigstens mit Blick auf zwei dieser Vorhaben scheint Varro in den Menippeen in seinem Sinne argumentiert zu haben. Varro Men. 90: libet me epigrammatia facere et, quoniam nomina non memini, quod in solum mihi venerit, ponam 52 Damit steht die von vielen Kommentatoren als unumstößliche Tatsache vertretene Auffassung, genau besehen, auf wackeligen Beinen. Denn es ist nicht einmal klar, ob es sich bei dem, der hier spricht, wirklich um Varro 51 Vgl. Sall. Hist. 4, 42, 40f.; 45f.; App. B.C. 1, 121, 560; Plut. Pomp. 22. Dazu Della Corte (1970), 57f.; R. Seager, Pompey. A political biography, Berkely 1979, 23f.; Gelzer 58f. 52 Vgl. Norden, 272f. = 7 v.a. Anm. 18; Cèbe 1, 1972, 121, 209. <?page no="86"?> Beatrice Baldarelli 74 handelt: 53 Freilich tritt er in den Satiren oft als Sprecher auf, aber gerade in diesem Buch mit dem Titel Devicti („Die Besiegten“), scheinen mehrere Personen unterschiedliche Standpunkte zu vertreten (darunter ein Epikureer und ein Faustkämpfer, beides „Berufe“, die mit Varro schwerlich in Verbindung zu bringen sind). 54 Vielleicht redete in unserem Fragment ein Epigrammatiker (ob sich Varro auch in dieser dichterischen Gattung betätigte, wissen wir nicht), der die vorsichtige Diskretion seines illustren Nachfolgers Martial sozusagen vorwegnahm. 55 Varros Reputation in Rom war die eines angesehenen, reichen Gelehrten, der sich zugleich auch als tatkräftiger Feldherr bewährt hatte. Er konnte es sich genauso wie der reiche Ritter Lucilius leisten, auch gegenüber den Mächtigen seiner Zeit frei zu reden. Daher bezweifele ich, dass das Fragment 90 wirklich so zu verstehen ist, als wolle Varro generell vom _ 7 5 ] Abstand nehmen. Erhalten sind immerhin mehrere Fragmente, in denen Namen auftauchen, wenn auch nicht immer die von Lebenden und fast nie die von wirklich Mächtigen. Sehr oft handelt es sich - wie bei Lucilius - um Autoren verschiedener literarischer Gattungen oder es geht um historische Persönlichkeiten; ansonsten begegnen Namen von Sklaven und Freigelassenen, von Künstlern, Grammatikern und von einfachen Bürgern. Eine der wirklich großen Persönlichkeiten ist Crassus, erwähnt in der Satire Anthropopolis - 7 9 0 8 : 56 53 So Cèbe, 3, 1975, 402: „Il est clair que Varron parle ici en son nom personnel“, und Krenkel, 153: „Varro spricht selbst, wie es scheint“. Allerdings muss er einräumen: „Mit dem mächtigen Pompeius, dem Großneffen des Lucilius …, als Schutzherrn konnte er sich so viel herausnehmen wie Lucilius im Schatten des Scipio Aemilianus“ (155). 54 Es ist z.B. nicht wahrscheinlich, dass Varro an die Mädchen eine solche Einladung richtet, wie sie in Frg. 87 aus den Devicti vorliegt (properate / vivere, puerae, qua sinit aetatula <vestra> / ludere esse amare et Veneris tenere bigas). Betrachtet man es als unmöglich, dass der moralische Lehrer der Römer sich so äußern würde, ist man auch dazu berechtigt, zu zweifeln, ob Frg. 90 als wirklich von Varro ausgesprochen zu denken sei. 55 Vgl. Mart. praef. 1: Spero me secutum in libellis meis tale temperamentum ut de illis queri non possit quisquis de se bene senserit, cum salva infirmarum quoque personarum reverentia ludant. Dazu Cèbe 3, 1975, 404. 56 Über die Satire Anthropopolis s. Cèbe, 2, 1974, 143-178. Varro behandelte demnach „non pas la cité idéale … ma bien notre monde comme il est, avec ses vices et ses imperfections“ (145). Dazu auch Bolisani, 24. Mosca, 62, denkt an Rom und an eine Schilderung der moralischen Dekadenz in der Stadt. Wahrscheinlich standen kosmopolitische Gedanken im kynischen Sinne im Vordergrund. Das zentrale Thema, soweit es sich aus den Fragmenten erahnen lässt, war die cupiditas. Der Untertitel ist umstritten. Die allgemein akzeptierte Form 9 0 8 erinnert an De die natali von Censorinus (Cèbe, 147-150), allerdings sind keine Berührungspunkte mit dem späteren Werk erkennbar. Della Corte (1953), 154, sieht in dem Titel einen Hinweis auf die pythagoreische Theorie der Wiedergeburt. Cèbe lässt die Frage offen und weist lediglich auf die Möglichkeit einer Einbeziehung der Astronomie in die Thematik der " 92 hin. Krenkel, 66, übernimmt Cèbes Hinweis und übersetzt „über Astrologie“. <?page no="87"?> Moralreflexion im Dienste der Politik? 75 Varro Men. 36: non fit thensauris, non auro pectus solutum; non demunt animis curas ac religiones Persarum montes, non atria divitis Crassi Der Reichtum der gens Licinia war bekannt, sprichwörtlich wurde er allerdings erst mit M. Licinius Crassus, 57 dem Triumvirn, der sich dank der Sullanischen Proskriptionen unermesslich bereichert hatte. 58 Ein Zeitgenosse Varros war vielleicht der Atilius, der in der Satire Serranus - 7 ! G erwähnt wird, die Varro dem berühmten legendären Pendant zu Cincinnatus, Atilius Serranus, widmet: Man muss allerdings zugeben, dass die Verse, selbst wenn sie eine Kritik des Reichtums beinhalten, auf Crassus bezogen ziemlich harmlos klingen. Varro Men. 453: noster Atilius, hilaris homo, item lectus in curiam, cum macore macescebat [Della Corte; Atticus Attius codd. Axius Müller Atilius Vollbehr Krenkel] 59 Ein P. Atilius war zusammen mit Varro einer der von Pompeius persönlich ausgesuchten Legaten im Seeräuberkrieg. 60 57 Vgl. Cic. Att. 1, 14, 3. Für die Indentifizierung mit dem Triumvir s. L. Riccomagno, Studi sulle satire Menippee di Marco Terenzio Varrone Reatino, Alba 1931, 166; Mosca, 63; Bolisani, 25; Della Corte (1953), 155; Krenkel, 67. Hier könnte sich Varro also einen zweifellos freundlich gemeinten kleinen Scherz erlauben, indem er seinen Kollegen Atilius aufs Korn nimmt, weil dieser, der ansonsten mit einer fröhlichen Natur gesegnet ist (hilaris), nur dahinwelken kann, wenn er dem harten Dasein eines Senators in der korrupten Kurie ausgesetzt wird. Im Wesentlichen geht es in dieser Satire aber um eine laudatio temporis acti, um die übliche Verklärung einer Vergangenheit, die von dem Bauern und Feld- 58 Der andere Crassus, der eventuell in Frage käme, P. Crassus Dives, Pontifex 212 v. Chr., ist daher in diesem Kontext weniger wahrscheinlich. Durch die Stellung im Vers lässt sich divitis schwer als Cognomen deuten, so auch Cèbe, 2, 1974, 159: „le déterminatif prend la valeur d’un qualificatif et exprime l’emphase, l’hyperbole ou, comme ici, le dédain“. Die Persarum montes „qui esse aurei perhibentur“ sind schon bei Plautus sprichwörtlich (Plaut. Stich. 24f.) 59 Das stark verderbte Fragment könnte so übersetzt werden: „Unser Atilius, ein fröhlicher Mensch, ebenso in die Kurie gewählt, wurde spindeldürr“. Die Lesarten der codd. (Atticus, Attius) sind schwer zu erklären, da wir nichts von einer Senatsmitgliedschaft des Atticus wissen und eine politische Tätigkeit gegen seine epikureischen Prinzipien verstoßen hätte (vgl. R. Astbury, Select Menippean Satires of Varro, Liverpool 1964, 22f.); auch ein Senator Attius ist nicht bekannt. Die Konjektur Axius (Müller) ist noch weniger wahrscheinlich (vgl. Cèbe, 11, 1996, 1841). Atilius ist eine Konjektur von Vollbehr (Diar. Litt. Antiq. 1847 p. 524), die auch Riccomagno, 105, übernimmt; dagegen äußert sich Cèbe, 1842. 60 Vgl. T. S. R. Broughton, Magistrates of the Roman Republic, Bd. 2: 99 B.C.-31 B.C., New York 1952, Nachdr. Atlanta 1986, 148f. Auch Krenkel, 845, vermutet, es handele sich hier um P. Atilius, meint aber, dass Varro und Atilius verfeindet waren. <?page no="88"?> Beatrice Baldarelli 76 herrn Serranus geradezu verkörpert wird. 61 Das Lob der altehrwürdigen Familie soll auf Atilius, den Kollegen Varros, abfärben. 62 Handelt es sich hier um das Lob eines Zeitgenossen durch den Bezug auf berühmte Vorfahren oder auf das Ansehen der Familie, scheint dagegen im bereits betrachteten Frg. 66 („Schämst du dich nicht, Manius, wenn du bei dir zu Hause siehst, wie die Kohorten deiner Mitsoldaten deinen Sklaven die Ziegel darreichen? “) ein gegenteiliges Beispiel vorzuliegen. Der dort angesprochene „Manius“ könnte zwar lediglich allgemein und exemplarisch gemeint sein - so wie andernorts Titius oder Gaius 63 -, doch ist zu bedenken, dass Varro in den Satiren mit diesem eher seltenen römischen Praenomen auch eine ganz bestimmte historische Persönlichkeit bezeichnet, nämlich den andernorts in den Menippeen durchaus als positives Beispiel präsentierte Manius Curius Dentatus. 64 Eine auffällige Parallelstelle bei dem Älteren Cato führt uns zu einem anderen Manius, dem Konsul Acilius Glabrio, der 191 über die Aitoler triumphierte und seine 189 v. Chr. gestellte Bewerbung zum Censor nach einem von Cato angestrengten Prozess zurückzog. Indem er seine eigene Tätigkeit als Feldherr in Spanien mit der des Glabrio verglich, warf Cato ihm vor: 65 61 Zu diesem legendären Serranus vgl. Cic. Sest. 72; Cic. pro Rosc. 50; Verg. Aen. 6, 844; Plin. nat. 18, 20; Val. Max 4, 45. Zur Identifizierung mit dem Konsul von 257 und 250 vgl. Bolisani, 246. 62 Dagegen denken an eine durch Kontrast mit der verdorbenen Realität erzielte Stigmatisierung eines zeitgenössischen Mitglieds der Atilii Della Corte (1953), 58 (und zwar eines Feindes Ciceros, des verruchten Sex. Atilius Serranus Gavianus, Quästor 63 und Volkstribun 57), Woytek, 333f. und Krenkel, 845. Zum Lob des Serranus s. Cèbe 11, 1996, 1833-1835. „Varron avait donc mis au coeur de Serranus sa chère antithèse du tunc … et du nunc … à laquelle était sans doute associé un parallèle, non moins courant chez lui, entre la ville et la campagne“ (1835); vgl auch Bolisani, 246. So auch Krenkel, 835: „Die selbstlosen Bauern-Feldherren … der Vergangenheit wurden wohl mit den Macht versessenen Polit-Profis der Gegenwart konfrontiert … Um von der miesen Gegenwart abzulenken, verklärten die Römer die Vergangenheit: Cicero blickte auf zu dem Freundeskreis um Scipio Aemilianus, dieser zu Cato, dieser zu Serranus“. 63 Gegen Della Cortes Versuch, Manius zu identifizieren (1953, 82) äußert sich Cèbe wie gewohnt ironisch: „Il y a de grandes chances pourque Manius soit un nom fictif comme la plupart des noms de Juvénal“ (2, 1974, 248). Die von Cèbe, 248-250, gegebene Deutung, dass es sich hier um eine konkrete Klage über die Missstände der römischen Provinzverwaltung handelte, überzeugt. 64 Manius Curius Dentatus tritt in der Satire Gerontodidaskalos als Vorbild für die antiken Tugenden, vor allem Standhaftigkeit und moralische Integrität. Er eignete sich besonders gut für die laudatio temporis acti. Vgl. schon Enn. Ann. 456 Sk.; Cicero Sen. 15; 43; 55; Plin. nat. 16, 185; Val. Max. 4, 3, 5; Juv. 11, 78. Dazu Bolisani, 111. Der Manius der gleich betitelten Menippee von Varro ist keine reelle Person sondern ein Appellativ mit dem positiven Sinn „der Frühaufsteher“, vgl. Krenkel, 439. 65 Cato 66M (= Fest. p. 268, 22: In M'. Acilium Glabrionem). Dazu B. Janzer, Historische Untersuchungen zu den Redenfragmenten des M. Porcius Cato. Beiträge zur Lebensgeschichte und Politik Catos, Würzburg-Aumühle 1936, 28. Eine ähnliche Situation erleben römische Soldaten bei Livius 4, 49, 13. <?page no="89"?> Moralreflexion im Dienste der Politik? 77 Postquam navitas ex navibus eduxi, non ex militibus atque nautis piscatores penatores feci [scil. wie Glabrio], sed arma dedi. Ein Nachfahre eben dieses Glabrio käme hier für eine aktuelle Anspielung in Frage - und zwar passend zu dem von Varro auch in der Satire Serranus bezeugten Verfahren, eine zeitgenössische Persönlichkeit durch den Bezug auf berühmte Vorfahren zu loben bzw. zu tadeln. Der Glabrio, der Konsul im Jahr 67 war, war wohl kaum der beste Freund des Pompeius. Er war von Sulla gezwungen worden, die eigene, damals schwangere Frau an Pompeius abzutreten. Diese starb dann bei der Geburt. Glabrio löste Lucullus in Bithynien ab und musste unrühmlich vorzeitig dem Pompeius Platz machen, da er völlig untätig geblieben war und zugelassen hatte, dass Mithridates wieder erstarken konnte. 66 Varros Rückgriff auf den einem Mitglied der gens Acilia geltenden Vorwurf Catos von vor mehr als einem Jahrhundert, die Soldaten (commilitones) zweckentfremdend missbraucht zu haben, könnte somit tatsächlich eine sarkastische Anspielung auf Glabrios unerklärliches militärisches Phlegma darstellen. 67 Es ist sogar vielleicht in einigen Fällen möglich, Freunden oder Feinden geltende Anspielungen, Sticheleien, Mahnungen auch da ausfindig zu machen, wo keine namentliche Nennung vorliegt. Gleichwohl könnten solche Anspielungen von einer ähnlich freimütigen Haltung zeugen, wie sie bei Lucilius begegnet. Krenkel möchte in zwei Fragmenten Hinweise auf Satire im Dienste des Pompeius herauslesen: In einem 68 unterhalten sich zwei Römer über barbarische Bestrafungen; wahrscheinlich spricht der eine für das Lager des Pompeius, der andere für Crassus, wobei der Pompeianer deutlich Recht erhält. In dem anderen 69 wurde vielleicht eine versöhnende Geste des Pompeius gegenüber dem verstorbenen Peperna im Sertoriuskrieg gelobt. Die Satire Pseudaeneas, 70 66 Vgl. Cic. Manil. (imp. Cn. Pomp.) 5, 26; Plut. Pomp. 30, 1; App. Mithr. 90; Dio Cass. 36; 42; 43. aus der nur ein Fragment überliefert ist, verbindet Krenkel sogar mit einer möglichen Polemik gegen Caesar, der in der berühmten Leichenrede auf die Tante Julia - also zu einem Zeitpunkt (68 v. 67 Über Manius Acilius Glabrio s. Broughton, 2, 142f.; 154. Zu Aemilia und der Zwangsheirat mit Pompeius vgl. L. Hayne, The politics of M'. Glabrio, cos. 67, CPh 69, 1974, 280-282, dort 281. Sein Mitkonsul Piso war gegen Pompeius und stellte sich gegen die Lex Gabinia. Haynes Versuch zu beweisen, Glabrio sei den Popularen zuzuordnen und eine Feindschaft mit Pompeius auszuschließen, ist nicht überzeugend. 68 Varro Men. 24 ( <MMKJ M NO IP ): nos barbari quod innocentes in gabalum suffigimus homines; vos non barbari qui noxios obicit bestiis? 69 Varro Men. 171 ( ‘ž P ): teges, pruina ne iacentem sub dio/ dealbet algu candicanti frigore. 70 Vgl. Krenkel, 804-806. Cèbe, 11, 1996, 1794-1797, denkt an Parodie von Mythos und Tragödie, wagt jedoch keine Hypothese über den Inhalt aufzustellen. Bolisani, 236, behauptet, hier stehe im Mittelpunkt der Kritik der korrupte zeitgenössische Römer, der sich der Nachkommenschaft des Aeneas brüstet und dabei dessen Erbe nicht würdig ist. <?page no="90"?> Beatrice Baldarelli 78 Chr.), der zur Abfassung der Menippeen passt - die Abstammung seines Geschlechtes von Aeneas und dessen Mutter Venus behauptet hatte. Vielleicht liegt sogar eine kleine Stichelei gegen Cicero in dem bereits betrachteten Frg. 36 (s. o. S. 75) vor. Im Jahr nach seinem Konsulat 62 hatte Cicero von einem Crassus ein Anwesen in einer sehr vornehmen Gegend, auf dem Palatin, gekauft. 71 Wie Cicero an das nötige Geld kommen konnte, war Gegenstand vieler Gerüchte, da die Verurteilung der Catilinarier damit in Zusammenhang zu stehen schien. Cicero hatte versucht in einigen Prozessen, die gegen die Anhänger Catilinas angestrengt wurden, einen auf Milde gerichteten Kurs einzuschlagen, und es erregte Missfallen, dass er noch vor Abschluss des Prozesses ein Darlehen in Höhe von 2 Millionen Sesterzen angenommen hatte. Clodius machte ihm deshalb im Senat den Kauf des Hauses zum Vorwurf, Sallusts Invektive beschuldigte ihn der Erpressung und Bestechlichkeit. 72 Fuhrmann kommentiert: „Man darf annehmen, dass Ciceros, des homo novus, hochherrschaftliches Gebaren auch bei denen nicht ohne Kritik blieb, die ihn im übrigen zu schätzen wussten“(118). Wir erinnern uns an das Frg. 36 über die atria des Crassus. Das stammt aus der Satire Anthropopolis, in der es vielleicht um die Unmöglichkeit ging, das Glück durch Besitz und Reichtum zu finden - daher die Mahnung gegen die cupiditas. Dieser Hintergrund legt den Gedanken nahe, dass Varro mit seiner Kritik auch auf Cicero zielte, der die atria des Crassus tatsächlich gekauft und sich deswegen nach eigener Angabe bis zum Hals verschuldet hatte, 73 71 Vgl. Cic. Fam. 5, 6: Ego tua gratulatione commotus, quod ad me pridem scripseras velle te bene evenire, quod de Crasso domum emissem, emi eam ipsam domum HS. XXXV aliquanto post tuam gratulationem; itaque nunc me scito tantum habere aeris alieni, ut cupiam coniurare, si quisquam recipiat, sed partim odio inducti me excludunt et aperte vindicem coniurationis oderunt, partim mihi non credunt et a me insidias metuunt nec putant ei nummos deesse posse, qui ex obsidione feneratores exemerit. Omnino semissibus magna copia est; ego autem meis rebus gestis hoc sum assecutus, ut bonum nomen existimer. Cicero, der ja durch die Aufhebung der Schuldverhältnisse nach Hinrichtung der Catilinarier die faeneratores eigentlich vor dem finanziellen Ruin 72 Vgl. Cic. Att. 1, 12, 2; 1, 3, 6; 1, 14, 7; Sall. in Tull. 3; M. Fuhrmann, Cicero und die römische Republik. Eine Biographie, München 1991, 117f. 73 Vgl. die ironische Aussage Cic. fam. 5, 6, 1: itaque nunc me scito tantum habere aeris alieni, ut cupiam coniurare, si quisquam recipiat. Spottend über den Hauskauf äußert sich Ps.- Sallust, ja die von Cicero erworbene Villa des Crassus wird in der Invektive (in Tull. 2, 2) domus funesta genannt, und es wird Cicero vorgeworfen, in dem Sinne, den wir dem Varrofragment abzugewinnen versuchen, splendor domesticus tibi animos tollit (2, 14, 2); dazu vgl. Gaius Sallustius Crispus, Invektive und Episteln, K. Vretska (ed., üb. und komm.), Bd. 2, Heidelberg 1961, 27f. Einen Paragraphen später finden wir eine textkritisch umstrittene Stelle (3, 1), in der Cicero als homo novus Arpinas ex M. Crassi familia tituliert wird; einige Herausgeber stellten die Lesung der codd. in Frage und konjizierten ex C. Marii familia. Wenn auch Vretska, 39f., die Konjektur aufnimmt, schließt er nicht aus, dass der Hinweis auf Crassus als ein ironischer Seitenhieb auf den Hauskauf gedeutet werden könnte, wodurch sich Cicero zum „Gesinde“ der Familie hätte degradieren lassen. <?page no="91"?> Moralreflexion im Dienste der Politik? 79 gerettet hatte! Auch die Bruchstücke, die diesem Crassus-Fragment folgen, scheinen in den gleichen Kontext zu gehören, 74 wenn ein vom habgierigen faenerator betrogener Schuldner sich auf zu hohe Zinsen einlässt und mehr Geld als gerechtfertigt zurückzahlt. Cicero sieht sich geradezu genötigt, einem ähnlichen Vorwurf entgegenzutreten und in einem Anfang 61 geschriebenen Brief ausdrücklich zu betonen, er habe mit dem Kauf des Hauses ein gutes Geschäft gemacht. 75 Trifft die hier geäußerte Hypothese zu, dass Cicero sich von Angriffen der Satire getroffen fühlen konnte, dann hätte man damit nicht nur eine Möglichkeit zur Datierung der Anthropopolis (um 62), sondern man könnte auch einen weiteren Grund für Ciceros distanzierte Haltung gegenüber Varro erklären. Ihn erwähnt er zum ersten Mal in einem Brief aus dem Jahr 59, und zwar als jemanden, der ihm bei Pompeius behilflich sein könne. Allerdings - und das wurde schon immer so gesehen - hält sich zu diesem Zeitpunkt die Begeisterung Ciceros für den großen Gelehrten eher in Grenzen. 76 sed ego mallem ad illum [scil. Varronem] scripsisses mihi illum satis facere, non quo faceret, sed ut faceret; mirabiliter enim moratus est sicut nosti, n 7 - T —. sed nos tenemus praeceptum illud G W 5 . In ziemlich trockenem Ton berichtet er Atticus von Varros Bemühungen bei Pompeius, ihn aus dem Exil zurückzuholen, und Att. 2, 25, 1 geht er sogar soweit, den Freund zu bitten: Varro sei also, so der Sinn der unvollständigen euripideischen Zitate aus der Andromache (V. 448: „gewunden, kein wahres Wort auf den Lippen“) und 74 Varro Men. 37: vulgoque avarus fenerator spe lucri / rem scriptione duplicarat <ilico> („der schäb’ge Wucherer, mit Hoffnung auf Profit, / hat gleich die Summe dir verdoppelt im Vertrag”, Üb. Krenkel, 67), dazu vgl. Cèbe, 2, 1974, 162-166; Varro Men. 41: nam in omnibus <nominibus> legi ‘kath’ hyperbaton’ ne dares, ne polliceres quod datum est („denn in allen Schuldverschreibungen habe ich gelesen: du hättest nicht ‘über Gebühr’ geben sollen, nicht einmal versprechen sollen, was gegeben wurde”, Üb. Krenkel 73); vgl. Cèbe, 2, 1974, 171-174. Er verbindet das stark verderbte Fragment mit dem Frg. 39, Dialog eines avarus pater mit dem geldgierigen Sohn; anders Krenkel, 74: „Ein Schuldner scheint mehr zurückgezahlt zu haben, als er tatsächlich schuldete … daraus machte ihm ein anderer (Vater, Freund, Herr, Erbe? …) einen Vorwurf”. 75 Cic. Att. 1, 13, 12: Messalla consul Autronianam domum emit HS. „Quid id ad me? ” inquies. Tantum, quod ea emptione et nos bene emisse iudicati sumus, et homines intellegere coeperunt licere amicorum facultatibus in emendo ad dignitatem aliquam pervenire. 76 Über das Verhältnis von Cicero und Varro vgl. Rösch-Binde; Della Corte (1970), 89-103, v.a. 91 Anm. 10. Über die Tatsache, dass Cicero und Varro gegen die communis opinio (Knoche, 34, nennt Varro „Freund von Cicero“; so auch Fuhrmann, 216f., der sich ausschließlich auf den Briefaustausch von 46 bezieht, s.u. Anm. 80) weit entfernt davon waren, gute Freunde zu sein, vgl. Della Corte (1970), 95 Anm. 19; Baier, 15-27; C. Kumaniecki, Cicerone e Varrone. Storia di una conoscenza, Athenaeum 49, 1962, 221-243, 241f. Vor allem in der Zeit der Verbannung zweifelte Cicero an der Loyalität Varros: „La posizione di Varrone nella questione dell’esilio di Cicerone è piuttosto dubbia” (Della Corte, 1970, 92-93). <?page no="92"?> Beatrice Baldarelli 80 den Phoenissen (V. 393: „die Unvernunft der Mächtigen muss man ertragen“), eine „gewundene“ Person, die den Mächtigen zu sehr ergeben sei. Ja, mirabiliter moratus est. 77 Was heißt das eigentlich? Man meinte, Cicero habe hier die Unterschiedlichkeit der beiden Charaktere im Auge: Er, der durch und durch politische Mensch, könne den gänzlich unpolitischen Varro nicht verstehen und sich über dessen Betragen nur wundern. 78 Doch im Blick auf Ciceros Empfindlichkeit hielte ich es für plausibler, wenn der Redner, nicht zuletzt gekränkt von Varros satirischen Sticheleien, diesem gegenüber einen gewissen Argwohn entwickelt hätte. 79 Später, nach dem Sieg Caesars und vor allem dem Tod des Diktators, wird Cicero in der Gemeinsamkeit des politischen Schicksals, das beide Gelehrten zum literarischen otium zwingt, auch wieder eine Gemeinsamkeit des Geistes sehen wollen, und den literarischen Austausch mit Varro suchen. 80 Auf ähnlich indirekte Art scheint Varro sogar gegen Pompeius gestichelt zu haben. Wenn er gegen die Verwerflichkeit des Stimmenhandels auf dem Forum vom Leder zieht (s.o. Frg. 497, Anm. 43), kann er nicht vergessen 77 Della Corte (1970), 91, übersetzt „egli è stato un prodigio di lentezza, del resto lo conosci bene: stiracchiamenti e niente altro”. Sonst sind Kommentatoren und Übersetzer einig darüber, dass moratus est die Bedeutung von „sich benehmen” hat. Vgl. z.B. H. Kasten, Marcus Tullius Cicero, Atticus-Briefe, München 2 1976, 151: „Er ist, wie Du weißt, ein ganz komischer Kauz, ‘geschmeidig und nichts…”; Cicero's letters to Atticus, D. R. Shackleton Bailey, (ed. ), vol. 1: 68 - 59 B.C., 1 - 45 (Books I and II), Cambridge 1965, 273: „He is a strange person, as you know”. Nach R.Y. Tyrell, - L.C. Purser, The Correspondence of Marcus Tullius Cicero, Bd. 1, Hildesheim 1969 [Repr. Nachdr. 3 1904], 335 Anm. 1, betrachtete Cicero den vorsichtigen Varro als „shifty und cunning”. Für moratus s. ThLL VIII, 1476, 76: i.a. moribus praeditus. 78 Vgl. z.B. schon Dahlmann, 1176. Auch Rösch-Binde, 82, meint: „Ciceros Mißtrauen scheint in erster Linie die politische Gesinnung Varros erregt zu haben, der wie Cicero ein Anhänger der Republik war und damit auch ein Gegner des Triumvirats gewesen sein mußte.“ Astbury, 406, glaubt, dass v.a. die schnelle Bereitschaft, mit den Mächtigen zusammenzuarbeiten, Cicero an Varros Verhalten gestört haben muss. Denn Varro schrieb zuerst den polemischen Trikáranos, womit er allem Anschein nach den Dreimännerbund von Pompeius, Caesar und Crassus kritisierte (s.u.), um dann gleich danach in der von Caesar eingerichteten Landverteilungskommission mitzuarbeiten (vgl. Varro rust. 1, 2, 9-10; Plin. nat. 7, 176). 79 Cicero (ac. 1, 8, s.o. Anm. 13) betrachtet sonst die Menippeen vor allem als Produkt der hilaritas und iucunditas (Humor) und betont ihren populären Charakter (quae quo facilius minus docti intellegerent). Dazu s. Rösch-Binde, 563. 80 Über den Briefaustausch in der ersten Hälfte des Jahres 46 spricht Della Corte (1970), 152-154, von „alleanza“ zwischen den zwei Gelehrten, die beide die Gunst Caesars suchten. Nach der Veröffentlichung der Antiquitates fing Cicero an, Varro seine Werke zur „Korrektur“ zu schicken (vgl. Della Corte 1970, 101). Allerdings scheint auch diese Erwärmung in der Beziehung nicht grenzenlos gewesen zu sein: de lingua latina ist nur zum Teil Cicero gewidmet, vgl. Cichorius 203ff. Della Corte sucht den Grund dafür in Ciceros Behandlung der Person Varros in den ihm gewidmeten Academica: „Così parzialmente ricambiava la magra cortesia di Cicerone, che per onorarlo, lo aveva fatto protagonista di un dialogo, in cui egli in fondo aveva torto“ (1970, 176). <?page no="93"?> Moralreflexion im Dienste der Politik? 81 haben, dass sein Freund Pompeius sich diesbezüglich nicht anders als die meisten zeitgenössischen Politiker verhalten hat: Man denke nur an seine Unterstützung des L. Afranius bei der Konsulwahl des Jahres 61. 81 Der Satiriker scheute sich wohl auch nicht, Pompeius aufs Korn zu nehmen, wenn er sich spöttisch über den Umgang mit Damen wie der Harfnerin Pisia und der Hetäre Flora äußert: 82 Varro Men. 136 (Eumenides): contra cum psalte Pisia et cum Flora lurcare ac strepis Nun war diese Flora laut Plutarch (Pomp. 2) Mitte der achtziger Jahre eben die Geliebte des jungen Pompeius. Zudem bezieht sich - wie Cichorius glaubhaft gezeigt hat 83 - ein Fragment aus der Satire Kosmotryne nicht auf die Schlacht von Thapsos im Bürgerkrieg von Caesar und Pompeius, sondern auf die blutige Schlacht bei Utica 81 v.Chr., in der der junge Pompeius das sullanische Heer zum Sieg gegen die Marianer des Cn. Domitius geführt hatte. Die vorwurfsvollen Worte klingen wahrhaftig nicht nach Verherrlichung des siegreichen Feldherrn: 84 Varro Men. 225: Africa terribilis: contra concurrere civis civi atque Aeneae misceri sanguine sanguen 85 Eine schlüssige Antwort darauf zu geben, wie viel Freiheit sich Varro gegenüber Pompeius herausnehmen konnte, hängt allerdings nicht zuletzt von einer weiteren, in der Forschung viel diskutierten Frage ab: War der berühmte Trikáranos, eine Schrift, die Appian dem Varro zuschreibt 86 und die angeblich das Triumvirat von Pompeius, Crassus und Caesar attackierte, eine Menippeische Satire 87 oder ein politisches Pamphlet? 88 81 Darüber sagt Cicero (Att. 1, 16, 12): Nunc est exspectatio comitiorum; in quae omnibus invitis trudit noster Magnus Auli filium atque in eo neque auctoritate neque gratia pugnat, sed quibus Philippus omnia castella expugnari posse dicebat, in quae modo asellus onustus auro posset ascendere. Den ganz unter- 82 Vgl. Plut. Pomp. 2. Darauf gestützt datierte Cichorius 214f. die Satire Eumenides als eine der ältesten Menippeen (zwischen 78 und 80, dem Jahr der Heirat von Pompeius und Aemilia). Für nicht wahrscheinlich halten es Cèbe 4, 1977, 556; 593; Astbury, 24 und Krenkel, 223f., 239. 83 Vgl. 208f. Zustimmend Cèbe 6, 1983, 1047-1051. Dagegen Della Corte (1970), 161 Anm. 51; Bolisani, 157, und Mosca, 41, die an Thapsos (46) denken. 84 „Il montre aussi et surtout qu’il a pleinement conscience de la nocivité des conflits internes qui chassant des esprits la religio, la pietas et la fides mènent un pays à sa ruine“ (Cèbe 6, 1983, 1059). Kritik an Pompeius sieht in dem Fragment auch Krenkel, 401. 85 Cèbe 6, 1983, 1059, bemerkt, dass es sich dabei um die Kombination von zwei ennianischen Versen handelt (302 Sk./ Hec. 180 Joc.). 86 Vgl. Appian BC 2, 9: 7 Ÿ 3 T9 D 7 ƒ C e ! } 2 C p : - G } ` 2 "  299 "  * K-C 5 * n 7 ] / D T9 $ N C . Zum Trikáranos vgl. Krenkel, 1107-1111. 87 So Della Corte (1970), 82-84; Bolisani, 294-296; M. Ruch, Le préambule dans les oeuvres philosophiques de Cicéron. Essai sur la genèse et l’art du dialogue, Paris 1958, 54; Alfonsi, 22; A. H. Haury, Ce brave Varron … (César, Civ. II, 17-21), J. Carcopino, Mé- <?page no="94"?> Beatrice Baldarelli 82 schiedlichen Hypothesen zu Wesen und Datierung der Schrift ist eines gemeinsam, nämlich der Versuch, eine Erklärung und Rechtfertigung dafür zu finden, dass Varro sich in diesem Werk angeblich so kritisch gegenüber dem Schutzherrn und Freund äußern musste. Nimmt man an, dass es sich dabei um eine Menippeische Satire handelt, stellt sich darüber hinaus die Datierung als problematisch dar, nachdem Cichorius - wie oben gesehen - mit guten Argumenten bewiesen hat, dass die Satiren schon zwischen 80 und 67 verfasst wurden. Fest steht, dass Varro als Modell das gleichnamige Pamphlet des Anaximenes, eines Schülers des Kynikers Diogenes, 89 diente. Anaximenes hatte provokativ seinem Gegner Theopomp eben einen Trikáranos unterschoben, 90 Meine Hypothese ist nun folgende: Bisher hat man es versäumt, den zu vermutenden Inhalt des griechischen Trikáranos näher zu berücksichtigen. Dieser Inhalt lässt sich nach Jacoby eine Schrift, in der er sich polemisch-aggressiv über die drei Hegemonialmächte Griechenlands, Athen, Sparta und Theben, ausließ. 91 Anaximenes, FGH 2a, 72, F.21 (Aristeid. 26, 51 [II 105 Keil]): 7 % - } 2 9 R 8 G Z } 5 2 2 C * ^ ; 0 2 3 D ; 3 N C } - } ! C9  9T - * ! D D  2 h * m c 5 3 # G Œ 3 + ' T . aus dem Abschnitt der Rede (Rom. encom.) des Aelius Aristeides bestimmen, in dem dieser Anaximenes zitiert: Daraus ist zu entnehmen, dass die wesentliche Intention der Schrift war zu beweisen, dass alle drei Hegemonialmächte unfähig waren, lange genug am Steuer des Schiffes Griechenland zu bleiben und deshalb einander gewaltsam ablösten, bis Philipp von Makedonien sie schließlich alle unterwarf. 92 langes Paris 1966, 507-513, dort 509 Anm. 4; Brzoska, RE I, 2 Anaximenes (3), 2096, 57- 60. Gestützt auf diese Erkenntnis vermute ich, dass Varros Trikáranos gar nicht unmittelbar von Pompeius, Caesar und Crassus handelte, sondern von Athen, Sparta und Theben, und damit eine satirische Behandlung der Gefahren verbunden war, die aus der Konkurrenz dreier gleich mächtiger Kräfte 88 So Cichorius, 211; Dahlmann, 1273; Knoche, 35; Cèbe 1, 1972, XVII und 13, 2063; M. S. Salanitro, Le Menippee di Varrone. Contributi esegetici e linguistici, Roma 1990, 11; Scholz, 166 Anm. 5. Als Schmähschrift, wie es damals viele zu diesem problematischen Bunde gab, interpretiert Schmidt den Trikáranos (O. E. Schmidt, Flugschriften aus der Zeit des ersten Triumvirats, in Neue Jahrb. f. kl. Altert., Gesch. u. deutsche Liter. 7, 1901, 620-633). Krenkel, 1108, äußert sich vorsichtig: „Das Pamphlet auf das Triumvirat des Caesar, Crassus und Pompeius im Jahr 60 v. Chr. ist eher eine eigene Schrift als ein Teil von Varros Menippeischen Satiren. Aber sicher kann man nicht sein”. Andererseits verweist er auf die politische Wirkung eines Mimus des Laberius. 89 Vgl. Diog. Laert. 6, 57. 90 Vgl. Paus. 6, 18, 5 und Aristeid. Rom. encom. 1, 342 Dind. 91 Vgl. FGrH IIa, 72, Frg. 21 und FGrH IIc (Kommentar), 110: „man möchte den ganzen Abschnitt Aristeid. xxvi 40ff. aus dem ja lange gelesenen Trikáranos ableiten“. 92 Anaximenes war Philomakedonier, vgl. FGrH IIc (Kommentar), 110; Brzoska, 2087. <?page no="95"?> Moralreflexion im Dienste der Politik? 83 resultieren. Daraus ergäbe sich eine ganz konkrete Warnung vor der Hoffnung, dass eine solche Konstellation für Frieden und politisches Gleichgewicht sorgen könne. Denn es war schon Anfang der 50er Jahre deutlich abzusehen, dass die ursprüngliche Vorrangstellung der siegreichen Feldherren Pompeius und Crassus nicht lange Bestand haben könnte 93 und dass sich der junge aufstrebende Caesar, so wie Theben gegenüber den alten Mächten Athen und Sparta, zu einem neuen, in seiner Wirkung unberechenbaren Faktor auf der politischen Bühne entwickelte. Erschreckend weitsichtig wäre dann Varros Parallelisierung gewesen - ja, sie musste geradezu wie eine Prognose erscheinen, wenn man sich vor Augen hält, wie schnell der Stern Caesars, genauso wie der Thebens, am Himmel aufging, um dann plötzlich zu sinken und von Augustus - bei Anaximenes war es Makedonien - abgelöst zu werden. Unter dieser Voraussetzung ist es dann nicht notwendig, den Akzent auf die dem Begriff Trikáranos („Dreiköpfiges Ungeheuer“) innewohnende Monstrosität zu setzen, was in Anbetracht der zwischen Varro und Pompeius bestehenden Freundschaft seit jeher als problematisch angesehen wurde. In dem griechischen Pamphlet wie vielleicht auch in der römischen Schrift ging es nicht darum, dass ein Zusammenschluss von drei Mächten versucht hätte, die Herrschaft auszuüben, sondern dass keine von ihnen über einen längeren Zeitraum regieren kann, wenn sie sich mit gleichem Potenzial gegenseitig die Hegemonie streitig machen. Wurde so der Aspekt politischer Belehrung hervorgehoben, noch dazu gemildert durch den satirischen Ton, der Pompeius von den früheren Menippeen her vertraut war und der ihn offenbar nicht sonderlich kränkte, verliert der Trikáranos auch die beißende Schärfe einer Schmähschrift 94 und kann zugleich als protreptische Satire nach Menippeisch-Varronischer Art verstanden werden. 95 93 Über die dem Bunde bereits am Anfang innewohnenden Spannungen s. B. A. Marshall, Crassus. A political Biography, Amsterdam 1976, 104-107; über Caesars Vorrangstellung schon zu dieser Zeit vgl. Suet. Iul. 20; J. Bleicken, Geschichte der römischen Republik, München 2004, 81. Der Trikáranos könnte tatsächlich als die letzte Menippee ungefähr im 94 Es muss sich allerdings auch bei solchen Schriften nicht immer um gnadenlose Angriffe gehandelt haben. So Garzetti, 97: „Il pamphlet politico non doveva essere dichiarazione di guerra ad oltranza, ma espressione di dissenso in un’atmosfera di signorilità letteraria negli alti livelli della politica.” 95 „Wie Varro Pompeius gleichsam einen Leitfaden für sein Verhalten als Konsul mitgab, könnte er nicht auch, im Jahre 60, als sich die politische Situation ganz gegen seine republikanischen Vorstellungen entwickelte, einen griechischen Titel wählend, seinem ‚politischen Schützling’ Pompeius … gewissermaßen als politischer Berater die Mißstände der augenblicklichen Regierungsform aufgezeigt haben? “ (Rösch-Binde, 67 Anm. 2). Rösch-Binde, 66-71, glaubt aber, dass der Trikáranos gerade wegen des mit den Satiren angeblich unvereinbaren politischen Inhalts keine Menippeische Satire sei. <?page no="96"?> Beatrice Baldarelli 84 Jahr 60 geschrieben worden sein. 96 Ich fasse zusammen: Politische Aussagen sind in den Menippeen wohl vorhanden, sowohl was die Intention angeht (Wahl der Form, Vermittlung von bestimmten Idealen) wie auch in den Anspielungen auf die politische Realität der ausgehenden Republik. Allerdings scheint Varro doch mehr die indirekte Form der Kritik zu bevorzugen und allzu derbe Angriffe vermeiden zu wollen. Es überwiegt allem Anschein nach die lehrhafte Komponente, während die rein sarkastisch-skoptische zurücktritt. Damit steht Varros Menippeische Satire wahrlich als Bindeglied zwischen der auf persönlicher Ebene ungeniert aggressiven Satire des Lucilius und der verallgemeinernden, unpolitischen Satire des Horaz. In ähnlicher Weise wie Leben und Werk des Lucilius von der Bekanntschaft mit Scipio geprägt sind und wie Horazens Schaffen mit Augustus und Maecenas verbunden ist, scheint sich auf Varro die Beziehung zu Pompeius ausgewirkt zu haben. Pompeius wird so zum Adressaten eines Programms moralisch-politischer Erziehung, die auf personaler Nähe gründet und die vielleicht mit der von Cicero in seinen Briefen entwickelten Strategie vergleichbar ist. Denn Varro hat einerseits keine Angst, die wunden Punkte in Pompeius’ politischem Handeln zu berühren, ergreift aber andererseits auch gern die Gelegenheit, daran gerade das positiv hervorzuheben, was mit seinem Ideal einer moralisch vorbildhaften Führungspersönlichkeit in einem von Korruption befreiten Rom vereinbar erscheint. Das folgende Jahrzehnt wird dann Varro keine Zeit mehr für leichtere literarische Kost lassen. 96 Die Datierung würde dann auch mit der Erwähnung der atria des Crassus (Frg. 36) als mögliche Anspielung auf Ciceros Hauskauf im Jahr 62 übereinstimmen. <?page no="97"?> Emily Gowers Eupolitics: Horace, Sermones I, 4 1 It may seem perverse to choose Horace as an example of a political satirist, when his poems have been read as the most resolutely ‘unpolitical’ of all Roman satires. 2 This is a poet whose most paraded personal ailment, his sore eyes (lippitudo), offers an emphatic bodily signal of his non-involvement in panoramic events. Like the customers waiting in the barber’s shop in Serm. 7, Horace makes a show of not noticing what is going on just out of the corner of his vision. 3 And yet there is plenty of potential for reading politics obliquely into Sermones I: the ‘Journey to Brundisium’, Serm. 5, is a partial but pointed account of an important political mission, whichever summit meeting it refers to; 4 in Serm. 6, Horace gives his own satirical picture of the ups and downs of Republican history and openly discusses the possibilities for new men in the Roman senate; 5 in Serm. 7, he goes back to his own Republican past and touches on sensitive memories of the proscriptions; 6 1 It is a great pleasure to be asked to help celebrate the work of Prof. Ehlers, whose distinguished work on Horace’s ‘Journey to Brundisium’ (Das ,Iter Brundisinum’ des Horaz (Serm. 1, 5), Hermes 113, 1985, 69-83) has been in my mind’s eye for the fifteen years I have studied that poem. I thank Fritz Felgentreu, Felix Mundt and Nils Rücker for inviting me to Berlin in March 2008 and everyone at the conference for tolerating a paper in English. in 2 D. Kennedy, ‘Augustan’ and ‘Anti-Augustan’: reflections on terms of reference, in: A. Powell, (ed.), Roman Poetry and Propaganda in the Age of Augustus, Bristol 1992, 26- 57, at 29-30, speaks of a critical consensus on the apolitical nature of the Satires, one which Horace’s ‘head-down’ attitude helps to foster and which is ‘symptomatic of a tendency in Latin literary criticism to see politics only with reference to formal political institutions’ (30). For an exception, see I. DuQuesnay, Horace and Maecenas: the propaganda value of Sermones 1’, in: T. Woodman/ D. West (edd.), Poetry and Politics in the Age of Augustus, Cambridge 1984, 19-58. 3 See A. Cucchiarelli, La satira e il poeta: Orazio fra Epodi e Sermones, Pisa 2001; E. Gowers, Blind eyes and cut throats: amnesia and silence in Horace Satires 1. 7, CPh 97, 2002, 145-161, at 151-2. 4 See E. Gowers, Horace, Satires 1.5: an inconsequential journey, PCPS 39, 1993, 48-66; K. Reckford, Only a wet dream? Hope and skepticism in Horace, Satire 1. 5, AJPh 120, 1999, 525-554; K. Freudenburg, Satires of Rome: Threatening Poses from Lucilius to Juvenal, Cambridge 2001, 51-58. 5 See L. R. Taylor, Horace’s equestrian career, AJPh 46, 1925, 161-170; D. Armstrong, Horatius eques et scriba: Satires 1.6 and 2.7, TAPhA 116, 1986, 255-288. 6 See J. G. H. Henderson, On getting rid of kings: Horace, Satire 1. 7, CQ 44, 146-170 (= id., Fighting for Rome: Poets and Caesars, History and Civil War, Cambridge 1998, 73- 107); Gowers, op. cit., 2002. <?page no="98"?> Emily Gowers 86 Serm. 8, the comic figure of Priapus who attempts to purge undesirables from a revamped burial ground offers an indirect advertisement for a sanitized and citizen-friendly Rome. But Horace’s approach to politics in general could be summed up as agoraphobic; he prefers to keep his head down and contemplate city life from his own secluded angulus. That is not to say, however, that Horace is not prescriptive about how life in the city should be. I offer here a reading of his Serm. 4 which suggests that this poem, abstract and evasive as it seems, can be read as political in the widest sense: not because it makes crude or specific references to contemporary or recent events, but because it considers the crucial and timely question of the place of the satirist in relation to newly regulated society. 7 This question is framed in such a way that Horace ’ s poem bids for a place in a long tradition of more outspoken ‘ political ’ poetry, even if he goes on to turn his back on that tradition. Serm. 4 is Horace’s first openly programmatic poem, a ‘proem in the middle’, as Gian Biagio Conte might term it, 8 in which he admits to the very existence of a tradition of satirical poetry and finds his place in it. The first three poems had already done important work in choosing among the different generic signatures offered by diatribe, comedy and Lucretian didactic and thus shaping Horace’s unique satirical world. 9 They had also offered a kind of blueprint for life in the city, how to fit in, how to get by: economics in the first poem, sexual regulation in the second and a contract for social tolerance in the third, summed up by a facetious history of the polis, from grunting, fighting cavemen to city walls and legal punishment, and beyond, to true civility, constructed on the model of a small group of amici - a history that has also been read as a history of satire, and as a history of Horace. 10 7 Classic discussions of this poem include: G. L. Hendrickson, Horace, Serm. 1. 4: a protest and a programme, AJPh, 21, 1900, 121-142; E. W. Leach, Horace’s pater optimus and Terence’s Demea: autobiographical fiction and comedy in Serm. 1. 4, AJPh 92, 1971, 616-632; F. Muecke, Horace the satirist: form and method in Satire 1. 4, Prudentia, 11, 1979, 55-68; N. Rudd, The Satires of Horace, Cambridge 1966, 88-124; id., Had Horace been criticized? A study of Serm. 1. 4, AJPh 76, 1955, 165-175; C. Schlegel, Horace and his fathers: Satires 1.4 and 1.6, AJPh 121, 2000, 93-119 = Satire and the Power of Speech, Madison, WI 2005, 38-58; D. Hooley, What? Me a poet? Generic modeling in Horace Sat. 1.4, in: Festschrift for M. Eugene Lane, 2001, http/ / www.stoa.org/ hopper / text.jsp? doc=Stoa: text: 2001.01.0005 To this extent, the poems can be read as a socio-political programme in embryo. 8 G.-B. Conte, Proems in the middle, in: F. M. Dunn/ T. Cole, (edd.), Beginnings in Classical Literature, YClS 29, 1992, 147-159. 9 See Hooley, op. cit. 10 See C. Keane, Satiric memories: autobiography and the construction of genre, CJ 97, 2002, 215-231; E. Gowers, Fragments of autobiography in Horace, Satires I, ClassAnt <?page no="99"?> Eupolitics: Horace, Sermones I, 4 87 In the fourth satire, Horace more explicitly faces up to the question of the satirist’s social and moral role, and a city opens up that is full of spies, lawsuits and spreading gossip (whether this city is Rome or a timeless satirical city is another question, but it would appear to be the magna Roma from which he then escapes in Serm. 5). Once upon a time, it was assumed that Horace is responding defensively to real-life attacks on his work. But, as Hendrickson was the first to point out, this is because he is rehearsing traditional moves common to all branches of blame poetry: paranoid response to injury, self-justification, the disavowal of malice, and so on. 11 Although his injuries are imaginary, Horace is repeating what satire always says: that it can no longer exist in its mythical state of freedom, especially when, at the best of times, it is universally hated. We might say that this most vindictive genre has something, oddly enough, in common with its peaceful sister pastoral: it comes into being in order to mourn the lost conditions for its existence; it classifies itself over and over again at the moment of its potential extinction. Or does Horace have other reasons for wanting to wipe satire out? This is a poem where Horace writes his genre’s genealogy. He claims kin not only with his old-fashioned, moralizing father but with many other relatives who should not apparently be on speaking terms: Athenian Old Comedy and Terentian New Comedy; iambic, both Archilochean and Callimachean; and with his outspoken Republican predecessor Lucilius. But it is also a poem where he works to find a place, time and protective authorization for a new and individual blend of satire; as Crispinus says at lines 15-16 detur nobis locus, hora, | custodes, ‘Let me have a place, a time and protectors’. So, quis custodiet ipsos custodes? Which minders or ‘big brothers’ will Horace enlist to give him authority, protection and a place in literary history? The poem opens with the traditional Golden Age of Satire: fifth-century Athens. Horace brings on stage the three heavyweights of Old Comedy, Eu-polis, Crat-inus and Aristo-phanes, whose ‘speaking names’ offer a foundation myth for satire of a quite un-Horatian kind: they suggest long-lost political utopias and the power and outspokenness of the poets who inhabited them. 12 As Ian Ruffell writes: ‘ [Horace] could hardly mention the unholy trinity of Old Comedy without prompting the thought of crude politics. ’ 13 22, 2003, 52-92, at 75. But Horace softens the provocation by presenting Old Comedy as a respon- 11 Hendrickson, op. cit., 1900. See also J. Bramble, The disclaimer of malice, in: Persius and the Programmatic Satire, Cambridge 1974, 190-204; M. Dickie, The disavowal of invidia in Roman iamb and satire, PLLS 3, 1981, 183-208. 12 Freudenburg, op. cit., 2001, 58. 13 I. A. Ruffell, Horace, popular invective, and the segregation of literature, JRS 93, 2003, 35-65, at 36. <?page no="100"?> Emily Gowers 88 sible mechanism for social control comparable to the lawcourt or the censor ’ s office: 5 multa cum libertate notabant recalls 3.24 dignus notari and looks ahead to 25 culpari dignos; the thieves, adulterers and assassins who were allegedly its victims we remember from Serm. 3.106, where they were victims of the nascent legal system recorded in the later stages of Horace ’ s satirical history of civilization (or history of satire): ne quis fur esset neu latro neu quid adulter. To start with, Horace’s relationship to these founding fathers is unclear. He does not explicitly link himself with them: instead he makes Lucilius the ‘missing link’ (6 hinc omnis pendet Lucilius, hosce secutus) and chooses to keep his own distance. How do we explain this move? Did Old Comedy have a policing function? Not exactly. Its victims were not ‘sinners’ but named individuals, usually politicians, philosophers or sophists, like Cleon and Socrates. 14 But Horace is here adopting the Hellenistic model that justified Old Comedy ’ s personal attacks (onomasti komodein) on moral grounds. 15 He wants to establish moral authority for all satire; and also to exploit, for the time being, the extra genealogical link (which Varro might have been the first to make) between Athenian Comedy and Roman Republican satire, both forms legitimized by their libertas. 16 The multa libertas (or parrhesia) of Old Comedy does seem to have been a reality, even if the extent of the risks it took is unclear. We know, of course, about Aristophanes’ famously antagonistic relationship with contemporary politicians, Cleon in particular. Eupolis’ plays, too, are linked in time, place and subject matter to the current political situation at Athens, as titles like Demoi and Poleis suggest. Although the protagonists of Demoi are in fact four dead politicians, Solon, Aristides, Pericles and Miltiades, Eupolis did pillory many living individuals, such as Alcibiades (Baptae), Hyperbolus (Marikas) and Callias (Kolakes), while the legend that Alcibiades resorted to throwing the playwright into the sea testifies to these plays’ potential for personal and political injury. By contrast, both Aristophanes and Eupolis may also have supplied Horace with his favourite image of the passive or non-politicized citizen, the bleary-eyed customer in the barber’s shop: the half-blind Neoclides at Ar. Eccl. 254 17 and Eupolis fr. 194 K-A: ‘ I have learned a lot in the barbers ’ shops, sitting there without being noticed and looking as if I don ’ t understand ’ . 18 14 I. C. Storey, Eupolis: Poet of Old Comedy, Oxford 2003, 338-348. Hellenistic tradition, again trying to explain the difference between fifth-century and later comedy, tells us that 15 See S. Halliwell, Ancient interpretations of _ 7 5 ] in Aristophanes, CQ 34, 1984, 83-88 on the scholiasts ’ moralizing motives for seeing historical persons behind Aristophanic names. 16 Conjectured by F. Leo, Varro und die Satire, Hermes 24, 1889, 67-84, at 79. 17 See Cucchiarelli, op. cit., 66-67. 18 Ar. Eccl. 398-407; Eup. fr. 194 K-A 7 e 0 D 2 & D9/ | ! 5 0&p5 - . 9 9 . <?page no="101"?> Eupolitics: Horace, Sermones I, 4 89 Alcibiades struck back by banning onomasti komodein, and that comedy went underground. So we get the following neat history: Old Comedy attacked openly; Middle Comedy attacked ‘ enigmatically ’ ; and New Comedy did not attack at all, except for slaves and foreigners (schol. to Dion. Thrax, Koster), 19 successit uetus hic comoedia, non sine multa a history that Horace, again, follows in the Ars Poetica: laude; sed in uitium libertas excidit et uim dignam lege regi; lex est accepta chorusque turpiter obticuit sublato iure nocendi. (281-284) In fact there is almost no evidence for legal redress against Old Comedy. Indeed, from what we know, the theatre in fifth century Athens, as in Republican and even Imperial Rome, was an accepted arena for popular protest, a place where political attacks, or at least innuendo and encrypted satire, were positively expected. 20 But what we really need to ask is this: why does Horace call on the Old Comedians to justify new satire? What he may be doing instead, and I take this idea from Carl Werner Mueller, is signalling a different kind of link with the Aristophanic tradition: labelling Serm. 4 a paracomic parabasis, a selfjustifying authorial intervention in the middle of a play. 21 e D (0 & E9 The parabasis, in which the chorus spoke on the poet ’ s behalf to his fellow-citizens, was a form of political address, in the most essential sense. Aristophanes for example, in the parabasis of Acharnians, announces that he will speak ‘ about the city ’ : E 5 (Ach. 498-99) But often the parabasis turned out to be a platform not for direct political attack but for self-defence. The poet would complain of libellous misrepresentation, or disparage other poets, or apologize for his own dramatic activities, or even, interestingly for Horace, impose his own limits on his comic libertas. A fragmentary protest by Eupolis (fr. 392 K-A) claims: ‘Now listen, spectators and understand my words, for right now I will make my first 19 See H.-G. Nesselrath, Eupolis and the periodization of Athenian comedy, in: D. Harvey/ J. Wilkins (edd.), The Rivals of Aristophanes, London 2000, 233-246, at 242; Sidwell, K., From Old to Middle to New? Aristotle’s Poetics and the history of Athenian comedy, in: D. Harvey/ J. Wilkins (edd.), The Rivals of Aristophanes, London 2000, 247-258. 20 For Rome see F. F. Abbott, The theatre as a factor in Roman politics under the Republic, TAPhA 38, 1907, 49-56. 21 C. W. Mueller, Aristophanes und Horaz. Zu einem Verlaufsschema von Selbstbehauptung und Selbstgewissheit zweier Klassiker, Hermes 120, 1992, 129-141. See also K. Heldmann, Die Wesensbestimmung der Horazischen Satire durch die Komödie, Antike und Abendland 33, 1987, 122-139. <?page no="102"?> Emily Gowers 90 defence to you’. 22 The New Comic prologues of Terence construct a similarly aggressive-defensive persona. 23 And when Horace writes mos at line 95 of this poem, defendas ut tuus est mos, he is perhaps labelling defensiveness as a tradition, for satirists as much as for their victims. By insisting on the function of Old Comedy as a moral deterrent, Horace is justifying some of the literary possibilities that the parabasis model offers his poetry and which he is about to take up. These include: synkrisis between poets, parody, criticism, and abuse of his poetic rivals. Horace is literally ‘coming forward’ (cf. parabasis) at the start of this poem, even if he then scuttles immediately backwards or sideways again. Aristophanes offers a closer model in another sense as well. Eupolis, Cratinus and Aristophanes present a united front here, but we know them best as literary opponents, not as allies. 24 If thieves and villains do appear in their parabases they are generally other poets in disguise: Cratinus was characterized by Aristophanes (and by himself) as a drunkard; Aristophanes called Eupolis a thief who had plagiarized the Knights in his Marikas. 25 So that opening ‘ triumvirate ’ in Horace ’ s poem should at once recall literary infighting, not like-mindedness. Aristophanes in particular had taken pains to differentiate himself from the others, leading to a significant confusion in Hellenistic literary history: either Eupolis, Cratinus and Aristophanes were treated as rivalrous contemporaries; or a line was drawn between Eupolis and Cratinus as ‘ old ’ and Aristophanes as the next generation, the stylistic bridge between old and new (Storey, op. cit., 240: ‘ both the focal point of Old Comedy and the promising germ of the New ’ ). Aristophanes was himself responsible. In the parabases of Clouds and Wasps he advertises his ‘ new ideas ’ : ' T (Nub. 547), C ... (Vesp. 1044). 26 He also, surprisingly when we consider him the epitome of outspokenness, offers Horace a model for representing himself as more refined and discreet than his predecessors. He separates himself from his noisy rivals in Clouds, Knights and Peace by rejecting old-style bomolochia (gratuitous abuse) in favour of restraint, sophrosyne. 27 22 Eup. fr. 392 K-A ! ! W * ¢ 0 &* ! 7 ,2 & £ o[ * -0X 9 3 # ƒ G . Like Horace, then, he once staked a claim to 23 See W. G. Arnott, Terence’s prologues, PLLS 5, 1985, 1-7. 24 On their disputes see: R. M. Rosen, Old Comedy and the Iambographic Tradition, Atlanta, GA 1988; id., Cratinus’ Pytine and the construction of the comic self, in: D. Harvey/ J. Wilkins, The Rivals of Aristophanes, London 2000, 23-40; I. A. Ruffell, A total write-off: Aristophanes, Kratinos and the rhetoric of comic competition, CQ 52, 2002, 138-163; I. C. Storey, Eupolis: Poet of Old Comedy, Oxford 2003, 86-9 and 372. 25 Cratinus the drunkard: Ar. Ach. 848-53, 1173, Eq. 400, 526-36, Pax 703-4; Eupolis the plagiarist: Nub. 553-6. 26 See Rosen, op. cit., 1988, 81. 27 Ar. Eq. 545 m - ! [ 5 ' [ D" W ; Nub. 534-5 % V <?page no="103"?> Eupolitics: Horace, Sermones I, 4 91 be a ‘ new poet ’ within his chosen genre and regarded it as progress to disown violent abuse on stylistic as much as on political grounds. This may explain why Horace proceeds (lines 7-13) to stage an Aristophanic synkrisis between himself and his Roman satirical ‘father’ Lucilius. 28 Here we see Horace at his most grudging and patronizing. We have learned these days to distance ourselves from his slurs; Lucilius has been largely rehabilitated as a refined experimenter who did not deserve to be caricatured as stylistically crude, except in so far as he caricatured himself along those lines. 29 In his critique, Horace makes Lucilius seem outdated and unoriginal: his virtues (ruggedness, indiscretion and frank wit) belong to the old school, while his vices (prolixity and lack of polish) disqualify him from meeting the new poetic criteria Horace has unilaterally laid down. But the point is that defamation of some kind is expected of Horace, both as a satirist and as heir to Old Comedy. It helps him to claim kin with older nominatim abuse but also to differentiate himself, to establish his version of satire as the norm and to make the alternative obsolete. The fact that the first attack on ‘ vice ’ in this poem concerns a rival ’ s literary failings and not a criminal ’ s misdemeanours (the term uitium applies to both: 9 nam fuit hoc uitiosus) is not innovation but direct homage to Aristophanes & Co. 30 Horace saves them both from direct competition by substituting one of his own fictional victims, Crispinus, who challenges him to a duel, 31 a duel that Cucchiarelli reads as a satirical version of the Aristophanic synkrisis between Aeschylus and Euripides in the Frogs. 32 In the speed-writing competition that ensues, Crispinus plays Aeschylus, windy and blustering (19-21 at tu conclusas hircinis follibus auras | usque laborantis, dum ferrum molliat ignis, | ut mauis, imitare), while Horace plays the minimalist Euripides, offering a modest but defeatist model of modern sermo by reducing its proper flow of chatter (cf. 12 garrulus) to a trickle (18 raro et perpauca loquentis), instead of commending its technical skill, as opposed to its inspiration. Lucilius’ ‘muddy flood’ (11 cum flueret lutulentus) has long been understood as alluding to Callimachus’ debates with his literary enemies, set out on similar terms. 33 € E D & j 5  & | p % Œ 0 * A 2 W … ¥ 5 ; Pax 748 % ! " / 7 " 7 ! 9 8. But allusions to flood 28 On Horace’s usual contempt for the literary institution of synkrisis, see D. Feeney, The odiousness of comparisons: Horace on literary history and the limitations of synkrisis’, in: M. Paschalis (ed.), Horace and Greek Lyric Poetry, Rethymnon 2002, 7-18. 29 See Puelma M. Piwonka, Lucilius und Kallimachos, Frankfurt a. M. 1978. 30 Serm. 1.4.7-8 facetus, | emunctae naris, durus componere uersus; 9-13 in hora saepe ducentos,| ut magnum, uersus dictabat stans pede in uno; | cum flueret lutulentus, erat quod tollere uelles; | garrulus atque piger scribendi ferre laborem, | scribendi recte. See Hooley op. cit. 31 E. Oliensis, Horace and the Rhetoric of Authority, Cambridge 1998, 22. 32 Cucchiarelli, op. cit., 48-53. 33 See K. Freudenburg, The Walking Muse: Horace on the Theory of Satire, Princeton <?page no="104"?> Emily Gowers 92 imagery, as Cucchiarelli notes, go back further to the mutual abuse between Aristophanes and another rival, the self-confessed ‘drunkard’ Cratinus. 34 And it can be no coincidence that Horace goes on to allude to other authors who created their own space within a related genre by parodying or defaming their predecessors in the name of refining the form: Callimachus in the Iambs versus his ancestors Archilochus and Hipponax (34 faenum habet in cornu, longe fuge), and Terence (48-52 at pater ardens | saeuit, quod meretrice nepos insanus amica | filius uxorem grandi cum dote recuset, | ebrius et, magnum quod dedecus, ambulet ante | noctem cum facibus), who continued the Old Comic tradition of defensive parabasis to make New Comedy newer still. As Ruth Scodel writes: ‘the true carrier of a tradition is not the slavish imitator but the poet who adapts his master in the same spirit in which the master adapted his own predecessors’. 35 But what has any of this to do with politics? Horace does, I think, have a political reason for putting Old Comedy at the head of his poem, even if he cannot revive it in his own times. After his ‘theatrical’ opening, he enters a still-vigorous Hellenistic debate about the proper limits of humour: Aristotelian supporters of the so-called ‘liberal jest’, gentle or gentlemanly laughter, versus those Cynics or iambographers who continued to justify frank and aggressive abuse as a moral duty. 36 This debate had acquired a specific political edge in the late Republic, with the term libertas brandished as a slogan by both factions in the civil war (with Lucilius as a shared mascot 37 1993, 158. ), but it was no longer in Horace ’ s interests to uphold it. He proceeds to define modern satire in the act of condemning it. Athenian Old Comedy stood for brave resistance to official propaganda: in that sense it was moral, but it was also risky. Aristophanes in Acharnians speaks out against Sparta ’ s request to Athens to return Aegina, where he lived, in order to remove him from the city. Don ’ t drive the poet away, says the chorus leader, because he makes the 34 Cucchiarelli, op. cit., 50-51. E. Bakola, Cratinus and the Art of Comedy, Oxford forthcoming, argues that Cratinus was a self-conscious imitator of Aeschylean tragedy (denied by M. Silk, Aristophanes versus the rest: comic poetry in Old Comedy, in: D. Harvey/ J. Wilkins (edd.), The Rivals of Aristophanes, London 2000, 299-315; but cf. Prol. III On Comedy 24 p. 8 Koster on Cratinus’ ‘Aeschylean’ character, with Z. Biles, Intertextual biography in the rivalry of Cratinus and Aristophanes, AJPh 123, 2002, 169- 204). This would support the view that the tragic synkrisis between bloated Aeschylus and slender Euripides in Aristophanes’ Frogs shadows a similar, paracomic rivalry between Cratinus and Aristophanes; cf. Cratinus 342 K-A - " &p : 35 R. Scodel, Horace, Lucilius, and Callimachean polemic, HSPh 91, 1987, 199-215, at 215. 36 See Freudenburg, op. cit., 1993, 86-92; C. Wirszubski, Libertas als politische Idee im Rom der späten Republik und des frühen Prinzipats, tr. G. von Raabe, Darmstadt 1967. 37 Especially ‘Lucilian’ is Cicero’s correspondent Trebonius: Fam. 12.16.3 ignosces etiam iracundiae nostrae, quae iusta et in eius modi et homines et ciuis. deinde qui magis hoc Lucilio licuerit adsumere libertatis quam nobis? <?page no="105"?> Eupolitics: Horace, Sermones I, 4 93 right kind of comedy. 38 Horace will also remember that Plato banished poets from his ideal Republic on the grounds of their powers of seduction and emotional manipulation. 39 Cicero had retaliated in the Pro Archia by defending citizen ’ s rights and a place at Rome for the Greek poet Archias. 40 It is often assumed that this picture records a genuine worsening of the conditions for free speech at Rome (a subject Horace continues to skirt around in Serm. 10 and finally face in Serm. II, 1); according to Richard La- Fleur, the threat of real lawsuits underlay the production of Roman satire from its beginnings. In Serm. 1. 4, Horace rehearses a similar appeal: ‘ Don ’ t drive the poets out of the city ’ . A new regime was on the horizon, one that would survive by seizing the moral high ground and creating firm boundaries. Horace wants a place in this republic, but he knows that a new contract must be struck between poets and guardians. One might say that the first satirical victim of this poem is libertas itself. Horace switches between nostalgia and ‘ sour grapes ’ for this apparently lost commodity. From its outspoken beginnings, contemporary sermo simply evaporates, he says, when faced with a universally touchy audience (since we are all faulty); the satirist himself is loathed, shunned like a mad bull (34: like the iambic predecessor Hipponax, parodied in Callimachus ’ Iambi 1 and 13), his product is treated as excrement (36 quodcumque semel chartis illeuerit) and in the streets malicious informers lurk, bent on incriminating him (Horace will replace libelli, either libellous lampoons or the court writs to which they are liable, with a neat, inoffensive poetry book, as the puns on libellus in 66 and 71 suggest). 41 But the so-called ‘ disclaimer of malice ’ is a timeless generic device, found in comedy and satire as far back as Aristophanes, again, who preempts the charge of malevolence by offloading it onto his audience. 42 For example, in the parabasis of Wasps the chorus say: ‘ Our poet wants to chastise the audience today. He claims they ’ ve wronged him without provocation ’ . 43 38 Ar. Ach. 652-655 %0 # ƒ b ` ' [ % £ 7 ` < 9 ! % 7 8 [ 2 . D & £ - " &p 2 * ! ! " # $ . | % & '( ) (* . Lucilius too, safe in his charmed circle of powerful pro- 39 Plato Rep. 10; Leg. 811-818. 40 Cic. Arch. 4 perficiam ut hunc A. Licinium non modo non segregandum, cum sit ciuis, a numero ciuium uerum . . . ; 22 nos hunc Heracliensem multis ciuitatibus expetitum, in hac autem legibus constitutum de nostra ciuitate eiciamus? ; 31 quique est ex eo numero qui semper apud omnis sancti sunt habiti itaque dicti. 41 R. LaFleur, Horace and onomasti komodein: The law of satire, ANRW 31. 3, 1981, 1790- 1826. 42 Bramble, op. cit.; Dickie, op. cit. 43 Vesp. 1016-1017 E " 0 9 0 ; ` % D 02 . | ! 0 91 " - X V . <?page no="106"?> Emily Gowers 94 tectors, had complained: ‘ You enjoy spreading those tales about me ’ and ‘ You ’ re always tearing me to pieces with your gossip ’ . 44 However, we might still want to pierce this poem’s illusion of timelessness and harmlessness in order to detect a specific political strategy behind its defeatist position. We do not know what Horace expected from the new regime, but he seems to be negotiating two-way acquiescence here: clementia and non-interference on both sides. As Ian Ruffell has recently argued, Horace is not simply making a virtue out of a necessity: political satire in the shape of lampoons, soldiers’ chants, graffiti and other subliterary forms, and, if we include Catullus’s salax taberna and the theatre, literary forms as well, was flourishing in Rome - often connected, it is true, with Pompeianism and the ‘wrong side’, but nonetheless a vibrant dialogue that broke down barriers between elite and non-elite, individuals and crowds and different political parties. 45 In the second half of the poem, Horace moves from the vindictive intentions (the res) of satire to satirical style (its uerba: 39-62), which equally needs whitewashing. The second half of the poem is full of absurd alibis which excuse satire from any law that might incriminate poetry in general and allow Horace to reject the signature virtues of Republican satire - its vigour (uis) and its naturalness - as old-fashioned by comparison with modern, sophisticated compositio. Under the satirist’s twisting scalpel, not a poet, not Ennius, not Terence, escapes with limbs intact (cf. 62 disiecti membra poetae). I will not say much about this part of the poem, except to note that even these technical discussions about whether satire counts as poetry (uersus conclusus; cf. 19 conclusas auras, 40 concludere uersum) or virtual prose (uersus solutus; cf. 55 dissoluas, 60 soluas) have a quasi-political dimension. The vocabulary of ‘closedness’ and ‘openness’ that Horace is using makes these literary debates inseparable from more pressing concerns. Horace, Ruffell believes, neuters satire and removes its sting because he is concerned with a different kind of mission: to segregate ‘ literary ’ from ‘ non-literary ’ satire and to police the boundary between the two. But that does not mean that his caution is purely aesthetic. 46 44 1014M idque tuis factis saeuis et tristibus dictis; 1015} gaudes, cum de me ista foris sermonibus differs; 1016M et maledicendo in multis sermonibus differs; 1021M quod t<u nunc> laedes culpes, non proficis hilum. Is it better to be incorporated in social groups or excluded from them? Is it safer to be free or confined, whether this applies to satire as a poetic genre or to the satirist as a member of society (numerus is a group at 40, a metrical line at 7)? Horace ’ s policy is wildly inconsistent from moment to moment, and this drives home a deliberate point. 45 Ruffell, op. cit., 2003, 61. 46 Cf. Serm. 1.6.13, pulsus fugit, 18 remotos, 20 moueret, 23 constrictos, 25 depositum, 27 impediit, 28 demisit, 39 deicere, 39 tradere, 51 adsumere, 61-2 iubesque | esse in amicorum numero, 63 secernis. <?page no="107"?> Eupolitics: Horace, Sermones I, 4 95 Once he has proved, if one reads between the lines, that satire in his hands is poetry, Horace returns (63-141) to his apparently primary concern, the content of satire. And now he tries to deflect concerns about the social suspicions attaching to the genre by effectively abolishing it. 47 Horace claims he has been criticized for ‘ innocent ’ satire on people who smell too sweet or too goat-like, Rufillus and Gargonius, people whose faux pas stop them from fitting into polite society. 48 He now dissociates himself both from the victims of satire, the robbers Caelius and Birrius, and from vicious informers, Sulcius and Caprius (none of these, as far as we know, were significant figures 49 ). Horace ’ s personal ‘ solution ’ is extreme: avoidance of all public space, a complete retreat from the ‘ coming forward ’ of the comic stage (73-4 nec recito cuiquam nisi amicis, idque coactus, | non ubiuis coramue quibuslibet). He justifies his place in the city by purging himself and transferring his reputation for filth to other people and public areas: street kiosks where sweaty hands thumb his books, the baths, crowds, the water tanks where gossips congregate, places that celebrate promiscuity, anonymity and popular abuse. The satirist who offers us his public ‘ face ’ for the first time now proceeds to blank it out completely. 50 Horace pretends to have no choice beyond this extreme solution, but what he is really doing is disowning and blackening the frankest versions of contemporary satire. He tries to persuade his readers that libertas is no longer a moral imperative but something that offends against polite behaviour, literary finesse and the mutually protective rules of amicitia he had laid down in Serm. 3. Satire in the Lucilian mode is presented not as normative but as subversive; the satirist is not a patrolling policeman but a rude dinner guest or scurra (the latest Roman incarnation of the anti-Aristotelian ‘illiberal’ humorist, transferred to the most enclosed environment of Roman social life: the private dinner party). Horatian satire becomes paranoid, agoraphobic and self-effacing at the moment of self-definition. 51 47 See G. A. Seeck, Über das Satirische in Horaz’ Satiren oder: Horaz und seine Leser z. B. Maecenas’, Gymnasium 98, 1991, 534-548 on suspicion as the essential mood of Sermones I. Those who deserve not to live in the city (uiuet in urbe uiuet) are those who blacken their friends ’ reputations, not the disgraced friends themselves. Republican libertas is renamed as unacceptable 48 His first ‘intratextual’ remark (he is quoting his own words from Serm. 1.2.27 pastillos Rufillus olet, Gargonius hircum): see D. Feeney, Becoming an authority: Horace on his own reception, in: L. Houghton / M. Wyke (edd.), Perceptions of Horace, Cambridge forthcoming. 49 See B. L. Ullman, Horace on the nature of satire, TAPhA 48, 1917, 111-132, at 117-19, Rudd, op. cit., 294 n. 31. 50 See Oliensis, op. cit., 1-14 on Horace’s ‘face’; Hooley, op. cit., calls Horace’s selfconstruction in Serm. 4 ‘a virtual study in negativity’. 51 On the scurra see P. B. Corbett, The Scurra, Edinburgh 1986; C. Damon, The Mask of the Parasite: a Pathology of Roman Patronage, Ann Arbor, MI 1997. <?page no="108"?> Emily Gowers 96 licentia and forced into retirement, and Roman satire, except for Horace ’ s brand, is simultaneously defined and bad-mouthed as ‘ black squid-ink ’ (100 nigrae sucus lolliginis) and ‘ poisonous copper-rust ’ (101 aerugo mera). Horace thus whitewashes his own intentions with a ‘ sincere ’ promise (102-103 si quid promittere de me | possum aliud uere). But this disavowal needs to be taken with a hearty pinch of salt: in Serm. II, 8, through the persona of a comic poet, Horace will mercilessly satirize the host of a dinner-party, and at Ep. II, 2.60 he will define the Satires retrospectively as sale nigro, ‘ unrefined (or malicious) salt ’ . For now, any vestiges of humorous malice left in Horace (103-104 liberius si | dixero quid, si forte iocosius) can conveniently be blamed on another protective influence: an outspoken, traditionalist father. This figure supplies an alternative genealogy for Horatian satire in the autobiographical mode; the description of his moral teaching is often taken at face value, but is equally a generic trope inherited from frank satirical predecessors like Bion and Lucilius. 52 Horace ‘ reveals ’ the blueprint for the first three satires ’ moralizing obsessions in the elementary ethical education he received at his father ’ s knee. Literary dependence is not so humiliating when framed as filial piety or as based on modest, indigenous family tradition (117 traditum ab antiquis morem): something dutiful, irreproachable and deceptively static. However, Horace also subtly indicates, via echoes and parallels with his ‘ history ’ of civilization in Serm. 3 and with the moralizing libertas of Old Comedy (5 notabant ~ 106 notando), that this version of finger-pointing satire is outdated. The most obvious comic model for Horace ’ s father, Terence ’ s Demea from Adelphoe, had already been parodied by a slave commentator in the original play. 53 And the father will not be allowed to take complete credit for Horace ’ s formation: after playing his vital part (121 me | formabat) and instilling in him moral probity, he hands his son over to other authorities (122 auctorem) - philosophers (115 sapiens) and jurists (123 iudicibus: note that these are presented as exemplary role-models, not corrupt individuals) - to understand the deeper causes (116 causas) of right and wrong (an extended quest for wisdom will be the driving force behind Sermones II). Horace ’ s father ’ s victims are random types - Albius and Baius suggest ‘ Man A ’ , ‘ Man B ’ , virtually anonymous alphabetical building-blocks of a moral education. 54 52 See Schlegel, opp. cit. Horace himself names names - Rufillus, Gargonius, Caelius, Birrius, Caprius, Sulcius - gesturing towards onomasti komodein, but it is unlikely that these are dangerous enemies. We are meant to conclude that Horace ’ s personal ‘ civilizing process ’ has outstripped his father ’ s crude teaching. And correspondingly, that satire in the Horatian vein is located at a later stage in the 53 Ter. Ad. 413-431. 54 See Gowers, op. cit. 2003, 71. <?page no="109"?> Eupolitics: Horace, Sermones I, 4 97 development of satire out of earlier forms of vindictive blame poetry (Ursatire is always in the past). In the history of civilization in Serm. 3, Aristophanic comedy would be at the vindictive, legally punitive stage, Horatian satire at the final, most liberal and merciful stage of city life. But is Horatian satire really as kind or as detached as it looks? The satirical impulse has repeatedly been characterized as the ‘flushing out’ of inner dirt or the expulsion of ‘build-up’: 8 emunctae naris, 11 quod tollere uelles, 25 quemuis media elige turba, 34-35 risum | excutiat, 40 excerpam, 55 dissoluas, 57 eripias, 60 soluas, 62 disiecti, 82-83 solutos ... risus, 89 aperit praecordia, 134 excepit (cf. 10.4, of Lucilius: defricuit urbem). We can read this poem as proposing a quieter kind of clean-up operation, defining and policing the boundaries of acceptable satire in a manner we connect with Augustan purges of the city of Rome. Horace internalizes his father’s moralizing impulse and directs it away from scandalous examples of bad behaviour on the mean streets of Rome and towards self-improvement. But this is really the move of an outsider into the heart of the city, towards acceptance in a chosen group, a ‘clubhouse’ of protective amici (133-134 neque ... desum mihi: 135-136 sic dulcis amicis | occurram). Horace removes satire from the public stage to the domestic one, reducing it to a harmless leisure activity and a virtually silent thought-process: armchair doodles (139 illudo chartis) and pursed lips (138 compressis ... labris). For every sweet encounter with friends, space, inuidi must be excluded; scapegoats must still be expelled, whether they are smelly goats like Gargonius or poisonous informers like Caprius (the hircosi of Catullus’ salax taberna). And we know that there are further purges to come: the swabbing of the pus and poison of Brutus’ opposition in Serm. 7, the invention of Rome as a suburban garden city in Serm. 8 (where the only place left for demonized old women is to run off in urbem), the silent but deadly removal of an Oedipal pharmakos in Serm. 9, and finally Horace’s safe public emergence at the centre of a literary coterie in Serm. 10, with the abusive neoterics thrust to the margins. 55 Serm. 4 ends with a hint of that future ruthlessness, a playful allusion to present-day forms of intimidation. Horace had summoned minders (16 custodes) to his literary duel; he had sheltered behind his father (118 dum custodis eges) before shaking him off. But still he needs protection. As if from nowhere, the self-confessed recluse suddenly mobilizes a multitude of poets to drum his detractors into their ranks, thus unexpectedly claiming solidarity with the group from whose number he had previously excluded himself (40 excerpam): 143 cogemus in hanc concedere turbam. In this brave new ‘Poetopolis’, poets and guardians are one and the same. The civilized ‘social con- 55 On this progression see J. Henderson, Be alert: your country needs lerts, PCPS 39, 1993, 67-93, at 83 [= Writing Down Rome, Oxford 1999, 202-227]. <?page no="110"?> Emily Gowers 98 tract’ seems to break down, and Horace reverts to brute force - bullying, atavistic satire - and chooses for a moment to close down debate and set up his own mock police state. His threat reminds us of the phrase Caesar, qui cogere possit, from Serm. I, 3.4 perhaps the most sinister aside in the Satires, from a scenario where Caesar chose to call on amicitia, not force, to silence the prima donna Tigellius, and even then gracefully gave in. It also reminds us that Horace himself is sometimes ‘forced’ to perform (73 coactus), coercion again neutralized because it is between amici. This may all be a joke, but it is an urgent one, calling for a space for poets to be negotiated on terms appropriate for a velvet revolution. The parallel Horace draws is with the Jews, often vilified in the Satires, and in Roman satire in general, for their superstitious beliefs and eccentric customs, and now cited for their aggressive proselytizing. 56 They are the archetypal outsiders in Rome; they belong to the group of unprotected slaves and foreigners still available as victims to practitioners of ‘ New Comedy ’ . The menacing politicized presence Horace suggests here had also been exaggerated by Cicero in his Pro Flacco, in order to distract attention away from his client Flaccus ’ evidently corrupt administration of Asia and towards the crowd of Jewish ill-wishers surrounding the Aurelian tribunal. There are in fact several close verbal correspondences between Horace ’ s scenario in Serm. 4 and Cicero ’ s description of the Jews, which is ‘ whispered ’ as if to avoid a public disturbance: 66 scis quanta sit [Iudaeorum] manus [~ 141 multa poetarum manus], quanta concordia, quantum ualeant in contionibus. summissa uoce agam [~ 137-138 haec ego mecum | compressis agito labris], tantum ut iudices audiant: neque enim desunt [~ 133-134 neque enim ... desum mihi] qui istos in me atque in optimum quemque incitent. The echoes are so thick on the ground, in fact, as to make me wonder if Horatius Flaccus is not consciously writing his own Pro Flacco here, a literary defence that rehearses a standard satirical move: disqualifying Horatian satire and the Horatian satirist from any form of culpability but at the same time mobilizing the entire satirical tradition both to caricature and to shelter behind. The comparison with the Jews has its ironic aspects. This demonized group was periodically expelled from Rome. 57 56 See J. Nolland, Proselytism or politics in Horace, Satires I, 4, 138-43, VC 33, 1979, 347- 55. The Jews have few amici; they do not belong in Horace ’ s ideal city, as poets do. The threatening image placed at the end of the poem is meant as a stark reminder of the gulf between Eupolis ’ utopian Athens and Horace ’ s dystopic Rome. But above all it suggests continuity: the inclusions and the exclusions, the bargaining, the solidarity and the scapegoating necessary for all satirical activity. 57 See L. H. Feldman, Jew and Gentile in the Roman World, Princeton 1996, 300-304 for the evidence. <?page no="111"?> Ulrich Schmitzer Der Maecenaskreis macht einen Ausflug, oder: Wie Horaz die Politik zur Privatsache macht „Dieses Private ist nicht politisch”, so betitelt die Süddeutsche Zeitung (9.10.2007) die Besprechung der wohl weitestgehend unsatirischen Memoiren von Klaus Wowereit, und der Rezensent Philip Grassmann kann auch im weiteren Text kaum seine Verwunderung verbergen, wie wenig an Politik sich in diesem Erinnerungsbuch eines Politikers findet. 1 Das Verschwinden des Politischen aus dem öffentlichen Diskurs, die Ersetzung durch die Talkshowkultur ist natürlich ein generelles Phänomen, das in gewisser Weise (und bei aller Vorsicht gegenüber solchen Analogien) mit den Entpolitisierungstendenzen der römischen Kaiserzeit korrespondiert, die in die Beschränkung auf das Streben nach panem et circenses mündete, eine Tendenz, die zumindest von den Machthabern im kaiserzeitlichen Rom als herrschaftsstabilisierender Mechanismus ganz bewußt gefördert wurde. 2 Meine These lautet nun, daß eines der Projekte, die Horaz in seinem ersten Satirenbuch verfolgt, eben jene Abgrenzung des Politischen vom Privaten ist. Dazu ist es nötig, den Begriff des Politischen etwas genauer zu fassen. Vielleicht ist es für unsere Zwecke sinnvoll, erst einmal die rigideste und auch für die größten Kontroversen sorgende Bestimmung anzuführen, mit der in den 20er Jahren Carl Schmitt hervorgetreten ist: „Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.” Privates und Politisches läßt sich aber auch noch in anderer, geradezu komplementärer Weise scheiden, nämlich in der bewußten und betonten Abgrenzung des Politischen vom Privaten: Das Politische bleibt als Politisches sichtbar, es geht nicht in der Melange der Dokusoaps und Homestories auf, aber es bekommt einen Widerpart, die beiden Sphären werden dezidiert gegeneinander abgegrenzt. 3 1 K. Wowereit, ... und das ist auch gut so. Mein Leben für die Politik, München 2007 (Die Besprechung ist unter http: / / tinyurl.com/ 3l3ada zu lesen). Es geht also immer auch um Abgrenzung und Ausgrenzung, sogar 2 Vgl. grundsätzlich P. Veyne, Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike, Frankfurt am Main 1988. 3 Siehe dazu R. Mehring (Hg.), Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003 (darin bes. Chr. Schönberger, „Staatlich und Politisch” [20- 26]. Der Begriff des Staates im Begriff des Politischen, 21-44; B. Ladwig, „Die Unterscheidung von Freund und Feind als Kriterium des Politischen” [26-28] 45-60) sowie R. Si- <?page no="112"?> Ulrich Schmitzer 100 um die Gewaltsamkeit (der Krieg ist für Carl Schmitt ja eine notwendige Institution). Wenn man weniger rigide sein möchte, kann man es auch mit Max Weber halten, der in seinem berühmt gewordenen Vortrag „Politik als Beruf” 4 „‚Politik‘ würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt.“ den Gegenstand folgendermaßen definierte: Daß es sinnvoll ist, sich auch bei der Diskussion über antike Phänomene über die zugrundeliegende Politik-Begrifflichkeit zu verständigen, zeigt exemplarisch die Debatte zwischen Christian Habicht und Christian Meier um das von letzterem über Cicero geäußerte Verdikt: „Kraß gesagt war er kein Politiker.” 5 Dabei geht es gar nicht so sehr um die Einschätzung der Taten Ciceros im Rahmen der res publica, als vielmehr um die Frage, ob der von Christian Meier für die griechische Welt entwickelte Politikbegriff 6 Doch für Horaz und das römische literarische Genre der Satiren auch für die spezifisch römischen Bedingungen tragfähig ist. 7 scheint selbst ein möglichst weit gefasster Politikbegriff bislang außerhalb der üblichen Interpretationskategorien zu liegen. Der jüngste Überblick von Frances Muecke erwähnt nur eine einzige einschlägige Arbeit, 8 nämlich die von DuQuesnay aus dem Jahr 1984. 9 Dennoch bin ich überzeugt, daß ohne die Berücksichtigung der politischen Rahmenbedingungen, des (mit aller Vorsicht sei der Terminus verwendet) 10 mon, Die Begriffe des Politischen bei Carl Schmitt und Jacques Derrida, Frankfurt am Main et al. 2008. augusteischen Diskurses keine adäquate Einschätzung auch der Satiren möglich ist. 4 M. Weber, Politik als Beruf (München 1919), Berlin 8 1987, 8. 5 Dokumentiert bei Chr. Habicht, Cicero der Politiker, München 1990, 13f. 6 Vgl. Chr. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt am Main 3 1995, bes. 12-47. 7 Vgl. als ältere Zusammenstellungen W. Kißel, Horaz 1936-1975: Eine Gesamtbibliographie, ANRW II 31.3 (1981) 1403-1558; ders., Gesamtbibliographie zu Horaz 1976-1991, in: S. Koster (Hrsg.), Horaz-Studien, Erlangen 1994, 115-192; E. Doblhofer, Horaz in der Forschung nach 1957, Darmstadt 1992. 8 F. Muecke, The satires, in: S. Harrison, (Hrsg.), The Cambridge Companion to Horace, Cambridge 2007, 105-120, bes. 115f.. 9 I. M. Le M. DuQuesnay, Horace and Maecenas. The propaganda value of Sermones I, in: T. Woodman, D. West, (Hrsgg.), Poetry and politics in the age of Augustus, Cambridge 1984, 19-58. 10 Vgl. dazu U. Schmitzer, Friede auf Erden. Latinistische Erwägungen zur Pax Augusta in interdisziplinärer Perspektive, Berlin 2004; an grundlegender Literatur ist zu nennen: A. Barchiesi, Il poeta e il principe, Roma 1994 (= The Poet and the Prince. Ovid and Augustan Discourse, Princeton 1997); P. Zanker, Augustus und die Macht der Bilder, München 1987; K. Galinsky, Augustan Culture. An interpretive introduction, Princeton 1996; ders. (Hrsg.), The Cambridge Companion to the Age of Augustus, Cambridge 2005. <?page no="113"?> Der Maecenaskreis macht einen Ausflug 101 Nun besteht eine prinzipielle Schwierigkeit beim Umgang mit den Satiren des Horaz darin, daß sie allzu bekannt sind, daß sich ihre Rezeption auf eine lange Kommentartradition von Porphyrio 11 bis Kießling-Heinze stützt, daß auch noch jüngere Horazmonographien von Lefèvre 12 bis Maurach 13 den Blick eher trüben denn beim genauen Hinsehen helfen. Die Satiren warten (vor allem im deutschsprachigen Bereich) noch darauf, Anteil am literaturwissenschaftlichen Innovationsschub zu erhalten, der andere Sparten der lateinischen, namentlich augusteischen Literatur längst erfaßt hat. Gegen diese Defizite hilft als methodisch-heuristische Maxime eigentlich nur, sich möglichst an den Eindruck anzunähern, den die Satiren des Horaz bei ihrer ersten Präsentation - und das war eher die Rezitation denn die Lektüre - gemacht haben könnten, wobei es sich dringend empfiehlt (nicht zuletzt nach dem, was Niklas Holzberg in diesem Band ausführt), 14 Wer das 1. Satirenbuch von Anfang an gelesen hat (oder eher: ihm zugehört hat), hat erlebt, wie Horaz mit einer direkten Apostrophe an Maecenas, also quasi einer Widmung, begonnen hat (sat. 1, 1, 1-3): auch die lineare Abfolge des Buches zu bedenken. 15 Qui fit, Maecenas, ut nemo, quam sibi sortem seu ratio dederit seu fors obiecerit, illa contentus vivat, laudet diversa sequentis? Wie kommt es, Maecenas, daß niemand mag ihm nun sein Los vernunftgemäße Planung gegeben oder der Zufall zugeworfen haben damit zufrieden lebt und die lobt, die der gegenteiligen Richtung folgen? Diese 1. Satire wie auch die beiden folgenden behandelt dann pauschal gesagt eher populärphilosophische Themen (Maecenas taucht nur in 1, 3 marginal auf), die Satire 1, 4 wendet sich Literarkritischem zu, bis dann die Satire 1, 5 recht unvermittelt beginnt (sat. 1, 5, 1-6): Egressum magna me accepit Aricia Roma hospitio modico; rhetor comes Heliodorus, Graecorum longe doctissimus. inde Forum Appi, differtum nautis cauponibus atque malignis. hoc iter ignavi divisimus, altius ac nos praecinctis unum; minus est gravis Appia tardis. 11 A. Kalinina, Der Horazkommentar des Pomponius Porphyrio, Stuttgart 2007 (Palingenesia 91). 12 E. Lefèvre, Horaz. Dichter im augusteischen Rom, München 1993. 13 G. Maurach, Horaz. Werk und Leben, Heidelberg 2001, dazu W.-L. Liebermann, GFA 6 (2003) 1029-1046. Nicht mehr berücksichtigt werden konnte N. Holzberg, Horaz. Dichter und Werk, München 2009, ebenso wie T. Welch, Horace’s Journey through Arcadia, TAPhA 138 (2008) 47-74, wo es u.a. um die Rolle der epikureischen Philosophie in sat. 1, 5 geht. 14 Unten S. 116-130. 15 Die Übersetzungen stammen vom Verfasser. <?page no="114"?> Ulrich Schmitzer 102 Das große Rom hatte ich verlassen, da empfing mich Aricia mit mäßiger Gastfreundschaft. Begleiter war der Redner Heliodorus, der bei weitem Gelehrteste der Griechen. Von dort nach Forum Appi, voll mit Seeleuten und übelwilligen Kneipenwirten. Diesen Weg teilten wir uns verzagt auf, für solche, die höher geschürzt sind als wir, ist es nur einer. Weniger beschwerlich ist die Via Appia für Langsame. Mit einem Mal, mit dem ersten Vers und darin dem ersten und letzten Wort, wird klar, daß der Ort der Handlung der bisherigen Satiren Rom war, das Horaz jetzt verläßt. Damit kommt erstmals auch eine räumliche Struktur in das Satirenbuch und seine Anordnung: Rom wird als Ort der Abwesenheit oder Präsenz Gegenstand der Dichtung, wie in 1, 8 16 und 1, 9, 17 wenn topographische Gegebenheiten in Rom eine fundamentierende Rolle spielen, wie in 1, 7, 18 Natürlich hat man immer, schon bei Porphyrio, wenn sich herausstellt, daß die Handlung unter zu dieser Zeit in Rom nicht wohlgelittenen Personen spielt. Überraschend ist gewiss, daß die Einführung dieser topographischen Substruktur in einer Abgrenzung erfolgt, mit der Abreise weg von Rom. Daß der Weg fort von Rom führt, wird ohne Wehmut konstatiert (so ganz anders als Ovid in den Tristien), ja es wird sich zeigen, daß die Abwesenheit von Rom auch eine Möglichkeit darstellt, sich von den politischen Verstrickungen frei zu machen und aus der Dienstreise des Maecenas und dem sit venia verbo - Betriebsausflug des Maecenaskreises die Utopie eines auch inhaltlich von der römischen Politik entfernten Zusammenlebens zu entwerfen. Aber wir eilen voraus: 19 gesehen, daß der Hintergrund des Textes eine hochpolitische Angelegenheit ist. So liest man bei Michèle Lowrie: 20 „Satires 1 is the collection least overtly concerned with Caesar ... in Satires 1.5, the journey to Brundisium, the poet’s resolute focus on his experience and friends (Hortensius, Maecenas, Plotius, Varius and Vergil) tantalises, given the importance of the treaty to be enacted at the journey’s end. Antony and Caesar are not even mentioned. Horace coyly embellishes his own social importance, but removes himself from politics.” 16 F. Felgentreu, Horaz, Satiren 1, 8 und die Vielfalt der Einfalt, Hyperboreus 5 (1999) 257- 282. 17 U. Schmitzer, Vom Esquilin nach Trastevere. Hor. sat. 1, 9 im Kontext zeitgenössischen Verstehens, in: S. Koster (Hrsg.), Horaz-Studien, Erlangen 1994, 9-30. 18 J. Henderson, On Getting Rid of Kings: Horace, Satire 1. 7, CQ 44 (1994) 146-170. 19 Porphyr. sat. 1, 5, 27: Dissensione orta inter Caesarem Augustum Antoniumque Luci[li]us <Cocceius> Nerua auus eius, qui postea imperauit, petit a Caesare, ut aliquem, cum quo de summa rerum tractaret, mitteret Tarracinam. 20 M. Lowrie, Horace and Augustus, in: S. Harrison (Hrsg.), The Cambridge Companion to Horace, Cambridge 2007, 77-92, hier: 81. <?page no="115"?> Der Maecenaskreis macht einen Ausflug 103 Es geht 21 um die Verhandlungen von Tarent im Jahr 27 zwischen den Emissären des Octavian und Antonius um die Bewahrung des Vertrags von Brindisi aus dem Jahr 40 und die Fortsetzung des Triumvirats zwar nach dem Ende der Caesarmörder, aber im Schatten des keineswegs ausgestandenen Konflikts mit Sextus Pompeius, 22 Es ist eine allzu große interpretatorische Bequemlichkeit, die allerdings schon auf Porphyrio zurückreicht, die Satire aus dem stark fragmentierten sog. iter Siculum des Lucilius zu erklären. Widu-Wolfgang Ehlers hat schon vor mehr als zwanzig Jahren auf die damit verbundenen hermeneutischen Zirkelschlüsse hingewiesen, ebenso auf die Unmöglichkeit, Horaz’ Text allein aus der aemulatio mit Lucilius oder gar dem Reiserlebnis erklären zu wollen. also um nichts weniger als um die Frage, wie eine sich abzeichnende Fortsetzung der Bürgerkriege doch noch zu verhindern ist. Vor dieser Kulisse klingen Inhalt und Sprache der Satire 1, 5 zu Beginn betont unspektakulär: Sie ist in der Tradition als iter Brundisinum bekannt geworden, also als poetischer Reisebericht. Doch ist selbst bei dieser rezeptionsgeschichtlichen Akzentuierung zu bedenken, daß sich das Ziel der Reise ja dem Erstrezipienten nicht von vornherein erschließt, vielmehr gibt erst der letzte Vers (Brundisium longae finis chartaeque viaeque est) den Endpunkt der Reise an (nicht Tarent, wie der politisch interessierte Leser vielleicht erwarten könnte), einer Reise, deren Route sich im Lauf des Textes allmählich entfaltet. 23 Ebenso wird erst im Lauf des Textes enthüllt, wer denn alles mit Horaz unterwegs war. Der erste genannte comes, der griechische Redner Heliodorus, ist nicht geeignet, besondere Aufmerksamkeit beim Publikum zu wekken, weiß doch nicht einmal der notorisch auskunftsfreudige Porphyrio etwas über ihn zu vermelden. Dennoch kann ich mich dem durchaus reizvollen Vorschlag von Emily Gowers nicht anschließen, in Heliodorus nicht eine reale Person, sondern in synekdochischer Verwendung einen schriftlichen Reiseführer zu sehen. Aber natürlich wird das kundige Publikum recht bald die parallele itinerarische Struktur der beiden Texte bemerkt haben, aber damit zugleich auch die fundamentalen Unterschiede. 24 21 Zum politischen Hintergrund ist als verläßliche Basis stets heranzuziehen D. Kienast, Augustus. Prinzeps und Monarch, Darmstadt 3 1999, bes. 51-54. Denn das paßt nicht zum auf persönlicher Interaktion beruhenden Duktus der Satire. Dagegen ist der ebenfalls von Gowers stammende Gedanke durchaus plausibel, daß der Abschied von Rom auch eine Abkehr von spezifisch römischer Dichtungsform sei, nur ist die Sache wohl noch ein wenig komplexer: Denn gerade aus dieser poetischen Distanz erfolgt eine literarische Auseinandersetzung mit Rom und den dort verbreiteten gesellschaftlichen Verhaltensweisen. 22 Vgl. A. Powell/ K. Welch, (Hrsgg.), Sextus Pompeius, London 2002. 23 W. W. Ehlers, Das Iter Brundisinum des Horaz (Serm. 1, 5), Hermes 113 (1985) 69-83. 24 E. Gowers, Horace, Satires 1.5. An inconsequential journey, PCPhS 39 (1993) 48-66. <?page no="116"?> Ulrich Schmitzer 104 Für insgesamt 26 Verse wird der Leser in der Illusion gelassen, Horaz beschreibe eine harmlose Landpartie, sei es zu zweit mit Heliodor, sei es mit einer ungenannten Zahl von Gefährten, die alle im Plural nos und den entsprechenden Verbformen subsumiert sind. Erst dann, bei der Erwähnung des Aufenthalts in Anxur (dem heutigen Terracina) werden zwei weitere Namen genannt (sat. 1, 5, 27-33): huc venturus erat Maecenas optimus atque Cocceius, missi magnis de rebus uterque legati, aversos soliti componere amicos. hic oculis ego nigra meis collyria lippus illinere; interea Maecenas advenit atque Cocceius Capitoque simul Fonteius, ad unguem factus homo, Antoni non ut magis alter amicus. Hierher sollte Maecenas kommen, der vortreffliche, und auch Cocceius, beide geschickt in wichtigen Angelegenheit als Gesandte, die es gewohnt waren, einander entfremdete Freunde zusammenzubringen. Hier bestrich ich meine Augen mit einer schwarzen Salbe, da sie entzündet waren. Inzwischen kam Maecenas an und auch Cocceius sowie zugleich Fonteius Capito, ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, ein Freund des Antonius wie kein zweiter. Horaz umschreibt in aller Kürze, aber auch aller Präzision den Zweck der Anwesenheit von Maecenas, Cocceius Nerva, der in der Tat sich das solitus als Attribut verdient hat, war er doch maßgeblich am Zustandekommen des ersten Abkommens von Brundisium beteiligt, 25 Um die zeitgenössische Wirkung dieser Verse zu rekonstruieren, ist es nötig, sich einige Grundtatsachen klar zu machen: Horaz war zum gedachten Zeitpunkt noch nicht sehr lange im Maecenaskreis darüber besteht in der Forschung Konsens. Allerdings muß man sich fragen, wie lange der Maecenaskreis in seiner wahrnehmbaren Form überhaupt schon bestand. Und man muß wohl konstatieren: allenfalls einige Jahre, wenn denn die Hinwendung Vergils zu Maecenas im Georgica-Proömium ein aussagekräftiges Indiz darstellt. Natürlich war es keineswegs singulär, daß sich um herausgehobene Persönlichkeiten intellektuelle Zirkel bildeten, die vom wechselseitigen Verhältnis von patronus und cliens profitierten, von Prestige und Protektion, von amicitia, die in ihrer unverkennbar innenpolitischen Ausprä- und auch Fonteius. Dem Publikum war bei dieser Personenkonstellation selbstverständlich klar, um welch hochpolitische Angelegenheit es hier ging. Und mancher hätte sicher für sein Leben gern gewußt, was denn die Emissäre (von Horaz mit dem politischen Terminus legati belegt) der beiden Seiten noch vor Beginn der offiziellen Verhandlungen zu bereden hatten. Horaz aber bedient dieses Informationsbedürfnis ganz und gar nicht, er klinkt sich vielmehr aus dieser Kommunikation völlig aus. 25 Vgl. D. Kienast, L. C. Nerva Cos. suff. 39 v. Chr., NP 3 (1997) 48f. <?page no="117"?> Der Maecenaskreis macht einen Ausflug 105 gung nicht nur die römische Gesellschaft, sondern auch das römische Denken prägte. Im Rahmen eines solchermaßen strukturierten Zirkels hätte bei einer politischen oder militärischen Mission Horaz durchaus seinen Platz gehabt, nämlich in der cohors amicorum (die z.B. bei Cicero in den Briefen öfter erwähnt wird, z.B. Att. 7, 1, 6; fam. 3, 6, 5). So heißt es etwa normgemäß bei Tibull 1, 3, 1-2: Ibitis Aegaeas sine me, Messalla, per undas, O utinam memores ipse cohorsque mei! Ihr werdet über die Wellen der Aegaeis fahren, Messalla, ohne mich. O daß doch du selbst und auch deine Begleiterschar an mich denken mögen. Maecenas nun enttäuschte die übliche Erwartungshaltung in Rom, indem er zwar kraft seiner Autorität als politischer Ratgeber des Octavian und dann Augustus in Erscheinung trat, aber für sich keinerlei Karriereposten anstrebte. Wie verstörend das auf aufstiegsorientierte Römer wirkte, zeigt sich an den völliges Unverständnis offenbarenden Worten des Velleius Paterculus (2, 88, 2): <erat> tunc urbis custodiis praepositus C. Maecenas, equestri sed splendido genere natus, uir, ubi res uigiliam exigeret, sane exsomnis, prouidens atque agendi sciens, simul uero aliquid ex negotio remitti posset, otio ac mollitiis paene ultra feminam fluens, non minus Agrippa Caesari carus sed minus honoratus (quippe uixit angusti claui †paene† contentus), nec minora consequi potuit sed non tam concupiuit. Es war damals der Vorsteher der (stadtrömischen) Wache C. Maecenas, der aus ritterlichem, aber glänzendem Geschlecht stammte, ein Mann, sofern die Sache Wachsamkeit erforderte, fürwahr schlaflos, vorsorgend und bedacht handelnd, sobald aber er sich aus der öffentlichen Tätigkeit zurückziehen konnte, gab er sich der Muße und der Weichlichkeit beinahe mehr als eine Frau hin, und er war dem Caesar nicht weniger lieb als Agrippa, aber weniger von ihm geehrt (denn er lebte zufrieden mit dem schmalen Togasaum), und er konnte nicht lediglich Geringeres erreichen, sondern er bemühte sich nicht so sehr. Maecenas scherte aus den gängigen Kategorien der römischen Politik aus. Er entwickelte statt dessen eine kulturelle Parallelaktion zum Wirken des Augustus. Während dieser den Palatin zu einer Mischung aus Herrschersitz, religiösem Zentrum und kulturellem Archiv ausbaute aber letztlich über Statik und Musealisierung nicht hinaus gelangte -, schuf Maecenas auf dem Esquilin ein auf lebendigem Austausch basierendes kulturelles Reservoir. 26 Nicht nur siedelte er dort die Dichter an (belegt sind die Wohnsitze von Vergil, Horaz und Albinovanus Pedo, 27 26 Vgl. Ch. Häuber, Horti Maecenatis, LTUR 3 (1996) 70-74. das Haus des Properz ist sogar ge- 27 E. Rodríguez Almeida, Domus: Q. Horatius Flaccus, Domus Horatiana, LTUR 2 (1995) 116; ders., Domus: Albinovanus Pedo, ibid., 27f.; ders., Domus: P. Vergilius Maro, ibid. 212; <?page no="118"?> Ulrich Schmitzer 106 nau lokalisiert 28 ), sondern mit dem wohl mit Recht so genannten Auditorium 29 Dennoch muß der Maecenaskreis vor allem in der Anfangszeit nach außen wie ein üblicher politischer Interessenszirkel gewirkt haben. auch eine Versammlungsstätte, die man sich sehr gut als Ort der Erstrezitation von Horazens Satiren vorstellen kann. Es kann leicht sein, daß die Satire 1, 8 (auf die auf dem Esquilin aufgestellte Priapstatue) eine ironisch gebrochene Hommage an dieses Projekt der Kultivierung in vielfachem Sinne darstellt. Insgesamt ist dies ein Musterbeispiel für die politische Signifikanz der topographischen Diversifikation in der urbs über die Baupolitik des Princeps hinaus. Auch die bei Sueton bewahrte, anekdotisch verbrämte Rivalität zwischen Maecenas und Augustus um Horaz (Suet. Vita Hor. p. 45) zeigt sehr genau diese discordia concors, das Rivalisieren innerhalb der von der persönlichen und poetischen Freundschaft gesetzten Rahmenbedingungen. 30 haberes Ein Indiz dafür ist, wie vehement Horaz in der Satire 1, 9 die zu Unrecht „Schwätzersatire” genannten wird gegen dieses Bild anschreibt. Dort gelingt es bekanntlich Horaz nicht, den lästigen quidam abzuschütteln, der mit aller Macht über Horaz den Zugang zum Maecenaskreis erreichen will. Im zentralen Teil der Satire steuert jener unverhüllt auf sein Ziel zu (43-48): Er bietet Horaz seine Hilfe an, alle anderen Konkurrenten um die Gunst des Maecenas beiseite zu drängen. Er selbst fordere für sich zum Dank nicht mehr als eine dem Horaz, seinem Gönner, nachgeordnete Rolle (sat. 1, 9, 45-48): magnum adiutorem, posset qui ferre secundas, hunc hominem velles si tradere. dispeream ni summosses omnis'. Du hättest einen großen Helfer, der auch den zweiten Rang ertragen können, wenn du die Angelegenheit diesem Mann übergeben wolltest. Ich will zugrundegehen, wenn du nicht alle beiseite drücken würdest. Offenbar sieht sich Horaz bei einem so offenen Angriff genötigt, den bis dahin in dieser Satire vorherrschenden eher ironischen Ton aufzugeben und mit vollem Ernst und grundsätzlich zu replizieren (1, 9, 48-52): “non isto vivimus illic quo tu rere modo. domus hac nec purior ulla est, nec magis his aliena malis. nil mi officit” inquam, “ditior hic aut est quia doctior: est locus uni cuique suus.” 28 A. Grüner, Zur Topographie des Esquilin in der frühen Kaiserzeit. Das Haus des Properz Versuch einer Lokalisierung, Boreas 16 (1993) 39-55. 29 M. de Vos, Horti Maecenatis - „Auditorium“, LTUR 3 (1995) 74f. 30 Das folgende nach Schmitzer, Vom Esquilin nach Trastevere (wie Anm. 17) passim; vgl. zu Horaz und Maecenas in den Satiren auch Gowers, in Freudenburg (wie Anm. 35), 50-53. <?page no="119"?> Der Maecenaskreis macht einen Ausflug 107 “Nicht auf solche Weise, wie du glaubst, leben wir dort. Kein Haus ist reiner als dieses noch weiter entfernt von diesen Übeln. Keineswegs steht mir im Wege, so betone ich, daß dieser reicher ist oder jener gebildeter: Jeder hat den ihm zukommenden Platz.” Doch selbst jetzt noch mißversteht der ungebetene Bewerber Horaz vollkommen und glaubt, durch Potenzierung der bisher aufgewendeten Mühen am Ende noch zum Ziel kommen zu können (53f.): accendis, quare cupiam magis illi proxumus esse. Der weitere Verlauf der Satire muß uns hier nicht interessieren; wichtig ist für unsere Zwecke, daß der quidam für sein Ziel, Zugang zu Maecenas zu bekommen, die typischen Mittel der traditionellen römischen Politik aufwendet: Hartnäckigkeit, Protektion, Intrigen, Bestechung und Konkurrenzkampf. Horaz legt sie in geradezu direkter Übernahme aus der einschlägigen politischen Fachterminologie seinem Widersacher in den Mund (sat. 1, 9, 56-60): haud mi deero: muneribus servos corrumpam; non, hodie si exclusus fuero, desistam; tempora quaeram; occuram in triviis; deducam. nil sine magno vita labore dedit mortalibus. An mir soll es nicht liegen: Mit Geschenken will ich die Sklaven bestechen; ich will nicht nachlassen, auch wenn ich heute ausgesperrt sein werde; ich will nach Gelegenheiten suchen, will ihm an den Dreiwegen begegnen, ihn wegführen. Nichts hat das Leben den Sterblichen ohne große Mühe gegeben. Wenn auch nur im geringsten eine Korrelation zwischen Mittel und Zweck besteht, kann es dem quidam um nichts anderes als eine politische Karriere gehen. Für eine solche Absicht läßt sich kaum ein Geeigneterer finden als Maecenas, der enge Vertraute Octavians, dem schon Mitte der 30er Jahre die politische Zukunft zu gehören schien. Die Vermutung, der Maecenaskreis sei in Wahrheit in erster Linie ein politisches Sprungbrett, muß gerade in seiner Anfangszeit für Außenstehende nahegelegen haben. Diese Darstellung ex negativo in Satire 1, 9 wird unterstützt durch eine Lektüre der Satire 1, 6, besonders der Verse 54-62, wo Horaz von seiner ersten Begegnung mit Maecenas berichtet: optimus olim Vergilius, post hunc Varius dixere quid essem. ut veni coram, singultim pauca locutus (infans namque pudor prohibebat plura profari) non ego me claro natum patre, non ego circum me Satureiano vectari rura caballo, sed quod eram, narro. respondes, ut tuus est mos, pauca; abeo, et revocas nono post mense iubesque esse in amicorum numero. <?page no="120"?> Ulrich Schmitzer 108 Einst haben dir der treffliche Vergil, nach diesem Varius gesagt, wie ich sei. Als ich vor dich kam, sprach ich stockend wenig (denn die Scham machte mich stumm und hinderte mich, mehr kund zu tun) und, ich erzählte nicht, daß ich von einem berühmten Vater abstamme, nicht, daß ich um meine Ländereien mit einem tarentinischen Pferd reite, sondern w a s i c h w a r. Wie es deine Art ist, hast du wenig geantwortet; ich gehe weg, und du rufst mich nach neun Monaten zurück und bestimmst, daß ich zu deinen Freunden zählen sollte. Die Verbindungslinie zwischen 1, 6 und 1, 9, den beiden Satiren, in denen es am ausführlichsten um Maecenas und Horaz geht, besteht auch darin, daß es auch prosopographische Überschneidungen gibt (die übrigens bis in die Satire 2, 8 reichen), das eine Mal aus dem Mund des Satirenerzählers, das andere Mal aus dem des quidam (sat. 1, 9, 21-25): si bene me novi, non Viscum pluris amicum, non Varium facies. nam quis me scribere pluris aut citius possit versus? quis membra movere mollius? Wenn ich mich recht einzuschätzen weiß, wirst du nicht deinen Freund Viscus, nicht Varius höher schätzen: Denn wer kann mehr oder schneller Verse schreiben als ich? Wer sich geschmeidiger im Tanz bewegen? In beiden Satiren, 1, 6 wie 1, 9, ist jeweils von amicitia 31 die Rede, ein Terminus, der im traditionellen römischen Denken die auf Interessengleichklang gründende innenwie außenpolitische Zweckbeziehung bezeichnet, 32 Die Satire 1, 5 steht unmittelbar vor der großen Maecenas-Satire 1, 6. Sie bildet also den Auftakt und die notwendige Vorbereitung. Die Werte des Maecenas-Kreises werden hier gewissermaßen performativ und itinerarisch eingeführt: Der Weg fort von Rom nach Brindisi erweitert nicht nur stetig den Kreis der Anwesenden (die ja auch, selbst wenn sie sich wieder verabschieden müssen wie in 1, 5, 93 Varius als Namen im Bewußtsein der Reiseteilnehmer präsent bleiben), vielmehr bieten die einzelnen Stationen auch Gelegenheit, um den Umgangston und die gemeinsamen Aktivitäten lebendig werden zu lassen. Sie bilden - so erweckt die Lektüre den Anschein - den eigentlichen Kern des Geschehens. Vor dem Hintergrund eines mehr als die zweckfreie Seelenverwandtschaft, mochte auch bereits Cicero versucht haben, diesen nicht-utilitaristischen Zug auch im römischen Denken zu verankern. 31 Vgl. A. Heil, Gespräche über Freundschaft. Das Modell der amicitia bei Cicero und Horaz, in: A. Haltenhoff/ A. Heil/ F.-H. Mutschler (Hrsgg.), Römische Werte als Gegenstand der Altertumswissenschaft, München 2005 (Beiträge zur Altertumskunde 227) 107-124. 32 Vgl. K. Verboven, The Economy of Friends. Economic Aspects of Amicitia and Patronage in the Late Republic. Bruxelles 2002; J. Spielvogel, Amicitia und res publica. Ciceros Maxime während der innenpolitischen Auseinandersetzungen der Jahre 59-50 v. Chr., Stuttgart 1993. <?page no="121"?> Der Maecenaskreis macht einen Ausflug 109 in Rom allgemein bekannten Vorgangs betont Horaz den Vorrang der nicht politischen, nicht zweckorientierten amicitia. Es scheint mir ziemlich sicher, daß das Publikum in Rom auch in der Satire 1, 5 sich in seiner prinzipiell gehegten Erwartung, über politische Vorgänge auch politische Auskünfte zu bekommen, enttäuscht sah, es zumindest verwundert zur Kenntnis nahm. Horaz entzieht sich in dieser spezifischen Form der recusatio der Lesererwartung. So gelesen bekommt auch der erste, bereits zitierte, aber hier nochmals wiederholte Auftritt des Maecenas einen neuen Akzent (sat. 1, 5, 27-33): huc venturus erat Maecenas optimus atque Cocceius, missi magnis de rebus uterque legati, aversos soliti componere amicos. hic oculis ego nigra meis collyria lippus illinere; interea Maecenas advenit atque Cocceius Capitoque simul Fonteius, ad unguem factus homo, Antoni non ut magis alter amicus. Hierher sollte Maecenas kommen, der vortreffliche, und auch Cocceius, beide geschickt in wichtigen Angelegenheit als Gesandte, die es gewohnt waren, einander entfremdete Freunde zusammenzubringen. Hier bestrich ich meine Augen mit einer schwarzen Salbe, die sie entzündet waren. Inzwischen kam Maecenas an und auch Cocceius sowie zugleich Fonteius Capito, ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, ein Freund des Antonius wie kein zweiter. Horaz konstatiert die politische Mission von Maecenas, Cocceius und Fonteius, er beschreibt sowohl pointiert als auch zutreffend den Gegenstand ihrer Mission, aber doch mit deutlicher Distanz. Die amici der drei sind nicht die des Dichters: Horaz ist demonstrativ desinteressiert an ihrem Zusammentreffen. Er kümmert sich um seine erkrankten Augen, nicht um große Politik. Der Kontrast könnte kaum größer sein zur Schilderung, als die wahren Freunde des Horaz erscheinen (sat. 1, 5, 39-44): Postera lux oritur multo gratissima; namque Plotius et Varius Sinuessae Vergiliusque occurrunt, animae qualis neque candidiores terra tulit neque quis me sit devinctior alter. o qui complexus et gaudia quanta fuerunt! nil ego contulerim iucundo sanus amico. Der folgende Tag bricht an und er ist höchst willkommen. Denn Plotius und Varius begegnen in Sinuessa und auch Vergil, Seelen, wie sie reiner es nie auf Erden gab und mit denen kein zweiter enger verbunden ist als ich. O welche Umarmungen und wieviel Freude gab es da. Nichts wollte ich, solange ich bei klarem Verstand bin, mit einem willkommenen Freund vergleichen. Man wird ein wenig den Verdacht nicht los, daß Horaz die Freundschaft mit den schon arrivierteren Angehörigen des Maecenaskreises geradezu herbei- <?page no="122"?> Ulrich Schmitzer 110 zuschreiben versucht. 33 Dennoch ist der Kontrast zwischen der Sphäre der geistigen Freundschaft und der Sphäre der politischen Freundschaft überdeutlich und konzeptuell gewollt. 34 Hat man das einmal gesehen, dann wird auch der Rest der Satire besser verständlich. Die so harmlosen und belanglosen Begebenheiten die schon häufig vorgenommene Aufzählung sei hier ausgespart sind ebenfalls eine ganz demonstrative Abkehr von der Sphäre der Politik. Man geht menschlich, humorvoll miteinander um, von gleich zu gleich gewissermaßen (sat. 1, 5, 48-51): lusum it Maecenas, dormitum ego Vergiliusque; namque pila lippis inimicum et ludere crudis. hinc nos Coccei recipit plenissima villa, quae super est Caudi cauponas. Zum Spiel geht Maecenas, schlafen ich und Vergil. Denn das Ballspiel ist für Augenkranke und solche, die sich den Magen verdorben haben, schädlich. Danach empfing uns das reich ausgestattete Landhaus des Cocceius, die oberhalb der Schänken von Caudium liegt. Und wenn einer aus der Runde gehen muß, dann wird das gebührend betrauert (sat. 1, 5, 93): flentibus hic Varius discedit maestus amicis. Hier verließ Varius traurig uns, seine weinenden Freunde. Politik findet im expliziten Text der Satire nur auf einer sehr herabgestuften Ebene statt, wenn ein lokaler Beamter glaubt, sich wie im großen Rom (das ja dezidiert verlassen ist) geben zu müssen (sat. 1, 5, 34-36): Fundos Aufidio Lusco praetore libenter linquimus, insani ridentes praemia scribae, praetextam et latum clavum prunaeque vatillum. Fundi unter seinem Praetor Aufidius Luscus verlassen wir gerne, lachend über die Ausstattung des verrückten Schreibers, die Praetexta und den breiten Purpurstreifen und die glühende Kohlenpfanne. Daß hier Horaz mit seinem eigenen Status als scriba quaestorius 35 Zwischen einem Praetor in Rom und einem Schreiber in der Provinz ist kaum ein kategorialer Unterschied. spielt, ist längst gesehen, allerdings ist an dieser Stelle auch zu berücksichtigen, daß Horaz damit auch die stadtrömischen politischen Kategorien herunterspielt: 33 Vgl. R. Thomas, Virgil and the Augustan reception, Cambridge 2001, 55-73. 34 Vgl. auch K. Freudenburg, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Companion to Roman Satire (wie Anm. 35 ), 11f. mit weiterer Literatur. 35 E. Gowers, Horace, Satires 1 and 2, in: K. Freudenburg, (Hrsg.), The Cambridge Companion to Roman Satire, Cambridge 2005, 49f. <?page no="123"?> Der Maecenaskreis macht einen Ausflug 111 Was bezweckt nun aber Horaz mit seiner Erzählstrategie? Widu- Wolfgang Ehlers hat 1985 im bereits erwähnten Aufsatz, 36 der sich in vielem mit den hier vorgetragenen Erwägungen trifft, vorgeschlagen, darin eine spezielle Form der recusatio zu sehen: 37 „Hinter der gespielten Verständnislosigkeit des Dichters gegenüber der Politik scheint sich eine weitere Absicht zu verbergen: die Abweisung eines von Maecenas an die Mitglieder seines Förderkreises gerichteten Anspruchs einer stärker im weiteren Sinne politischen Dichtung, vielleicht einer epischen Darstellung historischer Vorgänge ... Wenn Maecenas auch Horaz gegenüber in dieser Zeit den Wunsch nach politischer Dichtung geäußert hat, dann stehen auch die epischen Anklänge in der Satire in einem neuen Licht. Sie sind nicht Parodie ..., sondern anschauliche Darstellung dessen, daß dem Dichter der epische Atem fehlt ...“ Dem stimme ich gerne zu, doch glaube ich, daß damit immer noch nicht das aktuelle Potential der Satire ausgeschöpft ist. Etwa gleichzeitig (1984) veröffentlichte DuQuesnay mit dem Beitrag „Horace and Maecenas” 38 die bis heute ausführlichste, auch prosopographisch gestützte politische Deutung der horazischen Satiren. Er setzt sie in den Bürgerkriegskontext der Jahre 38 bis 36 v. Chr., also vor allem der prekären Situation für Octavian angesichts der konkreten Bedrohungen durch Sextus Pompeius und des ungeklärten Verhältnisses zu Antonius. Auch er sieht in der Satire 1, 5 vor allem einen Blick auf das Verhältnis zwischen Horaz und Maecenas: 39 The poem exudes an atmosphere of good-natured humour and co-operation. It makes it hard to believe that there was a real danger of war between Octavian and Antonius. In other words the poem justifies the propaganda of the Triumvirs, who advertised their conituing friendship after Tarentum. That also was the public image through 36 and 35. Gerade durch den Verzicht auf offenes Octavian-Lob und offene Kritik an Sextus Pompeius zeige sich auch der Propagandawert der Satiren insgesamt: 40 When the satires are considered against this background, it becomes clear that they constantly reflect and echo this debate, both in their choice of themes and in small details ..., and that they consistently contribute to it from one particular point on the political stage. Horace, it must be emphasised, is not writing as a detached observer, but as a friend of Maecenas. It also becomes clear on reflection that the image of Maecenas’ friends which emerges from the poems is so precisely suited to the political requirements of the mid-thirties and so exactly calculated to allay the fears and anxieties of Horace’s contemporaries about the intentions, am- 36 Siehe oben Anm. 23. 37 Ehlers (wie Anm. 23) 78. 38 Siehe oben Anm. 9. 39 DuQuesnay (wie Anm. 9) 40. 40 DuQuesnay (wie Anm. 9) 57. <?page no="124"?> Ulrich Schmitzer 112 bitions and moral character of their new leaders that it is just not possible to suppose this effect to be accidental. Wie gesagt, diese politisch-funktionsgeschichtliche Einbettung steht in der Satirenforschung singulär da. Es wäre dringend zu wünschen, daß sie auch auf der Basis der differenzierteren Kenntnis des römischen politischen Systems in der Zeit des Übergangs von der Republik zum Prinzipat fortgeführt würde. Eine mögliche Probe aufs Exempel ist die Satire 1, 7, die Anekdote aus der Zeit des Bürgerkriegs im Lager des Brutus. Sie beginnt wie eine Alltagsgeschichte, die gesamte erste Hälfte wird der zeitgeschichtliche Hintergrund nur durch ein einziges Wort proscripti angedeutet, erst nach der Hälfte wird klar, daß hier nicht ein zeitlos-harmloses Ambiente, sondern eine konkrete zeitgeschichtliche Situation gemeint ist (kurz vor der Schlacht von Philippi). Horaz geht hier gewiß ein nicht ganz unerhebliches Risiko, denn frivole Scherze über den Tyrannenmord wurden auch nach dem Tod der Caesarmöder keineswegs bei allen gern gehört, stellte doch Augustus noch Jahrzehnte danach seine Res gestae unter das Motto der ultio genauso wie die Weihe des Mars Ultor-Tempels auf dem Augustusforum, beging doch Labienus-Rabienus Selbstmord, als seine caesarfeindlichen Bücher von Augustus indiziert worden waren, und wurde ein Cremutius Cordus noch unter Tiberius wegen maiestas zum Tode verurteilt, weil er Brutus und Cassius als die letzten Römer gepriesen hatte. Was hat nun Horaz dazu bewogen, dennoch die unmittelbare römische Zeitgeschichte die ja im emphatischen Sinn auch seine eigene war nicht totzuschweigen, sondern geradezu offensiv aufzugreifen? Mir scheint darin ein Plädoyer für einen neuen, von den traditionell republikanischen Gewohnheiten radikal unterschiedenen Politikstil zu liegen. Nicht mehr Konfrontation zwischen mehreren Gruppierungen (das Freund-Feind-Denken nach Art von Carl Schmitt) bis hin zum Bürgerkrieg -, auch nicht mehr Rivalität zwischen den verschiedenen Klientelen sollen das Feld beherrschen, so daß auch Platz für die auf innere Werte gegründete Beziehung innerhalb der amicitiae würde (wie es zumindest in der Projektion Ciceros der Scipionenkreis vorgemacht hatte, zu dem ja auch der Satiriker Lucilius gehört hatte). Man darf allerdings nicht in die autobiographische Falle tappen und das, was der Sprecher der Satiren, das satirische Ich, von sich gibt, mit der ureigenen Meinung des Horaz verwechseln. Die Aggressivität, mit der etwa die Epode 4 mit dem Repräsentanten des Bürgerkriegsgegners in beinahe Carl Schmitt’schen Kategorien umgeht, sollte davor warnen. 41 41 U. Schmitzer, Von Wölfen und Lämmern, in: S. Koster, (Hrsg.), Horaz-Studien. Erlangen 1994, 31-50. <?page no="125"?> Der Maecenaskreis macht einen Ausflug 113 Das Verfahren in den Satiren trifft sich in ganz erheblichem Umfang mit dem, was Augustus bzw. Octavian anstrebte. Schon nach Philippi, mehr noch nach Naulochos und Actium griff er eben nicht zum Mittel der Ausmerzung der nunmehr besiegten Gegner, sondern zu ihrer Integration in die neue, postrevolutionäre Staatsform bis hin zur Ehe mit der Tochter eines ehemaligen Feindes. Horaz scheint in sat. 1, 7 zu ebensolcher retrospektiver Integration in den Text des römischen Denkens zu streben (und insofern ist ein literarisches Experiment wie die Satiren dafür das geeignete Tableau). Brutus erhält auf der Textebene eine gleichberechtigte Rolle mit dem übrigen Personal der Satiren. Daß Octavian diesen tentativen, indirekten Bemühungen des Horaz zur Rehabilitierung auch seiner eigenen Vergangenheit nicht gefolgt ist, spricht nicht prinzipiell gegen die Erfolgsaussichten des Projekts. Auf jeden Fall wird auch hier wieder deutlich, wie Horaz die politischen Rahmenbedingungen einer bestimmten Begebenheit keineswegs zu leugnen sucht, aber sie gegenüber der internen Kommunikationssituation innerhalb eines Freundeskreises deutlich in die zweite Reihe verweist. Auch in dieser Hinsicht gehören 1, 5 und 1, 8 zusammen, nicht nur durch die Abwesenheit von Rom. Der satirische Horaz plädiert für einen integrativen, nicht kompetitiven oder gar aggressiven Politikstil, die zugegebenermaßen außer Kontrolle geratene politische Praxis der späten Republik ist die implizite Folie, gegen deren Inhalte er anschreibt. Man kann in einem emphatischen Sinn gar vom angestrebten Verschwinden der Politik sprechen, wenn denn das Politische mit Christian Meier das öffentliche Ringen um die beste Verfassung und die besten Gesetze bedeutet. Horaz spart allerdings als Leerstelle aus, was denn an die Stelle dieses Konkurrenzkampfes treten soll, was die reine Welt der geistigen amicitia ermöglichen soll. Es wäre wohl im generischen Sinne unsatirisch, würde Horaz hier für den starken Mann plädieren, aber implizit setzt das zu erschließende Bild der idealen Politik just eine solche Figur voraus, die die Konflikte dadurch weitgehend aus der Welt schafft, daß sie den Staat in einer einzigen Person aufgehen läßt, in der Person des Princeps eben, wie Augustus dann die res publica restituierte, indem er sie überwand. Paul Zanker hat ja in seinem Klassiker „Augustus und die Macht der Bilder” 42 42 München 1987; vgl. U. Schmitzer, Friede auf Erden? (oben Anm. 10) sowie ders., Die Macht über die Imagination. Literatur und Politik unter den Bedingungen des frühen Prinzipats, RhM 145 (2002) 281-304. gezeigt (bei allem Dissens im Detail), wie es Augustus gelang, die Tagespolitik in die Welt der Rituale und Bilder zun entkonkretisieren und eine “Atmosphäre des Konsenses” entstehen zu lassen. Ich will nicht so weit gehen und die Satiren als ein Propagandastück für die Ziele Octavians lesen, davor sollte schon die Chronologie warnen, aber es geht auf einem speziellen, partikularen Terrain um eine parallele Unternehmung, was auch zeigt, <?page no="126"?> Ulrich Schmitzer 114 daß Augustus mit dem ihm eigenen Machtinstinkt vielleicht ebensosehr vorhandene Wünsche und Sehnsüchte bediente, wie selbst kreativ hervorbrachte. In anderer Weise gehören hierher auch die Carmina, v.a. die Römeroden, die ebenfalls eine Entkonkretisierung und Mythisierung der Zeitgeschichte vornehmen. Es ist wohl der noch keineswegs gesicherten innenpolitischen Lage zuzuschreiben (die Anekdote über die beiden gelehrigen Raben, die alternativ ave Caesar und ave Antoni sprechen konnten, hat erheblichen tatsächlichen Wahrheitsgehalt: Macrob. Sat. 2, 4, 29), daß die Literatur der präaugusteischen Epoche eine Reihe von Werken aufzuweisen hat, die wesentlich „augusteischer” sind als das meiste, was danach verfaßt wurde. Vergils Eklogen und Horaz’ Satiren gehören dazu, augusteisch in dem Sinn, daß sie einen eigenständigen Beitrag zur sich herausbildenden politisch-kulturellen Welt des künftigen Prinzipats bildeten, was partikularen Dissens zur konkreten Politik und persönlich-poetisches Unabhängigkeitsstreben keineswegs ausschloß. Kehren wir damit ein letztes Mal zur Satire 1, 5 zurück, zu ihrem Schluß (sat. 1, 5, 96-104): postera tempestas melior, via peior adusque Bari moenia piscosi. dein Gnatia Lymphis iratis exstructa dedit risusque iocosque, dum flamma sine tura liquescere limine sacro persuadere cupit. credat Iudaeus Apella, non ego; namque deos didici securum agere aevum, nec si quid miri faciat natura, deos id tristis ex alto caeli demittere tecto. Brundisium longae finis chartaeque viaeque est. Das Wetter am folgenden Tag ist besser, die Straße schlechter bis zu den Mauern des fischreichen Bari. Sodann gab uns Gnatia, das errichtet ist den Wassern zum Trotz, Lachen und Scherze, während man uns zu überzeugen versuchte, daß der Weihrauch ohne Feuer auf der heiligen Schwelle flüssig wird. Das mag der Jude Apella glauben, ich nicht. Denn ich habe gelernt, daß die Götter ihre Zeit sorgenfrei hinbringen, und nicht, wenn die Natur etwas Merkwürdiges macht, die Götter sich darum sorgen und es vom hohen Himmelszelt herabschicken. Horaz gibt hier klar zu verstehen, daß er nicht mehr der alten Trasse der Via Appia folgt, 43 43 Vgl. G. Pisani Sartorio, Via Appia Antica Regina Viarum: Ursprung und Geschichte, in: I. Della Portella (Hrsg.), Via Appia. Entlang der bedeutendsten Straße der Antike, Stuttgart 2003, 14-39, bes. 28 (der gesamte Band ist eher populär gehalten, unsere Satire dient als eine Art von Reiseführer); St. Quilici Gigli (Hrsg.), La Via Appia, 1990 . - Historische Aufnahmen, die eher den antiken Zustand evozieren können als die aktuelle Topographie, finden sich in: Sulla Via Appia da Roma a Brindisi. Le fotografie di Thomas Ashby 1891-1925, Roma 2003. sondern der auch unter dem Namen Via Minucia bekannten, <?page no="127"?> Der Maecenaskreis macht einen Ausflug 115 weiter östlich verlaufenden Wegführung. Er selbst gibt in epist. 1, 18, 20 ja die Alternative an: Brundisium Minuci melius via ducat an Appi. Ob nun nach Brundisium besser die Straße des Minucius oder die des Appius führt. Gewiß war es für die Reisegesellschaft sinnvoll, sich zuerst nach Brundisium zu begeben (ganz egal auf welchem Weg), da auch Antonius ursprünglich dorthin zu Schiff kommen wollte, aber daran gehindert wurde, so daß das Zusammentreffen schließlich in Tarent zustandekam (wo dann über die Verlängerung des Triumvirats verhandelt wurde). Dennoch ist es auffällig, daß Horaz die dadurch nötige letzte Etappe nicht mitmacht, sondern abrupt seinen Text schließt. Emily Gowers hat im Kontext ihrer Gesamtinterpretation der Satire als einer spezifischen recusatio das als eine poetischpoetologische Entscheidung charakterisiert, die Vermeidung des von Lucilius genannten Ortes und damit auch die Abgrenzung gegenüber Lucilius. 44 Mir scheint eine solche aufs Politische zielende Interpretation abermals in den Tenor der gesamten Satire zu passen: Horaz findet seinen eigenen Abschluß der Reise (auch Freudenburg deutet eine Beobachtung in diese Richtung an), Das schließt jedoch eine abermals politische Deutung nicht aus. 45 Das Private in den hier vorgestellten Satiren des Horaz ist also in dem Sinn politisch, daß die alte Politik eine Politik der Partikularinteressen und der Konkurrenz überwunden werden soll. Man kann durchaus in modernem Sinn von einer reaktionären Politikauffassung, einer harmonisierenden Sozialutopie sprechen, in der Zeit des Horaz war sie aber zukunftsträchtig. Die Satiren haben auf spezifisch literarische Weise Anteil an der Genese des Prinzipats. die politische Dimension interessiert ihn auch ganz zum Schluß nicht, ja er verabschiedet sich offenbar gezielt aus der Mission. Somit bekommt die unmittelbar zuvor eingefügte Anekdote über das merkwürdige Weihrauchphänomen eine eigene Signifikanz. Die epikureische Götterlehre und Ethik wird in ihrer populären, satiregemäßen Version für Horaz auch zum mutato nomine de te fabula narratur, die eigene Rechtfertigung der Abgrenzung zu den als politische Händel empfundenen öffentlichen Aktivitäten in Rom zugunsten einer Freundschaft im tatsächlichen oder virtuellen kepos. 44 Siehe oben Anm. 35. 45 K. Freudenburg, Satires of Rome. Threatening Poses from Lucilius to Juvenal, Cambridge 2001, 58. <?page no="128"?> Niklas Holzberg Satire und Selbstreflexion in Horaz’ zweitem Epistelbuch. Die großen Literaturbriefe - linear gelesen Horaz läßt seinen Brief an Augustus mit einem Auftakt von vier Versen beginnen: Cum tot sustineas et tanta negotia solus, res Italas armis tuteris, moribus ornes, legibus emendes, in publica commoda peccem, si longo sermone morer tua tempora, Caesar. Hier ist, wie Eduard Fraenkel treffend formuliert, „[d]as Wesen des augusteischen Regimes ... in drei kraftvollen Satzgliedern umrissen.“ 1 Der Dichter zeichnet dadurch am Anfang seines zweiten Epistelbuches mit wenigen Strichen ein Porträt des Herrschers, und er stellt es, wie ich meine, seinem am Ende des ersten Epistelbuches plazierten Selbstporträt (20, 20-28) gegenüber. Wieder einmal schlägt Horaz damit eine Brücke zwischen zwei libri, die zu einer Sammlung gehören. So knüpft er in sat. 2, 1, 1-4 durch seine Bemerkung über die Reaktion seines Publikums auf das erste Satirenbuch direkt an dieses an; so leitet er durch die alkäische Ode 1, 37 und die sapphische Ode 1, 38 metrisch und thematisch zu dem abwechselnd in den beiden Versmaßen verfaßten Zyklus der Oden 2, 1-11 über, 2 und so bereitet er auf ähnliche Weise mit den beiden alkäischen carmina 2, 19 und 20 den durchgehend in alkäischen Strophen geschriebenen Zyklus der „Römeroden“ (3, 1-6) vor. 3 Während zwischen die jeweilige Edition der beiden Satirenbücher maximal fünf Jahre fielen 4 und die libri 1-3 der carmina nur im Abstand von jeweils etwa einem Jahr aufeinander gefolgt sein dürften, 5 1 E. Fraenkel, Horaz, Darmstadt 1967, 450 (= Oxford 1957, 384). verstrichen seit dem Erscheinen des ersten Buches der Episteln bis zur Publikation des zwei- 2 M.M. Lowrie, Horace’s Narrative Odes, Oxford 1997, 169. 3 D.C. Feeney, Horace and the Greek Lyric Poets, in: N. Rudd (Hg.), Horace 2000: A Celebration. Essays for the Bimillennium, London 1993, 41-63 (dort S. 52); Lowrie (wie Anm. 2), 207; N. Holzberg, Horaz, München 2009, 147-149. 4 Buch 1: zwischen 35 und 33 v.Chr.; Buch 2: um 30 v.Chr. (U. Knoche, Die römische Satire, Göttingen 4 1982, 48f.). 5 Buch 1: 26 v.Chr.; Buch 2: Anfang 24 v.Chr.; Buch 3: 23 (G.O. Hutchinson, The Publication and Individuality of Horace’s Odes Books 1-3, CQ 52, 2002, 517-537; dort S. 528). <?page no="129"?> Satire und Selbstreflexion in Horaz‘ zweitem Epistelbuch 117 ten, in dem wir den Augustusbrief lesen, mindestens acht Jahre; 6 der Bogen, der sich von 1, 20, 20-28 nach 2, 1, 1-5 spannt, überdeckt also einen nicht unbeträchtlichen Zeitraum. Das vierte Odenbuch kam, wie Robin Nisbet mit guten Gründen vermutet, sogar erst rund dreizehn Jahre nach dem dritten heraus, 7 und dennoch ist es mit diesem durch den Rückbezug von 4, 1 auf 3, 26 und zudem durch das Zitat von 1, 19, 1 in 4, 1, 5 mit Oden Buch 1 eng verklammert. Wie man sieht, wünscht sich Horaz nicht nur lineare Lektüre seiner einzelnen libri - das haben mehrere Untersuchungen überzeugend herausgearbeitet 8 Sind nun aber als eine solche Sammlung auch die uns überlieferten zwei Epistelbücher zu betrachten? Laut handschriftlichem Befund schließt an das erste mit zwanzig Gedichten und einem Umfang von 1006 Versen, der etwas über dem Durchschnitt liegt, -, sondern auch seiner Sammlungen, soweit sie mehrere libri vereinen. 9 das zweite in ungewöhnlicher Form an: Es präsentiert nur zwei Gedichte, die Briefe an Augustus und Florus mit einer Gesamtzahl von 486 Versen, und wäre mithin nur ungefähr halb so lang wie das erste, wenn Horaz es allein aus diesen beiden Texten zusammengefügt hätte. In früheren Zeiten war folgendes nahezu communis opinio: Die sogenannte Ars poetica, ein den Episteln 2, 1 und 2 thematisch eng verwandter, an einen Piso und seine zwei jungen Söhne gerichteter sermo in 476 Hexametern, der in den Kodizes entweder als zweites Opus hinter Oden 1-4 oder zwischen Oden/ Epoden/ Carmen saeculare und Satiren/ Episteln steht, bildete ursprünglich als „Pisonenbrief“ zusammen mit Augustus- und Florusbrief das zweite Epistelbuch und darin den dritten Text. 10 6 Buch 1: 19/ 18; Buch 2: um 10 v.Chr. (R.G.M. Nisbet, Horace: Life and Chronology, in: S.J. Harrison, The Cambridge Companion to Horace, Cambridge 2007, 7-21; dort S. 15, 18 und 20). Zwar wird der Titel Ars 7 Nisbet (wie Anm. 6), 17: um 10 v.Chr. 8 Satiren: O. Knorr, Verborgene Kunst. Argumentationsstruktur und Buchaufbau in den Satiren des Horaz, Hildesheim u.a. 2004 (Beiträge zur Altertumswissenschaft 15); Epoden: W. Stroh, Horaz und Vergil in ihren prophetischen Gedichten, Gymnasium 100, 1993, 289-322 (dort S. 304); D.P. Mankin, Horace, Epodes, Cambridge 1995 (Cambridge Greek and Latin Classics), 10-12; Oden 1-3: M.S. Santirocco, Unity and Design in Horace’s Odes, Chapel Hill/ London 1986; Episteln 1: vgl. zuletzt R. Ferri, The Epistles, in: Harrison (wie Anm. 6), 121-131 (dort S. 125): „[T]he letters gain enormously from being read one after the other, indeed, they require a continuous reading“; Oden 4: A. Kerkhecker, Zur Komposition des vierten Horazischen Odenbuches, A&A 34, 1988, 124-143; alle Bücher: Holzberg (wie Anm. 3). 9 Zu Länge und Format antiker Buchrollen vgl. J. Van Sickle, The Book-Role and Some Conventions of the Poetic Book, Arethusa 13, 1980, 5-42 (dort S. 6-16). 10 Deshalb erscheint die sogenannte Ars poetica in den Ausgaben seit derjenigen des Henricus Stephanus von 1549 hinter dem Florusbrief. Die Plazierung hinter den Oden könnte damit zu erklären sein, daß man das „Lehrgedicht“ für das bedeutendste Werk des Horaz nach den Oden hielt, und vor die Satiren/ Episteln könnte sie jemand ge- <?page no="130"?> Niklas Holzberg 118 poetica schon durch Quintilian bezeugt (Inst. 8, 3, 60), und der Briefcharakter ist hier nicht so eindeutig verifizierbar wie in epist. 2, 1 und 2, aber Charisius spricht bekanntlich zweimal von einer epistula (GrLat 1, 202, 26; 204, 5), und zusammen mit Augustus- und Florusbrief umfaßt die „Dichtkunst“ insgesamt 962 Verse, also nur 44 weniger als Episteln Buch 1. Man kann sich ohne weiteres vorstellen, daß der an die Pisonen adressierte sermo von Horaz als Teil des zweiten Epistelbuches konzipiert, aber irgendwann zwischen dem Tod des Dichters und dem Erscheinen der Institutio oratoria von den beiden anderen Literaturbriefen 2, 1 getrennt wurde, weil irgendwelche Leser ihn als Lehrgedicht über die Dichtkunst, also als poetisches Werk sui generis, begriffen; Quintilian bezeichnet den Text sogar als liber de arte poetica. Somit ist auf jeden Fall möglich, daß Horaz das „Lehrgedicht“ als Epistel 2, 3 edierte, und Überlegungen zur Datierung können das bestätigen. Augustus- und Florusbrief enthalten Hinweise auf 11/ 10 v.Chr. als Zeit der Publikation, 11 und man darf sich die sogenannte Ars poetica in denselben Jahren entstanden denken. Denn es gibt gute Argumente dafür, daß der im Text angeredete Vater mit L. Calpurnius Piso Pontifex, dem Konsul des Jahres 15 v.Chr., zu identifizieren ist und daß dieser den dichtungstheoretischen sermo nach seiner Rückkehr von einem Feldzug in Thrakien 10 v.Chr. zusammen mit seinen beiden etwa 14 und 15 Jahre alten Söhnen dediziert bekam. 12 Einiges spricht mithin dafür, daß wir in den drei sermones ein Triptychon in Buchform zu sehen haben. Dennoch geht z.B. Andrew Laird, der Autor des Artikels „The Ars Poetica“ im Cambridge Companion to Horace von 2007, 13 mit größter Sicherheit davon aus, bei dem Gedicht hätten wir es wie beim Carmen saeculare mit einem in sich geschlossenen, außerhalb einer Sammlung veröffentlichten Buch zu tun, und darin stimmt ihm mancher Horaz- Forscher der jüngeren Gegenwart zu. 14 rückt haben, der wollte, daß sie an der Spitze der in Hexametern verfaßten Gedichte stehen. Wer sich die bisherige Diskussion 11 Nisbet (wie Anm. 6), 17 und 19f., datiert den Augustusbrief sicherlich mit Recht auf 11/ 10 v.Chr. Als zeitlichen Hintergrund des Florusbriefes denkt er sich Tiberius’ pannonischen Feldzug des Jahres 12 v.Chr. (S. 18), aber ebenso kämen die Kampagnen der Jahre 11 (Dalmatier) und 10/ 9 (Pannonier und Daker) in Frage. 12 Vgl. bes. D. Armstrong, The Addressees of the Ars poetica: Herculaneum, the Pisones and Epicurean Protreptic, MD 31, 1993, 185-230. 13 A. Laird, The Ars Poetica, in: Harrison (wie Anm. 6), 132-143. 14 Vgl. bes. D.A. Russell, Ars poetica, in: C.D.N. Costa, (Hg.), Horace, London/ Boston 1973 (Greek and Latin Studies: Classical Literature and Its Influence), 113-134 (dort S. 113); auch in: A. Laird, (Hg.): Ancient Literary Criticism, Oxford 2006, 325-345 (dort S. 325); C.O. Brink, Horace on Poetry. III: Epistles Book II: the Letters to Augustus and Florus, Cambridge 1982, 555; N. Rudd, Horace: Epistles. Book II and Epistle to the Pisones (‘Ars poetica’), Cambridge 1989 (Cambridge Greek and Latin Classics), 19 (vgl. dagegen noch seine Penguin-Übersetzung von 1979, wo er die sog. Ars „Epistles 2. 3“ nennt); B. Frischer, Shifting Paradigm: New Approaches to Horace’s Ars Poetica, Atlanta, Georgia 1991 (American Philological Association. American Classical Studies 27). <?page no="131"?> Satire und Selbstreflexion in Horaz‘ zweitem Epistelbuch 119 über das Für und Wider der Zuordnung des Pisonenbriefes zum zweiten Epistelbuch vor Augen führt, muß immerhin eines zugeben: Auf beiden Seiten wird so schlagkräftig argumentiert, daß wir uns momentan in einer Pattsituation befinden. Ich möchte daher einen Aspekt in die Debatte einbringen, der bisher überhaupt noch nicht berücksichtigt wurde, 15 aber m.E. von nicht unerheblicher Bedeutung ist: die Tatsache, daß Horaz seine Gedichtbücher sehr sorgfältig durchkomponierte und dabei die Texteinheiten erkennbar miteinander vernetzte. 16 Wenn sich nämlich bei linearer Lektüre der Episteln 2, 1 und 2 sowie der sogenannten Ars poetica die von den libri des Horaz (und auch von anderen antiken Gedichtbüchern 17 ) her vertraute verbale und motivische concatenatio nachweisen ließe, dürften sich diejenigen, welche die „Dichtkunst“ als Epistel 2, 3 lesen, in ihrer These auf textueller Basis bestätigt sehen. Ein sequential reading liefert nun tatsächlich, wie ich meine, wichtige Indizien für die Zusammengehörigkeit der ‚Ars‘ mit Augustus- und Florusbrief, aber das kann im Rahmen eines Aufsatzes natürlich nicht Vers für Vers demonstriert werden; das Thema böte genügend Stoff für eine Monographie. Ich beschränke mich deshalb darauf, exemplarisch einzelne Beobachtungen zu referieren. Den Schwerpunkt möchte ich auf Passagen in den drei Texten legen, an denen ihr satirischer Charakter zum Ausdruck kommt 18 - Horaz, der seine saturae vermutlich mit Sermones überschrieb, 19 Nachdem ich bereits zu zeigen versucht habe, daß ein Konnex zwischen dem Schluß des ersten und dem Beginn des zweiten Epistelbuches besteht, möchte ich jetzt zunächst einmal wahrscheinlich machen, daß auch ein gedanklicher Übergang von dem Brief an Augustus zu dem an Florus und von diesem zur „Ars poetica“ zu erkennen ist - zumindest anhand von Verbalbezügen. In den letzten sieben Versen von epist. 2, 1 heißt es (264-270): benutzte den Begriff in V. 5 des Augustusbriefes wohl programmatisch für den durch diesen eröffneten liber -, und solche, denen etwas über das Selbstverständnis des Dichters zu entnehmen ist. nil moror officium quod me gravat, ac neque ficto in peius voltu proponi cereus usquam nec prave factis decorari versibus opto, ne rubeam pingui donatus munere et una 15 R.S. Kilpatrick, The Poetry of Criticism: Horace, Epistles II and Ars poetica, Edmonton, Alberta 1990, 57 erklärt: „Horace intended us to read them [= Epist. 2, 1, 2, 2 und die Ars] together in sequence“, aber das ist alles, was er zu dem Thema zu sagen hat. 16 S. die Anm. 8 genannte Literatur. 17 Einen Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand gibt R. Höschele, Die blütenlesende Muse. Poetik und Textualität antiker Epigrammsammlungen. Diss. München (ms.), 17-33. 18 Er wurde von den Erklärern mehrfach hervorgehoben; speziell zur sog. Ars vgl. G.A. Seeck, Eine satirische Ars poetica für Piso. Bemerkungen zu Form und Absicht von Horaz epist. 2, 3, A&A 41, 1995, 142-160. 19 Knoche (wie Anm. 4), 49. <?page no="132"?> Niklas Holzberg 120 cum scriptore meo capsa porrectus operta deferar in vicum vendentem et piper et quicquid chartis amicitur ineptis. tus et odores Der poeta hat dem princeps unmittelbar zuvor erklärt, er halte sich für unfähig, panegyrisch über ihn zu dichten (250-259). Unter der Voraussetzung, daß Augustus es auch sehr mißfallen würde, von einem schlechten Dichter gerühmt zu werden, formuliert Horaz nun die mutmaßliche Meinung des Herrschers und weckt dabei eine Vorstellung, wie sie bestens zu seinen Satiren passen würde: Verfaßte er Verse zum Preis des Augustus, wären die so miserabel, daß die chartae, auf denen sie stünden, zum Einwickeln von Waren dienen könnten, die man im vicus Tuscus in der Subura verkauft. 20 Wie mehrfach in den Sermones der dreißiger Jahre kombiniert Horaz Satire gegen sich selbst mit poetologischer Reflexion, und das findet man dann, wie wir noch sehen werden, in dem großen, höchst amüsanten Schlußtableau der „Ars poetica“ wieder. Am Ende des Augustusbriefes erfolgt die Äußerung des Horaz über seine dichterische Tätigkeit in Form einer recusatio, und diese weitet sich im Florusbrief zu einer „Weigerung“ aus, welche sich auf das künftige Produzieren jeglicher Art von Poesie bezieht. Die Ausführungen dazu beginnen mit einer Rechtfertigung gegenüber Florus, der offenbar einen von Horaz nicht an ihn geschriebenen Brief eingeklagt und sich darüber beschwert hat, daß der Dichter von Florus erwartete Gedichte nicht schicke: 21 20 Vgl. A. Kießling/ R. Heinze (Q. Horatius Flaccus, Briefe, Berlin 1914 =1984), Brink und Rudd (beide wie Anm. 14) z. St. Horaz erinnert den Freund daran, daß er ihn bei dessen Abreise wissen ließ, er sei schreibfaul, damit Florus wegen des Ausbleibens von Post eben gerade nicht schelten könne. Das erfahren wir aber erst nach 19 den Brief an Florus eröffnenden Versen, in denen Horaz fingiert, jemand, der dem Freund für eine bestimmte Summe einen Sklaven anbietet, rede über dessen Vor- und Nachteile; dabei macht der Dichter deutlich, Florus habe 21 Vgl. folgende Stelle in Suetons Horaz-Vita darüber, wie Augustus auf das erste Epistel- Buch reagierte: post sermones vero quosdam lectos nullam sui mentionem habitam ita sit questus: ‚ irasci me tibi scito, quod non in plerisque eiusmodi scriptis mecum potissimum loquaris.‘ Dazu bemerkt E.S. Oliensis, Horace and the Rhetoric of Authority, Cambridge 1998, 11: „[t]his very situation - a friend writes in mock-anger at not having received the expected tribute of a letter - furnishes the premise not of H.’s epistle to Augustus but of H.’s epistle to Florus (ne mea saevus ... 2. 2. 21-2). The situation decorously suppressed from the one epistle thus resurfaces in the other. Given that Epistles 2. 2 is designed to be overread by Augustus, the de facto dedicatee of the collection, we could say that the epistle to Florus functions as an oblique and nonactionable rebuke of H.’s imperial complainant.“ Wenn das zuträfe, hätten wir überdies ein weiteres Indiz dafür, daß Horaz epist. 2, 1 und 2, 2 eng miteinander verknüpfte. Aber ist die Angabe Suetons authentisch? Mit Recht bemerkt R.J. Tarrant, Horace and Roman Literary History, in: Harrison (wie Anm. 6), 63-76, dazu (S. 65 Anm. 8): „The story is generally believed, but it could be an invention to account for Augustus’ absence in Epistles 1 and his prominent appearance in Epistles 2. 1.“ <?page no="133"?> Satire und Selbstreflexion in Horaz‘ zweitem Epistelbuch 121 aufgrund der ihm gegebenen Informationen nach Empfang der „Ware“ kein Recht zu einer späteren Reklamation. Warum Horaz diesen „Fall“ vorbringt, begreift man nach Lektüre der Verse 20ff., zuvor aber darf man wie in der Einleitung mancher Satire und Epistel rätseln, worauf der Dichter hinaus will. Der Anfang des Briefes lautet (1f.): Flore, bono claroque fidelis amice Neroni, si quis forte velit puerum tibi vendere Hier und im folgenden versteht man zunächst einmal nur, daß es wie im vorletzten Vers von epist. 2, 1 ums vendere geht, und man muß noch einige Verse weiterlesen, um zu erkennen, daß das Bild von einem Verkauf, welches Horaz diesmal gewählt hat, ebenso mit einer poetologischen Aussage kombiniert ist; der Dichter begründet ja dann bis zu V. 144 lang und breit, warum er keine Poesie mehr produzieren will. Der Schluß von 2, 1 und der Anfang von 2, 2 formen also den Chiasmus „Selbstreflexion“ - „Bild von einem Verkauf“ - „Bild von einem Verkauf“ - „Selbstreflexion“, wobei die zwei Bilder denen gleichen, die Horaz in seine Satiren eingelegt hat. ... In dem mit V. 145 beginnenden letzten Drittel des Florusbriefes verrät uns Horaz, wie er, indem er zu sich selbst spricht und das Gesprochene im stillen beherzigt, moralphilosophische Belehrungen an die eigene Person richtet. Die letzte von ihnen, mit welcher er den Brief abrundet, lautet (213- 216): vivere si recte nescis, decede peritis. lusisti satis, edisti satis atque bibisti; tempus abire tibi est, ne potum largius aequo rideat Das ist nun nicht mehr nur Abschied von der Dichtung, sondern von einem Leben, welches nicht aufhören will, an den Freuden teilzuhaben, von denen vor allem in der ersten Odensammlung oft die Rede ist, statt sich im Hinblick auf Alter und Tod auf das recte vivere zu besinnen. Die Verse erinnern an diejenigen am Schluß des ersten Gedichtes im ersten Satirenbuch, in denen Horaz schreibt, selten finde sich ein Mensch, der zu sagen vermöchte, er habe glücklich gelebt, und der wie ein gesättigter Gast zufrieden dahingeht (sat. 1, 1, 117-119). Noch ähnlicher als dieser Passage sind sie einer Stelle bei Lukrez, die Horaz schon mit der älteren evozierte. et pulset lasciva decentius aetas. 22 22 Beide Hypotexte sind bereits bei Kießling/ Heinze (wie Anm. 20), 280 z.St. notiert. Dort ermahnt die rerum natura höchstpersönlich einen Greis, der amplius aequo über das nahende Ende jammert, das nun sein zu lassen und alles aufzugeben, was seinem Alter fremd ist sowie den gnavi zu weichen (3, 954. 956-962). Nun, Horaz ist offenbar zum abire bereit. Aber bevor er die literarische Bühne verläßt, wendet er sich noch einmal an die lasciva decentius aetas, und das geschieht in dem auf die Florusepistel folgenden Text: Dort entwickelt er den beiden <?page no="134"?> Niklas Holzberg 122 jungen Pisonen in einem umfangreichen Gedicht, das man, wenn man will, als eine Art Vermächtnis lesen kann, seine Theorie des Versemachens. Und gleich zu Beginn dieser sogenannten Ars poetica verschafft er den zwei Repräsentanten des „Alters, dem Ausgelassenheit besser steht“, sowie ihrem Vater eine Gelegenheit zum Lachen, wenn auch zunächst einmal nicht über ihn (1-5): Humano capiti cervicem pictor equinam iungere si velit et varias inducere plumas undique collatis membris, ut turpiter atrum desinat in piscem mulier formosa superne, spectatum admissi, risum Die in V. 1-4 enthaltene Beschreibung eines Gemäldes, auf dem disparate Elemente zusammengestückt sind, dient Horaz als eines von mehreren Negativbeispielen seiner Ausführungen darüber, was für ihn zu einem einheitlichen und somit vollkommenen Werk der Dichtkunst gehört. Da alle Exempla wie das zitierte wieder einmal groteske Vorstellungen erzeugen, wirkt der Auftakt zur „Ars poetica“, in dem solche Exempla aneinandergereiht sind (1-37), sehr satirisch, und das gilt ebenso für das Finale des sermo, in dem Horaz den Typus des verrückten Dichters porträtiert (453-476). Diesem, so erfahren wir dort, könne es passieren, daß er, während er erhaben seine Verse „rülpse“, in einen Brunnen oder eine Grube stürzt. Sollte ihn dann wider Erwarten jemand herausholen wollen, würde Horaz den Mann fragen, wie er wissen könne, ob der Sturz nicht beabsichtigt sei, und folgende Analogie nennen (464b-466a): teneatis, amici? deus inmortalis haberi dum cupit Empedocles, ardentem frigidus Aetnam insiluit. Poeten, spräche Horaz dann, sollen das Recht und die Erlaubnis haben, zugrunde zu gehen (466b). Will der Dichter damit implizit aussagen, er räume auch sich diese Freiheit ein? Immerhin hat er sich am Ende des Florusbriefes zum abire aufgefordert. Bekräftigt er hier also jene Selbstermahnung, zumindest zwischen den Zeilen? Ehe ich eine Antwort zu geben versuche, möchte ich einen Blick auf das werfen, was Horaz uns in den letzten beiden Versen über den vesanus poeta erzählt (475f.): quem vero arripuit, tenet occiditque legendo, non missura cutem nisi plena cruoris hirudo. Der Blutegel, der so lange saugt, bis er voll von Blut, also satt ist, steht für einen Dichter, der so lange seine Verse vorträgt, bis es satis est. Wenn Horaz sich am Schluß von epist. 2, 2 zum abire nötigt, begründet er es damit, daß er satis gescherzt, satis gegessen und getrunken habe. Das kann man ohne weiteres als Metapher für satis versus facere auffassen, zumal dann, wenn man das Ende von Satire 1,1 zum Vergleich heranzieht (117-121): <?page no="135"?> Satire und Selbstreflexion in Horaz‘ zweitem Epistelbuch 123 inde fit, ut raro, qui se vixisse beatum dicat et exacto contentus tempore vita cedat uti conviva satur iam , reperire queamus. satis conpilasse putes, verbum non amplius addam. est. ne me Crispini scrinia lippi In diesen Versen geht Horaz von dem satten Gast direkt zu der Feststellung über, es sei nun genug mit dem vorliegenden Gedicht; dabei evoziert er offensichtlich, wie man längst erkannt hat, den Gattungsnamen satura, 23 der wohl in Anspielung auf die Bezeichnung für eine Speise mit bunt gemischter Füllung geprägt wurde. 24 Wie es dem Dichter bereits hier, am Schluß seines allerersten Gedichtes, genug ist, so setzt er m. E. am Ende des an die Pisonen gerichteten sermo scherzhaft voraus, daß er sich an uns Lesern regelrecht „gesättigt“ hat. Nun bedenke man: Wir haben das Finale des mit Abstand längsten unter den insgesamt 162 Gedichten des Horaz erreicht, einer zwar streckenweise sehr witzigen, aber inhaltlich zumindest partiell schwere Kost bietenden, 476 Verse umfassenden Erörterung über die Dichtkunst. Man kann sich wahrhaft ausgesaugt fühlen nach der Lektüre eines solchen Textes, der vielleicht der zu allerletzt von Horaz geschriebene war, und ausrufen: „Iam satis est.“ Also dürfen wir in dem Blutegel ein satirisches Selbstporträt, ja in dem gesamten Abschnitt über den verrückten Poeten eine Karikatur der eigenen Dichter-persona sehen. 25 Sie wirkt, wenn man sie auf Horaz bezieht, vor allem deshalb komisch, weil dieser als Autor der Oden am Ende von Buch 2 verkündet hatte, er werde, in einen Schwan verwandelt, das ganze römische Reich überfliegen (2, 20), und am Ende von Buch 3 in der stolzen Pose des Erbauers eines monumentum aere perennius vor uns hingetreten war (3, 30). 26 23 T.K. Hubbard, The Structure and Programmatic Intent of Horace’s First Satire, Latomus 40, 1981, 305-321 (dort S. 312). Denn damit hatte er sich als Dichter gewissermaßen die Apotheose prophezeit - Ovid knüpfte dann mit dem Epilog der Metamorphosen daran an -, während er nun den vesanus poeta, in dessen Gestalt er, wie ich glaube, sich spiegelt, in einem Loch verschwinden läßt, ihn mit dem in den Ätna springenden Empedokles vergleicht und einen potentiellen Helfer ermahnt, dem Irren sein Recht zum perire nicht zu nehmen. In der Selbstpersiflage wird Horaz also nicht zum deus inmortalis (der zu werden sich Empedokles wünschte). Dem Augustus dagegen erklärt er in V. 15- 17 des an ihn adressierten Briefes: 24 W. Suerbaum (Hrsg.), Die archaische Literatur von den Anfängen bis Sullas Tod. Die vorliterarische Periode und die Zeit von 240 bis 78 v.Chr., München 2002 (Handbuch der Lateinischen Literatur der Antike 1), 300f. 25 Ähnlich Oliensis (wie Anm. 21), 219. 26 Darauf weist bereits A. Barchiesi, Palingenre: Death, Rebirth and Horatian Iambos, in: M. Paschalis (Hg.), Horace and Greek Lyric Poetry, Rethymnon 2002 (Rethymnon Classical Studies 1), 47-69, S. 51 hin. <?page no="136"?> Niklas Holzberg 124 praesenti tibi maturos largimur honores iurandasque tuum per numen ponimus aras, nil oriturum alias, nil ortum tale fatentes. Ist es Zufall, daß Horaz zu Beginn von Epistel 2, 1 betont, den Prinzeps verehre man schon zu Lebzeiten als Gott, und daß er am Ende der sogenannten Ars poetica, bei der es sich möglicherweise um Epistel 2, 3 handelt, dem Typus des verrückten Dichters, seinem mutmaßlichen Alter ego, die Lizenz zum Tod in einer Art Grab erteilt? Ich meine, hier liegt eine Korrelation zwischen zwei Versabschnitten vor, durch die ein Rahmen um das Triptychon des zweiten Epistelbuches gespannt wird. An dessen Anfang verneigt sich der poeta vor dem princeps als einem Unsterblichen, der einst deorum in templa (V. 6) aufgenommen werden wird, um im Finale den eigenen „Abgang“, zu dem er sich schon in den letzten Versen des mittleren Briefes aufgefordert hat, als satirisches Zerrbild zu malen und dabei anzudeuten, daß er keinen Anspruch auf Apotheose erhebt. Ein erster Überblick über die drei Gedichte, die ursprünglich in einem liber vereint gewesen sein könnten, ergab Indizien für eine Verklammerung von Nr. 1 mit Nr. 2 und Nr. 2 mit Nr. 3 sowie für eine Umklammerung durch zwei gedanklich miteinander korrespondierende Passagen. Daß wir es in der Tat mit einer Textsequenz zu tun haben, legt auch folgende Beobachtung nahe: Mit dem Dreischritt, den Horaz in dem Brief an Augustus, dem an Florus und der „Dichtkunst“ für die Pisonen vollzieht, verbindet er eine Revue von drei Generationen: derjenigen der Väter, der Söhne und der Enkel. 27 Die Zeit der „Väter“ repräsentieren in Epistel 2, 1 Horaz, geboren 65 v.Chr., und Augustus, zwei Jahre jünger als der Dichter. Es stehen sich zwei Männer gegenüber, die einst bei Philippi Feinde waren, dann Freunde wurden und zur Zeit der Abfassung des Briefes auf ihrem jeweiligen Gebiet die führenden Persönlichkeiten sind - noch dazu in einsamer Größe innerhalb ihrer Generation. 28 Der jetzt etwa 53jährige Augustus hatte 12 v.Chr. den Tod seines Schwiegersohnes und treuen Mitstreiters Agrippa zu beklagen (darauf könnte solus in V. 1 anspielen 29 27 Vage Ansätze zu dieser Sichtweise finden sich bei Kilpatrick (wie Anm. 15), 55-57. ); Horaz, um die 55, ist, seit Vergil 19 v. Chr. starb, der einzige „Klassiker“ unter den Dichtern der augusteischen Ära. Um seine Welt, die Poesie, geht es nun auch in Epistel 2 ,1, und zugleich um das Verhältnis des gegenwärtigen Rom sowie seines Herrschers speziell zur lateinischen Verskunst. Bei der Behandlung dieses Themas kommt Horaz auf die poetische Produktion früherer Epochen und der eigenen zu sprechen. Während er bei seinen Bemerkungen über die ältere Dich- 28 Erstmals hervorgehoben von D.C. Feeney, Vna cum scriptore meo: Poetry, Principate and the Traditions of Literary History in the Epistle to Augustus, in: A.J. Woodman/ D.C. Feeney (Hgg.): Traditions and Contexts in the Poetry of Horace, Cambridge 2002, 172- 187 (dort S. 172, 174 und 177). 29 Anders Kießling/ Heinze (wie Anm. 20) und Rudd (wie Anm. 14) z. St. <?page no="137"?> Satire und Selbstreflexion in Horaz‘ zweitem Epistelbuch 125 tung mehrere Namen nennt, ist bei ihm die jüngere nur durch den Autor der Aeneis und den ebenso verstorbenen Varius Rufus vertreten (V. 247), nachdem Horaz in sat. 1, 10 eine ganze Liste von zeitgenössischen Kollegen geboten hatte. Und da nun auch Vergil und Varius, die, wie Horaz in V. 245-250 andeutet, zum Preis des Prinzeps bestens geeignet waren, verstummt sind, gibt es keinen weiteren „augusteischen“ Dichter im engeren Sinne mehr. Denn Horaz verkündet Augustus in seiner recusatio am Ende von Epistel 2, 1, daß er ihm nur lästig fallen, ja nichts weiter als Einwickelpapier produzieren würde, wenn er Kaiserpanegyrik hervorbrächte. Schon hier läßt er uns ahnen, daß er sich von der literarischen Bühne ganz und gar verabschieden wolle. Davon war zwar auch in V. 111-113 eher beiläufig die Rede gewesen, aber dort hatte Horaz noch scherzhaft behauptet, er könne sich denn doch der gerade herrschenden Mode, daß jedermann jederzeit dichtet, nicht entziehen: ipse ego, qui nullos me adfirmo scribere versus, invenior Parthis mendacior et prius orto sole vigil calamum et chartas et scrinia posco. Es sei im Vorbeigehen darauf aufmerksam gemacht, daß Horaz an dieser Stelle erstmals im zweiten Epistelbuch eine Form von Verhalten erwähnt, das zu einem vesanus poeta passen würde und damit - das registriert man freilich frühestens beim second reading - das Schlußtableau der sogenannten Ars poetica vorbereitet. Doch nun zur Generation der „Söhne“ im zweiten Epistelbuch! Über Florus, den Adressaten von Brief 2, wissen wir aus epist. 1, 3, daß er 20 v.Chr., als Tiberius, der Stiefsohn des Augustus, eine Expedition nach Armenien durchführte, zu dessen Cortège als einer von mehreren literarisch tätigen jungen Männer zählte. 30 Er war also vermutlich mit dem Prinzen, der 42 v. Chr. geboren wurde, ungefähr gleichaltrig. 31 Damit gehört er wie die anderen Mitglieder der studiosa cohors (epist. 1, 3, 6) zu einer neuen Generation von Dichtern, die Horaz in Epistel 2, 1 noch nicht im Auge hat, die er aber wohl mit 2, 2 in der Person des Florus anspricht; dieser dürfte zu dem Zeitpunkt, als Horaz seinen Versbrief an ihn richtet, an einem der von Tiberius in den Jahren 12-9 v.Chr. unternommenen Feldzügen beteiligt gewesen sein, d.h., das dramatische Datum für die Abfassung des Textes ist sehr wahrscheinlich irgendein Tag in den Jahren 11/ 10 v.Chr., als Florus sich in seinen frühen Dreißigern befand. 32 30 Vgl. Kießling/ Heinze (wie Anm. 20), 36. In Epistel 2, 2 lesen wir nichts über irgendeinen 31 Wir kennen ihn nur aus epist. 1, 3 und 2, 2 sowie aus dem Kommentar Porphyrios zu 1, 3, 1 (hic Florus scriba fuit saturarum scriptor, cuius sunt electae ex Ennio Lucilio Varrone saturae), wozu Kießling/ Heinze (wie Anm. 20), 37 mit Recht bemerken: „[D]as kann z. T. aus v. 21 herausgesponnen sein.“ 32 S. Anm. 11. <?page no="138"?> Niklas Holzberg 126 seiner Kollegen im Bereich der Poesie, während von zwei unter ihnen, Titius und Celsus, in dem ebenfalls an Florus adressierten Brief 1, 3 die Rede ist. Doch im Zusammenhang mit seiner Begründung dafür, daß er das Dichten beenden will, nennt Horaz hintereinander Lyrik, Jambus und sermo als Gattungen, die jeweils ihre Liebhaber fänden (58-64), und das erinnert an seine Skizze poetischer Aktivitäten um 35 v.Chr. in sat. 1, 10, 36-49, wo er sich zu den zeitgenössischen Genres Epos, Komödie, Bukolik und Satire äußert. Während er dort Namen von Repräsentanten angibt, fehlen solche in epist. 2, 2, 58-64. Aber Dichtungen aller drei Gattungen, um die es hier geht, hat er selbst produziert, und da er ja primär seine Abkehr von der Poesie rechtfertigen möchte, will er vielleicht implizit zum Ausdruck bringen, er selbst werde sich auf den drei Gebieten nicht mehr betätigen und überlasse dies daher Florus und dessen Kollegen. Kurz darauf spielt er auf einen Rezitationswettbewerb an, bei dem man offenbar ihn als neuen Alkaios und seinen Gegner, einen Elegiker, als Kallimachos oder Mimnermos bezeichnete (91- 101). Mag sein, daß er Properz meint, 33 aber da zur Zeit der Entstehung von Epistel 2, 2 der mit Florus etwa gleichaltrige Ovid bereits mit seinen Amores und vermutlich auch schon mit den Heroides hervorgetreten war, will Horaz vielleicht einfach sagen, daß er die Elegie als für die Zeit der „Söhne“ besonders typisch empfindet. 34 Auf jeden Fall möchte der Dichter von sermones, iambi und carmina für seine Person aus dem Kreis der Poeten ausscheiden, und unter den Gründen, die er anführt, entdeckt man auch solche, die er wieder als satirische persona vorträgt. Damit beweist er, daß er die Diktion des sermo immer noch genauso meisterhaft beherrscht wie in den dreißiger Jahren; das ist natürlich besonders amüsant im Zusammenhang mit der Erklärung, er nehme nunmehr Abschied von der Dichtung. Was sie, wie er behauptet, für ihn unmöglich macht, ist u.a. dies (72-76): festinat calidus mulis gerulisque redemptor, torquet nunc lapidem, nunc ingens machina tignum, tristia robustis luctantur funera plaustris, hac rabiosa fugit canis, hac lutulenta ruit sus; i nunc et uersus tecum meditare canoros. 33 So schon Kießling/ Heinze (wie Anm. 20) z. St. 34 Eine grundlegende Arbeit über das Verhältnis des Horaz zur Elegie steht noch aus. Das Thema wurde bisher zu einseitig unter biographischem Aspekt behandelt (vgl. bes. H.P. Syndikus, Horaz und die elegischen Dichter, in: A.E. Radke (Hg.), Candide Iudex. Beiträge zur augusteischen Dichtung. Festschrift für Walter Wimmel zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1998, 375-398); Ansätze zu einer besonnenen Sichtweise finden sich bei R. Freis, Exiguos Elegos: Are Ars Poetica 75-78 Critical of Love Elegy? , Latomus 52, 1993, 364-371, und Tarrant (wie Anm. 21), 74-76. <?page no="139"?> Satire und Selbstreflexion in Horaz‘ zweitem Epistelbuch 127 Sicherlich gibt es Poeten, deren Schaffensdrang zum Erliegen kommt, wenn sie sich mit so etwas konfrontiert sehen. Man denke etwa an Wilhelm Buschs Balduin Bählamm, der sich ständig am Dichten gehindert sieht, sogar dann, wenn er in häuslicher Geborgenheit am Schreibpult die Feder in das Tintenfaß tauchen will: Begeistert blickt er in die Höh: „Willkommen, herrliche Idee! “ Auf springt die Tür. - An Bein und Arm Geräuschvoll hängt der Kinderschwarm ... Doch Horaz ist kein Balduin Bählamm. Denn Szenen wie die in V. 72-76 skizzierte haben ihn schon als Satiriker nicht vom Dichten abgeschreckt, sondern vielmehr dazu inspiriert. Ja, man kann sagen, daß aus allem, was er an Gründen für die Beendigung seiner poetischen Tätigkeit vorbringt, eine große Liebe zur Poesie spricht. Aber Horaz will wohl weniger diese Leidenschaft artikulieren als Florus und den anderen Dichtern der „Söhne“- Generation noch einmal vor Augen führen, wie er, der letzte große Überlebende aus der Gruppe der „Väter“, mit der Verskunst umgeht und über sie theoretisiert. Und damit schafft er sich eine solide Basis dafür, in einem dritten Schritt gegenüber den „Enkeln“ die Rolle des kundigen Beraters in Sachen T } zu spielen. Da L. Calpurnius Piso Pontifex 48 v.Chr. geboren wurde (und somit eher zur Generation der „Söhne“ als der der „Väter“ gehört), wird mit Recht allgemein angenommen, daß seine beiden Knaben etwa 14 und 15 Jahre alt waren, als Horaz ihnen die sogenannte Ars poetica vorlegte; sie waren also Mitte der zwanziger Jahre des 1. Jahrhunderts v. Chr. zur Welt gekommen und nicht viel älter als C. Caesar (geb. 20 v.Chr.), der älteste Enkel des Augustus von dessen Tochter Julia aus ihrer Ehe mit Agrippa. Vielleicht hat Horaz die beiden Söhne Pisos direkt im Auge, wenn er im Florusbrief nach der Nennung mehrerer Gründe für seinen Abschied von der Poesie sagt (141f.): nimirum sapere est abiectis utile nugis et tempestivum pueris concedere ludum … Von der Unterweisung der beiden jungen Herren durch den Mittfünfziger Horaz entfällt ein sehr beträchtlicher Teil auf die Poetik der Tragödie, und in diesem Kontext erteilt der Dichter zum Befremden manches Philologen 35 35 Vgl. z.B. K. Büchner, Das Poetische in der ars poetica des Horaz, in: ders.: Studien zur römischen Literatur 10: Römische Dichtung, Wiesbaden 1979, 131-147 (dort S. 132). nicht wenige Lehren, die geradezu lächerlich banal erscheinen - z.B. daß Medea ihre Kinder nicht auf der Bühne ermorden soll (185) oder daß die Handlung in nicht mehr und nicht weniger als fünf Akte zu gliedern ist (189f.). Dabei mimt Horaz m. E. den Typus des 959h ; es ist gewiß kein <?page no="140"?> Niklas Holzberg 128 Zufall, daß die größte Zahl der einprägsamen Sentenzen in seinem Gesamtwerk, die Georg Büchmanns Sammlung der „Geflügelten Worte“ verzeichnet, aus der „Ars poetica“ stammen, 36 darunter etwa der Satz aut prodesse volunt aut delectare poetae (333), der in einem elementaren Schulbuch stehen könnte, oder griffige Formeln wie ab ovo und in medias res (147f.). Auch die sichtliche Intention des Poetikprofessors, seine Adepten mehrfach zum Streben nach dem „Angemessenen“, wie Klingner es ausgedrückt hat, 37 zu erziehen, paßt gut zu einem älteren Herrn, der mit erhobenem Zeigefinger vor vierzig Jahre Jüngeren doziert und hat in der Tat etwas Betuliches. Gewiß, das dezidierte Eintreten für das T nimmt eine wichtige Position in der von Horaz an vielen Stellen seiner Gedichte vertretenen Lebensphilosophie ein, und wenn er sich auch in seinem vielleicht letzten Opus so eindringlich dazu bekennt, erhält dieses Gedicht in Verbindung mit theoretischen Äußerungen zur Poesie durchaus den Charakter eines Vermächtnisses. Aber ist es wirklich das Streben nach dem decens, das man in erster Linie z. B. auch vom Autor eines Satyrspiels erwarten sollte, wie Horaz fordert (220ff.)? Eigentlich schwebt einem hier viel Unanständigkeit vor Augen - insbesondere die Schar bocksfüßiger Kobolde mit ihren " ! Doch diesen obszönen Anblick will der gestrenge Präzeptor heranwachsender römischer nobiles offenbar durch züchtiges Reden über „die gute Mitte und das Maß“ 38 Wenn Horaz in V. 306 des Pisonenbriefes sagt, er wolle munus und officium des Dichters nil scribens ipse lehren, verrät er, daß er seinem im Florusbrief begründeten Beschluß, nicht mehr zu dichten, treu bleiben will. Zwar hat er die poetologischen Instruktionen für die beiden Knaben in Versen geschrieben, aber er theoretisiert nur, und das noch dazu über Gattungen, in denen er sich selbst nie versucht hat: primär die Tragödie, aber auch - in einem Exkurs von immerhin 25 Versen (128-152) - das Epos. Es handelt sich dabei um die beiden wichtigsten Repräsentanten des genus grande, zu dem beizutragen Horaz sein gesamtes Werk hindurch stets dezidiert abgelehnt hat, um sich statt dessen für das genus tenue zu entscheiden. verdecken. 39 36 W. Suerbaum, Q. Horatii Flacci disiecti membra poetae: Beihefte zur Münchner Horaz- Ausstellung 1993. Bd. 1: Katalog zur Ausstellung, München 1993, 20 bemerkt zu G. Büchmann, Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes. Gesammelt und erläutert von G.B. Fortgesetzt von W. Robert-tornow, K. Weitling et al. Durchgesehen von A. Grunow, München 1967 (dtv 452-454), 530-546: „Aufschlußreich: die Ars poetica mit ihren 476 Hexametern bietet allein 43 Sentenzen.“ Vgl. auch P.D. Hills, Horace, London 2005 (Ancients in Action), 140: „Ironically, Horace’s most ‘difficult’ and ‘technical’ work is probably his most quotable.“ Es mag sein, 37 F. Klingner, Horazens Brief an die Pisonen, SBLeipzig 88, 3, 1936 (dort S. 24); auch in: ders., Studien zur griechischen und römischen Literatur, Zürich/ Stuttgart 1964, 353- 405 (dort S. 370). 38 Klingner (wie Anm. 37), 9 bzw. 358. 39 Vgl. nach wie vor insbesondere H.J. Mette, ‚Genus tenue’ und ‚mensa tenuis’ bei Horaz, MH 18, 1961, 136-139; auch in: H. Oppermann (Hg.), Wege zu Horaz, Darmstadt <?page no="141"?> Satire und Selbstreflexion in Horaz‘ zweitem Epistelbuch 129 daß die beiden jungen Pisonen den Dichter direkt darum gebeten hatten, sie in die Kunst des Verfassens von Trauerspielen einzuweisen, aber wenn es so war, warum unterzog er sich dann der Aufgabe, obwohl er doch nicht aus praktischer Erfahrung reden konnte? Ich meine, er tat es auch deswegen, um zu demonstrieren, daß er nun selbst als Theoretiker Abstand von den Gattungen nahm, die er bisher einzig verwendet hatte. Natürlich läßt er auch jetzt noch auf Schritt und Tritt den Kallimacheer erkennen, der er von der ersten Satire an gewesen war, aber er hat seine T } für die Pisonen nun einmal im Stil des einst kreierten sermo geschrieben, und da geht das gar nicht anders. Jedenfalls spricht er poetologisch jetzt, wie deutlich geworden sein dürfte, zur Generation der „Enkel“, nachdem er sich mit seinen Gedanken über Dichter und Dichtung in Epistel 2, 1 an den ungefähr gleichaltrigen Prinzeps und in 2, 2 an den rund zwanzig Jahre jüngeren Freund Florus gewandt hatte. Und so scheint mir auch vom Prinzip der Generationenfolge her evident, daß die „Ars poetica“ nicht als Werk sui generis, sondern als dritter Teil eines Triptychons zu interpretieren ist. Was dieser Aufsatz bieten konnte, war nicht mehr als die Skizze einer linearen Lektüre des zweiten Epistelbuches anhand eines Grobrasters. Es müßte sich nun die Feinanalyse anschließen, die beim sequential reading Motivvernetzung und verbale Intratextualität herausarbeitet. So wäre etwa im einzelnen zu zeigen, wie Horaz seine in der Epistel an Augustus vorgetragenen negativen Äußerungen zur frührömischen Poesie (2, 1, 50ff.) im Pisonenbrief durch seine Bemerkungen über den Umgang des Accius, Ennius und Plautus mit dem jambischen Trimeter fortsetzt (ars 258-274). Oder auf welche Art das im Florusbrief über Stil, Wortwahl und speziell zum Gebrauch von obsoleten Ausdrücken ebenso wie Neologismen Dargelegte (2, 2, 106-125) in den Versen 45-72 der „Dichtkunst“ teils variiert, teils ergänzt wird. Aber das wäre, wie gesagt, von einer Monographie zu leisten. Nein, eine solche selbst zu produzieren beabsichtige ich nicht. Es sind nur noch wenige Jahre, bis ich wie Widu-Wolfgang Ehlers einem jüngeren Kollegen bzw. einer jüngeren Kollegin Platz machen werde, also einem/ einer Angehörigen der „Söhne/ Töchter“-Generation. Aber auch er/ sie wird schwerlich Muße genug haben, ein Buch über die Vernetzung von Themen und Begriffen der Episteln 2, 1 und 2 mit der sogenannten Ars poetica zu verfassen. Einem solchen Projekt sollte sich traditionsgemäß ein „Enkel“ bzw. eine „Enkelin“ im Rahmen einer Dissertation oder Habilitationsschrift widmen, und wenn sich wirklich jemanden findet, der/ die sich für das Thema interessiert, werde ich 1972 (Wege der Forschung 99), 220-224, und in: Kleine Schriften, Frankfurt 1988, 188- 191, einen fast schon „klassischen“ Aufsatz. <?page no="142"?> Niklas Holzberg 130 bereit sein, ihm/ ihr wie Horaz den Pisonen mit erhobenem Zeigefinger zur Verfügung zu stehen. 40 40 Für eine sorgfältige Durchsicht und Hinweise bin ich Regina Höschele und Isabella Wiegand zu Dank verpflichtet. S. Harrison, Horace Epistles 2: the last Horatian Book of sermones? , PLLS 13, 2008, 173-186, ein Aufsatz, der mir erst nach Abschluß des vorliegenden zugänglich wurde, kommt mit größtenteils anderen Argumenten ebenfalls zu dem Ergebnis, die „Ars“ sei von Haus aus epist. 2, 3. <?page no="143"?> Wendy J. Raschke Imperium sine fine - Boundaries in Juvenal Introduction When, at Aeneid 1.278, Jupiter promises Rome an “empire without end” (imperium sine fine), his promise is ambiguous; will Rome’s power be limitless in temporal or spatial terms or both? The ambiguity is significant - and is understood by Augustan writers and creative thinkers, as well as politicians. Agrippa’s creation of a map in the Portico Vipsania to illustrate (or underline) the claims of the Res Gestae reveals clearly the importance of the visual aspect of Augustan propaganda, evidenced most conspicuously in the monuments of the period such as the Ara Pacis. Similarly, the Elder Pliny attests to Agrippa’s wish to “set before the eyes of the City a map of the world (so that it can be seen)”. 1 Yet the vocabulary Pliny uses seems to indicate that he was relying on a written text, namely, Agrippa ’ s Commentarii: he uses terms such as spatia, intervalla, and oceanus. The importance of this for the present purpose is the “ intertextuality ” of literary and visual work; it is also an illustration of how imperial power presents itself as master of the known world, the oikoumene. As Ovid expressed it: “ The land of other nations has a fixed boundary; the circuit of Rome is the circuit of the world. ” 2 The deft combination of verbal and visual geography and architecture with the political establishes a basis for the expression of power which can be observed throughout the first century A.D. up to the time of Juvenal. What I am concerned with here is not the actual overstepping of moral limits, but the mechanisms by which Juvenal expresses the perversion of contemporary society. I want to examine how boundaries of various kinds - spatial, geographical, and architectural - become images for the transgression of moral limits. The imperium sine fine promised to Rome has been abused. I hope to demonstrate that the defining emphases upon which imperial propaganda is fashioned are among those which are employed by Juvenal in his first book; images are drawn from architectural concepts and both geographical and 1 Pliny, NH 3.16-17. The best examination of the connection is in C. Nicolet, Space, Geography, and Politics in the Early Roman Empire, Michigan 1991, 98-99; 110; see also P. Zanker, The Power of Images in the Age of Augustus, trans. A. Shapiro, Michigan 1988; C. Edwards, The Politics of Immorality in Ancient Rome, Cambridge 1993, 164- 168. 2 Ovid, Fasti 2.637ff. <?page no="144"?> Wendy J. Raschke 132 physical boundaries, but it is frequently the absence, transgression, or confusion of those boundaries which represents the decline of Rome. The traditional binary oppositions between Rome and the other, male and female, aristocrat and plebeian, master and slave, and citizen and infamis, are now not merely ill-defined, but redefined. Juvenal makes his point by employing a vocabulary of images which juxtapose urbanism and nature, contemporary and historical, life against death, inclusion and exclusion, but at the same time confound the lines between them. Let us begin by examining the first satire. Satire 1 At the beginning of the Satire I Juvenal opens with a number of variants on the idea of defining limits. Boundaries may be inclusive or exclusive (or both). 3 The domus is recognised by Quintilian as a mode of thought; In lines 1-6 the speaker, who has clearly up to this point served as an audience and has suffered exclusion from the ranks of the performing poets, now wishes to have his turn. The performers know no limits: the depiction of an interminable tragedy is presented as a scroll on which the writing not only fills the margins but overflows them. This apposite image of both literary and performative excess is immediately underlined in line 7 by an image of the private house (domus). 4 it is also an acknowledged yardstick for the measurement of status. 5 3 On inclusion and exclusion as the basis of social order, see V. Harle, Ideas of Social Order in the Ancient World, Westport and London 1998, c.13, esp. 178-183. Here it is introduced in juxtaposition to a pastoral, albeit a mythical landscape. Though the expression is often used proverbially, Juvenal’s use of it here is enriched by its context: after the initial mention in line 7, we are returned sharply to the city and to the location of those tragic performances, Fronto’s well appointed mansion. The emphasis is upon its architectural features, which quake in response to the onslaught of recitations. The extravagance of the architectural scheme reflects the excesses of contemporary poetry: the highlighted features of Fronto’s house, specifically the marble halls and the colonnades, can be observed in the most lavish Roman luxury homes of the first century A.D. Scholars have commented on the gratuitous nature of such columns, which generally have no intrinsic function in the architecture of a house. These elements are designed rather to illustrate the status of the owner. Colon- 4 Quintilian, Inst. Or. 11.2.18-20, who advocates the image of a structure, and particularly that of the domus as an aide-memoire. 5 So A. Wallace-Hadrill, The Social Structure of the Roman House, PBSR 56 (1988) 43-97, esp. 52-53. <?page no="145"?> Imperium sine fine - Boundaries in Juvenal 133 nades of this type are also part of the house owned by Crispinus in Satire 4 (lines 5-6); there he is said to exercise his iumenta, a term for a four legged animal of uncertain definition, probably chosen deliberately for scornful effect. Moreover, columns belong more properly to country than to city houses. Perhaps there is here even a hint at the criticism lodged against Nero and others, that in the style of his urban house he was attempting to bring the country into the city, an unacceptable confusion of boundaries. 6 Certainly the distinction between city and country is much less clearly defined in these satires than in other satirical and comic works. 7 Domestic architecture in imperial Rome, as often in our world, is one visible manifestation of social status. The splendid mansions of the rich and influential need suitably impressive public rooms for the reception of guests, be they familiares or clientes, and status lies in the ownership of such rooms, not needed, as Vitruvius saw, by the lower classes. Vitruvius writes: item feneratoribus et publicanis commodiora et speciosiora et ab insidiis tuta, forensibus autem et disertis elegantiora et spatiosiora ad conventus excipiundos, nobilibus vero, qui honores magistratusque gerundo praestare debent officia civibus, faciunda sunt vestibula regalia alta, atria et peristylia amplissima, silvae ambulationesque laxiores ad decorem maiestatis perfectae; praeterea bybliothecas, pinacothecas, basilicas non dissimili modo quam publicorum operum magnificentia habeant comparatas, quod in domibus eorum saepius et publica consilia et privata iudicia arbitriaque conficiuntur. 8 At 1.19 the poet resumes his narrative of exclusion from the group of tragedians and epicists (lines 1-18). What follows is an admission of his own poetic proclivities, namely to satire in emulation of Lucilius. The image employed is that of his satirical forerunner as a charioteer driving his horses over the campus. 9 I retain the word campus here because, as a reference to the Campus Martius, it indicates an area of Rome which lies outside the pomerium or sacred boundary of the city; hence it is urban, but not strictly a part of the traditional political centre of the city, though some political activities such as the comitia are located there. 10 6 On Nero, see Tacitus, Ann. 15.42 with J. Elsner, Constructing decadence: the representation of Nero as imperial builder in: J. Elsner and J. Masters (eds.), Relections of Nero: culture, history, and representation, Chapel Hill and London 1994, 112-127, esp. 121- 122.; also Edwards, supra n. 1, 148-149. 7 Cf. Horace, Sat. 2.6, which contains some of the same ideas as Juvenal 3, especially the flight from the city. On the theme in general see: S. M. Braund, City and Country in Roman Satire, in ead. (ed.), Satire and Society in Ancient Rome, Exeter 1989, 23-47. 8 Vitruvius, De Arch. 6.5.2; quoted also in translation by J. Elsner, Art and the Roman Viewer, Cambridge 1995, 59, who discusses the relationship between Roman domestic architecture and social rank. 9 S. M. Braund, Juvenal Satires Book 1, Cambridge 1996, ad loc. interprets this figure as an epic hero in light of the author’s frequent use of epic parody. 10 The simple word campus to represent the Campus Martius is attested in late Republican and early Imperial authors, e.g. Cicero, Cat. 2. 1; Horace, Carm. 1.8.4, 3.1.11; and Livy <?page no="146"?> Wendy J. Raschke 134 The image of poet as charioteer has an extended history in both Greek and Latin literature. 11 Here, in Juvenal’s hands, it both conveys the energy and forcefulness of Lucilian satire and the assault upon Rome which Juvenal intends. Chariot racing and the circus were important political symbols in the early years of Augustus’ reign: this equestrian sport went back to the earliest king, Romulus, who established it as a central element in the celebration of the Consualia; moreover, the architectural embellishment of the Circus attributed to Augustus and Agrippa was part of a conscious effort to define a new iconography of power. 12 Vergil in the Georgics compares the raging of global warfare of his era to the charioteer carried headlong from the gates by his horses, though he tugs at the reins. 13 The circus, like the amphitheatre, was a clearly defined space, set apart from the city while simultaneously reassembling its inhabitants for the purpose of entertainment and, by the first century A.D., retaining clear demarcations of class. 14 quis …, tam ferreus ut teneat se, At 1.22ff. in the city at large, the underbelly of the world is rising in the social ranks; Crispinus with his Tyrian purple and flamboyant rings, and the lawyer Matho in his litter. As these men have overstepped the defined limits of their status, who, asks the poet, could resist invading theirs (sat. 1.30-33)? causidici noua cum ueniat lectica Mathonis plena ipso… Now have been compromised not only the limits of law or geography, but also those of the physical self. Matho, the lawyer, can hardly be contained in 40.52.4. Cf. OLD s.v. campus and see also on the Campus Martius: L. Richardson Jr., A New Topographical Dictionary of Ancient Rome, Baltimore and London 1992, 66. 11 The metaphorical application of the image of the charioteer driving his horses appears as early as Pindar and is well established in literary usage, see: E. Norden, Antike Kunstprosa, Leipzig and Berlin 1909 (repr. Darmstadt 1971), 1.33 n. 3; W. Wimmel, Kallimachos in Rom, Wiesbaden 1960 (= Hermes Einzelschriften 16), 103-108; E. Courtney, A Commentary on the Satires of Juvenal, London, 1980 ad.loc. The verb decurrere also carries connotations of military maneuvers, see OLD s.v. decurro 7. 12 A. Feldherr, Ships of State: Aeneid 5 and Augustan Circus Spectacle, ClAnt 14.2 (1995) 245-265, esp. 248. 13 Georg. 1.512ff. 14 On the boundary between (a) the audience and the editor of the games and (b) the viewer and the viewed (contestants), which made especially disturbing the throwing of a member of the crowd into the arena: S. Brown, Death as Decoration: Scenes from the Arena on Roman Domestic Mosaics, in: A. Richlin, Pornography and Representation in Greece and Rome, Oxford 1992, 180-211, particularly 184; Brown also draws a comparison with the Roman triclinium, in which the diners parallel the audience in the arena and a central mosaic the object of attention. This is of particular interest in relation to the theatrical performances at the dinner of Trimalchio in Petronius’ Satyricon. On the arena audience see also D. G. Kyle, Spectacles of Death in Ancient Rome, London & New York 1998, 225 and nn. 81 and 82. <?page no="147"?> Imperium sine fine - Boundaries in Juvenal 135 his litter (plena ipso),and the climax comes in line 39, which links public advancement to the penetration of the body of a rich old woman. That Roman thinking conceptualizes a parallel between the boundaries of the state and limits of an individual’s body has been demonstrated in the work of Livy: the performance of the lustratio depicted in his text was enacted equally to the citizen body as a whole, to some part of it (for example, an army departing for war), and to the individual citizen nine days after birth. The ritual appears to have been one of protection from the outside world and is one of both inclusion and exclusion. 15 This image of exclusion, with which the poem began, is repeated in a different form at 37ff. Juvenal provides a thumbnail sketch of someone pushed aside to make room for others. The language is political, for the verb summouere properly means “to clear a path for a magistrate”. Here it is applied to legacy hunting. Rome has come to such a pass that legacy hunters have the rights of magistrates. 16 The idea of unrestrained consumption is taken further at 1.49ff. with the very physical image of the consuming Marius; he revels - inappropriately in his exile, while the prosecuting province, which suffered his extortion, is now the object of pity; this is a curious outcome, given that the province is “a foreigner”, but one in accord with the emerging trends in Rome. The provinces, those markers of empire, whose boundaries have traditionally underlined the triumphs of Roman generals, and the domination of its leaders, now illustrate the perversion of Roman values. As we shall see in the second satire, Rome no longer brings its traditional values to the fringes of the known world; now the peoples of the fringes come uninvited to Rome and return, taking with them its aberrant standards (2.167ff.). This reechoes the earlier assertion of the ousting of the nobility by upstarts (34) with its startling image of cannibalism (comesa). Not only have the lines between classes become blurred, but even that between civilized and savage. Here the obscuring of geographical limits represents the moral and physical transgression of boundaries. The metaphorical use of geography in historical writing and the link between geography and politics have been firmly established in discussions of a number of historical writers. As we have seen, Nicolet has demonstrated the importance of geography for the mentality and ideology of the Augustan period and, if one is to fully comprehend it, the need to “read” not only authors and official texts, but also ico- 15 A. Feldherr, Spectacle and Society in Livy’s History, Berkeley/ Los Angeles/ London 1998, 110-112. 16 Or, conversely, that the magistrates have joined the ranks of the clientes. The same verb is used at 1.123, this time in direct connection to the house: limine summoueor, again an image of exclusion. <?page no="148"?> Wendy J. Raschke 136 nographical and architectural works. 17 When a Roman city is constructed, typically it has a sacred boundary, the pomerium, which is the outline for the original city walls. The significance of this physical and religious boundary in keeping apart both men and gods from the intrusion of external powers is clear. Augustus’ achievement was both spatial and temporal and his narrative of it, the Res Gestae, is highly politicized. Furthermore, the association of architecture with political ideology is clear in a number of other writers of the Augustan and early imperial eras, not least Vergil, Horace, Lucan and Petronius. 18 The space delineated by it is internally divided by major arteries, the cardo and the decumanus. The intersection of these in a Roman camp is usually the location of the military leader’s residence. In the city an intersection of streets is a good viewing point (quadriuio 1.64) that results in “a whole notebook” of writing, reminiscent of the overflowing manuscript of lines 5-6. In the present passage viewing and being viewed are key: 19 Such flagrant violation of the boundary between public and private is reinforced by the following image (lines 69ff.): in the privacy of her own home the matrona, that paradigm of Roman virtue, now abandons her marriage vows and the law to poison her husband: the forger is open to public view (hinc atque inde patens) in his “almost naked litter” (nuda paene cathedra [65]); the litter has taken on the attributes of the body it contains. Since the point of a litter is to travel in private, the lack of concealment constitutes a breach of decency and transforms the forger into a virtual prostitute, an individual outside of Roman law (infamis). aude aliquid brevibus Gyaris et carcere dignum, si vis esse aliquid. “If you want to be someone nowadays, you must dare some crime which merits narrow Gyara or a jail” (73-4). The division between the lawful and the lawless has been broken down and is signalled by the confining limits of a narrow island. 20 17 Nicolet, supra n. 1, 9. Cf. C. W. Fornara, The Nature of History in Ancient Greece and Rome, Berkeley/ Los Angeles/ London 1983, 12-16. Also, on Strabo as the archetypical geographer of the Augustan period, J. Engels, Augusteische Oikumenegeographie und Universalhistorie im Werk Strabons von Amaseia, Stuttgart 1999 (= Geographica Historica 12); Katherine Clarke, Between Geography and History, Oxford 1999, c. 1 addresses the relationship of the two. 18 Harle, supra n. 3, 183. 19 Compare the remark of Ovid on women at the theatre: spectatum ueniunt, ueniunt spectentur ut ipsae (Ars 1.99); also John R. Clarke, Art in the Lives of Ordinary Romans, Berkeley/ Los Angeles/ London 2003, 130-132. 20 Motifs of constriction and confinement in another first-century A.D. author are discussed by C. Segal, Boundary Violation and the Landscape of the Self in Senecan Tragedy, Antike und Abendland 29.2 (1983), 172-187, esp. 176. <?page no="149"?> Imperium sine fine - Boundaries in Juvenal 137 If the relationship of husband and wife has broken down, so, too, has another fundamental bond in Roman society. At lines 95ff. the interaction of patron and client comes under scrutiny. This relationship will of course be further explored in the fifth satire. As we shall see in our discussion of the “politics” of the Roman house, access to the dominus begins at the front entrance hall and the threshold; this is where we find the clientes. In this scene the Troiugenae besiege the threshold (limen) - and transgress it in relation to their need for the offerings of the sportula. The irony is that the patron is at pains to ensure that the goods are delivered to the appropriate people; but the “right” people are not the classes who have need. This is a spatially conscious description: limen, prior, locum defendere, and we even find the Euphrates, the Eastern boundary of the Roman empire. These are traditionally held limits of Roman defence: one’s house, rank, land, and provinces. But the rival has his own, more sizeable symbols of achievement: five shops and “windows” (fenestrae) in his ears! ! 21 The admission of the upper classes to the activities of the lower ranks is emphasized by the image of the nobility shepherding hired flocks (109-116). “Sacred office” is to yield to the new immigrants (slaves, at that); the freedman, born on the outermost boundary of the empire, the Euphrates, is now in the centre of Rome and claiming prior right. The borders of the toga, the threshold of the house, and the allusion to the farthest limits of empire come together to make the point, namely the complete upheaval and realignment of social organization in Rome. What we in current political jargon would term “marginalization” has been conceptualized and made metaphor in Juvenal, whether that marginalization is geographical (felt most keenly by such exiles as Ovid), sexual, or in the relocation of native Romans. In the new Rome the purple border on the toga, once the exclusive privilege of a small number of the upper class, now brings admission to the salutatio and inclusion in the rites of the clientes. At the salutatio scene, however, the line of the limen, which includes inappropriately the upper classes, now excludes the “ueteres … clientes” and they leave the vestibule without having reached the inner sanctum (132). Accessibility to the patronus of a Roman house was a key consideration in the design of a domus, and in it there are strong notions of public and private; access to the private areas is by invitation only. This point is fundamental: the Roman domus differs from a modern family house in that the Roman house was essentially oriented toward public activity and work, whereas a modern house provides privacy away from the everyday world. Within the Roman house degrees of privacy and access to the master of the house were indicated by architectural markers; the public rooms were more richly decorated and their architectural form often imitated that of public 21 Commerce had not been traditionally an acceptable source of wealth for respectable Romans. <?page no="150"?> Wendy J. Raschke 138 buildings. But the most intimate friends and associates might be received beyond those halls, in the master’s bedroom. 22 Lines are drawn not only between ranks. At 127ff. the organization of the day is defined (distinguitur); the verb also has connotations of separation, the creation of boundaries between areas, and it is often used in artistic descriptions; for example, colours or geographical entities may be said to be “picked out” in a scene. 23 Satire 2 The day’s arrangements are expressed spatially in terms of the monuments of the city of Rome, so that there is a confusion of the boundaries of time and space. Noted are the Forum (Romanum) and the Forum Augusti (Apollo), the latter associated with the courts and especially with citizenship rituals. Then there are the triumphal statues reminiscent of foreign campaigns, yet the foreigners have not been completely kept at bay, for included among those Roman heroes is a statue of the foreigner Arabarches (129-130). Roman life is regulated by lines: the line between patrician and plebeian, citizen and non-citizen, male and female, free and slave. Demarcations can also be territorial in the divisions imposed by the agrimensor’s rule, by the separation of city and country, Roman versus foreign, public versus private. Interplay of antithetical pairings made Roman life what it was. As the satirist approaches his subject, he can revel in the breaking of normally observed boundaries as a reflection of the festive spirit of satire. But boundaries and their transgression can also be an effective tool for political statement. Throughout the second satire there appear what may be termed “liminal markers”, geographical, religious, and physical. Satire 2 begins with the suggestion that contemporary Roman hypocrisy can be escaped only by fleeing the city. But the futility of this plan is revealed at the end of the poem, when we learn that the Armenian Zalaces will take back the negative moral behaviour he has learned in Rome to his native country at the edge of the known world. 22 Wallace-Hadrill, supra n. 5, 58-64. On the axial plan of the domus and its relationship to the clientela ritual, see J. R. Clarke, The Houses of Roman Italy, 100 B.C. - A.D. 250: ritual, space and decoration, Berkeley/ Los Angeles/ London 1991, c.1, esp. 4-6. A more general treatment is to be found in Y. Thebert, Private and Public Spaces: The Components of the Domus, in: E. D’Ambra (ed.), Roman Art in Context. An Anthology, New Jersey 1993, 213-237. 23 OLD s.v. distinguo 2. One may compare the use at Satire 5.80, where the lobster is said to add distinction to the dish (aspice quam longo distinguat pectore lancem/ quae fertur domino squilla…). <?page no="151"?> Imperium sine fine - Boundaries in Juvenal 139 Notions of flight can constitute a line between acceptable and unacceptable behaviour: this can be observed in Petronius, when the parasitic guests can tolerate no longer the excesses of Trimalchio’s dining room and run away. 24 But in Satire 2 the interaction of those inside and outside of the city boundary is comparable to that which can be observed in the framing of later Roman mosaics; here external figures look outwards from the central action, but cannot be disconnected from that action, even when on the fringe; there is a certain reciprocity of negativity, like the interchange of gazes, in which the despised fringe figures become Romanized by Romans who deem them inferior (as in Sat. 2). In such mosaics one can also see figures looking outwards to the audience, and one is reminded of the uncertain boundary between actor and audience originating from Neronian antics. 25 Satire 3 In her discussion of Catullus 63, Eleanor Windsor Leach identifies in what she terms “The tyranny of Attis’ religious enthusiasm”, the poet’s reliance upon “a structure of locations whose symbolism is closely allied with their spatial interrelationship”. 26 Juvenal appears to offer us something very similar in Satire 3. The speaker describes an encounter with a friend who is leaving Rome for Cumae, described as the “gate of Baiae” (ianua Baiarum, line 4). The encounter takes place at another gate, the Porta Capena. The gate of the city is at once its threshold for arrivals and for Umbricius the means of escape from Rome. The fact that it leads to the south along the Appian Way to Cumae is not insignificant, because the Appian Way was the site of many tombs and the Cumaean Sibyl is associated with Aeneas’ descent to the Underworld in Aeneid VI, and hence with the foundation of Rome. Umbricius is appropriately named for such a journey and one scholar has recently identified him with Aeneas; One of the locations is the narrow piece of shore, which “in Catullus’ emotional geography remains neutral ground. It is first the threshold of the forest, then a place of escape from it.” 27 24 Petronius, Satyr. 78; Cicero, Cael. 63.20. the virtual katabasis is underlined by in uallem Egeriae descendimus 25 Brown, supra n. 14, 191, 198, and 204-5. The confusion of identity between actor and audience is examined by S. Bartsch, Actors in the Audience, Cambridge, Mass. 1994, c.1 and sources in n. 1. 26 E. W. Leach, The Rhetoric of Space, Princeton 1988, 117 and 120 respectively. 27 V. Estevez, Umbricius and Aeneas: A Reading of Juvenal III, Maia 48 (1996), 281-299, sees “a new definition of pietas, which entails not fighting and dying for Troy [i.e. one’s city], but escaping it” (293). Other identifications of Umbricius made by scholars are: (Daedalus) S. B. Fredericks, Daedalus in Juvenal’s third Satire, CB 49 (1972) 11-13; (as the haruspex of Galba described in Tacitus, Hist. 1.27.1) S. H. Braund, Umbricius and the Frogs”, CQ n.s. 40.2 (1990) 502 -506, following a suggestion by Nisbet. A secondary <?page no="152"?> Wendy J. Raschke 140 (line 17) and by the passing out of reality suggested in speluncas|dissimiles ueris” (17-18). The narrowness of the line between life and death is emphasized later in the poem (258ff.). In the description of the traffic in Rome Juvenal envisages a catastrophe in which a wagon carrying rocks overturns and crushes the people nearby. Bodies are demolished indiscriminately and disappear, as do their souls. The normally-anticipated separation of body and soul does not take place. Then Juvenal paints a scene at the home of one of the deceased, where busy preparations are underway for his arrival. The man is at once dead in fact, yet alive to his family. As they walk, Umbricius and the poet pass through the vale of Egeria; the natural environment of the area has suffered the intrusion of civilization in Augustan style (lines 18ff.): its fountain is now confined by flamboyant (presumably imported) marble, rather than native tufa; the verb uiolarent used of the marble suggests religious desecration. Luxurious degradation is accompanied by literal decay in Rome, represented by the threat of fires and falling buildings (lapsus tectorum 7-8) The image of a falling house has become a politically charged idea by the time of Juvenal; it has its own specific vocabulary (ruere, ardere, labi, iacere, etc.), and has been used for this purpose by Vergil, Seneca and Lucan. 28 The antithesis between the city and the country is not real but it is rhetorically effective. Though Roman rhetoric often recognized the utopian aspects of the metropolis, Juvenal’s depiction of the city is one-sided and dystopic. The city becomes an allegorical background with symbols of evil. 29 The country, supposedly a cool but unsophisticated retreat, is also illusory. One might compare Ovid ’ s characterization of Tomis as barbaric - in fact, it was not. Moreover, the contrast he adduces with Rome is fallacious in that by continuing to write, Ovid established a point of contact with Romanness. 30 interpretation of umbra would make Umbricius an “uninvited guest” in his own city, which would be appropriate generally, but less so in the context. A different notion of umbra as “shadow” is adopted by A. L. Motto and J. R. Clark, Per iter tenebricosum: The Mythos of Juvenal 3, TAPhA 96 (1965) 267-276. 28 See J. Dorchak, From Collapsing House to Cataclysm: Images of Ruin in Vergil, Seneca and Lucan, Diss. Harvard 1995, passim. 29 See R. Laurence, Writing the Roman metropolis, in: Helen M. Parkins (ed.), Roman Urbanism: Beyond the Consumer City, 14-17, who argues for a utopian view of the city, as in the works of the rhetoricians. He echoes J. Raban (Soft City, London 1974, 12) in regard to “the ability of metropolitan inhabitants to shrink from contact with strangers”, labeling them from one characteristic (16). Juvenal presents us with “a soft city”, not hard historical fact. 30 So Thomas N. Habinek, The Politics of Latin Literature, Princeton 1998, 153, 156-165; similarly and earlier: C. Edwards, Writing Rome, Textual Approaches to the City, Cambridge 1996, 127-129; R. Scodel in her review (BMCR 2007.07.23) of R. Rosen and I. <?page no="153"?> Imperium sine fine - Boundaries in Juvenal 141 This is similarly the case with Umbricius, who anticipates the poet ’ s presence and looks forward to visiting him to hear his satires (321-322). In fact, the city dweller will bring his culture with him to the country. Umbricius meanwhile has packed all his household possessions (tota domus componitur [10]), thus literally transferring city to country. Juvenal again emphasizes the domus and compono which has resonances of construction. But it is precisely the construction experts, the contractors of Rome, who remain in the city, those who will do anything for money (30ff.). Originally cheap performers, they now put on games (munera) of their own - another reversal of roles and fortune. They come ex humili magna ad fastigia (from the gutter to the heights, 36). Fastigia is an architectural term, indicating the peak of a roof especially that of gable or pediment of a temple. In the dwellings of the rich, major reception rooms were not infrequently styled after public buildings, as for example the main oecus of the House of the Mosaic Atrium at Herculaneum. Beyond the namesake atrium, immediately behind it and on the same axis is a large structure with two stories, clerestory windows and a gable roof (fastigium), not unlike the form of a basilica. Here the public has literally been brought home to emphasize the importance of the owner. 31 After a considerable digression on the dishonesty of the immigrant foreigners, at line 124, we are returned to the house: limine summoueor, perierunt tempora longi seruitii; nusquam minor est iactura clientis. The poor native cliens can get no farther than the threshold; and what wonder? For the praetor himself makes haste to join the competition. The poor Roman suffers humiliation even in the theatre, where seating divisions have separated (distinxit again [159]) the wealthy from the impecunious, regardless of background. Poverty is defined as res angusta domi, at once a reinforcement of the domus image and a spatial concept (angusta), comparable to “confined Gyara” above (1.73). By contrast with the city, in the democratically organized theatre of the countryside, togas are worn by no-one (aequales habitus illic similesque uidebis| orchestram et populum, 177-178), and the theatre itself is made of native turf rather than elegant stone, (reechoing the complaint about the confinement of the natural groves, 3.19-20). Dress is a visible marker and the desire to appear affluent extends even to the poor. Consequently the poverty which they try to conceal is ambitiosa “pretentious”, a word with strong political overtones (182). Then again the image of the domus (187), now full of cakes for the festival - but here they are for sale, not generously provided by the dominus. Sluiter, City, Countryside and the Spatial Organization of Value in Classical Antiquity, Leiden 2006 (= Mnem. suppl. 279). 31 Wallace-Hadrill (supra n. 5 59-60. <?page no="154"?> Wendy J. Raschke 142 The danger which the city represents is summarized in the word ruinam (190); as we have seen, the collapsing house is a standard image of disaster with recurrent vocabulary, evidenced in labentibus (194). 32 But the political overtones are made clear by the reference to Ucalegon: in the second book of the Aeneid Ucalegon’s house is second to burn at the destruction of Troy, the first being that of Deiphobus. One interpretation suggests that the pairing of Deiphobus and Ucalegon at the moment of disaster, which at first seems strange, is in fact designed to imply that “virtuous, wicked, wise and foolish may well all go up in smoke together.” 33 Satire 4 Is Juvenal transferring the object lesson to his context? Certainly this was the case in respect to the wagon accident (258ff.). Satire 4 begins with Crispinus (again) and the purchase of an extraordinarily expensive fish for his own consumption (11ff.). Juvenal’s outrage seems conditioned largely by the fact of his immigrant status : “Did you, Crispinus, who once wore a strip of native papyrus (patria papyro) around your loins, pay this much for a fish? ” The phrase patria papyro introduces a geographical perspective which resonates through the poem, as we shall see. The remarks on Crispinus, however, are designed to introduce a parallel story, that of the capture of a turbot in the Adriatic Sea and its delivery by its captor to the palace of Domitian in Ancona. The section of the poem deserves closer inspection. At lines 37ff. in epic style the scene is set with the emperor Domitian “flaying the half-dying world” (semianimum …orbem). The adjective semianimus is significant because it portrays the world as on the border between life and death and reinforces the notion of the emperor’s auctoritas, the power of life and death. The concept of death will be reinforced as the poem progresses. The fish falls into the net in front of the temple of Venus, clearly a reminiscence of the Vergilian/ Augustan retracing of the Julian dynasty to Venus, and the fish thereby is effectively offering himself (incidit = “throw oneself”, OLD 1 s.v.) to the house of Caesar; compare ipse capi voluit (69). 34 32 Dorchak, supra n. 28, 27-28. The religious dimension of the act is underlined by the description of the fish as admirabile (39) and the identification of Domitian as pontifex maximus (46). Admirabile is also suggestive of objectification by an audience. The fisherman, cumbae linique magister, reminds us of Charon in Aeneid VI, the liminal figure who transports spirits from the land of the living to that of the dead; 33 So F. Bliss, Ucalegon and the Scaean Gate, Vergilius 42 (1996) 54. 34 OLD s.v. incido 1. <?page no="155"?> Imperium sine fine - Boundaries in Juvenal 143 he also marks the edge of the inhabited world which Romans have brought under their dominion. The fisherman is described as remix nudus (49), which means equally “stripped for work” and “without resources”, 35 obstsitit intranti miratrix turba parumper, an image of a working class individual, even as the fish is fugitivum (50) and elapsum (52), like a runaway slave; both are subject to Caesar, as is everything in the whole ocean (54), utcumque natat (wherever it swims). The “flight” motif is one we have already met in Satire 2. The spatium admirabile rhombi (39) is echoed by the vastness of the ocean and of the reach of the Imperial treasury. The fish should then be given, ne pereat, a delightfully ambiguous phrase capable of meaning both “that it might not be wasted” or “that it might not die”. The fish, of course is already dead, but there is a reminder of the possibly fatal consequences for those who fail to show adequate respect. As the fisherman draws near to Domitian’s palace at Alba, ut cessit, facili patuerunt cardine valvae; exclusi spectant admissa obsonia patres. itur ad Atriden. Here we may note the “wondering” (miratrix) crowd who create an immediate, but short-lived barrier between the fish and its lord; like spectators at the games in the amphitheatre, the senators, traditionally the elite of Rome, are left on the periphery looking in, as the nameless fisherman and his catch are granted access to the imperial domain. As we have seen earlier, access is a marker of status: in Satire 4 admission to the emperor is severely limited. The emperor lives away from the capital in the Alban hills. Rome as a political entity has moved to the countryside. As Nicolet has expressed it: “Within Roman imperial space the concept of centre and periphery were clear: there was a caput to the body of empire; it was both the city of Rome and the emperor.” A number of examples demonstrate the inadvisability of moving the capital, including that of Julius Caesar. Augustus wanted earnestly to remove the suspicion of any such aims and declared that Rome would always be in Rome. 36 35 So S. M. Braund, supra n. 9, ad loc.; cf. OLD s.v. 1b, 2, and 10. Nevertheless, in Sat. 4 the emperor is living outside of the capital and apparently running the business of empire from there. This makes it difficult for the counsellors to travel there when called, and their resentment at making such a journey for so trifling a reason is clearly conveyed; their haste is conditioned more by fear than enthusiasm or loyalty (quos oderat ille 36 Nicolet, supra n. 1, 192. The image is similarly employed by Lucan in regard to the decapitation of Pompey B.C. 8.667-75); cf. Glenn W. Most, “disiecti membra poetae”, in R. Hexter and D. Selden (eds.,) Innovations of Antiquity, New York 1992, 397. <?page no="156"?> Wendy J. Raschke 144 … pallor amicitiae, 73-75). We may note the politically charged term amicitia at the caesura. Here at Alba, the traditional seat of Latin kings, the aristocracy of Rome is denied access to its emperor in favour of an unknown outsider (both man and fish). Juvenal hammers home the point with exclusi…patres, the phrase situated at either end of the line surrounding the admissa obsonia, like the audience which it represents. The fish is deemed privatis maiora focis (too big for a private kitchen), that is, excluded from the private sphere of people in general and fit only for the ruler. It is too large to be contained (by a regular dish), as is the power of the emperor or the might of Rome (imperium sine fine). And yet it will be contained, even if a custom-made dish is to be created. And, as if its extension beyond the confines of the dish acts as some type of threat to the imperial ability to constrain all people and things, an edict is pronounced against any recurrence by requiring the presence of a potter wherever the emperor travels. There is consideration of cutting up the fish, but, even as the body of a Roman citizen is by law inviolate, the fish is spared this indignity. The Arena The connection between the literary and the visual emerges naturally from the rhetorical notion of enargeia, vividness in narrative. As in some earlier Greek historians, in the work of Livy, (which, interestingly, he refers to as a monumentum) this vividness is achieved by employing contemporary spectacle and performance to illuminate his depiction of the past. 37 The arena was a microcosm of Roman society; it was an architectural achievement surrounded by walls which separated it off from the surrounding life of the city; at the same time within those walls it reestablished through its seating arrangements the class system existing outside. “It mattered where you sat and where you were seen to be sitting”. Schooled in the same rhetorical tradition, Juvenal frequently uses images from current religious practices and spectacular performances in the amphitheatre to make his point. 38 37 Feldherr, supra, n. 15, 12. The gathering of the populace into the defined space of the amphitheatre (or theatre) has been identified as a kind of “liminoid ritual”, through which societies recognize and deal with threats to their security. Such rituals involve 3 stages: 38 Keith Hopkins, Death and Renewal, Cambridge 1983, 18. Hopkins’ theories on the political aspects of the amphitheatre have recently been contested to some extent by Katherine E. Welch, The Roman Amphitheatre from its Origins to the Colosseum, Cambridge 2007, 5-7. <?page no="157"?> Imperium sine fine - Boundaries in Juvenal 145 separation, transition, and reintegration. The gladiator stands as a dangerous stranger isolated from normal contact (he has no legal viability and effectively does not exist under Roman law); he will not be reintegrated into society, but rather eliminated from it as a scapegoat. 39 He therefore represents much of what is wrong with Roman society. At the same time it is a place where man and beast come dangerously close and the boundary between them is often blurred. 40 That the underpinnings of the games in the arena are political cannot be contested: they served a political purpose, ridding the city of its undesirables; they provided form of organized licence to diffuse the emotions of a potentially unruly rabble; and they offered an opportunity for the display of generosity by the emperor or other patron, in which, by being permitted to decide the life or death of a conquered gladiator, the people were given the impression of power. It is evident from the sources that Augustus was especially aware of the political potential of the amphitheatre. 41 An elite Roman house was clearly planned to make the maximum impression on its visitors. Not only were the major public rooms so adorned, but the decorative scheme could carry specific messages: in Petronius, Trimalchio is aware of this in his choice of a mural, designed to illustrate his meteoric rise to wealth, and his paintings of Homeric themes and of a gladiatorial show given by Laenas. Recognition of the political aspects of this spectacle is probably why the arena is a recurring image in Juvenal’s poetry. But there may be a further reason. 42 Being an editor of games was a source of pride and a testimony to one ’ s resources; it has also been demonstrated how mosaics portraying beast games and other spectcales were deliberately positioned in the homes of such editores to flaunt to the greatest effect the achievements and status of the owner. 43 39 Cf. P. Plass, The Game of Death in Ancient Rome: Arena Sport and Political Suicide, Wisconsin 1995, 25-26; C. A. Barton, The Sorrows of the Ancient Romans. The Gladiator and the Monster, Princeton 1993, passim. Thus images of the arena are a recognized form of socio-political statement. In Juvenal, as in Virgil, they serve 40 Most, supra n. 36, 403-406. 41 Res Gestae 22 ; Suet. Aug. 43-45. 42 Petronius, Sat. 29; note also the use of fasces as decoration (30). 43 On the conscious positioning of artistic work in Roman homes, see Sarah Scott, The Power of Images in the Late-Roman House, in: R. Laurence and A. Wallace-Hadrill (edd.), Domestic Space in the Roman World: Pompeii and Beyond, Portsmouth, RI 1997, 53-67. Though this work discusses primarily houses of the fourth century A.D., the parallels in decorative schemes, their subject matter and location provide clear resonances for those of the early empire. Cf. C. Kondoleon, Signs of Privilege and Pleasure: Roman Domestic Mosaics, in: E. Gazda (ed.), Roman Art in the Private Sphere. New Perspectives on the Architecture and Décor of the Domus, Villa and Insula, Ann Arbor 1991, 105-115; also S. P. Ellis, Power, Architecture and Décor: How the late Roman Aristocrat Appeared to His Guests, ibid., 117-134. <?page no="158"?> Wendy J. Raschke 146 as a recognizable backdrop and familiar reinforcement imbued with political and social connotations. Juvenal and Vergil One point which is apparent in reading Juvenal’s poetry - is that he draws heavily on Vergilian motifs and topoi. Epic parody is, of course, a traditional characteristic of satire; yet Juvenal’s frequent employment of Augustan imagery and architectural allusion seems to indicate something beyond literary virtuosity. I would like to suggest that the Vergilian allusion is designed to reference and reinforce imagery which had its origins, as did the Aeneid, in the atmosphere of Augustan propaganda and to draw us into a somewhat serious political interpretation of those images. After all, the kind of architectural imagery which we see in Juvenal, is applied by Horace, not so much in his Satires, but in a work more redolent of Roman tradition, the Odes. 44 Epilogue Whereas Horace and Vergil echo the sentiments of serious Augustan propaganda, Juvenal has chosen to adopt known images and points of reference from the same source, but has endowed them with a negative force in his version of Romanitas and Rome. The result is a parody, not simply of Augustan poetry, but of the imperial idea(l) developed by Augustus and monumentalized in the city of Rome as described in the Res Gestae. As these monuments of the early Empire provided visual reinforcement for a positive political concept, so now in Juvenal they serve to underline the decay of Rome and the loss of Roman mores. The loss of order seems to be underlined by the form of the poems: image is piled upon image, creating mental confusion and reinforcing our sense of the chaotic state of Rome. Umbricius, too, seems confused, as he stands at the gate of the city; although he envisages clearly the distinction between urbs and rus, he will in fact be leaving one Graeca urbs, Rome, for another, Cumae. The line between them is not clearly drawn. Boundaries are what define Rome, the city and the empire. They are part of the organization and order which Rome instils in those it conquers. The implementation of Roman law defines the limits of activity and the transgression of those limits leads to punishment, rebellion, or anarchy. Those who are not protected by Roman law are “other” and a potential threat to the system; the gladiator provides a ready example and is brought into play 44 See C. J. Simpson, Exegi monumentum: Building Imagery and Metaphor in Horace, Odes 1-3, Latomus 61.1 (2002) 57-66. <?page no="159"?> Imperium sine fine - Boundaries in Juvenal 147 frequently. In his first book Juvenal offers us a variety of images of the transgression of boundaries which convey the message of the loss of traditional Roman identity, organization and usage: once-cherished distinctions of rank and propriety have been trampled under the feet of the surging tide of foreign immigrants. His critique is played out against the more welldefined and celebratory images of Augustan Rome, a contrast which underlines the failures of the present. <?page no="160"?> Markus Mülke Ein Satiriker und seine Stadt. Juvenals (politische? ) Anspielungskunst in den Rahmenpartien der dritten Satire „Denn die Satire wählt, nimmt und kennt keine Objekte. Sie entsteht so, daß sie vor ihnen flieht und sie sich ihr aufdrängen.“ (Karl Kraus) 1 Einleitung Die Anspielungskunst, die der Satiriker Juvenal in seinen Gedichten offenbart, ist gerade in der jüngsten Forschung Gegenstand eingehender Untersuchungen gewesen. 1 Besonders zwei Ergebnisse dieser Studien belegen im allgemeinen, wie anspruchsvoll Juvenal die Anspielung auf ein älteres literarisches Vorbild einsetzt: Zum einen umgreift die Liste der betreffenden Autoren die gesamte griechisch-römische Literaturgeschichte, und zwar nicht nur chronologisch - schon Homer spielt eine prominente Rolle -, sondern auch im Hinblick auf die unterschiedlichen Gattungen; vor allem das Epos, 2 1 Vgl. Juvenal, Satiren, lateinisch - deutsch, herausgegeben, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Joachim Adamietz, Darmstadt 1993 ( Sammlung Tusculum), hier 486, und Christine Schmitz, Das Satirische in Juvenals Satiren, Berlin-New York 2000 (= Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 58.). aber auch die Lehrdichtung, die Liebespoesie, die moralphilosophische Prosa, die Geschichtsschreibung, um nur einige Beispiele zu nennen, werden neben den früheren Satirikern ausgiebig genutzt. Zum anderen beeindruckt die Feinheit, mit der Juvenal die literarischen Verweise in seine eigenen Satiren einfügt. Zuweilen genügt ein einziges Wort, manchmal ein Eigenname, um einen ganzen berühmten Kontext aus einem Klassiker anklingen zu lassen und für die Ausgangsstelle in der Satire eine bestimmte Interpretation nahezulegen. Nicht zuletzt durch diese hintergründige Anspielungskunst erweist sich die Lektüre der juvenalischen Gedichte, die uns und gewiß auch dem antiken Publikum zuweilen so lebensnah und unmittelbar vorkommen, als höchst voraussetzungsreich. Juvenal fordert vom Publikum, soll es seine Satiren denn in ihrer Vollkommenheit goutieren, 2 Vgl. hierzu auch Victoria Baines, Umbricius' Bellum civile: Juvenal, Satire 3, G&R 50, 2003, 220-237. <?page no="161"?> Ein Satiriker und seine Stadt 149 große Gelehrsamkeit. An den einfachen Römer, zu dessen Anwalt man Juvenal ja gern zu machen versucht ist, 3 Die folgenden Überlegungen werden sich der dritten Satire zuwenden, der bekannten Romsatire also. Im Mittelpunkt sollen dabei die Rahmenpartien des Gedichts stehen, die V. 1-20 sowie 315-322, und zwar insbesondere die Anspielungen auf zwei hochberühmte Texte philosophischer Prosa - auf Ciceros Schrift De legibus und auf Platons Phaidros. Im ersten Teil des Vortrags werden dabei kurz die literarischen Verweise am Text möglichst genau dingfest gemacht; im zweiten Teil soll dann die Bedeutung der Anspielungen zur Sprache kommen, einerseits innerhalb der dritten Satire, andererseits im Rahmen des juvenalischen Gesamtwerks; schließlich wird in einem letzten Teil gefragt werden, welche politischen Implikationen sich aus den Bezügen auf Cicero und Platon ergeben könnten. richtet sich dieser poeta doctus daher sicher nicht - und das ist im Grunde schon eine Feststellung über das Politische in seinen Satiren. 2 Die Verweise auf De legibus und auf den Phaidros Während der Hauptteil der dritten Satire aus dem Monolog eines Mannes namens Umbricius besteht, 4 erschließt sich aus den rahmenden Einleitungs- und Schlußpartien die Personenkonstellation des Gedichts: Die ersten Verse enthalten ebenfalls einen Monolog, nämlich den eines Sprechers, der in erster Person zunächst den Entschluß seines Freundes Umbricius, Rom zu verlassen, kommentiert und anschließend den Ort beschreibt, an dem sich beide zum letzten Mal vor dessen Abreise trafen. Erst am Schluß der Satire bricht Umbricius seinen Monolog, da die Zeit zur Abfahrt aus Rom drängt, ab und verabschiedet sich vom Freund bis auf ein künftiges Wiedersehen. Die Satire endet mit seinen Worten, ohne daß der Sprecher der Eingangsverse noch einmal zu Wort gekommen wäre. 5 Juvenal verwendet in den V. 10-20 und 316-318 auffällige Sorgfalt auf die anschauliche Gestaltung der äußeren Szenerie, vor welcher sich die Begegnung zwischen Umbricius und dem Freund abspielt. Dies ist kein Zufall, hätte sich der Dichter doch ohne weiteres kürzer fassen können oder die Klage über Rom überhaupt nicht an einen bestimmten Schauplatz binden müssen. Warum also diese sorgfältige Konstruktion des äußeren Rahmens? 3 Vgl. schon D. Iunii Iuvenalis Saturae XIV. Fourteen Satires of Juvenal, edited by J.D. Duff, Cambridge 1932, hier XX: "The language of the satires is the language of a poor and disappointed man”. 4 Vgl. Susan H. Braund, Beyond anger: A study of Juvenal’s third Book of Satires, Cambridge 1988 (= Cambridge Classical Studies), 239, und Schmitz, Das Satirische (wie Anm. 1), hier 57. 5 Vgl. Joachim Adamietz, Untersuchungen zu Juvenal, Wiesbaden 1972 (= Hermes Einzelschriften 26.) 9f. <?page no="162"?> Markus Mülke 150 Mit Recht hat man darauf hingewiesen, daß gerade ein Stadttor sich zum vom Dichter ersonnenen Treffen der beiden Personen gut füge: An einem Stadttor ereignet sich der Übergang vom Inneren der Stadt nach außen, die Porta Capena bilde also gleichsam örtlich das Bekenntnis und den Entschluß des stadtflüchtigen Umbricius sowie die im Gedicht ausgeführte Antithese Stadt-Land ab. Besonders gut paßt dazu, daß derjenige, der aus Rom durch die Porta Capena hinaustrat, die monumentalen öffentlichen Bauten, wie den Palatin, das Amphitheatrum Flavium und den Circus Maximus, unmittelbar hinter seinem Rücken hinter sich ließ und das Pomerium, also die alte Grenze zwischen „innen“ und „außen“, 6 überschritt. Desweiteren ließe sich noch manches zur besonderen historischen und politischen Bedeutung der Porta Capena ergänzen, war sie doch nicht nur diejenige Porta, an welcher die nach Süden auf der Via Appia ausreisenden Gespanne beladen wurden, 7 sondern auch das Stadttor, das in der römischen Geschichte mehr als alle anderen als Erinnerungsort sowohl berühmter „Auszüge“ aus der Hauptstadt, etwa der hohen Provinzialbeamten oder der Legionen, als auch berühmter „Einzüge“ in die urbs galt. 8 Schließlich evoziert der Spaziergang der beiden Freunde von der Porta Capena ins Tal der Egeria, mit welcher sich König Numa ebendort verabredet habe (V. 12: hic, ubi nocturnae Numa constituebat amicae), und in deren Grotte beim Hörer zunächst die Vorstellung von einem locus amoenus außerhalb der umtriebigen und bedrohlichen (V. 6-9) Stadt, zumal da die Umgebung außerhalb gerade dieses Tors am Fuße des Caelius selbst in der Kaiserzeit noch recht unverbaut und grün gewesen zu sein scheint. 9 6 Vgl. dazu Jörg Rüpke, Domi militiae. Die religiöse Konstruktion des Krieges in Rom, Stuttgart 1990, 32-36, 45f., 57, vor allem zur radikalen Ausgrenzung „von allem, was mit Krieg zu tun hat“, 125f., 135 zur transmutatio vestis des Feldherrn, der erst mit Überschreiten des Pomeriums in die Stadt das paludamentum mit der Toga tauschte. Diese Vorstellung schlägt jedoch in den drei Schlußversen der Einleitung ins 7 Vgl. D. Iunii Juvenalis Saturarum libri V, mit erklärenden Anmerkungen von Ludwig Friedländer, Leipzig 1895, 190f. z.St.; H. Jordan, Topographie der Stadt Rom im Alterthum, Erster Band, Dritte Abteilung, bearbeitet von Ch. Huelsen, Berlin 1907, 205, und Edward Courtney, A Commentary on the Satires of Juvenal, London 1980, 157 mit Verweis auf Mart. 2, 6, 16 und 3, 47, 1. 8 Rüpke, Domi militiae (wie Anm. 6), hier 27, setzt das Stadttor mit dem Marsfeld im Nordosten der Stadt, dem Ausgangspunkt der Triumphzüge, in Beziehung und sieht in ihm einen besonderen Ort von „Einzugsritualen“, vor allem an dem nahegelegenen Marstempel (transvectio equitum! ) und dem augusteischen Altar der Fortuna Redux. Cicero zog auf seiner Rückkehr aus dem Exil unter großem Beifall durch das Stadttor nach Rom ein (Att. 4, 1, 5 [vgl. Jordan, Topographie [wie Anm. 7], hier 202 7 ]). 9 Vgl. Juvenal, Satires Book I, edited by Susanna Morton Braund, Cambridge 1996 (= Cambridge Greek and Latin Classics), hier 235: „... the closest approximation the city can offer to a country setting.” Alex Hardie, Juvenal, the Phaedrus, and the Truth about Rome, CQ 48, 1998, 234 - 251, hier 239, weist mit Recht darauf hin, da ß die Schilderung der Ö rtlichkeit bei Livius (1, 21, 3) ebenfalls Z ü ge eines typischen locus amoenus aufweist. <?page no="163"?> Ein Satiriker und seine Stadt 151 Gegenteil um und verwandelt sich in Enttäuschung über die marmorne 10 Entstellung des religiösen Orts (V. 17-20): 11 Gerade diese Verse nun, die den Eindruck eines locus amoenus verzerren, erinnern das kundige Publikum an den literarischen Schauplatz, an dem Cicero in De legibus die Gesprächspartner seines Dialogs zusammenkommen läßt: in vallem Egeriae descendimus et speluncas | dissimiles veris. quanto praesentius esset | numen aquis, viridi si margine cluderet undas | herba nec ingenuum violarent marmora tofum - eine durchaus passende Überleitung zum folgenden Monolog des Umbricius. 12 In der freien Natur bei Ciceros Heimatstadt Arpinum, zunächst in der Nähe seiner Villa im Spaziergang am Wasser (vgl. 1, 5, 15; 2, 1, 1), dann auf einer kleinen Insel im Fibrenus (2, 1, 1; 2, 3, 6) und schließlich an einer schattigen Uferstelle des Liris, 13 10 Marmor wird bei Juvenal auch sonst mit dekadentem, entstellendem (Bau-)Luxus assoziiert (vgl. 1, 13; 3, 215; 4, 112; 6, 430; 7, 79f.; 13, 115; 14, 89f., 95). Vgl. zu diesem Motiv in der augusteischen Literatur etwa Ulrich Eigler, Von der Platane im ‚Phaidros‘ zur Eiche des Marius - Vergangene Zukunft in Ciceros ‚De Legibus‘, in: Martin Flashar/ Hans-Joachim Gehrke/ Ernst Heinrich (Hrsg.), Retrospektive. Konzepte von Vergangenheit in der griechisch-römischen Antike, München 1996, 137-146. treffen sich Cicero selbst, der Bruder Quintus und Atticus an einem wahren locus amoenus, auf dessen anmutige Beschreibung der Autor große Sorgfalt verwendet, über mehrere Stellen in den verschiedenen Büchern des Werks, so daß der Leser fortlaufend an die liebliche Umgebung der Zusammenkunft erinnert wird. Daß Juvenal eben auf dieses literarische Vorbild, das ja nur eines unter zahlreichen locus-amoenus- Motiven der römischen Literatur darstellt, verweisen möchte, wird vor allem an zwei Stellen deutlich. Erstens: Gleich zu Beginn des ersten Buchs (1, 1, 1-5), also an besonders prominentem Ort, fordert Cicero von Atticus und Quintus ein, daß für die Geschichtsschreibung, die auf Wahrheit ziele, andere Gesetze zu gelten hätten als für die Dichtung, die eher unterhalten wolle. Manch einer lese etwa sein Gedicht Marius wie einen historischen Augenzeugenbericht und kritisiere ihn selbst in Verkennung dichterischer Freiheit als Lügner (1, 1, 4) - doch glaubten solche Leute wohl auch daran, daß Ro- 11 Vgl. treffend Gilbert Highet, Juvenal the Satirist. A Study, Oxford 1962, 69; Adamietz, Untersuchungen (wie Anm. 5), 40; Braund, Beyond anger (wie Anm. 4), 14; Susan H. Braund, City and Country in Roman Satire, in: dies. (Hrsg.), Satire and Society in Ancient Rome, Exeter 1989 (= Exeter Studies in History 23.), 23-47, 27f.; Morton Braund, Satires (wie Anm. 9), 176 z.St., 232; Hardie, Juvenal (wie Anm. 9), 239, und Schmitz, Das Satirische (wie Anm. 1), 51. Die Kommentare verweisen für das hier ausgedrückte Naturgefühl auf Ovid met. 3, 155-172; 15, 547; vgl. aber auch am. 3, 1, 1. 12 Grundsätzlich sei angemerkt, daß aus Juvenals Fertigkeit, mit hintergründigen Anspielungen auf bekannte Referenztexte zu verweisen, nicht notwendig darauf zu schließen ist, er habe die literarische Tradition für wichtiger gehalten als die glaubwürdige Darstellung tatsächlicher römischer Gegebenheiten (vgl. Morton Braund, Satires [wie Anm. 9], 231, und Hardie, Juvenal [wie Anm. 9], 235 u.ö.). 13 Vgl. Andrew R. Dyck, A Commentary on Cicero, De Legibus, Ann Arbor 2004, hier 93, 248. <?page no="164"?> Markus Mülke 152 mulus nach seinem Tod in Rom spazierenging (1, 1, 3) und Numa sich mit Egeria unterredet habe (1, 1, 4; vgl. zu Numa auch 2, 10, 23; 2, 12, 29): ... nec dubito, quin idem ... cum Egeria conlocutum Numam ... putent! Zweitens: Zu Beginn des zweiten Buchs wechseln die Gesprächspartner den Ort ihrer Konversation und lassen sich auf einer kleinen Insel im Fluß Fibrenus nieder, einem Lieblingsplatz Ciceros, wie sich im folgenden herausstellt (2, 1, 1). Die unberührte Natur des wunderbaren Platzes am Wasser (vgl. 2, 3, 6: hac [sc. insula] vero nihil est amoenius) bewegt Atticus zu einer scharfen Polemik gegen den zeitgenössischen Bauluxus (2, 1, 2; vgl. auch 3, 13, 30): equidem, qui nunc potissimum huc venerim, satiari non queo, magnificasque villas et pavimenta marmorea et laqueata tecta contemno. ductus vero aquarum, quos isti Nilos et Euripos vocant, quis non, cum haec videat, inriserit? itaque ut tu paulo ante de lege et de iure disserens ad naturam referebas omnia, sic in his ipsis rebus, quae ad requietem animi delectationemque quaeruntur, natura dominatur. 14 - Den hier ausgedrückten Kontrast greift Juvenal in den V. 17-20 der dritten Satire auf, ja verstärkt ihn noch durch die Variation, daß in der Grotte der Egeria das Gegenüber von - hier gar numinöser - Natur, Naturbelassenheit, einerseits und menschlich verschuldeter Marmorverschandlung andererseits kein tatsächlicher, sondern nur noch ein ersehnter ist. 15 Mit der Feststellung dieses intertextuellen Verweises ist die Hintergründigkeit der juvenalischen Anspielungskunst an dieser Stelle jedoch noch nicht hinreichend erfaßt. Nach Ciceros De legibus wird das Publikum in denselben Versen weiter zurück verwiesen auf eine berühmte Passage der griechischen Literatur, nämlich auf den Eingang des platonischen Phaidros. 16 Dessen Einleitung hatte Cicero selbst in der Gestaltung seines locus amoenus, neben dem unmittelbaren Vorbild der Nomoi, 17 14 Bereits Lukrez erinnert in seiner Verurteilung des neureichen Luxus (2, 22ff.), zu dem er auch mit goldenen Statuen ausgestattete Häuser und die laqueata aurataque templa zählt, an das platonische Gegenbild des Phaidros : ... cum tamen inter se prostrati in gramine molli | propter aquae rivum sub ramis arboris altae | non magnis opibus iucunde corpora curant, | praesertim cum tempestas adridet et anni | tempora conspergunt viridantis floribus herbas. zum Vorbild genommen, ja 15 Schon Hardie, Juvenal (wie Anm. 9), hier 237f., hält diese beiden Bezüge für ausreichend, um von „direct imitation“ zu sprechen (vgl. auch Dyck, A Commentary [wie Anm. 13], 249). Die Deutung bei Morton Braund, Satires (wie Anm. 9), 175 z.St., greift zu kurz: „The setting of the poem presents a satiric parody of Plato's Phaedrus and Cicero De Legibus (see 1.1, 2.1-2): a dialogue between two friends walking outside the city walls and halting in a pleasant place.” 16 Vgl. Clyde Murley, Plato's Phaedrus and Theocritean Pastoral, TAPA 71, 1940, 281- 295; M.B. Trapp, Plato's Phaedrus in Second-Century Greek Literature, in: D.A. Russell (Hrsg.), Antonine Literature, Oxford 1990, 141-173, und Hardie, Juvenal (wie Anm. 9), 239: „At the time when Juvenal was writing ... the Phaedrus was certainly among Plato's best-known dialogues.” 17 Vgl. Max Pohlenz, Der Eingang von Ciceros Gesetzen, Philologus 93, 1938, 102-127, hier 105-108; Seth Benardete, Cicero's De legibus I: Its plan and Intention, AJPh 108, <?page no="165"?> Ein Satiriker und seine Stadt 153 ausdrücklich seine Reverenz dieser Stelle gegenüber zu verstehen gegeben (2, 3, 6): nec ... ullum hoc [sc. als der Liris] frigidius flumen attigi, cum ad multa accesserim, ut vix pede temptare id possim, quod in Phaedro Platonis [sc. 230b] facit Socrates. 18 Es ist jedoch nicht so, daß Juvenal nur indirekt über Cicero das platonische Vorbild vergegenwärtigt; nein, er kombiniert die genannten Hinweise auf De legibus mit gleich mehreren Elementen, die aus dem Phaidros entlehnt sind, so daß beide Referenztexte zugleich aufgerufen werden. Wie Umbricius und sein Freund ergehen sich Sokrates und Phaidros, nachdem sie sich noch in Athen getroffen haben (vgl. 227b: D¦ Y Y % K 2 2 ' š ), außerhalb der Stadtmauern (227a/ b; 228b; 230b/ c); 19 1987, 295-309, hier 298; M. Tullius Cicero, De legibus. Paradoxa Stoicorum - Über die Gesetze. Stoische Paradoxien, lateinisch und deutsch, herausgegeben, übersetzt und erläutert von Rainer Nickel, Darmstadt 1994 (= Sammlung Tusculum), 286, und Dyck, A Commentary (wie Anm. 13), 12, 20-23, 51, 94, 262f. Neben dem allgemeinen Bezug auf dieses Modell vgl. vor allem 1, 5, 15 mit dem ausdrücklichen Hinweis - hier gar auf der performativen Ebene des Dialogs - darauf, daß die Szenerie von De legibus diejenige der Nomoi nachstelle. auch sie legen zunächst gemeinsam ein Stück Weg zurück, bevor das eigentliche Kerngespräch des Dialogs beginnt, und begeben sich dabei an das Ufer des Flusses Ilissos (hinab? ; vgl. 229a: [Sokrates] H % D h 3 18 Vgl. des weiteren 1, 1, 3 (vgl. schon: I tre libri di M. T. Cicerone intorno alle leggi, testo colla versione e commento di D. Giacomo Sichirollo, Padova 1878, hier 27; Nickel, De legibus [wie Anm. 17], 248 z.St., und Dyck, A Commentary [wie Anm. 13], 21), wo Cicero in dem Zusammenhang, daß für die Historiographie andere Gesetze als für die Dichtung zu gelten hätten, auf den alten athenischen Mythos von der Entführung Oreithyias durch Boreas verweist - also auf genau den Mythos, auf den bei Platon Phaidros am Ilissos zu sprechen kommt und den er zum Anlaß nimmt, Sokrates über die Wahrheit solch alter Geschichten zu befragen (229b-230a); dazu 1, 5, 15; 1, 7, 21 (Abgeschiedenheit mit Vogelgezwitscher und Wasserrauschen: keine unliebsamen Zuhörer); 1, 22, 58f. mit dem Verweis auf die tiefe Bedeutung der delphischen Weisung 9 G0 2 h , die auch Sokrates gleich am Anfang des Phaidros als Richtschnur seines eigenen Handelns benennt (229e - 230a; vgl. Dyck, A Commentary [wie Anm. 13], 21f., 64f. z.St.), sowie das nur bei Macrobius erhaltene Fragment aus dem fünften Buch, in dem ein erneuter Ortswechsel der Gespr ä chspartner vorgeschlagen wird, um am hei ß en Frühnachmittag vor der Sonne zu weichen: visne igitur, quoniam sol paululum a meridie iam devexus videtur, nequedum satis ab his novellis arboribus omnis hic locus opacatur, descendamus [vgl. Juvenal in V. 17 ü ber den Weg hinab zur Egeriagrotte: descendimus] ad Lirim, eaque quae restant in illis alnorum umbraculis persequamur? Die Anspielung auf den Weg, den Phaidros und Sokrates am Ilissos (hinab? ) bis zum schattigen Platz unter der Platane zur ü cklegen (229 - 230), ist hier unverkennbar. Auch in anderen Werken rekurriert Cicero in unterschiedlichsten Zusammenh ä ngen auf den Phaidros, besonders eindrücklich in de orat. 1, 7, 27f. auf die Platane, unter der sich Sokrates und Phaidros niederlassen. 19 Vgl. Plato's Phaedrus, Translated with Introduction and Commentary by R. Hackforth, Oxford 1952, 21; G.J. de Vries, A Commentary on the Phaedrus of Plato, Amsterdam 1969, 44f.; E. Heitsch, Phaidros. Kommentar und Übersetzung, Göttingen 1993 (= Platon, Werke III.4), 72, und Platone, Fedro, a cura di Roberto Velardi, Milano 2006, 8f. <?page no="166"?> Markus Mülke 154 I 3 5 * ‚ m 2 q h,… D j 2 š 0 p h 0 ... [Phaidros] o§ V j 3 # C T 2 X h 'T ), 20 um dort einen ruhigen Sitzplatz auf einer Wiese unter einer schattenspendenden Platane zu finden (229b), einen Ort, der im folgenden ein kurzes Gespräch über die Entführung der athenischen Königstochter Oreithyia durch den Nordwind Boreas motiviert (229b-230a). Unter der Platane jedoch entspringt eine frische Quelle, umgeben vom Duft des Baumes, einem angenehmen Luftzug und Grillenzirpen - es handelt sich, wie Sokrates selbst bemerkt, um den Platz eines Heiligtums von Nymphen und des Flußgottes Acheloos (230b/ c; 238c/ d). 21 Daß Juvenal auf Platon und Cicero Bezug nimmt, darf heute als communis opinio gelten; die entsprechenden Stellen sind nicht nur in einem ausführlichen Aufsatz Alex Hardies, sondern auch in Braunds neuerem Kommentar zur Satire sowie in Dycks monumentalem Werk zu Ciceros De legibus vermerkt. Dennoch verdient die gleichsam mehrfältige Anspielungskunst, durch welche Juvenal zugleich zwei bekannte literarische Referenztexte aufruft, eine ausführlichere, vergleichende Untersuchung, die leider an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Insbesondere die beliebte Erklärung, die einleitenden Verse der dritten Satire parodierten das platonische Vorbild wäre dabei kritisch zu überprüfen. Es steht außer Frage, daß der Dichter, sollen seine Anspielungen nicht bloß gelehrtes Rätselspiel sein, mit den Verweisen die Aussage seiner eigenen Verse in einen interpretativen Zusammenhang mit den beiden Texten Ciceros und Platons stellen will. Wie tragen diese also zum genaueren Verständnis der dritten Satire bei - oder umgekehrt: Wie kommentiert eigentlich Juvenal seinerseits die beiden philosophischen Klassiker? Während bei Juvenal freilich im Nymphäum der Egeria nicht mehr frisches Gras und naturbelassener Tuff, sondern Marmor das Naß säumt, kann Sokrates eben den Rasen preisen, der am Ilissos zum Ausstrecken einlade (230c): 4C 5 . $h 3 8 h * m D B T C Š ` T"2 T ` " ` 9 C 5 e : 20 Vgl. auch 230b: … } 9 j 959}. 21 Zu der platonischen Beschreibung des Orts vgl. auch Gerhard Schönbeck, Der Locus amoenus von Homer bis Horaz, Diss. Heidelberg 1962, hier 102-111; Platon, Œuvres complètes, tome IV - 3 e partie, Phèdre, notice de Léon Robin, texte établi par Claudio Moreschini et traduit par Paul Vicaire, Paris 1985, XVII-XX; Platon, Phèdre, Traduction inédite, introduction et notes par Luc Brisson, Paris 1989, 29-32; Platone, Fedro, a cura di Giovanni Reale, Milano 1998, XXV-XXIX, und Velardi, Fedro (wie Anm. 20) 8-19. <?page no="167"?> Ein Satiriker und seine Stadt 155 3 Die Funktion der Anspielungen Erst durch die Gliederung der dritten Satire in das Gegenüber von Umbricius und dem Ich-Sprecher schafft Juvenal den Raum, über die bloße Anklage Roms hinaus - dafür hätte ja der Monolog genügt - einerseits diese kommentieren zu können, andererseits die zweite, namentlich nicht genannte Person überhaupt auftreten zu lassen. Die Rahmenpartien haben zwar die seit langem erkannte kompositorische Funktion, die Themen des folgenden Hauptteils anklingen zu lassen 22 und am Ende wie ein Epilog das Ganze harmonisch abzurunden; sie verdanken ihre Existenz aber auch dem Bestreben des Dichters, eben jenes „Ich“ vorzustellen und zu charakterisieren. Das Thema der dritten Satire wird durch diesen geschickten Kunstgriff über Umbricius hinaus auf eine zweite Person bezogen, welche sich aufgrund ihrer in feinen Strichen angedeuteten Persönlichkeit von Umbricius unterscheidet und damit eine zweite Perspektive auf das Thema eröffnet. 23 Geschickt konzentriert der Dichter zu Beginn die Aufmerksamkeit allein auf den status animi des Sprechers sowie auf eine grundsätzliche Vorstellung seiner Denkart: Bestürzung über den Fortzug des alten Freundes (V. 1): digressu veteris confusus amici, dennoch Anerkennung seines Entschlusses (V. 2): laudo tamen und durchaus Verständnis für die Wahl des Fluchtorts nahe dem lieblichen Baiae (V. 4f.): ianua Baiarum est et gratum litus amoeni | secessus; Schrecken vor den 1000 Gefahren Roms (V. 6-9) und den im heißen August rezitierenden Poetastern (V. 9): ... et Augusto recitantes mense poetas - ein konservativer Geist, der alten religiösen Vorstellungen nachhängt und naturbelassene Nymphäen höher schätzt als neureiche Marmorheiligtümer. 24 22 Vgl. dazu William S. Anderson, Juvenal 6: A Problem in Structure, CPh 51, 1956, 73-94, 74; Charles Witke, Latin Satire. The Structure of Persuasion, Leiden 1970, 128-151, 129; Adamietz, Untersuchungen (wie Anm. 5), 38; ders., Juvenal, in: ders. (Hrsg.), Die römische Satire, Darmstadt 1986 (= Grundriß der Literaturgeschichten nach Gattungen.), 231-307, 252; S.C. Fredericks, The Function of the Prologue (1-20) in the Organization of Juvenal's Third Satire, Phoenix 27, 1973, 62-67; Braund, Beyond anger (wie Anm. 4), 13; Morton Braund, Satires (wie Anm. 9), 231, und Schmitz, Das Satirische (wie Anm. 1), 210f. Erst in den Versen 318-322 kommt die Darstellung des Ich-Sprechers zum Abschluß, indem dort gleichsam persönliche Daten nachgereicht werden und der Spannungsbogen, der gerade durch V. 9, durch den Hinweis auf die nervtötenden Sommerrezitationen, aufgespannt worden ist, zu sei- 23 Vgl. Adamietz, Untersuchungen (wie Anm. 5), 10. Die Bemerkung bei Highet, Juvenal (wie Anm. 11), 68: „it would have been absurd for a satirist to stay in Rome and recite a dozen reasons for leaving” greift daher zu kurz. 24 Vgl. Anna Lydia Motto - John R. Clark, Per iter tenebricosum: The Mythos of Juvenal 3, TAPA 96, 1965, 267-276, 273; Witke, Latin Satire (wie Anm. 22), 130. Zum Ausdruck quanto praesentius esset numen aquae ... vgl. 11, 111 - 116; 13, 34 - 53; 112 - 119; 219; 229 - 231 und 14, 182; 315f. <?page no="168"?> Markus Mülke 156 nem Ende kommt: Der Sprecher lebt selbst in Rom, besitzt aber ein Anwesen in der Landstadt Aquinum, auf das er - also ein durchaus nicht mittelloser Mann - zuweilen von Rom aus „eilt“, um sich zu erholen (V. 318f.): ... quotiens te | Roma tuo refici properantem reddet Aquino. Und er ist Satirendichter (V. 321f.): saturarum ego [sc. Umbricius], ni pudet illas, | auditor gelidos veniam caligatus in agros! Die besondere Pointe des Gedichts, insbesondere seiner Rahmenpartien, liegt also darin, daß ein Satiriker dem eigenen Freund zuhört, wie dieser, eigentlich kein Satiriker, eine Satire auf Rom vorträgt - und das alles in Versen, die einundderselbe Satiriker Juvenal verfaßt hat. Auf die vielschichtige Debatte darüber, ob bzw. wie Juvenal selbst mit dem Ich-Sprecher der dritten Satire zu identifizieren sei, soll hier nicht eingegangen sein. 25 Daß der Dichter tatsächlich einmal an einem Tag seines Lebens an der Porta Capena mit einem gewissen Umbricius zusammengetroffen sein könnte, wird heute wohl niemand mehr annehmen. Gleichwohl erscheint es naheliegend, daß Juvenal in der Selbstvorstellung des satirischen Sprechers und in dem, was sich aus den Rahmenpartien über dessen Auffassung vom eigenen Schaffen gewinnen läßt, den Blick des Publikums indirekt auch auf das satirische Schaffen im allgemeinen richten möchte. Ein Schlüssel zum Verständnis liegt dabei in der Frage, die dem Publikum eben in den Rahmenpartien des Gedichts aufdrängt wird: Wenn der Ich-Sprecher den Entschluß des Freundes lobt; 26 Die Gründe dafür, warum der Satiriker im horrenden Rom zurückbleibt - das Motiv der Flucht an einsame, öde Orte am Ende der Welt begegnet übrigens auch an anderen besonders betonten Stellen der Satiren wenn er den Fluchtort für schöner hält als Rom; wenn er die Hauptstadt als bedrohlich, als lebensgefährlich und nervtötend empfindet; ja wenn er selbst sogar das öde Procida der subura vorzöge (V. 5: ego vel Prochytam praepono Suburae) - warum eigentlich verläßt nicht auch er die urbs, dem mit seinem Besitz in Aquinum gar eine eigene Lebensalternative bequem zur Verfügung stünde? 27 25 Vgl. dazu aus der neueren Literatur (mit Verweisen auf die ältere) Braund, City and Country (wie Anm. 11), und Maria Plaza, The Function of Humour in Roman Verse Satire. Laughing and Lying, Oxford 2006, 111 u.ö., sowie aufschlußreich schon C. Joachim Classen, Überlegungen zu den Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung des Begriffes Ironie (im Anschluß an die dritte Satire Juvenals), in: Kontinuität und Wandel. Lateinische Poesie von Naevius bis Baudelaire, Franco Munari zum 65. Geburtstag, herausgegeben von Ulrich Justus Stache, Wolfgang Maaz und Fritz Wagner, Hildesheim 1986, 188-216, 207f. u.ö. - und die schmerzliche Trennung vom Freund in Kauf nimmt, scheinen in der Satire selbst nicht angegeben zu werden. Juvenal deutet sie jedoch eben durch die Anspielungen auf Cicero und Platon hintergründig an: Es sind wohl nicht 26 Laudo ist an dieser Stelle (trotz dem sarkastischen laudo meum civem in 12, 121) nicht ironisch aufzufassen. 27 Vgl. 2, 1f.: ultra Sauromatas fugere hinc libet et glacialem | Oceanum, quoties ...; 3, 190-192; 197f ; 223-231; auch 15, 172f. <?page no="169"?> Ein Satiriker und seine Stadt 157 die großen inhaltlichen Themen jener beiden Schriften De legibus und Phaidros, auf die er hier verweisen möchte - in ersterer ließe sich vielleicht noch etwas finden, was mit der Romsatire in Verbindung gebracht werden könnte, 28 bei Platon jedoch kaum -, sondern auf den unmittelbaren Zusammenhang der durch die Referenzen bezeichneten Stellen innerhalb der berühmten locus amoenus-Darstellungen. Nachdem Sokrates den anmutigen Ort, an den Phaidros ihn geführt hat, überschwenglich, ja enthusiastisch gepriesen hat, 29 staunt dieser, warum Sokrates den Eindruck macht, als sei er ganz fremd, ganz unvertraut mit der Umgebung. Die bekannte Tatsache, er verlasse Athen nicht ins Ausland, 30 wird noch zugespitzt - er gehe nicht einmal vor die Stadtmauern ins Grüne (230c/ d): PX T 9 * ¢ 0 2 C * ! ¨ h " : ! G 9C * © T9 * , 9 2 T ] 7 7 - D 5 ] eª « ¥ 5 D % + c ' ` - ! * c e,5 2 e 9 3 C D, T . Während nun Sokrates die Antwort gibt, selbst die schöne, anmutige Natur sei für ihn öde, uninteressant und nur die Stadt, nicht Felder und Bäume, lehrten ihn etwas über die Menschen bei seinem noch ganz unvollkommenen Streben nach Selbsterkenntnis (230d): @ 0` 9C ' « . V 5 7 T - T ’ D0T C * Š D  + + 0 5 * während er also seine philosophische Existenz nur in Athen, in unmittelbarem Kontakt und Gespräch 31 28 Auffällig ist etwa, daß in De legibus gerade die jüngste Zeitgeschichte als historisch besonders lohnenswertes Thema vorgestellt wird (1, 3, 8). Auch die Anmerkungen Ciceros zur Lenkung der Natur durch die unsterblichen Götter (1, 7, 21; vgl. Atticus in 2, 1, 2) bilden einen scharfen Kontrast zur Profanierung der Egeriagrotte bei Juvenal. Wie stark der Charakter der ciceronischen Gesetzes-, Staats-, Religions- und Gesellschaftsauffassung in De legibus zwar der Grundhaltung des Umbricius ähnelt, aber in den von Umbricius geschilderten römischen Zuständen nicht mehr wiederzufinden ist, äußert sich dabei im allgemeinen wie auch in Einzelheiten, so etwa in 1, 24, 62, wo postuliert wird, der Mensch werde durch fortschreitende Selbsterkenntnis empfinden, daß er zur bürgerlichen Gemeinschaft geboren sei (ad civilem societatem natus), oder in 2, 10, 25, wo Cicero festhält: paupertatem cum divitiis etiam inter homines esse aequalem velimus, cur eam sumptu ad sacra addito deorum aditu arceamus? mit den Mitbürgern 29 Nicht wenige Interpreten deuten diese Stelle als hochironisch (vgl. de Vries, A Commentary [wie Anm. 19], 56; Michael Erler, Natur und Wissensvermittlung. Anmerkung zum Bauernvergleich in Platons Phaidros, Rheinisches Museum N.F. 132, 1989, 280- 293, und Heitsch, Phaidros [wie Anm. 19], 73). 30 Daß Sokrates in seinem langen Leben Athen zweimal als Soldat und einmal zu den isthmischen Spielen verließ, widerspricht diesem Ruf ebensowenig wie die Tatsache, daß er in den platonischen Dialogen zuweilen in Gymnasien außerhalb der Stadtmauern oder im Piräus anzutreffen ist (vgl. dazu mit den Belegstellen de Vries, A Commentary [wie Anm. 19], 57; Heitsch, Phaidros [wie Anm. 19], 72). 31 Dies macht Sokrates in seiner anschließenden, humorvollen Bemerkung deutlich: Das "C , mit dem ihn Phaidros ausnahmsweise aus der Stadt herauszulocken vermag, sind h9 D * also gleichsam auch in die Wildnis transportable Reden und Worte anderer! Fraglich bleibt, ob die Begr ü ndung der „Unlust, die Stadt zu verlassen“ wirklich „gesucht“ (so Heitsch, Phaidros [wie Anm. 19], 73) ist. <?page no="170"?> Markus Mülke 158 zu verwirklichen vermag, vertritt Cicero in De legibus in deutlicher Auseinandersetzung mit Platon eine differenzierte Position: 32 Seine Erklärung gleich zu Beginn des ersten Buchs, warum er sich noch nicht der schriftlichen Abfassung eines vom breiten Publikum erwarteten zeitgeschichtlichen Historienwerks gewidmet habe (1, 2f.), läßt keinen Zweifel daran, daß er sich selbst eine solche Leistung nicht in der Unruhe des täglichen Lebens und der Beanspruchungen in Rom, sondern nur in unbelasteter Muße und ländlicher Abgeschiedenheit, etwa in seiner Heimatstadt Arpinum, vorstellen konnte (1, 3, 8f.): quem [sc. iste labor] non recusarem, si mihi ullum tribueretur vacuum tempus et liberum. neque enim occupata opera neque impedito animo res tanta suscipi potest. utrumque opus est, et cura vacare et negotio. Seine bereits publizierten Schriften habe er in kurzen Mußezeiten auf dem Land verfaßt (1, 3, 9: si qui dies ad rusticandum [! ] dati sint), ein umfangreiches Geschichtswerk hingegen bedürfe eines erheblichen Zeitaufwands in ungestörter Ruhe, nicht nur zur Vollendung, sondern schon zur Erledigung umfangreicher Vorarbeiten. 33 Am Anfang des zweiten Buchs tritt die Bezugnahme noch deutlicher hervor (2, 1, 2f.; vgl. 2, 2, 4): Nachdem Atticus zugegeben hat, er sei, bevor er nun Arpinum mit eigenen Augen kennengelernt habe, ganz verwundert gewesen, warum Cicero sich dorthin, wo es doch nur Felsen und Berge gebe, immer wieder zurückziehe (... antea mirabar - nihil enim his in locis nisi saxa et montis cogitabam, itaque ut facerem, et orationibus inducebar tuis et versibus -, sed mirabar ut dixi, te tam valde hoc loco delectari) - eine gleichsam sokratische Position des athenischen Freundes! -, bekräftigt Cicero nachdrücklich, wie gern er sich ebendort aufhalte und für mehrere Tage aus Rom abwesend sei, nicht nur wegen der Schönheit und Zuträglichkeit der Natur, sondern auch um nachzudenken, zu schreiben und zu lesen: ... illo loco libentissime soleo uti, sive quid mecum ipse cogito, sive aliquid scribo aut lego ... cum licet pluris dies abesse, praesertim hoc tempore anni, et amoenitatem et salubritatem hanc sequor; raro autem licet; 34 schon sein gesundheitlich labiler Vater habe in Arpinum fast sein ganzes Leben mit wissenschaftlicher Arbeit verbracht (... qui cum esset infirma valetudine, hic fere aetatem egit in litteris). 35 Juvenals satirischer Ich-Sprecher steht damit gleichsam zwischen Sokrates und Cicero: Wie dieser hat er ein Landgut, auf das er sich ab und an zur Erholung aus Rom zurückzieht. Wie jener jedoch sein eigentliches Leben, sein philosophisches Suchen nur in der Stadt Athen führen konnte, so hängt 32 Vgl. Pohlenz, Der Eingang (wie Anm. 17), 108, und Eigler, Platane (wie Anm. 10), 137, 139-144. 33 Vgl. dazu Dyck, A Commentary (wie Anm. 13), 86. 34 Auf die erholsame Frische und Anmut der ländlichen Heimat verweist Cicero auch andernorts, etwa Quint. fr. 3, 1, 1: ego ex magnis caloribus ... in Arpinati summa cum amoenitate fluminis me refeci ...; 3, 1, 14; Tusc. 5, 74; vgl. auch Att. 2, 6, 1 (über den Gegensatz zwischen Antium und Rom). 35 Daß auch zu Juvenals Zeiten die Gelehrten ähnliche Gewohnheiten pflegten, ist bekannt; vgl. etwa Plin. epist. 7, 25 über den quasi rusticus Terentius Iunior. <?page no="171"?> Ein Satiriker und seine Stadt 159 die Existenz des Satirikers unmittelbar am Leben in der Stadt Rom - auch wenn, oder besser gerade weil diese für ihn derart kritikwürdig, abstoßend, bedrohlich erscheint. 36 4 „Politische“ Implikationen Hält man die vorstehenden Überlegungen für schlüssig, dann ließen sich wohl verschiedenste politische Implikationen der besprochenen Stelle ausmachen. Im folgenden sollen nur derer zwei kurz zur Sprache kommen: a) Ein ernster Kerngedanke der dritten Satire, den Umbricius an mehreren Stellen zum Ausdruck bringt - so in V. 29: cedamus patria! -, 37 klingt bereits in den Anspielungen der Einleitungspartie an: Die Entfremdung von dem eigenen Ursprung und dann der Verlust der Heimat. 38 36 Warum in credas (V. 7) ein Hinweis liegen soll auf die „intrinsic incredibility [! ] of exaggerated claims that the horrors of Rome are worse than even the most solum and miserum place of the world” (Hardie, Juvenal [wie Anm. 9], 234), ist unklar. Ebensowenig hat die Vermutung (vgl. B. Fruelund Jensen, Martyred and Beleaguered Virtue: Juvenal's Portrait of Umbricius, CM 37, 1986, 185-197, 196; Braund, Beyond anger [wie Anm. 4], 14f.; City and Country [wie Anm. 11], 29f., und Morton Braund, Satires [wie Anm. 9], 229, 230), Juvenal bleibe in Rom, weil er dort das Leben doch gar nicht so schlecht finde wie Umbricius, wenig f ü r sich. Zu kurz greift auch Plaza, Humour (wie Anm. 25), 246f.: „... the author prefers the satirist's craft over no craft at all ... this implies a preference for Rome over leaving Rome”. Im ü brigen bedarf die in neuerer Zeit wiederholt vorgetragene These, Juvenal bzw. der Ich-Sprecher, der die Eingangsverse der dritten Satire von sich gebe, distanziere sich von Umbricius und seiner Klage über Rom, ja mache ihn im Grunde lächerlich, kritischer Ü berpr ü fung; vgl. etwa Fruelund Jensen, Virtue (s.o.); Braund, Beyond anger (wie Anm. 4), 12f., 14f., 32; Morton Braund, Satires (wie Anm. 9), 230 - 236; Hardie, Juvenal (wie Anm. 9), 235 u.ö.; Schmitz, Das Satirische (wie Anm. 1), 63f., sowie Plaza, Humour (wie Anm. 25), 244 - 248; 249: „‚Juvenal’ is careful not to identify with the most ridiculous aspects of the secondary persona (idling, leaving Rome in an irrational reaction), but willing to endorse his view of Rome's decline, and to grant him a loud voice by reporting his 300-line speech verbatim.” Sokrates will nicht in irgendeiner Polis seinem philosophischen Streben nachgehen - er geht eben auch nicht in fremde Städte (s.o.)! -, sondern in seiner Heimat Athen. Und Cicero widmet zu Beginn des zweiten Buchs von De legibus, also in der auf den Phaidros verweisenden Passage, einen längeren Abschnitt dem Gedanken, daß Arpinum, sein eigener Geburtsort, seine incunabula (2, 2, 3f.), die uralte patria seines Geschlechts sei, und seiner tiefempfundenen Liebe zu diesem Ort. Darauf jedoch unterscheidet er bei all denen, die nicht direkt aus 37 Vgl. V. 84f.: usque adeo nihil est quod nostra infantia caelum | hausit Aventini baca nutrita Sabina? 162f.: ... agmine facto | debuerant olim tenues migrasse [! ] Quirites und Schmitz, Das Satirische (wie Anm. 1), 238, zum Anklang an Verg. ecl. 1, 3f. 38 Vgl. Adamietz, Untersuchungen (wie Anm. 5), 8: „... für Umbricius ist Rom die Heimat, das Land dagegen die Fremde.” Vgl. ebd. S. 10. <?page no="172"?> Markus Mülke 160 der Hauptstadt selbst, sondern aus den municipia stammten, die natürliche Heimat, also die der Geburt, von der politischen patria Rom, 39 derjenigen des gemeinsamen Rechts, die mehr Liebe verdiene, weil in ihr die gesamte Bürgerschaft aufgehe, der man sich ganz und in allen persönlichen Tätigkeiten hinzugeben, zu opfern, zu sterben habe (2, 2, 5): 40 ... omnibus municipibus duas esse censeo patrias, unam naturae, alteram civitatis ... et eam patriam ducimus, ubi nati et illam a qua excepti sumus. sed necesse est caritate eam praestare, e qua nomen universae civitati est, pro qua mori et cui nos totos dedere et in qua nostra omnia ponere et quasi consecrare debemus. dulcis autem non multo secus est ea, quae genuit, quam illa, quae excepit. 41 Das Bekenntnis der dritten Satire, daß die Zuneigung zur patria zwar noch empfunden werde, aber mittlerweile umsonst, obsolet geworden sei, mag man durchaus als bitteren Zweifel an der persönlichen Bindekraft der zeitgenössischen, kaiserzeitlichen civitas verstehen, und zwar gerade unter denen, die sich ihr als patria naturae eigentlich besonders tief verpflichtet fühlten. 42 b) Die Satire des juvenalischen Sprechers offenbart sich als ein 9T h , nicht bloß in dem Sinn, daß Menschen und ihr Zusammenleben Stoff der Gattung sein sollen - das ist selbstredend -, sondern gerade auch deshalb, weil dem Dichter nur die Stadt die poetische Schöpfung einer Satire erlaubt: „Perhaps satire could only develop fully once there were large enough conturbations to provide the setting and material: satire is, indeed, ‚an urban art‘, as Juvenal demonstrates.“ 43 39 In 8, 236-253 führt Juvenal Cicero, der als römischer Konsul die catilinarische Verschwörung niedergeschlagen und dadurch großen Ruhm erlangt habe, mit folgenden Worten ein: hic novus Arpinas, ignobilis et modo Romae | municipalis eques ... Selbst also nicht aus Rom stammend, sei er für seine Leistung vom freien Rom der Republik pater patriae genannt worden! Daß Juvenal direkt im Anschluß daran Marius (vgl. Cic. leg. 1, 1) als Arpinas alius ganz ähnlich vorstellt, ist kein Zufall. Die innere Verbindung der dritten Satire zur Programmatik der ersten Satire wird dabei hier besonders greifbar: Nur wenn der Satiriker bleibt, nur wenn er Rom und Römer um 40 Vgl. dazu Dyck, A Commentary (wie Anm. 13), 247, 259. 41 Vgl. bei Juvenal z.B. die Stellen 10, 142-146; 14, 70-72: gratum est, quod patriae civem populoque dedisti, | si facis ut civis sit idoneus, utilis agris | utilis et bellorum et pacis rebus agendis, 161 - 166 und 235 - 243. 42 Die verschwenderischen Emporkömmlinge scherten sich kaum um die Verbannung aus der Stadt Rom (11, 49-55): ... Baias et ad ostrea currunt [vgl. auch 14, 86-95]. | cedere namque foro iam non est deterius quam | Esquilias a ferventi migrare Subura. | ille dolor solus patriam fugientibus, illa | maestitia est, caruisse anno circensibus uno. | sanguinis in facie non haeret gutta; morantur | pauci ridiculum et fugientem ex Urbe Pudorem (vgl. auch 6, 86). Die Vermutung, daß "Juvenal himself turns out at the end of the satire to have a dual patria, at Aquinum as well as at Rome” (Hardie, Juvenal [wie Anm. 9], 251), hat man aus 3, 318f. (... et quoties te | Roma tuo [! ] refici properantem reddet [! ] Aquino) abgeleitet. Rom jedoch wird in der Satire als eigentliche patria ausschließlich dem Umbricius zugeschrieben, der diese nun durch seine Flucht aus der Stadt verliere. 43 Morton Braund, Satires (wie Anm. 9), 32; vgl. Courtney, Commentary (wie Anm. 7), 154f. <?page no="173"?> Ein Satiriker und seine Stadt 161 sich hat, kann ihm die indignatio - eine unmittelbare Empfindung, keine rational reflektierte Überlegung aus beschaulicher Distanz 44 - zur Inspiration 45 werden und Verse diktieren (1, 79f., vgl. auch 150f.): si natura negat, facit indignatio versum | qualemcumque potest, quales ego vel Cluvienus; 46 in Rom, im Angesicht der hauptstädtischen Zustände ist es unmöglich, keine Satire zu schreiben (1, 30f.): difficile est saturam non scribere. nam quis iniquae | tam patiens urbis [! ], tam ferreus, ut teneat se, ... 47 . Die Beobachtung, daß sein Werk ein Panorama vor allem der stadtrömischen Zustände ausbreitet, 48 44 Vgl. schon Friedländer, Saturarum libri (wie Anm. 7), 47f.; Andrea Cucchiarelli, Come si legge la satira romana, in: Kirk Freudenburg/ Andrea Cucchiarelli/ Alessandro Barchiesi (Hrsg.), Musa pedestre. Storia e interpretazione della satira in Roma antica, Roma 2007, 167-202, 168-171, und Victoria Rimell, Giovenale. La fine della forma satirica, in: ebd., 99-114, 99f. (mit Lit.). Adamietz, Satiren (wie Anm. 1), hier 452f., spricht mit Recht von dem Gedanken „des zum Dichten treibenden Impulses“, folgert allerdings fragwürdig: „Gefühle wie Zorn ... und Entrüstung ... vermögen sogar mangelnde Begabung zu überwinden“, vgl. auch 485. Bemerkenswert, daß in der programmatischen ersten Satire eben dort, wo die Wahl der Satire und des Vorbilds Lucilius begründet, also über die eigene Dichtung gesprochen wird, der leidenschaftliche Ansturm des Beginns (V. 1-18), mit folgender Anrede an die Zuhörer gebremst wird (V. 21): ... si vacat ac placidi rationem admittitis ... 45 Zwar kommt Sokrates im Eingang des Phaidros mehrfach darauf zu sprechen, er fühle sich von den Gottheiten des Ortes gleichsam inspiriert (vgl. mit den Belegen Hackforth, Phaedrus [wie Anm. 19], 14f., und vor allem Hardie, Juvenal [wie Anm. 9], 241); anzunehmen, Juvenal wolle mit seiner Schilderung im Eingang der dritten Satire gerade auf diesen Gedanken Bezug nehmen und Umbricius ebenfalls als inspiriert darstellen, geht aber zu weit. Die Verbindungen, die Hardie, Juvenal (wie Anm. 9), 243-247 u.ö., zwischen einzelnen Wörtern innerhalb der dritten Satire sowie zwischen der dritten Satire und dem platonischen Phaidros herstellt, sind dabei allzuoft willkürlich. Seine Inspirationsthese: „... the influence of Egeria, and of the vallis environment, now make itself felt on Umbricius” läßt sich mit dem Text nicht begründen. 46 Bei Adamietz, Untersuchungen (wie Anm. 5), 74, ist dieser Bezug nicht erkannt: „Er billigt den Schritt des Freundes (V. 2), muß aber selbst in Rom bleiben ... Zusammen kann er sich dann [sc. auf dem Landgut in Aquinum] der Dichtung widmen“. 47 Vgl. Witke, Latin Satire (wie Anm. 22), 151: "He is a poet because of the subject matter”; Werner Taegert, Der Schluß der dritten Satire Juvenals, Hermes 106, 1978, 573- 592, 590-592; Richard A. LaFleur, Amicitia and the Unity of Juvenal's First Book, ICS 4, 1979, 158-177, 161f.; Courtney, Commentary (wie Anm. 8), 151: „Juvenal had expressed an urge to leave Rome (2.1-2), but his love-hatred relationship with the metropolis keeps him there”; Schmitz, Das Satirische (wie Anm. 1), 50-57, und Rimell, Giovenale (wie Anm. 44), 101. 48 Die 15. Satire zum Beispiel hat Kannibalismus in Ägypten zum Thema. Vgl. Ulrich Knoche, Die römische Satire, Göttingen 4 1982, 92f.: „... eine kosmopolitische Anschauungsweise, wie sie etwa in der hellenistischen Philosophie gültig ist, liegt ihm ganz fern“; Adamietz, Satiren (wie Anm. 1), 456f., der allerdings die Verse 1, 81-86 als Ankündigung Juvenals interpretiert, es solle in seinen Satiren nicht nur um „die negativen Erscheinungen in Rom“ gehen, sondern um ein eher „universales Thema: das Treiben der Menschen“, und 473f. mit dem Hinweis, auch die 10. Satire überschreite den „Bereich Roms“ durch ihre Behandlung eines „allgemein-menschlichen Pro- <?page no="174"?> Markus Mülke 162 findet hier ihre Bestätigung. Über Felsen und Bäume gerät man nicht in indignatio, sondern, wie Juvenal es selbst ausdrückt, mitten auf einer Straßenkreuzung (1, 63f.: medio ... in quadrivio) in Rom, wo ganze Schreibtäfelchen aus der Beobachtung der Laster vollgeschrieben werden könnten. 49 Der Gegensatz Stadt-Land spielt also in der dritten Satire nicht nur immanent, für Umbricius und den satirischen Ich-Sprecher, eine grundlegende Rolle; 50 vielmehr scheint er, gerade in der Verbindung mit der programmatischen ersten Satire, auch zu einem grundsätzlichen Element satirischer Gattungsreflexion zu werden. Ein eingehender Vergleich mit dem langen Abschnitt über die Dichter zu Beginn der siebten Satire wäre an dieser Stelle erhellend, wird dort doch postuliert, daß derjenige, der ein vates egregius zu sein strebe, der kein Gedicht von der Straßenkreuzung (! ) auf allgemeinem Münzstock prägen (... nec qui communi feriat carmen triviale moneta), sondern carmina sublimia verfassen wolle, im Geist frei von Ängsten sein müsse und - ein cupidus silvarum [! ] aptusque bibendis fontibus Aonidum! 51 Einige Einzelbeobachtungen mögen diesen Eindruck bekräftigen: 52 blems“; Morton Braund, Satires (wie Anm. 9), hier 32: „Rome ... is the setting“, 230, sowie Schmitz, Das Satirische (wie Anm. 1), hier 56: „Juvenals Satiren sind ein Produkt der Stadt, deren unerträgliche Mißstände sie beleuchten ... Die in Rom herrschenden Mißstände diktieren gewissermaßen die Satiren ...“. Zum einen hebt der 49 Martial scheint in seinem Epigramm an Juvenal auf diese Existenz des Dichterfreunds anspielen zu wollen (12, 18): dum tu forsitan inquietus erras | clamosa, Iuvenalis, in Subura | aut collem dominae teris Dianae; | dum per limina te potentiorum | sudatrix toga ventilat vagumque | maior Caelius et minor fatigant ... Das Verb errare und das Adjektiv vagus widersprechen der verbreiteten Auffassung, es gehe hier nur um das (vermeintliche) Klientendasein des Satirikers. Aus der späteren Literatur böte sich vor allem Lukians Nigrinus zu einem eingehenden Vergleich an (vgl. vor allem die Kapitel 14ff.). 50 Die Antithese begegnet im übrigen als ein zentrales Motiv auch in anderen Satiren, z.B. 1, 105-109; 2, 73f., 78-81, 126-128 (mit dem Ausruf an Romulus: ... o pater urbis [! ], | unde nefas tantum Latiis pastoribus [! ] ? ); 3, 67f., 81-85, 164-170, 171-189, 190-196, 223-231; 6, 1-20, 55-59, 66, 286-297; 7, 53-68, 160; 8, 108-110, 117f.; 9, 54-62; 10, 99-102; 11, 56- 78, 78-90, 117-119, 149-161; 12, 10-16; 13, 38-70, 122f.; 14, 25, 71, 140-149, 152-155, 156- 188; 15, 166-168. Eine zusammenfassende Untersuchung aller Stellen ist ein Desiderat. 51 Vgl. schon V. 8f. an den verarmten Dichter: nam si Pieria quadrans tibi nullus in umbra [! ] | monstratur ... Darauf, daß man Literaten ebensolchen Müßiggang nachsagte, spielen die V. 79f. (über Lucan: contentus fama iaceat Lucanus in hortis | marmoreis ...) und V. 105 (über die Historiker: sed genus ignavum, quod lecto gaudet et umbra) an. 52 Wie sich Juvenal damit in die Tradition seiner berühmten Vorgänger stellt, wäre noch genauer zu untersuchen: Prüft man etwa Horazens Sermones und Epistulae einmal auf diesen Kerngedanken durch, findet sich eine geradezu verblüffend hohe Zahl von Stellen, an welchen der augusteische Dichter, der nach eigenem Bekenntnis nicht aus indignatio, sondern aus paupertas zur Dichtung fand, den rechten Raum satirischen Schaffens - in der Stadt oder außerhalb? - problematisiert. Seine Antwort, in der sich nicht nur ein anderes persönliches Befinden, sondern auch die grundlegend verschiedene historische Epoche des princeps Augustus widerspiegelt, fällt freilich ganz anders aus als diejenige Juvenals (vgl. etwa serm. 2, 6; epist. 2, 2 u.ö.; vgl. neben Adamietz auch Morton Braund, Satires [wie Anm. 9], hier 228; Cucchiarelli, La satira romana [wie <?page no="175"?> Ein Satiriker und seine Stadt 163 Dichter immer wieder hervor, daß seine indignatio nicht aus einer rationalen Überlegung kritischer Distanz erwachse, sondern durch das, was ihm auf Roms Straßen widerfahre, erregt werde; während er sich dazu sprachlich gleichsam stereotyper Wörter und Junkturen bedient, die dieses Ausgesetztsein zum Ausdruck bringen - charakteristisch ist hier z.B. das Verb occurrere 53 -, erzielen in der szenischen Gestaltung bestimmte typische Episoden, die sich wie ein roter Faden durch die Satiren ziehen, eine ähnliche Wirkung - auffällig etwa, wie häufig in ihnen lasterhafte Subjekte in der Sänfte vorüberziehen! 54 Zum anderen ist ein Grundmotiv juvenalischer Satire das Verhältnis von Vermassung und Vereinzelung. Die Beobachtung, daß dabei die stadtrömische Zusammenballung von Menschen durch den Gegensatz zum ländlich-einfachen Leben der Vergangenheit degradiert werde, ist richtig. Doch sieht Juvenal das Problem differenzierter: Eigentlich ist ihm, wie der eindrucksvolle Schluß der fünfzehnten Satire zeigt, die Fähigkeit des Menschen, sich aus dem unzivilisierten Dasein in den Wäldern herauszuentwickeln und zunächst ein Volk, dann auch städtisches Zusammenleben auszubilden, ein hohes, gottgegebenes Gut, das ihn vor den Tieren auszeichnet. Auch dort fällt das Resümee freilich ernüchternd aus: sed iam serpentum maior concordia (15, 159). Gerade in der Vermassung Roms gelinge es denen, die es eigentlich nicht verdienten, den neuen Herren, die eigentlich Sklaven, Provinziale, Ausländer, Kriminelle oder lasterhafte Perverse (gewesen) seien, die Untaten zu begehen wagten, für die eigentlich sie in den Kerker oder auf kleine Verbannungsinseln 55 Anm. 44], 176f., und Kirk Freudenburg, Introduzione. La satira a Roma, in: ders./ Andrea Cucchiarelli/ Alessandro Barchiesi (Hrsg.), Musa pedestre. Storia e interpretazione della satira in Roma antica, Roma 2007, 13-33, 17f., 22f.). Es wäre dabei zu berücksichtigen, ob Juvenal schon dadurch, daß er seine Satire als eine unmittelbar aus dem städtischen Ambiente diktierte Poesie charakterisiert, für sie den Wert eines gleichsam ungefilterten Realismus beansprucht (vgl. dazu etwa 1, 1-18, 51-80, 160- 171). Auch seine an verschiedenen Stellen der Satiren geäußerte Bewunderung für den großen Archegeten lateinischer Satire wäre hier zu veranschlagen, betont doch bereits Horaz selbst, Lucilius habe der Stadt Rom eine gründliche Abreibung verpaßt (serm. 1, 10, 3f.): ... sale multo | urbem [! ] defricuit (vgl. ähnlich Persius 1, 114: secuit Lucilius urbem). Daß Lucilius seine Satiren gerade gegen das stadtrömische Ambiente gerichtet habe, scheint später verbreitete Auffassung gewesen zu sein (vgl. etwa aus der Spätantike Hieronymus epist. 117, 2, wo in der Adaption der ebenzitierten Horazstelle urbem in pointierten Gegensatz zu provinciam [~ Galliam] gerückt wird). verbracht werden müßten, so hoch 53 Vgl. z.B. 1, 18, 69; 9, 1f.; 15, 138f. In 10, 28-55 heißt es von Demokrit, er habe in den griechischen Städten (V. 34: urbibus illis! ) bei jeder Begegnung mit Menschen Stoff zum Lachen gefunden (V. 47f.): tum quoque materiam risus invenit ad omnis | occursus hominum ... Vgl. auch mit ähnlichen Wendungen, welche besonders die plötzliche Wahrnehmung kritikwürdiger Zustände zum Ausdruck bringen, 1, 46; 160: cum veniet contra ...; 3, 215, 232-238, 239-261, 268-277, 278-301; 4, 20f.; 5, 120f.; 6, 60f., 312f., 374-376, 511f.; 9, 102-123; 11, 141 u.ö. 54 Vgl. 1, 32f., 64f., 120f., 158f.; 3, 239-242; 4, 20f.; 6, 309, 351, 352f.; 10, 35 u.ö. 55 Vgl. 1, 73; 6, 563f.; 10, 170 und 13, 246f. <?page no="176"?> Markus Mülke 164 aufzusteigen, daß sie andere verdrängen und sich der Masse nach eigenem Gutdünken selbst entziehen könnten - indem sie sich in ihren schattigen Palästen ergehen, allein tafeln oder hoch über dem Straßengetümmel in der Sänfte dahinschweben. 56 Der rechtschaffene, echte Römer jedoch - obgleich es für ihn keinen Platz mehr in Rom gibt 57 - versinkt im Gedränge der Stadt, in der Schar der Klienten vor der Tür des Patrons, unter den von einem vorbeifahrenden Karren herabgefallenen Lasten und in der Menschenmenge auf der Straße, wo ihm der Nebenmann den Fuß zertritt und ihm nach dem Hausbrand niemand ein Almosen gibt. Die für die Wirkung der juvenalischen Dichtung charakteristische Identifikation des satirischen Sprechers mit den Opfern der satirewürdigen Zustände Roms ginge verloren, müßte man sich den Dichter auf der schattigen Veranda eines beschaulichen Landguts vorstellen. 58 Schließlich: Die personenbezogene Satire, wie sie schon Lucilius geprägt hatte und die eng mit der Invektive sowie der Komödie verwandt ist, bedarf, um volle Wirkung entfalten zu können, eines Publikums, das über eben diese Personen und ihre Taten informiert ist. Ein solches Wissen ist in der städtischen Öffentlichkeit leichter vorauszusetzen als anderswo, 59 56 Vgl. z.B. 1, 94f. und 132-136 über den Gegensatz zwischen den Neureichen und den sparsamen Vorfahren: quis fercula septem | secreto cenavit avus? nunc sportula primo | limine parva sedet turbae rapienda togatae ... vestibulis abeunt veteres lassique clientes | votaque deponunt, quamquam longissima cenae | spes homini; caules miseris atque ignis emendus. | optima silvarum interea pelagique vorabit | rex horum vacuisque toris tantum ipse iacebit; 3, 119-125 über den Griechen in Rom, qui gentis vitio numquam partitur amicum: | solus habet ..., 153-156 über die Verdrängung des verarmten Klienten, 208-222 über die Einsamkeit des nach dem Hausbrand bettelnden Codrus im Gegensatz zum reichen Assaracus, dem nach einem ähnlichen Vorfall alle Genossen zu Hilfe eilten, 239-267 über die isolierte Abgeschiedenheit in der Sänfte hoch über den Menschenmassen auf Roms Straßen; die gesamte fünfte Satire, in der das heuchlerische una simus (V. 18) des Gastgebers durch seine ungleiche Behandlung des Gastes ad absurdum geführt wird (vgl. vor allem die V. 30-32, 49-52, 67-79, 80-85, 99-106, 127-131 [! ], 146-155); 8, 171-182 über den verkommenen Umgang eines legatus in einer Kneipe; 11, 149f. mit dem Gegenbild eines einfachen Mahles, bei dem alle Gäste gleich sind und aussehen. und vor dem moralischen Leumund, der das nachbarschaftliche Leben auf dem Land bestimmt, bevorzugt das städtische Ambiente den 57 V. 119: non est Romano cuiquam locus hic ... 58 Als Gegenbild zur Existenz des indignierten satirischen Sprechers zeigt sich dabei wiederholt derjenige, der entweder wie Umbricius die Stadt in die einsame Fremde verläßt oder innerhalb der Stadt eben durch seine eigenen Laster frei von allen Belastungen geworden ist. Die Worte vacare und vacuus, in der dritten Satire gleich zu Beginn das Fluchtziel Cumae beschreibend (vgl. auch Morton Braund [1996] z.St.), wirken dabei leitmotivisch (vgl. auch 1, 21 und 10, 22), so etwa über den allein ohne die störenden Gäste tafelnden Gastgeber (1, 136) oder über den müßiggängerischen Römer im Zirkus und Theater (8, 118). Sonst begegnet das Wort gerade in der Beschreibung typischer loci amoeni häufig (vgl. oben Cic. leg. 1, 3, 8f.). 59 Vgl. auch 6, 398-412 und 10, 337-342. <?page no="177"?> Ein Satiriker und seine Stadt 165 bissigen, gesalzenen Scherz über andere. 60 Juvenal beschreibt in seinen Satiren ja nicht bloß, wie leicht sich in dem engen, massenhaften Zusammenleben der urbs die Laster seuchengleich ausbreiten, 61 sondern geht auch davon aus, daß sein Publikum Namen, Ereignisse, Gerüchte, Anspielungen ohne ausdrückliche Erklärungen zu verstehen vermag. Noch ein letztes: In den Schlußversen der dritten Satire bietet sich Umbricius dem satirischen Sprecher als auditor an. 62 Jedesmal (! ), wenn Rom diesen zur Erholung seinem Aquinum „zurückgebe“, solle er ihn aus Cumae kommen lassen und ihm seine Satiren vortragen. Die Verse sind schwierig und umstritten. Doch scheint hier am Ende noch eine besondere Pointe gesetzt zu werden, wie Christine Schmitz treffend herausgearbeitet hat. 63 Satiren werden aus der urbs Roma gespeist, 64 also dort, wo der satirische Sprecher selbst eben nicht mehr nur auditor anderer Poeten und anderer poetischer Gattungen sein möchte: semper ego auditor tantum? numquamne reponam ... (1, 1; vgl. 3, 9), 65 60 Vgl. 9, 9-11: ... certe modico contentus agebas | vernam equitem, conviva ioco mordente facetus | et salibus vehemens intra pomeria [! ] natis gegenüber 14, 152-155: sed qui sermones, quam foede bucina famae! | „quid nocet haec? ” inquit „tunicam mihi malo lupini | quam si me toto laudet vicinia pago | exigui ruris paucissima farra secantem”. wo aber auch der satirische Angriff auf lebende Personen zu vermeiden ist: ense simul stricto quotiens Lucilius ardens | infremuit, rubet auditor cui frigida mens est | criminibus, tacita sudant praecordia culpa. Wer also soll in der Stadt Satiren anhören? Wo wird der Satiriker selbst rezitieren? Die urbs Roma scheint allein den minderwertigen, weltfremden Dichterkollegen eine Bühne zu geben, während die dort mächtigen neuen Herren ihre Belustigung nicht aus literarischen Werken ziehen, sondern aus der bitteren Wirklichkeit ihrer 61 Vgl. 2, 78-81: ... dedit hanc contagio labem [sc. die Laster in der Stadt Rom] | et dabit in plures, sicut grex totus in agris | unius scabie cadit et porrigine porci | uvaque conspecta livorem ducit ab uva (zu beachten hier der pointierte Vergleich aus dem Landleben! ), 127f.; 3, 182 über Roms ambitiosa paupertas: commune id vitium est ... 62 Auditor ist (pace Taegert, Schluß [wie Anm. 47], 580-590) dem ebenfalls überlieferten adiutor bei der Textkonstitution der Vorzug zu geben (vgl. schon Highet, Juvenal [wie Anm. 11], 256; Courtney, Commentary [wie Anm. 8], z.St., und Schmitz, Das Satirische [wie Anm. 1], 50-57). Auch zur stimmungsvollen Gestaltung des Aufbruchs (V. 316- 318) findet sich eine schöne Parallele bei Cicero (Lucullus 147). Zu den Anklängen an die bukolische Poesie Vergils vgl. Morton Braund, Satires (wie Anm. 9), 235f.; Schmitz, Das Satirische (wie Anm. 1), 238 (mit Lit.), und Robert J. Edgeworth, Further Passages in Juvenal Three and Four, Classica et Mediaevalia 53, 2002, 301-328, 319-322. 63 Vgl. Schmitz, Das Satirische (wie Anm. 1), 50-57. 64 Juvenal selbst bestimmt (insbesondere in der ersten Satire) seine Satiren als realitätsnahe Rache, Bestrafung der Adressaten seiner Dichtung, und eigentlich könne es nicht einmal eine dramatische Gattung mit dem Spektakel der Wirklichkeit aufnehmen (14, 256-271); vgl. auch 7, 21-29 und 10, 28-55 (über das Lachen Demokrits). 65 Vgl. David S. Wiesen, Juvenal and the Intellectuals, Hermes 101, 1973, 464-483, 467, und Plaza, Humour (wie Anm. 25), 246f. <?page no="178"?> Markus Mülke 166 verarmten Bittsteller (3, 147-151): quid quod materiam praebet causasque iocorum | omnibus hic idem, si foeda et scissa lacerna, | si toga sordidula est et rupta calceus alter | pelle patet, vel si consuto vulnere crassum | atque recens linum ostendit non una cicatrix? | nil habet infelix paupertas durius in se, | quam quod ridiculos homines facit 66 . Eine Stelle im juvenalischen Corpus, die auf diese Fragen eine humorige Antwort gibt, ist eben der Ausgang der dritten Satire: Wenn es die Satiren nicht „beschämt“, 67 dann wird sie, ein „Produkt der Stadt“, jemand auf dem Land anhören - ein vertriebener, emigrierter echter Urrömer, gestiefelt 68 auf kühlen Feldern! 69 66 Vgl. auch 5, 156-160: forsitan impensae Virronem parcere credas. | hoc agit ut doleas; nam quae comoedia, mimus | quis melior plorante gula? ergo omnia fiunt, | si nescis, ut per lacrimas effundere bilem | cogaris pressoque dio stridere molari sowie die anzügliche Unterhaltung der Gäste beim Festmahl in 11, 162-178. Der arme Codrus selbst hingegen lagert in einer alten Kiste einen schon von M ä usen angefressenen Homer (3, 206f.; vgl. auch 7, 21 - 29), und auch zur Unterhaltung bei dem einfachen, frugalen Mahl des schlichten Gastgebers werden Homer und Vergil vorgetragen (11, 179 - 181)! 67 Da ein gestiefelter Landmann allzu unkultiviert erscheinen könnte; vgl. 14, 185f.: nil vetitum fecisse volet quem non pudet [! ] alto | per glaciem perone tegi ..., wo der hochgeschnürte Stiefel (gemeinsam mit den im folgenden genannten Fellen) als primitives Kleidungsstück dem modernen, fremdländischen Purpur gegenübergestellt wird. Vgl. zum in der dritten Satire wichtige Begriff des pudor auch Schmitz, Das Satirische (wie Anm. 1), 54. 68 Auf die sprachlichen Schwierigkeiten der Schlußverse kann an dieser Stelle nicht vertieft eingegangen werden. Zu caligatus nur ein Hinweis: Dem Schuhwerk der Figuren kommt in den Satiren Juvenals besondere Aufmerksamkeit zu (so schon Schmitz, Das Satirische [wie Anm. 1], 54f.), vgl. nur den calceus des verarmten Klienten (1, 119 und 3, 149), den unrömischen Schuh (trechedipna) des dekadenten Bürgers (3, 68), den genagelten Soldatenschuh, der in der Menschenmenge demselben Umbricius auf den Zeh tritt (3, 248), den niedrigen Schuh (gallica) des ehemaligen Sklaven aus Asien, der nun in Rom als Ritter daherkommt (7, 16), den hohen pero des duldsamen Landmanns (14, 186) sowie die Soldatenstiefel (16, 13f. und 24). 69 Das Verhältnis dieser Passage zu den V. 171-179 wäre noch genauer zu klären. <?page no="179"?> Thorsten Fögen Flavius ultimus: Juvenals Auseinandersetzung mit der Zeit Domitians Hactenus edideras dominos, gens Flavia, iustos; cur duo quae dederant, tertius eripuit? Vix tanti est habuisse illos, quia dona bonorum sunt brevia; aeternum, quae nocuere, dolent. (Ausonius, De XII Caesaribus 12 [p. 208 Prete = p. 186 Green]) 1 Einleitung „Von den übrigen geschätzten Fischarten sind am beliebtesten und am häufigsten die Meerbarben (mulli); diese sind von bescheidener Größe und wiegen selten mehr als zwei Pfund und gedeihen nicht in Behältern und Fischteichen. Nur der nördliche Ozean, und zwar in dem zum Westen nächstliegenden Teil, bringt sie hervor. Im übrigen gibt es mehrere Arten von ihnen; sie nähren sich nämlich sowohl von Seegras als auch von Muscheln, von Schlamm und dem Fleisch anderer Fische. (...) Am meisten werden die gelobt, die einen Muschelgeschmack haben. (...) Dreimal im Jahr laichen sie; jedenfalls kommt so oft ihre Brut zum Vorschein. Die größten Feinschmecker sagen, die sterbende Meerbarbe zeige, zumal wenn man sie in einem Glas eingeschlossen betrachtet, eine Art bunte und häufige Veränderung der Farbe, wobei nach mehrfachem Wechsel die roten Schuppen weiß würden. M. Apicius, von Geburt ein zu jeder Prasserei einfallsreicher Geist, hielt es für etwas Herrliches, sie in der ‚Brühe der Freunde‘ (...) zu töten und aus ihrer Leber eine Sauce zu erdenken. Der gewesene Konsul Asinius Celer forderte mit diesem Fisch alle Verschwender heraus (...), als er unter Kaiser Gaius (Caligula) eine Meerbarbe um 8000 Sesterzen kaufte. (...) Daß im Roten Meer eine Barbe von 80 Pfund gefangen worden sei, berichtet Licinius Mucianus. Wie viel hätte die Schlemmerei für diesen Fisch bezahlt, wenn er an der den Häusern der Stadt Rom zunächst liegenden Küste gefunden worden wäre? “ <?page no="180"?> Thorsten Fögen 168 Soweit der - hier stark gekürzte - Abschnitt zu Meerbarben aus dem neunten Buch der Naturalis historia des Älteren Plinius. 1 In einem Aufsatz zu dem Satiriker Juvenal mit einem so wenig satirischen Autor wie Plinius dem Älteren zu beginnen, mag zunächst wenig naheliegend erscheinen. Lenkt man jedoch den Blick auf Juvenals vierte Satire, in der es gleich zweimal um Fische, nämlich eine Meerbarbe (mullus) und einen Butt (rhombus), geht, werden zumindest ansatzweise gewisse Parallelen deutlich. Plinius der Ältere thematisiert in dem zitierten Passus neben einigen eher rudimentären zoologischen Angaben zur Meerbarbe deren extravagante Verwendung durch Feinschmecker und kritisiert diese am Beispiel des Konsuls Asinius Celer nicht zuletzt für ihre Bereitschaft, für einen derartigen Fisch völlig überzogene Preise zu zahlen. 2 Wie häufig in der Naturalis historia verbindet Plinius seine Sachdarstellung mit einer moralischen Komponente, die sich insbesondere gegen luxuria richtet. Mit dieser Stoßrichtung, die sich auch an zahlreichen anderen Stellen seines Werkes in mehr oder weniger ausgeprägter Form zeigt, unterstützte Plinius diejenigen Werte, die das Herrschaftsethos der Flavier mit ihrer Rückbesinnung auf den mos maiorum kennzeichnete und ein Gegenkonzept zu den vorausgegangenen Jahrzehnten der Dekadenz und Ausschweifung bildeten, 3 1 Nat. hist. 9.64-68: Ex reliqua nobilitate et gratia maxima est et copia mullis; sicut magnitudo modica, binasque libras ponderis raro admodum exsuperant nec in vivariis piscinisque crescunt. septentrionalis tantum hos et proxima occidentis parte gignit Oceanus. cetero genera eorum plura; nam et alga vescuntur et ostreis et limo et aliorum piscium carne. (...) laudatissimi conchylium sapiunt. (...) pariunt ter annis; certe totiens fetura apparet. mullum exspirantem versicolori quadam et numerosa varietate spectari proceres gulae narrant, rubentium squamarum multiplici mutatione pallescentem, utique si vitro spectetur inclusus. M. Apicius, ad omne luxus ingenium natus, in sociorum garo (...) necari eos praecellens putavit atque e iecore eorum allecem excogitare. Provocavit (...) Asinius Celer e consularibus hoc pisce prodigos omnes Gaio principe unum mercatus HS VIII mullum. (...) mullum LXXX librarum in mari Rubro captum Licinius Mucianus prodidit, quanti mercatura eum luxuria suburbanis litoribus inventum? Text und Übersetzung aus C. Plinius Secundus: Naturkunde Buch IX. Lateinischdeutsch. Hrsg. und übers. von Roderich König & Gerhard Winkler, München 1979. speziell zu Neros Herrschaft, die 2 Zu überhöhten Kaufpreisen für Fische siehe z.B. Seneca, Epist. 95.41f. und Sueton, Tib. 34.1. Allgemeiner Plutarch, Cato maior 8.2: 9 G . 8 2 e" 3 ‚ 508 h D - 5 ' 0X A % : 3 Zu Vespasians Orientierung an altrömischen Idealen siehe besonders Tacitus, Ann. 3.55: dites olim familiae nobilium aut claritudine insignes studio magnificentiae prolabebantur. (...) ut quisque opibus domo paratu speciosus per nomen et clientelas inlustrior habebatur. postquam caedibus saevitum et magnitudo famae exitio erat, ceteri ad sapientiora convertere. simul novi homines e municipiis et coloniis atque etiam provinciis in senatum crebro adsumpti domesticam parsimoniam intulerunt, et quamquam fortuna vel industria plerique pecuniosam ad senectam pervenirent, mansit tamen prior animus. sed praecipuus adstricti moris auctor Vespasianus fuit, antiquo ipse cultu victuque. obsequium inde in principem et aemulandi amor validior quam poena ex legibus et metus. Zu Plinius dem Älteren und dem moralischen Gehalt seiner Naturalis historia ausführlicher Thorsten Fögen, Wissen, Kommunikation und Selbstdarstellung. Zur Struktur und Charakteristik römischer <?page no="181"?> Juvenals Auseinandersetzung mit der Zeit Domitians 169 in der Naturalis historia durchweg negativ akzentuiert wird. 4 2 Analyse der vierten Satire Juvenals Plinius betrachtete sich selbst als einer weit glücklicheren Epoche zugehörig, deren Herrscher Vespasian und Titus für ihn auf einer gänzlich anderen Ebene rangieren als Nero. Daß Plinius eine weiterreichende moralisch-politische Agenda verfolgte, mag in der zuvor zitierten Passage aus dem neunten Buch freilich nur anklingen. Betrachtet man jedoch das ganze Werk, so wird deutlich, daß Bemerkungen über die Bereitschaft mancher Römer, enorme Preise für Fische zu zahlen, keineswegs so unbedeutend sind, wie es zunächst scheinen mag. Doch kommen wir zur vierten Satire Juvenals, in der es - wie schon erwähnt - ebenfalls um Fische geht. Zu Recht hat Adamietz betont, daß dieses Werk „das am stärksten politische und an den Realitäten des Prinzipats orientierte Gedicht Juvenals“ ist. 5 Die vierte Satire läßt sich in zwei Teile gliedern, die durch eine Überleitung (Sat. 4.28-33) miteinander verbunden sind. Der kürzere erste Teil (Sat. 4.1-27) handelt von Domitians Höfling Crispinus, der für den Preis von sechstausend Sesterzen eine sechs Pfund schwere Meerbarbe kaufte. Im weitaus umfangreicheren zweiten Teil (Sat. 4.34-154) werden die Zustände am Hofe Domitians in den Blick genommen und am Beispiel einer Kabinettssitzung illustriert, die über die angemessene Verwendung eines Riesenfisches berät, statt sich wirklich ernstzunehmenden politischen Fragen zu widmen. Im folgenden soll gezeigt werden, in welcher Hinsicht dies konkret der Fall ist. 2.1 Erster Teil (Sat. 4.1-27) und Überleitung (Sat. 4.28-33) der vierten Satire Das Gedicht beginnt abrupt mit der emphatischen Nennung des Crispinus, der wie eine Art Bühnenfigur vorgeführt und ohne Umschweife als ein monstrum voller Laster apostrophiert wird. Der bereits in der programmati- Fachtexte der frühen Kaiserzeit, München 2009, 201-264; dort auch weitere Sekundärliteratur. 4 Zu Nero bei Plinius dem Älteren siehe z.B. Nat. hist. 7.46 (toto principatu suo hostem generis humani), 17.5 (Nero als Brandstifter), 22.92 (Nero als „Gift“ für die Welt) und 30.14f. (seine Lasterhaftigkeit und Grausamkeit); besonders akzentuiert ist Neros Verschwendungssucht (z.B. Nat. hist. 8.196, 12.83, 33.54, 34.46, 36.111, 37.17, 37.20). Zu Nero in der Naturalis historia siehe Fögen (wie Anm. 3) 223 Anm. 63. 5 Joachim Adamietz, Juvenal. In: Ders., Die römische Satire, Darmstadt 1986, 231-307, hier 258. <?page no="182"?> Thorsten Fögen 170 schen ersten Satire (Sat. 1.26-29) kurz als verschwenderischer Emporkömmling charakterisierte Crispinus ist hier als ein reicher Prasser und Ehebrecher gezeichnet, der auch vor der Schändung von Vestalinnen nicht zurückschreckt (Sat. 4.9f.). 6 Der Übergang zum weiter ausgreifenden zweiten Teil erstreckt sich über die folgenden sechs Verse, die einen einzigen Satz bilden (Sat. 4.28-33): Sein Hang zur Ausschweifung wird am Beispiel der von ihm teuer erstandenen Meerbarbe veranschaulicht, mit deren Kauf er selbst den für seine Extravaganz in Essensdingen bekannten Apicius in den Schatten gestellt habe. Die schon als solche anstößige Summe, die Crispinus für den Fisch bezahlt hat, müsse für umso größere Empörung sorgen, als es sich bei dem Käufer um einen Aufsteiger handele, der selbst früher als einfacher Fischhändler tätig war (Sat. 4.23f.: hoc tu, / succinctus patria quondam, Crispine, papyro? ). Der sich anschließende Hinweis darauf, daß man den Fischer vermutlich für einen geringeren Preis als den Fisch hätte erwerben können (Sat. 4.25-27), unterstreicht die Unverhältnismäßigkeit dieses Kaufs. qualis tunc epulas ipsum gluttisse induperatorem, cum tot sestertia, partem putamus exiguam et modicae sumptam de margine cenae, purpureus magni ructarit scurra iam princeps equitum, magna qui voce solebat Palati, vendere municipes fracta de merce siluros Welche Gerichte, sollen wir annehmen, hat damals der Oberfeldherr selbst geschluckt, wenn so viele tausend Sesterzen als nur geringen und bloß vom Rand einer bescheidenen Mahlzeit genommenen Teil der purpurgekleidete Clown des großen Palastes rülpsend verschlang, der, jetzt der Erste unter den Rittern, ge- ? 6 Die genaue Identität des Crispinus, der auch in zwei Epigrammen Martials auftritt (7.99, 8.48), ist nicht sicher geklärt. Siehe Brian W. Jones, The Emperor Domitian, London & New York 1992, 69f.: „He (...) has been variously identified as praetorian prefect, as prefect of Egypt, as prefect of the corn supply, as imperial freedman secretary and also as one of Domitian’s cronies, a sort of court parasite with no official position. He is not attested epigraphically - all we know of him is provided by Juvenal and Martial. Ancient scholiasts on Juvenal were equally puzzled: they suggested that he was a slave, born in Egypt and made an equestrian or a senator by Nero or Domitian! Further speculation is pointless, but the least violence is done to the ancient literary evidence if we see in him one of the standard figures of any court - the ruler’s personal friend, with a ready wit, meant to entertain and amuse. There is no hard evidence that he was anything more.“ Siehe außerdem John G. Griffith, Juvenal, Statius, and the Flavian establishment. In: Greece & Rome 16 (1969) 134-150, hier 145f.; Peter White, Ecce iterum Crispinus. In: American Journal of Philology (1974) 377-382; Jean Gérard, Juvénal et la réalité contemporaine, Paris 1976, 140-144; William C. McDermott, Ecce iterum Crispinus. In: Rivista storica dell’Antichità 8 (1978) 117-122; Barry Baldwin, Juvenal’s Crispinus. In: Acta Classica 22 (1979) 109-114; Alain Vassileiou, Crispinus et les conseillers du prince (Juvénal, Satires, IV). In: Latomus 43 (1984) 27-68; John Ferguson, A Prosopography to the Poems of Juvenal, Bruxelles 1987, 72f. und T. E. S. Flintoff, Juvenal’s fourth Satire. In: Papers of the Leeds International Latin Seminar 6 (1990) 121-137, hier 125-129. <?page no="183"?> Juvenals Auseinandersetzung mit der Zeit Domitians 171 wohnt war, mit lauter Stimme Fisch seiner Heimatstadt aus beschädigter Ware zu verkaufen? 7 Diese als rhetorische Frage formulierte Überleitung setzt Crispinus in Beziehung zu dem Kaiser Domitian, der seinen Höfling noch in den Schatten stellt. Der Gegensatz zwischen hoher politischer Stellung und unmäßigprimitivem Verhalten wird bei beiden akzentuiert: Dem mit dem Archaismus induperator bezeichneten Kaiser 8 ist der Infinitiv gluttisse zugeordnet, eine Handlung, die eher das Bild eines wilden Tieres als das eines Menschen evoziert. Ein sehr ähnlicher Eindruck ergibt sich für Crispinus durch das Verb ructarit: Mag dieser auch als ein in purpurfarbene Gewänder gehüllter princeps equitum 9 2.2 Zweiter Teil der vierten Satire (Sat. 4.34-154) noch so pompös daherkommen, so bleibt er doch ein Hanswurst (scurra), der zudem über seine Vergangenheit als Fischverkäufer nicht hinwegzutäuschen vermag. Das Grobschlächtige dieses Mannes wird außerdem durch die Dominanz des u- und r-Lautes in Vers 31 signalisiert, der sein Rülpsen lautmalerisch wiedergibt. Bereits in der knappen Überleitung erhält man somit die Vorstellung, daß Domitian ein noch größeres monstrum ist als Crispinus. Dieser Eindruck wird sich, wie nun nachgewiesen werden soll, voll und ganz bestätigen. Der zweite Teil der vierten Satire beginnt mit einem Musenanruf, wie er aus dem Epos bekannt ist, und zeichnet sich überhaupt weithin durch einen epischen Duktus aus. Bezeichnend ist allerdings, daß der Anruf incipe, Calliope! (Sat. 4.34) gleich darauf satirisch vollends verflacht wird durch den Zusatz, man dürfe sich entgegen dem Usus, Dichtung im Stehen zu rezitieren, im konkreten Fall durchaus auch hinsetzen, da es nachfolgend um den Vortrag wahrer Begebenheiten und nicht um poetische Fiktionen gehe (Sat. 7 Text und (zum Teil geringfügig modifizierte) deutsche Übersetzung hier und im folgenden nach Joachim Adamietz (ed.), Juvenal: Satiren. Lateinisch - deutsch. Hrsg., übers. und mit Anmerkungen versehen, München 1993. 8 James D. Duff, D. Iunii Iuvenalis Saturae XIV. Fourteen Satires of Juvenal, Cambridge 1925, 176 macht in seinem Kommentar zu Recht darauf aufmerksam, daß der Archaismus induperator zwar als Sarkasmus Juvenals gedeuten werden mag, doch aus metrischen Gründen geradezu geboten war: „Juv. has made a virtue of necessity, as metre prevented him from using any other; imperator is one of the many common words which no poet could ever use in dactylic verse.“ 9 Laut Susanna Morton Braund, Juvenal. Satires Book I, Cambridge 1996, 242 handelt es sich bei der Wendung princeps equitum nicht um einen offiziellen Titel: „Crispinus perhaps held the highest position available to an eques (Suet. Galb. 14.2), prefect of the praetorian guard (praefectus praetorio), which would accord with the eminence of the other members of Domitian’s consilium (mostly consular senators).“ <?page no="184"?> Thorsten Fögen 172 4.34: licet et considere: non est / cantandum, res vera agitur). 10 Mit bissiger Drastik umgrenzt Juvenal den zeitlichen Rahmen seiner Erzählung: Die Herrschaft Domitians wird als eine Epoche beschrieben, in der die Welt durch dessen animalisches Wüten halbtot gewesen sei und dem Kaiser in sklavischer Manier gedient habe (Sat. 4.37f.). Über Domitian gießt der Dichter seinen Spott durch dessen Bezeichung als „kahler Nero“ aus, was nicht nur auf Domitians Empfindlichkeit gegenüber Bemerkungen über seine Glatzköpfigkeit anspielt, 11 Direkt mit dieser auf zwei Verse beschränkten zeitlichen Situierung ist die Episode verbunden, in der ein Fischer einen Riesenbutt sondern diesen zugleich in direkte Nähe zu einem weiteren Kaiser rückt, der ebenfalls allgemein als Ungeheuer bekannt war. 12 destinat hoc monstrum cumbae linique magister fängt und diesen zu Domitian bringt. Auch hier wird der epische Ton satirisch unterlaufen (Sat. 4.45-55): pontifici summo. quis enim proponere talem aut emere auderet, cum plena et litora multo delatore forent? dispersi protinus algae inquisitores non dubitaturi fugitivum dicere piscem agerent cum remige nudo, depastumque diu vivaria Caesaris, inde elapsum veterem ad dominum debere reverti. si quid Palfurio, si credimus Armillato, quidquid conspicuum pulchrumque est aequore toto res fisci est, ubicumque natat. Dieses Wundertier bestimmte der Meister des Kahnes und des Netzes dem obersten Priester. Wer sollte auch einen solchen Fisch feilzubieten oder zu kaufen wagen, wenn selbst die Strände wimmeln von vielen Denunzianten? Die überall ver- 10 Die Verkündung von „Wahrheit“ wird bezeichnenderweise auch in Senecas Apocolocyntosis (dazu siehe unten) reklamiert (Apoc. 1.1: haec ita vera; siehe Otto Weinreich, Senecas Apocolocyntosis. Einführung, Analyse und Untersuchungen, Übersetzung, Berlin 1923, 14-17, 19-22), obwohl sehr rasch deutlich wird, daß es sich um Satire handelt. Ein ähnlicher Anspruch manifestiert sich bereits im Titel der Wahren Geschichten Lukians. 11 Domitian verfaßte im übrigen eine Schrift De cura capillorum (Sueton, Dom. 18.2), die aber nicht erhalten ist. Daß er auf Bemerkungen über Kahlköpfigkeit sehr empfindlich reagierte, auch wenn diese gar nicht auf ihn selbst bezogen waren, wird ebenfalls bei Sueton angemerkt (Dom. 18. 2): calvitio ita offendebatur, ut in contumeliam suam traheret, si cui alii ioco vel iurgio obiectaretur. 12 Zum Motiv des Riesenfisches in der antiken und mittelalterlichen Literatur siehe Cornelia Catlin Coulter, The “Great Fish” in ancient and medieval story. In: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 57 (1926) 32-50, die aber auf Juvenals vierte Satire nicht eingeht. Speziell zu Herodots Polykrates-Erzählung siehe Martin M. Winkler, Alogia and emphasis in Juvenal’s fourth Satire. In: Anthony J. Boyle (ed.), Roman Literature and Ideology. Ramus Essays for J. P. Sullivan, Bendigo 1995, 227-249, hier 239-241, der Parallelen zwischen Herodots Polykrates und Juvenals Domitian herausarbeitet. <?page no="185"?> Juvenals Auseinandersetzung mit der Zeit Domitians 173 teilten Spione im Seetang würden sogleich mit dem nackten Seemann prozessieren und nicht zögern, den Fisch als Ausreißer zu bezeichnen; er sei lange in den Fischteichen des Kaisers gemästet worden, von dort entschlüpft und müsse wieder zu seinem alten Besitzer zurückkehren. Wenn wir Palfurius, wenn wir Armillatus etwas glauben wollen, dann ist, was sich an Ansehnlichem und Schönem im gesamten Meer findet, Eigentum des Kaisers, wo immer es auch schwimmt. Der einfache Fischer ist als cumbae linique magister überhöht, Domitian selbst wird in seiner Funktion als oberster Priester erwähnt. Daß der Fischer den Riesenfisch als Geschenk für den Kaiser ausersieht, erhält durch den Verweis auf das allgegenwärtige Delatorenwesen unter Domitian eine spezielle Note. Doch karikiert Juvenal in diesen Versen nicht nur den unerbittlichen Charakter des Überwachungsstaates dieser Zeit, sondern auch Domitians grenzenlose Habsucht, die alles für sich beansprucht und in dieser Haltung offizielle argumentative Unterstützung durch geschickte Ankläger erfährt. Die sich anschließenden Verse, die den Weg des Fischers nach Alba Longa und die Übergabe des Riesenfisches an Domitian schildern, greifen die epische Diktion auf, ohne daß dies dem Thema oder der Figur des Fischers entspräche. Bemerkenswert für die Charakterisierung Domitians ist der Umstand, daß bei seinem Eintreffen am Palast zwar der Fischer Zutritt erhält, die Senatoren (patres) jedoch nicht. Folgt man der Formulierung des Verses (Sat. 4.64: admissa obsonia) ganz genau, so wirkt es letztlich gar so, als dringe allein der Fisch zum Herrscher vor; auch die wenig präzise passivische Wendung itur ad Atriden (Sat. 4.65) trägt zu diesem Eindruck bei. Der Kaiser ist damit als paradigmatischer Tyrann gezeichnet, zu dem kaum jemand Zugang hat, was im übrigen zu der späteren Umschreibung der Albaner Residenz als arx paßt (Sat. 4.145). Seine erhabene Bezeichnung als „Atreus-Sohn“, die in Verbindung mit dem Passiv itur dazu beiträgt, epische Atmosphäre zu evozieren, läßt im folgenden einen Bezug zu Kampf und Krieg erwarten. Doch wird diese spontane Assoziation durch die sich anschließende direkte Rede des Fischers an Domitian (Sat. 4.65-69) jäh zerstört. Daß der Herrscher an kriegerischen oder politischen Auseinandersetzungen kein Interesse hat, ergibt sich aus dem Umstand, daß er sich durch die unübersehbar adulatorischen Worte des Fischers, die eine seltsame Mischung aus Schwulst und Plattheit darstellen, noch geschmeichelt fühlt und dem überbrachten Geschenk eine gänzlich überzogene Bedeutung beimißt (Sat. 4.69-71): (...) quid apertius? et tamen illi surgebant cristae: nihil est quod credere de se non possit cum laudatur dis aequa potestas. Was konnte unverhohlener sein? Und doch schwoll jenem der Kamm: nichts gibt es, was er von sich nicht glauben könnte, wenn seine göttergleiche Macht gelobt wird. <?page no="186"?> Thorsten Fögen 174 Die Unangemessenheit des Stolzes wird hier mit Domitians Gottkaisertum in Verbindung gesetzt, das als ein klares Zeichen der Selbstüberschätzung akzentuiert ist. Daß der wiederholt anklingende epische Ton einer reinen Karikatur Domitians und seiner Herrschaft dient, wird ebenfalls im folgenden Abschnitt (Sat. 4.72-118) deutlich, der im wesentlichen ein Katalog der Mitglieder des consilium ist, das Domitian zur Klärung der Frage einberuft, wie man nun mit dem übergroßen Fisch am besten verfahren solle. 13 Auch dieser Katalog ist ein typisch episches Element, wenngleich es hier parodistisch umgedeutet wird. Mit großer Sicherheit läßt sich vermuten, daß Juvenal eine Partie aus Statius’ epischem Gedicht De bello Germanico karikiert, aus dem uns in den Juvenal-Scholien lediglich ein kurzes Fragment überliefert ist (siehe dazu u.a. Braund [wie Anm. 9] 251). In diesen wenigen Versen, die wahrscheinlich Bestandteil einer längeren Aufzählung waren, treten bezeichnenderweise drei Namen der Ratgeber Domitians auf, die auch bei Juvenal genannt sind (Crispus, Veiento und Acilius). Die Thematik von Statius’ epischem Gedicht legt es nahe, daß diese Ratgeber zu einer Unterredung über ernsthafte militärische Fragen zusammengerufen wurden. Dazu bildet das consilium in der vierten Satire Juvenals mit seiner banalen Debatte über die Verwendung des Riesenfisches einen massiven Gegensatz. Domitian ist hier als ein Machthaber gezeichnet, der sich Trivialitäten widmet und damit falsche Prioritäten setzt. Zugleich demonstriert Juvenal, daß die Regierungszeit Domitians alles andere als ein Possenspiel war. Nach seiner Darstellung ist das Verhältnis des Kaisers zu seinen Beratern durch Mißtrauen und Haß geprägt. Von einer geregelten amicitia zwischen Machthaber und Untergebenen kann nicht die Rede sein; statt dessen herrscht unter den Höflingen Furcht vor Domitian und dessen unberechenbarer Art. 14 13 Edward Courtney, A Commentary on the Satires of Juvenal, London 1980, 197 macht darauf aufmerksam, daß Juvenals consilium durch die Parodie einer Götterversammlung bei Lucilius inspiriert ist: „The discussion was apparently carried on in the forms of a meeting of the Roman senate (Servius on Aen. 10.104 = fr. 3 ...) with formal conventional speeches (fr. 26 and 27). It was evidently basically a parody of the concilium in the Annals of Ennius in which the gods decided on the deification of Romulus, and Lucilius refers to this as the antiquum (fr. 30) or prius concilium (fr. 27)“. Zu Juvenal und Lucilius siehe auch Courtney (wie oben) 11. Zu Götterversammlungen in der römischen Satire siehe F. M. A. Jones, The persona and the dramatis personae in Juvenal Satire Four. In: Eranos 88 (1990) 47-59, hier 48 mit Anm. 13, und den Beitrag von Gesine Manuwald in diesem Band. Wie sich im weite- 14 Sat. 4.72-75: vocantur / ergo in consilium proceres, quos oderat ille, / in quorum facie miserae magnaeque sedebat / pallor amicitiae. Die häufige Perversion der amicitia zeigt sich laut Juvenal nicht nur zwischen Tyrann und Hof, sondern über die vierte Satire hinaus auch zwischen gewöhnlichen Patronen und ihren Klienten. Wie Braund (wie Anm. 9) 275 zu Recht vermerkt, ist diese Thematik ein verbindendes Element zwischen dieser Satire und dem Rest des ersten Buches Juvenals (Sat. 1-5), besonders aber zur nachfol- <?page no="187"?> Juvenals Auseinandersetzung mit der Zeit Domitians 175 ren Verlauf zeigt, sind auch die Berater des Kaisers keineswegs harmlos. Juvenal entwickelt ein differenziertes Bild des Kaiserkultes und der damit verbundenen Unterwürfigkeit und der Schmeicheleien des Hofstaates, der sich einerseits seiner Machtlosigkeit im Rahmen einer absoluten Monarchie bewußt ist, sich aber andererseits gerade durch die nachdrückliche Bestärkung des Kaisers in seinem Hang zur Monstrosität selbst zu einem Teil dieses Systems macht. 15 Das von Domitian zusammengerufene consilium umfaßt elf Mitglieder, die allesamt hohe politische Funktionen bekleiden (siehe bes. Vassileiou [wie Anm. 6] 48-59). Ausführlicher vorgestellt werden zunächst der Jurist Plotius Pegasus (Sat. 4.75-81), der dreimalige Konsul und ehemalige Gouverneur von Africa Quintus Vibius Crispus (Sat. 4.81-93) sowie der später hingerichtete Konsul M. Acilius Glabrio und sein Vater (Sat. 4.94-103). Plotius Pegasus wird als ein Aristokrat mit hohem Amt beschrieben, der trotz der bitteren Zeitumstände auf das Gesetz vertraut. Impliziert ist dabei offensichtlich, daß eine solche Haltung in einem Unrechtsregime wie dem Domitians eher unbedarft wirken muß. Quintus Vibius Crispus erscheint als ein alter Mann, der den klassischen Typus des Mitläufers verkörpert und sich gegenüber Domitian nie zu einem ehrlichen Wort hinreißen ließ. Der Kaiser selbst ist in diesem Zusammenhang als Tyrann bezeichnet, dessen herausragendstes Merkmal saevitia darstellte und der in keiner Weise offen für irgendeine Form der Kritik war. In satirischer Überspitzung bemerkt Juvenal, daß bei einem derart unberechenbaren Herrscher selbst Gespräche über harmlose Themen wie das Wetter lebensgefährlich werden konnten. 16 ille igitur numquam derexit bracchia contra Daß der Satiriker eine Haltung wie die des Vibius Crispus nicht akzeptieren kann, sondern als opportunistisch einstufen muß, zeigt sich vor allem an den folgenden Versen (Sat. 4.89-93): torrentem, nec civis erat qui libera posset verba animi proferre et vitam inpendere vero. genden fünften Satire. Zur Bedeutung der amicitia in der römischen Gesellschaft siehe allgemein Braund (wie Anm. 9) 32. 15 Daß Juvenal in seinen Satiren auf eine moralische Schwarz-Weiß-Malerei verzichtet, hat zuletzt Frederick Jones, Juvenal and the Satiric Genre, London 2007, 151 treffend zusammengefaßt: „(...) there is the recurrent appearance in Juvenal of the oppressoroppressed pairs traditional in Roman moralising - the mean patron and the ill-used client, the capricious tyrant and the frightened councillor, the defrauder and the defrauded, the will-hunter and his prey, the unsatisfactory wife and the suffering husband. In every case where these figures, and those like them, appear in the Satires, the standard polarisation of good and bad is undermined. Trebius and Naevolus deserve their Virro, and the simplistic moral judgements of the moralising tradition are consistently subverted.“ 16 Sat. 4.86-88: sed quid violentius aure tyranni, / cum quo de pluviis aut aestibus aut nimboso / vere locuturi fatum pendebat amici? <?page no="188"?> Thorsten Fögen 176 sic multas hiemes atque octogensima vidit solstitia, his armis illa quoque tutus in aula. Jener hat deshalb nie die Arme gegen den Strom gestreckt, war auch nicht der Bürger, der vermocht hätte, seine Gedanken in freien Worten zu äußern und sein Leben für die Wahrheit einzusetzen. So sah er viele Winter und die achtzigste Sommersonnenwende, mit solchen Schutzwaffen sicher sogar an jenem Hof. Es ergibt sich daraus das Bild eines schwachen Menschen, der nicht nur zu keinerlei Widerstand gegenüber der Obrigkeit imstande ist, sondern auch offenbar jedes Bedürfnis nach freier Meinungsäußerung verloren hat. Das zunächst scheinbar freundliche Bild des Crispus (Sat. 4.81-83: venit et Crispi iucunda senectus, / cuius erant mores qualis facundia, mite / ingenium) ist nach solchen Versen zu revidieren: Sein mite ingenium sind wie seine mores überhaupt keinesfalls als Tugenden zu interpretieren, sondern als ein Zeichen der Feigheit und fehlenden Integrität. 17 Daß die Nähe zu Domitian durchaus zum Tod führen konnte, belegt der Fall des jüngeren Acilius, der sein Schicksal auch dadurch nicht abzuwenden vermochte, daß er die Entehrung eines öffentlichen Auftritts im Amphitheater von Alba auf sich nahm. Seine Ermordung wird als mors saeva umschrieben (Sat. 4.95), was erneut auf die saevitia als eine negative Eigenschaft des Herrschers hinweist. Die Vorstellung der restlichen Berater erfolgt auf ungleich knapperem Raum: Sieben weitere Mitglieder des consilium werden in fünfzehn Versen genannt (Sat. 4.104-118). Von dem Militär Rubrius Gallus (Sat. 4.104-106) heißt es wenig präzise, er habe sich eines alten, geheimen Vergehens schuldig gemacht, das die Scholien als ein sexuelles Delikt in Verbindung mit der späteren Kaisergattin Domitia deuten. 18 Der nicht sicher identifizierbare Montanus, der möglicherweise mit dem unter Nero einflußreichen Curtius Montanus identisch ist, wird als personifizierter „Bauch“ eingeführt und damit zu einer Witzfigur herabgewürdigt. 19 17 Jones (wie Anm. 15) 87 sieht Juvenals Schilderung dieser und ähnlicher Verhaltensformen als „a critique of the various accounts of how one could survive (and maintain integrity) under an Emperor which we have from Pliny and especially Tacitus.“ Ob sich Juvenal tatsächlich gegen Plinius und Tacitus wandte, muß jedoch fraglich bleiben. Der bereits aus dem ersten Teil der vierten Satire bekannte Crispinus tritt ebenfalls in Erscheinung und wird 18 Schol. in Juv.: iste Rubrius aliquando <Do>mitiam in pueritia corruperat et verebatur ne pro hac mercede<m> [poenas] ab ipso reposceret. 19 Sat. 4.107: Montani quoque venter adest abdomine tardus. Siehe hierzu Christine Schmitz, Das Satirische in Juvenals Satiren, Berlin & New York 2000, 157: „Zur satirischen Reduktion eines Menschen auf eine hervorragende Eigenschaft gehört auch die Adaptation einer feierlich-erhabenen Form, nämlich die Umgewichtung des Ausdrucks. (...) Die feierliche Form der Umschreibung Montani venter adest kontrastiert mit dem despektierlichen Hinweis auf die Dickbäuchigkeit.“ <?page no="189"?> Juvenals Auseinandersetzung mit der Zeit Domitians 177 hier wegen seiner übermäßigen Verwendung von Parfüm bloßgestellt. 20 Von den vier übrigen Beratern Pompeius, Cornelius Fuscus, Gallus Fabricius Veiento und L. Valerius Catullus Messalinus repräsentieren die beiden letzteren typische Vertreter des domitianischen Terrorregimes. Pompeius übt in seiner Delatorentätigkeit wie der Kaiser selbst saevitia aus; auch der blinde, aber keineswegs ungefährliche Catullus, der - wie zu Beginn der Satire schon Crispinus (Sat. 4.2) - als ein monstrum bezeichnet wird, 21 Insgesamt handelt es sich somit bei Domitians Beratergremium um eine Gruppe von Charakteren, die sich bestens zu ihrem Herrscher fügen. Alle sind Mitläufer, die gegen den Kaiser nicht aufzubegehren wagen. Sie haben zum Teil dieselben Fehler oder gar tyrannischen Eigenschaften wie Domitian, insbesondere Grausamkeit (saevitia); andere wiederum verharren in reiner Passivität, um jeden Schaden von sich abzuwenden. Der fast fünfzig Verse umfassende Katalog, der beinahe ein Drittel der gesamten Satire ausmacht, bereitet den Leser wirkungsvoll auf das eigentliche consilium (Sat. 4.119-149) vor, das angesichts der adulatorisch-opportunistischen Berater nichts anderes als eine Farce werden kann. liefert andere ans Messer. Wie weit die Schmeichelei geht, zeigt sich an Veiento, der sich wie ein verzückter Priester gebärdet und den Fisch als ein Vorzeichen für einen großen militärischen Triumph Domitians deutet (Sat. 4.123-128). Übertroffen wird er allerdings durch den Vorschlag des im vorangegangenen Katalog als Fresser umschriebenen Montanus, den Riesenfisch keinesfalls zu zerstükkeln, sondern eigens eine besonders große Schüssel für ihn anzufertigen - all dies vorgetragen in einem dem Thema unangemessen überhöhten Stil. 22 Daß ausgerechnet die Empfehlung des Fettwanstes Montanus Zustimmung findet, spricht für den Charakter der Beratungssitzung und ihrer Teilnehmer, wie Juvenal durch den anschließenden Kommentar signalisiert (Sat. 4.136- 143): 20 Sat. 4.108f.: et matutino sudans Crispinus amomo, / quantum vix redolent duo funera. 21 Sat. 4.115: grande et conspicuum nostro quoque tempore monstrum. Siehe auch Daniel M. Hooley, Roman Satire, Malden, Mass. & Oxford 2007, 112: „Monstrosity in many of its forms runs all through this poem (...).“ Wie zuletzt Maria Plaza, The Function of Humour in Roman Verse Satire. Laughing and Lying, Oxford 2006, 305-337, hier 305 gezeigt hat, spielen monstra in Juvenals gesamtem Werk eine zentrale Rolle: „They span a broad spectrum from full-blown portraits to minute metaphors hidden within a turn of phrase (…).“ 22 Sat. 4.130-135: „absit ab illo / dedecus hoc“ Montanus ait, „testa alta paretur, / quae tenui muro spatiosum colligat orbem. / debetur magnus patinae subitusque Prometheus, / argillam atque rotam citius properate! sed ex hoc / tempore iam, Caesar, figuli tua castra sequantur.“ Zu Sprache und Stil dieses Abschnitts siehe Roberta Stewart, Domitian and Roman religion. Juvenal, Satires Two and Four. In: Transactions of the American Philological Association 124 (1994) 309-332, hier 328. <?page no="190"?> Thorsten Fögen 178 vicit digna viro sententia. noverat ille luxuriam inperii veterem noctesque Neronis iam medias aliamque famem, cum pulmo Falerno arderet. nulli maior fuit usus edendi tempestate mea: Circeis nata forent an Lucrinum ad saxum Rutupinove edita fundo ostrea callebat primo deprendere morsu, et semel aspecti litus dicebat echini. Es siegte dieser Antrag, der des Mannes würdig war. Er kannte die Schwelgerei am Hofe von früher, wenn es bei Nero bereits Mitternacht war und der zweite Hunger kam, da die Brust vom Falerner glühte. Niemand in meiner Zeit hatte eine größere Erfahrung im Essen: ob Austern bei Circe oder am lucrinischen Felsen gewachsen oder auf dem Meeresgrund von Rutupiae entstanden waren, verstand er, mit dem ersten Biß zu ermitteln, und benannte beim Seeigel nach einem einzigen Blick die Ursprungsküste. Montanus ist hier als eine Art kulinarischer Odysseus skizziert, dessen Kenntnisse sich aber im Gegensatz zu dem homerischen Helden auf wenig Substantielles beschränken. 23 Die Beschreibung seines Expertentums ist außerdem mit einem Rückgriff auf die Zeit Neros verknüpft, unter dessen Herrschaft Montanus bereits Erfahrungen mit Exzessen bei Tafeleien gesammelt hatte. Damit liegt eine weitere Anbindung der Epoche Domitians an die Zeit Neros vor, die bereits in der Einleitung des zweiten Teils der vierten Satire in Erinnerung gerufen wurde (Sat. 4.38). Domitians Herrschaft erscheint auf diese Weise als eine lineare Fortsetzung des neronischen Prinzipats, dessen Kontinuität auch daraus ersichtlich ist, daß ein Teil der Höflinge Neros unter Domitian über eine vergleichbare Position verfügt. Nicht umsonst ist Domitian bei Juvenal als Flavius ultimus bezeichnet (Sat. 4.37f.), als der letzte Flavier, zugleich aber auch der schlimmste seiner Linie - ein Wesenszug, in dem er Nero, dem letzten Vertreter des julisch-claudischen Kaiserhauses, gleichfalls stark ähnelt. 24 Sein tyrannischer Charakter wird im Anschluß an die Schilderung der Ratssitzung noch einmal von verschiedenen Seiten beleuchtet. Mit dem Befehl an seine Ratgeber, sich unmittelbar zu einer Sitzung einzufinden, hatte Domitian diese in Angst und Schrecken versetzt und zudem suggeriert, daß etwas Dringliches zu verhandeln sei, das die politische Situation des römischen Imperiums betreffe. Daß es jedoch lediglich um nugae geht, beweist die Unfähigkeit des Herrschers, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen wie 23 Siehe Emily Gowers, The Loaded Table. Representations of Food in Roman Literature, Oxford 1993, 208: „The experience of the elder statesman Montanus is entirely that of a gourmet, a parody of Homer’s account of Odysseus’ experience of many cities and peoples (with Circeis, 140, as a Homeric allusion).“ 24 Die Ähnlichkeit Domitians zu Nero wird auch von anderen Autoren akzentuiert, so z.B. von Martial 11.33; Plinius, Paneg. 53.4 sowie Tertullian, Pall. 4.5. <?page no="191"?> Juvenals Auseinandersetzung mit der Zeit Domitians 179 überhaupt verantwortungsvoll mit seiner Macht umzugehen. 25 Explizit erwähnt sind Krisenherde in Germanien, die eine gezielte Reichssicherung erforderten (Sat. 4.147f.); Juvenal insinuiert mit seiner Darstellung, daß Domitian dieser Aufgabe nicht in ausreichendem Maße nachgekommen sei. Eine weitere Facette in der Zeichnung des Kaisers ist der Hinweis darauf, daß er sich nicht in Rom aufhält, sondern in Alba Longa, wo er fernab in seiner „Burg“ residiert, 26 Es unterstreicht den sinistren und undurchdringlichen Wesenszug Domitians, daß sein Name kein einziges Mal in der gesamten Satire explizit erwähnt wird. Statt dessen finden sich alle möglichen Umschreibungen, die größtenteils mit Ironie durchtränkt sind: als „Imperator“ (Sat. 4.29), als „letzter Flavier“ (Sat. 4.37f.), als „kahlköpfiger Nero“ (Sat. 4.38), in seiner Funktion als oberster Pontifex (Sat. 4.46), als Caesar (Sat. 4.51, 4.135), als „Atreus- Sohn“ Agamemnon (Sat. 4.65), als „Herrscher über Meere, Länder und Völker“ (Sat. 4.83: maria ac terras populosque regenti), als „Geißel und Plage“ (Sat. 4.84: clade et peste sub illa), als „Herrscher“ (Sat.4.96: domini) und „großer Anführer“ (Sat. 4.145: dux magnus) oder aber in neutraler Form von Pronomina (Sat. 4.69: illi, Sat. 4.73: ille). wie durch die Klammerstellung Albanam dux magnus in arcem (Sat. 4.145) veranschaulicht wird. Damit hat er sich, wie es einem typischen Tyrannen entspricht, seiner Umwelt weitgehend entrückt und kann allein entscheiden, wem er Zugang gewähren möchte. 27 Überhaupt bleibt die Gestalt Domitians in dem ganzen Gedicht im Hintergrund; er spricht insgesamt nur vier Wörter und bleibt dabei extrem lapidar (Sat. 4.130: quidnam igitur censes? conciditur? ), wenngleich seine hier auf den Fisch bezogene Frage conciditur? an vergleichbare Beratungssituationen denken läßt, in denen es jedoch nicht um Tiere, sondern um Menschen und deren Beseitigung geht. 28 25 Das sinnlose Einberufen von Versammlungen ist nach antiker Auffassung ein typischer Zug entarteter Herrscher. Für Domitian sei neben Juvenal vor allem auf Plinius, Epist. 8.14.8 und Cassius Dio 67.9 verwiesen. Doch auch für Nero ist diese Neigung bezeugt; siehe Cassius Dio 63.26.4:  5 . X ¨ 2 G 2 2 G 7 G Š T5 D, 2 Y, 7 7 G h 5 ¨ 5 " , T $ “D,  ¯ e" ° G j ¥ 2 ¯ ( - 3 9 3 o 0. 9 "} ) ° 7 p 7 D T "0T9, : ¯ % . 7 h e p (...). Seine Persön- 26 Zu Domitians Residenz in Alba Longa siehe Pat Southern, Domitian. Tragic Tyrant, London & New York 1997, 130-132. 27 Gute Beobachtungen dazu bei David Sweet, Juvenal’s Satire 4. Poetic uses of indirection. In: California Studies in Classical Antiquity 12 (1979) 283-303, hier 285: „(...) although most of these references to Domitian are ironic, they nonetheless have an official ring to them. They are titles of one sort or another, and they serve several functions. Their variety and their formality convey the ubiquity and the magnitude of his power. At the same time they also set him at a distance from us or the ordinary Roman, for they describe principally only Domitian’s public facets. They conceal the man himself.“ 28 Daß Domitian eine Reihe von Menschen auf dem Gewissen hatte, wird am Schluß der Satire mit besonderer Deutlichkeit angesprochen (Sat. 4.150-152): atque utinam his potius <?page no="192"?> Thorsten Fögen 180 lichkeit erschließt sich aus der Zeichnung seiner Umgebung, insbesondere seiner Berater, aber auch des unterwürfigen Fischers, der zu ihm nach Alba Longa kommt. 29 An diesen Figuren läßt sich erkennen, welche Wirkung Domitian auf seine Umwelt hat: Sie sind willfährige Marionetten, die nicht selten die schlechten Eigenschaften des Herrschers teilen. Der erste Teil, der inzwischen von den meisten Gelehrten als ein integraler Bestandteil der vierten Satire eingestuft wird, 30 illustriert dies am Beispiel des Crispinus, der im zweiten Teil am consilium teilnimmt. Wie oben nachgewiesen, ähnelt Crispinus in seiner Monstrosität Domitian; 31 nugis tota illa dedisset / tempora saevitiae, claras quibus abstulit urbi / inlustresque animas inpune et vindice nullo. Entsprechenden Nachdruck erhält dieser Umstand auch dadurch, daß der letzte Vers ebenfalls das Morden des Kaisers anspricht, nämlich an Lamia Aelianus und, wie durch den generischen Plural angezeigt wird, vergleichbaren Zeitgenossen (Sat. 4.154): hoc nocuit Lamiarum caede madenti. daß er darin nicht der einzige 29 Siehe Gilbert Highet, Juvenal the Satirist, Oxford 1954, 82: „What of the detestable emperor himself? He is not described. At the very beginning of the story he is called ‘the bald Nero’ (...), but that gives us no clear picture of him. (...) We never see him, behind his closed doors. We hardly hear his voice. But we are conscious of his power, and of his brooding incalculable dangerous character, silent and unpredictable like a snake.“ Gute Überlegungen zu einer möglichen filmischen Umsetzung finden sich bei John Ferguson, Juvenal: The Satires. Edited with introduction and commentary, New York 1979, 172f.: „If I were filming this I should not show Domitian at all - at least not his face. I might use a shot from above showing a bald pate and a wreath as the fisherman kneels before the throne, and I might show feet and toga as the emperor enters the Council-chamber, and perhaps a movement of a jewelled finger. But I would show the emperor reflected in the fear and viciousness of the faces around, and in the state of country and city. This is what, in words, J[uvenal] achieves.“ 30 So z.B. von William C. Helmbold & Edward N. O’Neil, The structure of Juvenal IV. In: American Journal of Philology 77 (1956) 68-73, die Parallelen zwischen Crispinus und Domitian herausarbeiten, sowie von Willibald Heilmann, Zur Komposition der vierten Satire und des ersten Satirenbuches Juvenals. In: Rheinisches Museum für Philologie 110 (1967), 358-370, hier bes. 358-365; Ross S. Kilpatrick, Juvenal’s ‘Patchwork’ Satires: 4 and 7. In: Yale Classical Studies 23 (1973), 229-241, hier 229-235; Gavin B. Townend, The literary substrata to Juvenal’s Satires. In: Journal of Roman Studies 63 (1973) 148- 160, hier 155-158; Sweet (wie Anm. 27) bes. 289-299; Carl Deroux, Domitian, the kingfish and the prodigies. A reading of Juvenal’s Fourth Satire. In: Ders. (ed.), Studies in Latin Literature and Roman History 3, Bruxelles 1989, 283-298, hier 288f.; René Marache, Juvénal - peintre de la société de son temps. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II 33.1 (1989), 592-639, hier 608f.; Jones (wie Anm. 13) bes. 50f.; Flintoff (wie Anm. 6) 123-125 und Joachim Adamietz, Zur Frage der Parodie in Juvenals 4. Satire. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N.F. 19 (1993) 185-200, bes. 186f. Siehe aber bereits die Ansätze bei Carl Friedrich Nägelsbach, Ueber die Composition der vierten und sechsten Satire Juvenals. In: Philologus 3 (1848) 469-482 und Theodor Birt, Der Aufbau der sechsten und vierten Satire Juvenals. In: Rheinisches Museum für Philologie 70 (1915) 524-550, hier 542-548. 31 Daß Crispinus eine Art Präludium zu dem noch schlimmeren Domitian ist, hat auch Gowers (wie Anm. 23) 204 betont: „Everything Crispinus does, Domitian magnifies. Crispinus ordered the burial of a Vestal Virgin while her blood was still quick in her <?page no="193"?> Juvenals Auseinandersetzung mit der Zeit Domitians 181 ist, belegt der Katalog der Ratgeber des Kaisers. Dessen gesamte Herrschaft ist bei Juvenal als moralisch verkommen und daher zutiefst fragwürdig nachgezeichnet; dies wird auch auf sprachlich-stilistischer Ebene immer wieder signalisiert, wie vor allem Adamietz hervorgehoben hat: „Insgesamt trägt die Einbeziehung der epischen Sprache dazu bei, die Kluft zwischen Würde und Aufgaben der Regierung Roms und ihrem tatsächlichem Versagen noch sinnfälliger werden zu lassen.“ 32 3 Negative (und positive) Herrscherbilder Dabei ist saevitia eines ihrer herausragenden Merkmale, wie auch in der Coda noch einmal betont wird (Sat. 4.150f.). Daß Juvenal mit seiner vierten Satire keine Kritik an gegenwärtigen Mißständen übt, sondern sich seiner Thematik aus der Retrospektive nähert, 33 geht schon aus dem Hinweis auf die Ermordung Domitians in der Coda hervor (Sat. 4.153f.). 34 veins (sanguine vivo, 10); Domitian tore apart the half-dead world (semianimum orbem, 37) and dripped with the blood of slaughtered aristocrats (...).“ Siehe außerdem Gowers 206: „Crispinus himself is small and modest compared with Domitian, his behaviour a mere hors-d’œuvre to Domitian’s cruelty. In the same way, the first part of the poem is ‘small’ compared with the centre (...).“ Wie viel Zeit zwischen dem Tod des Kaisers im Jahre 96 n. Chr. und der Abfassung der vierten Satire verstrichen ist, läßt sich nicht präzise rekonstruieren. Braund hält es für plausibel, daß die ersten 32 Adamietz (wie Anm. 30) 200. Zur Funktion epischer Elemente bei Juvenal siehe auch Martin M. Winkler, The function of epic in Juvenal’s Satires. In: Carl Deroux (ed.), Studies in Latin Literature and Roman History 5, Bruxelles 1989, 414-441, der ebenfalls auf die vierte Satire eingeht (433-439), den Blick aber zugleich auf andere Satiren des Dichters lenkt. Weiter ausgreifend zu Sprache und Stil Juvenals ist der Beitrag von Jonathan G. Powell, Stylistic registers in Juvenal. In: James N. Adams & Roland G. Mayer (eds.), Aspects of the Language of Latin Poetry, Oxford 1999, 311-334; speziell zu epischen Elementen siehe Powell 315f. und passim, der die folgende Meinung vertritt: „every reference to epic in Juvenal is parodic“ (315). 33 Daß die Veröffentlichung eines Textes wie der vierten Satire zu Lebzeiten Domitians undenkbar gewesen wäre, läßt sich aus den Bemerkungen des Tacitus zu Beginn seines Agricola (§ 2) erschließen. Juvenal hat im übrigen auch selbst zur Gefahr einer Kritik an Lebenden Stellung genommen (Sat. 1.147-171, bes. 1.170f.: experiar quid concedatur in illos / quorum Flaminia tegitur cinis atque Latina). 34 Zu Domitians Tod siehe Jones (wie Anm. 6) 193-196, bes. 193: „On 18 September 96, Domitian was murdered in a palace conspiracy and replaced, on the very same day (eodem die), by one of his amici, the senator M. Cocceius Nerva: the Fasti of Ostia record precisely what happened. It was not unplanned. According to Suetonius (Dom. 17.1), when the plotters were hesitating about when and how to kill him, they were approached by Domitilla’s steward Stephanus: for some days, he feigned an injury, covering his arm with bandages so as to conceal a dagger. So it was not done on the spur of the moment. (...)“ <?page no="194"?> Thorsten Fögen 182 sechs Satiren aus dem zweiten Jahrzehnt des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts stammen, 35 während Duff für eine frühere Datierung plädiert. 36 3.1 Senecas Apocolocyntosis Diese Frage ist nicht mit endgültiger Sicherheit zu entscheiden, sie ist aber für die hier verfolgte Problematik auch nicht von zentraler Bedeutung. Bemerkenswert ist der Umstand, daß Juvenal diese Satire schrieb, als bereits ein neuer Kaiser herrschte, mit großer Wahrscheinlichkeit Trajan (regn. 98- 117 n. Chr.). War das Domitian-Erlebnis für Juvenal derart traumatisch, daß er mit seinem Gedicht eine Art Vergangenheitsbewältigung leisten wollte? Dem Dichter ein derartiges Anliegen zu unterstellen, würde seine Intentionen sicher zu sehr eingrenzen. Die vierte Satire als ein rein rückwärtsgewandtes Zeitzeugnis zu interpretieren, würde ihr auch insofern nicht gerecht, als es vergleichbare Texte gibt, die in einem thematisch ähnlichen Licht wie Juvenals Gedicht gesehen werden müssen, dabei aber eine mehr oder weniger explizite Anbindung an die Gegenwart der betreffenden Autoren aufweisen. Zu denken ist vor allem an Senecas Apocolocyntosis, die prosimetrische Satire auf Kaiser Claudius (regn. 41-54 n. Chr.), die in übersteigerter Form dessen Tod und den mißlungenen Versuch einer Vergöttlichung inszeniert. Wie Braund in einem Aufsatz aus dem Jahre 1993 (wie Anm. 35) nachgewiesen hat, gibt es zwischen Senecas Apocolocyntosis und Juvenals vierter Satire einige Parallelen: Wie Juvenals Domitian ist Senecas Claudius als ein mon- 35 Braund (wie Anm. 9) 16: „It seems likely that the first two books (Book 1 comprising Satires 1-5 and Book II Satire 6 alone) were written in the second decade of the second century AD, towards the end of Trajan’s reign or, possibly, soon after Hadrian’s accession in AD 117.“ Siehe auch Susanna Morton Braund, Paradigms of power. Roman emperors in Roman satire. In: Keith Cameron (ed.), Humour and History, Oxford 1993, 56-69, hier 64: „This poem was written at least twenty years after the death of the emperor Domitian (ruled AD 81-96) who is the object of attack, late in the reign of Trajan (ruled AD 98-117) or early in the reign of Hadrian (ruled AD 117-138).“ Für eine Datierung in hadrianische Zeit plädiert Alex Hardie, Juvenal, Domitian, and the accession of Hadrian (Satire 4). In: Bulletin of the Institute of Classical Studies 42 (1997/ 98) 117-144, bes. 117-119, 136-138. 36 John Wight Duff, A Literary History of Rome in the Silver Age. From Tiberius to Hadrian. Edited by A. M. Duff, London 3 1964, 481: „It seems natural to think that Domitian’s reign was not yet far in the past, and that Juvenal writes with a fierce, because recent, recollection of the repression which had been removed, to the equal relief of writers like Pliny and Tacitus. This spirit makes it difficult to believe that Friedländer is right in dating the first book so late as the years between 112 and 116 in order to bring it nearer in time to the succeeding book.“ Siehe auch Gérard (wie Anm. 6) 325 und Aldo Luisi, Il Rombo e la Vestale. Giovenale, Satira IV. Introduzione, traduzione, commento, Bari 1998, 71-75. <?page no="195"?> Juvenals Auseinandersetzung mit der Zeit Domitians 183 strum skizziert. Zwar erscheint er vor allem als körperliches und geistiges Ungeheuer, 37 Die Apocolocyntosis als eine einseitig drastische Bloßstellung des Kaisers Claudius zu lesen, würde ihren zeitlichen Kontext ignorieren. Die Akzentuierung seiner Defizite und Laster dient keineswegs ausschließlich dem Hervorrufen von Gelächter bei den Lesern, sondern präsentiert ein abschreckendes Negativbild eines Herrschers, der keinerlei nachahmenswerte Eigenschaften zu haben schien. Welche Züge hingegen einem guten Herrscher zukommen, läßt sich nicht nur aus Senecas Apocolocyntosis erschließen (siehe bes. Apoc. 4.1f.; dazu bereits Weinreich [wie Anm. 10] 37-51), sondern auch aus seinem an Nero gerichteten Fürstenspiegel De clementia. Insofern ließe sich die Apocolocyntosis analog zu De clementia als eine Zusammenfassung all dessen auffassen, was der neue Herrscher gerade nicht in sein Amt mitbringen soll, insbesondere saevitia und das Fehlen von Gerechtigkeit (iustitia). ist aber ähnlich wie Domitian auch insofern monströs, als er über ein entsprechendes Maß an saevitia verfügte (siehe bes. Apoc. 6.1f., 14.1; ferner 10.3-11.2, 11.5) und auch vor Morden nicht zurückschreckte; so begegnet Claudius in der Unterwelt Leuten, die er hat umbringen lassen und die nun Rache an ihm fordern. Wie Domitian hat auch er ein falsches Verständnis von amicitia (Apoc. 13.6): Die von ihm Ermordeten sieht er groteskerweise als seine Freunde an. 38 In einer vergleichbaren Weise ließe sich Juvenals vierte Satire als eine Zusammenstellung grober Verfehlungen eines Kaisers und seiner unmittelbaren Umwelt deuten, von denen sich die neue, weitaus bessere Regierung 37 Seneca, Apoc. 5.2f.: nuntiatur Iovi venisse quendam bonae staturae, bene canum; nescio quid illum minari, assidue enim caput movere; pedem dextrum trahere. quaesisse se cuius nationis esset: respondisse nescio quid perturbato sono et voce confusa; non intellegere se linguam eius: nec Graecum esse nec Romanum nec ullius gentis notae. (...) ut vidit (sc. Hercules) novi generis faciem, insolitum incessum, vocem nullius terrestris animalis sed qualis esse marinis beluis solet, raucam et implicatam, putavit sibi tertium decimum laborem venisse; ferner Apoc. 11.3. Siehe auch Sueton, Claudius 2.1: animo simul et corpore hebetato; 3.2: portentum hominis, nec absolutum a natura, sed tantum incohatum; 4.6: tam ! "G loquatur; 6.2: imbecillitas; 21.6: non sine foeda vacillatione discurrens; besonders 30: auctoritas dignitasque formae non defuit ei, verum stanti vel sedenti ac praecipue quiescenti, nam et prolixo nec exili corpore erat et specie canitieque pulchra, opimis cervicibus; ceterum et ingredientem destituebant poplites minus firmi, et remisse quid vel serio agentem multa dehonestabant: risus indecens, ira turpior spumante rictu, umentibus naribus, praeterea linguae titubantia caputque cum semper tum in quantulocumque actu vel maxime tremulum. 38 Bereits Weinreich (wie Anm. 10) 5-7 hat darauf aufmerksam gemacht, daß Seneca angesichts seiner Exilierung auch persönliche Gründe hatte, Claudius bloßzustellen. In seiner wesentlich früheren, während der Verbannung abgefaßten Consolatio ad Polybium ist jedoch Claudius als guter Herrscher charakterisiert, dem Caligula als Negativbild gegenübergestellt wird (so bes. Cons. ad Pol. 13.1, 13.4, 17.3-6); dazu beispielsweise Siegmar Döpp, Claudius in Senecas Trostschrift an Polybius. In: Volker Michael Strocka (ed.), Die Regierungszeit des Kaisers Claudius (41-54 n. Chr.). Umbruch oder Episode? , Mainz 1994, 295-306, hier bes. 300-302. <?page no="196"?> Thorsten Fögen 184 nachdrücklich distanziert. 39 3.2 Der Panegyricus des jüngeren Plinius So gesehen, hat Juvenals Gedicht trotz seiner Auseinandersetzung mit der politischen Vergangenheit Roms durchaus einen bedeutsamen Bezug zur Politik der Gegenwart, auch wenn dieser nicht in massiver Weise an die Oberfläche des Textes dringt. Eine explizite Kontrastierung von Vergangenheit (der Herrschaft Domitians) und Gegenwart (der Herrschaft Trajans oder u.U. auch Hadrians) leistet die vierte Satire Juvenals freilich nicht. Doch auch so läßt sich aus dem Modell des schlechten Herrschers, des Tyrannen Domitian, ein Gegenbild erschliessen, das als erstrebenswert erscheinen muß. Der bei Juvenal fehlende direkte Vergleich zwischen „schlechtem“ und „gutem“ Kaiser findet sich allen voran im Panegyricus des jüngeren Plinius auf den Kaiser Trajan, dessen Text auf eine Rede zurückgeht, die Plinius im Jahre 100 n. Chr. vor Senat und Herrscher gehalten hatte. 40 Er schreibt darin Trajan eine Fülle von Herrschertugenden zu und erhebt ihn damit zu einem mustergültigen Regenten. Gleich zu Beginn setzt er seine Worte von Schmeichelei (adulatio) ab und verbindet sie statt dessen mit Freimut und Wahrheit. 41 39 Siehe auch Braund (wie Anm. 35) 67: „In contrast, the absence of libertas in all its forms, in particular in distrust, danger and flattery, is Domitian’s chief failing in Juvenal’s fourth Satire. This, equally, reflects the prevailing concerns at the time of writing, whether the poem dates from the end of Trajan’s reign or the beginning of Hadrian’s.“ Aus der Art und Weise seiner Danksagung solle man erkennen, daß sich die Zeiten geändert haben: Da kein Zwang zu Lobeshymnen mehr bestehe wie zuvor unter Domitian, seien Formen rhetorischer Übertreibung unangemessen; Trajan sei schließlich kein Gott, sondern sehe sich als Bürger und als Vater der Römer, was ihm umso größere Aner- 40 Man hat davor gewarnt, den Panegyricus als glaubwürdiges Material für die Rekonstruktion der Herrschaft Domitians einzustufen, so z.B. Kenneth H. Waters, The character of Domitian. In: Phoenix 18 (1964), 65-77, hier 50: „One might as well reconstruct the character of a politician in, say, a Central American state from the speeches of his chief opponent as treat the Panegyric as historical evidence for the character of Domitian.“ Natürlich bringt die Gattung der Lobrede Einseitigkeiten in der Darstellung mit sich. Den Text des Plinius aber als Quelle komplett zu vernachlässigen, ist nicht zu empfehlen; denn immerhin ist die Rede ein wichtiges Zeugnis des Selbstverständnisses der neuen Regierung Trajans. 41 Plinius, Paneg. 1.6: Quo magis aptum piumque est te, Iuppiter optime, antea conditorem, nunc conservatorem imperii nostri precari, ut mihi digna consule digna senatu digna principe contingat oratio, utque omnibus quae dicentur a me, libertas fides veritas constet, tantumque a specie adulationis absit gratiarum actio mea quantum abest a necessitate. Siehe auch Paneg. 3.1f., 3.5 und 54. <?page no="197"?> Juvenals Auseinandersetzung mit der Zeit Domitians 185 kennung eintragen müsse. 42 Als seine virtutes, die bei ihm erstmals in der Linie früherer Kaiser nicht durch irgendwelche Laster beeinträchtigt seien (Paneg. 4.5), werden wiederholt seine Frömmigkeit (pietas), Uneigennützigkeit (abstinentia), Milde (mansuetudo, clementia), Menschlichkeit (humanitas), Mäßigung (temperantia), Freundlichkeit (facilitas), Bescheidenheit (modestia), Sinn für das rechte Maß (moderatio), Sparsamkeit (frugalitas), Großzügigkeit (liberalitas), Güte (benignitas), Selbstbeherrschung (continentia), Arbeitsamkeit (labor), Tapferkeit (fortitudo) sowie zahlreiche weitere positive Eigenschaften genannt, die auch sichtbare körperliche Vorzüge durchaus einschließen. 43 Seine virtutes finden zudem ihre direkte Entsprechung in seinem familiären Umfeld, so bei seiner Gattin und seiner Schwester, die sich in vorbildlicher Zurückhaltung und Bescheidenheit üben (Paneg. 83.4-84.8). Trajan ist kein Tyrann, der verborgen in seinem Palast für das Volk unsichtbar und unerreichbar bleibt, sondern demonstriert ein hohes Maß an Leutseligkeit. 44 42 Paneg. 2.1-4: Equidem non consuli modo sed omnibus civibus enitendum reor, ne quid de principe nostro ita dicant, ut idem illud de alio dici potuisse videatur. Quare abeant ac recedant voces illae quas metus exprimebat. Nihil quale ante dicamus, nihil enim quale antea patimur; nec eadem de principe palam quae prius praedicemus, neque enim eadem secreto quae prius loquimur. Discernatur orationibus nostris diversitas temporum, et ex ipso genere gratiarum agendarum intellegatur, cui quando sint actae. Nusquam ut deo, nusquam ut numini blandiamur: non enim de tyranno sed de cive, non de domino sed de parente loquimur. Unum ille se ex nobis - et hoc magis excellit atque eminet, quod unum ex nobis putat, nec minus hominem se quam hominibus praeesse meminit. Siehe auch Paneg. 44.1f. Audienzen bei Trajan bieten das genaue Gegenbild zu dem Eindruck, den man 43 Siehe bes. Paneg. 2.6f. (pietas, abstinentia, mansuetudo, humanitas, temperantia, facilitas), 3.2 (modestia, moderatio), 3.4 (humanitas, frugalitas, clementia, liberalitas, benignitas, continentia, labor, fortitudo), 4.3 (moderate), 20.1 (caritas patriae), 20.2 (castitas ingenita et innata), 24.1 (iunxisti enim ac miscuisti res diversissimas, securitatem olim imperantis et incipientis pudorem), 24.2 (oris humanitas), 44.8 (labor, vigilantia, frugalitas), 49.3 (innocentia), 54 (Ablehnung von adulatio), 84.1 (simplicitas, veritas, candor) und 86.5 (liberalitas, cura, patientia). Zu den körperlichen Vorzügen Trajans siehe Paneg. 4.6f.: At principi nostro quanta concordia quantusque concentus omnium laudum omnisque gloriae contigit! Ut nihil severitati eius hilaritate, nihil gravitati simplicitate, nihil maiestati humanitate detrahitur! Iam firmitas iam proceritas corporis, iam honor capitis et dignitas oris, ad hoc aetatis indeflexa maturitas, nec sine quodam munere deum festinatis senectutis insignibus ad augendam maiestatem ornata caesaries, nonne longe lateque principem ostentant? 44 Siehe Paneg. 24.2-5 und 47.3-5: An quisquam studia humanitatis professus non cum omnia tua tum vel in primis laudibus ferat admissionum tuarum facilitatem? Magno quidem animo parens tuus hanc ante vos principes arcem publicarum aedium nomine inscripserat; frustra tamen, nisi adoptasset qui habitare ut in publicis posset. Quam bene cum titulo isto moribus tuis convenit, quamque omnia sic facis tamquam non alius inscripserit! Quod enim forum, quae templa tam reserata? Non Capitolium ipsaque illa adoptionis tuae sedes magis publica magis omnium. Nullae obices nulli contumeliarum gradus superatisque iam mille liminibus ultra semper aliqua dura et obstantia. Siehe auch Paneg. 76.6-8. <?page no="198"?> Thorsten Fögen 186 vom consilium Domitians in Juvenals vierter Satire hatte (Paneg. 48.1-3, bes. 48.1): 45 Ipse autem ut excipis omnes, ut exspectas! ut magnam partem dierum, inter tot imperii curas, quasi per otium transigis! Itaque non albi et attoniti, nec ut periculum capitis adituri tarditate, sed securi et hilares cum commodum est convenimus. Du selbst aber, wie empfängst, wie erwartest du alle deine Besucher, und verbringst, bedrängt von so vielen Sorgen um die Verwaltung des Reiches, einen großen Teil des Tages so, als hättest du Muße! Und so kommen wir auch nicht bleich und eingeschüchtert, nicht zögernd wie zu einem lebensgefährlichen Unternehmen, sondern frei von Furcht, guten Mutes, zu passender Stunde. 46 Dieser heiteren, entspannten Atmosphäre ohne jeden Argwohn, die sich bei Gastmählern im Palast fortsetzt (Paneg. 49.4-8) und ihre Basis in einem richtig verstandenen Freundschaftsbegriff (amicitia) hat (Paneg. 85), stellt Plinius eine Beschreibung der Zustände unter Domitian gegenüber, die weitere auffällige Parallelen zu Juvenal erkennen läßt (Paneg. 48.3-5): (...) domo, quam nuper illa immanissima belua plurimo terrore munierat, cum velut quodam specu inclusa Und eben aus diesem Haus hatte vor kurzem noch jenes abscheuliche Ungeheuer eine Festung des Schreckens gemacht, als es wie in einer Höhle eingeschlossen bald das Blut seiner Verwandten leckte, bald losbrach, um den edelsten Bürgern Tod und Verderben zu bringen. Vor dem Portal herrschte eine Atmosphäre des Schreckens, der Bedrohung und der Furcht, die gleichermaßen Zugelassene wie Abgewiesene erfaßte. Und dann er selbst - eine schreckliche Begegnung, ein entsetzlicher Anblick! Hochmut auf der Stirn, Wut in den Augen, ein weibisch bleicher Körper, ein hochrotes Gesicht mit schamlosem Ausdruck. Niemand wagte, zu ihm hinzugehen, ihn anzusprechen. Stets zog es ihn in dunkle Abgeschiedenheit, und wenn er je aus seiner Einsiedelei losbrach, dann nur, um anderswo Einsamkeit zu schaffen. nunc propinquorum sanguinem lamberet, nunc se ad clarissimorum civium strages caedesque proferret. Obversabantur foribus horror et minae et par metus admissis et exclusis; ad hoc ipse occursu quoque visuque terribilis: superbia in fronte, ira in oculis, femineus pallor in corpore, in ore impudentia multo rubore suffusa. Non adire quisquam non adloqui audebat, tenebras semper secretumque captantem, nec umquam ex solitudine sua prodeuntem, nisi ut solitudinem faceret. 45 Zu einem Vergleich Juvenals mit Plinius’ Panegyricus siehe Nino Scivoletto, Plinio il Giovane e Giovenale. In: Giornale italiano di filologia 10 (1957), 133-146; Gérard (wie Anm. 6) bes. 317-326 und 330-332, sowie Edwin S. Ramage, Juvenal and the establishment. Denigration of predecessor in the Satires. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II 33.1 (1989), 640-707, hier bes. 695f. 46 Übersetzung hier und im folgenden nach Werner Kühn (ed.), Plinius der Jüngere: Panegyrikus - Lobrede auf den Kaiser Trajan. Hrsg., übers. und mit Erläuterungen versehen, Darmstadt 1985. <?page no="199"?> Juvenals Auseinandersetzung mit der Zeit Domitians 187 Wie bei Juvenal erscheint Domitian hier als ein unheimliches Monstrum, das allenthalben Schrecken verbreitete. Sein geradezu tierisch-unmäßiges Wesen, das an seiner Physiognomie ablesbar gewesen sei, habe es mit sich gebracht, daß er die Menschen scheute und sich in einem Palast verbarg. 47 Dieses überaus negative Bild fügt sich zu den zahlreichen vitia, die Plinius direkt oder indirekt Domitian zuschreibt. Gerade diese Zurückgezogenheit ist es nach dieser Darstellung aber auch, die ihn so unberechenbar und gefährlich werden ließ. 48 Besonders eindrucksvoll ist dabei die Schilderung der allgegenwärtigen adulatio gegenüber dem Herrscher, die gerade in Senatssitzungen zu endlosen Lobreden auf den Princeps führte, während die Inhalte solcher Zusammenkünfte oft wenig substantiell gewesen seien (Paneg. 54.3f.) - auch dies eine auffällige Parallele zu Juvenal, der diesen Sachverhalt anhand der banalen Debatte über die Verwendung des Fisches auf die satirische Spitze treibt. Ähnliches gilt für die von Plinius geschilderten unterschiedlichen Formen der Meinungsäußerung und der Abstimmungsverfahren im Senat unter Domitian und Trajan (Paneg. 76). Was im Panegyricus über die entsprechenden Usancen am Hof Domitians gesagt wird, 49 Auch Domitians politisch-militärische Mißerfolge werden von Plinius nicht verschwiegen: Seine anmaßenden Triumphzüge hätten nicht dem tatsächlich Erreichten entsprochen, wie mit implizitem Bezug auf die Dakerkriege (85-89 n. Chr.) vermerkt wird, in denen die Römer empfindliche Niederlagen erlitten hatten und durch Domitians Verhandlungen mit dem Dakerkönig Decebalus am Ende einen Friedensschluß hinnehmen mußten, der angesichts ihrer Verpflichtung zu Tributzahlungen eine schale Lösung darstellte. erinnert sehr an die Atmosphäre des consilium in Juvenals vierter Satire: Es herrschte Angst und Mißtrauen, von einer Pluralität von Positionen und Ansichten war man denkbar weit entfernt. 50 47 Ob sich das angebliche Bedürfnis Domitians nach Einsamkeit mit den Maßstäben moderner Psychologie erklären läßt, wie Southern (wie Anm. 26) bes. 122 dies versucht, bleibe dahingestellt. Mit Trajan dagegen, der ein Imperator alten Schlages sei und 48 Siehe bes. Paneg. 2.7 (adrogantia), 3.4 (superbia, luxuria, crudelitas, avaritia, livor, libido, inertia, timor), 20.2 (adfectata castitas), 24.3 (superbia), 24.5 (ante te principes fastidio nostri et quodam aequalitatis metu usum pedum amiserant), 44.8 (inertia, somnus, luxuria), 48.4 (superbia in fronte, ira in oculis, femineus pallor in corpore, in ore impudentia multo rubore suffusa), 49.1 (divinitas, timor, superbia, odium hominum), 49.2 (crudelitas, solitudo) sowie 54.1 und ff. (Tolerieren von adulatio). 49 Paneg. 76.3f.: At quis antea loqui, quis hiscere audebat, praeter miseros illos qui primi interrogabantur? Ceteri quidem defixi et attoniti ipsam illam mutam ac sedentariam adsentiendi necessitatem quo cum dolore animi, quo cum totius corporis horrore perpetiebantur! Unus solusque censebat, quod sequerentur omnes et omnes improbarent, in primis ipse qui censuerat. Adeo nulla magis omnibus displicent, quam quae sic fiunt tamquam omnibus placeant. 50 Paneg. 11.4f.: (...) quam imperator cuius pulsi fugatique non aliud maius habebatur indicium, quam si triumpharet. Ergo sustulerant animos et iugum excusserant, nec iam nobiscum de sua <?page no="200"?> Thorsten Fögen 188 daher diesen Titel zu Recht verdiene, hat es laut Plinius mit dem fehlenden Respekt anderer Völker gegenüber den Römern ein Ende; das rechte Kräfteverhältnis ist demnach dank der überragenden militärischen Begabung des Kaisers wiederhergestellt, mit der er zugleich eine Vorbildfunktion für die Soldaten einnahm und diese zu Höchstleistungen anspornte. 51 Nicht zu unterschätzen sei auch der Umstand, daß man nun für ein sicheres Leben nicht mehr hohe persönliche Opfer wie Selbstverleugnung und Bereitschaft zur Kollaboration mit einer verachteten Macht bringen müsse, sondern ehrenvolle Leistungen wieder öffentliche Anerkennung fänden, und zwar auch in Form von Ämtern. 52 Mit dieser Bemerkung wird ein Diskurs angeschnitten, wie er beispielsweise auch im taciteischen Agricola dominiert: virtus in einer unfreien Zeit zu bewahren, in der die Obrigkeit selbst der sittlichen Entartung anheimgefallen ist und keinen positiven Maßstab bietet, gelingt nur den wenigsten. Die Mehrzahl hängt in solchen Situationen aus Opportunismus ihre Fahne in den Wind und läßt sich zu schlechtem Handeln hinreißen, wie auch Plinius feststellt (Paneg. 44.8). Diejenigen aber, die ihren Prinzipien treu bleiben wollen, müssen unter einer Gewaltherrschaft (dominatio) zumeist im Verborgenen bleiben oder werden gar durch Delation in ernste Gefahr gebracht. 53 libertate sed de nostra servitute certabant, ac ne indutias quidem nisi aequis condicionibus inibant legesque ut acciperent dabant. Trajan habe allerdings in seiner Unerschütterlichkeit eine Ausnahme dargestellt und sei dem Unwillen des Tyrannen durch göttlichen Beistand entgangen (Paneg. 94.3). 51 Paneg. 12.1-13.4 (und ff.), bes. 12.1f.: At nunc rediit omnibus terror, et metus et votum imperata faciendi. Vident enim Romanum ducem unum ex illis veteribus et priscis, quibus imperatorium nomen addebant contecti caedibus campi et infecta victoriis maria. Accipimus obsides ergo non emimus, nec ingentibus damnis immensisque muneribus paciscimur ut vicerimus. Rogant supplicant, largimur negamus, utrumque ex imperii maiestate. Agunt gratias qui impetraverunt, non audent queri quibus negatum est. 52 Paneg. 44.5-7: An parva pronaque sunt ad aemulandum quod nemo incolumitatem turpitudine rependit, salva est omnibus vita et dignitas vitae, nec iam consideratus et sapiens, qui aetatem in tenebris agit? Eadem quippe sub principe virtutibus praemia quae in libertate, nec bene factis tantum ex conscientia merces. Amas constantiam civium, rectosque ac vividos animos non ut alii contundis ac deprimis, sed foves et attollis. Prodest bonos esse, cum sit satis abundeque, si non nocet; his honores his sacerdotia, his provincias offers, hi amicitia tua hi iudicio florent. Acuuntur isto integritatis et industriae pretio similes, dissimiles adliciuntur; nam praemia bonorum malorumque bonos ac malos faciunt. Siehe auch Paneg. 45 und 46.8 zur Fortsetzung dieser Gedanken. 53 Interessant ist, was Plinius ganz am Rande über sein eigenes Wirken unter Domitian vermerkt (Paneg. 95.3f.): si cursu quodam provectus ab illo insidiosissimo principe, ante quam profiteretur odium bonorum, postquam professus est substiti, cum viderem quae ad honores compendia paterent longius iter malui; si malis temporibus inter maestos et paventes, bonis inter securos gaudentesque numeror; si denique in tantum diligo optimum principem, in quantum invisus pessimo fui. Siehe ferner z.B. Epist. 8.14 und dazu Gérard (wie Anm. 6) 302. <?page no="201"?> Juvenals Auseinandersetzung mit der Zeit Domitians 189 Eine wichtige Funktion des plinianischen Panegyricus ist, wie sein Verfasser auch selbst betont, das Lob des gegenwärtigen Herrschers Trajan und, untrennbar damit verbunden, die scharfe Kritik an dessen Vorgängern, die ihre Funktion mißbraucht haben. Die Verurteilung schlechter Kaiser, die einen guten Princeps in umso strahlenderem Licht erscheinen lasse, erfüllt jedoch keinen reinen Selbstzweck, sondern soll anderen Regenten als Mahnung dienen, die Plinius geradezu als seine staatsbürgerliche Pflicht empfindet. 54 4 Zusammenfassung Kommen wir zurück zur politischen Funktion der vierten Satire Juvenals. Aus dem Vergleich mit zwei weiteren Texten, einem satirischen und einem oratorisch-panegyrischen, haben sich auffällige Parallelen zu Juvenals Gedicht ergeben. Bei allen Ähnlichkeiten muß man freilich noch einmal konzedieren, daß Juvenal, anders als beispielsweise Plinius der Jüngere, kein positives Gegenbild zu Domitian aufbaut. 55 Man darf jedoch mit einigem Recht vermuten, daß der Leser Juvenals dessen Gedicht auf dem Hintergrund einer mehr oder weniger ausgeprägten Kenntnis von Paralleltexten wie z.B. des Panegyricus rezipierte. Allerdings bleibt die Frage, ob und inwieweit sich Juvenal mit seiner vernichtenden Kritik an Domitian auf die Seite nachfolgender Herrscher, also Trajans oder Hadrians, stellen und seine Satire als eine explizite Unterstützung ihres Programms verstanden wissen wollte. Daß sich der Dichter in diesem Sinne positioniert hat, wurde in der Forschung tatsächlich bisweilen behauptet; man ging dabei zum Teil sogar so weit, Juvenals Text als eine positiv-affirmative Stellungnahme, ja letztlich als Zeugnis einer adulatorischen Technik zu deuten. 56 54 Paneg. 53.2-6: Praeterea hoc primum erga optimum imperatorem piorum civium officium est, insequi dissimiles; neque enim satis amarit bonos principes, qui malos satis non oderit. (...) Quare erga te, Caesar, muneribus [omnibus] tuis omnibus comparo, multis antepono, quod licet nobis et in praeteritum de malis imperatoribus cotidie vindicari et futuros sub exemplo praemonere, nullum locum nullum esse tempus, quo funestorum principum manes a posterorum exsecrationibus conquiescant. (...) Quo constantius, patres conscripti, et dolores nostros et gaudia proferamus; laetemur his quibus fruimur, ingemiscamus illis quae patiebamur; simul utrumque faciendum est sub bono principe. (...) meminerintque sic maxime laudari incolumem imperatorem, si priores secus meriti reprehendantur. 55 Hardie (wie Anm. 35), der sich für einen Bezug von Sat. 4 auf Hadrians Zeit ausspricht, hat allerdings argumentiert, daß Juvenal in seinem Text diesen Kaiser indirekt - „through hints, allusions and implicit contrasts“ (138) - gelobt habe. Sofern man Hardies These akzeptiert, wird man gleichwohl einräumen müssen, daß sich deren Basis recht schmal ausnimmt. 56 So z.B. Ramage (wie Anm. 45) bes. 706: „Trajan must have been very happy with Satire 4, for it contributed in an important way to his anti-Domitianic propaganda and so ul- <?page no="202"?> Thorsten Fögen 190 Gegen diese Sichtweise hat sich Wilson ausgesprochen und führt für seine Position folgende Argumente an: Eine Satire auf einen panegyrischen Text zu reduzieren, der propagandistische Wirkung zu entfalten vermag, verkenne gattungsspezifische Eigenarten, denn die Hauptfunktion der Satire sei es, Fehler und Mißstände in unterhaltsamer Weise anzuprangern. Im konkreten Fall Juvenals biete sich eine „Propaganda-Theorie“ auch deshalb nicht an, weil mit Ausnahme der vierten Satire seine sonstigen Texte unpolitisch seien und sich auch an anderen Stellen keinerlei lobende Bemerkungen über Domitians Nachfolger fänden. Hinzu komme, daß gerade Juvenals Beschreibung der Gegenwart im ganzen eher negativ sei, wie sich das dichterische Ich überhaupt durch ein Höchstmaß an Empörung auszeichne, die sich für eine Werbung für Trajans Herrschertugenden in keiner Weise eigne. 57 So berechtigt manche dieser Einwände Wilsons im einzelnen auch sein mögen, so scheint seine Position gleichwohl von einer zu starren Sichtweise der möglichen Variationsbreite und Fluidität antiker literarischer Gattungen auszugehen. Das Beispiel der Apocolocyntosis Senecas beweist, daß sich antike Satire durchaus mit einer klaren politischen Positionierung verbinden läßt. Der Preis von Neros Herrschaft ist allerdings auf einen knappen Paragraphen (Apoc. 4.1f.) beschränkt; sein Name tritt nur zweimal in dem gesamten Text auf (Apoc. 4.1 v. 30, 4.2). Ein ausführlicher Vergleich zwischen gutem und schlechtem Herrscher, wie er sich in Plinius’ Panegyricus findet, bleibt hier aus, läßt sich aber ohne Schwierigkeiten aus den negativen Bemerkungen über Claudius erschließen. Daß Juvenal im ganzen eine eher pessimistische Weltsicht vertritt, wird man ihm als Satiriker kaum verübeln wollen - es sei denn, man erwartet in dieser Gattung einen zahnlosen Tiger als Autor. Auch wenn sich aus seinen übrigen Satiren keine direkte Unterstützung der Herrschaft Trajans oder Hadrians herauslesen läßt, belegt dies noch timately, though indirectly, to the enhancement of his own position and activities by the contrast that was implied“. Ferner Braund (wie Anm. 35) 67f.: „Contrary to first appearances, Roman satire on political subjects affirms rather than challenges the status quo and buttresses the present regime, which is often if not usually defined by reference to previous regimes. (...) The texts of Roman satire examined here present paradigms of the Bad Emperor which may be inverted to produce paradigms of the (or a) Good Emperor. In this way, satire is an indirect manifestation of the political programme of its day. It reflects the current ideology and in turn helps to shape it (...). So, in conclusion, the satire which at first sight may appear to be so revolutionary and anarchic and which likes to lay claim to a certain freedom of speech can itself, in its denigration of earlier emperors, be viewed as a disguised form of flattery and affirmation of the present regime.“ Siehe jedoch bereits Gérard (wie Anm. 6) 316-352, bes. 316. 57 Marcus Wilson, After the silence. Tacitus, Suetonius, Juvenal. In: Anthony J. Boyle & William J. Dominik (eds.), Flavian Rome. Culture, Image, Text, Leiden & Boston 2003, 523-542, hier 530f. <?page no="203"?> Juvenals Auseinandersetzung mit der Zeit Domitians 191 nicht, daß die vierte Satire gänzlich davon entfernt ist, einen Bezug auf die Zeit eines dieser beiden Kaiser zu implizieren. Man muß dabei gar nicht von einer „Propaganda“ für deren Herrschaftsprogramm ausgehen. Es reicht völlig aus, sich auf die Feststellung zu beschränken, daß in der vierten Satire Diskurse verhandelt werden, die für die Form des Prinzipats als solche eine ganz zentrale Relevanz aufweisen. Das negative Gesellschaftsbild, das für die Zeit Domitians entworfen wird, kann als Mahnbild für spätere Generationen aufgefaßt werden, wie eine etablierte Staatsform pervertiert werden kann. Dazu gehört auch, daß eine solche Entartung nicht an eine einzige Person, den Princeps als das Staatsoberhaupt, gebunden sein muß, sondern in der Regel durch eine Vielzahl williger Jasager und Profiteure bedingt ist. Daß sich Juvenals Satire angesichts ihrer thematischen Anlage in einem weiteren Schritt zugleich als ein Text lesen ließe, der insbesondere dem späteren Regenten und anderen politisch Verantwortlichen (vor allem dem Senat) als Mahnung und Verpflichtung dienen mag, ist eine Möglichkeit, die zwar nicht explizit bei Juvenal ausformuliert ist, aber aufgrund der vielfach wörtlichen Anklänge an die negativen Herrscherbilder bei Seneca und Plinius dem Jüngeren nicht ohne eine gewisse Plausibilität ist. Daß sich Plinius in seinem Panegyricus mit Domitian auseinandersetzt und dessen Negativbild eine rundum positive Zeichnung Trajans gegenüberstellt, ist keineswegs primär durch seinen historisch-dokumentarischen Eifer oder sein Bestreben um einen wirkungsvollen Beitrag zur Konstruktion eines vorbildhaften Nachfolger-Portraits im Sinne pro-trajanischer Propaganda bedingt, sondern ganz besonders als eine öffentliche Einschwörung Trajans auf die hier formulierten Ideale. Ein derartiges Anliegen mag auch Juvenals vierter Satire innewohnen. Diese bleibt freilich ein Text, der sich weit weniger festlegen läßt - und dies nicht zuletzt deshalb, weil ein positives Gegenbild zu Domitian und seiner Epoche des Schreckens fehlt. Gleichwohl kann nicht in Abrede gestellt werden, daß es sich um eine Satire handelt, die im Hinblick auf die Ernsthaftigkeit und Drastik ihres politischen Gehalts ihresgleichen sucht. Dadurch gewinnt sie vielleicht nicht unbedingt eine überzeitliche Bedeutung; jedoch ist sie durch ihre Behandlung von Herrschaftsdiskursen, die auch nach Domitian nicht an Aktualität eingebüßt hatten, keineswegs rein rückwärtsgewandt. <?page no="204"?> Christine Schmitz Satire / Invektive und Panegyrik in Claudians politischen Epen Dem spätantiken Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus verdanken wir gegen Ende des vierten nachchristlichen Jahrhunderts einen Blick auf die von einigen Vertretern der römischen Nobilität favorisierten Autoren (28, 4, 14): Quidam detestantes ut venena doctrinas Iuvenalem et Marium Maximum curatiore studio legunt, nulla volumina praeter haec in profundo otio contrectantes, quam ob causam non iudicioli est nostri. Einige, die wie Gift wissenschaftliche Bildung verabscheuen, lesen Juvenal und Marius Maximus mit hingebungsvollem Eifer, während sie sonst keine Buchrollen in ihrer ganzen ausgedehnten Freizeit anrühren; aus welchem Grund unterliegt nicht meinem bescheidenen Urteil. Ammianus äußert also sein Befremden über den eingeschränkten Lektürekanon dieser von ihm überhaupt als dekadent charakterisierten Zeitgenossen. Es ist wohl kein Zufall, daß gerade die beiden genannten Autoren eine attraktive, unterhaltsame Lektüre garantierten, Juvenal 1 mit seinem düsteren Sittengemälde des stadtrömischen Lebens, insbesondere der Oberschicht, und der Kaiserbiograph Marius Maximus 2 1 Die im Ammian-Zitat aufscheinende Beliebtheit Juvenals in Kreisen der stadtrömischen Nobilität wird durch den Zustand der handschriftlichen Überlieferung des Juvenaltextes bestätigt. Nach einer Phase der Vernachlässigung setzt eine Renaissance Juvenals in der Tat erst in der 2. Hälfte des 4. nachchristlichen Jahrhunderts ein. Die Wiederentdeckung der Satiren Juvenals im Kreis des Servius verdankt sich einer für die Überlieferung entscheidenden kritischen Edition mit Kommentierung. Zum spätantiken Überlieferungsverlauf vgl. Ulrich Knoche, Handschriftliche Grundlagen des Juvenaltextes, Leipzig 1940 (Philologus Supplementband 33,1), 38f.; Gilbert Highet, Juvenal the Satirist, Oxford 1954, 186; zur spätantiken Rezeption Juvenals insgesamt ist Peter L. Schmidt, Juvenal, RAC 19, 2001, 874-881 zu vergleichen; zur Adaptation Juvenals in Claudians Invektive gegen Eutrop s. Jacqueline Long, Juvenal Renewed in Claudian’s In Eutropium, IJCT 2, 1996, 321-335, hier 322, Anm. 2 ausführliche Literaturhinweise. Zu den wenig signifikanten Spuren des Satirikers bei Ammianus und in der Historia Augusta vgl. R. Syme, Ammianus and the Historia Augusta, Oxford 1968, 84-88. mit seinen skandalträchtigen 2 Zu L. Marius Maximus, der zu Beginn des 3. Jahrhunderts n. Chr. in der Tradition Suetons Viten römischer Kaiser (von Nerva bis Elagabal) verfaßte und häufig in der Historia Augusta benutzt wurde, s. K. Sallmann, HLL 4, 1997, § 405.1, S. 53-56; Holger Sonnabend, Geschichte der antiken Biographie. Von Isokrates bis zur Historia Augu- <?page no="205"?> Satire / Invektive und Panegyrik 193 Darstellungen. Als potentielle Rezipienten für Claudians anspruchsvolle, mit intertextuellen Bezügen durchsetzte Dichtung dürfen wir uns freilich hochgebildete Hörer und Leser vorstellen, die nicht nur mit dem in einigen Kreisen zum Modeautor avancierten Juvenal, sondern mit den klassischen Autoren überhaupt vertraut waren. I. Claudian und die Satire. Zur Gattungsfrage der epischinvektivischen Gedichte gegen Rufin und Eutrop Die zeitgeschichtlichen Dichtungen Claudians eignen sich in besonderer Weise für die Frage nach der politischen Dimension der Satire. Mit Juvenal, der seine Satirendichtung mit programmatischem Anschluß an seine Vorgänger in der Gattung Satire, Lucilius und Horaz, präsentiert hatte, war der Endpunkt der römischen Verssatire als Gattung zwar erreicht, die satirische Schreibart aber lebt in der Literatur der lateinischen Spätantike fort 3 Wie verhalten sich nun in Claudians zeitgeschichtlichen Gedichten das Satirische oder auch Invektivische, insofern herausragende, namentlich genannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens attackiert werden, und die politische Botschaft zueinander? Kann man von politischer Dichtung mit satirischem Einschlag bzw. von politischer Dichtung in invektivischer Schreibart oder gar von politischer Satire reden? Es war Theodor Birt, der am Ende des 19. Jahrhunderts die These aufstellte, daß mit Claudians Invektive In Eutropium eine politische Satire vorliege und mithin auch die satirischen Themen und vor allem Darstellungsmittel. Claudian, der in seinen politischen Gedichten, mit Ausnahme der metrisch abgesetzten elegischen Praefationes, ohnehin im Versmaß der Satire schreibt, macht sich die in der Tradition entwickelten satirischen Strategien zu eigen, um sie zur schonungslosen Kritik, Schmähung und Destruktion der Gegner seines Helden Stilicho einzusetzen. Die politische Instrumentalisierung satirischer Verfahren wie vor allem Verzerrung und Übertreibung ist in den Invektiven besonders ausgeprägt, aber ebenso in den panegyrischen Dichtungen, erstrahlt doch der Glanz des gefeierten und idealisierten Stilicho um so heller vor der düsteren Folie der satirisch ent- und bloßgestellten Widersacher. 4 sta, Stuttgart/ Weimar 2002, 185-190; ausführlich Anthony R. Birley, Marius Maximus: the Consular Biographer, ANRW II 34.3, 1997, 2678-2757, hier 2680f. zu möglichen Gründen für die Attraktivität der beiden von Ammianus in einem Atemzug genannten Autoren. - eine These, die in der Fol- 3 Einen guten Überblick über die spätantike Entwicklung, das heißt Transformation der Satire gibt Jürgen Blänsdorf, Apollinaris Sidonius und die Verwandlung der römischen Satire in der Spätantike, Philologus 137, 1993, 122-131. 4 Theodor Birt, Zwei politische Satiren des alten Rom. Ein Beitrag zur Geschichte der Satire, Marburg 1888, 4: „Für diese politische Satire hat uns die römische Poesie ein <?page no="206"?> Christine Schmitz 194 gezeit freilich erheblich differenziert wurde. Etwa 100 Jahre nach Birt schloß Sullivan 5 seinen handbuchartigen Überblick über die antike Satire mit der Feststellung ab, daß „der einzige, der dem Anspruch, der letzte Satirendichter Roms zu sein, gerecht werden“ könne, Claudian sei. Seine beiden Invektiven In Rufinum und In Eutropium zeigten „doch einiges von der verallgemeinernden Kraft und literarischen Bildung eines Lucilius und Iuvenal“. Mit Claudian - so weiter Sullivan - begegne uns am Ende der lateinischen Satire wieder ein Vertreter, der wie der erste Satiriker, Lucilius, die Dinge und vor allem die Personen beim Namen nenne und „offensichtlich durch persönlichen Ärger oder durch freundschaftliche Beziehungen zu einer mächtigen Persönlichkeit angeregt“ sei. Ganz so abgerundet, daß nämlich Claudian durch namentliche Nennung der Gegner als letzter römischer Satiriker gleichsam wieder direkt an den ersten anschließe, verläuft die Entwicklung der Satire dann doch nicht. Wie Lucilius, der inventor der Gattung Satire (Hor. sat. 1, 10, 48), dessen Unabhängigkeit und freimütige Anprangerung prominenter Persönlichkeiten die nachfolgenden Satiriker immer wieder hervorheben, 6 nennt zwar auch Claudian die Angegriffenen beim Namen, seine soziale Position als Dichter aber ist zutiefst verschieden von der des Archegeten der Satire. Am westlichen Hof in Mailand wurde von einem Dichter nichts anderes erwartet, als daß er die oströmischen Rivalen Stilichos, des mächtigen Heerführers und eigentlichen Machthabers im Westen, mit allen Mitteln schmähte. Claudian propagierte Stilichos politische Ziele und sang genau die Lieder, die man von ihm erwartete. Als Dichter aber schreibt er sich in die epische Gattung ein; entsprechend sind seine programmatischen Vorbilder ganz andere als die der satirischen Dichter. 7 classisches Muster großen Stiles erhalten. Dies ist des Claudianus Gedicht ‚In Eutropium’.“ Be- 5 J. P. Sullivan, Die antike Satire, in: Propyläen Geschichte der Literatur. Erster Band. Die Welt der Antike, Berlin 1981, 389-408, vgl. insbes. 408 „Spätere Satirendichter“. 6 Zur libertas des Lucilius, die in der Horaz-Satire 1, 4 thematisiert wird, s. Kirk Freudenburg, Satires of Rome. Threatening Poses from Lucilius to Juvenal, Cambridge 2001, 49-51. 7 Seinen Anspruch, als epischer Dichter in einer Traditionslinie mit Homer, Ennius, Vergil und Silius Italicus wahrgenommen zu werden, artikuliert der Dichter vor allem in seinen Praefationes. Hierzu ist die einschlägige Monographie von Fritz Felgentreu, Claudians praefationes. Bedingungen, Beschreibungen und Wirkungen einer poetischen Kleinform, Stuttgart/ Leipzig 1999 (Beiträge zur Altertumskunde 130) zu vergleichen, insbes. zur poetologischen Seefahrtsmetapher 162-165; zur Praefatio zum 3. Buch von De consulatu Stilichonis (carm. 23) vgl. 119-129, ferner Felgentreu, Wie ein Klassiker gemacht wird. Literarischer Anspruch und historische Wirklichkeit bei Claudian, in: Gabriele Thome/ Jens Holzhausen (Hgg.), Es hat sich viel ereignet, Gutes wie Böses. Lateinische Geschichtsschreibung der Spät- und Nachantike, München/ Leipzig 2001, 80-104, hier 95-97. Catherine Ware, Claudian: The Epic Poet in the Prefaces, in: Monica Gale (Hg.), Latin Epic and Didactic Poetry. Genre, Tradition and Individuality, Swansea 2004, 181-201, arbeitet heraus, daß Claudian sich als epischer Dichter in der Nach- <?page no="207"?> Satire / Invektive und Panegyrik 195 reits Severin Koster 8 hatte sich gegen Birts Verwendung des Begriffs „Satire“ etwa für die Dichtung gegen Eutrop gewandt und die Satire von der Invektive abgegrenzt. Aber auch bei einer anderen Bezeichnung - eben als Invektive - bleibt die Frage, ob Claudians Gedichte mit dieser Etikettierung adäquat beschrieben sind. Entsprechend äußerte Ulrich Schindel in seiner grundlegenden Besprechung 9 Kritik an Kosters gattungstheoretischer Zuordnung der betreffenden Gedichte Claudians, insofern „die Invektiven Claudians gegen Rufin und Eutrop, weil in epische H a n d l u n g verflochten, eigentlich nicht als geschlossene Invektiven deklarierbar“ seien. 10 folge vor allem des Ennius inszeniert hat, wobei sie zeigt, wie die Inanspruchnahme des Ennius als poetische Identifikationsfigur keine ungebrochene Traditionslinie darstellt, sondern durch Anspielungen auf Ennius in Silius Italicus’ Epos überblendet ist (vgl. S. 199). Bereits Felgentreu hatte darauf hingewiesen, daß Claudian sein Enniusbild vermutlich nicht eigener Lektüre (Praefationes, S. 121, Anm. 190), sondern der Vermittlung über Cicero, Horaz, Ovid und Silius Italicus verdankt (S. 121-123, zu Silius Italicus bes. 123). Zur Ennius-Gestalt in den Punica des Silius vgl. jetzt Lukas J. Dorfbauer, Hannibal, Ennius und Silius Italicus. Beobachtungen zum 12. Buch der Punica, RhM 151, 2008, 83-108. 8 Die Invektive in der griechischen und römischen Literatur, Meisenheim am Glan 1980 (Beiträge zur Klassischen Philologie 99); zu In Rufinum 298-314; zu In Eutropium 314- 351, hier S. 315, Anm. 1144 gegen Birts Zuordnung zur Satire. 9 GGA 236, 1984, 21-31, hier insbes. 30. Zur gattungsmäßigen Einordnung von Claudians panegyrisch-invektivischer Dichtung vgl. auch den knappen Überblick von Helge Schweckendiek, Claudians Invektive gegen Eutrop (In Eutropium). Ein Kommentar, Hildesheim/ Zürich/ New York 1992 (Beiträge zur Altertumswissenschaft 10), 9 (letzter Abschnitt)-13. 10 Den epischen Charakter betonte schon Harry L. Levy, Claudian’s In Rufinum and the Rhetorical “h9 , TAPhA 77, 1946, 57-65, vgl. insbes.: „The In Rufinum as a whole is not to be regarded as a rhetorically patterned $h9 , but rather as a brief historic epic containing a preponderance of vituperative material“ (64); ebenso William Barr, Claudian’s In Rufinum: An Invective? , Papers of the Liverpool Latin Seminar 2, 1979, 179- 190, 188: „Looked at as an entity, the whole work is a short historical epic like the Bellum Gildonicum and the Bellum Gothicum, in which certain of the rhetorically prescribed topics have been skillfully adapted to promote the narrative development in a manner wholly consonant with Claudian’s epic purpose.“ Jacqueline Long greift in ihrer Monographie „Claudian’s In Eutropium. Or, How, When, and Why to Slander a Eunuch“, Chapel Hill/ London 1996, im Kapitel „Structure and Genre“ die Gattungsfrage systematisch auf (17-50); nachdem sie die Funktion nur illustrierender gegenüber dynamisch fortschreitender Erzählung als entscheidendes Gattungsmerkmal bestimmt hat („In both In Rufinum and In Eutropium, the function of narration is the most decisive generic criterion. In panegyric or invective it illustrates a point, whereas in epic it carries the tale“, 48), grenzt sie das zweite Buch von In Eutropium aufgrund des epischen Charakters als grundverschieden vom ersten Buch ab („only book 2 lives up to epic standards in scope and treatment“, 50). Ausführlich setzt sie sich mit Birt S. 19-20 und 51-55 auseinander; zu Koster vgl. S. 19, 66. <?page no="208"?> Christine Schmitz 196 Unabhängig von der verschiedene Gattungselemente aufweisenden Struktur der beiden sogenannten Invektiven 11 läßt sich die Tendenz dieser Gedichte aber eindeutig bestimmen. Mit Recht hat Cameron 12 die Schwarzweißmalerei in Claudians Darstellung der Protagonisten hervorgehoben, 13 11 Florence Garambois-Vasquez, Les invectives de Claudien. Une poétique de la violence, Bruxelles 2007 (Collection Latomus 304) behandelt im 3. Kapitel die Mischung der Gattungen; die Bereicherung durch epische Elemente zeigt sie anhand der Imitation der Aeneis auf (127-149), das Verhältnis von Invektive und Satire untersucht sie vor allem am Beispiel Juvenals (149-185); vgl. insbes. 151-164 zur Imitation von Juvenals zweiter Satire und 168-185 überwiegend zur Adaptation von Juvenals vierter Satire. vgl. S. 83: „Rufinus is portrayed as the power of darkness, Stilico of light. Claudian is not depicting Stilico’s opposition to Rufinus at any particular time: his mo- 12 Alan Cameron, Claudian. Poetry and Propaganda at the Court of Honorius, Oxford 1970. 13 Auch Paula James, Taceat superata vetustas: Living Legends in Claudian’s In Rufinum 1, in: The Propaganda of Power. The Role of Panegyric in Late Antiquity, edited by Mary Whitby, Leiden/ Boston/ Köln 1998 (Mnemosyne Suppl. 183), 151-175 betont mit Recht, daß Claudian seinen Patron Stilicho und den im Osten legitim herrschenden Rufinus im ersten Buch der Invektive In Rufinum zu epischen Antagonisten stilisiert hat (vgl. S. 153). Ihre weitere Vermutung allerdings, daß der spätantike Dichter damit christliche Assoziationen evoziert habe, mag auf einige Rezipienten zutreffen, eine verbindliche Aussage über alle zeitgenössischen Leser bzw. Hörer wird man aber kaum treffen können. Als christliches Bild assoziiert sie den mit Python verglichenen schlangengleichen Rufinus mit der alten Schlange christlicher Provenienz (S. 164): „Claudian’s audiences could also receive this image with its Christian connotations. Megaera and Rufinus can be seen as the twofold serpent sent to destroy Theodosius’ Eden.“ Die gegensätzlichen Interessen zwischen Stilicho und Rufin erhebe Claudian zu einem kosmischen Konflikt zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis (vgl. S. 153). Die Verteilung von Gut und Böse steht in der Tat von vornherein fest: Rufin ist die Ausgeburt der (allerdings heidnischen) Höllenmächte, während Stilicho alle Tugenden in sich vereinigt. Claudian selbst stilisiert den Gegensatz jedoch, ganz vergleichbar mit Prudentius’ Psychomachie, zu einem Kampf zwischen Tugenden und Laster, vgl. In Ruf. 1[3], 297f.: certamen sublime diu, sed moribus inpar, / virtutum scelerumque fuit. Auch die Apostrophe an Rufin quo, vaesane, ruis (1, 196) gibt James Anlaß zu christlichen Spekulationen, vgl. S. 167, Anm. 28: „Even here, we might speculate upon Christian associations, for the phrase quo ruis / quo ruitis becomes the rallying call to the faithful when they wander from the paths of righteousness.“ Sie vergleicht die paränetische Ansprache der Sobrietas in Prudentius, Psychomachia 351f. quis furor insanas agitat caligine mentes? / quo ruitis? mit Verweis auf S. Georgia Nugent, Allegory and Poetics. The Structure and Imagery of Prudentius’ „Psychomachia“, Frankfurt a. M./ Bern/ New York/ Nancy 1985 (Studien zur klassischen Philologie 14), 44f. Für die Frage quo ruitis (psych. 352) hat Johannes Schwind, Sobrietas und König Pentheus. Kreative Ovid- Rezeption in Prudentius’ Psychomachia, in: S. Harwardt/ J. Schwind (Hgg.), Corona coronaria. Festschrift für H.-O. Kröner zum 75. Geburtstag, Hildesheim/ Zürich/ New York 2005, 321-331, hier 330/ 331 allerdings einen gezielten Verweis auf einen anderen Praetext, nämlich Aen. 5, 670, wahrscheinlich gemacht. Zu diesem Auftakt einer allgemeingültigen Reflexion nach Art der Diatribe vgl. auch unten S. 203. <?page no="209"?> Satire / Invektive und Panegyrik 197 tive is solely to contrast their characters.“ 14 Peter L. Schmidt 15 betont in seinem Anhang zur Struktur von In Rufinum den häufigen Perspektivenwechsel zwischen Invektive und Panegyrik, den er treffend als das „ständige polemisch-panegyrische Hin- und Herpendeln“ (59) charakterisiert. Diese knappe Formel wird der auch in den Invektiven letztlich durchgehend panegyrischen Tendenz des Hofdichters, der seinen Helden Stilicho jeweils als panegyrische Kontrastfolie den negativ verzeichneten Rivalen entgegenhält, noch am ehesten gerecht. Auch Potz 16 beantwortet die Frage nach der Tendenz des Werkes In Rufinum damit, daß der Hofpoet sein Gedicht nicht so sehr als Schmähschrift gegen den bereits ermordeten Rufin verfaßt habe als vielmehr zur propagandistischen Unterstützung der machtpolitischen Interessen Stilichos. Eine Etikettierung Claudians als ‚Panegyriker oder Propagandist’ führt, sofern „oder“ im Sinne einer strengen Disjunktion gemeint ist, notwendig zu einer Verengung der komplexen Entstehungsbedingungen von Claudians politischer Dichtung. Die unmittelbar panegyrisch geprägten Partien dienen - ebenso wie die invektivisch gefärbten Angriffe auf die Gegner des weströmischen Hofs - zugleich auch dem Zweck, Stilichos Politik zu propagieren. 17 14 In unserem Zusammenhang muß nicht auf Camerons weitreichende These zur Genese und zum Unterschied zwischen den beiden Büchern der Invektive gegen Rufin eingegangen werden. Zu dieser Frage vgl. Heinz-Günther Nesselrath, Zu Datierung und Aufbau des 1. Buches von Claudians Invektive ‚In Rufinum’, Hermes 119, 1991, 217- 231; zur zwar unterschiedlichen Darstellungsweise, aber einheitlichen Konzeption beider Bücher vgl. Siegmar Döpp, Der Sturz des Mächtigen in Claudians Invektive gegen Rufin, in: Theodor Wolpers (Hg.), Der Sturz des Mächtigen. Zu Struktur, Funktion und Geschichte eines literarischen Motivs, Göttingen 2000, 73-94, hier 75, 77-79 und 86. Eher dürfte die Doppelfunktion, die Felgentreu für den Dichter wahrscheinlich macht, das Richtige treffen: Claudian agiert in seinen zeitgeschichtlichen Dichtungen zwar als Stilichos Propagandist, über den unmittelbar propagandistischen Zweck hinaus erhebt er aber zugleich den 15 Politik und Dichtung in der Panegyrik Claudians, Konstanz 1976 (Konstanzer Universitätsreden 55). 16 Erich Potz, Claudians In Rufinum. Invektive und Laudatio, Philologus 134, 1990, 66- 81. 17 Daß der historische Claudian ebenso wie seine Dichter-persona auch von sich aus ein großer Bewunderer von Roms freilich idealisierter Vergangenheit gewesen sein mag, ist zunächst unabhängig von der Frage der literarischen Parteinahme des Dichters für die westlichen Herrscher zu beurteilen. Den Aspekt des Lobpreises der ewigen Stadt in Claudians Dichtung hebt H. L. Levy, Themes of Encomium and Invective in Claudian, TAPhA 89, 1958, 336-347 einfühlsam hervor. Zur Debatte über eine angemessene Bewertung von Claudians Rolle, insbesondere zum vieldiskutierten Begriff der politischen Propaganda ist die konzise Doxographie von Schweckendiek (wie Anm. 9), 7-9 zu vergleichen. Christian Gnilka hat seine ausführliche kritische Besprechung von Camerons einflußreichem Buch jetzt unter dem Titel „Claudian: Panegyriker oder Propagandist? “ wieder abgedruckt und mit Zusätzen sowie einem Nachtrag versehen, in: Chr. Gnilka, Philologische Streifzüge durch die römische Dichtung, Basel 2007, 197-233 (zuerst: Gnomon 49, 1977, 26-51). <?page no="210"?> Christine Schmitz 198 Anspruch „als historischer Epiker gelesen zu werden“. 18 Die Invektiven sind also keine politischen Satiren, wie Birt gemeint hatte, vielmehr politische Gedichte, die durch ihren panegyrischen ‚Sitz im Leben’ propagandistischen Zielen dienen, stehen doch auch die rein invektivischen Partien im Dienste der Legitimierung und Verherrlichung Stilichos. Anliegen der folgenden Ausführungen ist es, zu zeigen, daß Claudian auch in seinen Invektiven der Tendenz nach ein episch-panegyrischer Dichter bleibt. Ein Dichter, der es virtuos versteht, satirische Elemente zu adaptieren, zu transformieren und für seine panegyrischen Zwecke einzusetzen, ohne aber eine politische Satire zu schreiben. Erst vor der Folie der in den Invektiven satirisch verzeichneten Gegner ist letztlich das ideale Herrscherbild, das Claudian in seinem panegyrischen Epos 19 von Stilicho entwirft, zu verstehen. Wenn etwa Stilichos leutseliger Umgang mit seinen Mitbürgern gepriesen und er in diesem Kontext als verus patriae consul (cons. Stil. 3, 220) gerühmt wird, erhält diese ehrende Bezeichnung erst vor der negativen Folie des Eunuchenkonsuls Eutropius (vgl. vor allem eunuchus consul, In Eutr. 1, 8 und spado consul, In Eutr. 1, 296) ihr volles Relief. 20 Ausgehend von diesen Überlegungen werden in der folgenden Untersuchung ausgewählte Stellen aus den Invektiven In Rufinum [2-5] Stilicho wird überwiegend durch die Abwesenheit derjenigen Laster, mit denen Claudian die oströmischen Gegner Rufinus und Eutropius ausgestattet hatte, charakterisiert. Insofern ist der Panegyricus auf Stilichos Konsulat in gewisser Weise als umgekehrte Invektive zu betrachten. 21 und In Eutropium [18-20] sowie aus dem Panegyricus auf das Konsulat Stilichos [21-24] herangezogen. 18 Felgentreu, Wie ein Klassiker gemacht wird (wie Anm. 7), 93. 19 Mit Recht hat Heinz Hofmann in seinen „Überlegungen zu einer Theorie der nichtchristlichen Epik der lateinischen Spätantike“ (Philologus 132, 1988, 101-159) den Blick auf die gattungskonstituierende „Ausrichtung auf Adressaten und das Publikum in der panegyrischen Situation“ (134) gelenkt und als adäquateren Terminus für diese historisch-panegyrischen Texte der Spätantike die Bezeichnung „Panegyrisches Epos“ vorgeschlagen. 20 Ganz analog preist Lucan seinen Musterhelden Cato als parens verus patriae (Lucan. 9, 601), als wahren Retter seiner Mitbürger, in impliziter Abgrenzung von einem falschen parens patriae, vgl. auch Emanuele Narducci, Lucano. Un’epica contro l’impero. Interpretazione della „Pharsalia“, Roma; Bari 2002, 414; zum Ehrentitel parens oder pater patriae s. Claudia Wick, M. Annaeus Lucanus, Bellum civile, Liber IX, Kommentar, München/ Leipzig 2004 (Beiträge zur Altertumskunde 202), 236. 21 Die in Klammern beigegebene Zählung wurde von J. M. Gesner in seiner Ausgabe (Leipzig 1759, XXXVII) eingeführt; Claudian wird nach J. B. Hall, Leipzig 1985 zitiert, Juvenal nach W. V. Clausen, Oxford 1992 und Horaz nach D. R. Shackleton Bailey, Stuttgart 1985. <?page no="211"?> Satire / Invektive und Panegyrik 199 II. Das satiretypische Thema der avaritia - das Midas-Motiv in Claudians Dichtung Mit bemerkenswerter Konsequenz verwendet Claudian in seiner Dichtung das Motiv der goldführenden Flüsse als Sinnbild für unermeßlichen Reichtum, 22 Wenn die Furie Megaera ihren Zögling Rufinus vorstellt, illustriert sie seine unersättliche Gier nach Reichtümern mit der Überlegung, daß selbst die berühmten goldführenden Ströme (Tagus, Pactolus, Hermus) seinen Durst nicht stillen könnten (In Ruf. 1 [ 3 ] , 100-105): ein Bild, das mythische Gestalt im phrygischen König Midas annimmt, dessen Schicksal in der Form, in der Ovid es in seinen Metamorphosen (11, 85-145) erzählt hat, im Hintergrund aufscheint und an herausgehobenen Stellen vergegenwärtigt wird. So wird der Midas-Mythos im Zusammenhang mit Rufins Charakterisierung einerseits als Inbegriff des verhängnisvollen Wunsches nach Gold präsentiert, andererseits kann er aber auch als positives Paradigma evoziert werden, wenn es darum geht, Stilichos Freigebigkeit zu veranschaulichen (vgl. unten S. 223f.). plenus saevitiae lucrique cupidine fervens. 100 non Tartesiacis illum satiarit harenis tempestas pretiosa Tagi, non stagna rubentis aurea Pactoli; totumque exhauserit Hermum, 23 ardebit maiore siti. quam fallere mentes doctus et unanimos odiis turbare sodales! 105 In der Vorstellung, daß er nur um so mehr dürste (ardebit maiore siti, V. 104), je mehr er bekommen habe, klingt der topische Gedanke an, daß der Hunger 22 Zur sprichwörtlichen Bedeutung der Flüsse vgl. die Stellensammlung in August Otto, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, Leipzig 1890 (Nachdruck Hildesheim/ Zürich/ New York 1988), s. v. Pactolus Nr. 1320 (S. 261), Tagus Nr. 1737 (S. 340), ferner Nachträge zu A. Otto, eingeleitet und mit einem Register hrsg. von Reinhard Häußler, Darmstadt 1968, Pactolus S. 114. 196, Tagus S. 118. 216, Hermus S. 171. 23 Ebenso werden in der Invektive gegen Eutropius der Pactolus und der Hermus, die Ströme Lydiens, als Synonym für Goldreichtum herangezogen (In Eutr. 1[18], 213f.): pollentem solio Croesum victoria Cyri / fregit ut eunucho flueret Pactolus et Hermus? Innerhalb seines Exkurses über Phrygien als dem künftigen Kriegsschauplatz teilt der Dichter auch das Aition mit, wie es dazu kam, daß die Flüsse Gold mit sich führten. Dies rührt daher, daß sie den mit Gold überzogenen Midas abgewaschen haben (In Eutr. 2[20], 259-261): quattuor hic magnis procedunt fontibus amnes / auriferi; nec miror aquas radiare metallo, / quae totiens lavere Midan. Vgl. auch Ov. met. 11, 142f. rex iussae succedit aquae: vis aurea tinxit / flumen et humano de corpore cessit in amnem: An der Stelle, an der König Midas in den Fluß tauchte, um sich vom Fluch zu reinigen, übertrug sich die Kraft des Goldes vom Körper auf den Strom. Zur Figur des mythischen Phrygierkönigs Midas vgl. die komparatistisch angelegte Studie von Anneke Thiel, Midas. Mythos und Verwandlung, Heidelberg 2000 (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 8). <?page no="212"?> Christine Schmitz 200 nach Geld mit dem Besitz wächst. Auch in Juvenals 14. Satire, die vom Laster der avaritia in allen möglichen Formen handelt, 24 wird die Gier nach immer mehr Geld als allgemeine Erkenntnis formuliert (14, 139): crescit amor nummi quantum ipsa pecunia crevit - eine Sentenz, die im Mittelalter in moralsatirischen Angriffen gegen die Habgier gern zitiert wurde. 25 ac primam scelerum matrem, quae semper habendo In eben dieser Weise charakterisiert Claudian das personifizierte Laster der avaritia als Wurzel aller Übel, ein Laster, das Stilicho jedoch weit von sich stoße (cons. Stil. 2[22], 111-113a): plus sitiens patulis rimatur faucibus aurum, trudis Avaritiam. Eine Vorausdeutung auf Rufins kommendes Midas-Schicksal begegnet in der Szene, in der die als Greis verkleidete Furie Megaera ihren Zögling an den östlichen Kaiserhof beruft. Durch die wunderbare Verwandlung der Säulen und Balken seines Hauses verführt sie Rufinus (In Ruf. 1[3], 162f.): dixerat, et niveae (mirum! ) coepere columnae ditari subitoque trabes lucere metallo. Rufins Reaktion wird ausführlich geschildert (In Ruf. 1[3], 164-170a). Gleich zu Beginn hält der Erzähler als Ergebnis fest, wie sich Rufin durch dieses Kunststück verlocken läßt und sich - allzu sehr in Hochstimmung versetzt - mit gierigem Blick daran weidet (164f.): inlecebris capitur, nimiumque elatus avaro pascitur intuitu. Hieran schließt er einen direkten Vergleich mit Midas an (165b-169): sic rex ad prima tumebat Maeonius, pulchro cum verteret omnia tactu; sed postquam riguisse dapes fulvamque revinctos in glaciem vidit latices, tum munus acerbum sensit et inviso votum damnavit in auro. Dieser Passus ist mit ovidischem Vokabular durchsetzt; zu vergleichen ist besonders Claudians riguisse dapes (V. 167) mit Ov. met. 11, 121-123: 24 In dieser 14. Satire Juvenals wird der unersättliche Wunsch nach Gold ebenfalls mit dem Bild der goldführenden Ströme (Tagus, Pactolus) veranschaulicht (Iuv. 14, 298- 302): sed cuius votis modo non suffecerat aurum quod Tagus et rutila volvit Pactolus harena, frigida sufficient velantes inguina panni exiguusque cibus, mersa rate naufragus assem dum rogat et picta se tempestate tuetur. 25 Vgl. Chr. Schmitz, Tantalus - Tantulus. Der Einfluß der Satirendichtung des Horaz auf Rahewins allegorisch-moralisches Lehrgedicht, MLatJb 42, 2007, 347-372, hier 369f. mit Anm. 61. <?page no="213"?> Satire / Invektive und Panegyrik 201 tum vero, sive ille sua Cerealia dextra munera contigerat, Cerealia dona rigebant; sive dapes avido convellere dente parabat, ... Mit der an gleicher Position stehenden Junktur invisum aurum (V. 169) wird Ovids Version sogar wörtlich zitiert (met. 11, 129f.): copia nulla famem relevat, sitis arida guttur urit, et inviso meritus torquetur ab auro. Im abschließenden Kommentar, daß Midas seinen Wunsch am Ende verfluchte (et inviso votum damnavit in auro, V. 169), wird bereits am Anfang des Gedichts angedeutet, daß die verhängnisvolle Gier nach Gold auch Rufin schließlich zu Fall bringen wird. Indem Claudian seinen Protagonisten zur Gestalt des Midas verdichtet, ist zum einen bereits an diesem frühen Punkt der Erzählung das Charakterbild festgelegt, zum anderen aber auch schon der weitere Verlauf der Handlung mit dem unausweichlichen Sturz präfiguriert. Am Ende der ‚Berufungsszene’ konstatiert der Erzähler nochmals, daß Rufin angesichts des verlockenden Goldes ganz willenlos den Befehlen Megaeras folgt (170): ergo animi victus. 26 Auch nach der Parallelisierung des habgierigen Protagonisten mit der mythischen Gestalt ist das Midas-Motiv noch nicht erschöpft. Geradezu leitmotivisch nimmt Claudian es am Schluß des zweiten Buches wieder auf, wenn es um das Ende Rufins geht. Wie die Speisen, die im Mythos durch die Berührung des Midas erstarren, ist es nun Rufin selbst, der erstarrt. Wenn der Erzähler Rufins Reaktion auf Stilichos Nahen schildert, läßt er Rufin vor Angst blutlos mit gefrorenem Mund verharren (In Ruf. 2[5], 130-132): at procul exanguis Rufinum perculit horror; infectae pallore genae; stetit ore gelato incertus peteretne fugam, ... Schließlich läßt er ihn ganz erstarren (In Ruf. 2[5], 391): deriguit. spes nulla fugae. Die Metamorphose vollzieht sich also bei Claudian geradezu am ganzen Rufin und ist nicht, wie in Ovids Midas-Erzählung, nur auf die Gaben der Ceres, die bei jeder Berührung, in Gold verwandelt, starr waren (vgl. met. 11, 122 Cerealia dona rigebant), beschränkt. Auffallend war die Verwendung des Verbs revincire beim direkten Vergleich mit dem Schicksal des Midas im ersten Buch (In Ruf. 1[3], 167f.) fulvam ... revinctos / in glaciem ... latices: nicht nur die Speisen, sondern auch die Getränke erstarren zu Eis - ganz im Gegensatz zu Ovids Gestaltung, in der lediglich die Verwandlung in - nach wie vor flüssiges - Gold hervorgehoben 26 Zu dieser Szene, in der Rufinus als Geschöpf und Instrument der Furie eingeführt wird, vgl. auch Chr. Schmitz, Asia und Europa. Die symbolische Bedeutung des Bosporos in Claudians panegyrischer Dichtung, in: Vom Euphrat bis zum Bosporus. Kleinasien in der Antike. Festschrift für Elmar Schwertheim zum 65. Geburtstag, hrsg. von Engelbert Winter, Bonn 2008 (Asia Minor Studien 65), 611-626, hier 613-615. <?page no="214"?> Christine Schmitz 202 wird (Ov. met. 11, 126): fusile per rictus aurum fluitare videres. Genau dieses Verb revincire verwendet der Dichter nun (in gleicher Versposition), um zu beschreiben, wie der zu beiden Seiten von Soldaten umzingelte Rufin gleichsam festgebannt stehenblieb (In Ruf. 2[5], 392f.): dextra laevaque revinctus / haesit. Durch die Wiederholung von deriguit (391) und revinctus (392) in dieser für Rufin tödlichen Situation (beide Verben, riguisse und revinctos, begegneten im Midas-Vergleich im ersten Buch, V. 167) verweist er nochmals auf das Schicksal des Midas, in dem bereits zu Beginn des Gedichts Rufins Ende angekündigt wurde. Am Ende der Invektive apostrophiert der mythische Unterweltsrichter Rhadamanthus 27 Rufin nur noch als Inbegriff unersättlicher Gier (In Ruf. 2[5], 498f.): insatiabilis 28 III. Allgemeingültige Reflexionen nach Art der Diatribe auri / proluvies. Durch die leitmotivische Präsenz der Midas-Figur wird die Habgier des Protagonisten Rufinus zum Ausdruck gebracht. Als weitere mythische Gestalt, nach der Rufinus modelliert ist, klingt bereits in der Praefatio zum ersten Buch von In Rufinum die Pythonschlange (alius Python, „ein zweiter Python“, V. 15) in durchsichtiger Allegorie an. Diese Gestalt versinnbildlicht das tierische, destruktive Wesen des Tyrannen, der sich schlangengleich an den Hof in Konstantinopel begibt (subrepsit in aulam, In Ruf. 1, 177), 29 27 Die phantastische Szene in der Unterwelt steht in der Tradition der menippeischen Satire und ist deutlich vom Ende in Senecas Apocolocyntosis beeinflußt, wo ebenfalls in der Unterwelt nach einer für Claudius passenden Strafe gesucht wird; vgl. Heinz- Günther Nesselrath, Menippeisches in der Spätantike: Von Lukian zu Julians Caesares und zu Claudians In Rufinum, MH 51, 1994, 30-44. Beim Durchmustern möglicher Unterweltsstrafen gelangt Rhadamanthus zur Erkenntnis, daß Rufinus alle Arten von grausamen Strafen, die je verhängt wurden, zusammen erleiden müsse (In Ruf. 2[5],506b-519). Bei der Beschreibung der bekannten Unterweltsbüßer Tantalus, Ixion und Tityos ist die Darstellung der Qualen des Tantalus auffallend (In Ruf. 2[5], 509f.): te refugi fallant latices atque ore natanti / arescat decepta sitis. Der Ausdruck arescat sitis klingt an eine Junktur aus Ovids Metamorphosen an, womit der Durst des Midas beschrieben wird (met. 11, 129): sitis arida; hierdurch wird die Strafe des Tantalus (vgl. Anthologia Latina 475 [Shackleton Bailey], 7 inter aquas urit sitis arida fauces) an die des Midas angeglichen. schließlich aber vom Gott Apollo, das heißt von Stilicho, besiegt wird. Während diese Parallelisierung auf Rufin gemünzt ist und vom Dichter auch 28 Als festes Charaktermerkmal Rufins begegnet die Unersättlichkeit auch in einem exkursartigen Passus in einer Aufzählung des besonders grausamen Endes großer, mächtiger Persönlichkeiten innerhalb des Trostbriefes des Hieronymus an Heliodor, vgl. Hier. epist. 60, 16, 1 Rufini caput pilo Constantinopolin gestatum est et abscissa manus dextera ad dedecus insatiabilis avaritiae ostiatim stipes mendicavit; vgl. hierzu J. H. D. Scourfield, Consoling Heliodorus. A Commentary on Jerome, Letter 60, Oxford 1993, 207. 29 Auch Koster (wie Anm. 8), 304, Anm. 1107 stellt den Bezug zur Pythonschlange her. <?page no="215"?> Satire / Invektive und Panegyrik 203 eindeutig herausgestellt wird, beansprucht die Gestalt des Midas, die den Charakterzug seiner Habgier verdichtet zum Ausdruck bringt, eine über die bloße Gleichsetzung hinausgehende Bedeutung. Dies geht aus den allgemeingültigen Betrachtungen hervor, die nach Art der Diatribe 30 eingeschoben sind. Nach der emphatischen Apostrophierung des habgierigen Rufinus (quo, vaesane, ruis? , V. 196) 31 quo, vaesane, ruis? teneas utrumque licebit im unmittelbaren Anschluß an den mythologischen Vergleich mit Midas wird die Perspektive auf jedermann (quicumque, V. 200) erweitert. Ausgehend von der direkten Anrede an Rufinus bewegt sich der Gedankengang schließlich zu Betrachtungen ganz allgemeiner Natur (In Ruf. 1[3], 196-219): Oceanum, laxet rutilos tibi Lydia fontes, iungantur solium Croesi Cyrique tiaras, numquam dives eris, numquam satiabere quaestu. semper inops quicumque cupit. contentus honesto 200 Fabricius parvo spernebat munera regum sudabatque gravi consul Serranus aratro et casa pugnaces Curios angusta tegebat. haec mihi paupertas opulentior, haec mihi tecta culminibus maiora tuis. ibi quaerit inanes 205 luxuries nocitura cibos; hic donat inemptas terra dapes. rapiunt Tyrios ibi vellera fucos et picturatae saturantur murice vestes; hic radiant flores et prati viva voluptas ingenio variata suo. fulgentibus illic 210 surgunt strata toris; hic mollis panditur herba sollicitum curis non abruptura soporem. turba salutantum latas ibi perstrepit aedes; hic avium cantus, labentis murmura rivi. vivitur exiguo melius; natura beatis 215 omnibus esse dedit, si quis cognoverit uti. haec si nota forent, frueremur simplice cultu, classica non gemerent, non stridula fraxinus iret, non ventus quateret puppes, non machina muros. Nach der einleitenden Frage (quo, vaesane, ruis? , V. 196) begegnet wiederum das Motiv der goldführenden Ströme (V. 197), die aber nicht genügen, das unersättliche Verlangen nach immer mehr zu stillen. Anschließend geht der 30 Als typische Merkmale der Diatribe in diesem Abschnitt hebt Koster (wie Anm. 8), 305 mit Recht hervor: „die scheltende Anrede, die Sentenzen, die Exempla, die Antithesen, die Selbsteinbeziehung des ‚Predigers’“. Zur Diatribe vgl. allgemein W. Capelle; H. I. Marrou, s. v. Diatribe, RAC 3, 1957, 990-1009. Koster deklariert diatribenartige Einlagen als Darstellungsmittel der Invektive, vgl. 305, Anm. 1109. In jedem Fall begegnen aber diatribische Elemente in der Satire; zu verweisen ist vor allem auf die erste Horazsatire, vgl. Hans Herter, Zur ersten Satire des Horaz, RhM 94, 1951, 1-42. 31 Zu dieser Apostrophe s. auch oben, Anm. 13. <?page no="216"?> Christine Schmitz 204 Sprecher durch anaphorisches numquam (V. 199), dem in polarer Ausdrucksweise ein semper (V. 200) folgt, von der direkten Anrede des habgierigen Rufin zur unbestimmten dritten Person über (200): semper inops quicumque cupit. Damit formuliert er eine allgemeingültige Sentenz, die sich vom konkreten Kontext entfernt. Insbesondere läßt sich die von Horaz geprägte Gnome (Hor. epist. 1, 2, 56) semper avarus eget dieser verallgemeinernden Aussage an die Seite stellen. Schließlich meldet sich der Sprecher in eigener Person zu Wort (anaphorisches mihi, V. 204), um seine Bevorzugung der bescheidenen Armut gegenüber dem gefährlichen Reichtum zum Ausdruck zu bringen. Jeweils eingeleitet durch die Antithese ibi - hic folgt eine katalogartige Gegenüberstellung des friedvollen, behaglichen und einfachen Landlebens mit dem unruhigen, mit Gefahren verbundenen Leben in reichen Palästen (205-214). Durchsetzt mit Motiven des Goldenen Zeitalters 32 vivitur exiguo melius; natura beatis und des locus amoenus wird gegenüber dem gefährlichen Luxus jeweils das Natürliche empfohlen. Diese Kontrastierung mündet wiederum in eine allgemeine Sentenz (215-216): omnibus esse dedit, si quis cognoverit uti. 33 32 Typisches Kennzeichen des Themas eines Goldenen Zeitalters ist die Häufung von Verneinungen in V. 218f. (viermaliges non). Darüber hinaus tragen die zahlreichen Reminiszenzen an literarische Vorbilder, insbesondere Vergil (hierzu s. den Similienapparat in Birts Ausgabe [Berlin 1892]), zum allgemeingültigen Gepräge dieser Partie bei, die aus dem unmittelbaren Kontext der erzählten Handlung herausragt. 33 Ganz analog wird mit dem Bild der goldführenden Ströme die unersättliche Gier nach immer mehr Reichtum in einem Chorlied in dem im Corpus der Seneca-Tragödien überlieferten Hercules Oetaeus illustriert. Auch hier wird der mächtige Herrscher allgemein angesprochen (V. 604): Tu quicumque es qui sceptra tenes. Auch hier mündet die Reihe der aufgezählten natürlichen Güter (621-630) in die allgemeine Sentenz (V. 631), daß der Hunger und Durst der Habgierigen nach Reichtümern durch keine Schätze der Welt befriedigt werden könnten; vgl. 621-631: cupit hic gazis implere famem, nec tamen omnis plaga gemmiferi sufficit Histri nec tota sitim Lydia vincit 625 nec quae Zephyro subdita tellus stupet aurato flumine clarum radiare Tagum, nec si totus serviat Hebrus ruraque dives iungat Hydaspes intraque suos currere fines 630 spectet toto flumine Gangen: avidis, avidis natura parum est. Durch die personifiziert auftretende, unermeßlichen Reichtum symbolisierende Landschaft Lydia (In Ruf. 1, 197 - Sen. Herc. O. 624) sowie durch das Motiv der von Gold glänzenden Flüsse (In Ruf. 1, 197 - Sen. Herc. O. 626), schließlich durch die gnomische Betrachtung, in der natura jeweils das Subjekt bildet (In Ruf. 1, 215bf. - Sen. Herc. O. <?page no="217"?> Satire / Invektive und Panegyrik 205 Durch die 1. Person Plural bezieht der Sprecher am Ende seiner Betrachtungen sein Publikum stellvertretend für alle Menschen unmittelbar in seine Aufforderung zum einfachen Leben mit ein (V. 217): haec si nota forent, frueremur simplice cultu. Ebenso verallgemeinernd wendet er sich direkt mit rhetorischen Fragen, die auf die Vergeblichkeit und Nutzlosigkeit der angehäuften Reichtümer zielen, an seinen Protagonisten, in dem Augenblick, in dem dieser zu Fall zu kommen droht, (In Ruf. 2[5], 134-136): quid nunc divitiae, quid fulvi vasta metalli congeries, quid purpureis effulta columnis atria prolataeve iuvant ad sidera moles? Die Form der Diatribe nimmt Claudian nach Rufins Ermordung abschließend nochmals auf. In Ruf. 2[5], 440-453 meldet sich der Erzähler wiederum mit allgemeinen Reflexionen, die von Rufins Fall ihren Ausgang nehmen, zu Wort. 34 desinat elatis Der allgemeine Charakter dieser Betrachtungen der Gefahren einer erhöhten Stellung wird gleich eingangs durch das unbestimmte Pronomen quisquam markiert, das vom Ausdruck elatis rebus umgeben ist, wodurch die herausgehobene Position betont wird. Der Mahnung desinat confidere, die am Versanfang den Auftakt bildet, antwortet die komplementäre Aufforderung discat am Versende. 35 instabilesque deos ac lubrica numina discat. quisquam confidere rebus 440 illa manus, quae sceptra sibi gestanda parabat, cuius se totiens summisit ad oscula supplex nobilitas, inhumata diu miseroque revulsa corpore, feralem quaestum post fata poposcit. 445 aspiciat quisquis nimium sublata secundis colla gerit: triviis calcandus spargitur ecce, qui sibi pyramidas, qui non cedentia templis ornatura suos extruxit culmina manes; et qui Sidonio velari credidit ostro, 450 nudus pascit aves. iacet en, qui possidet orbem, 631), ist diese Passage eng mit Claudians Gestaltung verbunden und könnte als Vorbild eingewirkt haben. Zum Einfluß von Seneca tragicus auf Claudian vgl. ausführlich Otto Zwierlein, Senecas Hercules im Lichte kaiserzeitlicher und spätantiker Deutung. Mit einem Anhang über ‚tragische Schuld‘ sowie Seneca-Imitationen bei Claudian und Boethius, Wiesbaden 1984 (AAWM 1984, 6), insbes. 7-12 und 46-57. 34 Zu dieser diatribenartigen Einlage vgl. auch Döpp, Der Sturz des Mächtigen (wie Anm. 14), 73-94, der die Passage folgendermaßen verortet (S. 94): „Mit diesem Abschnitt gewinnt Claudians scharfzüngig formulierte Invektive Anteil an jener Humanität, wie sie für das griechische Epos und die griechische Tragödie kennzeichnend ist.“ 35 Die Wahl des Wortes elatus kann als direkter Rückverweis auf Rufins Charakterisierung als nimium ... elatus (In Ruf. 1[3], 164) gesehen werden. Wenige Verse später begegnet der Gedanke in variierter Form (446f.): nimium sublata secundis / colla gerit. Eng verwandt in Formulierung und Gedanke ist die allgemeine Reflexion innerhalb eines Chorliedes in Sen. Thy. 615 Nemo confidat nimium secundis. <?page no="218"?> Christine Schmitz 206 exiguae telluris inops et pulvere raro per partes tegitur nusquam totiensque sepultus. Der Sturz des einflußreichen Beraters, der die Ambition hatte, den Platz seines Herrn einzunehmen und endlich der erste Mann im Staat zu sein, dürfte die Rezipienten an Juvenals beeindruckende Darstellung des Falls Sejans, des mächtigen Praetorianerpraefekten unter Tiberius, erinnert haben (vgl. Iuv. 10, 56-107). 36 nam qui nimios optabat honores Claudians Darstellung verweist durch zahlreiche Parallelen in Ton und Darstellung auf dieses Modell. Vor allem aber die Schilderung des unausweichlichen Sturzes aus höchster Höhe verbindet die beiden Passagen, vgl. Iuv. 10, 104-107: et nimias poscebat opes, numerosa parabat excelsae turris tabulata, unde altior esset casus et inpulsae praeceps inmane ruinae. Durch die nachdrücklich wiederholte Bezeichnung nimius (V. 104 und 105) in ganz parallel aufgebauten Aussagen wird das Überhebliche zum Ausdruck gebracht. Folge dieses ständigen Strebens (optabat, poscebat) ist die imaginäre Errichtung eines hohen Turms und damit der höchsten Würdenstellung, die aber - so die sarkastische Bewertung des Satirikers - nur dazu dient, den notwendig eintretenden Sturz aus dieser hohen Position um so gewaltiger ausfallen zu lassen. 37 iam non ad culmina rerum Genau diesen Gedanken bringt der spätantike Dichter in eigener Person im Prooemium zum 1. Buch der Invektive In Rufinum zum Ausdruck (1[3], 21b-23a): iniustos crevisse queror; tolluntur in altum ut lapsu graviore ruant. Das Ende Rufins, sein unausweichlicher Fall auf dem Gipfel seiner Macht wird also bereits im Prooemium als alleiniger Zweck der Erhöhung angekündigt. In der allgemeinen Betrachtung nach Rufins Fall (In Ruf. 2, 440- 453) wird ebenfalls der Gedanke betont, daß der Gestürzte sich seinen Turm, gewissermaßen die Fallhöhe, von der er stürzen wird, vorher selbst errichtet habe: qui sibi pyramidas, qui non cedentia templis / ornatura suos extruxit culmina manes (In Ruf. 2, 448f. ist mit Iuv. 10, 105f. zu vergleichen). Claudian prägt 36 Bereits Birt (wie Anm. 4), 60f. hat auf die Parallele hingewiesen. 37 Zum Motiv des Sturzes eines allein zu diesem Zweck in die Höhe Erhobenen vgl. z. B. Senecas Consolatio ad Polybium 15, 1 quem (gemeint ist Gnaeus Pompeius, ein Sohn des Pompeius Magnus) Fortuna in hoc evexerat, ne minus alte eum deiceret quam patrem deiecerat, ferner Sen. Ag. 101 quidquid in altum Fortuna tulit, ruitura levat. Vgl. auch das unter Senecas Namen überlieferte Epigramm der Anthologia Latina (403 Shackleton Bailey) V. 10: ex alto magna ruina venit mit den von Joachim Dingel (Senecas Epigramme und andere Gedichte aus der Anthologia Latina. Ausgabe mit Übersetzung und Kommentar, Heidelberg 2007), S. 150 zu 16, 10 angeführten Parallelstellen. <?page no="219"?> Satire / Invektive und Panegyrik 207 durch Hervorhebung von Details ebenso anschauliche Bilder wie Juvenal. Um den starken Kontrast zwischen der früheren Machtfülle und der Ohnmacht nach dem Sturz hervorzuheben, rückt Claudian Rufins Hand in den Mittelpunkt (442-445). Die Hand, 38 die das Kaiserszepter tragen wollte und die von den nobiles demütig geküßt wurde, diese Hand ist nun vom Körper abgerissen und auch noch nach ihrem Tod auf Gewinn aus. 39 Durch die Aufforderung aspiciat quisquis (V. 446), ferner durch die deiktischen Partikel ecce (V. 447) und en (451) werden die Leser zum einen in die Rolle des Zuschauers versetzt, zum anderen eindringlich davor gewarnt, auf die Beständigkeit einer herausgehobenen Position zu vertrauen. Diesem Zeigegestus entspricht in Juvenals Darstellung der Hinweis des satirischen Sprechers, der den am Haken geschleiften Sejan als großes Spektakel (spectandus) 40 Der ethisch-paränetische Ton, mit dem zur Bescheidenheit gemahnt wird, verleiht der Passage, die Rufins Sturz reflektiert, einen lehrhaften, allgemeinen Charakter, der an alle Leser in vergleichbar gehobener Position appelliert, ankündigt. 41 Tantalus a labris sitiens fugientia captat aus diesem negativen Beispiel die Lehre für das eigene Leben zu ziehen. Unter diesem Aspekt läßt sich die Tantalus-Passage aus der ersten Horazsatire vergleichen, insbesondere die überraschende Wendung von der Schilderung der Tantalusqual zur direkten Ansprache an alle Leser (Hor. sat. 1, 68-72): flumina - quid rides? mutato nomine de te fabula narratur: congestis undique saccis 70 indormis inhians, et tamquam parcere sacris cogeris aut pictis tamquam gaudere tabellis. nescis quo valeat nummus, quem praebeat usum? Der Midas-Figur Claudians, die Rufins unersättlichen Wunsch nach immer mehr Reichtümern versinnbildlicht, kann also die Tantalus-Gestalt der ersten Horazsatire als Exemplum eines habgierigen Geizhalses, der seinen 38 In Vers 442 leitet illa manus die Beschreibung der Aktivitäten des gleichsam selbständig handelnden Körperteils Rufins betont ein. Vgl. auch Hier. epist. 60, 16, 1 (oben in Anm. 28 ausgeschrieben). 39 Diesen Kontrast von einst und jetzt bringt der Satiriker ebenso anschaulich zum Ausdruck, indem er die spätere Verwendung der von ihrem Sockel gestürzten Statue des zweitmächtigsten Mannes vor Augen führt: aus dem eingeschmolzenen Metall werden banale Gebrauchsgegenstände des Alltags (Iuv. 10, 63f.): deinde ex facie toto orbe secunda/ fiunt urceoli, pelves, sartago, matellae; vgl. auch Chr. Schmitz, Das Satirische in Juvenals Satiren, Berlin/ New York 2000 (UaLG 58), 84 und 280. 40 Der Satiriker hat Sejans Ende als freudiges Schauspiel für die ehemals von ihm Unterdrückten dargestellt, vgl. Iuv. 10, 66b-67a: Seianus ducitur unco / spectandus, gaudent omnes. 41 Hierauf verweisen die verallgemeinernden Pronomina quisquam (V. 440) und quisquis (V. 446). <?page no="220"?> Christine Schmitz 208 angehäuften Reichtum nicht zu genießen vermag, 42 an die Seite gestellt werden. Die diatribenartigen Einlagen in Claudians Invektive erfüllen mithin andere Funktionen als die bloß propagandistische Herabsetzung des politischen Gegners, ist Rufinus doch nunmehr endgültig erledigt. Auch hier gilt, was Felgentreu 43 IV. Satirische Strategien in Claudians invektivischer und panegyrischer Dichtung prinzipiell für Claudians Produktion propagandistischer Dichtung herausgearbeitet hat: die allgemeinen Reflexionen erheben die Gedichte über die tagespolitischen Geschehnisse und über den unmittelbaren propagandistischen Zweck hinaus in den Rang gültiger Dichtung. Die diatribischen Einlagen bilden Ruhepunkte innerhalb der polemischen Passagen, wäre der ständige Angriff auf die Widersacher auf Dauer doch zu eintönig und ermüdend. Durch die allgemeingültigen Betrachtungen weisen sie über die Tagespolitik hinaus und eröffnen eine neue Perspektive auf eine andere, ideale Welt, zu deren Verwirklichung in Claudians Darstellung Stilicho maßgeblich beitragen wird. Zahlreiche satiretypische Verfahren, die in der Tradition der Satire ausgebildet wurden, adaptiert Claudian für seine Darstellungsziele. Als besonders wirkungsvoll erweisen sich die Metaphern des Schwellens zum Ausdruck eitler Überheblichkeit. Hiermit eng verbunden ist die Methode, das Objekt satirischer Kritik über alle Maßen mit dem alleinigen Ziel zu erheben, es anschließend um so erbarmungsloser zu destruieren. 44 42 Zur allegorischen Deutung des Tantalus vgl. Chr. Schmitz, Tantalus (wie Anm. 25), 355. 360-364. In einem Detail der Gestaltung der Strafe des Tantalus und des Midas überlagern sich auch beide Mythen, s. oben Anm. 27. Auf die diatribischen Elemente in der ersten Satire des Horaz wurde oben (Anm. 30) verwiesen. Neben den genuin satirischen Strategien wendet Claudian natürlich auch allgemein literarische Verfahren an. So versteht er es, seine Aussage durch gezielte intertextuelle Verweise um weitere Dimensionen zu erweitern. Die Präsenz satirischer Praetexte soll an je einem Beispiel aus Juvenal und Horaz gezeigt werden. 43 Wie ein Klassiker gemacht wird (wie Anm. 7), vor allem S. 93. 44 Auf dieses Verfahren wurde bereits oben (S. 205-207) im Zusammenhang mit den diatribischen Passagen in der Invektive gegen Rufin verwiesen: die allgemeinen Reflexionen nach Rufins Sturz (In Ruf. 2[5], 440-453) erinnern an die satirische Kommentierung von Sejans Fall in Juvenals 10. Satire (Iuv. 10, 104-107). <?page no="221"?> Satire / Invektive und Panegyrik 209 Aufgeblasensein und Schwellung als Metaphern für eitle Scheinhaftigkeit 45 Claudian beschreibt seinen Helden Stilicho bevorzugt durch die Negation. Ein Paradebeispiel ist die Hervorhebung seiner Leutseligkeit, die durch Abwesenheit von Hochmut und Arroganz gegenüber seiner Umgebung zum Ausdruck gebracht wird. Im zweiten Buch von De consulatu Stilichonis gipfelt der Lobpreis dieser Herrschertugend im gänzlichen Verschwinden der personifizierten Superbia selbst, vgl. cons. Stil. 2[22], 157-162a: nec, si quid tribuas, iactatum saepius idem exprobrare soles nec, quos promoveris, alto turgidus adloqueris fastu nec prospera flatus attollunt nimios. quin ipsa Superbia longe 160 discessit, vitium rebus sollemne secundis virtutumque ingrata comes. Der Erzähler rühmt die positiven Eigenschaften Stilichos, indem er ihm in direkter Anrede bescheinigt, wodurch er sich vom Hochmütigen unterscheidet. Vers 159 wird von Ausdrücken, die einen sich stolz blähenden Gönner charakterisieren, gerahmt: turgidus und flatus. Wie es Claudians Schwarzweißmalerei entspricht, beziehen sich umgekehrt die Bilder des Aufgeblähtseins einzig auf Stilichos Gegner. Zur vernichtenden Charakteristik Rufins wird die Vorstellung des Schwellens öfter verwendet. Im Katalog, der durch crescebat scelerata sitis (V. 220) eingeleitet wird und der Rufins schamloses Vorgehen bei der eigenen Bereicherung schildert, wird imaginiert, wie Rufin bei gelegentlich auftretendem Widerstand gegen seine unersättliche Gier nach Reichtümern reagieren würde (In Ruf. 1[3], 224-225): si semel e tantis poscenti quisque negasset, effera praetumido quatiebat corda furore. In einem ausgewogenen goldenen Vers (225) werden die negativen Charaktereigenschaften in betonter Juxtaposition hervorgehoben: effera praetumido. Wie auf Rufin wendet Claudian die Schwellmetapher auch auf den nachfolgenden Bösewicht, Eutropius, den mächtigen praepositus sacri cubiculi des Kaisers Arcadius, an. In vernichtender Kritik beschreibt er Eutrops Karriere, 45 Zur satirischen Bildersprache des Schwellens vgl. Werner von Koppenfels, Bild und Metamorphose. Paradigmen einer europäischen Komparatistik, Darmstadt 1991, 194- 198. Mit der Metapher des Anschwellens und Sich-Aufblähens wird in den Satiren des Persius leerer Dünkel und übersteigerter Hochmut ausgedrückt; vgl. Walter Kißels Kommentar (Heidelberg 1990) zu Pers. 3, 27 (S. 401, eitler Ahnenstolz) und zu 4, 20 (v. a. S. 524/ 525 zu sufflare); ferner Maria Plaza, The Function of Humour in Roman Verse Satire. Laughing and Lying, Oxford 2006, 90-103 zu Persius: Swollen objects. In Juvenals 8. Satire dient das Aufgeblähtsein als Metapher für unbegründeten Adelsstolz, vgl. insbes. V. 40 tumes alto Drusorum stemmate und 72 inflatum plenumque Nerone propinquo. Zu vergleichen ist auch Hor. sat. 2, 5, 98 crescentem tumidis infla sermonibus utrem. <?page no="222"?> Christine Schmitz 210 indem er der früheren niedrigen Stellung sein jetziges stolzes Sich-Erheben antithetisch entgegenstellt. Eutropius, der vormals nichts Größeres als die Freiheit erhofft hatte, erhebt sich nunmehr über seine ehemaligen Herren (In Eutr. 1[18], 176f.): iam iam dissimulat dominos alteque tumescunt serviles animi. Eutrops militärische Erfolge auf dem Hunnenfeldzug von 398 werden vom Dichter in verzerrender Tendenz der Lächerlichkeit preisgegeben, 46 indem er den zuvor als „Amazonenvettel“ (anus ... Amazon, 1, 240) diskreditierten Eunuchen bei seiner Rückkehr in der Pose eines siegreichen Heerführers (pro victore redit, 1, 254) vorstellt, der sich selbstgefällig mit seinen Taten brüste, dazu angestrengt seine eingefallenen Backen aufblase und den Anschein erwecken wolle, zu keuchen, als ob er geradewegs vom Schlachtfeld komme (In Eutr. 1[18], 258f.): placet ipse sibi laxasque laborat / distendisse genas fictumque inflatus anhelat. 47 Die Vergnügungs- und Verschwendungssucht Eutrops bringt der Dichter auf die Formel des tumidus leno, des „aufgeblasenen Kupplers“, der in seiner gehobenen Position von den Mächtigen umworben wird, dem sein früheres schändliches Verhalten aber nach wie vor anhaftet (In Eutr. 2[20], 84-87): inter quae tumidus leno producere cenas in lucem, fetere mero, dispergere plausum 85 empturas in vulgus opes, totosque theatris indulgere dies alieni prodigus auri. Im 2. Buch der Invektive gegen Eutrop wird geschildert, wie der inkompetente General Eutrops, Leo, dessen Gefräßigkeit bei seiner Einführung ausführlich beschrieben wurde (In Eutr. 2[20], 377-379), versuchte, den Aufstand des Goten Tribigild niederzuschlagen. 48 46 Zu Vorbehalten der maßgeblichen Führungsschichten des weströmischen Reiches, insbesondere der militärischen Eliten, gegenüber Eunuchen, vgl. allgemein Timo Stickler, Der Vorwurf der Effemination als politisches Kampfinstrument in der Spätantike, in: E. Hartmann/ U. Hartmann/ K. Pietzner (Hgg.), Geschlechterdefinitionen und Geschlechtergrenzen in der Antike, Stuttgart 2007, 277-294. In Anm. 68 (S. 288) hebt Stickler den eher ungewöhnlichen Umstand hervor, daß Eutropius „sogar einen regelrechten Feldzug gegen die Hunnen geführt (Claud. carm. in Eutrop. 1, 234-286)“ hatte. Daß der Kriegszug gegen 47 Treffend bemerkt Schweckendiek (wie Anm. 9), 172 zu inflatus: „(‚aufgeblasen‘) wird durch seine semantische Nähe zu anhelat witzig entmetaphorisiert, gewinnt seine wörtliche Bedeutung zurück“. Durch die Kombination von Simulation (fictum) und Aufgeblasenheit (inflatus) entwirft der Dichter das Zerrbild eines Triumphators; mit Recht hebt auch Long (wie Anm. 10) durch ihre Zusammenfassung der Verse 1, 252-271 mit „travesty triumph“, 43 (vgl. auch S. 119-121) hervor, daß die Szene eine Pervertierung eines Triumphzuges darstellt. 48 Vgl. die ausführliche Interpretation Felgentreus, Wie ein Klassiker gemacht wird (wie Anm. 7), 84-89. Zu Claudians satirischer Charakteristik Leos als Aiax Eutropii (In Eutr. <?page no="223"?> Satire / Invektive und Panegyrik 211 Tribigild von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, wird durch die Charakterisierung von Leos nichtiger Hoffnung als flatus ... leves markiert (In Eutr. 2[20], 432-436a): Tarbigilus simulare fugam flatusque Leonis spe nutrire leves, inprovisusque repente, dum gravibus marcent epulis hostique catenas inter vina crepant, largo sopita Lyaeo 435 castra subit. Die eitle, nichtige Aufgeblasenheit ist die Angriffsfläche, die der Feind auszunutzen versteht und die Leo schließlich zu Fall bringen wird - insbesondere auch in der satirischen Darstellung. Das Erheben des satirischen Objekts in die Höhe vor dem anschließenden Fall 49 Verwandt mit dem Bild des Aufgeblähtseins ist der Gedanke, daß die auf dem Gipfel der Macht Angelangten nur deshalb zeitweilig erhöht werden, damit der Sturz aus der Höhe um so wirksamer ausfalle. Dieses Prinzip hatte der Dichter bereits im Prooemium seiner Invektive gegen Rufin angekündigt (In Ruf. 1[3], 21b-23a): iam non ad culmina rerum iniustos crevisse queror; tolluntur in altum ut lapsu graviore ruant. 50 Unmittelbar vor seinem Fall hat Rufin äußerlich sein Ziel endlich erreicht: er überragt den Princeps Arcadius. Bei der Begrüßung des Heeres durch Arcadius vor Byzanz bringt der Erzähler Rufins Ambition auf den Thron zum Ausdruck, indem er das anmaßende Anschwellen Rufins, der sich bereits als künftiger Alleinherrscher geriert, hervorhebt und die Schwellmetapher mit dem rein physischen Erheben über den Princeps verbindet (In Ruf. 2[5], 344- 347): 2[20], 386) vgl. jetzt Garambois-Vasquez (wie Anm. 11), 178-183. Zum Verhältnis von Dichtung und Geschichte im 2. Buch von In Eutropium, insbes. zur Bewertung von Tribigilds Rebellion in Claudians Darstellung vor dem historischen Hintergrund s. Emma Burrell, Claudians’ in Eutropium liber alter: Fiction and History, Latomus 62, 2003, 110- 138. 49 In ihrem Kapitel „Object-oriented humour: The principle of mockery from below“ hat Plaza (wie Anm. 45), 53-57 ausführlich das Prinzip herausgearbeitet, daß die Satiriker ihr Angriffsziel zuerst aufblähen bzw. in die Höhe heben, um es anschließend um so wirkungsvoller destruieren zu können. 50 Hierzu vgl. meine obigen Ausführungen (S. 205-207) zu Rufins Fall, der zu allgemeinen Betrachtungen Anlaß gibt, wie sie in Juvenals zehnter Satire anläßlich von Sejans Sturz begegnen. <?page no="224"?> Christine Schmitz 212 iam regale tumens et principe celsior ibat collaque femineo iactabat mollia gestu, imperii certus, tegeret ceu purpura dudum, corpus et ardentes ambirent tempora gemmae. Der eigentliche und metaphorische Gebrauch des Anschwellens (tumens, V. 344) und des sich schon über den noch regierenden Arcadius erhebenden Rufinus (celsior ibat, V. 344) gehen hier unmerklich ineinander über. Der zunächst neutrale Ausdruck et principe celsior ibat (V. 344), der die bewundernde Beschreibung von Anchises in Euanders Antwort an Aeneas variierend aufnimmt (sed cunctis altior ibat [Anchises], Verg. Aen. 8, 162), wird durch den Hinweis auf das effeminierte Gebaren Rufins im nächsten Vers (femineo ... gestu) und das Vorgefühl der Herrschaft, wodurch sich Rufin bereits in der Rolle des mit den entsprechenden Insignien ausgestatteten Kaisers wähnt (346-347), sogleich ins Negative gewendet. Dies ist genau der Auftakt zum unmittelbar folgenden Fall Rufins, seiner Ermordung durch die heimkehrenden Soldaten. Claudians Beschreibung von Rufins Erhebung vor seinem Fall am Ende der Invektive greift deutlich auf die einführende Charakterisierung am Anfang zurück. In dem Moment, in dem geschildert wird, wie Rufin sich durch Megaeras Vergoldung der Türpfosten seines Hauses verlocken läßt, hatte Claudian ebenfalls die metaphorischen Ausdrücke des Sich-Erhebens (elatus, V. 164) 51 inlecebris capitur, nimiumque elatus avaro und - wenn auch zunächst auf Midas im Gleichnis bezogen - des Angeschwollenseins (tumebat, V. 165) verwendet (In Ruf. 1[3], 164-166a): pascitur intuitu. sic rex ad prima tumebat Maeonius. Aufstieg und Niedergang Rufins werden also in der gleichen Bildersprache dargestellt. Wie bei Rufins Sturz hat der Dichter auch in seine Schilderung des unaufhaltsamen Falls Eutrops allgemeine Sentenzen eingefügt. So kommentiert er Eutrops Aufstieg (In Eutr. 1[18], 181): asperius nihil est humili cum surgit in altum („Nichts Unangenehmeres gibt es als einen Niedrigstehenden, wenn er sich in die Höhe erhebt“). In der Praefatio zum 2. Buch von In Eutr. [19], 5f. heißt es: culmine deiectum vitae Fortuna priori reddidit insano iam satiata ioco. Was hier eindeutig auf Eutrops Sturz gemünzt ist, hat der satirische Sprecher in Juvenals dritter Satire als allgemeine Regel über die zu allem bereiten Aufsteiger in Rom, die den rechtschaffenen römischen Klienten aus seiner Position verdrängen, formuliert (Iuv. 3, 39f.): 51 Zu elatus s. auch oben Anm. 35. <?page no="225"?> Satire / Invektive und Panegyrik 213 quales ex humili magna ad fastigia rerum extollit quotiens voluit Fortuna iocari. Claudians Ausdruck iam satiata ioco zeigt in unmittelbarem intertextuellem Anschluß an das in Juvenals Satire thematisierte Verhalten Fortunas das Ende ihres launenhaften Spiels an. Intertextuelle Verweise auf satirische Praetexte Neben dem allgegenwärtigen Vorbild Vergils bilden die satirischen Texte ein einflußreiches Modell für Claudians Dichtung. Denjenigen Rezipienten, bei denen diese satirischen Praetexte aufgerufen werden, wird eine über den unmittelbaren Sinn hinausgehende Dimension eröffnet. 52 Ein deutliches Beispiel einer Beeinflussung Claudians durch Juvenals zweite Satire hat bereits Birt herausgestellt. 53 o pater urbis, Die Funktion dieses intertextuellen Verweises läßt sich jedoch noch genauer bestimmen, als Birt dies getan hatte. Die enge Verbindung der beiden Texte erweist Claudians Gedicht gegen Eutropius freilich nicht als Satire. Vielmehr eröffnet der spätantike Dichter durch ein ausdrücklich markiertes Zitat eine weitere Bedeutung. Dies läßt sich an der vergleichbaren und doch unterschiedlichen Reaktion des Gottes Mars auf empörende Ereignisse zeigen. Leidenschaftlich stellt der satirische Sprecher in Juvenals zweiter Satire durch hinweisendes ecce das skandalöse Ereignis der Hochzeit des Gracchus, eines Vertreters der führenden Nobilität, mit einem Hornbläser vor Augen, um Roms Stadtgott verständnislos zu fragen, warum er nicht einschreite (Iuv. 2, 126b-131a): unde nefas tantum Latiis pastoribus? unde haec tetigit, Gradive, tuos urtica nepotes? traditur ecce viro clarus genere atque opibus vir, nec galeam quassas nec terram cuspide pulsas 130 nec quereris patri. Als Reaktion auf die säumige Langmütigkeit und das Ausbleiben einer Strafhandlung folgt die Aufforderung an den Gott, das Marsfeld, dessen Würde er ohnehin nicht verteidige, zu räumen (Iuv. 2, 131b-132): vade ergo et cede severi iugeribus campi quem neglegis. 52 Als Pointe, die sich recht eigentlich nur intimen Juvenalkennern erschließt, hat Cameron (wie Anm. 12), 284 Claudians Vers his necdum commissa choro cantatur Agaue (In Eutr. 2[20], 364) vor dem Hintergrund von Iuv. 7, 87 intactam Paridi nisi vendit Agauen erwiesen. 53 Birt (wie Anm. 4), 58. <?page no="226"?> Christine Schmitz 214 Eine produktive Weiterentwicklung dieses Motivs liegt in Claudians Gestaltung vor. Sobald der nach Thrakien zurückkehrende Kriegsgott Mars das effeminierte Treiben des Eunuchen Eutrop 54 ecce autem flavis Gradivus ab usque Gelonis erblickte, schüttelte er seinen Helm (In Eutr. 2[20], 103-109a): arva cruentato repetebat Thracia curru: subsidunt Pangaea rotis altaeque sonoro 105 stridunt axe nives. ut vertice constitit Haemi femineasque togas pressis conspexit habenis, subrisit crudele pater cristisque micantem quassavit galeam. Auch hier bezieht der Dichter die Hörer bzw. Leser durch hinweisendes ecce (V. 103) gleichsam als Zuschauer mit ein. Der Kriegsgott wird mit dem Beinamen Gradivus bezeichnet, den auch Juvenal (V. 128) verwendet hatte. Juvenals Umschreibung des Gottes als pater urbis (V. 126) kann Claudian zu pater (V. 108) verkürzen. Mars reagiert in Claudians Invektive von sich aus auf den Anblick des weibischen Konsuls quassavit galeam (V. 109) und fordert seine Schwester Bellona auf, nicht tatenlos zuzusehen. Es handelt sich um ein wörtliches, in einem entscheidenden Punkt leicht abgeändertes Zitat aus Juvenals zweiter Satire. Während der satirische Sprecher den Kriegsgott Mars anklagend fragt, warum er angesichts der skandalösen Hochzeit nicht eingreife (nec galeam quassas, 130), hat Mars in Claudians Dichtung diese geforderte Aktion beim Anblick des weibischen Konsuls erfüllt (109): quassavit galeam. Claudian treibt den intertextuellen Dialog aber noch weiter, indem er den Gott nun seinerseits eine andere Instanz, die Kriegsfurie Bellona, auffordern läßt, einzuschreiten (In Eutr. 2[20], 119-159). 55 54 Zur verzerrenden Darstellung von Eutrops Feldzug gegen die Hunnen s. oben S. 210 mit Anm. 46. Darüber hinaus legt er seinem Mars als Vater des Romulus und Stammvater der Römer 55 Auf eine weitere mögliche Juvenalreminiszenz innerhalb der Polemik des Kriegsgottes gegen die willfährigen Senatoren am dekadenten oströmischen Hof unter der Führung des Konsuls Eutrop hat Chr. Gnilka, Dichtung und Geschichte im Werk Claudians, FMS 10, 1976, 96-124, wieder abgedruckt in: Philologische Streifzüge (wie Anm. 17), 177f. aufmerksam gemacht: plaudentem cerne senatum / et Byzantinos proceres Graiosque Quirites (In Eutr. 2, 135f.) vergleicht er mit dem Paradoxon in Iuv. 3, 60f. non possum ferre, Quirites, Graecam urbem. Mit Blick auf die intertextuelle Gestaltung der Passage läßt sich zeigen, daß auch eine Szene aus Statius’ Thebais eingewirkt haben dürfte. In Hypsipyles Erzählung über die Ereignisse auf Lemnos wird die Reaktion des Kriegsgottes auf den Anblick der lemnischen Frauen, die sich mit den Waffen ihrer erschlagenen Männer ausrüsten, geschildert (Stat. Theb. 5, 357): et averso risit Gradivus in Haemo. Hieran knüpft Claudian an, vgl. vor allem In Eutr. 2, 106b-108a: ut vertice constitit Haemi / femineasque togas pressis conspexit habenis, / subrisit crudele pater. Jeweils entlockt der Anblick einer für das Kriegshandwerk nicht prädestinierten Gruppe, die sich nun aber zum Krieg rüstet, dem Kriegsgott ein Lachen. <?page no="227"?> Satire / Invektive und Panegyrik 215 eine Entschuldigung für das späte Eingreifen in den Mund (In Eutr. 2[20], 141b-143a): ignosce parenti, Romule, quod serus temeratis fascibus ultor advenio. Was in Juvenals Satire nur in der Vorstellung beschworen wird, ist in Claudians Darstellung realisiert. Diesmal vollzieht Mars also genau die Reaktion, zu der er in Juvenals zweiter Satire vergeblich aufgefordert worden war. Hier ist der Punkt der Empörung nun endgültig erreicht, wird das schändliche Treiben des Eunuchenkonsuls von Mars doch als schlimmer bewertet als die in Juvenals zweiter Satire dargestellte Männerhochzeit, das heißt: Claudians Protagonist überbietet sogar noch die Scheusale, die Juvenals Satire bevölkern. Über diesen Zusammenhang hinaus stellt Claudians intertextueller Verweis auf Juvenals zweite Satire gleichzeitig auch eine Art der literarischen Überbietung der früheren Dichtung durch die nachfolgende dar. 56 Daß Claudian die römischen Verssatiriker als Praetext voraussetzt, läßt sich auch an intertextuellen Anspielungen auf eine Epistel des Horaz zeigen, wenngleich hier kein direktes Zitat vorliegt. Die bereits oben (S. 209) erörterte Art der Rühmung Stilichos durch die Hervorhebung dessen, was fehlt, begegnet auch in einer weiteren Passage des Panegyricus, in der die Genügsamkeit Stilichos gepriesen wird (cons. Stil. 2[22], 131-142): nec te iucunda fronte fefellit Luxuries, praedulce malum, quae dedita semper corporis arbitriis hebetat caligine sensus membraque Circaeis effeminat acrius herbis, blanda quidem vultus, sed qua non taetrior ulla 135 interius: fucata genas et amicta dolosis inlecebris torvos auro circumlinit 57 illa voluptatum multos innexuit hamis: hydros. te numquam conata capit. non prava libido stupris advigilat; non tempora somnus agendi 140 frustratur; nullo citharae convivia cantu, non pueri lasciva sonant. Um Stilichos Gefeitheit gegen das verlockende Laster der Luxuries zu betonen, bedient sich der Panegyriker des Verfahrens des Aufdeckens des Wi- 56 Dieser Aspekt wird weiter unten (S. 220-223) im Zusammenhang mit Claudians produktiver Adaptation des traditionellen Mythos näher ausgeführt. 57 Die Junktur auro circumlinit (V. 137) klingt an Ovids Metamorphosenversion des Midasmythos an. Wenn Bacchus dem verzweifelten Midas einen Weg zeigt, wie er sich von seinem verhängnisvollen Wunsch befreien kann, heißt es (Ov. met. 11, 136): neve male optato maneas circumlitus auro, ... <?page no="228"?> Christine Schmitz 216 derspruchs zwischen Schein und Sein. 58 Das überaus süße Laster wird von Claudian personifiziert wie eine verführerische Frau dargestellt, 59 die äußerlich geschminkt und mit trügerischen Verlockungen versehen ihre Opfer mit den Angelhaken 60 Mir scheint, daß hier ein intertextueller Verweis vorliegt, und zwar auf die Gestalt des Odysseus, wie ihn Horaz in seinem zweiten Gedicht des ersten Epistelbuchs dargestellt hat (Hor. epist. 1, 2, 17-31): der Wollust umgarnt und einfängt (135-138). Dieser Passus greift zum einen nochmals die negative Charakterisierung Rufins auf, der den Verlockungen der Furie Megaera sogleich erlag. Durch wörtliche Signale macht Claudian diese Beziehung deutlich (In Ruf. 1[3], 164): inlecebris capitur ist mit V. 137 inlecebris und 139 te numquam conata capit zu vergleichen. Zum andern hebt der Panegyriker durch die emphatische Anfangsstellung des Pronomens te (V. 139) seinen Helden positiv von Rufin und überhaupt der Menge ab. Stilicho läßt sich niemals vom Laster der luxuriösen Wollust einnehmen, wie der Dichter im folgenden breit ausführt, wobei er wiederum mit gehäuften Verneinungen (139 numquam, 139 non, 140 non, 141 nullo, 142 non) arbeitet. rursus quid virtus et quid sapientia possit, utile proposuit nobis exemplar Ulixen, qui domitor Troiae multorum providus urbis et mores hominum inspexit latumque per aequor, 20 dum sibi, dum sociis reditum parat, aspera multa pertulit, adversis rerum immersabilis undis. Sirenum voces et Circae pocula nosti; 58 Es handelt sich um eine typisch satirische Geste, die denn auch im programmatischen Eröffnungsgedicht des zweiten Satirenbuchs des Horaz dem Archegeten der Gattung zugesprochen wird (Hor. sat. 2, 1, 62b-65): cum est Lucilius ausus primus in hunc operis componere carmina morem detrahere et pellem, nitidus qua quisque per ora cederet, introrsum turpis, num ... Der Satiriker macht es sich zur Aufgabe, vom blendenden Äußeren abzusehen und unter der glänzenden Oberfläche das schändliche Innere aufzudecken. Horaz kleidet diese satirische Haltung des Lucilius in das Bild des Herabziehens des Pelzes, in dem ein jeder glänzend vor den Leuten einherschreitet, während er von innen häßlich ist. 59 Das gleiche Oxymoron, das sich hier als Apposition auf Luxuries bezieht, begegnet in der Appendix zu den Claudian-Gedichten als dulce malum auf die Sirenen bezogen (Claud. carm. min. app. 1, 1: Dulce malum pelago Sirenae), die im weiteren Sirenen- Gedicht mit dulcia monstra (V. 3) und blanda pericla maris (V. 4) umschrieben werden. Zum paradoxen Ausdruck vgl. Ursula Keudel, Poetische Vorläufer in Claudians de Consulatu Stilichonis. Imitationskommentar, Göttingen 1970 (Hypomnemata 26), 80, zur Junktur dulce malum ferner die reiche Materialsammlung in J. C. McKeowns Kommentar (Leeds 1998) zu Ov. am. 2, 9, 26 usque adeo dulce puella malum est. 60 Zur Metapher des (Angel-)Hakens der Liebe, die für die Liebesverstrickung und Wollust steht, vgl. von Koppenfels (wie Anm. 45), 13-60. <?page no="229"?> Satire / Invektive und Panegyrik 217 quae si cum sociis stultus cupidusque bibisset, sub domina meretrice fuisset turpis et excors, 25 vixisset canis immundus vel amica luto sus. nos numerus sumus et fruges consumere nati, sponsi Penelopae nebulones Alcinoique in cute curanda plus aequo operata iuventus, cui pulchrum fuit in medios dormire dies et 30 ad strepitum citharae cessantem ducere somnum. Hier wird die Homer-Lektüre philosophischen Praecepta vorgezogen. Insbesondere das Vorbild des Odysseus zeige, was virtus und sapientia vermöge. Es folgt eine Rühmung des Helden, der im Kampf vor Troja und auf seiner langen Heimreise vieles erduldete. Im Gegensatz zu seinen Gefährten trank er nicht töricht, was die Zauberin Circe zum Trinken darreichte. Daher wird Odysseus auch nicht - wie seine Genossen - schmählich in einen Hund oder in ein Schwein verwandelt (V. 26). 61 Von diesem mustergültigen Verhalten werden die gewöhnlichen Menschen abgesetzt, unter die sich auch der Sprecher einordnet (nos, V. 27), die nur dahinvegetieren und die bis in den hellen Tag hinein schlafen. 62 61 Das Motiv der Verwandlung in Schweine - allerdings ohne Circes Zaubermittel - hat Claudian noch an einer anderen Stelle eingesetzt. Bei der Schilderung der Unterweltsstrafen im Finale der Invektive gegen Rufinus wird vom Unterweltsrichter Rhadamanthus erzählt, daß er seine Strafen dem Fehlverhalten der Menschen zu Lebzeiten anzupassen pflegte (In Ruf. 2[5], 482): exaequat damnum meritis. Die Übeltäter werden in die Tiere verwandelt, die ihrer früheren Lebensführung entsprechen, bevor sie nach mehreren Reinkarnationen und ihrer Reinigung im Lethestrom wieder ihre ursprüngliche menschliche Gestalt erhalten (vgl. In Ruf. 2[5], 491-493). So werden Räuber zu Wölfen, Betrüger zu Füchsen, diejenigen aber, die immer dem Wein und der Liebe ergeben waren, werden in Schweine verwandelt (In Ruf. 2[5], 485-487): at qui desidia semper vinoque gravatus, / indulgens Veneri, voluit torpescere luxu, / hunc suis inmundi pingues detrudit in artus. In der Formulierung klingt hier Hor. epist. 1, 2, 24-26 an: diejenigen, die begierig tranken und unter der Herrschaft einer Dirne standen, wurden durch Circes Zaubertrank in Hunde bzw. Schweine verwandelt. Reiches Material für den Vergleich lasterhafter Charaktere mit dem Wesen einzelner Tiere bietet Joachim Gruber in seinem Kommentar ( 2 2006) zu Boethius, De consolatione philosophiae 4, 3, 16 (S. 331). Unmittelbar auf die Verzauberung der in Wollust Verstrickten in Schweine (cons. 4, 3, 20 Foedis immundisque libidinibus immergitur: sordidae suis voluptate detinetur, vgl. Claud. 5, 487) läßt Boethius ein Gedicht über die Verwandlung der Gefährten des Odysseus durch den Zaubertrank der Circe folgen. Vgl. allgemein Erich Kaiser, Odyssee-Szenen als Topoi, MH 21, 1964, 109-136 und Teil II „Der Zauber Kirkes und Kalypsos“, MH 21, 1964, 197-224. Zwar sind die wörtlichen Anklänge spar- 62 Zur Interpretation des vieldiskutierten Ausdrucks in V. 31 cessantem (Konjektur: ed. Venet. 1495 und Bentley, cessatum codd.) ducere somnum („den [aufgrund mangelnder Anstrengung] ausbleibenden Schlaf herbeilocken“) s. Roland Mayer, Horace. Epistles, Book I, Cambridge 1994, S. 116f. Als Kontrastimitation kann Claudians Lob von Stilichos tätigem Wachsein in cons. Stil. 2, 140f. gewertet werden: non tempora somnus agendi / frustratur („nicht vereitelt dir [sc. Stilicho] der Schlaf die für Tätigkeiten reservierten Stunden“). <?page no="230"?> Christine Schmitz 218 sam, 63 V. Claudians Panegyrik als umgekehrte Invektive: Stilicho als ideales Gegenbild seiner oströmischen Rivalen vom ganzen Duktus her, insbesondere durch die Gegenüberstellung einer vorbildlichen Haltung gegenüber der einzig auf das eigene äußerliche Wohlbefinden und Vergnügen bedachten Menge scheint Claudian diese Passage gleichwohl zu evozieren. Trotz aller Annäherung an die römischen Satiriker bleibt Claudian aber in seinen Gedichten Panegyriker. Die aggressive Kritik an Stilichos Gegnern bildet lediglich die Folie, von der er seinen Helden Stilicho um so strahlender abheben kann. In seinem Panegyricus auf Stilicho verfährt Claudian nicht wesentlich anders als in den Invektiven, wie insbesondere an Beispielen, die sich auf Motive in den Invektiven zurückbeziehen, gezeigt werden soll. Nachdem der Dichter ausführlich Rufins unaufhaltsam wachsende Grausamkeiten geschildert hat, 64 deiecerat omnes beschreibt er die lähmende Wirkung dieses Terrors auf die ganze Umgebung (In Ruf. 1[3], 256b-258): occultis odiis terror tacitique sepultos suspirant gemitus indignarique verentur. Unvermittelt schlägt die Invektive in Panegyrik um, wenn der Dichter zum Lobpreis Stilichos übergeht: Stilicho allein kann die Lage retten, er ist der Retter in der Not (In Ruf. 1[3], 259-260a): at non magnanimi virtus Stilichonis 65 fracta metu. eodem Durch wörtliches Zitat verweist Claudian auf sein episches Vorbild: Lucan. 2, 234f. At non magnanimi percussit pectora Bruti / terror. Wie Stilichos furchtloses Verhalten von dem der Menge (omnes, V. 256) abgesetzt wird, stellte 63 Zu vergleichen sind aber die Signalwörter Circaeus (cons. Stil. 2, 134) - Circe (Hor. epist. 1, 2, 23), somnus (cons. Stil. 2, 140 - epist. 1, 2, 31), cithara (cons. Stil. 2, 141 - epist. 1, 2, 31). 64 Der Passus (In Ruf. 1[3], 220-256b) wird durch die Metapher des Durstes nach immer neuen Verbrechen eingeleitet, wobei in polarer Ausdrucksweise Rufins brennendes Verlangen nach neuer Beute bei gleichzeitiger Schamlosigkeit hervorgehoben wird, vgl. In Ruf. 1[3], 220-222a: crescebat scelerata sitis praedaeque recentis incestus flagrabat amor, nullusque petendi cogendive pudor. 65 In feierlich-erhabener Diktion wird der tapfere Stilicho durch eine Umgewichtung des Ausdrucks umschrieben; zu dieser episch stilisierten Periphrasis vgl. Schmitz (wie Anm. 39), 157 mit Anm. 35. <?page no="231"?> Satire / Invektive und Panegyrik 219 der epische Erzähler mit dem gleichen Auftakt at non magnanimi die unerschütterliche Furchtlosigkeit des Brutus in den Wirren des Bürgerkriegs heraus. Claudians Verweis auf positive und negative Modelle ist jeweils eindeutig: als Muster für Stilicho dienen vorbildliche Helden, seien es historische wie Brutus und Cato, 66 oder mythische wie Odysseus. Für die Rivalen Stilichos evoziert der Dichter dagegen intertextuell anders aufgeladene Vorbilder: für Rufins Sturz bildet Sejans Fall in Juvenals Darstellung das Muster und für den Eunuchenkonsul Eutrop verwendet Claudian den dekadenten homosexuellen Gracchus aus Juvenals zweiter Satire als Modell. 67 Positiv wird Stilichos alleiniges Standhalten gegen den tierischen Tyrannen hervorgehoben (In Ruf. 1[3], 260b-262b): solus medio sed turbine rerum contra letiferos rictus contraque rapacem movit tela feram. Durch anaphorisches hic setzt der Dichter zum hymnischen Lobpreis seines Helden Stilicho an (In Ruf. 1[3], 264-267): hic cunctis optata quies, hic sola pericli turris erat clipeusque trucem proiectus in hostem, 66 Als Vorbild für Stilichos rastloses Sorgen um das Gemeinwohl könnte Lucans Cato- Gestalt Pate gestanden haben. Stilicho wird cons. Stil. 2[22], 142b-145a folgendermaßen charakterisiert: quis cernere curis te vacuum potuit, quis tota mente remissum aut indulgentem dapibus, ni causa iuberet laetitiae? Auch Cato, der im zweiten Buch von Lucans Pharsalia von Brutus angetroffen wird, ein Text, der bereits oben (S. 218f.) als intertextuelles Modell herangezogen wurde, stellt die unermüdliche Sorge um den Staat über sein privates Glück (Lucan. 2, 239- 241a): invenit insomni volventem publica cura fata virum casusque urbis cunctisque timentem securumque sui. 67 Claudian hat die Gestalt Rufins über die Angleichung an den habgierigen Midas hinaus auch mit Zügen des fluchbeladenen Oedipus ausgestattet. Durch deutliche intertextuelle Signale erinnert er mit einem direkten Zitat an den Oedipus, den Statius in der Thebais einführt. In seinem ‚Gebet‘ an die Furie Tisiphone präsentiert sich Oedipus als ihr Pflegekind (Stat. Theb. 1, 60f.): si me de matre cadentem / fovisti gremio. Auf diese Stelle verweist Claudian, wenn er im Konzil zu Beginn der Invektive In Rufinum die für Verwandtenmord zuständige Megaera, die er kurz zuvor bezeichnenderweise als die für den frevelhaften Inzest des Oedipus verantwortliche Furie vorgestellt hatte (In Ruf. 1[3], 83b-84: hac auspice taedae / Oedipoden matri ... iunxere), ihren Ziehsohn Rufinus als Ausgeburt der Hölle beschreiben läßt (In Ruf. 1[3], 92f.): Rufinus, quem prima meo de matre cadentem / suscepi gremio. Zu diesen voneinander abhängigen Stellen vgl. auch A. Hudson-Williams, Imitative Echoes and Textual Criticism, CQ 53, 1959, 61-72, hier 65. <?page no="232"?> Christine Schmitz 220 hic profugis sedes adversaque signa furori, servandis hic castra bonis. ... Schließlich fragt er den direkt apostrophierten Stilicho, mit welchem Lobpreis er ihn rühmen könne (In Ruf. 1[3], 273-275): qua dignum te laude feram, qui paene ruenti lapsuroque tuos umeros obieceris orbi? te nobis, trepidae sidus ceu dulce carinae, ... Durch die wiederholte direkte Du-Anrede (te, 273, tuus, 274, te, 275), die relativische Prädikation (qui, 273) und nicht zuletzt durch den terminologisch einschlägigen Begriff laus (273) läßt der Dichter seinen Sprecher ankündigen, daß er sich nunmehr ganz dem hymnischen Lob Stilichos widmen wolle. Die rhetorische Frage qua dignum te laude feram (273) 68 Ein weiteres Mittel zur Rühmung seines Helden ist die Abgrenzung der Leistungen Stilichos gegenüber den bekannten Taten mythischer Helden. Wenn der Panegyriker etwa Stilichos heldenhaften Widerstand gegen die Machenschaften Rufins, der zu einem Ungeheuer vom Ausmaß der Chimaera stilisiert wird, beschreibt (contra letiferos rictus contraque rapacem / movit tela feram, In Ruf. 1[3], 261f.), hebt er zunächst eher beiläufig hervor, daß Stilicho - anders als Bellerophon im Kampf gegen die Chimaera - nicht auf die Unterstützung durch ein geflügeltes Zauberroß bauen konnte (In Ruf. 1[3], 262b-263): markiert geradezu den Übergang von der Invektive gegen Rufin zum panegyrischen Lob Stilichos. Entsprechend gipfeln die Klagen der Bevölkerung über die Schreckensherrschaft des östlichen Gewaltherrschers im direkten Hilferuf an Stilicho (In Ruf. 2[5], 94b-95a): tandem succurre ruenti / heu patriae, Stilicho! Genauso verfährt Claudian auch in seiner anderen Invektive, vgl. vor allem In Eutr. 2[20], 501b-502a: iam sola renidet / in Stilichone salus. Auch hier präsentiert der Panegyriker Stilicho als einzigen Hoffnungsträger in verzweifelter Lage. volucris non praepete cursu vectus equi, non Pegaseis adiutus habenis. 69 68 Harry L. Levy, Claudian’s In Rufinum. An Exegetical Commentary, Princeton 1971 (Philological Monographs of the American Philological Association 30), 79 verweist auf eine ganz vergleichbare panegyrische Formel im Bellum Geticum [26], 13f. quae tibi pro tanti pulso discrimine regni / sufficient laudes, Stilicho? 69 Ganz in diesem panegyrischen Ton wird das geflügelte Roß innerhalb eines Katalogs berühmter mythischer Pferde auch zur Rühmung des Honorius eingesetzt, um die Überlegenheit des gefeierten Augustus über den mythischen Helden Bellerophon hervorzuheben: Wäre es den Pferden überlassen, sich selbst ihre Herren auszusuchen, würde Pegasus es vorziehen, Honorius zu tragen, die Zügel des Bellerophon würde er jedoch verschmähen (Panegyricus dictus Honorio Augusto IV cos. [8], 558-560): ipse ti- <?page no="233"?> Satire / Invektive und Panegyrik 221 Schließlich weitet er seine Rühmung zu einer regelrechten Synkrisis zwischen Stilicho und einem weiteren mythischen Helden aus. Im Vergleich zu Perseus handelt Stilicho aus edleren Motiven: während sich Perseus, unterstützt durch Flügel 70 Inachius rubro perhibetur in aequore Perseus und Medusenhaupt, aus eigennütziger Liebe nur um die Rettung einer jungen Frau, der an einen Fels gebundenen Andromeda, kümmerte, liegt Stilicho das Heil ganz Roms am Herzen (In Ruf. 1[3], 278- 283a) Neptuni domuisse pecus, sed tutior alis: te non pinna vehit; rigida cum Gorgone Perseus: 280 tu non vipereo defensus crine Medusae; illum vilis amor suspensae virginis egit: te Romana salus. Wiederum wird nachdrücklich durch Negationen (te non, 280 und tu non, 281) hervorgehoben, welcher mythischer Hilfsmittel der Held der Gegenwart entbehrt. Dies bietet dem Dichter Anlaß, allgemein die Überlegenheit der Gegenwart über die mythische Vergangenheit zu konstatieren (In Ruf. 1[3], 283b): taceat superata vetustas. 71 Zur Bekräftigung führt er noch einen dritten mythischen Helden an, Hercules, dessen Taten einem Vergleich mit Stilicho nicht standhalten (In Ruf. 1[3], 284): Herculeos conferre tuis iam desinat actus. Im Anschluß werden die berühmten Taten breit ausgeführt, um wiederum den beschränkten Wirkungskreis des mythischen Helden im Vergleich zu Stilichos umfassender Wirkung hervorzuheben (In Ruf. 1[3], 285- 296). Diese Synkrisis zwischen Stilicho und den mythischen Helden verdeutlicht eine prinzipielle Tendenz der Dichtung Claudians: das Moment der Überbietung. 72 bi famulas praeberet Pegasus alas / portaretque libens, melioraque pondera passus / Bellerophonteas indignaretur habenas. Die Gegenwart stellt die Vergangenheit, die Wirklichkeit die 70 Zu Perseus’ Flügeln vgl. die von Levy (wie Anm. 68), 81 angeführten Parallelstellen und F. Bömers Kommentar (Heidelberg 1976) zu met. 4, 665f. (S. 200) zu den Flügelschuhen, mit denen sich Perseus durch die Luft bewegte. 71 Auf dieses Prinzip hat Widu-Wolfgang Ehlers allgemein im Zusammenhang seiner Ausführungen zur römischen Anverwandlung und Weiterentwicklung der tradierten Mythen verwiesen: Zwischen Kolosseum und Olymp. Adaptation und Transformation griechischer Mythen in Rom, in: M. Vöhler/ B. Seidensticker (Hgg.), Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption, Berlin/ New York 2005 (spectrum Literaturwissenschaft 3), 51-67, insbes. 55-58 zu Martials Liber spectaculorum, vgl. vor allem: „Der überlieferte Mythos wird zur superata vetustas, zur übertrumpften Vergangenheit, die Gegenwart und der Kaiser zum neuen Mythos“ (57). 72 Einen panegyrischen Vorläufer hat Claudian etwa in Valerius Flaccus, der im Prooemium seiner Argonautica die Erfolge des Kaisers Vespasian bei seinen Seeunternehmungen zum einen über die seiner julischen Vorgänger stellt, zum anderen aber auch zu dem mythischen Unternehmen der Argonauten in Beziehung setzt. Aufgrund seiner Eröffnung des Meeres gebühre dem flavischen Herrscher im Vergleich zur Leistung der Argonauten größerer Ruhm (Val. Fl. 1, 7b-9): tuque o pelagi cui maior aperti / <?page no="234"?> Christine Schmitz 222 mythische Erzählung in den Schatten. Analog überbieten auch die aktuellen, von Claudian geschilderten Taten seines Helden Stilicho diejenigen der glorreichen römischen Vergangenheit, wie einprägsam aus der Praefatio zum dritten Buch von De consulatu Stilichonis hervorgeht. Während der Dichter den von Ennius gerühmten Helden Scipio mit dem von ihm gefeierten Stilicho im vorletzten Distichon der Praefatio gleichsetzt, überhöht er zu panegyrischen Zwecken die Kriegstaten des gegenwärtigen Helden, indem der besiegte Feind der Vergangenheit gegenüber dem neuen ‚Hannibal’ der Gegenwart, dem weit gefährlicheren Gildo, entwertet wird (21f.): 73 Der ins Negative gewendete Überbietungsgedanke begegnet am ausführlichsten in der Invektive gegen Eutrop (In Eutr. 1[18], 287f.): noster Scipiades Stilicho, quo concidit alter / Hannibal antiquo saevior Hannibale. nil adeo foedum, quod non exacta vetustas ediderit longique labor commiserit aevi. Nach dieser Einleitung werden zunächst (289-292) beklagenswerte, in Inzest verstrickte mythische Gestalten (Oedipus, Thyestes, Iocaste, usw.), die Sujets der attischen Tragödie sind, durchmustert, danach (293-296a) Gestalten der Metamorphosen (Tereus, Cadmus, Scylla, usw.). Dieser Katalog außergewöhnlicher mythischer Frevler bildet aber lediglich die Vorlage, um Eutrop von all diesen Ungeheuerlichkeiten abzusetzen (296f.): numquam spado consul in orbe / nec iudex ductorve fuit. Ein Eunuch als Konsul übertrifft alle denkbaren Verbrecher, die je auf der Theaterbühne gezeigt oder in den Metamorphosen behandelt wurden. Diese Betrachtungen münden in das Resümee (298f.): exempla creantur / quae socci superent risus luctusque cothurni. Diesen Vers hat man immer wieder als ‚Schlüsselvers’ für die gattungstheoretische Bestimmung der Invektive gegen Eutrop verstehen wollen. 74 fama, Caledonius postquam tua carbasa vexit / Oceanus Phrygios prius indignatus Iulos. Hierzu vgl. Manfred Wacht, Juppiters Weltenplan im Epos des Valerius Flaccus, Stuttgart 1991 (AAWM 10), 17 mit Anm. 56 und S. 21. Dies trifft inso- 73 Bereits Reinhart Herzog, Die allegorische Dichtkunst des Prudentius, München 1966 (Zetemata 42) hat in seinen Darlegungen zum Umgang Claudians mit dem Mythos in den panegyrisch-allegorischen Praefationes (130-133) darauf hingewiesen, wie „die Verherrlichung des Herrschers seit der augusteischen Zeit den Mythos entwertet hat“ (130). Zu den Funktionen des Mythos in Claudians Dichtung, insbesondere zum Verhältnis von zeitgeschichtlicher Realität und Mythos ist auch Siegmar Döpp, Zeitgeschichte in Dichtungen Claudians, Wiesbaden 1980 (Hermes Einzelschriften 43), 35f. zu vergleichen, vor allem 36: „Was auf den ersten Blick als Ablehnung mythologischer Dichtung anmutet, stellt in Wahrheit einen panegyrischen Kunstgriff dar.“ 74 So schon Birt (wie Anm. 4), 40, aber auch Koster (wie Anm 8), 323: „So bringt denn die Zeitgeschichte auch einen Fall, der das Gelächter der Komödie und die Trauer der Tragödie zugleich in den Schatten stellt: exempla creantur quae socci superent risus luctusque cothurni, ein Schlüsselvers zum Verständnis dieser Invektive, besonders auch als literarischer Ausdrucksform.“ Ebenso sieht Schweckendiek (wie Anm. 9), 174 hierin einen Hinweis, „wie Claudian seine Invektive verstanden wissen will - als ein beständiges <?page no="235"?> Satire / Invektive und Panegyrik 223 fern zu, als der Eunuchenkonsul in Claudians Darstellung in der Tat als Objekt der Destruktion zum einen mit komischen Zügen ausgestattet wird, zum andern aber auch als unheilbringendes Prodigium stilisiert ist, das zur Wiederherstellung der allgemeinen Ordnung beseitigt werden muß. Darüber hinaus handelt es sich aber um den in Claudians politischen Dichtungen immer wieder geäußerten Gedanken, daß die Gegenwart alles bis dahin Gewesene in den Schatten stelle - und zwar nach beiden Richtungen hin, ins Positive, aber auch ins Negative. Wie der von ihm gefeierte Stilicho in seinen Leistungen selbst mythische Heroen überragt, so sind Stilichos Gegner jeweils der Inbegriff aller Schandtaten. 75 Ein Musterbeispiel für Claudians Übertragung eines von ihm selbst zuvor überwiegend zu invektivischen Zwecken verwendeten Motivs ins Panegyrische ist seine überraschende Adaptation des Midas-Mythos zur Rühmung Stilichos. Claudians Wendung des üblicherweise mit unersättlicher Gier konnotierten Goldreichtums des Midas ins Positive ist eine wahre Glanzleistung. Bei Gelegenheit der Feierlichkeiten anläßlich seines Amtsantritts als Konsul in Rom wird die Freigebigkeit Stilichos dargestellt. Er hütet nicht geizig seine Schätze. Vielmehr setzt er seinen Reichtum für das Ge- Die Aussage exempla creantur quae ... superent ... (In Eutr. 1[18], 298f.) läßt sich also auch als ein prinzipieller poetologischer Hinweis auf die eigene dichterische Schaffensgabe verstehen, die alles bis dahin in der Literatur Hervorgebrachte zu übertreffen (superare) vermag. Schwanken zwischen Lachen und Weinen, als Darbietung eines Schauspiels, das zugleich Farce und Tragödie ist“. 75 Der Gedanke, daß die Verbrechen der Gegenwart die Verbrechen des Mythos übersteigen, begegnet häufig in Juvenals Satiren. So übertrifft der Kindermord der römischen Matronen noch den in den Tragödien dargestellten, z. B. den der Medea oder Procne, was den satirischen Sprecher in der sechsten Satire dazu veranlaßt, über die Grenzen der Gattung zu reflektieren (Iuv. 6, 634-637): fingimus haec altum satura sumente coturnum scilicet, et finem egressi legemque priorum grande Sophocleo carmen bacchamur hiatu, montibus ignotum Rutulis caeloque Latino? Zu einem ungeheuerlichen Verbrechen der Gegenwart, das sämtliche in der Tragödie dargestellten übertreffe (cunctis graviora coturnis, Iuv. 15, 29), s. ausführlich Schmitz (wie Anm. 39), 38-43. Im übrigen ist die Vorstellung eines kaum noch zu überbietenden Verbrechens auch für Senecas Tragödien charakteristisch, wie etwa Bernd Seidensticker, Maius solito. Senecas Thyestes und die tragoedia rhetorica, A & A 31, 1985, 116-136 am Beispiel des Thyestes gezeigt hat. In der 14. Satire wird ausgeführt, daß das menschliche Treiben (humana negotia) ein größeres Schauspiel als die üblichen Darstellungen auf der Bühne biete (Iuv. 14, 256-264). Zu Beginn dieses Passus tritt der satirische Sprecher als derjenige auf, der den ‚Zuschauern’ die Ungereimtheiten präsentiert, vgl. 14, 256-258: monstro voluptatem egregiam, cui nulla theatra, / nulla aequare queas praetoris pulpita lauti, / si spectes ... <?page no="236"?> Christine Schmitz 224 meinwohl ein, dient die Prachtentfaltung bei den Spielen doch allein dem Volk (cons. Stil. 3[24], 223-236): 76 magnarum nec parcus opum geminare profundas distulit inpensas, sed post miracula castris edita vel genero, Romae maiora reservat. 225 auratos Rhodiis imbres nascente Minerva indulsisse Iovem perhibent, Bacchoque paternum iam laxante femur mutatus palluit 77 in pretium, votique famem passurus avari Hermus ditabat rutilo quidquid Mida tangeret auro. 230 fabula seu verum, canitur: tua copia vincit fontem Hermi tactumque Midae pluviamque Tonantis. obscurat veteres obscurabitque futuros par donis armisque manus; si solveret ignis quot dedit inmanes vili pro pondere massas, 235 argenti potuere lacus et flumina fundi. Drei mythologische Exempla werden herangezogen: Jupiter gewährte bei der Geburt Minervas den Einwohnern von Rhodos einen Goldregen. 78 Diese Rückbezüglichkeit von Motiven findet sich insbesondere in Claudians Darstellung von Stilicho als Konsul vor dem Hintergrund des unwürdigen Eunuchenkonsuls Eutrop. In der Invektive gegen Eutrop war vor allem das Konsulat der Stein des Anstoßes. Umgekehrt hebt der Panegyriker bei Stilicho hervor, daß es noch nie einen würdigeren Konsul gegeben habe. Stilicho, der wahre Konsul des Vaterlandes (cons. Stil. 3[24], 220 verus patriae consul, s. o. Anm. 20), ist der Rächer des Konsulats, wie Brutus der Stifter war (cons. Stil. 2[22], 322): sic trabeis ultor Stilicho Brutusque repertor. Durch die chiastische Anordnung werden hier die Namen der entscheidenden Konsuln in der Mitte zusammengeführt. In gezielter Überblendung mit Durch diese Angleichung wird Stilicho als gottgleicher Heros gezeigt. Als nächster Präzedenzfall wird die Verwandlung des Hermus in einen Goldsand führenden Fluß anläßlich der Geburt des Bacchus angeführt, und schließlich kommt als dritter Vergleich der Wunsch des Midas, daß sich alles, was er berühre, in Gold verwandeln solle. Hieran schließt der Dichter folgende Überlegung an: Ob diese Erzählungen Mythos oder Wahrheit seien, läßt er offen. In jedem Fall aber stelle Stilichos Großzügigkeit alle vergangenen und künftigen Helden und Götter in den Schatten - wieder begegnet also das Überbietungsmotiv. Die ungeheuren Geldmengen, die Stilicho bei dieser Gelegenheit spendete, ergäben ganze Seen und Flüsse von Silber. 76 Zu diesem Passus vgl. auch Keudel (wie Anm. 59), 133f. 77 Daß die Wahl des Verbs palluit (V. 228) auf die Midaserzählung des Ovid (met. 11, 110 und 11, 145) zurückverweist, hat bereits Keudel (wie Anm. 59), 134 hervorgehoben. 78 Diese Tradition (vgl. V. 227 perhibent - geradezu eine ‚Alexandrinische Fußnote’) geht auf Pindars 7. Olympische Ode 63f. zurück, vgl. Keudel (wie Anm. 59), 133, Anm. 44. <?page no="237"?> Satire / Invektive und Panegyrik 225 einem satirischen Praetext entwirft Claudian in seinem Panegyricus auf Stilichos Konsulat ein positives Gegenbild zu einer Szene aus seiner Invektive gegen Eutrop. Im ersten Buch der Invektive gegen Eutrop fordert Roma die ehrwürdigen Konsuln der römischen Republik auf, angesichts der schmachvollen Entweihung des Konsulats durch den Eunuchen Eutrop aus ihren elysischen Gefilden hervorzubrechen (In Eutr. 1[18], 449-465). 79 Curius quid sentit et ambo Darüber hinaus wendet Claudian ein Motiv aus Juvenals zweiter Satire, die als Hintergrund für Eutrops skandalöses Verhalten in der Invektive gegen Eutrop öfter als Praetext herangezogen wurde, ins Panegyrische. In der zweiten Satire stellt der satirische Sprecher sich vor, wie die Manen der altrömischen Krieger reagierten, wenn die gegenwärtigen Nachkommen, effeminierte Männer, in die Unterwelt gelangten (Iuv. 2, 153-157): Scipiadae, quid Fabricius manesque Camilli, quid Cremerae legio et Cannis consumpta iuventus, tot bellorum animae, quotiens hinc talis ad illos umbra venit? cuperent lustrari, ... Auf diesen satirischen Blick in die Unterwelt bezieht sich kontrastiv eine Szene aus Claudians Panegyricus auf Stilichos Konsulat. Die personifizierte Göttin Roma möchte die frohe Botschaft, daß nunmehr mit Stilicho endlich ein würdiger Konsul sein Amt antritt, persönlich in die Elysischen Gefilde tragen (cons. Stil. 2[22], 377-392): 80 vidit ut optato se consule Roma potitam, ‚nunc’, ait, ‚Elysii lucos inrumpere 81 nunc libet, ut tanti Curiis miracula voti campi, Fabriciisque feram, famae qui vulnere nuper 380 calcatam flevere togam: iam prata choreis pulsent nec rigidos pudeat lusisse Catones. audiat hoc senior Brutus Poenisque tremendi Scipiadae, geminis tandem quod libera damnis unius auxilio fasces Libyamque recepi. 385 ... splendida suscipiant alium te rostra Camillum, 390 ultorem videant servatoremque Quirites 79 Hierzu vgl. Birt (wie Anm. 4), 55, Schweckendiek (wie Anm. 9), 181. 80 Keudel (wie Anm. 59), 97 führt zudem noch Lucan. 6, 780-792 als „Ausgangspunkt ... für den Gedanken, daß die Konsuln in der Unterwelt an der gegenwärtigen Besetzung des Amtes anteilnehmen, und für den bei dieser Gelegenheit aufgeführten Heldenkatalog“ an und erinnert S. 98, Anm. 120 an Vergils Heldenschau, in der Aen. 6, 818 die fasces des ultor Brutus und Aen. 6, 841-843 Cato, die Scipionen und Fabricius erwähnt werden. 81 Das gewaltsame Verb irrumpere (378) für das Eindringen Romas ins Elysium ist kontrastiv auf ihren Wunsch in der Invektive gegen Eutrop bezogen, wo sie die verstorbenen Konsuln aufforderte, aus ihren Gräbern hervorzubrechen (In Eutr. 1[18], 451): prorumpite bustis. <?page no="238"?> Christine Schmitz 226 et populus quem ductor amas: ...’ Auch hier werden die ehrwürdigen Vorfahren wie vor allem Curius, Fabricius und Camillus namentlich beschworen. Im Gegensatz zu Juvenals zweiter Satire, in der sich die erlauchten Römer in der Unterwelt entsetzt von ihren dekadenten Nachfahren abwenden, vernehmen die berühmten Römer in Claudians Darstellung die Nachricht von Stilichos Konsulat mit Freuden. VI. Resümee: Satire und Panegyrik in Claudians politischer Dichtung Claudian versteht es, sich der in der satirischen Tradition entwickelten Strategien in virtuoser Weise zu bedienen, freilich nicht um ihrer selbst willen, sondern im Dienste seiner Aussage, deren panegyrische Tendenz für die Rezipienten von vornherein feststeht. Satirische und panegyrische Elemente sind in Claudians politischen Gedichten eng miteinander verschränkt. Die Herabsetzung der politischen Rivalen ruft sofort das hymnische Lob Stilichos auf den Plan. Die sogenannten Invektiven erschöpfen sich also nicht in der polemischen Vernichtung des namentlich benannten Gegners, sondern entwerfen vor allem das ideale Gegenbild, das in der Person des Stilicho konkrete Gestalt angenommen hat. Umgekehrt kommt auch der Panegyricus auf Stilichos Konsulat nicht ohne Negativfolie aus. Neben der persönlichen Schmähung der Gegner Stilichos erkennt man in den Invektiven allenthalben das Anliegen des Dichters, die Politik seines Gönners zu rechtfertigen, zu unterstützen, zu propagieren. Entsprechend werden die Gegner diffamiert, Motive tendenziös eingesetzt. Zwar klingt der empörte Ton eines Juvenal öfter an, die Stoßrichtung der Kritik ist jedoch von vornherein klar vorgegeben. Claudians Gedichte greifen unmittelbar in das Zeitgeschehen ein, beziehen deutlich Position, beeinflussen die öffentliche Stimmung. Zwar bedient sich der spätantike Dichter satirischer Themen und Darstellungsmittel - aber er schreibt keine Satiren. Zu sehr eingebunden in Stilichos politische Ambitionen unterstützt er einzig die Position des Mailänder Hofs, und hier wiederum besonders Stilichos persönliche Interessen. Tonlage und Duktus der Sprache bewegen sich überwiegend in epischer Manier, 82 auch wenn sich der Sprecher - hierin dem Erzähler in Lucans Pharsalia vergleichbar - mit entrüsteten Fragen, Ausrufen und Apostrophierungen immer wieder zu Wort meldet. 83 82 Anders als Claudian bedient sich Juvenal nur vorübergehend des hohen oder erhabenen Stils (zu den wechselnden Stilhöhen vgl. etwa J. G. F. Powell, Stylistic Registers in Juvenal, PBA 93, 1999, 311-334), während Horaz bekanntlich für seine Sermones eine zu Fuß gehende Muse (Musa pedestris, sat. 2, 6, 17) beansprucht. Wäh- 83 Vgl. z. B. In Ruf. 1[3], 196 quo, vaesane, ruis? (hierzu s. o. S. 203) und In Eutr. 1[18], 222f. quo struis hos auri cumulos? quae pignora tantis / succedent opibus? Zur gewandelten Rolle <?page no="239"?> Satire / Invektive und Panegyrik 227 rend sich die römischen Verssatiriker auf Lucilius als ihr Vorbild berufen, orientiert sich Claudian vor allem an epischen Mustern. Im Gegensatz zu den mythischen Heroen seiner epischen Vorgänger nimmt Claudian für seine Dichtung in Anspruch, einen wirklichen Helden darzustellen. Strategien der Überbietung bewegen sich nach zwei Richtungen: Die Gegner Stilichos übersteigen sogar die grausamsten Übeltäter, während Stilicho selbst die tapfersten Helden des antiken Mythos wie Bellerophon, Perseus und Hercules in den Schatten stellt. Am Midas-Motiv läßt sich zeigen, wie flexibel Claudian ein Motiv einsetzt: Bei der invektivischen Schmähung Rufins dient die Gestalt des Midas dazu, die unersättliche Gier zu veranschaulichen, im panegyrischen Lob Stilichos bietet der Midas-Mythos hingegen Gelegenheit, die Großzügigkeit des Konsuls zu illustrieren. Die im Hintergrund aufscheinenden mythologischen Figuren wie vor allem Midas oder Odysseus sind teilweise nur verdeckt präsent, werden aber durch intertextuelle Verweise deutlich vergegenwärtigt. Auch sie stehen im Dienst der panegyrischen bzw. invektivischen Aussage: Stilicho ist so standhaft und weise wie Odysseus, der habgierige Rufin ein zweiter Midas, Stilicho wiederum spendet zum Nutzen aller großzügig Reichtümer, die selbst die Schätze eines Midas übersteigen. Die allgemeinen Erörterungen nach Art der Diatribe, die in die Invektiven eingestreut sind, zeigen, daß die Gedichte gegen Rufin und Eutrop mit der Gattungsbestimmung „Invektive“ nicht ganz adäquat erfaßt werden. Die moralisierenden Einschübe lassen vielmehr erkennen, daß die Gedichte das Ganze in den Blick nehmen. Den Lastern werden Tugenden entgegengehalten, das Jetzt wird mit dem Damals kontrastiert, das Gute mit dem Schlechten, der Reiche mit dem Armen, usw. Virtutes und scelera liegen im Wettstreit miteinander. Laster werden ebenso wie Tugenden durch Menschen verkörpert. Rufins unmäßige Habgier wird durch seine Angleichung an die mythische Midas-Gestalt konkretisiert, das heißt aber auch typisiert. Claudian zeichnet ohnehin keine Charaktere, vielmehr Typen. Dies führt zu einer gewissen stereotypen Darstellung, die aber um einprägsame Bilder bereichert wird. Im Gegensatz zu Horaz, Persius und Juvenal ist die Aussage Claudians sehr viel eindeutiger, um nicht zu sagen einseitiger. Dennoch verfügt der spätantike Dichter über einen reichen Fundus an Themen und bedient sich der literarischen Tradition in einer raffiniert umformenden Weise, die den Leser mit immer neuen Wendungen überrascht. Diese produktive Adaptation liegt gerade auch in seinem kreativen Umgang mit satirischen Elementen in seinen politischen Dichtungen vor. des Erzählers insbesondere in Claudians Invektiven vgl. auch Schweckendiek (wie Anm. 9), 11. <?page no="240"?>