Exildiskurse der Romantik in der europäischen und lateinamerikanischen Literatur
0119
2011
978-3-8233-7514-2
978-3-8233-6514-3
Gunter Narr Verlag
Frank Estelmann
Olaf Müller
Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge umspannen die Zeit von den Anfängen der Französischen Revolution bis zu den Nachwirkungen romantischer Exildiskurse in der jüngeren brasilianischen und mexikanischen Literatur. Der Schwerpunkt liegt auf der Zeitspanne zwischen 1789 und der Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich auch in Spanien und in den lateinamerikanischen Ländern jeweils eine eigene Spielart der Romantik entfaltet hatte, oft vermittelt über zurückgekehrte Exilanten. Der weite Blick erlaubt es, Gemeinsamkeiten und Konstanten und damit das transnationale Moment in den unterschiedlichen Ausprägungen der nationalen Exildiskurse wahrzunehmen. So verband der Versuch, der persönlichen Exilerfahrung oder derjenigen eines literarischen oder literarhistorischen Gegenstands schreibend einen Sinn zu verleihen, alle Autoren, deren Texte analysiert werden. In der Entstehungsgeschichte literarischer Modernität wurde das Exil zu einer positiven Referenz erhoben.
<?page no="0"?> edition lendemains 13 Frank Estelmann / Olaf Müller (Hrsg.) Exildiskurse der Romantik in der europäischen und lateinamerikanischen Literatur <?page no="1"?> Exildiskurse der Romantik in der europäischen und lateinamerikanischen Literatur <?page no="2"?> edition lendemains 13 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück) und Hans Manfred Bock (Kassel) <?page no="3"?> Frank Estelmann / Olaf Müller (Hrsg.) Exildiskurse der Romantik in der europäischen und lateinamerikanischen Literatur <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Karte von Skythien, aus: H. Kiepert, Atlas antiquus. Berlin: Reimer 6. Aufl. 1876. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6514-3 <?page no="5"?> Inhalt Einleitung ........................................... 5 E XIL UND GESCHICHTSERFAHRUNG ZWISCHEN DEN REVOLUTIONEN IN FRANKREICH Walter Wagner: Emigrantinnen der Französischen Revolution im Exil in Wien ......... 17 Frank Estelmann: Die Entgrenzung des Exils zum privilegierten Ort poetischen Sprechens in Joseph Michauds Le printemps d’un proscrit (1803) .............. 29 Nicolas Robin: Le voyage souterrain: Naturwissenschaftliche Literatur und Exil bei Bory de Saint-Vincent ................................. 57 Niklas Bender: Die Exilierung des Exils. Fortführung und Aufhebung des romantischen Exils bei Balzac ....................................... 71 Olaf Müller: Vergil, Dante, Tasso und der „doloroso ospizio“ der Literatur: Romantische Autorschaft als Exil bei Chateaubriand ............... 87 I TALIEN : EXIL UND NATIONALE FRAGE Adriana Vignazia: Angelo Frignani: Ein carbonaro im Exil ....................... 109 Edoardo Costadura: Wissensaustausch und literarische Trauerarbeit im Pariser Exil: die italienische Zeitschrift „L’Esule - L’Exilé“ (1832-1834) ............ 131 Grazia Dolores Folliero-Metz: Literatur und ‚Exil‘ bei Vittorio Alfieri, Ugo Foscolo und Friedrich Schiller ............................................. 153 Giuseppe Gazzola: Dante, Foscolo, Mazzini und die Konstruktion einer falschen Genealogie .......................................... 177 Renate Lunzer: „Esule in casa mia, ma concittadino di più nazioni… : Der Italokroate Niccolò Tommaseo ..................................... 191 “ <?page no="6"?> S PANIEN , LATEINAMERIKA , KARIBIK : S PIELARTEN ROMANTISCHER EXILDISKURSE Stefan Schreckenberg: Verbannung und Zuflucht - Spielarten des Exildiskurses im Drama der spanischen Romantik .................................... 213 Gesine Müller: Exil als Heimat - Heimat als Exil? Zur romantischen Inszenierung von Entwurzelung bei Literaten der karibischen Kolonien Frankreichs und Spaniens (1838-1844) ................................... 227 Katja Carrillo Zeiter: Die Funktion des Exils in der argentinischen Literaturgeschichtsschreibung .............................. 243 Vera Lins: Alles ist Exil: Das romantische Exilgedicht in der brasilianischen Literatur und seine Parodien ..................................... 255 Mechthild Albert: Zur Poetik des Exils bei Angelina Muñiz Huberman ............... 267 Register ............................................. 277 <?page no="7"?> Einleitung Ein 1866 zum ersten Mal erschienener Gedichtband von Théodore de Banville fasst unter dem Obertitel Les Exilés knapp 50 zwischen 1857 und 1866 entstandene Gedichte des Autors zusammen. Die titelgebenden ‚Exilanten‘ sind, wie Banville selbst im Vorwort zur Ausgabe von 1874 betont, rein metaphorisch zu verstehen und bezeichnen ganz allgemein alle „passants épris du beau et du juste, qui au milieu d’hommes gouvernés par les vils appétits se sentent brûlés par la flamme divine, et, où qu’ils soient, sont loin de leur patrie, adorateurs des Dieux morts, champions obstinés des causes vaincues“. 1 Existentielle Exilanten, ‚überall fern der Heimat‘, sind für Banville also die Ästheten, die ‚göttlich Inspirierten‘, die Verteidiger von lost causes, die inmitten von Menschen leben müssen, die nur von ‚niederen Gelüsten angetrieben‘ werden. Die Exilanten werden bei Banville dabei ganz selbstverständlich mit dem Künstler identifiziert, der in einer verständnislosen Welt an den Werten einer verlorenen imaginären Heimat festhält. Sie sind für Banville deshalb ein überzeitlicher Gegenstand der Poesie: „Les Exilés! quel sujet de poëmes, si j’avais plus de force! En prononçant ces deux mots d’une tristesse sans bornes, il semble qu’on entende gémir le grand cri de désolation de l’Humanité à travers les âges et son sanglot infini que jamais rien n’apaise.“ 2 Exil kann in den Texten der Sammlung dann die Vertreibung der antiken Gottheiten nach dem Vorbild von Heines Göttern im Exil bedeuten („L’Exil des Dieux“), aber auch die Trennung zweier Liebenden („A Élisabeth“), das irdische Exil im christlichen Sinn („Amédine Luther“) und bisweilen die in der „Préface“ skizzierte Position des Künstlers und Vertreters des ästhetischen Prinzips in einer unsensiblen Gesellschaft, wie im 1860 verfassten poetischen Nachruf auf Musset („L’Ame de Célio“), in dem es heißt: puisque nous parlons dans ce temps misérable Où les Exilés seuls ont encor soif du beau, Et, dans leur pitié pour la muse adorable, Gardent le lys sans tache et le sacré flambeau […]. 3 Nur die Exilanten ‚dürsten noch nach Schönheit‘ und haben ‚Mitleid mit der Muse‘, sie sind die ‚Hüter der unbefleckten Lilie‘ und der ‚heiligen Flamme‘. Streicht man das Künstlerpathos weg, verweisen Banvilles Exilanten bereits auf einen entgrenzten Exilbegriff, der sich als Metapher für Modernitätserfahrung so gut zu eignen scheint, dass auf ihn noch im postmodernen Zusammenhang gerne 1 Théodore de Banville: „Préface“ zu Les Exilés. In: Œuvres poétiques complètes. Édition critique. T. IV : Les éxilés. Texte établi, notice, variantes et notes par François Brunet. […] Paris: Honoré Champion 1994, S. 6. 2 Ebd., S. 5. 3 Ebd., S. 141. <?page no="8"?> 6 Einleitung zurückgegriffen wurde, auch wenn sich ebenso Stimmen verzeichnen lassen, die ihn für unangemessen halten. Edward Said hat dieses auffällige Missverhältnis zum Ausgangspunkt seiner „Reflections on Exile“ gemacht und einleitend festgestellt: „Exile is strangely compelling to think about but terrible to experience. […] But if true exile is a condition of terminal loss, why has it been transformed so easily into a potent, even enriching, motif of modern culture? “ 4 Doch die Frage, was unter „true exile“ in einem konkreten Sinn zu verstehen sei, ist nicht so eindeutig zu beantworten, wie es erforderlich wäre, um den konkreten vom metaphorischen Gebrauch klar unterscheiden zu können. Gegen einen zu laxen Gebrauch des Begriffs hat sich vor kurzem Ilja Trojanow polemisch verwehrt. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Exilerfahrung hat er die „geradezu normative Qualität“ betont, „die dem Exil in der Literatur des 20. Jahrhunderts zukomme angesichts der Anzahl europäischer und aussereuropäischer Autoren, die entwurzelt und fremdgesättigt waren“. 5 Das dürfe jedoch nicht dazu führen, dass die literarisch gesehen positiven Folgen des Exils, von denen Trojanow spricht, den schmerzhaften und oft lebensbedrohlichen Hintergrund vergessen lassen, der das jeweilige Exil ursprünglich provoziert habe: Allerdings sollten wir das Phänomen ‚Exil‘ deswegen nicht gleich verherrlichen. Im sekundären Diskurs erfahren bestimmte Begriffe gelegentlich eine zweischneidige Popularität, so dass sie vor lauter Glanz und Glorie die schmerzhafte und widersprüchliche Realität, die sie zu beschreiben haben, nicht mehr heraufbeschwören können. In manchen Texten der gegenwärtigen Kulturwissenschaft scheint ‚Exil‘ aus seinem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang exiliert zu sein. Je vager der Begriff, desto attraktiver scheint er zu sein: Exil als Überbegriff der postmodernen Existenz schlechthin. Aufbewahrt im diskursiven Formaldehyd der postmodernen, postkolonialen, postfeministischen Wissenschaft, ähnelt Exil gelegentlich einer aufgedunsenen Leiche. Völlig unangebracht ist die übersteigernde Verallgemeinerung, wir alle seien heutzutage Exilanten, die Heimatlosigkeit Grundzustand in einer sich rasant verändernden, globalisierten Welt. 6 Trojanows Ausführungen stammen aus einer Rede, die er Ende November 2009 auf einer Tagung gehalten hat, die in Marbach unter dem Namenspatronat von Chamisso stattgefunden und die sich der „deutschsprachige[n] Literatur von Autoren aus aller Welt“ gewidmet hat. Neben dem aus Bulgarien stammenden Trojanow selbst ließen sich unter diesem Aspekt für die deutsche Literatur des späten 20. Jahrhunderts so unterschiedliche Autoren wie György Dalos, Libuše Moníková, Yoko Tawada, José Oliver, Galsan Tschinag, Feridun Zaimoglu, 4 Edward W. Said: Reflections on Exile [1984]. In: Ders.: Reflections on Exile and Other Literary and Cultural Essays. London: Granta 2000, S. 173-186, hier S. 173. 5 Ilja Trojanow: Migration als Heimat. Von den literarischen Früchten der Entwurzelung und den Agenten der Mehrsprachigkeit. In: Neue Zürcher Zeitung, 30. November 2009. 6 Ebd. <?page no="9"?> Einleitung 7 Ilma Rakusa, Emine Sevgi Özdamar, Wladimir Kaminer oder Terézia Mora nennen. Nicht alle diese Autoren befinden sich im deutschsprachigen Raum im Exil, aber sie teilen als Autoren das Los des adligen französischen Emigranten Louis Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt, dessen Eltern während der Französischen Revolution aus dem heimatlichen Schloss in der Champagne flohen und sich mit dem Kind schließlich in Berlin niederließen. Mit fünfzehn Jahren trat der junge Emigrant 1796 in den Dienst der Königin von Preußen, 1814 wurde er unter dem Namen Adelbert von Chamisso mit seiner Geschichte von Peter Schlemihl europaweit als Vertreter der romantischen Literatur in deutscher Sprache bekannt. An Chamissos Beispiel lässt sich damit auch die fließende Grenze zwischen Exil und Heimat beobachten: Kann man den Schlemihl 1814 noch als das Werk eines Exilanten betrachten, wenn der 1781 geborene Chamisso zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als zwei Drittel seines Lebens in dem Land verbracht hat, in das seine Eltern emigriert waren? Dennoch ist Chamisso als Emigrant und späterer Weltreisender ein nahezu idealer Repräsentant der Verbindung von Exilerfahrung und romantischem Aufbruch zur Moderne, der der vorliegende Band an ausgewählten Beispielen aus den Literaturen der ‚Romania‘ nachgeht. Die Entscheidung, besonders den Zusammenhang von Romantik und Exil in den Blick zu nehmen, lässt sich rein äußerlich mit der zeitlichen Koinzidenz der großen Emigrationswellen in der Folge der Französischen Revolution 7 und den Anfängen der romantischen Bewegung in England und Deutschland rechtfertigen. Vielen Emigranten verschaffte die Exilerfahrung einen ersten Kontakt mit der englischen und deutschen Literatur und Philosophie der beginnenden Romantik, über die einige von diesen Emigranten dann nach ihrer Rückkehr oder sogar noch von ihren Exilorten aus für ein französisches Publikum berichteten. Auf diese Weise entstanden der Spectateur du Nord, der unter Beteiligung von Charles de Villers ab 1797 in Hamburg erschien, sowie ab 1804 die Archives littéraires de l’Europe unter Leitung von Charles Vanderbourg. Durch solche Unternehmungen wurden einige Emigranten zu wichtigen Agenten des Kulturtransfers, ganz entgegen den Porträts ehemaliger émigrés als anachronistischen Überresten des Ancien Régime, die sich bei Stendhal, Balzac oder stellenweise sogar bei Chateaubriand finden lassen. Dabei waren die Exilanten der Romantik meist nicht nur von kollektiven Bewegungen stimulierte Autoren, sondern verstanden sich im kulturellen Transfer und interkulturellen Dialog ebenso als Sprecher, Organisatoren, Konstrukteure dieser Kollektive, auch wenn sich in ihren Exilschriften oft die Tendenz zu 7 Genaue Zahlen lassen sich nicht ermitteln, die zuverlässigsten Schätzungen gehen aber von 150.000 bis 160.000 Emigranten in der Zeit zwischen 1791 und 1801 aus; vgl. Donald Greer: The Incidence of the Emigration during the French Revolution. Gloucester, Mass.: Peter Smith 1966 [zuerst Cambridge, Mass. 1951], S. 20. <?page no="10"?> 8 Einleitung zeigen scheint, die Anliegen des Exils im Überzeitlichen aufzuheben oder gar in mythologisierender Absicht den historischen Produktions- und Rezeptionskontext, dem diese Schriften geschuldet sind, auszublenden. So kann der romantische Exildiskurs auf Orte des Wissensaustausches und der kollektiven Selbstverständigungsprozesse rückbezogen werden, in dem ihm Geltung verschafft wurde, wie etwa auf den von Edoardo Costadura behandelten Salon Cristina di Belgiojosos im Paris der 1830er Jahre, in dem sich neben prominenten italienischen Exilanten auch z.B. Victor Cousin und Heinrich Heine umtaten. Anders als es das ‚romantisierte‘ Bild des weltabgeschiedenen Exilanten zu suggerieren scheint, entzogen sich also nur die wenigsten romantischen Exilanten der Möglichkeit einer ernsthaften Beschäftigung mit der Kultur des Aufnahmelandes in der radikalen Weise, die Victor Hugo wählte, als er sich auf die einsamen Felsen der Kanalinseln zurückzog, um vom Ozeanblick von Hauteville-House aus, mit Blick in Richtung der Heimat, seine politischen Gegner aus der ‚ungestörten‘ Einsamkeit heraus zu attackieren. Repräsentativer waren tatsächlich jene italienischen Exilanten um die Zeitschrift L’Exilé / L’Esule, von denen Adriana Vignazia in ihrem folgenden Beitrag berichtet, dass sie sich vom Besuch der Einrichtungen des Gastlandes Frankreich - wie dem Parlament, Schulen oder Universitäten - tieferen Einblick in die Mechanismen demokratischer Gesellschaftsverfassung erhofften. Andere, wie Chateaubriand, kamen im Exilland mit der Literatur des Gastlandes überhaupt erst richtig in Berührung. Die Schule des Exils war nicht nur ein Kampf ums Überleben oder für eine baldige Rückkehr. Aus der Rückschau, die in Frankreich spätestens um 1860 einsetzt, wie die eingangs zitierten Beispiele von Banville und das Beispiel Hugos zeigen, konnte die Exilerfahrung der romantischen Periode daher auch als Signum der Erwähltheit gedeutet werden. Bei Baudelaire lässt sich, wie bei Banville, eine Identifikation des Exilanten mit dem Künstler beobachten, die den ersten Emigranten ab 1790 vermutlich als abwegig erschienen wäre, die jedoch in der Nachfolge romantischer Entwürfe der Künstlerfigur denkbar und, wie der Gebrauch bei Banville zeigt, um die Mitte des 19. Jahrhunderts fast schon banal geworden ist. Die im Exildiskurs seit der Antike und der biblischen Tradition bereitstehenden Figuren - der exilierte Ovid und das Volk Israel im babylonischen Exil, um es schlagwortartig zu sagen -, ermöglichten es retrospektiv, einen zunächst kontingenten Ursachen geschuldeten Gang ins Exil teleologisch zu überhöhen. In diesem Sinne sind auch noch Heines Äußerungen über das „geweihte Land der Freiheit“ und das „neue Jerusalem“ zu verstehen, wenn er 1830 über seinen Exilort Paris spricht, 8 der ihm in diesen Formulierungen unter dem Aspekt einer 8 Englische Fragmente. In: Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb, Bd. 2. München: dtv 1997, S. 601, dort auch das folgende Zitat; vgl. dazu auch Michael Werner: Ansichten des Exils. Zu einem Grundthema bei Heine. In: Bernd Kortländer / Sikander Singh (Hg.): „…und die Welt ist so lieblich verworren“. Heinrich Heines dialektisches Denken. Festschrift für Joseph A. Kruse. Bielefeld: Aisthesis 2004, S. 175-189. <?page no="11"?> Einleitung 9 Heilsgeschichte der Freiheit („Freiheit ist eine neue Religion, die Religion unserer Zeit“) zu einer zweiten und besseren Heimat geworden ist. Das romantische Exil aktualisiert nicht nur alte Wahrnehmungsmuster, in deren Rezeptionszusammenhang die „Leid-Erfahrung des Exils“ als eine seit der Antike gängige „Grundbefindlichkeit des Individuums“ 9 , als überzeitliches Menschheitsgeschick oder „geistige Lebensform“ 10 erscheinen kann. Es kann auch für die Wahrnehmung moderner Identitätsproblematiken und Entfremdungsphänomene sensibilisieren. 11 In einem neueren Sammelband zum Roman der französischen Emigration nach 1789 stellen die Herausgeberinnen daher fest, der in diesen Texten wirksame Diskurs bilde so etwas wie la matrice d’une littérature de l’Exil et de l’aliénation identitaire qui constitue l’un des caractères marquants de la modernité, à partir de 1800. Le personnage historique de l’émigré est le premier représentant de l’errant romantique, de l’individu étranger à son temps et à sa patrie. […] L’émigré concentre, idéalement si l’on ose dire, les caractéristiques d’un drame identitaire. 12 Der Versuch, der persönlichen Exilerfahrung oder derjenigen eines literarischen oder literarhistorischen Gegenstands schreibend einen Sinn zu verleihen, verbindet alle Autoren, deren Texte auf den folgenden Seiten analysiert werden. Dass das Exil für die meisten dieser Autoren noch nicht selbstverständlich eine positive Größe ist, die sich als Ausdruck der eigenen Modernität interpretieren ließe, ändert nichts daran, dass es dennoch jeweils einen relativen Schutzraum bedeutet, der ungeachtet aller Unannehmlichkeiten und Gefahren, die mit jedem Exil auch verbunden sind, eine Verbesserung oder zumindest ein Abwenden größerer Gefahren und Bedrängnisse in einer ersten Heimat mit sich bringt. Eine neue Qualität des Exils in der Zeit der Romantik hängt auch damit zusammen, dass die Entstehung national gefasster Staatlichkeit und die Entwicklung eines immer flächendeckenderen administrativen Apparats es mit sich brachten, dass 9 Ernst Doblhofer: Exil - eine Grundbefindlichkeit des Individuums seit der Antike. In: Hermann Haarmann (Hg.): Innen-Leben. Ansichten aus dem Exil. Ein Berliner Symposium. Berlin: Fannei & Walz 1995, S. 13-40. 10 Helmut Koopmann: Exil als geistige Lebensform. In: Ders. / Klaus Dieter Post (Hg.): Exil. Transhistorische und transnationale Perspektiven / Exile. Transhistorical and Transnational Perspektives. Paderborn: mentis Verlag 2001, S. 1-19. 11 Stefan Schreckenberg analysiert in seinem Beitrag zum vorliegenden Band den Exildiskurs im Drama der spanischen Romantik unter dem Aspekt der Herausbildung eines modernen Begriffs von Individualität. 12 Claire Jaquier, Florence Lotterie, Catriona Seth: Introduction. In: Dies. (Hg.): Destins romanesques de l’émigration. Paris: Desjonquères 2007, S. 9-26, hier S. 15; vgl. auch Nicolas Perot: Épistolaire et romanesque dans l’émigration: Chateaubriand, Sénac de Meilhan, Senancour, Madame de Staël. In: Exil et épistolaire aux XVIII e et XIX e siècles. Des éditions aux inédits. Hg. von Rodolphe Baudin u.a. Clermont-Ferrand: Presses universitaires Blaise Pascal 2007 (= Cahiers d’études sur les correspondances des XIX e et XX e siècles 16), S. 141-153. <?page no="12"?> 10 Einleitung Exil nun nicht mehr der Rückzug in die Provinz - im Falle Frankreichs - oder in angrenzende Territorialstaaten - innerhalb des deutschen Reichs - sein konnte, 13 wie dies in der frühen Neuzeit noch möglich war. 14 Exil bedeutete deshalb vor allem die Flucht in eine sprachlich und kulturell meist fremde neue Umgebung, die die Exilanten mit Alteritätserfahrungen konfrontierte, die auch die Selbstwahrnehmung neu perspektivieren oder in Frage stellen konnten. Es ist deshalb auch von Formen der Verbannung zu unterscheiden, die von der im eigenen Land herrschenden Macht verfügt und kontrolliert werden und die darin bestehen, die Gefangenen an möglichst unwirtliche Ort der Peripherie des eigenen Herrschaftsbereichs zu transportieren. Ovids Exil ist in diesem Sinne vor allem eine Verbannung an die extreme Peripherie, keine ‚selbstbestimmte‘ Flucht, um sich drohender Verfolgung in der Heimat zu entziehen; das biblische Exil des jüdischen Volks ist eher eine Massenverschleppung in eine Gefangenschaft in der Fremde. 15 Auch Phänomene wie die zaristische ‚Katorga‘ oder die Verbannung antifaschistischer Regimegegner an die äußersten Grenzen Italiens, der sogenannte confine während der Herrschaft Mussolinis, die manchmal als Exil bezeichnet werden, 16 sind mit dem nachrevolutionären Exil der Romantik nur bedingt zu vergleichen. Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1860) beschreiben zwar furchtbare Entfremdungserfahrungen und die Angst vor dem Ende der eigenen psychischen und physischen Existenz, aber sie enthalten eben keine Momente selbstverantworteter Freiheit, die positive neue Selbstentwürfe oder produktive Alteritätserfahrungen ermöglichen würden. Diese Erfahrung, auf das eigene Ich zurückgeworfen zu sein, darin aber auch die Gelegenheit zu intensiver Ich-Analyse in einer fremden, unter günstigen Umständen intellektuell bereichernden Umgebung zu erhalten, unterscheidet das Exil der im vorliegenden Band untersuchten romantischen Autoren von überwachter Verbannung an einen unwirtlichen Gefängnisort. Elisabeth Bronfen hat diesen Aspekt betont, wenn sie unter Exil zwar zunächst die erzwungene, mit existentieller Bedrohung verbundene Herauslösung aus einem als ‚Heimat‘ oder ‚Herkunft‘ empfundenen Kontext versteht, dann aber betont, die exilierten Autoren hätten darauf mit einem neuen Selbstentwurf und einer Metaphorisierung des Exils reagiert: 13 Vgl. dazu im Folgenden die Ausführungen von Grazia Folliero-Metz zu Friedrich Schiller. 14 Für einen Überblick über die Lage im Ancien Régime vgl. Gerd Schwerhoff: Vertreibung als Strafe. Der Stadt- und Landesverweis im Ancien Régime. In: Sylvia Hahn, Andrea Komlosy, Ilse Reiter (Hg.): Ausweisung - Abschiebung - Vertreibung in Europa. 16.- 20. Jahrhundert. Innsbruck u.a.: StudienVerlag 2006, S. 48-72. 15 Pinchas E. Rosenblüth: Exil II: Judentum. In: Theologische Realenzyklopädie. […] Bd. 10. Berlin / New York: de Gruyter 1982, S. 710-714. 16 Andrew A. Gentes: Exile to Siberia, 1590-1822. Corporeal Commodification and Administrative Systematization in Russia. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008. <?page no="13"?> Einleitung 11 Exil umfaßt sowohl die erzwungene wie auch die freiwillig gewählte Trennung eines Menschen von dem ihm vertrauten Ort, und d. h. von seiner Familie, seiner Vergangenheit, seinem Erbe, von seinem gesellschaftlichen Kontext und seiner kulturellen Sprache, womit wörtlich die Muttersprache bzw. im übertragenen Sinne die angeeigneten kulturellen Regeln und Bräuche gemeint sein können. Auf diese Entwurzelung und Entortung, die zuerst eine Weltlosigkeit zur Folge hat, muß mit einem neuen Selbstentwurf reagiert werden, genauer mit dem Versuch, in narrativer Form das zerbrochene Leben wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen. 17 Ein solches neues, verändertes Zusammensetzen eines ‚zerbrochenen Ganzen zeigt sich am Exil karibischer und südamerikanischer Intellektueller in Spanien oder Frankreich, 18 am Exil italienischer Intellektueller in Frankreich oder England, 19 an den französischen Emigranten in England, Österreich oder Deutschland, 20 oder an den spanischen Romantikern im französischen oder englischen Exil. 21 Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge umspannen die Zeit von den Anfängen der Französischen Revolution bis zu den Nachwirkungen romantischer Exildiskurse in der brasilianischen und mexikanischen Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Der Schwerpunkt liegt allerdings auf der Zeitspanne zwischen 1789 und der Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich auch in Spanien und in den lateinamerikanischen Ländern jeweils eine eigene Spielart der Romantik entfaltet hatte, oft vermittelt über zurückgekehrte Exilanten. Der weite Blick erlaubt es, Gemeinsamkeiten und Konstanten und damit das transnationale Moment in den unterschiedlichen Ausprägungen der nationalen Exildiskurse wahrzunehmen. In den Anfängen ist dabei zu beobachten, wie die Exilerfahrung bei 17 Elisabeth Bronfen: Exil in der Literatur: Zwischen Metapher und Realität. In: Arcadia 28 (1993), S. 167-183. 18 Vgl. die Beiträge von Katja Carrillo Zeiter, Vera Lins und Gesine Müller, sowie den Beitrag von Mechthild Albert zum Übergang vom konkreten zum metaphorischen Exil am Beispiel von Angelina Muñiz Huberman, die als späte Repräsentantin des spanischen republikanischen Exils in Kuba und México symbolisch an das Exil der Romantiker anschließt. 19 Dazu im Folgenden die Beiträge von Adriana Vignazia und von Edoardo Costadura über Angelo Frignani und die italienische Exilzeitschrift L’Esule / L’Exilé, von Renate Lunzer zu Niccolò Tommaseo und von Giuseppe Gazzola zu Ugo Foscolo und Giuseppe Mazzini. 20 Vgl. die Beiträge von Walter Wagner zum französischen Exil der ersten Revolutionszeit, von Nicolas Robin zum oft vergessenen Exil während der Restauration ab 1815 und von Niklas Bender zu den metaphorischen Weiterungen dieser zeithistorischen Vorgaben bei Balzac. Zum Exil der ehemaligen Revolutionäre nach 1815 vgl. Sergio Luzzatto: Il Terrore ricordato. Memoria e tradizione dell’esperienza rivoluzionaria. Nuova edizione ampliata. Torino: Einaudi 2000. 21 Vgl. dazu neben den Ausführungen bei Stefan Schreckenberg im vorliegenden Band das Standardwerk von Vicente Llorens zum spanischen Exil in England: Liberales románticos. Una emigración española en Inglaterra (1823-1834). Madrid: Castalia [zuerst Mexico 1954] 2006. <?page no="14"?> 12 Einleitung zahlreichen Autoren dazu führt, dass sie an einen sensiblen Stil in der Nachfolge Rousseaus anschließen, der nun aber bewusst gegen den Staatsklassizismus der Revolution und der beginnenden napoleonischen Herrschaft gewendet und mit den Eindrücken der englischen oder deutschen Romantik verbunden werden kann. Zu den einflussreichsten Texten der frühen französischen Romantik zählen deshalb mit den Werken Chateaubriands, Mme de Staëls oder Senancours nicht zufällig Werke, in die die Eindrücke und Erfahrungen des Exils eingegangen sind. Diesen fließenden Übergang von Empfindsamkeit in Romantik, bei dem das Exil als Vermittlungsinstanz fungiert, kann man auch in weniger gelesenen, aber nicht weniger aussagekräftigen Exiltexten wie Sénacs Émigré oder dem im Folgenden analysierten Printemps d’un proscrit von Michaud feststellen. Wenn Michaud die im Exil beobachtete Natur zur Ideallandschaft gegenüber der von den Revolutionssiegern beherrschten Stadt und damit zur eigentlichen Heimat der empfindsam-lyrischen Stimme wird, dann bezeichnet er damit eine Positivität des Exils, die wir auch bei Chateaubriand finden, der das Exil, im konkreten und im existentiellen Sinn, zur Bedingung großer Literatur stilisiert. 22 Im risorgimentalen Diskurs in Italien kann das Exil sogar zum Geburtsort der regenerierten Nation und damit zum nationalen Gründungsmythos werden. Die Erhebung zum nationalen Gründungsmythos gilt nicht nur für das publizistische Wirken der Exilanten selbst; es prägt noch Bedeutung und Platz, die der Exilerfahrung prominenter Exilanten in den nationalen Literaturgeschichtsschreibungen retrospektiv eingeräumt wurde. Carlo Cattaneos Kommentar, Ugo Foscolo habe der italienischen Nation mit dem Exil eine neue ‚Institution‘ gegeben - den Giuseppe Gazzola darlegt - ähnelt darin dem von Katja Carrillo Zeiter untersuchten Blick argentinischer Literaturhistoriker wie Ricardo Rojas auf den romantischen Autor und Exilanten Esteban Echeverría. Solche retrospektiven literarhistorischen Aneignungen des romantischen Exildiskurses können selbst noch in dessen Wirkkreis situiert werden. Das Verhältnis von Exil und Heimat, das definitorisch nur selten stabil ist, wie das Beispiel Chamissos zeigen kann, wird in kolonialen Konfigurationen noch unklarer. Wenn Hugo den von Paris nach Martinique zurückgekehrten Maynard de Queilhe 1835 als „poète exilé sous le soleil“ anredet, 23 obwohl dieser schlicht an den Ort seiner Geburt gereist ist, wird im Blick Hugos die Relation von Heimat und Exil durch diejenige von Metropole und kolonialer Peripherie überlagert. Doch genügt es schon, den Blick von den national ausgerichteten Verhältnissen der westlichen Romania in die zwischen venezianischer und habsburgischer Herrschaft wechselnden Gegenden der Ostromania zu wenden, um zu sehen, wie fragil und komplex Identitätsentwürfe sind, die unter Exilbedingungen sich über geographische, politische oder sprachliche Zugehörigkeiten zu definieren versuchen. Ähnlich verhält es sich mit Autoren die sich 22 Vgl. dazu die Beiträge von Olaf Müller und Frank Estelmann im vorliegenden Band. 23 Vgl. dazu den Beitrag von Gesine Müller im vorliegenden Band. <?page no="15"?> Einleitung 13 zwischen den Metropolen und den Kolonien des spanischen oder französischen Kolonialreichs bewegen. Der in Dalmatien geborene Niccolò Tommaseo oder der auf einer venezianischen Kolonie im ionischen Meer zur Welt gekommene Ugo Foscolo in ihrem jeweiligen Verhältnis zur italienischen Literatur, die auf Kuba geborene und in Madrid lebende Gertrudis Gómez de Avellaneda oder die in Südfrankreich als Tochter republikanischer Bürgerkriegsflüchtlinge geborene, auf Kuba und in Mexiko aufgewachsene Angelina Muñiz Huberman in ihrem jeweiligen Verhältnis zur spanischen Literatur vermitteln allein biographisch eine Vorstellung von den Schwierigkeiten, Exil und Heimat in ein sprachlich, geographisch oder auch nur sentimental klar definiertes Verhältnis zu bringen. Die Beiträge des vorliegenden Bands gehen auf die gemeinsame Arbeit in einer Sektion des Romanistentags in Wien von 2007 zurück. Wir danken den Autoren, dem Verlag und den Herausgebern der Reihe „edition lendemains“ für die Geduld und die erfreuliche Zusammenarbeit. Frankfurt am Main / Jena, im August 2010 die Herausgeber <?page no="17"?> E XIL UND GESCHICHTSERFAHRUNG ZWISCHEN DEN REVOLUTIONEN IN FRANKREICH <?page no="19"?> Walter Wagner Emigrantinnen der Französischen Revolution im Exil in Wien Ist die französische Emigration nach Österreich während der Großen Revolution und des Empire verschiedentlich thematisiert worden, so steht meines Wissens eine gesonderte Untersuchung über das Wiener Exil französischer Aristokratinnen noch aus. 1 Wenn man die Fülle der mehrheitlich von Emigranten verfassten autobiografischen Aufzeichnungen aus dieser Zeit in Rechnung stellt, scheint der reduzierte Fokus auf die eher vernachlässigten weiblichen Erfahrungsberichte legitim. Meine Arbeit verfolgt dabei folgende Ziele: Zunächst soll die Praxis des Exils in Wien anhand von Berichten von Betroffenen und Zeugen referiert werden. Anschließend wird der Exildiskurs in imagologischer Perspektive beleuchtet, um festzustellen, inwieweit die individuelle Perzeption des Fremden mit den bekannten Nationalstereotypen konvergiert. Die Wiener Gesellschaft als Metonymie des homo austriacus tritt dabei in Opposition zur entwurzelten Aristokratie des Ancien Régime, die den identitätsbedrohlichen Kulturschock in den jeweiligen Texten mittels Ironie, Satire oder nostalgischer Evokation eines idealen Vaterlands abfedert. Abschließend soll analysiert werden, inwieweit die diskursive Auseinandersetzung mit Exil und Alterität von der romantischen Geisteshaltung und Weltsicht geprägt wurde. Anders gesagt, wie könnten Mythen der romantischen Kulturrevolution den Blick auf die Wiener Gesellschaft verzerrt haben? In diesem Zusammenhang wird Mme de Staël zu Wort kommen, die sich als politisch Verfolgte unter Napoleon zweimal in der Hauptstadt des Habsburgerreichs aufhielt und sich darüber hinaus als Komparatistin avant la lettre der Kultur des deutschen Nachbarn - und damit meinte sie auch Österreich - in mehreren ihrer Werke widmete. Die Zahl jener Angehörigen des französischen Land- und Hofadels, die von 1789 bis 1815 Wien als permanenten oder temporären Fluchtort wählten, ist in der Tat erheblich. 2 Zu deren namhaftesten Vertreterinnen zählen u.a. Mme Roy- 1 Zum Exil in Österreich während der Französischen Revolution und des Empire siehe u.a.: Fernand Baldensperger: Le Mouvement des Idées dans l’Émigration Française (1789- 1815), Bd. 1. Paris: Plon 1924; Ghislain de Diesbach: Histoire de l’Emigration. 1789- 1814. Paris: Grasset 1975; Maria Pawlik: Emigranten der Französischen Revolution in Österreich (1789-1814). Unveröffentl. Dissertation. Wien 1967; Justus Schmidt: Die Emigrantenkolonie in Wien. In Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Stadt Wien. Band 11 (1931), S. 108-109. 2 Laut einer nicht näher bezeichneten Notiz im Journal de Paris sollen 1813 13.278 Ausländer in Wien gelebt haben. Vgl. Pawlik: Emigranten der Französischen Revolution in Österreich (1789-1814) [Anm. 1], S. 133. <?page no="20"?> 18 Walter Wagner ale, die Schwester Marie-Antoinettes; die Gattin La Fayettes; Mme de Brionne, die man in Wien „la princesse de Lorraine“ 3 nannte und die als Erzieherin der Söhne Ludwigs XV. gewirkt hatte; Mme de Polignac, die einstige Favoritin Marie-Antoinettes, die wie die vorhin Erwähnten keine Memoiren hinterließ. Schriftliche Zeugnisse dieser bewegten Epoche verdanken wir hingegen der Baronne du Montet, der Duchesse de Saulx-Tavanes, der Malerin Vigée-Lebrun und natürlich Mme de Staël sowie den Zeitzeuginnen Caroline Pichler und der Gräfin Lulu Thürheim, in deren Erinnerungen die Präsenz der französischen Flüchtlinge kommentiert wird. Was die Lebensbedingungen der Exilanten betrifft, so zeichnet Ghislain de Diesbach in seiner Histoire de l’Emigration ein negatives Bild von der Akzeptanz ausländischer Gäste am kaiserlichen Hof. Er schreibt: „[…] Le sort de la plupart des émigrés français réfugiés en Autriche reste peu brillant car la cour de Vienne se montre à leur égard infiniment moins généreuse que celles de Pétersbourg ou de Saint-James.“ 4 Dass sich die europäischen Fürstenhäuser mit Ausnahme von England und Russland, die sich aufgrund ihrer mächtigen Flotte bzw. geografischen Lage vor wie immer gearteten Aggressionen sicher wähnten, kaum für das Schicksal der französischen Aristokratie interessierten, erstaunt in realpolitischer Sicht keinesfalls. Immerhin fürchtete das Haus Habsburg während der Französischen Revolution, dass seine Untertanen vom jakobinischen Ungeist infiziert würden, und hielt es im Zuge der napoleonischen Feldzüge für klüger, den Feind nicht durch allzu freundliche Aufnahme von Oppositionellen zu erzürnen. Die Baronne du Montet bestätigt diese Vorbehalte vonseiten der Regierung: Il y a avait d’ailleurs alors à la cour, dans la haute société, ainsi que dans les autorités supérieures, une méfiance pusillanime contre tous les Français en général, et particulièrement contre ceux d’un très haut rang, que l’on supposait infatués d’idées philosophiques et de préjugés contre les mœurs simples de la famille impériale. 5 Die von höchster Stelle praktizierte Skepsis gegenüber den Exilanten dürfte vom Hochadel übernommen und internalisiert worden sein, wie wir aus gleicher Quelle erfahren: „Dans ma jeunesse, il y avait encore à Vienne, dans presque toute la haute noblesse, une antipathie extraordinaire pour la noblesse française, la noblesse émigrée surtout.“ 6 Zeigt man sich in höfischen Kreisen also reserviert gegenüber den Neuankömmlingen, so begegnet ihnen die Bevölkerung mit offener Ablehnung, wie die bereits erwähnte Chronistin berichtet. Als die Baronin mit ihren Eltern eines 3 Alexandrine Prévost de la Boutetière de Saint-Mars, baronne de Fisson du Montet: Souvenirs de la Baronne du Montet. 1785-1866. Paris: Plon 1904, S. 35. 4 Diesbach: Histoire de l’Emigration [Anm. 1], S. 428. 5 Montet: Souvenirs de la Baronne du Montet [Anm. 3], S. 35. 6 Ebd., S. 264. <?page no="21"?> Emigrantinnen der Französischen Revolution im Exil in Wien 19 Abends einer Einladung der franzosenfreundlichen Prinzessin Crosalcowitz 7 folgen wollte, wurde sie am Eingang zum Palais von zwei Dienern aufgehalten, „qui ne pouvaient se résoudre à laisser entrer des Français dans l’hôtel de la princesse“ 8 . Derartigen Schikanen zum Trotz standen den Exilanten viele Salons des österreichischen und französischen Adels offen, etwa jener der Gräfin Potocka, von der überliefert ist: „Sa maison était le rendez-vous de tous les émigrés de distinction.“ 9 Andere Treffpunkte, die von der französischen Diaspora in Wien frequentiert wurden, waren die jours fixes des Prince de Ligne, der Baronne du Montet, der Comtesse de Brionne und von Mgr de la Fare, des ehemaligen Bischofs von Nancy, die allesamt als aufrechte Royalisten galten. 10 Ungeachtet des prekären Status der in Wien weilenden Franzosen, deren einzige Integrationsbemühungen darin bestanden, das Hofleben bzw. die Salonkultur des Ancien Régime zu perpetuieren und die nichts mehr herbeisehnten als den Zeitpunkt der Heimkehr, durften sie auf eine bisweilen überraschende Solidarität der Bewohner des Gastlandes zählen. Die Duchesse de Saulx-Tavanes erinnert in ihren Memoiren an eine Mme de Romberg, die einem bretonischen Edelmann über mehrere Jahre eine Pension ausbezahlte, 11 wobei die Autorin generell „la bonté commune aux princes de la maison d’Autriche“ 12 betonte. Ihre Verbundenheit mit der Stadt, die lediglich eine Etappe auf der Flucht nach Russland darstellt, bringt sie rückblickend folgendermaßen auf den Punkt: „J’aurais désiré d’ailleurs prolonger mon séjour à Vienne.“ 13 Dieser Eindruck wird von Vigée-Lebrun bestätigt: „Il me serait difficile d’exprimer toute la reconnaissance que je conserve du bon accueil que j’ai reçu dans cette ville.“ 14 Von außerordentlicher Frankophilie und Philanthropie zeugt die Hilfsbereitschaft der Familie des Grafen Thürheim, in deren Diensten der französische Hauslehrer Abbé Maas und die Kammerjungfer Mlle Marchand standen. Dar- 7 Montet hebt die Gastfreundschaft der Familie lobend hervor: „Je parlerai d‘une maison où nous fûmes reçues avec la plus aimable bienveillance, quoique Françaises […]“ (ebd., S. 29). 8 Ebd. 9 Ebd., S. 32. 10 Vgl. Diesbach: Histoire de l’Emigration [Anm. 1], S. 429. 11 Vgl. Aglaé de Saulx-Tavanes: Sur les routes de l’émigration. Mémoires de la Duchesse de Saulx-Tavanes (1791-1806), publiés avec une introduction et des notes par le Marquis de Valous. Paris: Calmann-Lévy 1934, S. 114. 12 Ebd., S. 115. 13 Ebd., S. 113. 14 Marie Louise Elisabeth Vigée-Lebrun: Souvenirs de Madame Vigée Le Brun, Bd. 1. Paris: Charpentier 1869, S. 282. <?page no="22"?> 20 Walter Wagner über hinaus beherbergte der Hausherr „mehr oder minder lange verschiedene emigrierte Familien“ 15 und nahm sich generös mittelloser Emigranten an: Mehrere Geistliche, verschiedene Edelleute aus Frankreich verließen das Schloß mit Geschenken und Geldspenden reichlich bedacht. Einiger Namen erinnere ich mich noch, so eines Grafen Des Essarts, eines M. d’Aldegonde; der erstere kam zu Fuß und ohne einen Sou in der Tasche zu uns. Wie viele solcher Emigrierter liefen zu dieser Zeit in Deutschland, England und Österreich herum und empfingen auf diskrete Weise Unterstützungen und wie wenige haben sich später, als sie zu Wohlstand kamen, ihrer Wohltäter erinnert! 16 Mit Ranküne wird hier die Erinnerung an die Emigranten beschworen, die, wie Nina Rubinstein ausführt, „sich als Märtyrer, als unschuldig Leidende fühlten“ 17 und im vorliegenden Fall ihre Opferrolle missbrauchten. Ungeachtet diverser Misshelligkeiten zwischen der Bevölkerung des Gastgeberlandes und den Emigranten mündet die anfängliche Distanz zu den Fremden zumindest in der gehobenen Gesellschaft in ein durchaus von Verständnis geprägtes Zusammenleben, wie Diesbach befindet: „Ceux-ci [= die Emigranten] finissent par être bien accueillis dans nombre de maisons de l’aristocratie où l’on rend tardivement justice à leur courage, leur gaieté et leur invincible foi dans le triomphe de la bonne cause.“ 18 Nach diesem Einblick in die prekäre Praxis der Emigration, deren Darstellung als integraler Bestandteil im Exildiskurs figuriert, soll die nicht minder konstitutive transnationale Perzeption im Zuge des unfreiwilligen Auslandsaufenthaltes analysiert werden. Wir rekurrieren hierbei auf die imagologischen Theorien von Ruth Florack und Daniel-Henri Pageaux, um die nationaltypischen Zuschreibungen im Kontext der Exilliteratur zu interpretieren. Wird kulturelle Differenz in der Alltagsrede sowie in literarischen Texten noch immer auf der Basis von völkerpsychologischen Postulaten erklärt, die einen invarianten Nationalcharakter voraussetzen, werden diese in der modernen imagologischen Forschung durch so genannte Nationalstereotype bzw. -topoi ersetzt. 19 Dieser 15 Lulu Thürheim: Mein Leben. Erinnerungen aus Österreichs großer Welt. 1788-1819. Hg. von René van Rhyn. Bd. 1. München: Georg Müller 1923, S. 43. 16 Ebd., S. 44. Ein bezeichnendes Licht auf die materielle Not der Exilanten wirft die folgende Passage aus Thürheims Erinnerungsbuch: „Seit diesem Tage machte Mandell mit einem Comte de St. Aldegonde, ebenfalls einem Emigrierten, gemeinsame Menage, um zu sparen. Sie aßen in der Woche Kartoffeln und Schwarzbrot und an den Sonntagen gekochtes Rindfleisch“ (ebd., S. 255). 17 Nina Rubinstein: Die französische Emigration nach 1789. Ein Beitrag zur Soziologie der politischen Emigration, hg. und eingeleitet von Dirk Raith, mit Beiträgen von Hanna Papanek und David Kettler. Graz und Wien: Nausner & Nausner 2000 (= Bibliothek sozialwissenschaftlicher Emigranten 6), S. 181. 18 Diesbach: Histoire de l’Emigration [Anm. 1], S. 432. 19 Eine griffige Definition des Stereotyp-Begriffs bietet Florack: „Stereotype sind allgemein bekannte, durch Tradition verbürgte Attribute, welche die Gruppenzugehörigkeit markieren; als Textelemente verweisen nationale Stereotype auf das (rudimentäre) Wissen, das <?page no="23"?> Emigrantinnen der Französischen Revolution im Exil in Wien 21 stereotypen nationalen Bilder, die zum Allgemeingut der europäischen Zivilisation gehören, bedienen sich naturgemäß die Exilanten zur Bewältigung der komplexen Erfahrung von Alterität. Ein Gutteil der Porträts der Wiener Gesellschaft am Beginn des 19. Jahrhunderts verdanken wir den Beobachtungen von Mme de Staël, die sich zweimal in der Stadt aufhielt: zum ersten Mal vom 28. Dezember 1807 bis zum 22. Mai 1808 und weiters vom 6. bis 22. Juni 1812. Der von ihr postulierte Nord-Süd- Dualismus 20 in der Literatur gründet auf einem nordbzw. südeuropäischen Nationalcharakter, wobei sie die Deutschen ersterem Typus zurechnet, die Österreicher hingegen letzterem. Sie repräsentieren mithin die ‚Südländer‘ im deutschen Sprach- und Kulturraum, die sich durch Dumpfheit, Freude an sinnlichen Genüssen, Familiensinn und Vergnügungssucht 21 auszeichnen: „C’est un pays si calme, un pays où l’aisance est si tranquillement assurée à toutes les classes de citoyens, qu’on n’y pense pas beaucoup aux jouissances intellectuelles.“ 22 Im Takt eines Metronoms begeben sich die Bürger von Wien „tous les jours à la même heure“ 23 in den Prater, um sich in der pastoralen Landschaft zu ergehen. Dort ist die ausländische Besucherin vom Wohlstand der Bewohner frappiert, der sich historisch adäquat am hohen Kalorienverbrauch ablesen lässt: „Cette ville“, schreibt die Verfasserin von De l’Allemagne, „a la réputation de consommer en nourriture plus que toute autre ville d’une population égale, et ce genre de supériorité un peu vulgaire ne lui est pas contesté“ 24 . die Leser über ein Volk haben.“ Ruth Florack: Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur. Tübingen: Niemeyer 2007 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur), S. 39. Vgl. auch Pageaux: „Il [= das Stereotyp] est bien une sorte de résumé, l’abrégé emblématique d’une culture (cliché, ‚idée reçue‘ chère à Flaubert).“ Daniel-Henri Pageaux: La littérature générale et comparée. Paris: Armand Colin 1994 (Cursus „Littérature“), S. 63. Zur parallelen Verwendung von „Topos“ siehe Florack, ebd., S. 159. 20 Vgl. Madame de Staël: De la littérature. Kapitel XI. Paris: GF-Flammarion 1991, S. 203- 212. 21 Dieser Befund wird von einer Zeitgenossin bestätigt, die im Oktober 1812 hinsichtlich des dichten Veranstaltungsprogramms bemerkt: „Quel élégant tourbillon de riens, quel joli ouragan de petites choses! Les hommes sont aux chasses, les femmes s’occupent des modes nouvelles; on se demande où l’on ira, qui donnera des bals cet hiver; on les compte d’avance, et l’on fait des visites chez des personnes qui laissent entrevoir leurs intentions.“ Montet: Souvenirs de la Baronne du Montet [Anm. 3], S. 78. Vgl. das von Vigée- Lebrun kolportierte Diktum: “[ …] Il y a dans cette ville trois causes de mort: le vent, la poussière et la valse.“ Vigée-Lebrun: Souvenirs de Madame Vigée Le Brun [Anm. 14], S. 281. 22 Madame de Staël: De l’Allemagne, Bd. 1. Paris: GF-Flammarion 1968, S. 77. 23 Ebd., S. 84. 24 Ebd., S. 85. <?page no="24"?> 22 Walter Wagner Auf ihr „bien-être physique“ bedacht, kultivierten die Süddeutschen und namentlich die Wiener ihre „existence végétative“, 25 wodurch das Geistesleben verkümmere. Es gebe in der Donaustadt, fährt Mme de Staël fort, „peu d’hommes vraiment supérieurs“, 26 was zur Folge habe, dass die Wissenschaft und die Literatur zurückgeblieben seien, kaum herausragende Schriftsteller dort lebten und schließlich wenig gelesen werde. 27 Selbst die Salons qualifiziert die Französin als langweilige Konvention ab, die dem Hang der Wiener zu einem monotonen Dasein entspreche: „La société ne sert point en Autriche, comme en France, à développer l’esprit ni à l’animer; elle ne laisse dans la tête que du bruit et du vide […].“ 28 Die einzigen kulturellen Zerstreuungen, denen sich die Bevölkerung hingeben, sind die Musik und so genannte „farces tyroliennes, qui amusent à Vienne les grands seigneurs comme le peuple“, 29 womit die Antiintellektualität der Wiener bewiesen wäre. Der Mangel an Geist gepaart mit einer fehlenden Weltläufigkeit äußert sich bei den Österreichern durch eine „lourdeur“, 30 die sie als Verwandte der Deutschen ausweist. Thürheim verwendet in ihren autobiografischen Reminiszenzen die Epitheta „ruhig“ und „apathisch“, 31 um das Temperament der Wiener zu beschreiben. Als positiven Nebeneffekt dieser sowohl in intellektueller als auch emotionaler und politischer Hinsicht leidenschaftslosen Gesellschaft vermerkt Mme de Staël, dass die Stadt weder große Armut noch Verbrechen aufzuweisen habe, was nicht zuletzt auf die gut funktionierende Wohlfahrtspflege zurückzuführen sei. 32 Hinzu kommt die kalmierende Wirkung eines um sozialen Ausgleich bemühten Souveräns: „Ce silence n’est pas l’effet de la terreur, car que peut-on craindre dans un pays où les vertus du monarque et les principes de l’équité dirigent tout? “ 33 Ungeachtet der entspannten sozialen Lage konnte sich die dynamische und auf geistreiche Gesprächskultur versessene Tochter Neckers in der Umgebung der braven Wiener nicht heimisch fühlen. Nicht umsonst schreibt sie daher auch in den sozioliterarischen Skizzen von De l’Allemagne: Il me semble reconnu que Paris est la ville du monde où l’esprit et le goût de la conversation sont le plus généralement répandus; et ce qu’on appelle le mal du pays, ce regret indéfinissable de la patrie, qui est indépendant des amis mêmes qu’on y a laissés, s’applique particuliè- 25 Beide ebd. 26 Ebd., S. 77. 27 Vgl. ebd., Kapitel VI und VIII. 28 Ebd., S. 91. 29 Ebd., S. 95. 30 Madame de Staël: Dix années d’exil. Paris: Fayard 1996, S. 241. 31 Lulu Thürheim: Mein Leben [Anm. 15], Bd. 2, S. 53. 32 Vgl. Madame de Staël: De l’Allemagne [Anm. 22], S. 86. Vgl. Vigée-Lebrun: Souvenirs de Madame Vigée Le Brun [Anm. 14], S. 282. 33 Madame de Staël: De l’Allemagne [Anm. 22], S. 78. Vgl. Vigée-Lebrun: Souvenirs de Madame Vigée Le Brun [Anm. 14], S. 282-283. <?page no="25"?> Emigrantinnen der Französischen Revolution im Exil in Wien 23 rement à ce plaisir de causer que les Français ne retrouvent nulle part au même degré que chez eux. 34 Damit referiert sie auf ein von den Franzosen häufig verwendetes Heterostereotyp, wonach die wegen ihrer Tiefsinnigkeit gerühmten Deutschen in einem Gespräch stets auf ein Resultat abzielten und nicht wie ihre französischen Nachbarn Konversation als intellektuelles Amusement und Austausch brillanter Aperçus auffassen. Mit andern Worten, Mme de Staël spielt die Akzentuierung der Darstellungsfunktion im Deutschen gegen die Ausdrucksfunktion im Französischen aus, um auf eine angebliche soziokulturelle Differenz der parole hinzuweisen. 35 Dabei urteilt sie ungerecht streng, denn schließlich beherrschte sie das Deutsche nur mangelhaft und war deshalb auf die Sprachkünste ihrer Gesprächspartner angewiesen, die von den Franzosen durchwegs gelobt wurden. 36 Caroline Pichler relativiert die in ihren Augen ungerechtfertigen Vorwürfe von Mme de Staël und wendet ein, daß Frau von Staël nie vergessen sollte, wenn sie über den Mangel an lebhafter Konversation in Deutschland klagt, daß die Deutschen so artig waren, als sie sich unter uns befand, ihre Sprache mit ihr zu sprechen, in welcher wir freilich ihr an Leichtigkeit und Reichtum des Ausdrucks nicht gleichkommen konnten; daß sie aber bei einem nochmaligen Besuche die Gefälligkeit haben möchte, sich im Gespräch mit uns unserer Sprache zu bedienen; dann würde man erkennen, auf wessen Seite der Vorteil sei. 37 Im Gegensatz zu Mme de Staël findet die Baronne du Montet, dass man unter den Wienern durchaus gute Gesprächspartner finden könne: „[…] Le comte Jean O’Donnell […] est l’homme le plus conversationnable que je connaisse (ils sont fort rares à Vienne).“ 38 Desgleichen hält sie einen gewissen M. de Lebzeltern für „très agréablement conversationnable“. 39 Thürheim bestätigt diesen positiven Eindruck, wenn sie schreibt: „Die Wiener Damen galten auch damals für die 34 Madame de Staël: De l’Allemagne [Anm. 22], S. 101. 35 Über die Tradition gesellschaftlicher Konventionen informiert folgender Auszug aus einem Kompendium für Romanisten: „In einer französischen conversation steht nicht der Informationsaustausch oder das Diskutieren eines Themas im Vordergrund, sondern der Auf- und Ausbau bzw. die Pflege eines sozialen Netzwerkes, also der sozialen Beziehungen der Gesprächsteilnehmer. […] In Deutschland wird - insbesondere unter Intellektuellen - die Qualität eines Gesprächs, auch beim Abendessen, meist nach der Fülle oder Tiefe ausgetauschter Informationen beurteilt.“ Dorothee Röseberg: Kulturwissenschaft Frankreich. Stuttgart, Düsseldorf et al.: Klett 2001, S. 162-163. 36 Vgl. Baronne du Montets Einschätzung eines Zeitgenossen: „Je n’ai jamais entendu parler mieux français, et par un Français, que par M. le comte de Chotek.“ Montet: Souvenirs de la Baronne du Montet [Anm. 3], S. 106. 37 Caroline Pichler: Denkwürdigkeiten aus meinem Leben. 1769-1843, Bd. 1. München: Georg Müller 1914, S. 319. 38 Montet: Souvenirs de la Baronne du Montet [Anm. 3], S. 237. 39 Ebd., S. 250. <?page no="26"?> 24 Walter Wagner ersten von Europa, teils wegen ihres guten Geschmackes und ihres vornehmen Herkommens, teils wegen der Anmut ihrer Konversation und ihrer Manieren.“ 40 Trotz der Bemühungen vonseiten der Wiener, sich in der Sprache der Emigranten zu artikulieren, spart Mme de Staël nicht mit Tadel, hält sie doch das krampfhafte Praktizieren des Französischen für eine Unsitte, in der sich die fehlende Originalität der Deutschen und Österreicher manifestiere: „On croit trop à Vienne qu’il est de bon goût de ne parler que français; tandis que la gloire et même l’agrément de chaque pays consistent toujours dans le caractère de l’esprit national.“ 41 Damit stempelten sie sich zu schalen Kopien ab, die leider auch in Fragen des Geschmacks dem fond de boutique 42 französischer Provenienz gegenüber dem Eigenen den Vorzug gäben. Mit dieser keineswegs anmaßenden Kritik zielt Mme de Staël auf den zur francofolie ausgewachsenen Hang der Deutschen, sich der kulturellen Hegemonie der Franzosen quasi willenlos zu unterwerfen. Die Emigrantin und Wienliebhaberin Baronne du Montet kreidet den Bewohnern der Hauptstadt übrigens genau diese Schwäche an, wenn sie erklärt: „Je connais aux Viennois un grand défaut, c’est la singerie: il pourrait devenir grave, s’il dépassait les modes françaises et anglaises.“ 43 Fassen wir die exemplarisch angeführten Nationalstereotype zusammen, so ergibt sich folgender Befund: Österreich und im besonderen Wien wird von den Emigrantinnen - und hier stützen wir uns im Wesentlichen auf die Einschätzung von Mme de Staël - als Insel der Seligen wahrgenommen. Die je aktualisierten Nationalstereotype decken sich folglich mit dem bekannten Phäaken-Topos, der nicht nur in der Literatur häufig mit den Österreichern assoziiert wird. 44 Die große Stereotypendichte in dem von uns verwendeten Korpus mag erstaunen, ist aber keineswegs ein Produkt des Zufalls, wie Horst Thomé einleuchtend argumentiert: „Ob und in welcher Fassung Elemente des kulturellen Wissens in einen Text übernommen werden, hängt in hohem Maße von den Regeln ab, nach denen er produziert ist und rezipiert wird, und damit von sei- 40 Thürheim: Mein Leben [Anm. 15], Bd. 1, S. 231. 41 Madame de Staël: De l’Allemagne [Anm. 22], S. 94. 42 Ebd., S. 97 (im Original kursiv). 43 Montet: Souvenirs de la Baronne du Montet [Anm. 3], S. 264. 44 Goethe und Schiller rekurrieren in ihren Xenien auf diesen Topos, ebenso die Wiener Schriftstellerin Caroline Pichler, die von „dem Lande der Phäaken, wie uns die sehr mäßigen Norddeutschen nennen“, berichtet (Pichler: Denkwürdigkeiten aus meinem Leben [Anm. 37], S. 242). Vgl. dazu Ruth Wodak: „Für Zuschreibungen angeblich typischer Eigenschaften und Verhaltensweisen des ‚österreichischen Menschen‘ spielt das ‚Phäakenstereotyp‘ sowohl im Selbstbild als auch im Fremdbild eine wichtige Rolle: Ihm zufolge seien die ÖsterreicherInnen ein heiteres, gemütliches, lebenslustiges Volk, dem die kulinarischen Genüsse, das Essen und Trinken wichtig seien […]. Mit diesem Stereotyp ist häufig der Hinweis auf eine angebliche Friedfertigkeit der ÖsterreicherInnen verbunden.“ Ruth Wodak, Rudolf de Cillia et al.: Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998 (stw 1349), S. 123. <?page no="27"?> Emigrantinnen der Französischen Revolution im Exil in Wien 25 nem selbst wieder historisch variablen Genre.“ 45 Geht man davon aus, dass De l’Allemagne und die genannten Memoiren auch als Reiseliteratur rezipiert werden konnten, dann scheinen pseudoethnografische Exkurse durchaus legitim. Immerhin konnte dergestalt ein exotisches Flair erzeugt werden, das dem Erwartungshorizont einer informierten und interessierten Leserschaft entsprach. Anderseits ermöglichte die strategische Platzierung von Nationalstereotypen den jeweiligen Autorinnen, ihren Text als Bekenntnisliteratur zu vermarkten, der die schmerzliche Erfahrung der Emigration geschickt zur Geltung bringt. An dieser Stelle dürfen wir fragen, inwieweit das Exil als Metapher romantischer Lebenshaltung funktionalisiert wurde. Mit Blick auf Mme de Staël ist es daher notwendig, die Auswirkung der Verbannung auf das Textsubjekt zu bestimmen. In Dix années d’exil formuliert sie den durch die Emigration erlittenen Verlust folgendermaßen: „Le séjour dans ce pays [= Frankreich], où les plaisirs de la société sont si élégants et si variés, est d’un tel prix pour ses habitants qu’on peut leur causer plus de peine encore qu’à tous les autres peuples en les privant de leur patrie.“ 46 Abermals wird auf den Nationalcharakter angespielt, der es den Franzosen erschwere, auf die mondänen Zerstreuungen in der Heimat zu verzichten. Die Verfasserin meint damit freilich die Salons samt ihrer Konversationskultur, jene „Freiräume des Denkens und Freiräume weiblicher Emanzipation“, 47 die Lebenselixier und -inhalt zugleich darstellen. Die Verbannung als geografisch-kulturelle Zäsur führt zu einem Bruch in der Biografie, der nicht als Neuanfang und Zugewinn an Erfahrung, sondern vielmehr als Identitätsverlust und mithin vorzeitiger Tod erlebt wird: „Ainsi l’exil condamne à se survivre; les adieux, les séparations, tout est comme à l’instant de la mort, et l’on y assiste cependant avec les forces entières de la vie.“ 48 Die Übersteigerung der Gefühle eines exaltierten Ich, das allen historischen Widerständen zum Trotz auf seiner Selbstverwirklichung beharrt, treten in ihrer romantischen Gestimmtheit hier exemplarisch zu Tage. Mme de Staël bedarf des glatten Parketts der Pariser Salons, um sich ihrer intellektuellen Einzigartigkeit, zumal als Frau, zu vergewissern. Allein in der Hauptstadt der Konversation vermag sich ihr egozentrisches Genie zu entfalten. Von ihrem kongenialen urbanen Umfeld getrennt, gerät sie zur Inkarnation der romantischen Künstlerfigur, die nicht nur in Opposition zu einer prosaischen Gesellschaft tritt, sondern als verfemte Revolutionärin zugleich Opfer ihrer politischen Überzeugung wird. Vor der Folie dieser romantischen Motive scheint es 45 Horst Thomé: Vorbemerkung, in: Ruth Florack (Hg.): Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 1-7, hier S. 3. 46 Madame de Staël: Dix années d’exil [Anm. 30], S. 155. 47 Sabine Appel: Madame de Staël. Biografie einer großen Europäerin. Düsseldorf: Artemis & Winkler 2006, S. 26. 48 Madame de Staël: De l’Allemagne [Anm. 22], S. 115. <?page no="28"?> 26 Walter Wagner nur billig, dass sich Mme de Staël als Kategorie sui generis auf einer Stufe mit den „Parias de l’Inde“ 49 sieht. Bedenkt man ferner, dass die Erzfeindin Napoleons im Ausland aufgrund ihrer Exzentrik und ihres respektlosen Umgangs mit lokalen Gepflogenheiten bestaunt, bewundert, aber vor allem verachtet wurde, dann nimmt es nicht wunder, dass ihre Exilerfahrung im typisch romantischen „dégoût de l’existence“ 50 kulminiert. 51 Der Zwangsaufenthalt in der Fremde fungiert in dieser Hinsicht als Katalysator romantischer Dispositionen, die, hätte Mme de Staël Paris nicht verlassen müssen, wohl nicht auf die gleiche Weise zum Tragen gekommen wären. Insofern erkennt Rubinstein ganz richtig die Bedeutung des Exils für den Durchbruch des romantischen Lebensgefühls: „Die Emigration bot die Chance zur Verwirklichung dieser Gefühle und Stimmungen: sie war eine Ursache, nicht die Ursache.“ 52 Zu einem analogen Schluss kommt Fernand Baldensperger: „La ‚veine grossissante‘ de romantisme, donc, la curiosité croissante pour certaines nuances imprévues, ne seraient sans doute restées que des à-côtés, sans ce fait saisissant de la Révolution […] et sans cet autre fait, l’Émigration […].“ 53 Vor dem privaten und politischen Hintergrund der Staël’schen Schriften scheint die Verschärfung einer bereits vorhandenen Rezeptivität für romantische Themen in der Verbannung nur konsequent. Dass dafür bereits in früheren Jahren die Basis gelegt wurde, dokumentiert die 1800 erschienene Abhandlung De la littérature, wo die Autorin die frühromantische Künstlerseele porträtiert: „A l’époque où nous vivons, la mélancolie est la véritable inspiration du talent: qui ne se sent pas atteint par ce sentiment ne peut prétendre à une grande gloire comme écrivain; c’est à ce prix qu’elle est achetée.“ 54 Ebenso dürfen wir annehmen, dass der illusionslosen Bilanz des Exils, das sie als „obstacle à tous les désirs, à tous les projets, à toutes les espérances“ 55 erfährt, eine existenzielle Erschütterung vorausgeht, die bereits durch den Untergang des Ancien Régime ausgelöst wurde und sich nicht erst auf Mme de Staëls Flucht durch Europa Bahn bricht. Dazu noch einmal ein Zitat aus De l’Allemagne: „Nous sommes arrivés à une période qui ressemble, sous quelques 49 Madame de Staël: De la littérature [Anm. 20], S. 342. 50 Ebd., S. 361. 51 Machteld De Poortere sieht in der Exilerfahrung von Madame de Staël eine Parallele mit dem von ihr verehrten Rousseau: „Mme de Staël partageait avec lui des origines genevoises et le désir de briller à Paris. Ils avaient également en commun le fait d’être incompris, rejetés par la société […].“ Machteld De Poortere: Les idées philosophiques et littéraires de Mme de Staël et de Mme de Genlis. New York, Washington et al.: Peter Lang 2004 (Currents in Comparative Romance Languages and Literatures 135), S. 110-111. 52 Rubinstein: Die französische Emigration nach 1789 [Anm. 17], S. 190. 53 Baldensperger: Le Mouvement des Idées dans l’Émigration française (1789-1815) [Anm. 1], S. XI. 54 Madame de Staël: De la littérature [Anm. 20], S. 361. 55 Madame de Staël: Dix années d’exil [Anm. 30], S. 156. <?page no="29"?> Emigrantinnen der Französischen Revolution im Exil in Wien 27 rapports, à l’état des esprits au moment de la chute de l’empire romain, et de l’invasion des peuples du nord.“ 56 In diesen wie in zahlreichen anderen Stellen in ihrem Werk zeigt sich die romantische Färbung, die ihren feinen, oft auf Ahnungen gründenden Synthesen eignet und die erst auf der Flucht vor Napoleon jene Prägnanz gewinnen, mittels deren es ihr vor allem in De l’Allemagne gelingt, das romantische Zeitalter in Frankreich einzuläuten. In ihrem Œuvre schenkt sie den Aufenthalten in Wien freilich nur geringe Aufmerksamkeit. Zu mächtig sind nämlich die Eindrücke, die sie in dem literarisch und wissenschaftlich überlegenen Deutschland sammelt, zu gering letztlich die intellektuellen Reize, die Österreich zu bieten hat. Nichtsdestotrotz konnte im Rahmen dieser Untersuchung die komplexe Verflechtung von romantischer Mythologie und Exil an Mme de Staëls Schriften illustriert werden. Darüber hinaus ist das Verhältnis zwischen Einheimischen und Emigranten umrissen worden, wobei sich die Akzeptanz der Fremden als schichtspezifisch determiniert erweist. Die Ablehnung vonseiten des Hofs spiegelt sich also in den Ressentiments der einfachen Bevölkerung, während der Wiener Adel französischen Standespersonen wohlwollend gegenübersteht. Weiters konnte anhand der Analyse nationaler Stereotype in Berichten französischer Emigrantinnen aus den Jahren 1789 bis 1815 der Zusammenhang zwischen autonomen transnationalen Zuschreibungen und ihrer je besonderen Aktualisierung im Text aufgezeigt werden. Dabei hat sich die Stabilität kultureller Fremdwahrnehmung bestätigt, sodass sich xenologisch ernüchternd bilanzieren lässt: Wien bleibt Wien - und das bereits vor 200 Jahren. 56 Madame de Staël: De la littérature [Anm. 20], S. 361. <?page no="31"?> Frank Estelmann Die Entgrenzung des Exils zum privilegierten Ort poetischen Sprechens in Joseph Michauds Le printemps d’un proscrit (1803) Ein Kennzeichen der Exilliteraturen verschiedener Jahrhunderte ist auch die darin vorgenommene Bestimmung des Personenkreises, der ‚dazu‘ gehörte oder nicht. Fragen von Gruppenidentitäten standen dabei keinesfalls nur hinsichtlich der Zeitgenossen zur Debatte. Mitunter betraf der publizistische Kampf der Exilanten auch erinnerungspolitische Aspekte, etwa die Frage, wer wohl die Erbschaft der Vergangenheit anzutreten berechtigt sei: die Verfolger oder die Verfolgten? Victor Hugo beispielsweise listete in seinem Exil auf Guernesey eine auserwählte Reihe von Exilanten der Vergangenheit auf, als deren geistiger Erbe er sich ansah: Eschyle a son exil et Job a son fumier. Caton est le lion, le sort est le limier. C’est le fier ornement de la guerre civile, Que tous ses grands bannis qui vont de ville en ville. Verser son âme au monde et son sang aux pavés, C’est grand; et les élus, ce sont les éprouvés. [… ] Les hommes glorieux, les sages, les héros, Sont tous contemporains de l’adversité sombre. Demosthènes chassé parle à Milton dans l’ombre; Phidias expulsé rencontre Dante errant. Phidias dit: le vrai! Dante répond: le grand! Destins pareils! O gloire! O pléiade splendide! Hérodote en exil suivi par Thucydide! 1 1941 tat Heinrich Mann es ihm im US-amerikanischen Exil gleich, als er behauptete, Autoren wie Voltaire, Lord Byron, Goethe, Chateaubriand, Heine, die deutschen Gelehrten des Jahres 1848 und schließlich auch Victor Hugo seien wie er selbst vertrieben worden, und dennoch habe auf ihren Schultern die europäische Literatur geruht. 2 Eine ähnliche erinnerungspolitische Aneignung prominenter Autoren der Vergangenheit für die Sache des Exils ist aus der Zeit der französischen Revolution von 1789 bekannt, und ihr Gegenstand war mit Jean- Jacques Rousseau ein Autor, der für die Erinnerungskämpfe während der Revolution und der Scharnierperiode zwischen Aufklärung und Romantik von großer Bedeutung war. 1 Victor Hugo: Les Quatre vents de l’esprit (Le Livre lyrique. La Destinée, XI; 17 mars 1855) [zuerst 1881]. In: Ders.: Œuvres complètes. Poésie III. Hg. von Jean Delabroy. Paris: Robert Laffont 1985, S. 1304. 2 Heinrich Mann: Zur Zeit von Winston Churchill. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2005, S. 17 (verfasst von März bis Mai 1941). <?page no="32"?> 30 Frank Estelmann Als Rousseaus sterbliche Überreste in einem Staatsakt am 20. Vendémiaire des dritten Jahres des Revolutionskalenders von einer kleinen, ‚Weiden-Insel‘ genannten Ruhestätte bei Schloss Ermenonville in der Picardie ins Pantheon nach Paris überführt werden sollten, regte sich nicht nur der Widerstand innerhalb einiger Revolutionsgruppen. 3 Mit dem Marquis de Girardin, einem bekannten Autor, ehemaligem Freund Rousseaus und Besitzer Ermenonvilles, protestierten viele royalistische Schriftsteller gegen die Vereinnahmung von Rousseaus Überresten für die Sache der Revolution. Ihnen ging es darum, mit Ermenonville jenen Gedenkort zu bewahren, den neben Rousseau selbst etwa Jacques Delille in Les Jardins (1782) 4 oder Marie-Joseph Chénier 1788 in seiner Ode Sur Ermenonville als Gegenort zur städtischen Betriebsamkeit entworfen hatten: „Loin des murs bruyans de la ville, / Je vais, sous l’ombrage des bois, / Révérer dans Ermenonville / Les mânes du grand Génevois.“ 5 Unter den Anbetern des ‚großen Genfers‘ befand sich mit Joseph Michaud auch ein junger Autor, der als 23-Jähriger 1790 von Lyon nach Paris übergesiedelt war und nach kurzer Revolutionsbegeisterung zu einer der schillernden Figuren der antirevolutionären Bewegung Frankreichs bis in die Julirevolution hinein werden sollte. 6 1 Joseph Michaud: vom Revolutionsgegner zum Exilanten Solange es möglich gewesen war, hatte Michaud nach 1789 in diversen royalistischen Blättern öffentlich die Sache des Königs vertreten. Erst nach den Septembermorden 1792, bei denen über 1000 Häftlinge, zum Großteil Kleriker, in den Pariser Gefängnissen umgebracht wurden, ging er in den Untergrund und versteckte sich innerhalb und außerhalb der Hauptstadt. In dieser Zeit entstand 3 Vgl. etwa D. Higgins: Rousseau and the Panthenon. The background and implications of the ceremony of 20 vendémiaire year III. In: Modern Language Review 50 (1955), S. 274-280. Vgl. auch Mona Ozouf: Le Panthéon. In: Pierre Nora (Hg.): Les lieux de mémoire. I. La République. Paris: Gallimard 1984, S. 139-166. 4 Abbé Jacques Delille: Les Jardins [ zuerst 1782 ] . In: Ders.: Œuvres complètes. Paris: Firmin Didot 5. Aufl 1852, S. 11. 5 Marie-Joseph Chénier: Ode à Ermenonville, 1788. In: Ders.: Œuvres. Hg. von Antoine- Vincent Arnault. Paris: Guillaume 1829, Bd. 3, S. 300. 6 Einen guten Einblick in die frühen Jahre Joseph Michauds hat dessen späterer Sekretär und Reisegefährte Jean-Joseph François Poujoulat gegeben, auf dessen Angaben vor allem zurückgegriffen wurde. Vgl. Poujoulat: Vie de M. Michaud. In: Joseph Michaud: Histoire des croisades. Paris: Furne 6. Aufl. 1841, Bd. 1, S. VII-XLVII, bzw. Ders.: Michaud (Joseph). In: Ferdinand Hoefer: Nouvelle biographie générale depuis les temps les plus reculés jusqu’à 1850-60, 46 Bde. Paris 1852 (in: Archives biographiques françaises. Hg. von Susan Bradley. London: Saur 1988-1991). Auch der Michaud betreffende Eintrag in der von Gabriel Michaud herausgegebenen Biographie universelle ist informativ; vgl. Michaud, Joseph-François. In: Biographie universelle ancienne et moderne. Paris: Desplaces, 2. Aufl. 1854-1856, Bd. 28, S. 206-214. <?page no="33"?> Die Entgrenzung des Exils in Michauds Le printemps d’un proscrit (1803) 31 das Gedicht Ermenonville, ou le tombeau de Jean-Jacques. Indem er den genius loci Ermenonvilles evozierte, attackierte Michaud Robespierre, der sich zuletzt die Sache der Überführung von Rousseaus Grab ins Pantheon zueigen gemacht hatte. Dabei habe Robespierre doch Rousseaus Freunde verfolgt und seine Prinzipien verbannt: „[qui] affectait de faire l’éloge de Rousseau, en persécutant ses amis, et en proscrivant ses principes“ 7 . Der Vorwurf der ‚Verbannung‘ Rousseauscher Anschauungen trifft zwar so nicht zu, denn mit einem Seitenblick auf den Contrat social kann angemerkt werden, dass Rousseau den Repräsentanten der volonté générale vorschlägt, denjenigen, der sich gegen den Gemeinwillen auflehnt, weniger als citoyen denn als Feind zu begreifen und ihn entweder ins Exil zu schicken oder zu töten. 8 Doch bezog sich Michaud in seiner Aussage über die ‚verbannten Prinzipien‘ Rousseaus ohnehin nicht auf dessen politische Philosophie, sondern vielmehr auf die in Rousseaus Werk verkörperte literarische Bewegung der Empfindsamkeit. Wie Ermenonville, ou le tombeau de Jean- Jacques dabei zeigt, war der Kampf um die Deutungshoheit über Rousseaus literarische Schriften ein wichtiger Anstoß für seine literarische und publizistische Karriere in der Revolutionszeit. Das Rousseau-Gedicht ist allerdings nur ein kleiner Ausschnitt aus den publizistischen Aktivitäten Michauds dieser Zeit. Michaud schrieb als Journalist für Poncelets Courrier républicain, der „n’avait guère de républicain que le nom“ 9 , und nach dem Sturz Robespierres auch für weitere royalistische Blätter wie die Gazette française. 1794 erwarb er zusammen mit Rippert und Riche die Zeitschrift La Quotidienne, nachdem deren Direktor und Gründer auf dem Schafott hingerichtet worden war. Die Blütezeit von La Quotidienne wird zwar erst die Restauration nach 1815 sein, als das Blatt staatstragend wird; als solches taucht es beispielsweise in Stendhals Le Rouge et le Noir als Lektüre der ehemaligen Emigranten in den Salons des alten Adels auf. 10 Doch bereits in den Revolutionsjahren erhielt es die maßgeblich von Michaud entwickelte politische Prägung eines Periodikums mit eindeutig royalistischer und legitimistischer - d.h. die Herrschaft der ‚legitimen‘ Kronerben der Bourbonen fordernder - Ausrichtung. Der 13. Vendémiaire, der 5. Oktober 1795, also der Kampf der monarchistischen Armee und der Revolutionsarmee in den Straßen von Paris, kostete Michaud fast das Leben und zwang ihn das erste Mal zur Flucht. Dabei wurde er 7 Joseph Michaud: Ermenonville, ou le tombeau de Jean-Jacques. S.l. 1794; ursprünglich in: Décade philosophique III (1794), S. 105. 8 „[…] il en doit être retranché par l’exil comme infracteur du pacte, ou par la mort comme ennemi public; car un tel ennemi n’est pas une personne morale, c’est un homme, et c’est alors que le droit de la guerre est de tuer le vaincu.“ Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social. In: Ders.: Œuvres complètes, t. III. Paris: Gallimard (Pléiade) 1964, S. 377 (Kapitel II,5: Du droit de vie et de mort). 9 So heißt es in der Biographie universelle [Anm. 6], S. 207. 10 Stendhal: Le Rouge et le Noir. Paris: Gallimard (folio) 2000, S. 352 (Kapitel II,4: L’Hôtel de la Mole). <?page no="34"?> 32 Frank Estelmann allerdings in Chartres verhaftet und zurück nach Paris gebracht. Als ihm erneut die Flucht gelang, verurteilte ihn ein Gericht in Abwesenheit Ende Oktober 1795 zum Tod. Mit dem Direktorium, das das Todesurteil nicht vollstreckte, war er bald darauf wieder in Paris, arbeitete weiter für La Quotidienne und verfasste im Dezember 1795 ein Gedicht auf die Freiheit einer der Töchter von Ludwig XVI., der die Ausreise aus Frankreich gestattet worden war. Der Staatsstreich des Direktoriums am 18. Fructidor - im September 1797 - und die Radikalisierung der republikanischen Kräfte hatten dann zur Konsequenz, dass man Michaud auf einer Deportationsliste fand. Er floh erneut und verbrachte zwei Jahre im Exil, und zwar in seinem Heimat-Département Ain in den Alpen und im Jura. Anders als sein geistiger Ziehvater, der Abbé Delille, verließ er Frankreich während seiner Emigration also nicht. Vielmehr hielt er sich an der Grenze des Landes im Verborgenen auf. Seine Flucht und sein Exil ähneln dennoch denen vieler, die in den Revolutionsjahren, insbesondere in der Zeit der Terreur, unerkannt durch Frankreich flohen und in der Provinz Rettung suchten. Deren Schicksale sind beispielsweise von Charles Nodier oder von Alfred de Vigny in Erzählungen anschaulich literarisiert worden. 11 Nachdem Bonaparte erster Konsul Frankreichs geworden war, konnte Michaud sich wieder in Paris sehen lassen. Er fuhr damit fort, royalistische Opposition zu betreiben. 1799 trat er erst mit einem politischen Gedicht mit dem Titel „Adieux à Bonaparte“ an die Öffentlichkeit, dann mit der Fortsetzung „Derniers Adieux à Bonaparte victorieux“, woraufhin er im Gefängnis landete und offenbar entmutigt beschloss, „à ne plus faire d’opposition qu’en silence“, wie es in der von seinem Bruder herausgegebenen Biographie universelle in dem ihm gewidmeten Eintrag ausgedrückt ist. 12 Fortan widmete er sich bis 1805 ausschließlich der Literatur. Das erste literarische Werk, mit dem er zu Beginn des neuen Jahrhunderts auffiel, war die Histoire de l’empire de Mysore sous Hyder- Aly et sous Typpoo-Saïb (1801). Darauf folgte das 1803 unter dem Titel Le Printemps d’un proscrit in Paris publizierte Langgedicht in drei Gesängen, geschrieben in der Form der poésie descriptive, um das es in der Folge gehen wird, da Michaud darin am deutlichsten seine Exilerfahrungen festgehalten hat. Das Werk erhielt - im Januar 1803 - eine positive Besprechung Chateaubriands im Mercure. Es hatte Erfolg. 13 Bis 1814, dem Jahr, in dem sein Autor in die Légion 11 Vgl. Charles Nodier: Les émigrés de 1799. In: Ders.: Souvenirs, épisodes et portraits pour servir à l’histoire de la révolution et de l’empire. 2 Bde. Paris: Alphonse Levavasseur 1831, Bd. 1, S. 193-248, und Alfred de Vigny: Stello (3 e partie: Une histoire de la Terreur, 1832). In: Ders.: Œuvres completes. Stello. La deuxième consultation du Docteur- Noir. Scènes du desert. Hg. von Fernand Baldensperger. Paris: Louis Conard 1925, S. 101-270. 12 Michaud, Jean-François. In: Biographie universelle [Anm. 6], S. 208. 13 Ebd. <?page no="35"?> Die Entgrenzung des Exils in Michauds Le printemps d’un proscrit (1803) 33 d’honneur aufgenommen wurde, wurde es sieben Mal neu aufgelegt, was Michaud fortdauernd die Gelegenheit gab, es zu überarbeiten. 14 Wie ist der Erfolg dieses Werks eines bekannten Publizisten und weitgehend unbekannten Dichters zu erklären? Diese Frage führt unmittelbar in den Exilzusammenhang, denn Michaud zufolge wurde der Printemps d’un proscrit von seinen Zeitgenossen deshalb gern gelesen, weil das Gedicht die Geschichte aller - „l’histoire […] de tout le monde“ 15 - erzählt: nämlich das Emigrantenleben in der Revolutionszeit. Ein ähnliches Werk poetischer Erinnerungsarbeit hatte kurz zuvor auch Jacques Delille mit Malheur et pitié veröffentlicht. Delille, der seit Les Jardins als der Hauptvertreter der poésie descriptive in Frankreich galt, war 1802 aus dem deutschen und englischen Exil heimgekehrt, wo er seit 1794 gelebt hatte, obwohl er schon 1795 wieder nach Frankreich hätte zurückkehren können. 16 Unter den poetischen Werken des „chantre officiel et parfait“ 17 der vor der Revolution geflohenen Emigranten fällt Malheur et Pitié aus dem Rahmen. Es gehört weder dem Korpus an Übersetzungen noch dem Korpus naturalistischdeskriptiver Werke an, die dieser Autor ansonsten hinterlassen hat. Folgt man Guittons Delille-Studie, zählt der von dezidiert anti-revolutionärem Denken geprägte Band zur „catégorie des chroniques vengeresses inspirées par la Révolution“ 18 . Delille behandelt insbesondere im dritten Gesang die Revolution unter dem Gesichtspunkt der Terreur (insbesondere des Königsmords) und im letzten Gesang das schwere Schicksal der Emigranten. Insofern greift es Michauds Printemps d’un proscrit vor - auch wenn dieses Werk Michauds Einleitung zufolge möglicherweise bereits gegen 1797-1798 verfasst wurde, also während des Exils in den Alpen. In einer Hinsicht hat Delilles jüngstes lyrisches Werk, das 1803 in einer Luxusausgabe bei Dulau erschienen war und für Debatten gesorgt hatte, 19 Mi- 14 Vgl. dazu Édouard Guitton: Jacques Delille (1738-1813) et le poème de la nature en France de 1750 à 1820. Paris: Libr. C. Klinksieck 1974, S. 482. 15 Joseph Michaud: Quelques observations sur la poésie descriptive. In: Ders.: Le Printemps d’un proscrit, suivi de l’Enlèvement de Proserpine. Paris: L. G. Michaud 7. Aufl. 1814, S. 9-38, hier S. 37: „[…] l’histoire de mes proscriptions est malheureusement celle de tout le monde“. Diese Aussage findet sich nicht in der Erstausgabe des Werks. 16 Vgl. Madame Woillez: Notice biographique et littéraire sur J. Delille. In: Jacques Delille: Œuvres. Paris: Lefèvre 1844, Bd. 1, S. 1-17. 17 Vgl. Fernand Baldensperger: Le mouvement des idées dans l’émigration française (1789- 1815). 2 Bde. Paris: Plon 3 1924, Bd. 1, S. 255-294, hier S. 260. Zu Delilles Emigration vgl. auch Guitton: Jacques Delille [Anm. 14], S. 435-460. Exemplarisch für die geringe Aufmerksamkeit, die Joseph Michaud und dem Printemps d’un proscrit bislang von der Exilforschung eingeräumt wurde, ist im übrigen, dass sich in Baldenspergers Gesamtdarstellung dazu nichts findet. 18 Guitton: Jacques Delille [Anm. 14], S. 471. 19 Die Publikationsumstände werden ausführlicher behandelt von Baldensperger: Le mouvement des idées [Anm. 17], S. 267-268, und Guitton: Jacques Delille [Anm. 14], S. 473- 476. <?page no="36"?> 34 Frank Estelmann chauds Printemps d’un proscrit zweifelsfrei direkt beeinflusst, denn Michaud ergänzte den eigenen Gedichtband um drei an Delille gerichtete Briefe, die „Lettres à l’Abbé Delille sur la pitié“, deren Bezug auf Malheurs et Pitié unstrittig ist. Am Ende des dritten Briefes wird das literarische Vorbild Delille mit der alttestamentarischen Taube verglichen, die das Ende der Sintflut, sprich: des Terrorregimes und damit der Emigration, angekündigt habe: Vous [= Delille - F.E.] êtes enfin rendu aux vœux de la patrie, vous êtes revenu parmi nous, vous y avez trouvé la paix; vous nous la ferez aimer, en nous présentant le tableau de ces jours orageux qui ne reviendront plus; et je ne puis mieux vous comparer qu’à la colombe de la Genèse, qui revint dans l’arche pour annoncer à ce qui restoit de l’espèce humaine, que la colère du ciel étoit appaisée. 20 Mit Aussagen wie diesen versuchte der noch unbekannte Dichter Michaud sein noch kleines literarisches Werk in die Reihe antirevolutionärer Schriften zu stellen und sich damit selbst im Kollektiv der royalistischen Emigranten zu platzieren. Die weitere Karriere Michauds im Empire sei nur angedeutet. Michaud versöhnte sich 1810 mit Napoleon aus Anlass von dessen Ehe mit Marie-Louise und schrieb einige versöhnliche Gelegenheitsgedichte, an erster Stelle eines über die Geburt eines Sohnes aus dieser Ehe, was seiner beginnenden akademischen Karriere förderlich war. Mit dem 1805 publizierten Vorwort „Tableau historique des trois premières croisades“ zu Madame Cottins Kreuzzugroman Mathilde und dem 1811 erscheinenden ersten Band der Histoire des Croisades hatte er sich zu diesem Zeitpunkt bereits der historischen Erforschung der Kreuzzüge zugewendet, die ihm, dem ehemaligen Verfolgten, 1813 einen Sitz in der Académie française einbrachte. Während die ersten beiden Bände der Histoire des Croisades im Empire erschienen, publizierte der Autor die letzten Bände des Werks 1822 in der Restaurationszeit, in der Michaud mit seinen legitimistischen Ansichten politische, mit La Quotidienne publizistische und mit seiner Fama als Kreuzzugshistoriker auch weiterhin akademische und gesellschaftliche Karriere machte. Als er sich gerade auf einer Orientreise befand, erhielt er 1830 Nachricht von der Julirevolution und der Herrschaft des Bürgerkönigs Louis-Philippe, was seinen Hoffnungen auf eine dauerhafte Wiederherstellung der Bourbonen- Monarchie in Frankreich einen Schlag versetzte. Allerdings hoffte er 1830 noch „que le sang des proscrits ne soit point versé“ und setzte - mit allerdings schwacher Hoffnung - auf die Erfahrung von 1789, die zeige, dass die Revolutionen letztlich für die Könige arbeiteten. 21 Auch deshalb blieb sein Name mit dem 20 Joseph Michaud: Lettres à M. Delille sur la pitié. In: Ders.: Le Printemps d’un proscrit, poëme en III chants, suivi de plusieurs lettres à M. Delille sur la pitié. Paris: Giguet et Michaud 1803 (an XI), S. 143-252, hier S. 236 (lettre du 15 octobre 1802). 21 Jean-Joseph Poujoulat / Joseph-François Michaud: Correspondance d’Orient 1830-1831. 7 Bde. Paris: Ducollet 1833-1835, Bd. 2, S. 341. <?page no="37"?> Die Entgrenzung des Exils in Michauds Le printemps d’un proscrit (1803) 35 Scheitern der Restauration des alten monarchistischen Frankreich verbunden, was einen Anhaltspunkt dafür liefert, warum er als einer der Schulautoren des 19. Jahrhunderts heute wenig bekannt ist. 2 Die poésie descriptive als Medium der Selbstverständigung emigrierter Autoren Munsters’ Studie über die Geschichte der pittoresken Ästhetik zufolge kann Michaud mit dem Printemps d’un proscrit als besonders origineller Vertreter der poésie descriptive gelten. 22 Da das Gedicht zwar nicht direkt in die romantische Pittoreske vorweist, wohl aber klassizistische Verfahren und Inhalte in eine neue Zeit übertrage und dabei aktualisiere, würdigt Munsters Michaud als Vertreter der Postklassik. Die Behauptung eines literarhistorischen ‚Schwellencharakters‘ des Printemps d’un proscrit indiziert bereits die Periodisierungsprobleme, die die französische Emigrantenliteratur nach 1789 allgemein mit sich bringt. Kann diese ästhetikgeschichtlich auf dem Übergang zwischen klassizistischer Aufklärung und Frühromantik situiert werden und wie kann dieser Übergang näher bestimmt werden? Welcher Anteil an der Entwicklung kann der Öffnung ins europäische ‚Außen‘ gegeben werden, die Dorothee Kullmann konstatiert, wenn sie argumentiert, die Rückkehrer aus der Emigration hätten „einen deutlichen Impuls für die literarische Produktion“ 23 gegeben? Verallgemeinerbare Antworten auf diese Fragen stehen noch aus, weshalb es wichtig erscheint, individuelle ästhetische Entwürfe wie den Michauds zunächst in ihrer Besonderheit zu untersuchen. Denn die Gefahr, sie entweder als bloße Abfallprodukte früherer Entwicklungen - etwa als Teil eines gattungsgeschichtlichen „déclin qui n’en finit pas de se prolonger“ 24 der poésie descriptive der Aufklärung - oder als unvollkommene Vorstufen der noch bevorstehenden romantischen Revolution zu missverstehen, ist beträchtlich. Erst durch die Vermeidung retrospektiver literarhistorischer Verzerrungen kann dann auch der Anteil der Exildiskurse in den literarischen Texten der Adelsemigration nach 1789 klar erkannt werden, der den Zeitgenossen gleichwohl noch deutlich vor Augen war, etwa wenn Poujoulat, der Reisegefährte Michauds auf der Orientreise der Jahre 1830-1831, den Printemps d’un proscrit als „un charmant et harmonieux souvenir de nos mau- 22 „Michaud est à considérer comme le seul poète descriptif qui ait soumis l’emploi du pittoresque en poésie descriptive à une analyse approfondie.“ Wil Munsters: La poétique du pittoresque en France de 1700 à 1830. Genève: Droz 1991, S. 154. 23 Dorothea Kullmann: Description: Theorie und Praxis der Beschreibung im französischen Roman von Chateaubriand bis Zola. Heidelberg: Winter 2004, S. 33. 24 Guitton: Jacques Delille [Anm. 14], S. 429. <?page no="38"?> 36 Frank Estelmann vais jours“ 25 bezeichnete und damit auf das royalistische Exil der Revolutionszeit anspielte. In seiner Rezension des Werks fügte Chateaubriand folgenden Absatz ein, der den ersten Gesang des Gedichts, und damit die Exposition seines Themas, präzise zusammenfasst: L’ouvrage, divisé en trois chants, s’ouvre par une description des premiers beaux jours de l’année. L’auteur compare la tranquillité des campagnes à la terreur qui régnoit alors dans les villes; il peint le laboureur donnant asile à des proscrits: […]. 26 In der Tat etabliert der erste Gesang des Printemps d’un proscrit ein einfaches dualistisches Schema. Es geht darum, die friedliche Weisheit des Exilanten, die diesem das Leben auf dem Land vermittelt hat, vom kriegerischen Terror, den die Revolutionäre in Paris veranstalten, abzugrenzen. Exil, Weisheit und Landleben bilden eine konzeptuelle Einheit, die gegen das Begriffsfeld von Revolution, Terror und Paris als „coupable cité“ 27 gestellt wird. So werden die diskursiven Grenzen eines ländlichen Raumes abgesteckt, in dem sich in den deskriptiven Passagen des Gedichts die Eloquenz der frühlingshaften Natur durch Analogiebildung in der Eloquenz des fühlenden Dichters spiegelt und diesen als dezentriertes Subjekt durchaus in jenem Sinn prägt, den Michel Collot als „point de passage entre le dedans et le dehors, le langage et le paysage“ 28 in der romantischen Lyrik bestimmt hat. Das lyrische Ich, das im Exil erzogen wurde („Elevé dans l’exil et nourri dans les pleurs“; PP S. 41) und als „poëte proscrit“ 29 die Stimme erhebt, ruft anfangs in einer Apostrophe den Frühling an, wobei der Frühling erst einmal Redeanlass ist - werden doch die ersten schönen Frühlingstage des Jahres in den Alpen vorgestellt: Je te revois enfin, aimable et doux printemps, Je chante tes bienfaits, inspire mes accents, Pare-moi de tes fleurs nouvellement écloses; Prête à mes doux pensers la fraîcheur de tes roses, Et qu’à ta voix, la paix, l’espoir consolateur, 25 Poujoulat: Michaud (Joseph) [Anm. 6], o. A. 26 François-René de Chateaubriand: Sur le Printemps d’un proscrit, poëme par M. J. Michaud. In: Ders.: Œuvres complètes. T. XXI: Mélanges littéraires. Paris: Ladvocat 1826, S. 181-210, hier S. 183. 27 Joseph Michaud: Le Printemps d’un proscrit, poëme en III chants, suivi de plusieurs lettres à M. Delille sur la pitié. Paris: Giguet et Michaud 1803 (an XI), hier S. 46 (im weiteren abgekürzt als PP). 28 Michel Collot: Poésie et paysage du romantisme à nos jours. Paris: José Corti 2005, S. 54. 29 Mit diesem Ausdruck bezeichnet Chateaubriand in seiner genannten Rezension den Autor des Printemps d’un proscrit; vgl. Chateaubriand: Sur le Printemps d’un proscrit [Anm. 26], S. 185. <?page no="39"?> Die Entgrenzung des Exils in Michauds Le printemps d’un proscrit (1803) 37 Ainsi que dans les champs renaissent dans mon cœur. […] (PP S. 41-42). Schnell wird jedoch klar, dass der Winter, den April und Mai gerade abzulösen beginnen, auf einer weiteren Textebene mit der dunklen Revolutionszeit gleichgesetzt wird, deren Ende sich ankündigt. Doch heißt es zunächst schlicht: Déjà les nuits d’hiver, moins tristes et moins sombres, Par degré de la terre ont éloigné leurs ombres; Et l’astre des saisons, marchant d’un pas égal, Rend au jour moins tardif son éclat matinal. […]. (PP S. 42) Daraufhin aber benennt der auf die Erneuerungskraft des Frühlings hoffende Verbannte nach dem morgendlichen Glanz („éclat matinal“) der beobachteten Szenerie und der diesen verursachenden schönen Maiensonne („beau soleil de mai“) in einer Reihe mit anderen Frühlingsblumen auch den keimenden ‚Frühlingskönig, die Lilie‘: Dans leur feuillage épais, les zéphirs engagés, Soulèvent les rameaux; et leur troupe captive, D’un doux frémissement fait retentir la rive. Le serpolet fleurit sur les monts odorans, Le jardin voit blanchir le lys, roi du printemps; L’or brillant du genêt couvre l’humble bruyère, Le pavôt dans les champs lève sa tête altière; […] (PP S. 42-43). Mit dem „le lys, roi du printemps“ ist angedeutet, wen der Frühling mit sich führen sollte, nämlich die Bourbonen, das französische Königshaus, das die Lilie im Wappen trägt. Doch ruft dies eine allegorische Deutungsebene auf, die zwar im Kontext der folgenden Verse deutlich indiziert ist, aber doch zunächst in längeren beschreibenden Teilen zum Ausdruck kommt, in denen, wie es für diese Poesiegattung typisch ist, die Flora und Fauna der Alpen in bald ordnend katalogisierender, bald schlicht enumerativer Weise - also dem Grundsatz nach unallegorisch - evoziert werden. An die zitierte Passage schließen sich beispielsweise Beschreibungen von Insekten und Vögeln an. Ein Textbeispiel aus dem dritten Gesang des Printemps d’un proscrit, das Chateaubriand in seiner Besprechung des Werks zitiert, soll einen Eindruck davon vermitteln, mit welchen Mitteln dabei in diesen deskriptiven Teilen ein Ausgleich zwischen der Beschreibung der äußeren Wirklichkeit und ihrer empfindsamen Verinnerlichung gesucht wird. Darin lassen sich bestimmte Gattungszwänge der poésie descriptive veranschaulichen, deren Kenntnis für die Deutung des Exildiskurses in diesem Werk unabdingbar ist: J’entends dans ces bosquets le chantre du printemps; L’éclat touchant du soir semble animer ses chants; <?page no="40"?> 38 Frank Estelmann Ses accens sont plus doux, et sa voix est plus tendre. Et, tandis que les bois se plaisent à l’entendre, Au buisson épineux, au tronc des vieux ormeaux, La muette arachné suspend ses longs réseaux; L’insecte, que les vents ont jeté sur la rive, Poursuit, en bourdonnant, sa course fugitive: Il va de feuille en feuille; et, pressé de jouir, Aux derniers feux du jour vient briller et mourir. La caille, comme moi, sur ces bords étrangère, Fait retentir les champs de sa voix printannière. (PP S. 100-101) Angesichts dieser Abendstimmung sei daran erinnert, dass die poésie descriptive gerade aufgrund der darin enthaltenen naturkundlichen ‚Listen’ zur Zeit Michauds umstritten war und nicht nur in Delille und Chateaubriand Befürworter, sondern etwa in Marmontel oder Marie-Joseph Chénier Gegner hatte, die ihre Tendenz zur botanisch-zoologischen Thesaurisierung in den Vordergrund der Kritik stellten. Chénier zum Beispiel wendete sich 1805 in seinem satirischen „Discours en vers sur les poëmes descriptifs“ mit einem solchen Argument gegen die poetische Schule: L’un poète ignorant, mais botaniste habile, Dans la rose ou l’œillet comptant chaque pistile, Oubliant les parfums, négligeant les couleurs, A l’aide de Jussieu, rime un traité des fleurs. L’autre […] Toujours au bon goût alliant l’harmonie, Glousse avec les dindons, ses rivaux en génie. 30 Chénier attackierte die der Gattung eigenen Makel („défauts essentiels au genre“) 31 Anfang des 19. Jahrhunderts wiederholt und überaus polemisch. Der Kanon negativer Werturteile, der die als uninspiriert geltende „école de Delille“ bis in die Julimonarchie hinein von ihrer dominanten Position im System der französischen Dichtung entthronen sollte, 32 ist in seinen zitierten Versen bereits ausgeprägt: Weder unmittelbar christlich inspiriert - wie Chateaubriand es im Génie du christianisme behauptet hatte - noch ausgesprochen französisch - die 30 Marie-Joseph Chénier: Discours en vers, sur les poëmes descriptifs. Paris: Didot jeune 1805, S. 4. 31 Marie-Joseph Chénier: Tableau historique de l’état et des progrès de la littérature française depuis 1789 [1808/ 1815]. Hier zit. nach der Ausgabe: Rapports à l’Empereur sur le progrès des sciences, des lettres et des arts depuis 1789. III: Littérature française, par Marie-Joseph Chénier. Préface de Denis Woronoff. Présentation et notes de Jean-Claude Bonnet et Pierre Frantz. Paris: Belin 1989, S. 219. 32 Vgl. dazu die Ausführungen in: Ursel-Margret Becker: Jacques Delille „L’Imagination“ - ein Beitrag zu einer Imaginationstheorie des ausgehenden 18. Jahrhunderts (Inauguraldissertation, Universität Bonn 1987), S. 39-43, Kullmann: Description [Anm. 23], S. 54-61 sowie Munsters: La poétique du pittoresque [Anm. 22], S. 171-179. <?page no="41"?> Die Entgrenzung des Exils in Michauds Le printemps d’un proscrit (1803) 39 beschreibenden Poeten sahen sich als gesamteuropäische Bewegung - stand die Poesie Delilles, stellvertretend für die poésie descriptive allgemein, bei ihren Kritikern im Ruf der anachronistischen, uninspiriert sich ständig wiederholenden, bloße natürliche Äußerlichkeiten inventarisierenden Undichtung. Vor dem Hintergrund der literarhistorisch zunehmend valorisierten romantischen Ausdrucksästhetik wurde in ihr eine Dichtung ohne Gefühl und Phantasie gesehen, die ganz dem zwar technisch gelungenen, wohl aber unterkühlten und leidenschaftslosen Verseschmieden verschrieben war. Gustave Lanson, bei dem die Ablehnung der Gattung gipfelte, charakterisierte sie zuletzt als „poésie sans poésie“ 33 . Wenn Lanson die Geschichte der poésie descriptive nach 1800 unter das Signum des allmählichen Niedergangs stellte, 34 brachte er ein gattungsgeschichtliches Argument auf den Punkt, das zum Teil noch die heutige Diskussion bestimmt. Der Printemps d’un proscrit steht noch in neueren Studien im Ruf, zur Phase der vornehmen Dekadenz der deskriptiven Schule zu gehören, falle doch die Geschichte der poésie descriptive „mit der Blütezeit der Aufklärung zusammen“ 35 . Dagegen ist Kullmann beizupflichten, die mit dem Verweis auf die zahlreichen Besprechungen der zweiten Ausgabe von Delilles Les Jardins (1801) und L’Homme des champs ou les Géorgiques françaises (1800) anmerkt, man könne „die Bedeutung, die dieser Gattung [= der poésie descriptive - F.E.] noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts zukommt, nicht genug betonen“. 36 Nach 1800 muss in der Tat ein Revival der poésie descriptive in quantitativer Hinsicht festgestellt werden. 37 Und bereits Chénier beobachtete: „[…] décrire est aujourd’hui fort en usage dans notre poésie […]“. 38 Insofern ist das weitgehende Fehlen einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der poésie descriptive in Konsulat und frühem Empire nicht entschuldbar. Die Rede vom Niedergang der Gattung greift zudem auf normative Wertmaßstäbe zurück, die dann dubios wirken, wenn sie nicht erkennen, dass die deskriptiven Gedichte nach 1800 gattungsgeschichtlich innovativ waren, weil sie unter dem Einfluss der Exilerfahrung ihrer Autoren standen. Entscheidend für die neuerliche Blütezeit der poésie descriptive nach 1800 war, dass nach Chateaubriands Aufwertung der Gattung im Génie du christia- 33 Gustave Lanson: Histoire de la littérature française. Paris: Hachette 1957, S. 641-644 (Unterkapitel: La poésie sans poésie), hier S. 642 (zu Saint-Lambert und Delille). 34 Guitton: Jacques Delille [Anm. 14], S. 482. 35 Anne Margret Rusam: Literarische Landschaft. Naturbeschreibung zwischen Aufklärung und Moderne. Wilhelmsfeld: Gottfried Egert Verlag 1992, S. 20. 36 Kullmann: Description [Anm. 23], S. 54. 37 Vgl. Margaret M. Cameron: L’influence de Thomson sur la poésie descriptive en France (1759-1810). Paris: Honoré Champion 1927. Diese Studie hat den Vorteil, auf quantitative Erhebungen zur Gattungsgeschichte zurückzugreifen und die Spätphase der poésie descriptive im Empire mitzubehandeln. 38 Chénier: Tableau historique [Anm. 31], S. 221. <?page no="42"?> 40 Frank Estelmann nisme mit Delille und auch Michaud Mitglieder der Schule wieder aus der Emigration nach Paris zurückkehrten und deskriptive Gedichte publizierten, in denen sie ihre jeweiligen Emigrationserfahrungen zum Ausdruck brachten. Chénier bezeichnete Delille in „Essai sur les principes des arts“ zwar abschätzig, aber sich dieses Zusammenhangs deutlich bewusst als verbannten Reimeschmied („rimeur proscrit“) 39 . Auch Jacques Demogeot machte dies in seiner Histoire de la littérature française (1851) als einer der wenigen Literarhistoriker des 19. Jahrhunderts für den Printemps d’un proscrit geltend; Michaud habe in diesem Werk „d’une manière peu monotone les impressions de l’exil aux tableaux de sa poésie descriptive“ gemischt. 40 Die Mode der Textsorte zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist in der Tat nur vor dem Hintergrund einer solchen kontextuell erschließbaren Vermischung heterogener Themen, darunter das Exilthema, verständlich. Doch soll zunächst untersucht werden, inwiefern im Fall Michauds der poésie descriptive eine spezifische Bedeutung für die von der Revolution ausgelöste Entwicklung des Exildiskurses in Frankreich zukam. 3 Der erste Gesang: Revolutionserfahrung und Landschaftsbeschreibung Wenn der newcomer Michaud mit dem Printemps d’un proscrit die Gattung der poésie descriptive in durchaus traditionsbildender Absicht aufgriff, dann an erster Stelle deshalb, da sie ihm die Pose des seinen Prinzipien treuen monarchistischen Exildichters einzunehmen gestattete. Das Verfassen eines deskriptiven Gedichtes erlaubte es, aus einem intertextuellen Verweisraum zu schöpfen, der die gesamte zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bis hin zur Revolution von 1789 umfasst hatte und durch letztere unterbrochen worden war. Daher liegt es auf der Hand, dass sich im Printemps d’un proscrit neben den naturkundlichen ‚Listen‘ weitere typische Elemente aus der Gattungstradition finden: an erster Stelle sicherlich das Motiv des Glück versprechenden Landlebens, dem das lyrische Ich im klassischen Versmaß des Alexandriners und mit detailgetreuen, kontrastreichen, kompletten und subjektivistischen Naturbeschreibungen gegenüber der Oberflächenexistenz in der Stadt den Vorzug gibt: 39 Marie-Joseph Chénier: Essai sur les principes des arts, poëme. In: Ders.: Œuvres posthumes, t. II. Paris: Guillaume 1825, S. 177-208, hier S. 185: „Traduisant en plats vers la prose de Buffon, / Compilant le fatras compilé par Bomare, / Et toujours trivial, quoique toujours bizarre, / Il va décrire encor pour la centième fois / Ou le combat du coq, ou le cerf aux abois; / Tantôt le chantre ailé qui baigne une eau limpide, / Tantôt le bœuf pesant ou le coursier rapide. / Un âne, sous les yeux de ce rimeur proscrit, / Ne peut passer tranquille, et sans être décrit.“ 40 Jacques Demogeot: Histoire de la littérature française depuis ses origines jusqu’à nos jours. Paris: Hachette 8. Aufl. 1867, S. 559. <?page no="43"?> Die Entgrenzung des Exils in Michauds Le printemps d’un proscrit (1803) 41 Heureux qui, retiré sous un abri champêtre, Loin du choc des partis qu’il ne veut point connoître, Errant dans ces bosquets, caché sous leurs berceaux, Ne perd jamais l’aspect de ces rians tableaux! Tandis que loin de lui la discorde en furie, Change à son gré la terre à la crainte asservie, Il voit toujours ses champs, au retour des saisons, Riches des mêmes fleurs et des mêmes moissons. (PP S. 45-46) Diese Verse imitieren in Thema und Stil bis zu einem gewissen Punkt Saint- Lamberts Les Saisons (1769). Dennoch ist es wichtig zu betonen, wie wenig konsequent Michaud die traditionsbildende Absicht, die dem Printemps d’un proscrit zweifellos literarhistorisch zunächst zu unterstellen ist, tatsächlich in der literarischen Praxis umsetzte. Guitton hat zu Recht darauf hingewiesen, dass mit der Revolution auch in der poésie descriptive die Aktualität Einzug hielt. 41 Tatsächlich ist die Mischung aus bald stereotyper Aneignung der Alpenlandschaft und kritischer Verarbeitung des Revolutionsgeschehens gerade bei Michaud zu kontrastiv angelegt und zu zeitpolitisch motiviert, um direkt an die Thomsonsche Gattungstradition, die Saint-Lambert und Delille in Frankreich popularisiert hatten, anschließen zu können. Dies zeigt sich bereits in der zitierten Passage und ihrem im intertextuellen Zusammenhang verstörenden zweiten Vers, der die Unwilligkeit des lyrischen Sprechers betont, sich in der ländlichen Zurückgezogenheit mit tagespolitischen Fragen zu beschäftigen. Damit wird vorgegriffen darauf, dass sich auch in der Folge die evozierten tableaux der Landschaft gegen die eindringlich geschilderten Bilder des revolutionären Paris kaum behaupten können. Das lyrische Ich sieht aus der Ferne des Exils die ‚zitternden‘ Flussufer der Stadt und ihre ‚blutigen‘ Ruinen vor sich, und stellt sich vor, dass auch ihre Festungsanlagen blutgetränkt sind; in Paris - dem doch ein beliebter Monarch geschenkt worden war - herrschten nun Armut und Trauer: Tu reçus dans ton sein un monarque adoré; Réponds-moi: qu’as tu fait de ce dépôt sacré? Ton fleuve voit par-tout sur ses rives tremblantes, Du trône et des autels les ruines sanglantes; Tes remparts sont souillés des plus noirs des forfaits; La misère et le deuil assiègent tes palais. (PP S. 47) Doch damit nicht genug: Die Stadt stellt sich dem politisch Verbannten als das Opfer eines fürchterlichen Systems dar, das sie selbst hervorgebracht hat; Paris ist Victime comme nous d’un horrible système, Tu causas tous nos maux, tu les souffres toi-même. Le luxe, les beaux-arts, source de ta splendeur, 41 Guitton: Jacques Delille [Anm. 14], S. 430. <?page no="44"?> 42 Frank Estelmann Ont fui ton peuple en proie à l’aveugle terreur; […] (PP S. 47) In Paris herrschen der blinde Terror, die Ignoranz und die Lethargie. Kurzum: das Schafott der Jakobiner, das der poète proscrit in einem Denkbild im ersten Gesang evoziert, verhindert in der Hauptstadt jede Erneuerung und jede Form des Glücks. Es ‚verschlingt‘ den Frühling, so wie die Revolution, dem bekannten Ausspruch Vergniauds vor der Guillotine folgend, ihre Kinder verschlungen hat: „[…]; et l’échafaud impie / Dévore le printemps et l’hiver de la vie“ (PP S. 48). Damit hat die Revolution - die das Schafott motivisch repräsentiert - buchstäblich den eigentlichen Gegenstand des lyrischen Sprechens, den Frühling, zerstört. Weiterhin hat sie sogar Gott ins Exil geschickt: „D’un monde corrompu, Dieu lui-même exilé“ (PP S. 50). Wie Chateaubriand in seiner Rezension bemerkt, dankt der Verbannte im Printemps d’un proscrit daher jenen geduldigen Freunden in besonderer Weise, die ihn auf der Flucht aus dem finstersten Ort der Hölle, dem Tartaros, bei sich aufgenommen haben, um ihm eine glückliche Existenz in der Zurückgezogenheit des Landes zu ermöglichen: Jeté dans ces vallons, loin d’un monde barbare, J’ai trouvé l’Élysée en fuyant le Tartare. Puissé-je parmi vous, heureux hôtes des champs, Voir s’écouler mes jours comme ceux du printemps; Et, fixé pour jamais sur ces rives lointaines, Goûter tous vos plaisirs, sentir toutes vos peines! (PP S. 53-54) Nun war die empfindsame Naturvorstellung schon bei Saint-Lambert „von vornherein als sentimental-moralisches Gegenbild zur städtischen Zivilisation“ 42 und als Ort wahrer Tugend gedacht. Die Stadt-Land-Opposition im Printemps d’un proscrit fügt sich daher in ein Naturkonzept ein, das mit der Glücksvorstellung der aufklärerischen Landschaftschiffre verbunden ist. Sie geht darin allerdings nicht auf. Den Städtern in Saint-Lamberts Les Saisons hatten der „luxe des cités“, der „monde frivole“ der Stadt und die urbanen „enclos stérilement ornés“ den Weg zum wahren Glück verstellt; dieses Glück war nur auf dem Land, im „autre Eden“ des „jardin du monde“, zu finden gewesen. 43 Das Schreckensgemälde aber, das im Printemps d’un proscrit vom blutrünstigen Pariser Chaos gezeichnet wird, übersteigt die traditionelle Abwertung des städtischen Daseins. Es besitzt ein Eigengewicht, das für das Lob des Landlebens gar nicht benötigt wird. Die Stadt ist nicht mehr allein das unkonkrete Gegenbild zum eigentlichen Gegenstand empfindsamer Naturbetrachtungen. Das Bild, das von der in Paris herrschenden moralischen Zerrüttung gezeichnet wird, ist dermaßen zeitgeschichtlich konkret und ausführlich, dass es sich gattungsgeschichtlich betrach- 42 Rusam: Literarische Landschaft [Anm. 35], S. 24. 43 Saint-Lambert: Les Saisons, poëme. London: o.A. 1782, S. 28, S. 31, S. 36 und S. 41 (in der Reihenfolge der Zitate). <?page no="45"?> Die Entgrenzung des Exils in Michauds Le printemps d’un proscrit (1803) 43 tet verselbständigt hat. Zwar hatte schon Delille selbst in seine ländlichen Szenen im 1800 publizierten L’Homme des Champs einige Verse über die Schrecken der Revolution eingefügt - woraufhin der Directoire alle Verse mit Aktualitätsbezug zensiert hatte. 44 Der von Delille selbst gelegten literarischen Tradition nach sollte die poésie descriptive jedoch, wie Delille es in Les Jardins, einem der vielgelesenen und -rezipierten Werke der französischen Aufklärungsliteratur, exemplarisch formuliert hatte, vorrangig der Beobachtung, Erkenntnis und Imitation der Natur dienen („[o]bservez, connoissez, imitez la nature“) 45 , insbesondere dem Erfassen natürlicher Vielfalt. Die Suche nach der „variété“ und den „contrastes heureux“ 46 sind Leitmotive und zugleich Stilideale von Les Jardins und der poésie descriptive traditionellen Stils allgemein. Das Herrscherlob der Bourbonen, das in Les Jardins dennoch zu finden ist, 47 ist deshalb legitim, da es sich harmonisch in den Kontext des ebenfalls evozierten universellen Friedens, des glücklichen Volks, der lebendigen Künste und der abondance der Natur einfügt, denen das eigentliche poetische Interesse gilt. Dies verweist darauf, dass Delille Les Jardins dem schon von Saint-Lambert formulierten moralischen Imperativ der Gattung unterordnete, die Feier der vie champêtre in erbaulicher Funktion „à la noblesse et aux citoyens riches“ 48 zu richten: „Il est utile […] d’inspirer aux premières classes des citoyens le goût de la vie champêtre“ 49 . Dass Michaud sich von der Gattungsfunktion der Beschreibung natürlicher Beschaulichkeit zumindest implizit distanzierte, ist durch das Revolutionsgeschehen erklärbar. Ohne die von ihren traditionellen Adressaten gefestigte gesellschaftliche Ordnung musste aus Sicht Michauds auch die Funktion der Gattung erneut zur Disposition stehen. So übersteigt der Printemps d’un proscrit, der durch Thomsons The Seasons (1726-1730), Saint-Lamberts Les Saisons (1769) und eine ganze Reihe deskriptiver Jahreszeiten-Gedichte französischer Sprache in erheblichem Maße intertextuell vorkodiert ist (was hier nicht im einzelnen gezeigt werden kann), in der Kontrastierung der Ideallandschaft der Alpen mit der von revolutionärem Terror geprägten Stadt die Vorgaben seiner Hypotexte: Die vie champêtre wandelt sich vom Ort des Rückzugs, der den verderblichen Einfluss des städtischen Luxus dämpfen kann, zum einzig Glück versprechenden Gegenort an der Peripherie um sich greifender gesell- 44 Vgl. Guitton: Jacques Delille [Anm. 14], S. 442. 45 Delille: Les Jardins [Anm. 4], S. 7. 46 Vgl. Delille: Les Jardins [Anm. 4], z.B. S. 22 („la variété seule a le droit de vous plaire“) und S. 26 („Inventez, hasardez des contrastes heureux“). 47 Delille: Les Jardins [Anm. 4], S. 8, S. 17 und S. 20. 48 Saint-Lambert: Discours préliminaire. In: Ders.: Les Saisons [Anm. 43], S. 5-24, hier S. 20. 49 Ebd. Vgl. dazu die Ausführungen in der Préface von Delilles Les Jardins, z.B.: „L’art des jardins, qu’on pourrait appeler le luxe de l’agriculture, me paroît un des amusements les plus convenables, je dirois presque les plus vertueux, des personnes riches.“ Delille: Préface. In: Ders.: Les Jardins [Anm. 4], S. 1-6, hier S. 1. <?page no="46"?> 44 Frank Estelmann schaftlicher Korruption, der sich der weise Exilant als Eiche, die dem Gewitter trotzen kann (PP S. 50), entzogen hat. Das Verhältnis der Zeitgeschichte zur poetischen Wirklichkeit ist nun nicht mehr hierarchisch gestuft, es ist keines der harmonischen Unterordnung mehr, sondern der antithetischen Gegenüberstellung. Das lyrische Ich spricht von sich als einem „sage, ami des champs“, der „contemple du rivage / Ces immenses débris dispersés par l’orage.“ (PP S. 49) Obwohl auch der verbannte Poet mit der frühlingshaften Natur wiedergeboren wird und er eine ganze Ahnenreihe seiner intellektuellen und literarischen Vorbilder der jüngeren Geschichte auflistet - die Liste reicht von Bossuet, Fénelon, Delille, Morellet oder Laharpe bis hin zu Bernardin de Saint-Pierre (PP S. 54- 55) -, kann nicht einmal er die vorgefundenen Trümmer („débris“) wieder zu einem poetischen Ganzen alten Stils zusammensetzen. Der Printemps d’un proscrit ist ikonographisch eben in ein unversöhnliches Nebeneinander zwischen städtischem Terror und ländlicher Idylle eingefasst, das auch deshalb den Exilcharakter des Werks prägt, da es intertextuell und gattungsgeschichtlich nicht hinreichend zu erklären ist. Gerade in gattungsgeschichtlicher Hinsicht erscheint das Werk also als das Ergebnis der konfliktiven Erinnerungsarbeit eines Exilanten, der angesichts der Ereignisse von 1789 um poetische Neuorientierung ringt und diese Neuorientierung in einer Gattung angeht, die sich gegen aktuell politische Funktionalisierung traditionell gesperrt hatte. Insofern kommt der gattungsgeschichtliche Übergang von der ‚vorrevolutionären‘ Tradition zur krisenhaften Verwirklichung der poésie descriptive in Michauds Gedicht im übrigen dem Übergang gleich, den u.a. Béatrice Didier zwischen dem empfindsamen Roman Rousseausscher Prägung und der gestörten Empfindsamkeit in L’Émigré Sénac de Meilhans festgestellt hat, dem bekanntesten gegenrevolutionären Emigrationsroman französischer Sprache. 50 Sowohl bei Michaud als auch bei Sénac de Meilhan wird durch den Bezug auf die Revolution eine aus dem Ancien Régime herrührende literarische Formtradition, bevor sie mit neuem Anspruch gefüllt wird, zunächst einmal mit einer ihrer empfindsamen Zielsetzung konträr verlaufenden zeitgeschichtlichen Aktualität kontrastiert und dabei außer Kraft gesetzt. Daran ist im übrigen auch erkennbar, dass die übliche, gattungsgeschichtlich argumentierende Feststellung der Dekadenz der poésie desriptive zu Beginn des 19. Jahrhunderts am Wesentlichen vorbeigeht, nämlich daran, dass nicht der Aspekt des kontinuierlichen und uninspirierten Fortschreibens ästhetischer Entwürfe an Texten wie dem Michauds auffällig ist, sondern 50 Vgl. Béatrice Didier: Écrire la Révolution, 1789-1799. Paris: P.U.F. 1989, S. 207-215 (Kapitel: Le roman d’émigration), Regina Köthe: Vor der Revolution geflohen: Exil im literarischen Diskurs nach 1789. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 1997, S. 191- 222 (Kapitel: Sénac de Meilhan - Der Royalist), sowie die Beiträge zu Sénac von François Rosset, Catriona Seth, Anne Brousteau und Florence Lotterie in: Destins romanesques de l’émigration. Sous la direction de Claire Jacquier, Florence Lotterie et Catriona Seth. Paris: Desjonquères 2007. <?page no="47"?> Die Entgrenzung des Exils in Michauds Le printemps d’un proscrit (1803) 45 gerade ihr aktualitätsbezogener Versuch, der Gattungsentwicklung eine neue Richtung zu geben. Nur vor diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, dass Michaud in den, dem Printemps d’un proscrit vorangestellten „Quelques observations sur la poésie descriptive“ das Beschreiben als Selbstzweck auch aus der Sicht eines deskriptiven Dichters als exzessiv von sich weist: Il est un […] excès dans lequel sont tombés la plupart des poëtes qui se sont livrés au genre descriptif. Sous le prétexte d’être exacts, ils ont voulu tout décrire; […]. Les poëtes allemands sont tous tombés dans ce défaut; Thompson n’en est point exempt. La plupart de leurs tableaux champêtres ressemblent moins à des poëmes qu’à des herbiers, ou des nomenclatures d’histoire naturelle; ils semblent ne travailler que pour les botanistes […]. 51 Offenbar geht die moralisierende Politisierung der Gattung bei Michaud einher mit einer Selbstdistanzierung von der Gattungstradition, die durchaus Argumente der Kritiker der poésie descripive aufzunehmen imstande war und den Traditionsbruch deutlich markiert. Die Behauptung des sich in der poésie descriptive manifestierenden guten Geschmacks, den Michaud vor allem im Befolgen der Funktion des „émouvoir“ wieder klassizistisch fasst und der ‚naturalistischen‘ Tradition der Deskriptivisten entgegenhält, koinzidiert mit einer Verteidigungshaltung gegen den Vorwurf, in seine Landschaftsbilder die „souvenirs de la révolution“ in belehrender Absicht eingefügt zu haben: 52 „Les descriptions de la campagne sont monotones par elles-mêmes; on a besoin de les faire ressortir par des oppositions; et quelle opposition plus forte et plus tranchante que les tableaux de nos troubles politiques? “ 53 4 Der zweite Gesang: Paradoxa des Frühlingsmotivs An die Feststellung des gattungsgeschichtlich innovativen Aktualitätsbezugs kann auch die Analyse des Frühlingsmotivs im Printemps d’un proscrit anschließen. Das Frühlingsmotiv war seit Thomsons The Seasons und Saint- Lamberts Les Saisons charakteristisch für die Gattung der poésie descriptive. Nicht nur, dass zahlreiche Frühlingsgedichte in deskriptiver Dichtungsform aus der Literatur des 18. Jahrhunderts überliefert sind. Das Motiv spielt auch in zahlreichen weiteren poèmes descriptifs eine zentrale Rolle. Saint-Lamberts Les Saisons etwa folgt dem „marche de la nature“ vom „équinoxe du printemps jusqu’au-delà du solstice d’hiver“ 54 . Morels Gartentraktat Théorie des jardins (1776) sieht im Frühling die Verkörperung natürlichen Neubeginns: Frische, 51 Michaud: Quelques observations [Anm. 15], S. 34. 52 Ebd., S. 35-37. 53 Ebd., S. 37. 54 Saint-Lambert: Discours préliminaire [Anm. 48], S. 21. <?page no="48"?> 46 Frank Estelmann Anmut und Jugend sind seine Attribute. 55 Auch Delilles Les Jardins hebt mit der entsprechenden Anrufung des Frühlings an: „Le doux printemps revient et ranime à la fois / Les oiseaux, les zéphyrs, et les fleurs, et ma voix“ 56 . Nun korrespondierte der mit dem Frühlingsmotiv korrelierte empfindsame Naturbegriff schon in der Aufklärung nicht allein mit der Evidenz natürlicher Regeneration, die der Frühling verkörperte, sondern artikulierte schon dort im Wechsel der Jahreszeiten die Hoffnung auf gesellschaftliche Erneuerung, freilich wie gesehen vor dem Hintergrund der sozialen Ordnung des Ancien Régime. Zweischneidig wird diese Hoffnung erst dann, wenn sie, wie im Printemps d’un proscrit, mit dem revolutionären gesellschaftlichen Ereignis korreliert wird, das diese Ordnung zerstört hat. Dabei gewinnt die topische Rede von der Erneuerungskraft des Frühlings, der den Winter naturgemäß ablöst, eine politische Dimension, deren Eignung zur antirevolutionären Propaganda in Frage gestellt werden kann - was Michaud durchaus bewusst war. Sich der Gefahr aussetzend, mit dem Frühlingsmotiv die Perspektive der Sieger zu teilen, die vollendete Tatsachen geschaffen zu haben glauben, stellt Michaud daher den Printemps d’un proscrit vor allem im zweiten Gesang des Werks als ein Testament der Gegenrevolution im Frühling der napoleonischen Epoche dar, als einen Ort, der Opfer des Winters nochmals zu gedenken - bevor es dann notgedrungen weitergeht. Nachdem bereits der erste Gesang mit dem lakonischen Hinweis auf das wohltuende Vergessen vergangener Greuel geendet hatte, heißt es nun: Mais le temps qui par-tout promène ses ravages, Dans son cours éternel ramenant les saisons, Fait renaître les fleurs et l’espoir des moissons. Bientôt la paix sourit autour de la chaumière; Et Phébus dans les flots da sa vive lumière, Sur les monts, dans les champs par lui fertilisés, Verse l’oubli des maux que la guerre a causés. (PP S. 68) Mit Frühlings ‚Vergessen‘ stellt sich eine universelle, natürliche Ordnung wieder her, und der Kreis der Jahreszeiten schließt sich wieder: Ainsi, de l’univers l’ordre toujours constant, Des débris du chaos sans cesse renaissant, Montre par-tout des dieux la sagesse suprême; C’est un cercle infini qui roule sur lui-même; Et de l’éternité rapprochant les instans, Il entraîne avec lui les êtres et les temps. (PP S. 69) Eingelassen in solche totalisierenden Ordnungsvorstellungen, die die einzelnen historischen Momente typischerweise im sinnhaft vorstrukturierten kosmischen 55 Vgl. dazu die Ausführungen in Birgit Wagner: Gärten und Utopien. Natur- und Glücksvorstellungen in der französischen Spätaufklärung. Wien u.a.: Böhlau 1985, S. 67-69. 56 Delille: Les Jardins [Anm. 4], S. 7. <?page no="49"?> Die Entgrenzung des Exils in Michauds Le printemps d’un proscrit (1803) 47 (nicht gesellschaftlichen! ) Gesamtgefüge aufheben, wird die Revolution nachträglich zum Instrument göttlicher Vorsehung erklärt. Natürliche Regeneration im Zyklus der Jahreszeiten und gesellschaftliche Regeneration durch umfassende Umwälzungen werden ganz bewusst analogisiert. Sicher dient dieses Verfahren vor allem dazu, „la foudre, la tempête et la grêle bruyante“ (PP S. 67) als vorübergehende Erscheinungen in Natur und Gesellschaft zu deklarieren: Das Motiv steht in Zusammenhang mit der wiederholt artikulierten, tröstlichen Gewissheit, dass nach einem harten Winter immer ein lieblicher Frühling kommt. Zeitgeschichtlich kontextualisiert, wie der Text selbst es nahe legt, entfaltet die Saint-Lambertsche Bezeichnung der Jahreszeitenwechsel als „les révolutions“ 57 bei Michaud jedoch ebenso ihr problematisches Potential, zumindest aus Sicht der royalistischen Opposition gegen die Folgen der Grande Révolution. Auch die Revolution von 1789 muss eine über den von ihr verbreiteten Schrecken hinausweisende Bedeutung in der Geschichte des Kampfes zwischen Ordnung und Chaos besessen haben. Sie kann im Verweissystem des Gedichts nicht allein das anarchische, gewalttätige Prinzip verkörpern, das der erste Gesang des Printemps d’un proscrit anklagt. Konsequent führt das lyrische Ich daraufhin am Ende des zweiten Gesangs aus, dass es zwar verfolgt worden und zum Tode verurteilt gewesen sei und vergeblich die Justiz angerufen habe, dass es aber in den Landschaften seiner Kindheit in der Zwischenzeit seine Seelenruhe habe wiederfinden können: À peine citoyen, j’ai perdu ma patrie, Et j’ai connu la mort sans connoître la vie. Je dénonçai le crime, et le crime impuni Me chargea sans pitié des fers forgés pour lui; J’ai vu des factieux la horde menaçante, Les échafauds dressés et la hache sanglante; De ma patrie en deuil j’avois plaint les malheurs, Et devant mes bourreaux, accusé par mes pleurs, En vain d’un Dieu vengeur j’implorais la justice; […]. Des fers de ma prison, ma pensée affranchie Remontoit vers le ciel, ma dernière patrie. À tout ce que j’aimai, j’adressai mes adieux: O rivages de l’Ain, vallons délicieux, O bois! dont mon enfance avoit cherché l’ombrage, Vous mêliez à mon deuil votre riante image; Et mes derniers regards, en dépit des tyrans, Se détournoient vers vous et cherchoient le printemps. […] Je fuis; et du Jura les antrés ignorés M’offrent contre la mort leurs asiles sacrés. Errant sur ces rochers, noir séjour des orages, Je retrouvais la paix dans leurs grottes sauvages, La paix que ma patrie, hélas! ne connoît plus. (PP S. 74-76) 57 Saint-Lambert: Discours préliminaire [Anm. 48], S. 5. <?page no="50"?> 48 Frank Estelmann Über den weiten Gipfeln der Alpen und ihrer friedlichen Würde und angesteckt von der Freundschaft der Bergbewohner habe sich das Bedürfnis nach Rache gegenüber den Verfolgern verflüchtigt. Der Emigrant sieht sich als eine junge Blume, die ihren Blütenkelch in der Dunkelheit verschlossen und für bessere Tage, die der Rückkehr der Gerechtigkeit, bewahrt hat: Mais quand les vents calmés rendent la paix au monde: La poussière retombe avec la fange immonde: Ainsi disparoîtra la splendeur des méchans. Et moi, loin des cités, dans le repos des champs, Le front voilé, des Dieux j’attendrai la justice, Comme une jeune fleur, dont l’humide calice Du soleil qui s’éloigne espérant le retour, Se referme, et languit dans l’attente du jour. (PP S. 80-81) An dieses gottesfürchtige Selbstbild eines an die Providenz glaubenden Verbannten schließen sich dann Verspassagen über die Fauna der Bergwelt an, die in die Feststellung münden, dass in diesem „éden“ der Bergwelt, in dem der Emigrant die „paisible innocence“ wiederfand, die aus der Stadt vertriebene Tugend Zuflucht gefunden hat (PP S. 85). Bei der Interpretation solcher Passagen fällt in einem weiteren Schritt nicht nur die Exilerfahrung selbst, sondern auch der Publikationszeitpunkt des Printemps d’un proscrit ins Gewicht, der ja mit der Rückkehr aus der Emigration koinzidiert. In dem historischen Moment, in dem Bonaparte von seinen Anhängern als Erneuerer Frankreichs gefeiert wurde, 58 kann das Motiv frühlingshafter Erneuerung den Willen zur monarchistischen Restauration nicht ohne weiteres bestätigen. Michaud war - hier im Bild des ewigen Frühlings - bereit dazu, der revanchistischen Hoffnung auf eine bloße Rückkehr der Vergangenheit abzuschwören. Für einen Anti-Bonapartisten wie ihn tat sich jedoch sogleich ein neues Betätigungsfeld royalistischer Literaturpolitik auf, das die Zeit nach der Emigration betraf. Michaud sah sich mit der Rückkehr aus dem Exil bereits nach neuen Koalitionen und neuen Gegnern um und identifizierte dabei vor allem den rationalistischen esprit philosophique des 18. Jahrhunderts und die agnostischen Wissenschaften, die er auch in der napoleonischen Gegenwart beobachtete, als neue Gegner. Daher geht das lyrische Ich schon im Printemps d’un proscrit unvermittelt zur Schmähung der unempfindsamen und daher gottlosen Figur des „vain savant“ über: Que je plains le savant qui ne voit dans la rose Que les sucs végétaux dont la fleur se compose! Pour lui, Flore a perdu ses parfums, ses couleurs, 58 Vgl. Katia Sainson: ‚Le Régénérateur de la France‘: Literary Accounts of Napoleonic Regeneration 1799-1805. In: Nineteenth-Century French Studies 30,1-2 (2001-2002), S. 9-25. <?page no="51"?> Die Entgrenzung des Exils in Michauds Le printemps d’un proscrit (1803) 49 Et l’Aurore jamais n’a répandu des pleurs. Dans l’immense horison que son regard embrasse, Un compas à la main, il ne voit que l’espace; Dans ce ciel étoilé, dans ces globes de feu, Son cœur froid et distrait n’apperçoit point un Dieu. Vain savant, il n’a lu dans son erreur profonde Qu’un feuillet détaché du grand livre du monde! (PP S. 87) Michaud machte noch als akademischer Historiker den Kampf gegen den Einfluss des enzyklopädischen Rationalismus und der empirischen Wissenschaften auf die französische Gesellschaft in den drei Jahrzehnten öffentlichen Wirkens, die ihm 1803 noch bevorstanden, zu einer der Hauptaufgaben der royalistischen Publizistik. In der zitierten Passage zieht er gegen den gleichen ideologischen Feind ins Feld wie später in jenen Briefen der Correspondance d’Orient (1833- 1835), in denen er die Gegenposition zum rationalistischen Reisenden und Aufklärer Volney bezieht. 59 Nun stehen die zitierten Verse im Zusammenhang mit den „Quelques observations sur la poésie descriptive“, worin Michaud das Erkenntnisinteresse der Naturwissenschaften als eine Form der Oberflächlichkeit und des Sich-Verlierens im Detail kritisiert, das den Blick aufs Ganze verstellt und denaturierend auf die französische Gesellschaft und Kunst gewirkt habe. 60 In späteren Ausgaben wird er an gleicher Stelle behaupten, der trockene Geist der Naturwissenschaften habe auch „la décadence de notre littérature“ 61 verursacht, wobei sich dann explizit Konturen der die romantische Ästhetik bestimmenden Annahme abzeichnen, dass die ‚zerlegende Wissenschaft‘ (Carus) dem nach der Ganzheit der Natur trachtenden ästhetischen Fühlen unangemessen sei. 62 Man mag die zitierten Aussagen Michauds aus dem Vorwort des Printemps d’un proscrit daher durchaus legitim als Stationen einer in der zweiten Romantik kulminierenden literarischen Entwicklung betrachten können, die bei Autoren wie Lamartine im Motiv der Welt als Buch Gottes dezidiert die Idee 59 Vgl. Verf.: Sphinx aus Papier. Ägypten im französischen Reisebericht von der Aufklärung bis zum Symbolismus. Heidelberg: Winter 2006, S. 131-148. 60 Diese betont antiszientistischen Aussagen finden sich erst in einer späteren Version des dem Printemps d’un proscrit vorangestellten Traktats über die beschreibende Poesie; vgl. Michaud: Quelques observations [Anm. 15], 7. Aufl. 1814, S. 16-18. Das Argument ist im Vorwort der Erstausgabe bereits angelegt; vgl. Joseph Michaud: Quelques observations sur l’origine et le caractère distinctif de la poésie descriptive. In: Ders.: Le Printemps d’un proscrit [Anm. 27], S. 7-38, hier S. 15-18. 61 Michaud: Quelques observations [Anm. 15], 7. Aufl. 1814, S. 22. 62 Vgl. Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 141- 163, hier S. 155-158. Zu Carus vgl. auch Pierre Wat: Naissance de l’art romantique. Peinture et théorie de l’imitation. Paris: Flammarion 1998, bes. S. 83-85. <?page no="52"?> 50 Frank Estelmann des Schöpfergottes mit der des Dichterpriesters verbinden wird. 63 Michaud betont in der zitierten Passage ja ausdrücklich gegen die naturwissenschaftliche Methodik die natürliche Einheit des „grand livre du monde“, dessen einzelne Seiten sich nicht heraustrennen lassen. In meiner Perspektive ist jedoch etwas anderes auffällig: Aus der Gattungsgeschichte der poésie descriptive heraus betrachtet sind die zitierten Verse unsinnig. Die Naturwissenschaften waren von den ‚Deskriptivisten‘ der Aufklärung geradezu zu Instrumenten der poetischen Inspiration erhoben worden. Saint-Lambert setzte seine Bilder der vie champêtre ausdrücklich in den Kontext der „attention curieuse“ 64 , die bemerkenswerte Fortschritte („progrès“) in den Wissenschaften der Physik, der Astronomie, der Chemie und der Botanik gebracht habe. Die Nähe der poésie descriptive zu den empirischen Wissenschaften war mithin einer der Gründe gewesen, warum diese poetische Schule bei den Vertretern klassischer Poetik in Misskredit stand. Michauds fortgesetzte Abgrenzung vom „vain savant“, die er auch in Versen wie „Quand le printemps revient, et lorsqu’à sa présence / Tout renaît à la joie et s’ouvre à l’espérance, / Il [= „le vain savant“ - F.E.] reste indifférent; tout semble mort pour lui“ (PP S. 88) konkretisiert, macht sich also in Aussage und Wortwahl die Perspektive jener Autoren zu eigen, die zum Beispiel von Delille, wie Clément, „un étalage moins scientifique“ 65 gefordert hatten. Der antiszientistische Gestus Michauds bezieht nun eindeutig Stellung gegen die Gattungstradition. Insofern kann Michauds Gedicht zwar im ästhetikgeschichtlichen Vorgriff auf die französische Romantik als Isolierung der ästhetischen Wahrheit aus dem sich ausdifferenzierenden Kontext literarischer und wissenschaftlicher Naturanschauung betrachtet werden. Dabei bleibt aber die Frage nach der Motivation einer solchen Isolierung offen. Es liegt nahe, diese Motivation in der politischen Opposition des Autors gegen Bonaparte zu suchen: In einer Zeit, die geprägt ist von den Bemühungen Bonapartes zum Aufbau von wissenschaftlichtechnischen Schulen und Akademien wird der Antiakademismus Rousseauscher Prägung aufgerufen, um dem drohenden Verlust holistischer Naturvorstellungen entgegenzuwirken, der - das ist aus Sicht Michauds klar - mit einer Revolution und Terreur fortsetzenden Verrohung der postrevolutionären Gesellschaft einherginge. In der zuletzt zitierten Passage kann der „savant“ die Erneuerungshoffnung des Frühlings nicht zufällig gar nicht erst wahrnehmen. Die Reflexion der ästhetischen Betrachtung und die politische Oppositionshaltung eines in die gesellschaftliche Entwicklung publizistisch intervenierenden Royalisten greifen also ineinander. An Passagen wie der zitierten erweist sich, was Bénichou zufolge die jüngere Generation an Gegenrevolutionären zu Beginn des 19. Jahr- 63 Zu Lamartines Dichterpriestertums vgl. z.B. Nicolas Courtinat: Philosophie, histoire et imaginaire dans le Voyage en Orient de Lamartine. Paris: Honoré Champion 2003, S. 174-179 (Kapitel: La quête de l’harmonie universelle). 64 Saint-Lambert: Discours préliminaire [Anm. 48], S. 10. 65 Zit. nach Kullmann [Anm. 23], S. 57. <?page no="53"?> Die Entgrenzung des Exils in Michauds Le printemps d’un proscrit (1803) 51 hunderts bezweckte, als sie den „vieux fond conservateur“ des Ancien Régime durch eine „philosophie militante“ 66 ersetzte: Empfindsamkeit wurde als ästhetische Norm zur publizistischen, politischen Waffe. Bei all dem kann der bereits erwähnte Gattungswandel der poésie descriptive zu Beginn des 19. Jahrhunderts also nicht allein durch die memoriale Abgrenzung von der Revolution von 1789 verstanden werden - vielmehr erscheint er auch als zeitpolitisch motivierter Beitrag zur Neugestaltung der nachrevolutionären Gesellschaft Frankreichs gegen die dominanten, offiziellen Strömungen der beginnenden napoleonischen Zeit. 5 Der dritte Gesang: die unmögliche Rückkehr aus dem Exil In eben diesem Sinne ist Michauds Werk ebenso Zeugnis des Exils wie der Heimkehr. In den zitierten Passagen deutet sich an, dass sich der Autor bereits an einer neuen, erst im Entstehen begriffenen gesellschaftlichen Ordnung orientiert. Angesichts der Rückkehr aus dem Exil und in einer Situation realer Machtlosigkeit der Emigranten beschwört er einen gesellschaftlichen Neubeginn, der den revolutionären ‚Bruch‘ für den Fall hinzunehmen bereit ist, dass sich die französische Gesellschaft nach der traumatischen Revolutionserfahrung wieder auf ihre monarchistische Bestimmung besinnen sollte. Darin ähnelt der Printemps d’un proscrit zunächst Delilles Malheur et pitié, das die Erinnerungen an Revolution und Verfolgung als ‚Bildungsgut‘ der Zukunft betrachtet und damit die weitere Entwicklung der französischen Gesellschaft konstitutiv - aber freilich sich davon abgrenzend - an das Erlebnis der Revolution zurückbinden will. Im Vorwort von Delilles Werk heißt es deutlich: „Les récits des calamités des fautes passées sont le patrimoine de l’avenir; c’est l’instruction des empires et des siècles.“ 67 Gleichzeitig distanziert sich Michauds Werk jedoch auch von einer auf die bloße Rückkehr des Ancien Régime abzielenden gesellschaftlichen Ordnung, wobei die Exilerfahrung hier zum ausschlaggebenden Faktor wird. Denn mit Shmuel Trigano ließe sich über den dritten Gesang des Printemps d’un proscrit, dem ich mich nun widme, sagen, dass Michaud gerade im Moment der literarisch versuchten Rückwendung auf die Zeit vor der Revolution feststellt, dass Ursprung und Heimat durch das Exil selbst nur Zwischenorte geworden und verloren sind: 66 Paul Bénichou: Le sacre de l’écrivain. In: Ders.: Romantisme français I. Paris: Gallimard (Quarto) 1996, S. 113. 67 Abbé Jacques Delille: Malheur et pitié. In: Ders.: Œuvres. 2 Bde. Paris: Lefèvre 1844, hier Bd. 1, S. 213 (Préface). <?page no="54"?> 52 Frank Estelmann C’est en effet en voulant se retourner vers son lieu originel, d’enracinement, que l’exilé se rend compte que ce lieu était déjà un lieu d’exil, un lieu intermédiaire, qui, de toute façon, lui a échappé pour toujours […]. 68 Nachdem der verbannte Dichter die Alpennatur so lange Zeit in sich aufgenommen hat, um sie schließlich als innere Landschaft poetisch zu veräußerlichen, erscheint er nun im dritten Gesang des Werks inmitten mythologischer Referenzen als vollends Heimatloser. Es geht nicht mehr nur noch um die Wirkung der Naturobjekte auf den Poeten: Dieser ist jetzt in der Peripherie seines Exils zu Hause. Grausam ist nun nicht mehr das Exil, sondern das Ende des Exils, die Rückkehr in die Stadt. Inmitten des Frühlings, in dem sich die Leser im dritten Gesang befinden, verliert das Exil seinen Charakter als Ausnahmezustand; überall, nur nicht im Exilort, ist nun Exil: Les beaux jours du printemps ont passé comme un jour; Et ces beaux jours pour moi sont perdus sans retour. Adieu, vallons charmans! La fortune cruelle, Loin de ces bords chéris, aux cités me rappelle. Ce sénat, qui long-temps régna par ses forfaits, Vient me persécuter jusque par ses bienfaits. Oui, barbares, je hais jusqu’à votre justice: Votre loi qui m’absout commence mon supplice. Dans les champs, loin de vous, je vivois consolé; Mais en me rappelant, vous m’avez exilé. (PP S. 93-94) Es scheint so, als habe sich der Instinkt des Vaterlands („instinct de la patrie“) 69 , den Chateaubriand im Génie du christianisme als einen Bestandteil der göttlichen Vorsehung angesehen hatte, angesichts der bevorstehenden Rückkehr aus dem Exil verflüchtigt. Denn die Frage, die sich der proscrit am Ende stellt, ist nicht mehr, wie das Exil schreiben? oder: wie im Exil über die Heimat dichten? sondern: Wie über jenes dichten, was als Heimat nicht mehr Exil sein sollte, sich aber wie ein Exil in der Heimat darstellt („[E]n me rappelant, vous m’avez exilé“)? Nachdem sich der lyrische Sprecher das Schreckbild eines Lebens im nachrevolutionären Paris mit all den Greueln der Vergangenheit, die dort als Erinnerungsspuren lauern, im Detail vorgestellt hat, merkt er an: Alors, ô mes amis! Dans ma douleur profonde, Fuyant ce noir séjour, ces tableaux pleins d’horreurs, 68 Shmuel Trigano: Le Temps de l’exil. Paris: Rivages poche / Petite Bibliothèque 2005, S. 58. 69 François-René de Chateaubriand: Génie du christianisme. In: Ders.: Essai sur les révolutions. Génie du christianisme. Hg. von Maurice Regard. Paris: Gallimard (Pléiade) 1978, S. 599 (I re partie, livre V, chap. XIV): „[…] une partie de notre vie reste attachée à la couche où reposa notre bonheur, et surtout à celle où veilla notre infortune“ etc. <?page no="55"?> Die Entgrenzung des Exils in Michauds Le printemps d’un proscrit (1803) 53 Je tournerai vers vous des yeux mouillés de pleurs, J’invoquerai des bois les ténébreux ombrages, Et le calme profond de leurs antres sauvages. (PP S. 110-111) Die Heimat, auf die er vorausblickt, ist kein lebendiger Ort mehr, sondern ein Ruinenfeld der Erinnerungen an bessere Tage. Die Rückkehr aus dem Exil ist synonym mit einem „nouveau deuil“ (PP S. 96): „Le soleil reviendra demain les [= „ces champs, ces bois et ces prairies“ - F.E.] visiter; / Et moi, c’est pour jamais que je vais les quitter.“ (PP S. 105) Man kann neben einer veränderten Sehweise auf die eigene Exilsituation auch von einem inneren Zwang sprechen, der sich aus dem Landschaftstopos in der Tradition der poésie descriptive ergeben hat - eine generische Eigengesetzlichkeit, die in einer anderen historischen Verweissituation nun ganz offenbar zurückschlägt. Eine Stadt kann für ein empfindsames Ich niemals Ideallandschaft sein: Sie wird hinter jeder natürlichen Exillandschaft wie den Alpen zurückstehen müssen. Mit der Idyllisierung des Exilorts und der symbolischen Verankerung des verbannten Dichters im Exil ist bei Michaud die Unmöglichkeit in Kauf genommen, mit der Rückkehr in die Stadt den Abschied vom Exil zu vollziehen. In dem Maße, in dem der lyrische Sprecher „mes destins errans“ (PP S. 95) evoziert, wird die Exillandschaft zur tugendhaften, freundlichen, kontrastreich-pittoresken Landschaft der Fülle. Da dagegen die Stadt, zumal sie mit Revolutionserinnerungen verbunden wird, nicht der geeignete Platz für Poesie ist, gleicht der Rückruf aus dem Exil dem Ende der von der Natur ausgehenden poetischen Inspirationskraft: „Adieu, concerts touchans, adieu tendre délire, / De mes tremblantes mains je sens tomber ma lyre“ (PP S. 107). Da er das Exil entgrenzt und es zur eigentlichen Heimat der lyrischen Stimme erhebt, und zum Tongeber, um den gesellschaftlichen Umbruch in der fernen Metropole anzuklagen und zu beeinflussen, gibt es keinen Raum außerhalb des Exils mehr. Um es mit den Worten der Diskursanalyse Dominique Maingueneaus zu sagen: Michaud ersetzt eine „paratopie temporelle“ („mon temps n’est pas mon temps“) durch eine „paratopie spatiale“, „celle de tous les exils“ („mon lieu n’est pas mon lieu“). 70 Während die Zeit des royalistischen Exils nach 1789 aus den Angeln des Vorübergehenden gehoben wird, öffnet sich der poetische Raum eines andauernden Exils in der Außerhalbbefindlichkeit, in dem der romantische Dichter fortan zu Hause sein wird. So beleuchtet der Text den kollektiven Aspekt des romantischen Exils in Frankreich. Denn im 1803 publizierten Printemps d’un proscrit geht das Exil als positive Befindlichkeit und als Initiationsort des poetischen Schreibens hervor. Der telos der Exilliteratur ist es, die Exilsituation zur geistigen Heimat privilegierter poetischer Subjektivität zu erklären. 70 Vgl. Dominique Maingueneau: Le Discours littéraire. Paratopie et scène d’énonciation. Paris: Colin 2004, S. 87. <?page no="56"?> 54 Frank Estelmann 6 Schlussbemerkungen Ein solches entgrenztes Verständnis des Exils ließe sich zuletzt literarhistorisch als aktualisierter Rousseauismus beschreiben. Julie, ou La Nouvelle Héloïse ist deshalb als „roman de l’exil“ bezeichnet worden, 71 da der epistolare Schreibort, von dem Saint-Preux aus an Julie schreibt, immer dort verortet ist, wo Julie nicht ist: „Puisque l’absence est la condition même de la lettre, le monde tel qu’il sera perçu et écrit par l’amant portera paradoxalement la carence comme signe premier, comme marque essentielle.“ 72 Die Briefe Saint-Preux’ füllen diese Lücke nur teilweise aus. Bestehen bleibt das Liebesexil als unhintergehbarer Fatalismus, der Saint-Preux schließlich nach seiner „tour entier du globe“ ausrufen lässt: „Ne suis-je pas désormais par tout en exil? “ 73 Es ist auffällig, dass sich Michaud die Nouvelle Héloïse als Referenztext anbot, den er im Printemps d’un proscrit explizit ansprach: 74 Wie Saint-Preux hatte auch er sich in die Alpen ins Exil zurückgezogen; wie beim literarischen Vorbild ist auch sein Exil vor allem ein Rückzugsort, eine retraite champêtre, die ihm wie dort zunächst die Gastfreundschaft der Alpenbewohner mit utopistischem Anklang ermöglicht. In gewisser Weise wird im Printemps d’un proscrit, wenn darin die Unmöglichkeit der Rückkehr aus dem Exil mit der Entgrenzung der Exilsituation zusammengedacht wird, also nichts anderes gezeigt als eine Politisierung der von Rousseau tradierten Vorstellung des Liebesexils. Damit wäre dieses Exilwerk Michauds zum einen Teil der Erinnerungskämpfe um Rousseaus Erbschaft, die anfangs Erwähnung fand, nur dass die empfindsame, tugendhafte Geliebte Julie für den ‚neuen‘ Saint-Preux metonymisch für die gesamte französische Nation steht. Dieses Verweissystem wird dann allerdings dadurch unterbrochen, dass Frankreich durch die revolutionären ‚Barbaren‘ seiner Qualitäten beraubt wurde: Das Motiv der unmöglichen Rückkehr des Exilanten hat hier auch Gründe, die in der verlorenen ‚Unschuld‘, Empfindsamkeit und Tugendhaftigkeit der französischen Gesellschaft selbst liegen. Die Wirkungsgeschichte der Entgrenzungen des Exilbegriffs setzte sich in der französischen Romantik weiter fort. In einem Brief an Jean-Didier Baze merkte etwa Alphonse de Lamartine, offenbar von Victor Hugos im November 1853 erschienenen Châtiments beeindruckt, an: „[…] les vers en ce temps-ci ne 71 Laurence Mall: Origines et retraites dans La Nouvelle Héloïse. New York u.a.: Peter Lang 1997, S. 115 (Kapitel: Les dimensions de l’exil et la retraite utopique). 72 Ebd., S. 117. 73 Jean-Jacques Rousseau: Julie ou la nouvelle Héloïse. Hg. von René Pomeau. Paris: Garnier 1988, S. 393 und S. 396 (Quatrième partie, lettre III). 74 „Qui n’a pas plaint l’auteur d’Emile et de Julie, / Ce Rousseau malheureux par son propre génie? / […] / De la publique envie, objet infortuné, / Il n’a pas un asile, et meurt abandonné“ usw. (PP S. 71). In dieser Passage wird auch an die Überführung von Rousseaus Leichnam ins Pantheon erinnert, von der anfangs die Rede war. <?page no="57"?> Die Entgrenzung des Exils in Michauds Le printemps d’un proscrit (1803) 55 doivent être datés que de l’exil; il n’y aurait pas de convenance à chanter ses mélancolies ailleurs.“ 75 Und auch Théophile Gautier nahm am Ende des Voyage en Espagne die Pose des Exilanten ein, der unwiderruflich aus seiner Heimat verbannt worden ist: „Nous étions en France. Vous le dirai-je? en mettant le pied sur le sol de la patrie, je me sentis des larmes aux yeux, non de joie, mais de regret. […] il me semble que cette France, où pourtant j’allais retrouver ma mère, était pour moi une terre d’exil.“ 76 Solche Exilvorstellungen, die in Baudelaires Les fleurs du mal kulminieren sollten, 77 gingen als Form romantischer Selbststilisierung zurück auf die Emigration nach der Französischen Revolution. Auch für den Exildiskurs trifft also Chateaubriands Aussage zu: „Le changement de littérature dont le dix-neuvième siècle se vante, lui est arrivé de l’émigration et de l’exil; […].“ 78 75 Correspondance d’Alphonse Lamartine (1830-1867). Tome VI: 1850-1855. Textes réunis, classés et annotés par Christian Croisille, avec la collaboration de Marie-Renée Morin. Paris: Honoré Champion 2003, S. 585 (lettre à Jean-Didier Baze, 3. Dezember 1854). 76 Théophile Gautier: Voyage en Espagne. Prés. par Jean-Claude Berchet. Paris: GF Flammarion 1981, S. 403. 77 Vgl. dazu ausführlich Olaf Müller: Literatur im Exil. Zur Konstitution romantischer Autorschaft in Frankreich und Italien (1790-1860) (Habilschrift, Friedrich-Schiller- Universität Jena, 2010), Kapitel 1: „Comme les exilés, ridicule et sublime“. (Post)romantische Autorschaft und literarische Exiltradition in Baudelaires „Le Cygne“. 78 Chateaubriand: Mémoires d’outre-tombe. Préface de Julien Gracq. Introduction, notes et commentaire de Pierre Clarac. Hg. von Gérard Gengembre. Paris: Le Livre de Poche 1973, S. 431 (2 e partie, livre 13). <?page no="59"?> Nicolas Robin Le voyage souterrain: Naturwissenschaftliche Literatur und Exil bei Bory de Saint-Vincent Der naturwissenschaftliche Text wird wie jeder andere durch den historischen, sozialen und politischen Kontext geprägt, in dem sich sein Autor bewegt. Dennoch will eine verbreitete Sicht auf die Geschichte der Naturwissenschaften, dass der Naturwissenschaftler am Ende des 18. Jahrhunderts nur inspiriert von seiner Wahrnehmung und seiner Erfahrung der Natur schreibt, zwischen Empirie, Imagination und Spekulation. Die Natur, die ihn umgebende Welt bildet in dieser Sicht das Laboratorium des Naturkundlers in dieser Zeit. Die politischen Unruhen, die Europa erschüttern, gehen ihn nichts an, denn für ihn zählt nur die wissenschaftliche Praxis, die Sammlung, die Beobachtung, das Experiment. Die Natur ist das Exil, ein neutraler Ort, an dem der Naturforscher den politischen Lauf der Welt vergisst. Diese Sicht der Dinge ist selbstverständlich immer recht unrealistisch, ganz besonders aber im Fall des französischen Naturkundlers Jean-Baptiste Bory de Saint-Vincent, der wegen seiner antiroyalistischen Haltung während der Hundert Tage von Napoleons Rückkehr nach der endgültigen Restauration der Bourbonen von 1815 bis 1820 ins Exil nach Preußen und Belgien gehen musste. Der folgende Beitrag widmet sich also ganz besonders der naturwissenschaftlichen Literatur, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts im Exil entstanden ist. Es geht mir darum, so weit wie möglich die Auswirkungen des Exils, sei es nun ein politisch bedingtes oder ein freiwilliges, auf Formen und Inhalte des naturwissenschaftlichen Diskurses zu untersuchen. Meine Überlegungen über naturwissenschaftliche Literatur und Exil stützen sich unter anderem auf eine Schrift, die Bory de Saint-Vincent 1819 unter dem Titel Voyage souterrain, ou description du plateau de Saint-Pierre de Maestricht et de ses vastes cryptes 1 veröffentlicht hat. Der Voyage souterrain ist der Ausdruck von Borys Exil und seiner Flucht, um sich vor der Gegenwart in Sicherheit zu bringen („[pour se mettre] à l’abri du temps qui court“), 2 um im Inneren der Erde ein Asyl vor den Verfolgern zu finden, die die Erdoberfläche beherrschen („chercher au sein de la terre un asile contre les persécuteurs qui dominent sa surfa- 1 Ich zitiere nach der Ausgabe von 1821 (Paris: Ponthieu), die in den Nouvelles annales des voyages, de la géographie et de l’histoire [ … ] , vol. XII, 1821, S. 179-182, ausführlich rezensiert worden ist. Der Bericht über Borys naturkundliche Reise in die Höhlen des Plateaus von Maastricht wurde erstmals 1819 im ersten Band der Annales générales des sciences physiques (S. 185-273) veröffentlicht, einer Zeitschrift, die unter Bory de Saint- Vincents Leitung erschien. 2 Voyage souterrain [Anm. 1], S. 3. <?page no="60"?> 58 Nicolas Robin ce“), 3 oder einfach um eine Gegend voller Einzigartigkeiten zu untersuchen („étudier un pays rempli de singularités“). 4 Eine Frage wird jedoch sein, ob das naturwissenschaftliche Schreiben Bory de Saint-Vincent den erhofften Weg der Rettung bieten und ihn vor den Folgen seines ungestümen und leidenschaftlichen Temperaments, seiner politischen Ansichten und seiner finanziellen Nöte schützen konnte. 1 Die Gründe des Exils Jean-Baptiste Bory de Saint-Vincent (1778-1846) ist in Agen und dann in Bordeaux als Kind einer wohlhabenden und gebildeten Familie aus dem Amtsadel aufgewachsen. 5 Er war korrespondierendes Mitglied der naturwissenschaftlichen Klasse des Institut national 6 und als Oberst im Generalstab an den Feldzügen des Konsulats und des Empire beteiligt. Im Jahr 1800 wird er auf Empfehlung von Bernard de Lacépède (1756-1825) vom Institut de France für die Expedition abgeordnet, die der Kommandant Nicolas Baudin (1750-1803) in Richtung Neu-Holland (Australien) unternimmt. Als Entomologe, Botaniker und Mathematiker auf der Géographe landet er auf der Île de France (Mauritius) und verlässt dort den Rest der Expedition, um sich in die Dienste des örtlichen Gouverneurs zu begeben. Dieser entsendet ihn auf eine Forschungsreise auf die Île Bourbon, die heutige Île de la Réunion, deren Flora, Fauna und Vulkane er bis in die hintersten Winkel der Insel erkundet. 7 Die Ergebnisse seiner Beobachtungen veröffentlicht er in seinem Voyage dans les quatre principales îles des mers d’Afrique. 8 1802 nimmt er seine militärische Karriere wieder auf und ist mit dem dritten Armeekorps in Brügge stationiert. Gleichzeitig beginnt er seine politisch-publizistische Aktivität, in deren Verlauf er einen immer heftigeren Bonapartismus an den Tag legt. So gehört er zu den Mitarbeitern der Satirezeit- 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Vgl. Alfred Lacroix: Figures de savants. Paris: Gauthier-Villars 1932, Bd. 1, S. 273-320, und die neue Arbeit von Hervé Ferrière: Bory de Saint-Vincent (1778-1846): naturaliste, voyageur et militaire, entre Révolution et Monarchie de Juillet (thèse de doctorat, Université Panthéon-Sorbonne) 2006. 6 Er wurde am 20.6.1808 zum korrespondierenden Mitglied der Sektion für Anatomie und Zoologie der ersten Klasse des Institut national gewählt; vgl. Institut de France: Index biographique de l’Académie des sciences du 22 décembre 1666 au 1 er octobre 1978. Paris: Gauthier-Villars 1979, S. 146. 7 Vgl. dazu die Biographie von Bory, die Benoît Dayrat in: Les botanistes de la flore de France. Trois siècles de découvertes. Paris: Publications Scientifiques du Muséum national d’Histoire naturelle 2003, S. 288-297, publiziert hat. 8 Jean-Baptiste Bory de Saint-Vincent: Voyage dans les quatre principales îles des mers d’Afrique, Ténériffe, Maurice, Bourbon, et Sainte-Hélène. Paris: Buisson an XIII [ 1804 ] , 3 Bde. <?page no="61"?> Naturwissenschaftliche Literatur und Exil bei Bory de Saint-Vincent 59 schrift Le Nain jaune, ou Journal des Arts, des Sciences et de la Littérature, die zwischen Dezember 1814 und Juli 1815 unter der Leitung von Gauchois Lemaire erscheint und dann, als Bory sich bereits im Exil befindet, von März bis Dezember 1816 unter dem Titel Le Nain jaune réfugié, par une société d’antiéteignoirs. Bory beschreibt sich selbst als einen Mann, der drei verschiedene Karrieren durchlaufen habe: in den Wissenschaften, in der Armee und als Abgeordneter. Wie sehr sich diese Karrieren überlagern, zeigt eine Anekdote, die Bory selbst berichtet. Als Offizier habe er während der napoleonischen Kriege in Deutschland die Gelegenheit gehabt, in Berlin den Botaniker Carl Ludwig Willdenow zu treffen, der an der Berliner Universität unterrichtete: Willdenow m’a fait l’accueil qu’il a fait à Linné; j’en rougis: ces gens-là ont trop bonne opinion de moi. Il m’a donné ses ouvrages; je n’ai eu que le temps de jeter un coup d’œil sur ses herbiers. Il a 19000 espèces et m’a préparé un logement chez lui, pour me donner tout ce que je n’aurai pas dès que je repasserai par la capitale. Il ne conçoit pas comment je suis militaire et a failli se brouiller avec moi, quand son fils, tirant par hasard mon sabre, l’a vu encore sanglant; mais j’ai réparé cette malheureuse impression, en l’assurant que je ne recherchais de l’avancement que pour pouvoir, par mon rang, obtenir d’être le chef d’une belle expédition dans laquelle j’irais lui chercher de belles plantes à la Nouvelle Hollande, au Pérou, etc. etc. 9 Bedenkt man die Vielzahl von Schriften, die von Bory de Saint-Vincent vorliegen, gibt es erstaunlich wenige Untersuchungen zu seinem Werk, abgesehen von der vor kurzem erschienenen Doktorarbeit von Hervé Ferrière über Bory als Politiker. 10 Ferrière zeigt darin deutlich, dass Bory nicht nur ins Exil gehen musste, weil er in der Redaktion des satirischen Nain jaune arbeitete, der die katholische Kirche und die bourbonische Restauration verspottete, wenn auch ohne den König direkt zu attackieren. Unter anderem warf man zu Beginn der Restauration dem Nain jaune vor, er habe die Stimmung vorbereitet, die die Rückkehr Napoleons während der Hundert Tage ermöglicht habe, wofür sich das bourbonische Lager nach der endgültigen Niederlage Bonapartes natürlich rächen wollte. Doch Hervé Ferrière zeigt, dass Bory vor allem wegen seiner öffentlich geäußerten, oft wenig maßvollen politischen Stellungnahmen ins Exil gehen musste. So habe er sich am 16. März 1815 in seiner Uniform als Offizier des Empire gezeigt und mit Freunden laut vernehmlich über die mögliche Rückkehr Napoleons gesprochen und sich über die später unter Louis-Philippe berühmt gewordene Ähnlichkeit der Bourbonen mit Birnen geäußert. Außerdem stand er in Verbindung mit neojakobinischen Gruppen, die ihn aufforderten, sich als Abgeordneter für Agen wählen zu lassen. Am 16. Mai 9 Brief von Bory de Saint-Vincent an Léon Dufour, Frankfurt / Oder, 7.11.1806, zit. nach der Ausgabe Philippe Lauzun: Correspondance de Bory de Saint-Vincent Paris: Maison d’édition et d’imprimerie modernes 1908, S. 105-108. 10 Vgl. Anm. 5. <?page no="62"?> 60 Nicolas Robin 1815 wurde Bory dann als Vertreter des Départements Lot-et-Garonne in die Abgeordnetenkammer gewählt. Als Abgeordneter machte Bory während der Hundert Tage durch seine Stellungnahmen in der Nationalversammlung auf sich aufmerksam. Am 23. Juni, als nach der französischen Niederlage bei Waterloo die Errichtung einer provisorischen Regierung diskutiert wurde und der Abgeordnete Dupin sich der Ernennung von Napoléon II. widersetzte, fragte Bory die Versammlung, warum man denn nicht die Republik in Betracht ziehe („que ne proposez-vous la République“), was ihn zwangsläufig zum Gegner der Royalisten machte, die mit den Überläufern Talleyrand und Fouché (mittlerweile Duc d’Otrante) an der Thronübernahme durch Ludwig XVIII. arbeiteten. Bory verstärkte darauf seine antiroyalistischen Angriffe noch und verlangte von der Versammlung, man möge den Duc d’Otrante seiner Rechte entkleiden und ihn füsillieren lassen. Die Tatsache, dass Borys Name kurz nach der Rückkehr von Ludwig XVIII. auf den Thron von Fouché auf die Proskriptionsliste gesetzt wurde, ist also durchaus verständlich. Bory fand sich auf der zweiten Liste mit Personen, die verdächtigt wurden, für die Rückkehr Bonapartes nach Frankreich konspiriert zu haben. 11 Die Verbannten mussten Paris innerhalb von drei Tagen verlassen und sich an einen vorgeschriebenen Ort in Frankreich zurückziehen, um dort das definitive Urteil abzuwarten. Bory nutzte diesen ersten Schritt ins Exil, um ein Pamphlet zu verfassen, in dem er seine Haltung rechtfertigte und in einem Anfall von Opportunismus schrieb, er habe niemals ein Gran Weihrauch für den Kaiser Napoleon entzündet („jamais brûlé un grain d’encens pour l’empereur Napoléon“). 12 Er verließ Paris am 29. Juli 1815 und kehrte erst im Januar 1820 zurück. Sein erster Exilort war Maastricht: [ … ] je fuyais cette France où dominaient de tels proscripteurs appuyés par des baïonnettes alliées, et quand la police hollandaise ne permettaient point encore qu’une terre d’asile pût offrir un abri aux victimes des tyrannies étrangères, je dus, pour échapper aux persécutions d’un ministre des Pays-Bas et de l’ambassadeur d’un pays voisin, me jeter en Allemagne, où d’autres persécutions m’étaient réservées. Le chemin qu’il me fallait prendre me conduisit d’abord à Maestricht [ … ] . 13 Um sich zu verstecken, drang er in das Höhlensystem ein, das unter dem Hochplateau von Maastricht zwischen dem Zusammenfluss von Mosel und Jeker verläuft. Die Hochebene von Saint-Pierre (Sint Pietersberg) bei Maastricht war 11 „L’exil sans jugement de trente huit citoyens, contre lesquels on n’a pu rien alléguer, a rendu plus qu’aucun autre acte irrégulier du pouvoir, le despotisme chancelant dans un pays sur lequel toute l’Europe porte maintenant des regards inquiets“. Brief von Bory de Saint-Vincent an den Verleger Johann Friedrich Cotta, Magdeburg, 16.12.1816, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Cotta. 12 Hier zit. nach der zweiten Auflage Jean-Baptiste Bory de Saint-Vincent: Justification de la conduite et des opinions politiques de M. Bory de Saint-Vincent. 2ème édition augmentée. Bruxelles: Marchands de nouveautés 1816, S. 6. 13 Bory de Saint-Vincent: Voyage souterrain [Anm. 1], S. 3-4. <?page no="63"?> Naturwissenschaftliche Literatur und Exil bei Bory de Saint-Vincent 61 zu diesem Zeitpunkt ein von Naturforschern und Liebhabern naturhistorischer Kuriositäten geschätzter Exkursionsort. Erste wissenschaftliche Beschreibungen der Hochebene hatten bereits 1798 Barthélémy Faujas de Saint-Fond und 1801 Louis-Étienne-François Héricart de Tury im Journal des Mines veröffentlicht. 14 Während seines ersten Aufenthalts in den Höhlen unter dem Sint Pietersberg hatte der exilierte Naturforscher jedoch keine Gelegenheit, die natürlichen Gegebenheiten dort näher zu untersuchen. Nachdem er durch einen Freund aus Lüttich an Pässe gelangt war, setzte er seine Route in Richtung Deutschland fort. Er kehrte erst einige Jahre später wieder zurück, um den Sint Pietersberg gemeinsam mit den belgischen Botanikern Adrien Dekin und Behr zu erforschen. 15 2 Vom Schreibzwang Der Naturwissenschaftler im Exil ist von der wissenschaftlichen Gemeinschaft seines Landes abgeschnitten und damit zugleich ohne institutionelle Anbindung und meist auch ohne Einkommen. Er muss also auf seine existierenden Beziehungsnetze zurückgreifen, um die notwendige Unterstützung für den Aufbau einer eventuellen wissenschaftlichen Karriere außerhalb seines Heimatlands zu gewinnen. Bory de Saint-Vincent hatte als Forscher an Bord der Expedition von Kapitän Baudin oder als Offizier der Armee des Empire niemals Bedenken gehabt, Frankreich im Rahmen einer wissenschaftlichen Forschungsreise oder eines militärischen Unternehmens zu verlassen. Das jeglicher institutioneller Absicherung entbehrende politische Exil ist jedoch mit solchen Auslandsaufenthalten nicht zu vergleichen. Zwar blieb seine wissenschaftliche Neugierde angesichts der Reichtümer in den Höhlen des Sint Pietersbergs ungebrochen, obwohl er sich auf der Flucht vor der Polizei befand. Der wissenschaftliche Erkenntnisdrang allein war jedoch angesichts der materiellen Zwänge, denen sich der auf unbestimmte Zeit exilierte Bory im Alltag ausgesetzt sah, von nur geringem Nutzen. Bevor Bory nach Belgien und Holland zurückkehren konnte, reiste er durch Preußen. Er suchte in dieser Zeit die Unterstützung durch einflussreiche Persönlichkeiten, beispielsweise durch Wilhelm von Humboldt in einem Schreiben 14 Barthélémy Faujas de Saint-Fond: Histoire naturelle de la montagne de Saint-Pierre de Maestricht, Paris: Janson An VII (1798-1799), und Hericart de Tury: Essai potamographique sur la Meuse, ou observations sur sa source, sa disparition sous terre, sa nouvelle sortie et son cours. In: Journal des Mines, An X (1801), S. 291-319 [ zur Hochebene von Saint-Pierre S. 314-317 ] . 15 Vgl. Charles Morren / Édouard Morren: Prologue consacré à la mémoire de Jean Kickx 1775-1831. In: La Belgique horticole, journal des jardins, des serres et des vergers, Bd. VI, Lüttich (1856), S. vii. Ich danke Denis Diagre-Vanderpelen vom Botanischen Garten in Brüssel für die Informationen über die belgischen Naturforscher des 19. Jahrhunderts. <?page no="64"?> 62 Nicolas Robin vom 2. August 1816. 16 Humboldt, der während des Wiener Kongresses die rechte Hand des Staatskanzlers Karl August von Hardenberg gewesen war, befand sich 1816 noch am Bundestag in Frankfurt, wo er die noch offenen territorialen Fragen des deutschen Bunds behandelte. Von dort aus antwortete er Bory, der sich zu dem Zeitpunkt in Aachen aufhielt, und versicherte ihn, dass die Exilanten sich in Preußen aufhalten dürften, vorzugsweise in der Provinz Königsberg: Monsieur le Prince de Hardenberg est en ce moment en chemin pour venir de Carlsbad ici, et il se rendra avant la fin de ce mois lui-même à Aix la Chapelle. Il aurait bien été inutile de lui écrire, mais je ne manquerai pas de lui parler, Monsieur, de l’embarras dans lequel vous me dites vous trouver. Je crois cependant que vos alarmes ne sont point fondées. 17 Der genaue Verlauf von Borys Aufenthalt in Preußen lässt sich nicht rekonstruieren, wir wissen aber, dass er im Dezember 1816 in Magdeburg war und 1817 wieder nach Aachen ging. Bory versuchte nicht nur, seinen Verbleib in Preußen zu sichern, sondern nahm auch seine wissenschaftlichen Aufzeichnungen wieder auf, um einige seiner Arbeiten zu publizieren und auf diese Weise seinen Unterhalt im Exil zu sichern. Dafür nahm er Kontakt mit Cotta auf, der sich soeben in Stuttgart niedergelassen hatte. Um Cotta von der Qualität seiner wissenschaftlichen Leistungen zu überzeugen, erwähnte er natürlich seine Mitgliedschaft in der ersten Klasse des Institut national, durch die er in der europäischen naturwissenschaftlichen Gemeinde eine gewisse Bekanntheit erlangt hatte, aber er hob vor allem seine Bekanntheit als politischer Exilant hervor, durch die er das Interesse des deutschen Publikums zu wecken hoffte: „Tel est l’effet des grandes injustices politiques qui menacent les intérêts de la race humaine en frappant ceux qui furent leurs défenseurs, que ces défenseurs souffrant pour une si belle cause, sont bientôt vengés par l’opinion publique“. 18 Er bot Cotta zwei Werke an: zum einen eine Geschichte des Spanienkriegs, der er geographische, topographische und statistische Betrachtungen und Bemerkungen über geologische Besonderheiten sowie eine physikalische, politische und militärische Karte Südspaniens hinzufügen würde. Außerdem schlug er Cotta eine „histoire philosophique de la grande Atlantide et de ses débris“ 19 vor, die eine überarbeitete Fassung seines Essai sur les Isles fortunées 20 darstellen sollte. Borys Motivation war es sicherlich, einen Teil der Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Arbeiten zu publizieren, dieses Wissen dabei aber auch einem möglichst großen Publi- 16 Vgl. den Brief von Wilhelm von Humboldt an Bory de Saint-Vincent aus Frankfurt am Main vom 25.8.1817, Schiller-Nationalmuseum Marbach, Signatur Z 453. 17 Ebd. 18 Brief an Cotta aus Magdeburg, 12.12.1816, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Cotta. 19 Ebd. 20 Jean-Baptiste Bory de Saint-Vincent: Essais sur les Isles Fortunées et l’antique Atlantide, ou précis de l’histoire générale de l’Archipel des Canaries. Paris: Baudoin An XI. <?page no="65"?> Naturwissenschaftliche Literatur und Exil bei Bory de Saint-Vincent 63 kum zugänglich zu machen, um sein Editionsunternehmen ökonomisch einträglich zu gestalten und seinen Verleger zu überzeugen. Er schrieb in diesem Sinne an Cotta: J’ai surtout voulu mettre mon nouvel ouvrage à la portée de tous les lecteurs, surtout des gens du monde, auxquels un auteur doit songer, quand il veut bien vendre ses livres. Je me suis convaincu, que tout ce qui est purement scientifique, dissertations, critique, ou raisonnement les ennuie, et leur fait souvent dédaigner des ouvrages pleins de choses qui les leur feraient rechercher, si ces choses étaient disposées de manière à ce qu’elles piquassent leur curiosité, sans fatiguer leur attention. 21 Borys Ziel war es also, ein breites Publikum zu erreichen und über die Wunder und Merkwürdigkeiten der Natur zu unterrichten. In diesem Zusammenhang konzedierte er, dass der Zugang zur wissenschaftlichen und enzyklopädischen Spezialliteratur für ein Laienpublikum schwer sei, ohne jedoch diese Formen der Wissensverbreitung abzulehnen. Nach seinem Exil sollte er denn auch gerade in diesen schwerer zugänglichen Gattungen sehr produktiv werden und eine große Zahl wissenschaftlicher Traktate, Reiseberichte und Beiträge für die Encyclopédie méthodique (Paris, 1782-1832) publizieren und die ersten zehn Bände des Dictionnaire classique d’histoire naturelle (1822-1831) herausgeben. Sind seine wissenschaftlichen Selbstansprüche hinsichtlich der Form und des Stils der Darstellung also durch den Exilkontext beeinflusst worden? Cotta bereitete Bory nicht die erhoffte Aufnahme. Das Buch über Atlantis erschien nie, und aus den Arbeiten über die spanische Halbinsel ging erst 1823 ein Guide du voyageur en Espagne hervor, der allerdings nicht bei Cotta, sondern bei dem Pariser Verleger Janet erschien. Bory fand jedoch in der belgischen Presselandschaft mit dem Nain jaune réfugié und dem Mercure- Surveillant den notwendigen Platz für seine politischen Schriften. Bereits 1816 hatte er in Lüttich unter dem Titel Lamuel ou le livre du Seigneur, dédié à M. de Chateaubriand, traduction d’un manuscrit hébreux exhumé de la bibliothèque ci-devant impériale. Histoire authentique de l’Empereur Appolyon et du roi Béhémot par le très Saint-Esprit 22 eine satirische Schrift über die Lage Frankreichs nach der militärischen Niederlage und dem Beginn der Bourbonenherrschaft verfasst, die er mit einem ironischen Widmungsschreiben Chateaubriand zugeeignet hatte. Darin machte er sich in pseudo-katholischem Tonfall über die Wissenschaftskapitel des Génie du Christianisme lustig und bestätigte den Vicomte, der sich gerade als Theoretiker des neuen Regimes zu 21 Brief an Cotta aus Magdeburg, 12.12.1816 [Anm. 18]. 22 Liège: Collardin 1816. Eine italienische Übersetzung ist anonym und mit dem Druckort London 1817 unter dem Titel Lamuele, ossia Il libro del Signore. Traduzione d’un Manoscritto Ebreo testè pervenutoci miracolosamente. Storia autentica dell’imperatore Apollyon e del re Beemod, dettata dallo Spririto Santo erschienen und zeitweilig sogar Ugo Foscolo zugeschrieben worden. <?page no="66"?> 64 Nicolas Robin etablieren versucht hatte, in dessen christlichen Zweifeln an der Erklärungskraft der gottlosen modernen Wissenschaften. Der Text gab sich als Übersetzung eines unbekannten Buchs des Alten Testaments aus, hinter dessen altisraelischer Handlung leicht die aktuellen Verhältnisse in Frankreich zu erkennen waren. Bory stellte in diesem ‚Buch Lamuel‘ die politische und militärische Misere Frankreichs unter dem falschen König als göttliche Strafe für den Abfall von ‚Kaiser Apollyon, dem Gesalbten des Herrn‘ dar, für den das Land nun zu büßen habe. 1819 konnte Bory auch auf wissenschaftlichem Gebiet einen Erfolg erzielen, als er von Brüssel aus, wo er vermutlich mittlerweile lebte, eine neue Zeitschrift unter dem Titel Annales générales des sciences physiques lancierte. 3 Die Annales générales des sciences physiques und Borys Verankerung in der akademischen Welt Das Projekt der Annales générales des sciences physiques 23 entstand aus einer engen Zusammenarbeit zwischen Bory, dem Professor für Chemie und Naturgeschichte Pierre Auguste Joseph Drapiez und dem Chemiker Jean-Baptiste van Mons vom Königlichen Institut der Niederlande. Zwischen 1819 und 1821 erschienen acht Bände. Es handelt sich dabei um ein recht eigenwilliges Editionsprojekt, das zum einen ein breit gefächertes Wissen über die Wissenschaften vom Menschen und von der Natur verbreiten, zum anderen aber auch die Gelegenheit bieten sollte, den Gelehrten, die am meisten zum Fortschritt der Wissenschaften beigetragen hatten, einen Tribut der Dankbarkeit abzustatten („l’occasion d’offrir un tribut de gratitude aux savans qui contribuèrent le plus au progrès des sciences“). 24 Das lässt sich sowohl als konstruktiver Blick auf die Disziplingeschichte der Naturwissenschaften verstehen wie auch als eine ehrfurchtsvolle Haltung, die darauf abzielte, die Position der Herausgeber im akademischen Feld zu stärken, besonders natürlich die Borys, die infolge seines Exils zwischenzeitlich geschwächt war. Bory, Drapiez und van Mons verstanden die Annales als einen Appell an die europäischen Nationen, ihre Aufmerksamkeit wieder anderen Gegenständen als nur der Politik zuzuwenden, denn Europa habe die Pflicht, nicht länger in erniedrigender Dunkelheit zu schmachten („l’Europe a l’obligation de ne plus languir plongée dans d’avilissantes ténèbres“). 25 Der erste Band der Annales ist Alexander von Humboldt gewidmet, der Borys Aufenthalt in Preußen erleichtert zu haben scheint, vor allem indem er ihm Empfehlungen für die akademische Welt und bei seinem Bruder Wilhelm verschafft hat, deren Auswirkungen wir bereits sehen konnten. Die einzelnen Bände 23 Annales générales des sciences physiques. Bruxelles: Weissenbruch, 1819-1821, 8 Bde. 24 Annales, Bd. 1 (1819) [Hommage von Bory an Alexander von Humboldt]. 25 Annales, Bd. 1 (1819), S. viij. <?page no="67"?> Naturwissenschaftliche Literatur und Exil bei Bory de Saint-Vincent 65 der Annales bringen Beiträge über so unterschiedliche Themen wie Chemie, Experimentalphysik, Mineralogie, Pflanzenphysiologie oder physikalische Geographie. Die Herausgeber wollten die Annales überdies zu einem Organ machen, das die im westlichen Europa produzierte wissenschaftliche Literatur so weit wie möglich zur Kenntnis nehmen sollte. Dafür nahmen sie sich vor, über die wichtigsten wissenschaftlichen Neuigkeiten zu berichten, die in den holländischen, französischen, englischen, deutschen, italienischen und russischen Zeitschriften erschienen. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Unternehmens war die Meinungsfreiheit, die die Herausgeber für sich in Anspruch nahmen („puisque nulle part nos Annales ne pourraient être considérées comme un de ces ouvrages qui, sous les mains des tyrans de la presse, sont soumis à l’opération de Procuste“), was sie dazu veranlasste, ein 25-seitiges Loblied auf die Verdienste Belgiens und seiner wissenschaftlichen Gemeinschaft für die Fortschritte und die Verbreitung der Wissenschaften in Europa seit dem 14. Jahrhundert abzudrucken. Das Lob Belgiens und seiner Gastfreundlichkeit endet, wenig überraschend, mit einer kaum verhüllten Kritik am Zustand der Wissenschaften in Ländern wie Frankreich: Nous le demandons: le pays, où tant de citoyens éclairés et d’établissements utiles, sont réunis, sous l’ombrage sacré d’un gouvernement [ … ] ; nous le demandons encore: le pays, où les victimes de toute espèce de tyrannie trouvèrent les bras et les cœurs des habitants sans cesse ouverts, n’était-il pas le plus heureusement situé pour devenir le centre d’une entreprise consacrée aux progrès des sciences qui peuvent rendre l’homme plus apte à saisir sa place dans la nature et ses rapports dans la société, sciences qui furent cultivées de tout temps avec succès dans l’heureuse Belgique ainsi que nous l’avons déjà démontré? 26 Es gelang Bory, vermutlich unter dem Einfluss seiner beiden Mitherausgeber, in den Annales einen maßvollen Ton politischer Neutralität zu bewahren, wie er für eine naturwissenschaftliche Zeitschrift nötig war. Ob die Annales générales des sciences physiques in Europa eine weite Verbreitung gefunden haben, ist schwer zu sagen. Es lässt sich aber feststellen, dass die acht Bände in der Qualität und Vielfalt der Originalbeiträge, der Übersetzungen und der Rezensionen relativ konstant blieben und ohne weiteres den Standards der entstehenden Publikationslandschaft für wissenschaftliche Zeitschriften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsprachen. Bory de Saint Vincent kehrte im Lauf des Jahres 1820 nach Paris zurück, nachdem er unter das Reformgesetz für ehemalige Armeeangehörige gefallen war. 27 Er setzte seine Mitarbeit an den Annales fort, doch die Zeitschrift stellte ihr Erscheinen 1821 aus unbekannten Gründen ein. 26 Ebd., S. xlvj. 27 Vgl. Tables générales des lois, arrêtés, décrets, ordonnances du Roi, arrêts et avis du conseil d’État, et règlemens d’administration publiés depuis 1789, t. 3, alphabetische Tabelle, 1. Paris: Ménard et Desenne fils 1826, S. 126. <?page no="68"?> 66 Nicolas Robin 4 Le voyage souterrain - von der Exilallegorie zur Naturgeschichte Der Voyage souterrain wurde zuerst im ersten Band der Annales von 1819 veröffentlicht und dann 1821 bei Ponthieu in Paris erneut aufgelegt. Es handelt sich dabei also um einen noch im Exil entstandenen Text, nicht um retrospektive Aufzeichnungen. Das verleiht diesem für ein großes Publikum verfassten Text, der zugleich die naturwissenschaftlichen Forschungsinteressen des Autors wie auch die erschwerten Schreibbedingungen des Exils zum Ausdruck bringt, einen besonderen Charakter. Diese beiden Aspekte lassen sich in der Zeichnung der unterirdischen Umgebung und in der damit verbundenen Inszenierung des Exils beobachten. Bory erwähnt die zahlreichen schaurigen Geschichten, die die Höhlen des Sint Pietersbergs seit der römischen Zeit zum Schauplatz haben, wie diejenige von einer Gruppe von Männern, die sich in den labyrinthartigen Tiefen des unterirdischen Steinbruchs verlaufen haben und von denen man nur noch die Skelette gefunden habe. Der Autor scheut dabei auch vor dem rein Anekdotischen nicht zurück, wenn er beispielsweise berichtet, dass das auf dem Hochplateau gelegene ehemalige Kloster der Rekollekten in ein Ausflugslokal umgewandelt worden sei. Er strukturiert seine Darstellung durch verheißungsvolle Zwischentitel wie den des achten Kapitels: „Température des Cryptes. De l’Enfer, du Paradis, et des inscriptions qu’on y trouve“. 28 Generell benutzt er einen sehr blumigen, beschreibenden Stil und spricht von seiner finsteren Reise („sombre voyage“) 29 durch die düsteren Höhlen („cryptes ténébreuses“), in denen Bergleute arbeiten, für die die trüben, kurzen Tage, an denen Schnee, Regen und Stürme zwischen Himmel und Erde toben, geschützt vor der Trauerzeit der Natur und in der mildesten Temperatur vergehen („les tristes jours pendant la courte durée desquels la neige, les pluies ou les tempêtes se disputent le ciel et la terre, se passe pour eux à l’abri du deuil de la nature et dans la température la plus douce“). 30 Borys Bericht seiner Reise durch die stummen Hohlräume der Erdkugel („muettes cavités du globe“), 31 entlang der Grabeswände („parois de sépulcre“), 32 bemüht, in Erinnerung an Platons Gleichnis aus dem Staat, ausgiebig die allegorischen Dimensionen der Höhlenwelt. An manchen Stellen setzt sich jedoch der naturwissenschaftliche Blick gegenüber dem Bemühen um einen literarischen Stil durch. So beschreibt Bory die Schichtenstruktur des Hochplateaus, das sich von unten nach oben gesehen aus einer Schicht abgerundeter Kieselsteine von 25 Fuß, 8 ½ Zoll, aus einer Schicht Quarzsand von 23 Fuß, 6 ½ Zoll, und schließlich einer weiteren Sandschicht von 10 Fuß zusammensetzt. Er betrachtet das Plateau in seiner Gesamtheit, von der 28 Voyage souterrain [Anm. 1], S. 57. 29 Ebd., S. 132. 30 Ebd., S. 44. 31 Ebd., S. 46. 32 Ebd., S. 48. <?page no="69"?> Naturwissenschaftliche Literatur und Exil bei Bory de Saint-Vincent 67 geologischen und paläontologischen Struktur bis zur detaillierten Beschreibung der Vegetation, von der es bedeckt ist: La molène, vulgairement appelée bouillon blanc, avec la scabieuse des champs, semblent se plaire parmi les débris, dans les éboulemens, et sur les pentes des entonnoirs cratéiformes des affaissements souterrains, lorsque ceux-ci ne sont pas rempli d’arbustes, de peupliers et de chênes, sur lesquels la brionne blanche et surtout la clématite étendent leurs rameaux grimpans. 33 Er liefert also eine beinahe anthropomorphisierende Beschreibung der Vegetation, und ihres Verhältnisses zur Umgebung, wofür er sich erneut einer bildreichen und vor allem von lateinischem Fachvokabular freien Sprache bedient. Er spricht von kraterförmigen Trichtern und von der Waldrebe („clématite“), die ‚ihre Zweige ausstreckt‘. Ungeachtet solcher vulgarisierenden Passagen, die sich den Entstehungsbedingungen im Exil verdanken, bleibt Borys wissenschaftlicher Anspruch vordringlich. Wenn er die geologische Struktur der Höhlen beobachtet, bezieht er sich dabei immer auf die wissenschaftlichen Debatten seiner Zeit, so auf den Streit zwischen Neptunisten und Vulkanisten, 34 und kritisiert offen die vornehmlich neptunistischen Positionen von Barthélémy Faujas de Saint-Fond auf dessen Abhandlung über die Histoire naturelle du plateau de Saint-Pierre (1798) er sich wiederholt bezieht. Faujas de Saint-Fond, zwischen 1793 und 1818 Inhaber des ersten Lehrstuhls für Geologie am Nationalmuseum für Naturgeschichte (Muséum national d’Histoire Naturelle), hatte vom Nationalkonvent den Auftrag erhalten, die Sammlungen des Museums zu erweitern und hatte zu diesem Zweck 1794 - also nur wenige Jahre vor Bory -, gemeinsam mit André Thouin die Höhlen von Saint-Pierre erkundet. 35 33 Ebd., S. 34. 34 Zur zeitgenössischen Debatte zwischen Vulkanisten und Neptunisten vgl. Bernhard Fritscher: Vulkanismusstreit und Geochemie: Die Bedeutung der Chemie und des Experiments in der Vulkanismus-Neptunismus-Kontroverse. Stuttgart: Steiner 1991. 35 Vgl. Philippe Jaussaud, Édouard-Raoul Brygoo: Du Jardin au Muséum en 516 biographies. Paris: Publications Scientifiques du Muséum national d’Histoire Naturelle 2004, S. 210-211. <?page no="70"?> 68 Nicolas Robin Abb. 1: „Vue intérieure des principales galeries souterraines des carrières de la montagne de S. Pierre près Mastricht“. Stich von Boutrois. 36 Faujas de Saint-Fonds Darstellung der Muschelkalkbänke in den Höhlen hatte Bory überzeugt. Er war jedoch wesentlich skeptischer im Blick auf Faujas’ Beschreibung jener beeindruckenden Strukturen, die Bory mit Bezug auf eine 1813 im Journal des Mines erschienene Untersuchung des Hauptmanns der Artillerie und ausgebildeten Geologen L. Mathieu die ‚geologischen Orgeln‘ („orgues géologiques“) nannte. 37 Über die Beobachtungen, die Faujas veröffentlicht hatte, schreibt Bory: Dans aucune des parties où nous avons pénétré, au fond des souterrains des bords de la Meuse, nous n’avons vu de ces piliers grêles, à six ou huit pans, s’élevant en forme pour soutenir des voutes cintrés, qui ressembleraient bien plus à celle de la mosquée de Cordoue qu’à la réalité. 38 Der Vergleich mit der Moschee von Cordoba bezieht sich auf die stark ästhetisierende Illustration, die Faujas de Saint-Fond in seiner Abhandlung über die Höhlen abgedruckt hatte (Abb. 1). Auch Bory bietet eine Abbildung des Ein- 36 Abbildung aus: Barthélémy Faujas de Saint Fond: Histoire naturelle de la montagne de Saint-Pierre de Maastricht. Paris: Deterville, 1ère livraison, 1799, pl. III. 37 Vgl. L. Mathieu: Notice sur les orgues géologiques de la colline Saint-Pierre, prés Maestricht. In: Journal des Mines 34 (1813), S. 197-201. 38 Voyage souterrain [Anm. 1], S. 69. <?page no="71"?> Naturwissenschaftliche Literatur und Exil bei Bory de Saint-Vincent 69 gangs der Höhlen unter dem Plateau, bleibt dabei jedoch wesentlich näher an der Realität (Abb. 2). Abb. 2: Entrée de cryptes sous Lichtenberg, avec les org[u]es geologiques qu’on y voit. Dessiné par Bory de St. Vincent. Gravé par Ambroise Tardieu. 39 Bory ist ebenfalls beeindruckt von diesen Orgeln, die von den Naturkräften in einem „fracassement des rochers“ freigelegt worden sind und nun den Geologen und Naturliebhabern die Möglichkeit bieten, die Details ihrer Formierung zu untersuchen. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, in einem Kapitel mit dem Titel „Apparence de certaines coupes de tuyaux d’orgues géologiques qui ont fait soupçonner à tort l’existence d’un phénomène inexplicable et qui n’existe pas“ (Kap. 22) die Thesen abzulehnen, die Faujas de Saint-Fond und andere zeitgenössische Geologen über die Entstehung dieser Orgeln vertreten hatten. Mathieu hatte beispielsweise in seinem Artikel versucht, die Existenz der Vertiefungen und der steinernen Orgelpfeifen mit der Aktivität von Meereslebewesen zu erklären, die er riesige Steinkorallen („Madrépores géants“) nennt, die die Aushöhlungen zu einer Zeit gebildet hätten, als das Substrat noch nicht gefestigt gewesen sei. Bory bietet dagegen eine Erklärung, die sich später als die wahrscheinlichste herausstellen sollte, und die davon ausgeht, dass das Wasser, das in die Kalkmasse eindringt, die Carbonate auflöst und dabei seitliche Ablagerungen bildet und eine bräunliche Masse in der Mitte zurücklässt. Er schlägt vor, diese Hypothese einfach dadurch zu überprüfen, dass man die Auswirkungen 39 A Paris, Chez Mme. veuve Agasse, Imprimeur-Libraire, rue des Poitevins, no. 6. 1827. <?page no="72"?> 70 Nicolas Robin beobachtet, die Wasser hat, das über ein aus Zucker gebildetes Modell des Plateaus fließt, da Zucker in seiner Struktur und seiner Wasserdurchlässigkeit grob dem Kalkgestein von Maastricht ähnelt. 40 Auch die Entdeckung eines Saurierkiefers durch Faujas de Saint-Fond diskutiert Bory in seinem Essay. Dieser als romantischer Reisebericht für ein großes Publikum angelegte Text lässt somit an vielen Stellen die wahre Identität seines Autors erkennen, die eines Naturforschers nämlich, der die Erdgeschichte seiner Umgebung, der Höhlen des Plateaus von Maastricht, anhand der Lektüre der geologischen Schichten und der Fossilienfunde zu entziffern versucht. Das Exil des Naturwissenschaftlers Bory de Saint-Vincent hebt die Bedeutung der Schrift als Fluchtraum angesichts des Zusammenbruchs des gewohnten Rahmens seiner wissenschaftlichen Praxis und des plötzlichen Verlusts seiner sozialen Orientierungen hervor. Borys Versuche, mit dem Verleger Cotta ins Geschäft zu kommen, seine erheblichen Anstrengungen für die Annales générales des sciences physiques und vor allem der Voyage souterrain unterstreichen die Entschlossenheit des Autors, trotz der politischen und ökonomischen Hürden, die mit dem Exil verbunden waren, auch mit einem veränderten Publikum zu kommunizieren und diesem sein naturhistorisches Wissen zu vermitteln. Der stilistische und terminologische Reichtum des Voyage souterrain zeigt zudem das besondere Interesse, das die im Exil produzierte naturwissenschaftliche Literatur beanspruchen darf. Der für sich genommen anekdotische Fall des Bory de Saint-Vincent lässt deshalb die Umrisse eines möglichen Forschungsfelds zur Katalysatorfunktion des Exils für die naturwissenschaftliche Praxis und das naturwissenschaftliche Schreiben im editorischen Feld der Restauration erkennen. (aus dem Französischen von Olaf Müller) 40 Voyage souterrain [Anm. 1], S. 161-162. <?page no="73"?> Niklas Bender Die Exilierung des Exils. Fortführung und Aufhebung des romantischen Exils bei Balzac 1 Der romantische Held und sein Exil Der folgende Beitrag unternimmt es, die Fortführung und Aufhebung des Motivs des romantischen Exils in Balzacs Erzählung Le Colonel Chabert zu untersuchen. Wie erklärt sich dieser Versuch, ein romantisches Thema an Hand eines realistischen Textes zu verhandeln? In gewisser Weise ist die Romantik im Realismus ja zu ihrem Ende gekommen, auch wenn die beiden literarischen Strömungen über Jahrzehnte hin koexistieren; damit aber wäre das genannte Vorgehen unsinnig. Mir scheint jedoch, daß ein genauer Blick auf den Endpunkt der Entwicklung des in diesem Band diskutierten Phänomens zur Klärung einiger zentraler Fragen und Probleme beitragen kann. Grund dafür ist die enge Verbindung von Realismus und Romantik, die nicht nur aus der zeitlichen Nähe herrührt: Der Realismus versteht sich ganz offensichtlich in Abgrenzung zur Romantik, ist in vielen Punkte jedoch zugleich ihr Erbe. Mir scheint daher, daß die Herausarbeitung der weiteren Entwicklung romantischer Themen und Motive eben die Besonderheit ihrer romantischen Ausprägung deutlich werden und zugleich das Neue der realistischen Behandlungsweise ins Profil treten läßt. Der romantische Held 1 , ob als fiktive Figur oder als zur Selbststilisierung neigender realer Autor, befindet sich in mehrerer Hinsicht im Exil; damit sind auch dem romantischen Exilbegriff mehrere Facetten abzugewinnen. Oft ist die Ausgangslage ein bestimmter sozialer oder politischer Kontext, z.B. die Vertreibung durch mächtige Rivalen oder - situiert sich die Handlung des Textes in der Moderne (bzw. handelt es sich um den realen Autor) - der Verstoß durch ein bestimmtes politisches Regime. Hinzu kommt jedoch fast immer eine existentielle, ja metaphysische Deutungsebene des Lebens im Exil. Dies sei an zwei Beispielen erläutert: Anläßlich der Hinrichtung des Duc d’Enghien (ein bourbonischer Prinz) am 21. März 1804 bricht Chateaubriand mit Napoleon. Aus Gründen der Bildung, der literarischen Forschungen (Vorbereitung des Epos Les Martyrs) und der Opportunität unternimmt er eine Reise, die ihn schließlich nicht nur nach Italien und Griechenland, sondern auch nach 1 Zur eigenartigen Zwischenstellung romantischer Protagonisten zwischen Helden- und Antiheldentum vgl. den breit perspektivierten Aufsatz von Lilian R. Furst: The romantic hero, or is he an anti-hero? In: Studies in Literary Imagination IX,1 (1976), S. 53-67. Furst hebt hervor, daß nicht die Aktivität, sondern die Psyche des romantischen Helden im Mittelpunkt steht (S. 56). Die Beschäftigung mit dem Ich wird nicht fruchtbar gemacht für die Veränderung der Welt - der Held zieht sich zurück, geht ins Exil (S. 57-58). <?page no="74"?> 72 Niklas Bender Palästina, Ägypten und Spanien führen wird - eine Orientfahrt, die er in seinem Bericht Itinéraire de Paris à Jérusalem et de Jérusalem à Paris (1811) verarbeitet, der ersten romantischen Orientreise. Tatsächlich findet schon eingangs eine typische Stilisierung des Exils statt: „En quittant de nouveau ma patrie, le 13 juillet 1806, je ne craignis point de tourner la tête, comme le sénéchal de Champagne: presque étranger dans mon pays, je n’abandonnais après moi ni château ni chaumière.“ 2 Hier wird also der real-historische, d.h. politische und soziale, Hintergrund der Reise verschwiegen, bzw. zu einer allgemeinen existentiellen Problematik überhöht. Als zweites, ausführlicheres Beispiel sei der Autor der französischen Romantik schlechthin zitiert, Victor Hugo 3 . Im wohl romantischsten aller französischen Dramen, Hernani (1830), greift Hugo einen historischen Stoff auf, d.h. die Zeit um die Krönung Karls V. Sein Held Hernani ist ein typischer Verstoßener, dessen Familie von Don Carlos, dem späteren Kaiser Karl V., enterbt und verfolgt wurde; der Vater des Helden wurde gar vom Vater Don Carlos’ getötet, ihn sucht Hernani nun zu rächen. Seither befindet er sich in Rebellion - und im Exil: Doña Sol: […] J’aime mieux avec lui, mon Hernani, mon roi, Vivre errante, en dehors du monde et de la loi, Ayant faim, ayant soif, fuyant toute l’année, Partageant jour à jour sa pauvre destinée, Abandon, guerre, exil, deuil, misère et terreur, Que d’être impératrice avec un empereur! 4 2 François René de Chateaubriand: Itinéraire de Paris à Jérusalem et de Jérusalem à Paris. In: Ders.: Œuvres romanesques et voyages. Hg. von Maurice Regard, Bd. II. Paris: Gallimard 1969, S. 679-1343, hier S. 770. 3 Victor Hugos Exil auf Guernsey bringt die beiden Exile prototypisch zur Deckung. Hugo stilisiert sich zum verbannten Gewissen der Nation, das mahnend aus der Ferne ruft. Vgl. den emblematischen Anfang des ersten Gedichts des „Livre premier“ der Châtiments: „France! à l’heure où tu te prosternes, / Le pied d’un tyran sur ton front, / La voix sortira des cavernes; / Les enchaînés tressailleront. / / Le banni, debout sur la grève, / Contemplant l’étoile et le flot, / Comme ceux qu’on entend en rêve, / Parlera dans l’ombre tout haut; / / Et ses paroles qui menacent, / Ses paroles, dont l’éclair luit, / Seront comme des mains qui passent / Tenant des glaives dans la nuit.“ Châtiments. In: Œuvres poétiques. Hg. von Pierre Albouy, Bd. II, Paris: Gallimard 1967, S. 1-248, hier S. 19. Paul Bénichou bemerkt zu Hugos Exilwahl (eine einsame Insel) und dessen Haltung: „l’exil devait être pour lui le deuil en même temps que la consécration. […] L’équation Exil- Génie, Soliloque-Vérité est une équation pathétique; elle fut celle de la vie de Hugo pendant les dix-huit ans où il prêcha à la France une foi dont elle s’était déprise.“ Bénichou betont, daß Hugo sich nach seiner Rückkehr weiterhin als „banni“ wahrnahm, als wäre das Exil „une définition de son être“. Les Mages romantiques. Paris: Gallimard 1988, S. 335-338, hier S. 337. 4 Victor Hugo: Hernani. In: Ders.: Théâtre complet. Hg. von Roland Purnal, J.-J. Thierry und Josette Mélèze, Bd. I. Paris: Gallimard 1963, S. 1145-1319, hier S. 1194. <?page no="75"?> Fortführung und Aufhebung des romantischen Exils bei Balzac 73 Die Passage zeigt, dass das Exil zunächst einmal durchaus wörtlich zu nehmen ist: Das Verstoßensein, die Verfolgung implizieren Armut und Ungemach. Der Held ist nicht nur aus dem vertrauten Kontext gerissen, er durchleidet auch Hunger und andere Formen materieller Not. Zudem ist er psychischem Druck ausgesetzt, muss er doch die Verfolger fürchten („terreur“), d.h. ständig auf der Hut sein. Diesem Exil entspricht zudem das soziale Verkanntsein: Die eigentliche Identität Hernanis, er ist Jean d’Aragon, d.h. ein König, bleibt lange Zeit im Dunkeln, der wahre Wert des Helden, der sich in einem historischen Drama leicht an einen adeligen Namen knüpft, ist der Außenwelt verborgen. In aktualistischen romantischen Texten wäre dieser Adel eher metaphorisch zu nehmen: Es ist der Wert des Gemüts oder des Genies, der von der ignoranten Umwelt verkannt wird. Die Grundstruktur ist jedoch dieselbe: Ein verborgener Wert, die eigentliche Identität des Protagonisten, wird von der Umwelt nicht (an)erkannt. Die Worte Doña Sols implizieren es bereits: Es gibt noch einen zweiten Handlungsstrang und eine zweite Ebene des Exils. Denn Hernani kommt Don Carlos zudem bei seinen Liebesintrigen in die Quere: Beide lieben Doña Sol, die eigentlich ihren Onkel, den alternden Don Ruy Gomez, heiraten soll. Hernani stört nun Don Carlos’ Pläne und wird daher verbannt: Hernani: Ensemble! non, non. L’heure en est passée! Hélas! Doña Sol, à mes yeux quand tu te révélas, Bonne, et daignant m’aimer d’un amour secourable, J’ai bien pu vous offrir, moi, pauvre misérable, Ma montagne, mon bois, mon torrent, - ta pitié M’enhardissait, - mon pain de proscrit, la moitié Du lit vert et touffu que la forêt me donne; Mais t’offrir la moitié de l’échafaud! pardonne, Doña Sol! l’échafaud, c’est à moi seul! 5 Hier liegt nun also ein ‚klassisches‘ romantisches Exil vor: Hernani ist land- und besitzlos, verstoßen, entrechtet und deshalb scheint auch seine Liebe zu Doña Sol scheitern zu müssen, denn er kann ihr keinerlei Zuflucht mehr bieten. Zum politischen Exil kommt das emotionale. Der Doppelplot des Dramas schildert, wie der Held zwar sozial wieder anerkannt 6 , das politisch-historische Exil also überwunden wird. Das emotionale Exil hingegen findet keine Auflösung: Als das Happy End im fünften Akt ei- 5 Ebd., S. 1204. Ähnlich die folgende Passage: „Hernani: […] Moi, sais-tu ce que peut cette main généreuse / T’offrir de magnifique? une dot de douleurs. / Tu pourras y choisir ou du sang ou des pleurs. / L’exil, les fers, la mort, l’effroi m’environne, / C’est là ton collier d’or, c’est ta belle couronne, / Et jamais à l’épouse un époux plein d’orgueil / N’offrit plus riche écrin de misère et de deuil! “ Ebd., S. 1226. 6 Als Don Carlos zu Kaiser Karl V. ernannt wird, zeigt er sich großzügig und restituiert Hernanis Rechte. <?page no="76"?> 74 Niklas Bender gentlich perfekt ist - Hernani hat Land und Titel wieder erlangt, die Hochzeitsnacht mit Doña Sol steht unmittelbar bevor - meldet sich Don Ruy Gomez zu Wort: Er liebt Doña Sol und will nicht, dass sie einem anderen angehört. Er fordert daher die Einhaltung eines Schwurs, den Hernani ihm einst gegeben hatte. Die Vorgeschichte dieses Schwures war Gegenstand des dritten Aktes: Als Hernani noch ein Verfolgter war, wagte er sich in Don Ruy Gomez’ Schloss, um dort Doña Sol aufzusuchen, die mit Don Ruy Gomez verheiratet werden sollte. Als Pilger verkleidet erbat Hernani von Don Ruy Gomez Asyl, suchte aber eigentlich den Tod: Er entdeckte seine Identität als gesuchter Rebell. Don Ruy Gomez jedoch tötete ihn nicht, da dies die Gastfreundschaft verbat, ja rettete ihm das Leben, indem er ihn vor dem eintreffenden König Don Carlos versteckte. Letzterer entführte Doña Sol, und nun bat Hernani Don Ruy Gomez, ihm nachsetzen zu dürfen, um die Entführung zu rächen. Don Ruy Gomez stellte eine Bedingung: Hernani musste durch einen Eid auf seines toten Vaters Haupt sein Leben in Don Ruy Gomez’ Hand geben. Am Ende des Stücks wird Hernani von seinem fatalen Schwur eingeholt: Don Ruy Gomez fordert durch ein Hornsignal die Einhaltung des Versprechens, Hernani muss Folge leisten, d.h. sich töten, will er sein Wort nicht brechen, seine Ehre nicht verlieren - folglich tut er es. Diese drastische Ehrauffassung 7 ist diskussionswürdig, um so mehr, als Don Ruy Gomez sich Hernani gegenüber zwar großzügig gezeigt hat, sein Hauptansinnen, die Heirat mit der viel jüngeren Doña Sol, aber nicht über jeden Zweifel erhaben ist; er präsentiert sich als vermessener Greis. Hernani jedoch gehorcht schicksalsergeben und Doña Sol geht mit ihm in den Tod, so dass die Liebenden sich im Jenseits endlich finden (die Ähnlichkeit zu Notre-Dame de Paris liegt auf der Hand): Das Exil wird aufgelöst, allerdings auf einer anderen, metaphysischen Ebene der Existenz. In Hernani lässt sich neben dem politisch-sozialen also auch ein persönlichexistentielles Exil ausmachen. Es ist im Sinne einer persönlichen Verstrickung zu verstehen: Don Ruy Gomez repräsentiert Hernanis eigene Vergangenheit, der er nicht entkommen kann. In gewisser Weise ist er (durch Alter, Stellung und die Gewährsinstanz des ihm geleisteten Eides) ein Repräsentant von Hernanis totem Vater, dessen Exil Hernani nicht verleugnen sollte, solange er nicht wirklich gerächt ist. Die gesamte Szene wird aber nicht im Sinne eines ungelösten sozialen Konfliktes zwischen Kaiser Karl und seinem Vasallen geschildert: Der Ruf des Horns entspricht vielmehr einem persönlichen Schicksal, einer tief greifenden subjektiven Macht. Die Verkleidung Don Ruy Gomez’ als schwarzer 7 Man hat in dieser Hinsicht vom „cornélianisme“ Hugos gesprochen; vgl. Anne Ubersfeld: Le Drame romantique. Paris: Belin 1993, S. 107. <?page no="77"?> Fortführung und Aufhebung des romantischen Exils bei Balzac 75 Domino betont diese Ebene der subjektiven Schicksalhaftigkeit 8 : Er scheint der persönliche Dämon Hernanis zu sein, erinnert ihn daran, dass es für ihn in dieser Welt keinen Frieden geben kann. Die existentielle Ebene des Exils manifestiert sich auch bei Chateaubriand, die zitierte Passage macht es deutlich. Sie dient meist dazu, das romantische Subjekt in Gegensatz zur ihn umgebenden Welt zu setzen, die der banalen westlichen Moderne - das Klischeepotential dieser Variante ist offensichtlich. In „Sylvie“ aktualisiert Nerval sie in ironischer Weise: L’ambition n’était cependant pas de notre âge, et l’avide curée qui se faisait alors des positions et des honneurs nous éloignait des sphères d’activité possible. Il ne nous restait pour asile que cette tour d’ivoire des poètes, où nous montions toujours plus haut pour nous isoler de la foule. 9 Es können also mindestens zwei prominente Ebenen des Exils ausgemacht werden, die politisch-soziale und die metaphysische. Zum einen wird der romantische Held in einem tatsächlichen Konflikt mit der Außenwelt geschildert, auf der Flucht, oder, wie Jean Sbogar in Charles Nodiers gleichnamiger Erzählung, in Rebellion begriffen. Zum anderen gibt es eine fundamentale Diskrepanz, eine grundsätzliche Unangepasstheit, welche durch den Begriff des Exils - bzw. mit der „transzendentalen Obdachlosigkeit“, um mit Georg Lukács zu sprechen 10 - recht präzise gefasst wird. Der romantische Held ist dem Wesen nach heimatlos, ist fundamental der enterbte Sohn einer gerechteren, unschuldigeren oder poetischeren Welt 11 . Oft wird dieses existentielle Exil, wie in „Sylvie“, auch als historisches verstanden: Das romantische Subjekt versteht sich als Wesen einer anderen Zeit, das in der Gegenwart seinen Platz nicht hat. Dieser Zustand des fortwährenden Exils wird zur conditio sine qua non des wahren Dichters hypostasiert, denn die Qualitäten des Dichters sind aus Sicht der romantischen Genie- 8 Betont wird diese auch dadurch, daß Hernani dem Schwur seine fatale Kraft selbst dadurch verleiht, daß er Don Ruy Gomez anbietet, auf seines toten Vaters Haupt zu schwören; Hugo: Hernani [Anm. 4], S. 1251-1252. 9 Gérard de Nerval: „Sylvie. Souvenirs du Valois“. In: Ders.: Les Filles du Feu. In: Œuvres complètes. Hg. von Jean Guillaume und Claude Pichois, Bd. III. Paris: Gallimard 1993, S. 447-651, hier S. 537-579 und S. 538. 10 Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied / Berlin: Luchterhand 1971, S. 31-32. 11 Dies kann die Vergangenheit, aber auch die Ferne sein. So ist es ein Topos der Orientreise, diese als Heimkehr in die Heimat des Dichters zu entwerfen. So Nerval: „Étranger! mais le suis-je donc tout à fait sur cette terre du passé? Oh! non […]“ Gérard de Nerval: Voyage en Orient. In: Ders., Œuvres complètes. Hg. von Jean Guillaume und Claude Pichois, Bd. II. Paris: Gallimard 1984, S. 252. <?page no="78"?> 76 Niklas Bender ästhetik natürlich so außergewöhnlich, dass sie mit der prosaischen Moderne notwendiger Weise in Gegensatz treten 12 . 2 Balzac: Ein Erbe der Romantik? Balzac, so klar er auch dem Realismus zuzugehören scheint, wird oft als direkter Erbe, ja als Protagonist der Romantik gesehen. Man zählt viele seiner Figuren den romantischen Helden zu: So nennt z.B. Paul van Tieghem in seinem Standardwerk Le Romantisme dans la littérature européenne Eugène de Rastignac in einem Atemzug mit Jean Sbogar und Hernani 13 . Diese Zuordnung ist natürlich diskussionswürdig. Der Einwand sei kurz an einem Beispiel erläutert: Emma Bovary ist sicherlich auch eine romantische Seele, vertieft in Walter Scott-Lektüren, Liebesschwärmerei und Naturkontemplation. Trotzdem käme kaum jemand auf den Gedanken, Madame Bovary einen romantischen Roman bzw. Flaubert einen romantischen Autor zu nennen. Dies mag nun zum einen an Flauberts vehementen Stellungnahmen liegen, die wenig Zweifel an seinem Credo, nämlich einer Überwindung der Romantik, lassen. Zum anderen jedoch ist die Behandlung der Heldin eine eindeutig ‚realistische‘, und zwar in dem Sinne, dass der Autor sich der berühmten impartialité befleißigt, d.h. sich jeder direkten Sympathiebekundung mit seiner Figur enthält. Zudem relativiert die Einordnung der Heldin in eine als objektiv gegeben geschilderte Umwelt die erhitzten Fabrikate ihrer Phantasie: Enthusiastische Schwärmerei wirkt nun einmal wenig überzeugend, wenn sie auf einer normannischen Kuhweide stattfindet. Diese Fallhöhe zwischen Einbildungskraft und Realität, beschrieben mittels einer sich objektiv gebenden Sichtweise, ist ein wesentliches Mittel zur Erzeugung des Mimesiseffekts. Vor diesem Hintergrund ist die Zuordnung Balzacs zum Realismus weniger eindeutig: Schließlich lässt Balzac seine Helden nicht auf dieselbe Weise an der Welt der Dinge scheitern wie Flaubert. Die Banalisierung der Wirklichkeit ist noch nicht so weit fortgeschritten, dass es keine großen Charaktere mehr gäbe. Einige von Balzacs Helden erleben Außergewöhnliches und dies erscheint ‚normal‘. Auch gibt es ein als durchaus real geschildertes heroisches Zeitalter, 12 Vgl. dazu, als ein Beispiel unter vielen, das Vorwort von Alfred de Vigny zu seinem Chatterton, das der Autor „Dernière nuit de travail du 29 au 30 juin 1834“ genannt hat und in dem er „l’homme de lettres“, „le grand écrivain“ und „le poète“ (letzterer allein ist das romantische Genie) unterscheidet. Vigny: Œuvres complètes. Hg. von François Germain und André Jarry, Bd. I: Poésie, Théâtre. Paris: Gallimard 1986, S. 747-833, hier S. 749-759, bes. S. 752-753. 13 Paris: Albin Michel 1969, S. 253. Ähnlich Philippe van Tieghem: Les Grandes Doctrines littéraires en France: de la Pléiade au Surréalisme. Paris: PUF 8 1968, S. 197 („[…] Balzac, si romantique dans l’exécution, est comme théoricien un pur réaliste.“). <?page no="79"?> Fortführung und Aufhebung des romantischen Exils bei Balzac 77 das noch nicht lange zurück liegt: die Epoche der Revolution, die, wie übrigens auch bei Stendhal, als Zeit großer Männer und großer Taten beschrieben wird. In diesem Sinne ist der Realismus Balzacs weniger radikal. Darüber hinaus gibt es noch weitere Elemente des Romantischen bei Balzac: Es finden sich z.B. phantastische Motive und Themen, wenn auch in transformierter Weise; man denke etwa an La Peau de chagrin - auf dieses Thema werde ich zurückkommen. Zur Thematik des Exils bei Balzac im Allgemeinen sei an dieser Stelle nur kurz vermerkt, dass zwei, und zwar sozial wie politisch entgegengesetzte, Exilanten- und Heimkehrertypen in der Comédie humaine prominent auftreten: Erstens der émigré, d.h. der Adelige, der vor der Revolution floh, unter Napoleon oder mit der Restauration wiederkehrt und evtl. seinen Platz in der neuen Gesellschaft nicht mehr findet, d.h. zum „émigré de l’intérieur“ wird 14 ; und zweitens der napoleonische Soldat, der, wie Chabert, nach längerer Abwesenheit und einigen Wirren in seine Heimat zurückkommt 15 . Interessant ist für Balzac natürlich immer das zeitgenössische Geschehen in Frankreich, der Fokus liegt damit zwangsläufig auf ‚Heimkehrern‘, die meist eine zeitlich frühere Stufe der Gesellschaft verkörpern und damit historisch oder sozial ‚fremd‘ sind. Das Exil ist nur selten im engsten Wortsinne (‚physisch fern der Heimat‘ bzw. ‚in der Verbannung‘) zu finden. Diese Anmerkungen dienen nur der groben Situierung; die folgenden Erörterungen werden den Punkt, so hoffe ich, pars pro toto klären. 3 Le Colonel Chabert: Ein lebend Begrabener Um das Kernthema des Beitrags - d.h. die Frage: Inwiefern ist Le Colonel Chabert (1832) 16 eine Fortführung und sogar Aufhebung des romantischen Exilge- 14 So Nathalie Basset, die als Prototyp M. de Mortsauf in Le Lys dans la vallée ausmacht: Le type de l’émigré dans La Comédie humaine: un type sans histoire? In: L’Année balzacienne 11 (1990), S. 99-109 hier S. 99. 15 Zum Motiv des Heimkehrers allgemein, das prototypisch in der Odyssee entworfen wird, sowie zur Heimkehr napoleonischer Soldaten bei Balzac vgl. Dieter Beyerle: Die Heimkehr des verschollenen Ehemannes bei Balzac, Zola und Maupassant. In: Romanistisches Jahrbuch 27 (1976), S. 129-151, hier S. 129-130 und S. 134; zu Le Colonel Chabert S. 133-140. 16 Zitiert nach Honoré de Balzac: La Comédie humaine. Hg. von Pierre-Georges Castex, Bd. III: Études de mœurs: scènes de la vie privée (fin). Scènes de la vie de province. Paris: Gallimard 1976, S. 291-373; im Folgenden zitiert als CCh mit Seitenzahl. Zur Textgeschichte, die recht komplex ist, sowie zu einem eingehenden Vergleich der Textstufen vgl. Joachim Küpper: Balzac und der effet de réel. Eine Untersuchung anhand der Textstufen des Colonel Chabert und des Curé de village. Amsterdam: Grüner 1986, S. 93- 161. <?page no="80"?> 78 Niklas Bender dankens und -motivs? - in Angriff nehmen zu können, sei die Erzählung vorgestellt. Die Handlung möchte ich kurz in Erinnerung rufen, da die discours-Ordnung durch eine Reihe analeptischer Einschübe recht kompliziert ist. Hyacinthe Chabert ist ein Mann aus einfachen Verhältnissen, der unter Napoleon in der Armee Karriere macht; er nimmt an Feldzügen in der halben Welt teil (CCh, S. 331 und bes. 340) und erreicht eine beachtliche Stellung: „,comte, maréchal de camp et grand-officier de la Légion d’honneur‘“ (CCh, S. 356). Chabert heiratet eine attraktive Frau, die aber aus dem sozialen Nichts kommt: Sie ist eine ehemalige Prostituierte (CCh, S. 357). In der Schlacht bei Preußisch Eylau am 8. Februar 1807 wird der Kavallerieoffizier schwer am Kopf verwundet und bleibt leblos liegen; man glaubt ihn tot und wirft ihn in ein Massengrab. Dort kommt er zu sich und befreit sich mühsam; sein offener Schädel schmilzt den Schnee, der das Grab bereits bedeckte (CCh, S. 325-326). Der Schwerverletzte wird von barmherzigen Menschen sechs Monate lang gepflegt. Dann kommt er ins Krankenhaus von Heilsberg und erinnert sich, wieder sechs Monate später, endlich an seine Identität. Er macht eine entsprechende Erklärung bei einem Notar, „‚en vue d’établir mon identité‘“ (CCh, S. 327). Durch das Kriegsgeschehen vertrieben, irrt Chabert bettelnd durch die Lande; der Invalide muss oft Monate lang pausieren. Man glaubt ihm seine Geschichte nicht, in Stuttgart wird er gar ins Irrenhaus gesperrt, wo er zwei Jahre lang bleibt, bis er seine Identität verleugnet und freikommt (ebd.). Er trifft Boutin, einen ehemaligen Kameraden, den er durch Erzählungen gemeinsamer Erlebnisse von seiner Identität überzeugen kann; physisch ist er so verändert, dass man ihn nicht wiedererkennt. Boutin überbringt Chaberts Frau einen Brief (CCh, S. 331). Der Colonel reist ebenfalls gen Paris, freilich in kleinen Etappen; er kommt am 15. Juli 1815 endlich heim, acht Jahre nach seinem ‚Tod‘ (CCh, S. 332). Vor Ort findet Chabert alles verändert: Sein Haus ist verkauft und abgerissen, Spekulanten haben das Grundstück dicht bebaut - Paris ist von Grund auf transformiert (ebd.). Seine Frau lebt in zweiter Ehe mit dem Comte Ferraud, mit dem sie Kinder hat; sie will nichts von ihm wissen. Chabert sucht den Anwalt Derville auf, der sich seiner Sache annimmt. Derville nun versteht schnell, dass die Gräfin Ferraud in einer heiklen Lage ist: Der Comte Ferraud hat die Witwe Chabert v.a. wegen ihres Vermögens geheiratet; sie hingegen vereint die Motive von Liebe, Habgier und Ehrgeiz, hofft sehr auf den Eintritt in den ‚echten‘ Adel (CCh, S. 349). Unter Napoleon konnte ihr neuer Gatte keine Karriere machen, unter der Restauration beginnt sein Aufstieg. Graf und Gräfin bereichern sich enorm, und zwar höchst bürgerlich durch Börsenspekulation. Bei der politischen Karriere jedoch ist die Frau aus napoleonischem Adel dem Comte Ferraud ein Hindernis - er bringt das ungerührt zum Ausdruck (ebd.). Fortan fürchtet die Comtesse, dass die Rückkehr ihres ehemaligen Gatten nicht nur den Verlust eines Teils ihres Vermögens bedeuten würde, sondern dass zudem der Comte Ferraud die Gelegenheit nutzen <?page no="81"?> Fortführung und Aufhebung des romantischen Exils bei Balzac 79 könnte, sich ihrer zu entledigen - folglich hat sie kein Interesse daran, Chaberts wahre Identität öffentlich anzuerkennen. Die Erzählung berichtet im wesentlichen von den Versuchen Chaberts und Dervilles, genau das zu erreichen bzw. zu einer gütlichen Einigung zu kommen. Die Comtesse hingegen versucht, Chabert mit mehr oder weniger legitimen Mitteln zur Aufgabe zu bewegen und endgültig notariell festzuhalten, dass er nicht Hyacinthe Chabert ist 17 . Chabert durchschaut ihr Spiel, ist aber schließlich so enttäuscht, dass er seine Ansprüche nicht weiter verfolgt. Derville trifft ihn Jahrzehnte später, im Juni 1840, in Bicêtre wieder: Chabert ist Insasse des Hospice de la Vieillesse, wo er auf den Tod wartet. Nun aber zu Ort und Zeit und v.a. zur Hauptfigur der Erzählung, dem Colonel Chabert. Berichtet wird primär aus der Gegenwart des Jahres 1816; Perspektivträger ist der äußerst geschickte und umtriebige Anwalt Derville; Hauptort der Handlung ist seine Kanzlei, die eingangs sehr eindrücklich beschrieben wird. Im Kontrast zu diesem geschäftigen Umfeld des modernen Paris wirkt der heruntergekommene Chabert seltsam altmodisch. Tatsächlich wird er von den Kanzleiangestellten zunächst gehänselt, er ist der „,vieux carrick‘“ (CCh, S. 311), d.h. der ‚alte Mantel‘, und „,un fameux crâne‘“ (CCh, S. 316); er hat bereits „,l’air d’un déterré‘“ (ebd.). Als er endlich einen abendlichen Termin beim Anwalt erhält, wird er genauer charakterisiert. Chabert erscheint von vornherein als lebender Toter: „Le visage pâle, livide, et en lame de couteau, s’il est permis d’emprunter cette expression vulgaire, semblait mort“ (CCh, S. 321; Hervorhebung N.B.). Der Schatten verdeckt seinen Körper, der Hut verbirgt einen Teil des Gesichts: „Cet effet bizarre, quoique naturel, faisait ressortir, par la brusquerie du contraste, les rides blanches, les sinuosités froides, le sentiment décoloré de cette physionomie cadavéreuse“ (ebd.; Hervorhebung N.B.). Kurz, der Colonel bietet ein „spectacle surnaturel“ (ebd.). Das Motiv des lebenden Toten wird sodann in der paradoxen Selbstbeschreibung des Colonel Chabert resümiert: „Monsieur, lui dit Derville, à qui ai-je l’honneur de parler? “ „Au colonel Chabert.“ „Lequel? “ „Celui qui est mort à Eylau,“ répondit le vieillard. (CCh, S. 322) Der Colonel Chabert ist also zwar am Leben, scheint aber zugleich und eigentlich tot zu sein. Wie lässt sich dieser Widerspruch auflösen? Balzac lässt den Colonel selbst seine Situation analysieren: „‚J’ai été enterré sous des morts, mais 17 Unter anderem inszeniert sie mit ihren Kindern eine familiäre Idylle auf einem abgelegen Landgut, die Chabert den Verzicht nahelegen soll: „Un soir, en voyant cette mère au milieu de ses enfants, le soldat fut séduit par les touchantes grâces d’un tableau de famille, à la campagne, dans l’ombre et le silence; il prit la résolution de rester mort […]“ (CCh, S. 365). Dann jedoch wird er zum heimlichen Zeugen einer Unterhaltung der Comtesse mit ihrem Anwalt Delbecq und durchschaut ihr Spiel (CCh, S. 366). <?page no="82"?> 80 Niklas Bender maintenant je suis enterré sous des vivants, sous des actes, sous des faits, sous la société tout entière, qui veut me faire rentrer sous terre! ‘“ (CCh, S. 328) Dementsprechend groß ist die Freude Chaberts, als Derville ihm seine Dienste verspricht: „‚Monsieur‘, dit-il avec une sorte de gaieté; car il respirait, ce pauvre colonel, il sortait une seconde fois de la tombe, il venait de fondre une couche de neige moins soluble que celle qui jadis lui avait glacé la tête, et il aspirait l’air comme s’il quittait un cachot“ (CCh, S. 330). Es ist die Aussicht auf ein Wiedererlangen seiner Identität, die Chabert eine zweite, diesmal soziale und symbolische Wiederauferstehung aus dem Grabe verheißt, auch wenn diese Hoffnung von kurzer Dauer ist; tatsächlich wird rasch offensichtlich, dass ein Prozess langwierig und ohne große Erfolgschancen wäre. Erneut illustriert die Bildwelt des Grabes die tragische Situation: „Le monde social et judiciaire lui [au colonel Chabert] pesait sur la poitrine comme un cauchemar.“ (CCh, S. 343) Zusammengefasst: Die Bilder des Grabes und Erstickens werden eingesetzt, um das Verhältnis des Colonel zu seiner offiziellen, d.h. sozialen Identität zu beschreiben; diese steht im Mittelpunkt widerstreitender individueller ökonomischer Interessen, sie ist Gegenstand juristischer Verhandlungen. Chabert droht also der soziale Tod, obwohl er biologisch wohlauf ist und seine physische Identität keinerlei Zweifel unterliegt. Das ist seine tragische Lage, die den Kern der Erzählung ausmacht. 4 Balzacs Fortführung und Aufhebung des romantischen Exils Was nun ist romantisch an dieser Figur? Und inwiefern liegt das in diesem Band diskutierte Exilmotiv vor? Das zentrale Ereignis im Leben des Colonel hat durchaus etwas Wundersames: Er ist ein Wieder-, ein Doppelgänger seiner selbst, der tatsächlich den eigenen Tod - „‚ce qu’il faut bien appeler ma mort‘“ (CCh, S. 324) - überlebt und dem eigenen Grab entsteigt. Dieser Kern der Geschichte hat phantastische Züge, das wird auch dem prosaischen Anwalt Derville bewusst: „,Je crois rêver en vous écoutant‘“, sagt er an einer Stelle (CCh, S. 328). Und auch der Protagonist hat phantastische Eigenschaften, er ist eine rätselhafte Erscheinung („grave et mystérieuse“; CCh, S. 354), ja scheint, wie gesagt, ein lebender Toter zu sein und strahlt als solcher eine „sublime horreur“ aus (CCh, S. 322). Am Ende seines Lebens wird er gar mit Figuren aus dem Inventar der deutschen Romantik gleichgesetzt: „‚Ne ressemble-t-il pas à ces grotesques qui nous viennent d’Allemagne? ‘“, fragt Derville auf keinesfalls ironische Weise und greift damit ein Schlagwort Victor Hugos auf (CCh, S. 371; Hervorhebung N.B.) 18 . Chabert 18 Vgl. die „Préface“ zu Cromwell (1827): „Dans la pensée des modernes, au contraire, le grotesque a un rôle immense. Il y est partout: d’une part, il crée le difforme et l’horrible; de l’autre, le comique et le bouffon.“ In: Ders.: Théâtre complet. Hg. von Roland Purnal, <?page no="83"?> Fortführung und Aufhebung des romantischen Exils bei Balzac 81 entspricht also auch in seiner Erscheinung den ästhetischen Kategorien der romantischen Poetik. Aber Chabert ist nicht nur eine phantastische, sondern auch eine heroische Figur: Er ist der hochverdiente Wiedergänger einer glorreichen Epoche der jüngeren Vergangenheit, ein moderner Held, der es aus eigener Kraft nach oben geschafft hat und auch nach einem tragischen Unfall sich aus eigener Kraft dem Grab entreißt. Zunächst befindet er sich in der realen Fremde, wird in seiner wahren Identität verkannt und für verrückt gehalten - ein typisches Motiv der Romantik. Das eigentliche Exil, so könnte man sagen, erfährt der rastlose Wanderer jedoch erst nach seiner Rückkehr ins heimatliche Paris: Dort erscheint er wie ein Fremdkörper, wie das Relikt einer anderen, poetischeren Epoche im prosaischen Treiben der Restaurationszeit. Seiner Frau ist er eine Last, weil sein Wunsch nach Anerkennung droht, ihre Karriere zu zerstören - Chabert versinnbildlicht ihre eigene Vergangenheit als soziale Aufsteigerin 19 , ja er steht auf einer allgemeineren Ebene für die revolutionäre Vergangenheit der französischen Gesellschaft insgesamt ein, die verdrängt wird zu Gunsten des gegenwärtigen geistlosen Profitstrebens. Die heroische Vergangenheit wird nur im Licht des sozialen Aufstiegs gesehen, die damals vertretenen republikanischen Ideale haben in der Gegenwart keine Bedeutung, ihr Repräsentant folglich keine Berechtigung mehr 20 . Ist Chabert also ein typischer romantischer Held und Exilant, verkannt, verstoßen von einer ehrgeizigen, raffgierigen Moderne, die mit republikanischen Idealen nichts mehr anzufangen weiß? Ein heroischer Soldat, gezwungen, sein Dasein in malerischen Hütten am Rande von Paris bzw. in psychiatrischen Krankenhäusern zu fristen, weil er der politisch-ökonomischen Neuordnung der Restauration ein Dorn im Auge ist? Kurz, ein Exilierter der modernen Welt, die er vorzubereiten half, in der aber kein Platz für ihn ist? Zweifellos: Chabert ist nach Hause gekehrt, aber er bleibt ein Fremder - Bicêtre ist eine Metonymie seines fortdauernden Exils. Trotz des ersten Augenscheins sind die Ereignisse jedoch nicht wirklich phantastisch, ist das Schicksal Chaberts, und damit auch sein Exil, beim besten Willen kein romantisches. J.-J. Thierry und Josette Mélèze, Bd. I. Paris: Gallimard 1963, S. 405-952 („Préface“ S. 409-454), hier S. 418. Chabert wird auch als „pittoresque“ beschrieben (CCh, S. 354). 19 Der Versuch, die Comtesse als eine Person der multiplen Identitäten und der modernen Erzählweise zu sehen, sieht reichlich naiv über dieses primäre und absolut überwiegende Interesse hinweg; vgl. Eileen B. Silvert: Who’s Who: Non-Characters in Le Colonel Chabert. In: French Forum 13,2 (1988), S. 217-228, bes. S. 224. 20 Zum politischen Kontext vgl. Cathy Caruth: The Claims of the Dead: History, Haunted Property, and the Law. In: Critical Inquiry 28 (Winter 2002), S. 419-441, hier S. 422- 423. Vgl. auch Ronnie Butler: Les émigrés dans La Comédie humaine: données historiques. In: L’Année balzacienne (1978), S. 189-224. <?page no="84"?> 82 Niklas Bender Zunächst zur Frage des Phantastischen: Schon Chaberts Erzählung ist darauf angelegt, sein einzigartiges Abenteuer als möglich, als wissenschaftlich erklärbar, kurz, als letzten Endes plausibel darzustellen. So erklärt er seine totenähnliche Starre zum Zeitpunkt seiner Beerdigung mit folgender medizinischer Hypothese: „‚Donc, monsieur, les blessures que j’ai reçues auront probablement produit un tétanos, ou m’auront mis dans une crise analogue à une maladie nommée, je crois, catalepsie.‘“ (CCh, S. 324) 21 Auch die Tatsache, dass er im Massengrab nicht sofort erstickt, wird sorgfältig begründet: „Enfin, en levant les mains, en tâtant les morts, je reconnus un vide entre ma tête et le fumier humain supérieur. Je pus donc mesurer l’espace qui m’avait été laissé par un hasard dont la cause m’était inconnue. Il paraît, grâce à l’insouciance ou à la précipitation avec laquelle on nous avait jetés pêle-mêle, que deux morts s’étaient croisés au-dessus de moi de manière à décrire un angle […]“ (CCh, S. 325) Zudem kommt ihm ein besonders starker Arm zu Hilfe, den er als Schaufel benutzt - so wird erklärt, dass er sich unter all den Leichen hervorwühlen kann (ebd.). Seine klaffende Wunde schließlich lässt ihn, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, nicht verbluten: „‚Par bonheur, mon sang, celui de mes camarades ou la peau meurtrie de mon cheval peut-être, que sais-je! m’avait, en se coagulant, comme enduit d’un emplâtre naturel.‘“ (CCh, S. 326) Erneut wird eine quasi medizinische Erklärung geliefert, die Wahrscheinlichkeit erzeugen soll 22 . Man könnte diesen Erklärungsdrang noch so begründen, dass Chabert kein Interesse daran haben kann, als unglaubwürdig dazustehen. Er will seine Gegenüber natürlich möglichst davon überzeugen, dass er wirklich Chabert, dass ihm all dies tatsächlich zugestoßen ist - dabei wäre die Phantastik eher im Weg. Aber auch der Außenblick auf den Protagonisten, dessen Perspektivträger oft der Anwalt ist, nennt den Unfall des Colonel eine Geschichte, deren „‚faits […] vraisemblables, quoique étranges‘“ sind (CCh, S. 324; Hervorhebung N.B.); auch ist das Wiedersehen der Eheleute „un hasard presque surnaturel“ (CCh, S. 354; Hervorhebung N.B.) und noch die Beschreibung des Protagonisten erzeugt einen „effet bizarre, quoique naturel“ (CCh, S. 321; Hervorhebung N.B.). Kurz, die Erzählung tut alles, um den Leser verstehen zu lassen, dass der Rahmen einer ‚realistischen‘ Nachahmung, dem außerordentlichen Gegenstand zum Trotz, gewahrt bleibt. Mit der rationalen Erklärung der Ereignisse jedoch verliert auch ihr Protagonist an Phantastik. Das Exil des Colonel Chabert betreffend ist die Sachlage ähnlich: Es liegt zwar sowohl subjektiv als auch objektiv - d.h. hier sozial und juristisch - vor; Chabert ist seiner Identität beraubt und marginalisiert. Aber die Perspektive auf 21 Die These der Katalepsie wird später erneut aufgegriffen (CCh, S. 326). 22 Daß dies von vornherein geschieht, stellt einen wichtigen Unterschied zur Phantastik der Schauerromantik dar, welche eine mögliche wissenschaftliche Begründung (wenn überhaupt) erst im Nachhinein liefern würde. <?page no="85"?> Fortführung und Aufhebung des romantischen Exils bei Balzac 83 dieses Exil unterscheidet sich radikal von derjenigen der Romantik. Die Tragik des Wiedergängers wird nämlich nicht in erster Linie als Problem einer romantischen Subjektivität geschildert, nicht als Verstrickung in die eigene Biographie, wie z.B. im Falle Hernanis, den der eigene Schwur einholt und endgültig ins Exil des Todes verbannt. Vielmehr liegt der Fokus der Erzählung eindeutig auf der sozialen Schwierigkeit eines Wiedergängers, die primär als Problem des Rechts verhandelt wird: Es geht um die objektive Rechtmäßigkeit seiner Ansprüche - schließlich ist die Comtesse Ferraud nicht nur verheiratet, sondern hat auch Kinder mit ihrem zweiten Mann, während die Ehe mit Chabert kinderlos blieb - sowie die Möglichkeiten, diese nicht nur geltend zu machen, sondern auch effektiv durchzusetzen, besonders durch das Aushandeln eines Kompromisses 23 ; es ist „the claim to self and to life made as a claim to property“, der verhandelt wird 24 . Der Mensch wird als Gegenstand des Rechts gesehen: „[…] dès qu’un homme tombe entre les mains de la justice, il n’est plus qu’un être moral, une question de Droit ou de Fait, comme aux yeux des statisticiens il devient un chiffre“ (CCh, S. 369). Und tatsächlich, am Ende der Erzählung ist Chabert kein ‚Mensch‘ im eigentlichen Sinne mehr: „‚Pas Chabert! pas Chabert! je me nomme Hyacinthe‘, répondit le vieillard. ‚Je ne suis plus un homme, je suis le numéro 164, septième salle‘, ajouta-t-il […]“ (CCh, S. 372). Die eigentliche Dimension des Menschseins, das macht Balzac hier eindrücklich klar, ist seine soziale Existenz. Die subjektive Empfindsamkeit wird konfrontiert mit den Apparaten zur objektiven Erfassung und Verwaltung der menschlichen Existenz, ja teils wird sie sogar durch sie verdrängt - diese Verlagerung des Schwerpunktes findet auf dreifache Weise ihren Ausdruck. Erstens zeigt sie sich in den Orten des Geschehens: Schließlich beginnt die Erzählung in einer Anwaltskanzlei, die en détail beschrieben wird; Einrichtung und Angestellte sind Gegenstand einer minutiösen Schilderung, der Fachjargon wird im Pastiche präsentiert. Des weiteren findet ein Gutteil der Handlung dort bzw. beim Anwalt oder im Justizpalast statt. Ja, Balzac hält ein Plädoyer für das Aufsuchen und das Darstellen dieser Orte: „L’antichambre du Greffe offrait alors un de ces spectacles que malheureusement ni les législateurs, ni les philanthropes, ni les peintres, ni les écrivains ne viennent étudier.“ (CCh, S. 369) 25 23 Vgl. dazu die Erläuterungen Dervilles zur Lage, d.h. zu den Umständen und Kosten eines Prozesses (CCh, S. 340-344). 24 Caruth: The Claims of the Dead [Anm. 20], S. 428. Für die rechtliche Thematik ist diese, wenn auch etwas emphatische, Analyse sehr interessant (vgl. bes. S. 428-434). Allerdings ist Caruth’ optimistische Deutung des Schlusses, Chabert fände in der Aufgabe seiner Identitätsansprüche eine neue Freiheit, durch den Text kaum gedeckt - es sei denn, man sieht in einem senilen Alten, der sich als Nummer bezeichnet und in Armut dem Tod entgegenvegetiert, den Ausdruck von Freiheit (S. 437-441). 25 Balzac kommt seiner eigenen Aufforderung z.B. in L’Interdiction (1836) nach, wo er auf ähnliche Weise soziale Wiedergutmachung als juristisches Problem verhandelt: Der Mar- <?page no="86"?> 84 Niklas Bender Zweitens ist, neben Chabert, Derville die wichtigste Figur der Handlung: Der Anwalt ist offensichtlich der Perspektivträger, ja des öfteren auch der Reflektor des Erzählers 26 . Über die Gründe dieser Wahl lässt Balzac den Leser nicht im Zweifel: „Mais un observateur, et surtout un avoué, aurait trouvé de plus en cet homme foudroyé les signes d’une douleur profonde […]. Un médecin, un auteur, un magistrat eussent pressenti tout un drame à l’aspect de cette sublime horreur […]“ (CCh, S. 322) Der Anwalt ist also, wie der Arzt oder der Schriftsteller, der ideale Beobachter der sozialen Welt. Tatsächlich lässt Derville sich auch vom Prunk des Hauses Ferraud keine Sekunde lang täuschen: Un sourire malicieux et mordant exprima les idées moitié philosophiques, moitié railleuses qui devaient venir à un homme si bien placé pour connaître le fond des choses, malgré les mensonges sous lesquels la plupart des familles parisiennes cachent leur existence. (CCh, S. 351) 27 Aus diesem Wissen über das wahre Wesen der Menschen und der sozialen Ordnung folgt für Derville eine grundsätzlich skeptische Haltung gegenüber der Gesellschaft: „Savez-vous […] qu’il existe dans notre société trois hommes, le Prêtre, le Médecin et l’Homme de justice, qui ne peuvent pas estimer le monde? Ils ont des robes noires, peut-être parce qu’ils portent le deuil de toutes les vertus, de toutes les illusions. Le plus malheureux des trois est l’avoué. […] nous voyons se répéter les mêmes sentiments mauvais, rien ne les corrige, nos études sont des égouts qu’on ne peut pas curer.“ (CCh, S. 373) 28 quis d’Espard will an einer im Exil lebenden Familie die Schuld ausmerzen, die seine Vorfahren begangen haben. Darauf hin versucht seine ehrgeizige und habgierige Frau, ihn für unmündig erklären zu lassen und strengt zu diesem Zweck ein Verfahren an. Erneut ist die zentrale Figur ein Jurist, Staatsanwalt Popinot; erneut ist das Gerüst der Handlung ein Gerichtsverfahren. 26 Die Beschreibung des Colonel Chabert wird geliefert, als Derville ihn zum ersten Mal sieht; der Leser schaut mit Dervilles Augen, das macht die Einleitung des Treffens klar: „Le jeune avoué demeura pendant un moment stupéfait en entrevoyant dans le clairobscur le singulier client qui l’attendait.“ (CCh, S. 321) 27 In Passagen wie diesen wird die Nähe des Realismus zu Positionen der Moralistik spürbar: Beiden ‚literarischen‘ Strömungen geht es um ein Aufzeigen der menschlichen Natur, die als sündhaft (im Fall der Moralistik) oder schlicht egoistisch im Sinne von Selbsterhalt (im Fall des Realismus) begriffen wird. Ein zentraler Unterschied ist der Rahmen, innerhalb dessen dieser Kern der menschlichen Natur vorgeführt wird: Die Moralistik geht von einer theologisch verstandenen Transzendenz aus, welche der Realismus nicht mehr voraussetzt. 28 L’Interdiction stellt in analoger Weise die Beobachterqualitäten des Staatsanwaltes Popinot heraus - als er der Marquise d’Espard einen Besuch abstattet, durchschaut er sofort ihr Spiel; vgl. Honoré de Balzac: L’Interdiction. In: Ders.: La Comédie humaine. Hg. von Pierre-Georges Castex, Bd. III: Études de mœurs: scènes de la vie privée (fin). Scènes de la vie de province. Paris: Gallimard 1976, S. 403-493, hier S. 434, 436, 456; zum Besuch bei der Marquise vgl. S. 457-468. - Flaubert wird auch diesen romantischen Rest - der <?page no="87"?> Fortführung und Aufhebung des romantischen Exils bei Balzac 85 Es folgt bezeichnender Weise eine Anspielung auf die Handlungsschemata mehrerer Romane der Comédie humaine. Drittens schließlich sind auch der Gang der Handlung und die Behandlung des Protagonisten eindeutig: Chabert verschwindet aus dem Gesichtsfeld des Anwalts und des Lesers in dem Moment, wo er seine Ansprüche aufgibt - die soziale Problematik ist erledigt und die subjektive allein scheint keine hinreichend große Rolle zu spielen, um weiter geschildert zu werden. Es wird nur noch ein abschließender Blick auf den Alten gestattet. Sein Leben zwischen dem misslungenen Versuch, seine Identität wieder zu erhalten, und diesem Zeitpunkt der Verwirrtheit und Todesnähe, sprich: das eigentliche Exil Chaberts, das immerhin gut 24 Jahre dauert, wird nicht dargestellt. Die Erzählung interessiert sich nur für den Moment, in dem Chabert auch sozial endgültig stirbt und überlässt den übrig bleibenden, ‚nackten Menschen‘ dann seinem Schicksal. Das hier vorgeführte ‚Exil‘ ist also radikalisiert - freilich in einer Weise, die es letzten Endes aufhebt. Es sei zusammengefasst: Das Motiv des romantischen Exils wird zwar an Hand einer emblematischen Figur aufgegriffen und eindringlich dargestellt. Es erfährt jedoch eine völlig neue Rahmung, die den Bedeutungsgehalt des Motivs gänzlich verändert: Entscheidend ist die soziale und juristische Dimension des hors-la-loi, nicht seine subjektive Unangepasstheit, bzw. seine existentielle Fremdheit. Damit wird die subjektive Dimension sicher nicht unterschlagen, der Leser leidet mit dem einfachen und tapferen Helden gerne mit, genauso wie die romantische Pittoreske der Figur ja durchaus prominent ist. Aber die persönliche Tragik macht nicht mehr das Eigentliche der Erzählung aus, stellt nicht mehr den tatsächlichen Kern dar. Im Zentrum steht vielmehr der objektive Blick auf Figur und Geschehen - ebenso, wie das Phantastische der Erzählung in seinem Wahrscheinlichkeitsgehalt untersucht und die Pittoreske der Figur in einer (streckenweise) medizinischen Fallschilderung 29 aufgelöst wird 30 . Das Exil wird also als Motiv fortgeführt und durch den neuen Kontext aufgehoben. Auf der Ebene der Poetologie findet sich ein Äquivalent zu dieser Rekontextualisierung. Derville schließt seine Zusammenfassung mit den Worten: „‚Enfin, Anwalt als homme supérieur - liquidieren, obwohl er die objektivierende Perspektive beibehält. Vgl. die Darstellung des Anwaltes Bourais in „Un Cœur simple“: Er macht den Eindruck eines „homme[] extraordinaire[]“, begeht jedoch in einer bretonischen Herberge Selbstmord. Madame Aubain, Félicités Herrin, entdeckt daraufhin, daß Bourais ihr Vermögen durchgebracht und ein uneheliches Kind in die Welt gesetzt hat; Gustave Flaubert: Trois Contes. Hg. von Peter Michael Wetherill. Paris: Garnier 1988, S. 157-192, hier S. 162 und S. 188. 29 Küpper verweist darauf, daß die Krankheitsgeschichte, neben dem historiographischen Deutungsangebot, das „wichtigste durchgängige Sinnschema in den Texten der Comédie humaine“ sei. In: Balzac und der effet de réel [Anm. 16], S. 138-143, hier S. 138. 30 Eine regelrechte rational-analytische Reduzierung des Phantastischen wird Edgar Allen Poe vornehmen; vgl. The Murders in the Rue Morgue (1841). <?page no="88"?> 86 Niklas Bender toutes les horreurs que les romanciers croient inventer sont toujours au-dessous de la vérité.‘“ (ebd.) Dieser Feststellung, wie auch dem Plädoyer für eine Beschreibung prosaischer Orte, kann man eine klare Absage an das Exil auch des romantischen Poeten entnehmen: Der realistische Schriftsteller macht sich mittels der Figur des Anwalts daran, die verborgene Wahrheit der Gesellschaft ans Tageslicht zu zerren; zu diesem Zwecke stürzt er sich ins Zentrum der Moderne, untersucht Anwaltskanzleien und Vorzimmer der Justiz. Balzac verwirft mit Emphase das romantische Konzept von Literatur, macht sich die Erkenntnismöglichkeiten der exakten Wissenschaften (der Arzt wird nicht zufällig als ein privilegiert Erkennender genannt) und der Administratoren der modernen Gesellschaft zu eigen. Sein Interesse wendet sich der Frage gesellschaftlichadministrativer Identifikationsprozesse zu, kurz: der sozialen Praxis und ihrer Wechselwirkung mit dem subjektiven Schicksal. Um es mit Nervals Worten zu sagen: Der Poet ist aus dem Elfenbeinturm herabgestiegen und unternimmt es, dessen Türen zu untersuchen. <?page no="89"?> Olaf Müller Vergil, Dante, Tasso und der „doloroso ospizio“ der Literatur: Romantische Autorschaft als Exil bei Chateaubriand François de Chateaubriand berichtet in den Mémoires d’Outre-Tombe 1 eine Episode, die sich während seines Exils in England (1792-1800) zugetragen habe. Im Haus der Pfarrersfamilie Ives in Bungay in Suffolk habe sich zwischen ihm und der sechzehnjähigen Tochter des Hauses, Charlotte Ives, im Frühjahr 1796 eine wechselseitige Zuneigung entwickelt, die dazu geführt habe, dass Charlottes Eltern dem französischen Emigranten, der unter dem Namen M. de Combourg ihr Gast war, angeboten hätten, Charlotte zu heiraten. In einer melodramatischen Passage der Mémoires (X, 9) schildert Chateaubriand, wie er Charlottes Mutter als Reaktion auf das reizvolle Angebot das Geständnis machen muss, er sei in Frankreich bereits verheiratet, was er bis zu diesem Zeitpunkt verschwiegen hatte: […] le dîner fut morne. À mon grand étonnement, M. Ives se retira au dessert en emmenant sa fille, et je restai seul avec madame Ives: elle était dans un embarras extrême. Je crus qu’elle m’allait dire des reproches d’une inclination qu’elle avait pu découvrir, mais dont jamais je n’avais parlé. Elle me regardait, baissait les yeux, rougissait; elle-même, séduisante dans ce trouble, il n’y a point de sentiment qu’elle n’eût pu revendiquer pour elle. Enfin, brisant avec effort l’obstacle qui lui ôtait la parole: „Monsieur“, me dit-elle en anglais, „vous avez vu ma confusion: je ne sais si Charlotte vous plaît, mais il est impossible de tromper une mère; ma fille a certainement conçu de l’attachement pour vous. M. Ives et moi nous nous sommes consultés; vous nous convenez sous tous les rapports; nous croyons que vous rendrez notre fille heureuse. Vous n’avez plus de patrie; vous venez de perdre vos parents; vos biens sont vendus; qui pourrait donc vous rappeler en France? En attendant notre héritage, vous vivrez avec nous.“ De toutes les peines que j’avais endurées, celle-là me fut la plus sensible et la plus grande. Je me jetai aux genoux de madame Ives; je couvris ses mains de mes baisers et de mes larmes. Elle croyait que je pleurais de bonheur, et elle se mit à sangloter de joie. Elle étendit le bras pour tirer le cordon de la sonnette; elle appela son mari et sa fille: „Arrêtez! “ m’écriai-je; „je suis marié! “ Elle tomba évanouie. 2 1 Die Mémoires (im Folgenden abgekürzt MOT mit Angabe des Buchs in römischer und des Kapitels in arabischer Numerierung und mit der Band- und Seitenzahl der Ausgabe Mémoires d’outre-tombe précédés de Mémoires de ma vie. Édition critique par Jean- Claude Berchet. Deuxième édition revue et corrigée. 2 Bde. Paris: Le livre de poche / Classiques Garnier 1998) sind zuerst postum 1849-1850 erschienen, allerdings in einer von den Herausgebern willkürlich vorgenommen Gliederung des Texts, die nicht Chateaubriands letztem Willen entsprach, vgl. die Einleitung von Berchet in die genannte Ausgabe von 1998, Bd. 1, S. XXXIII. 2 MOT X, 9, S. 525. <?page no="90"?> 88 Olaf Müller Die Chateaubriand-Forschung hat sich lange mit dem biographischen Aspekt dieser Episode beschäftigt und vor allem nach deren Wahrheitsgehalt gefragt. Man ist dabei schon früh zu dem Schluss gekommen, dass der Vicomte die Darstellung der MOT, die erst mehrere Jahrzehnte nach der angeblichen Begebenheit von 1796 niedergeschrieben wurde, mit einem sentimentalen Pathos aufgeladen hat, das die Wirklichkeit nicht gehabt haben muss, wenn sich die Ereignisse überhaupt in dieser Form zugetragen haben. 3 Ich möchte auf den folgenden Seiten argumentieren, dass dieses Pathos allerdings, ungeachtet der biographischen Ebene, die für meine Frage unerheblich ist, einer Dramaturgie des Texts dient, in der die Begegnung mit Charlotte als die Wahl zwischen einem anonymen Leben im privaten Glück und der unglücklichen öffentlichen Existenz als Autor François de Chateaubriand inszeniert wird. Dieser symbolische Eintritt in die Autorschaft wird auf mehreren Ebenen allegorisch rückgebunden an die großen adligen Exilvorgänger Dante und Tasso und seinerseits als eine Entscheidung für ein Leben im permanenten Exil semantisiert. Die dieser Semantisierung zugrunde liegende, romantische Autorfigur impliziert, dass nur derjenige, der sein Leben für die Literatur aufzugeben bereit ist, den Autornamen wirklich verdient. Bezogen auf die Exilmetaphorik bedeutet das, dass - um aus dem semantischen Umfeld des von Paul Bénichou beschriebenen, romantischen „sacre de l’écrivain“ zu schöpfen - ein der Literatur ‚geweihtes‘ Leben im Exil einer gesicherten Existenz nicht nur vorzuziehen wäre, sondern dass ‚wahre‘ Literatur und Autorschaft überhaupt nur möglich sind, wenn der Autor dafür eine Existenz im Exil auf sich zu nehmen bereit ist. 4 In der Erzählung seines Liebesromans mit Charlotte Ives, an dessen Anfang als literarische Säulenheilige Tasso und Dante stehen, hat Chateaubriand diese Entscheidung für die Literatur im Exil autobiographisch inszeniert und gleichzeitig auf äußerst komplexe Weise allegorisch aufgeladen. Das Kapitel X, 9 der Mémoires d’outre-tombe, das den schlichten Titel „Charlotte“ trägt, so wie die empfindsamen Romane, die in Chateaubriands 1797 im englischen Exil erschienenen Essai historique, politique et moral sur les révolutions anciennes et modernes, considérées dans leurs rapports avec la Révolution Françoise statt mit ihrem vollen Titel nur mit dem Namen der weiblichen Protagonistinnen als Chiffre zitiert werden, 5 beginnt romangemäß mit der 3 Die ausführlichste Darstellung hat mit positivistischer Gründlichkeit Pierre Christophorov geliefert, vgl. ders.: Sur les pas de Chateaubriand en exil. Paris: Minuit 1960, hier S. 150- 154. 4 Ich übernehme auf den folgenden Seiten Teile aus dem Chateaubriand-Kapitel meiner unveröffentlichten Habilitationsschrift (Literatur im Exil. Zur Konstitution romantischer Autorschaft in Frankreich und Italien 1790-1870, Jena 2010). 5 Im Essai historique hatte Chateaubriand die Lektüre sentimentaler Romane in einem „Aux infortunés“ gerichteten Kapitel als den Trost der von der Gesellschaft verstoßenen empfindsamen Seelen bezeichnet und dabei ebenfalls nur Namen der jeweiligen Heldin als Titel verwendet (hier zit. nach der Ausgabe François-René de Chateaubriand: Essai <?page no="91"?> Vergil, Dante, Tasso und der „doloroso ospizio“ der Literatur 89 Beschreibung des kleinen Orts Bungay in der englischen Provinz, an dem die Handlung einsetzt, und der Pfarrersfamilie, in deren Kreis sich das Liebesdrama abspielen wird. Nach der Einführung im ersten Absatz beginnt im zweiten der Austausch der Tochter des Pfarrers mit dem französischen Gast des Hauses, dem Emigranten Chateaubriand, der unter dem Namen chevalier de Combourg bei der Familie lebt, und der der jungen Charlotte als Hauslehrer dient. Die Interessen des sechzehnjährigen Mädchens gelten der Literatur, erstaunlicherweise besonders der italienischen: „[…] la young lady me questionnait sur la France, sur la littérature; elle me demandait des plans d’études; elle désirait particulièrement connaître les auteurs italiens, et me pria de lui donner quelques notes sur la Divina Commedia et la Gerusalemme liberata“. 6 Es spielt hier keine Rolle, wie unwahrscheinlich es ist, dass die junge Charlotte Ives jemals dieses Interesse geäußert hat, denn die Daten und Namen dienen hier, wie Jean-Christophe Cavallin formuliert hat, nicht einer wie auch immer zu fassenden „vérité biographique“, sondern gehorchen einer „nécessité du mythe autobiographique“. 7 Das Dichterpaar Dante-Tasso wird zu Beginn der Charlotte-Episode besonders insistent eingeführt, da nach der Nennung der Titel der Hauptwerke der beiden noch eine angebliche Unterrichtsszene skizziert wird, in der Chateaubriand sich mit diesen Texten abmüht: „[…] je m’embarrassais quand j’essayais de traduire quelque passage du Tasse. J’étais plus à l’aise avec un génie chaste et plus mâle, Dante“. 8 Jean-Claude Berchet nimmt an, dass die Schwierigkeiten mit Tasso sich vor allem Chateaubriands nahezu völliger Unkenntnis des Italienischen zu diesem Zeitpunkt verdankten. 9 Dafür spricht zwar auch der merkwürdig hispanisierende Titel „Canzones“, mit dem er im Essai historique Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta bezeichnet hatte, 10 aber dann dürfte ihm die Übersetzung Dantes kaum leichter gefallen sein. Da dem Dichterpaar des Kapitelanfangs außerdem am Ende desselben Kapitels das Dichterpaar Vergil-Dante korrespondiert, mit dem der Autor die Grundsatzfrage nach seiner Autorschaft verbindet sur les révolutions. Génie du christianisme. Texte établi, présenté et annoté par Maurice Regard. Paris: Gallimard 1978, S. 318): „Auprès d’un humble feu et d’une lumière vacillante, certain de n’être point entendu, on s’attendrit sur les maux imaginaires des Clarisse, des Clémentine, des Héloïse, des Cécilia. Les romans sont les livres des malheureux“. Die Namen stehen für die Titelheldin aus Richardsons Clarissa Harlowe, für Clementina della Poretta aus Richardsons History of Sir Charles Grandison, für die Titelheldin aus Fanny Burneys Cecilia or Memoirs of an Heiress und für Rousseaus Julie. 6 Mémoires d’outre-tombe précédés de Mémoires de ma vie. Édition critique par Jean- Claude Berchet. Deuxième édition revue et corrigée. 2 Bde. Paris: Le livre de poche / Classiques Garnier 1998, im weiteren zit. als MOT mit römischer Buch- und arabischer Kapitel- und Seitenzahl, hier MOT X, 9, Bd. 1, S. 523-524. 7 Jean-Christophe Cavallin: Chateaubriand mythographe. Autobiographie et allégorie dans les Mémoires d’Outre-Tombe. Paris: Champion 2000, S. 347. 8 MOT X, 9, Bd. 1, S. 524. 9 MOT Bd. 1, S. 1395. 10 Essai sur les révolutions [Anm. 5], S. 353. <?page no="92"?> 90 Olaf Müller („Mon ombre pourra-t-elle dire comme celle de Virgile à Dante: Poeta fui e cantai. ‚Je fus poète et je chantai‘“), liegt es nahe, das ganze Kapitel, angefangen mit der Erwähnung von Commedia und Gerusalemme, als Inszenierung im Dienst des autobiographischen Mythos zu begreifen. Es zeigt sich dann, dass das Verhältnis zwischen der Liebe zur Literatur und der Liebe zum Leben im „Charlotte“-Kapitel und den beiden folgenden (X, 10: „Retour à Londres“, X, 11: „Rencontre extraordinaire“), die das zehnte Buch der Mémoires beschließen, in einer vielfältig allegorisierten Verweisstruktur als unauflösbare Aporie dargestellt wird: das Leben in der Literatur kann darin nur in einem Exil stattfinden, das den Autor vom zivilen Leben isoliert, während umgekehrt das erfüllte zivile Leben wirkliche Autorschaft unmöglich machen würde. An die gemeinsame Lektüre des ‚keuschen und männlichen‘ Dante schließen sich die ersten Überlegungen an, Charlotte zu heiraten. Auf das dantesche Muster der Lektüre, die zu erotischen Verwicklungen führt, das dieser Passage zugrunde gelegt werden kann, komme ich noch zurück. Zunächst stellt sich der Autor selbst seine Reaktion auf das mögliche Angebot von seiten der Ives’ vor, Charlotte zur Frau zu nehmen: „Si l’on m’eût dit que je passerais le reste de ma vie, ignoré au sein de cette famille solitaire, je serais mort de plaisir“. 11 Die harmlos klingende Formulierung erhält im Zusammenhang der Alternative „amour des lettres“ / „vie“ eine deutlich negative Note: ‚vor Freude‘, oder, genauer, ‚an der Freude‘ gestorben wäre nämlich der Autor François de Chateaubriand, der - „ignoré“ im Kreis dieser abgeschieden lebenden Familie - für die Literatur wie tot gewesen wäre. Als ihm das Angebot Charlotte zu heiraten dann eine Seite später an der oben zitierten Stelle durch Charlottes Mutter tatsächlich gemacht wird, muss ‚M. de Combourg‘ gestehen, dass er in Frankreich bereits verheiratet ist. Mrs. Ives fällt darauf, wie gesehen, in Ohnmacht, und Chateaubriand flüchtet aus dem Haus. Auf der Rückreise nach London lässt er sich die Veränderung seines Status, die die Hochzeit bedeutet hätte, noch einmal durch den Kopf gehen: „Pauvre, ignoré, proscrit, sans séduction, sans beauté, je trouve un avenir assuré, une patrie, une épouse charmante pour me retirer de mon délaissement […]“. 12 Doch die Wahl der gesicherten Zukunft und des neuen Vaterlands, die Aufgabe seines Exilantenstatus also, hätte einen lebendigen Tod in Großbritannien bedeutet und den Beginn seiner Autorschaft für immer verhindert. Damit wäre die ‚Rolle auf Erden‘, die er für sich vorbestimmt sah, grundlegend verändert worden: „[…] en épousant Charlotte Ives, mon rôle changeait sur la terre: enseveli dans un comté de la Grande-Bretagne, je serais devenu un gentleman chasseur: pas une seule ligne ne serait tombée de ma plume“. 13 Hätte er aber keine Zeile geschrieben, wäre er auch nicht François de Chateaubriand geworden, da er in England als 11 MOT X, 9, Bd. 1, S. 524. 12 MOT X, 9, Bd. 1, S. 526. 13 Ebd., dort auch die folgenden Zitate. <?page no="93"?> Vergil, Dante, Tasso und der „doloroso ospizio“ der Literatur 91 M. de Combourg firmierte. Das gesicherte zivile Leben in England ist aus der Perspektive des „amour des lettres“ mit Todesmetaphern versehen: „enseveli“ in der britischen Provinz, wäre er für sein Land und dessen Literatur wie ein Toter gewesen: „Mon pays aurait-il beaucoup perdu de ma disparition? “ Umgekehrt hat er mit der Entscheidung gegen die gesicherte Existenz und für das andauernde Exil sein ziviles Leben seinem „talent“ geopfert: „Est-il certain que j’aie un talent et que ce talent ait valu la peine du sacrifice de ma vie? “ Die bereits erwähnte, das Kapitel beschließende Frage, ob sein Schatten einst von sich, wie Vergil im Inferno, sagen können werde: „Poeta fui e cantai“, unterstreicht noch einmal die zentrale Bedeutung der Charlotte-Episode für die Begründung von Chateaubriands Autorschaft in der Dramaturgie der Mémoires d’outre-tombe. Was im Ton des empfindsamen Romans begonnen hat, endet als Epos. Dante und Vergil, die das Kapitel X, 9 beschließen, bleiben auch in den folgenden Kapiteln präsent und eröffnen das der Publikation des Essai historique gewidmete Kapitel XI, 2 durch intertextuelle Rückverweise, die erneut das Thema vom Leben für die Literatur als Tod für das zivile Leben umspielen, dabei aber retrospektiv auch eine weitere allegorische Bedeutungsschicht des Charlotte-Kapitels freilegen. Mit einer deutlichen Dante-Reminiszenz vergleicht der Autor sein Leben mit einer Bergbesteigung, bei der die Rückschau den Blick auf mögliche, aber nicht gegangene Pfade und Irrwege weiter unten am Hang freigibt: […] le voyageur monte toujours et ne descend plus; il voit mieux alors l’espace qu’il a parcouru, les sentiers qu’il n’a pas choisis et à l’aide desquels ils se fût élevé par une pente adoucie: il regarde avec regret et douleur le point où il a commencé à s’égarer. Ainsi, c’est à la publication de l’Essai historique que je dois marquer le premier pas qui me fourvoya du chemin de la paix. 14 Ab der Veröffentlichung des Essai, die den Beginn der Autorschaft Chateaubriands besiegelt, war er also vom „chemin de la paix“ abgekommen („pas qui me fourvoya“), oder, mit Inf. I, 3 zu sprechen: „la dritta via era smarrita“. Zu den „sentiers qu’il n’a pas choisis“ gehört auch derjenige über die „pente adoucie“, die den „chemin de la paix“ des Ehelebens in der ländlichen englischen Idylle bedeutet hätte. Nun aber vollendet er den Essai in der Einsamkeit des Londoner Exils, „entre l’idée de la mort (j’étais retombé malade) et un rêve évanoui: In somnis venit imago coniugis“. 15 Der ‚verblichene Traum‘ verweist noch einmal auf die Idee der Ehe mit Charlotte, das Vergil-Zitat, das sich daran anschließt, rückt diesen Traum allerdings in ein eigenartiges Licht. Im Kontext der Charlotte-Geschichte müsste man übersetzen: „Im Traum erschien das Bild der Gattin“, doch entspricht das nicht der Bedeutung der Stelle bei Vergil. Der Vers stammt aus der Rede, mit der Venus im ersten Gesang der Aeneis ihren Sohn Aeneas 14 MOT XI, 2, Bd. 1, S. 536. 15 Ebd. <?page no="94"?> 92 Olaf Müller über die Herrschaftsverhältnisse in Karthago aufklärt. Sychaeus, der erste Mann Didos, der von Didos Bruder Pygmalion ermordet wurde, erscheint seiner Frau im Traum, weil sein Leichnam nicht bestattet wurde, und klärt sie über die Ursache seines Todes auf: „in somnis inhumati venit imago / coniugis“ (Aen., I, 353-354). Hinter dem Traumbild der verlassenen Charlotte scheint also der blutverschmierte Geist des Sychaeus auf, der bei Vergil seine Witwe auffordert, zu fliehen und ein neues Karthago zu gründen. Chateaubriand, der sich, für den Fall, dass er das stille Eheleben mit Charlotte hätte wählen können, selbst als ‚begraben‘ („enseveli“) imaginiert, passt also das Aeneis-Zitat in den Kontext der Charlotte-Episode ein, indem er das „inhumati“ streicht und das Geschlecht des „coniux“ wandelt. 16 Die verpasste Idylle, die die Geschichte aus Bungay auf einer ersten Ebene erzählt, öffnet sich somit in merkwürdig oszillierender Weise auf die Geschichte von Dido und Aeneas hin. Vor diesem Hintergrund wird auch der rein rhetorische Charakter der Frage, die Chateaubriand sich am Ende von X, 9 - vermittelt über Vergil und Dante - stellt, ersichtlich: Wenn Bungay eine Figur Karthagos und Charlotte eine Figur der Dido ist, dann hat Aeneas- Chateaubriand den göttlichen Auftrag, sich nicht häuslich niederzulassen, sondern weiterzureisen und das neue Reich der französischen Romantik zu begründen. 17 Charlotte Ives tauchte fast dreißig Jahre später noch einmal in Chateaubriands Leben auf, als sie ihn während seiner Zeit als Botschafter 1822 in London in seinen Amtsräumen aufsuchte. Mittlerweile verwitwete Lady Sutton, bittet sie den einflussreichen Botschafter um Protektion für einen ihrer beiden Söhne. Das Gespräch über das Kind, das in einem leicht zweideutigen Ton stattfindet, lässt erneut, wie Jean-Christophe Cavallin gezeigt hat, hinter Charlotte Dido sichtbar werden, wenn sie Chateaubriand sagt: „‚[…] j’aimerais à vous devoir le bonheur de mon premier enfant.‘ Elle appuya sur ces derniers mots“. 18 Der Erzähler der Mémoires, der hier unterstreicht, dass Charlotte die letzten Worte betont, hebt diese damit seinerseits doppelt hervor, was Cavallin dazu führt, dahinter ein Echo von Didos Klage zu vernehmen, dass Aeneas ihr vor seiner Flucht wenigs- 16 Vgl. dazu auch die sehr subtile Deutung von Cavallin: Chateaubriand mythographe [Anm. 7], S. 340-353. 17 Zur Bedeutung der Aeneas-Figur in den MOT vgl. Jean-Claude Berchet: Le Rameau d’or: les emblèmes du narrateur dans les Mémoires d’Outre-Tombe. In: Cahiers de l’Association internationale des études françaises 40 (1988), S. 79-95. Im Vorwort zur Ausgabe von 1998 [Anm. 1], S. LXXXI, fasst Berchet das Verhältnis folgendermaßen zusammen: „Le mémorialiste place volontiers son œuvre sous le patronage de Virgile; il la conçoit comme une nouvelle Énéide dont il serait à la fois le héros et le poète. Comme Énée, Chateaubriand a été forcé de quitter sa patrie, campos ubi Troia fuit (Combourg, Saint-Malo, la vieille France féodale), pour naviguer vers un monde inconnu, après avoir traversé le ‚fleuve de sang‘. Nul espoir de retour au ‚pays natal‘ comme pour Ulysse“. 18 MOT X, 11, Bd. 1, S. 531. <?page no="95"?> Vergil, Dante, Tasso und der „doloroso ospizio“ der Literatur 93 tens einen Sohn hätte schenken sollen. 19 Auch Chateaubriands Antwort („votre fils, quoi qu’il m’en coûte de lui donner ce nom“) legt nahe, dass ihm diese Möglichkeit ebenfalls bewusst ist. Charlottes Vergleich von Chateaubriands Situation als Botschafter mit derjenigen des armen, unbekannten Emigranten von 1795 („Quand je vous ai connu, me disait-elle, personne ne prononçait votre nom: maintenant, qui l’ignore? “) schließt an eine Überlegung des Dichters aus X, 9 an, der seine Lage nach der Flucht aus Bungay kommentiert und über seine zukünftige „renommée“ reflektiert: „Avant ma renommée, la famille de M. Ives est la seule qui m’ait voulu du bien“, was nochmals Charlottes Rolle als Verkörperung von Chateaubriands Verzicht auf ein erfülltes Privatleben zugunsten seiner unglücklichen öffentlichen Autorexistenz betont: „C’était alors qu’aigri par les malheurs, déjà pèlerin d’outre-mer, ayant commencé mon solitaire voyage, c’était alors que les folles idées peintes dans le mystère de René, m’obsédaient et faisaient de moi l’être le plus tourmenté qui fût sur la terre“. 20 Doch Charlotte und François sind nicht nur Dido und Aeneas, sondern auch Tristan und Isolde. Im Kapitel „Retour à Londres“ (MOT X, 10) erscheint Charlottes Bild dem verzweifelten Exilanten nach seiner überstürzten Abreise aus Bungay überall: „Je n’étais pas plus tôt dans un lieu écarté, que Charlotte aux blanches mains, se venait placer à mes côtés“. 21 Ist das Epitheton „aux blanches mains“ für Charlotte, deren Hände vorher keine Erwähnung gefunden haben, durch die ungewöhnliche Wortstellung bereits ein recht deutlicher Hinweis auf Yseult aux blanches mains, so fehlt wenig später auch nicht die „Folie François“, nach dem Vorbild des Berichts über Tristans Liebeswahn in der „Folie Tristan“, wie die Londoner Bekannten des liebeskranken Chateaubriand nach seiner Rückkehr feststellen können: „À Londres, on était surpris de mes façons. Je ne regardais personne, je ne répondais point, je ne savais ce que l’on me disait: mes anciens camarades me soupçonnaient atteint de folie“. 22 Die Geschichte von Tristan und Isolde Weißhand spielt in der Bretagne am Hof des Königs Kaherdin. Tristan ist dort im Exil, weil er vom Hof des Königs Marke fliehen musste, nachdem seine Liebesbeziehung mit Isolde Blondhaar, der Frau Markes, endgül- 19 Cavallin: Chateaubriand mythographe [Anm. 7], S. 379-381; vgl. Aen. IV, 327-330: „saltem si qua mihi de te suscepta fuisset / ante fugam suboles, si quis mihi parvolus aula / luderet Aeneas, qui te tamen ore referret, / non equidem omnino capta ac deserta viderer“ - ‚Hätte ich wenigstens doch einen Sohn von dir noch empfangen vor deiner Flucht und spielte mir hier im Palaste ein lieber, kleiner Aeneas, der immerhin mir doch dein Antlitz bewahrte, ach, dann käme ich nicht so betrogen mir vor und verlassen‘ (Vergil: Aeneis. Lateinisch-deutsch. In Zusammenarbeit mit Maria Götte herausgegeben und übersetzt von Johannes Götte. München: Artemis & Winkler 1994, S. 152-153). Chateaubriand hatte diese Stelle im Kapitel „Amour passionné“ des Génie du christianisme eingehend kommentiert. 20 MOT X, 11, Bd. 1, S. 532. 21 MOT X, 11, Bd. 1, S. 528. 22 Ebd., S. 529. <?page no="96"?> 94 Olaf Müller tig entdeckt worden war. Kaherdin möchte Tristan seine Schwester Isolde Weißhand zur Frau geben, doch Tristan willigt nur zum Schein ein, weil er immer noch die blonde Isolde liebt. Die Flucht vor der Ehe mit Charlotte erhält somit eine weitere allegorische Dimension, die den Verzicht auf das stille Glück im Exil und damit den Verzicht auf das Ende des Exils präfiguriert. Die Flucht vor Yseult aux blanches mains ist vermutlich auch als Teil einer Literarisierung von Chateaubriands Verhältnis zu Juliette Récamier zu verstehen, die in dieser Konstellation die Stelle der ‚richtigen‘ Isolde, Yseult la blonde, einnehmen würde. Am Ende des Charlotte-Kapitels findet sich ein Vorausverweis, der die Beziehung zu Charlotte bereits mit der zu Mme Récamier in Verbindung setzt, und der diese Vermutung stützen würde: „Depuis cette époque [sc. der Zeit bei den Ives in Bungay], je n’ai rencontré qu’un attachement assez élevé pour m’inspirer la même confiance“. 23 Zu den Figuren, die den epischen Helden in seiner gottgewollten Mission vom Ziel abzubringen drohen, gehört neben Dido und Yseult aux blanches mains in den Mémoires auch Tassos Armida, die Rinaldo verzaubert und aus dem christlichen Heer entführt, um dieses zu schwächen. Cavallin hat bereits ausführlich die Allegorien um Juliette Récamier nachgezeichnet, in denen die Geliebte in Armida gespiegelt wird, und dabei auch gezeigt, dass Rinaldo- Chateaubriand die bereits bei Tasso angelegten Überblendungen der Armida- Geschichte mit den Dido-Passagen aus der Aeneis aufgreift und neu kombiniert. 24 Mme Récamier kann nach der Julirevolution jedoch als Figur der Dido und der Armida zu einer positiven Gestalt werden, da nach dem Sturz der Bourbonen die Mission von Aeneas und Rinaldo zwecklos geworden ist, so dass sich der müde Held nun in Karthago oder auf der Insel Armidas ausruhen kann. Im 15. Kapitel des 35. Buchs der Mémoires beginnt eine über die Seen von Lugano, Luzern und Konstanz verlaufende allegorische Reihe, die die Orte einer Reise durch die Schweiz im Jahr 1832 mit Tasso und Vergil, Karthago und Armidas Insel verknüpft und die kurzfristige Aussicht auf ein glückliches Exil nach dem Ende der epischen Kämpfe eröffnet. Eine das Kapitel MOT XXXV, 15 beschließende Beschreibung der Landschaft um den Luganer See verbindet erste Anklänge an die Zeichnung von Armidas Zauberschloss auf einem Berg mitten in einem See aus der Gerusalemme mit der Vorstellung der Möglichkeit eines glücklichen Exils: Les montagnes qui entourent le lac de Lugano, ne réunissant guère leurs bases qu’au niveau du lac, ressemblent à des îles séparées par d’étroits canaux; elles m’ont rappelé la grâce, la forme et la verdure de l’archipel des Açores. Je consommerais donc l’exil de mes derniers 23 MOT X, 9, Bd. 1, S. 526. Chateaubriand hatte den Tristan-Stoff auch schon in den Aventures du dernier Abencérage verwendet, vgl. dazu Pierre Glaudes: Chateaubriand troubadour. In: Chateaubriand. Le tremblement du temps. Colloque de Cerisy. Textes réunis par Jean-Claude Berchet. Toulouse: Presses universitaires du Mirail 1994, S. 41-74. 24 Cavallin: Chateaubriand mythographe [Anm. 7], S. 309-317. <?page no="97"?> Vergil, Dante, Tasso und der „doloroso ospizio“ der Literatur 95 jours sous ces riants portiques où la princesse de Belgiojoso a laissé tomber quelques jours de l’exil de sa jeunesse? J’achèverais donc mes Mémoires à l’entrée de cette terre classique et historique où Virgile et le Tasse ont chanté, où tant de révolutions se sont accomplies? 25 Nach der erneuten Nennung von Vergil und Tasso folgt eine Aufzählung von Gegenden, die hinter dem ‚Vorhang der Alpen‘ sichtbar würden, wenn dieser sich heben könnte. Dabei vermischen sich Orte aus Vergils, Tassos und Chateaubriands Werkbiographien zu einer Kette, an deren Ende suggestiv Karthago steht: „Si leur rideau venait à se lever, il me découvrirait les plaines de la Lombardie; par-delà, Rome; par-delà, Naples, la Sicile, la Grèce, la Syrie, l’Égypte, Carthage“. 26 Den Zusammenhang dieser Orte stiftet die Biographie des Reisenden Chateaubriand: „bords lointains que j’ai mesurés“. Im anschließenden Kapitel, das die Abneigung des Reisenden gegen die zentralschweizer Alpen und die Alpenliteratur zusammenfasst, wird die allegorische Seen-Reihe wieder aufgenommen. Der Luzerner See erscheint dabei, wie auch Rom und Sizilien, als mangelhafte Wiederholung eines Typus, der im Zustand der Fülle den Luganer See und die Gärten Armidas zusammenzudenken erlaubt: „J’ai traversé le lac de Lucerne, il avait perdu à mes yeux une partie de son mérite: il est au lac de Lugano ce que sont les ruines de Rome aux ruines d’Athènes, les champs de la Sicile aux jardins d’Armide“. 27 Die durch die Alpen dauerverdunkelte Zentralschweiz - „ces trous surnommés vallées, où l’on ne voit goutte en plein midi“ - füge sich nicht einmal zu so etwas wie Landschaft, da ihr die Sonne fehle. Erst die von der Sonne beschienene Gegend sei wirklich Landschaft: „Le paysage n’est créé que par le soleil; c’est la lumière qui fait le paysage“. 28 Als Gegenbeispiele nennt Chateaubriand dann drei lichtdurchflutete, mediterrane Orte, die wiederum mit Vergil und Tasso und dem erfüllten Exil am Ende der gescheiterten Mission in Verbindung stehen: Karthago, Tassos Geburtsort Sorrento 29 und die römische Campagna, die für Chateaubriand seit seinem Brief an Fontanes von 1804, den er auch in den Voyage en Italie aufgenommen hatte, im Zeichen Vergils 30 stand: „Une grève de Carthage, une 25 MOT XXXV, 15, Bd. 2, S. 611-612. 26 Ebd., S. 612. 27 MOT XXXV, 16, Bd. 2, S. 613. 28 Ebd., S. 614. 29 Im Tasso-Kapitel MOT XL, 2, S. 869, ist es Tasso selbst, der von einem Rückzug nach Sorrento träumt und damit auf den Rückzugstraum des Vicomte aus dem 35. Buch zurückverweist: „Je voulais, disait-il, me retirer à Sorrente comme dans un port paisible, quasi in porto di quiete“. 30 Der erste Satz des Briefs lautet: „J’arrive de Naples, mon cher ami, et je vous porte un fruit de mon voyage, sur lequel vous avez des droits: quelques feuilles du laurier du tombeau de Virgile“. Nach der Fassung des Briefs an Fontanes im Voyage en Italie, in: Chateaubriand: Œuvres romanesques et voyages. II. Texte établi, présenté et annoté par Maurice Regard. Paris: Gallimard 1969, S. 1476-1496, hier S. 1476; Tasso ist auch 1804 nicht weit, wenn Vergil auftaucht, und erscheint als „grand homme infortuné“ und als ei- <?page no="98"?> 96 Olaf Müller bruyère de la rive de Sorrente, une lisière de cannes desséchés dans la Campagne romaine, sont plus magnifiques, éclairées des feux du couchant ou de l’aurore, que toutes les Alpes de ce côté-ci des Gaules“. 31 Auf der letzten Stufe der Seeallegorie, die auf der Insel Mainau im Bodensee angesiedelt ist, entführt Armida-Juliette in einer „scène d’un conte de fées“ Chateaubriand in einen Garten, der auf den Hypotext des Zaubergartens aus der Gerusalemme verweist. 32 Das Licht der auf- oder untergehenden Sonne („feux du couchant ou de l’aurore“), das die mediterranen Exilorte erhellt, wird in einer doppelten Inskriptionsszene auf der Insel Mainau mit Juliette verbunden. In das Notizbuch Mme Récamiers, in dem diese Material sammelte, das den vermeintlichen Selbstmord Rousseaus dokumentieren sollte, trägt Chateaubriand unter die angeblichen letzten Worte seines ehemaligen intellektuellen Leitsterns eine Widmung für Juliette ein, die die Seen- und die Sonnenmetaphorik miteinander verbindet: Au-dessous de ces dernières paroles de l’auteur d’Héloïse: ‚Ma femme, ouvrez la fenêtre que je voie encore le soleil‘, je traçai ces mots au crayon: Ce que je voulais sur le lac de Lucerne, je l’ai trouvé sur le lac de Constance, le charme et l’intelligence de la beauté. Je ne veux point mourir comme Rousseau; je veux encore voir longtemps le soleil, si c’est près de vous que je dois achever ma vie. Que mes jours expirent à vos pieds, comme ces vagues dont vous aimez le murmure. - 28 août 1832. 33 Was er auf dem Vierwaldstätter See gesucht hatte, konnte man ein paar Seiten vorher, im Kapitel MOT XXXV, 11, lesen, in dem Chateaubriand seine Gedanken auf einer Bootsfahrt vom 16. August 1832 notiert, Gedanken des alternden Dichters, der glaubt, seine durch das Ende der politischen Karriere wiedergewonnene Freiheit kaum noch nutzen zu können und der sich die Frage nach seinem Nachruhm 34 stellt. Die Luzern-Passagen stehen im Zeichen Wilhelm nes der „talents exilés“, die durch die Este protegiert wurden (ebd., S. 1488); für eine eingehendere Lektüre der „Lettre à Fontanes“ vgl. Olaf Müller: „même toilette, même ton, même usage“? Französische Blicke auf die italienische Salonkultur zwischen Nostalgie und Utopie (Mme de Staël, Chateaubriand, Stendhal). In: Rita Unfer Lukoschik (Hg.): Der Salon als kommunikations- und transfergenerierender Kulturraum. Il salotto come spazio culturale generatore di processi comunicativi e di interscambio. München: Martin Meidenbauer 2008, S. 243-262. 31 MOT XXXV, 16, Bd. 2, S. 614. 32 Für einen Stellenvergleich vgl. Cavallin: Chateaubriand mythographe [Anm. 7], S. 310- 312. 33 MOT XXXV, 18, Bd. 2, S. 621 (Kursivierung im Text). 34 In Chateaubriands Konzept von Ruhm und Nachruhm ist die Wende bereits markiert, die Detlev Schöttker für das 19. Jahrhundert beschrieben hat (Ruhm und Rezeption. Unsterblichkeit als Voraussetzung der Literaturwissenschaft. In: Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. Hg. von Jörg Schönert. Stuttgart / Weimar: Metzler 2000, S. 472- 487). Nicht der Ruhm an sich sei erstrebenswert, da den jeder beliebige Politiker erlangen könne, sondern nur der Nachruhm, der meist auf die Verkanntheit zu Lebzeiten folge, wie Chateaubriand am Beispiel seiner Vorgänger in der französischen Botschaft im elisabe- <?page no="99"?> Vergil, Dante, Tasso und der „doloroso ospizio“ der Literatur 97 Tells und des geographisch nahen Rütli, die die Frage nach der politischen Freiheit aufwerfen: „Que deviendra notre liberté moderne, toute maudite de la bénédiction des philosophes et des bourreaux? “. 35 Die bürgerlichrepublikanische Freiheit der Schweiz weckt Erinnerungen an die wilde aristokratische Freiheit, die Chateaubriand in der Bretagne seiner Kindheit auszumachen glaubt. Die domestizierten Wasserhühner, die er in Luzern gesehen hat, verdeutlichen diesen Gegensatz für ihn: „J’ai vu les poules d’eau privées; j’aime mieux les poules d’eau sauvages de l’étang de Combourg“. 36 Auch der See von Luzern wird durchsichtig auf die Bretagne hin, als der Reisende in einen katholischen Gottesdienst gerät: „C’était comme la prière du soir au bord de la mer dans ma pauvre Bretagne, et j’étais au bord du lac de Lucerne! Une main renouait ainsi les deux bouts de ma vie pour me faire mieux sentir tout ce qui s’était perdu dans la chaîne de mes années“. Die allegorische Reihe der Seen leitet also ersichtlich einen Abschnitt der Erinnerungen ein, der zurückverweist auf die Anfänge der biographischen Erzählung, und der die beiden Enden von Chateaubriands Leben aneinanderbindet. Die Phase nach der politischen Aktivität und der Wiederaufnahme des großen, autobiographischen Projekts nach dem Ende der Bourbonenherrschaft und dem Verlust aller Ämter unter der orleanistischen „Usurpation“ wird zu einem zweiten Exil stilisiert, das den Rahmen für den ‚Tod des Autors‘ abgeben wird. 37 Bei der Fahrt auf dem See fragt Chateaubriand sich dann im Angesicht der Alpen, für welches Publikum er noch schreithanischen London reflektiert, die den Namen Shakespeare vermutlich nie gehört hätten (MOT XII, 1, Bd. 1, S. 563): „Montmorency, Biron, Sully tour à tour ambassadeurs de France auprès d’Élisabeth et de Jacques I er , entendirent-ils jamais parler d’un baladin, acteur dans ses propres farces et dans celles des autres? Prononcèrent-ils jamais le nom, si barbare en français, de Shakespeare? Soupçonnèrent-ils qu’il y eût là une gloire devant laquelle leurs honneurs, leurs pompes, leurs rangs, viendraient s’abîmer? Hé bien! le comédien chargé du rôle du spectre dans Hamlet, était le grand fantôme, l’ombre du moyen âge qui se levait sur le monde, comme l’astre de la nuit, au moment où le moyen âge achevait de descendre parmi les morts: siècles énormes que Dante ouvrit et que ferma Shakespeare“. 35 MOT XXXV, 11, Bd. 2, S. 592. 36 Ebd., S. 593. Dort auch das folgende Zitat. 37 Der ‚Tod des Autors‘ ist hier nicht im Sinne Roland Barthes’ zu verstehen, sondern als Pendant zur eingangs inszenierten ‚Geburt des Autors‘ und verbunden mit der Frage, ob die „renommée“ den biologischen Tod überleben werde. Auf dem Friedhof von Luzern erinnern den Reisenden die Epitaphe auf den Grabsteinen an seinen nahenden Tod und an die Möglichkeit, in der Literatur den eigenen Tod zu überleben, wie dies Schiller und Johannes von Müller gelungen sei (MOT XXXV, 11, S. 591-592): „Une épitaphe me dit: Hodie mihi, cras tibi; une autre: Fuit homo, une autre: Siste, viator; abi, viator. Et j’attends demain, et j’aurai été homme; et voyageur je m’arrête; et voyageur je m’en vais. Appuyé à l’une des arcades du cloître, j’ai regardé longtemps le théâtre des aventures de Guillaume Tell et de ses compagnons: théâtre de la liberté helvétique, si bien chanté par Schiller et Jean de Müller. Mes yeux cherchaient dans l’immense tableau la présence des plus illustres morts, et mes pieds foulaient les cendres les plus ignorées“. <?page no="100"?> 98 Olaf Müller be und welche Muse er, in auffälliger Umkehrung des traditionellen Verhältnisses zwischen Muse und Dichter, noch inspirieren werde: […] je la peindrais bien encore, la nature; mais pour qui? qui se soucierait de mes tableaux? quels bras, autres que ceux du temps, presseraient en récompense mon génie au front dépouillé? qui répéterait mes chants? à quelle muse en inspirerais-je? Sous la voûte de mes années comme sous celle des monts neigeux qui m’environnent, aucun rayon de soleil ne viendra me réchauffer. Quelle pitié de traîner, à travers ces monts, des pas fatigués que personne ne voudrait suivre! Quel malheur de ne me trouver libre d’errer de nouveau qu’à la fin de ma vie! 38 Die Fahrt auf dem Vierwaldstätter See, in der Mitte zwischen dem Luganer und dem Bodensee, ist der Ort einer Krise beim Eintritt in die letzte Lebensphase, die nun auf das Grab und den unsicheren Nachruhm zuläuft. In einem Brief an Béranger hatte Chateaubriand Ende September als den Zweck der Schweizreise die Suche nach einem Exil genannt, das ihm Freiheit und Sonne zur Abfassung seiner Mémoires bieten würde. 39 Auf dem Bodensee, so wird nun verständlicher, hat er die Sonne in Gestalt von Mme Récamier gefunden, die nötige Freiheit zum Schreiben bietet das erneute Exil. Die Aussicht auf seinen eigenen Tod schreibt Chateaubriand in der Szene auf dem Bodensee buchstäblich ein in den Bericht über Rousseaus Tod durch angeblichen Selbstmord und über dessen apokryphe letzte Worte. Das Gerücht, Rousseau habe sich umgebracht, kursierte zwar noch lange nach dessen Tod, doch die von Chateaubriand meist ausgiebig benutzte Biographie universelle von Michaud hatte schon 1825 alle Berichte widerlegt, nach denen Rousseau sich vergiftet oder erschossen haben sollte. Auch die in mehreren Varianten überlieferten letzten Worte, die jeweils den Wunsch ausgedrückt haben sollen, ein letztes Mal die Sonne zu sehen, werden knapp ins Reich der Legenden verwiesen: „il expira sans prononcer une seule parole“. 40 Juliette Récamier scheint beides, Selbstmord und letzte Worte, 1832 noch immer für Tatsachen zu halten; sicherlich passte diese Version aber auch besser zur großen allegorischen Konstruktion, mit der Chateaubriand die letzte Phase seiner Mémoires mit dem Exil des Anfangs verklammerte. Die Selbstmord-Version hatte besonders prominent die Autorin vertreten, deren Platz in Mme Récamiers Leben Chateaubriand gewissermaßen eingenommen hatte, nämlich Mme de Staël in ihrem Erstlingswerk Lettres sur les écrits et le caractère de J.-J. Rousseau (zuerst 1788), worauf der Rousseau-Artikel der Biogra- 38 Ebd., S. 594. 39 „Votre lettre du 19 août, Monsieur, me parvint à Lucerne, il y a une dizaine de jours; on avait négligé de me l’envoyer sur-le-champ. Je courais alors les montagnes: j’étais allé voir si à Lugano, à Constance, à Zurich, je trouverais l’exil propre à l’achèvement de mes Mémoires. Il me faut de la liberté et du soleil, deux choses qui vont rarement ensemble“. Brief an Béranger aus Genf, Ende September 1832, hier zit. nach dem Abdruck in Berchets Kommentar von MOT Bd. 2, S. 1186. 40 Biographie universelle ancienne et moderne […]. Bd. 39. Paris: Michaud 1825, Artikel „Rousseau (Jean-Jacques)“, S. 126-152, hier S. 142. <?page no="101"?> Vergil, Dante, Tasso und der „doloroso ospizio“ der Literatur 99 phie universelle ausdrücklich hinwies. 41 Dem Tod des verzweifelten Selbstmörders Rousseau, der nur noch für einen kurzen Augenblick die Sonne sehen konnte, setzte die Wendung auf der Insel im Bodensee den noch lange von den „feux du couchant“ - der Abendsonne Juliette - überstrahlten Lebensabend im produktiven Exil entgegen, an dessen Ende der christliche Tod des Vicomte stehen wird, der sich dadurch erneut von Rousseau distanziert, obwohl er sich gleichzeitig ganz konkret, „au crayon“, in dessen Tradition einschreibt. Wenn aber die die Mémoires beschließende Schreibphase so nachdrücklich in eine Exilsituation im Zeichen Tassos und Vergils verlegt werden muss, 42 die in das Licht einer Abendsonne getaucht ist, die zum Attribut der neuen Armida Juliette wird, und wenn die Symmetrie, die Chateaubriand selbst betont, auch auf der allegorischen Ebene durchgehalten ist, liegt es nahe, auch im ersten Exil, das den metaphorischen Ort der Geburt des Autors François de Chateaubriand bildet, nach Armida und den glückseligen Inseln zu suchen. Wir hatten bereits gesehen, dass Juliette sich zu Charlotte verhält wie Yseult la blonde zu Yseult aux blanches mains. Der Logik von Chateaubriands literarhistorischem Missionsgedanken folgend, ist Charlotte eine erste Armida im Sinne der Gerusalemme, von der Rinaldo- Chateaubriand sich losreißen muss. Wenn sich am Ende des Kapitels X, 11, das die Begegnung von 1822 in der französischen Botschaft in London beschreibt, nach der endgültigen Trennung von Charlotte die Formulierung findet: „il me semble que je perds une seconde fois Charlotte dans cette même île où je la perdis une première“, 43 ist die Insistenz, mit der die ansonsten in den Mémoires nicht ausdrücklich benannte Insellage Englands hervorgehoben werden muss, ein erster Hinweis auf die Insel, auf die Armida Rinaldo entführt hatte (Gerusalemme XIV, 69-70). In Verbindung mit der Lichtmetaphorik, die unmittelbar folgt, wird die spiegelbildliche Konstruktion, die diese Passage auf die Juliette- Allegorie des zweiten Exils vorausverweisen lässt, ersichtlich: „la chaste image de Charlotte, en faisant pénétrer au fond de mon âme quelques rayons d’une lumière vraie, dissipa d’abord une nuée de fantômes: ma démone, comme un mauvais génie, se replongea dans l’abîme; elle attendit l’effet du temps pour renouveler ses apparitions“. 44 Ist Juliette mit der untergehenden Sonne verbunden, so sind Charlotte die Attribute der Morgenröte zugeordnet, wie ein weiteres Inselbild verdeutlicht, das Chateaubriand entwirft, um die Redaktion des Essai 41 Biographie universelle [Anm. 40], S. 143; für Mme de Staëls Version der Selbstmordgeschichte vgl. jetzt die Ausgabe Madame de Staël: Œuvres complètes. I, 1. Lettres sur les écrits et le caractère de J.-J. Rousseau. […] Sous la direction de Florence Lotterie. […] Paris: Champion 2008, S. 102-103. 42 Der Brief an Bérenger (vgl. Anm. 39) schloss mit der Ankündigung, der selbsternannte Exilant werde nach Vollendung der Arbeit das Grab Vergils aufsuchen: „J’espère que l’année prochaine mes Mémoires seront assez avancés pour lever mes tentes et aller chercher le tombeau de Virgile“. 43 MOT X, 11, Bd. 1, S. 532. 44 Ebd. <?page no="102"?> 100 Olaf Müller historique, von dem sich der arme Exilant die „gloire“ und den Beginn seiner „renommée“ versprach, als von der Erinnerung an Charlotte inspiriert darzustellen: Charlotte, que je cherchais ainsi à me reconcilier par la gloire, présidais à mes études. Son image était assise devant moi tandis que j’écrivais. Quand je levais les yeux de dessus mon papier, je le portais sur l’image adorée, comme si le modèle eût été là en effet. Les habitants de l’île de Ceylan virent un matin l’astre du jour se lever dans une pompe extraordinaire, son globe s’ouvrit, et il en sortit une brillante créature qui dit aux Ceylanais: ‚Je viens régner sur vous.‘ Charlotte, éclose d’un rayon de lumière, régnait sur moi. 45 Die nun mit dem Licht des „astre du jour“ verbundene Erscheinung Charlottes, die Chateaubriand durch die „gloire“, zu der ihm der Essai verhelfen soll, zu besänftigen hoffte, war ihrem von Bungay nach London geflüchteten Fast- Ehemann schon in dem Traum, in dem sie auch zu „Charlotte aux blanches mains“ wurde, als Armida-Figur erschienen, wie eine wörtliche Übernahme aus dem 14. Gesang der Gerusalemme zeigt. Als Armida des schlafenden Rinaldo angesichtig wird, verfliegen ihre Rachegelüste schlagartig. Sie verliebt sich heftig in den christlichen Ritter (GL XIV, 67, 536: „di nemica ella divenne amante“), entführt ihn auf eine der glückseligen Inseln im Ozean und umschlingt ihn dort mit Blumenketten, um ihn derart gefesselt auf ihrer Zauberinsel festzusetzen (GL XIV, 68, 537-542): Di ligustri, di gigli e de le rose le quai fiorian per quelle piaggie amene, con nov’arte congiunte, indi compose lente ma tenacissime catene. Queste al collo, e le braccia, a i piè gli pose: così l’avvinse e così preso il tiene […]. Wenn also der schlafende Rinaldo-François meint, Charlotte im Traum an sich zu drücken, muss man hinter der Lilienkette, als die ihm Charlottes Arme dabei erscheinen, die Instrumente der Fesselung von Tassos Rinaldo durch die verliebte Armida erkennen: „je pressais ses beaux bras contre ma poitrine, ainsi qu’une chaîne de lys que j’aurais portée à mon cou“. 46 Mit der Flucht aus Bungay und von Charlottes Insel zerreißt der christliche Ritter François die Blumenketten, die ihn am Eintritt in die Autorschaft gehindert hätten. Während der alte Chateaubriand nach dem Scheitern seines politischen Projekts in ein zweites Exil gehen muss, um im Licht der Abendsonne im Angesicht des Grabs (oder, nach einem anderen Bild, im Grab sitzend) seine Memoiren schreiben zu können, muss der junge Exilant den Verlockungen des bequemen Lebens widerstehen und im Exil bleiben, um überhaupt zum Autor werden zu können. 45 MOT XI, 1, Bd. 1, S. 535. 46 MOT X, 11, Bd. 1, S. 528. <?page no="103"?> Vergil, Dante, Tasso und der „doloroso ospizio“ der Literatur 101 Diese Interpretation lässt sich durch einen genaueren Blick auf den Eingang der Charlotte-Episode stützen, an dem so auffällig die gemeinsame Lektüre von Tasso und Dante steht. Eine Szene gemeinsamen Lesens, die in der Folge zu erotischen Verwicklungen führt, verweist im Kontext von Chateaubriands Ästhetik des Palimpsests mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Episode von Paolo und Francesca aus dem 5. Gesang des Inferno, besonders in einem textuellen Umfeld, das nicht nur ostentativ durch die Figur Dantes gerahmt ist, sondern in dem als die Lektüre, die zu den folgenden Komplikationen führt, ausdrücklich die Commedia selbst genannt wird. Im Génie du Christianisme hatte Chateaubriand bereits ein ganzes Kapitel dem Vergleich von Vergils und Dantes Höllendarstellungen gewidmet („Parallèle de l’Enfer et du Tartare. Entrée de l’Averne. Porte de l’Enfer du Dante. Didon. Françoise d’Arimino. Tourments des coupables“), 47 in dem er ausführlich auf die Episode von Paolo und Francesca einging und, nach dem argumentativen Muster des Essai historique, Dido und Francesca parallelisierte. Das spezifisch christliche Pathos der Szene bei Dante sei besonders an der Zeichnung Francescas ersichtlich: „Françoise est punie pour n’avoir pas su résister à son amour, et pour avoir trompé la foi conjugale: la justice inflexible de la religion contraste avec la pitié que l’on ressent pour une faible femme“. 48 François hat, anders als Françoise, seiner Liebe widerstanden und die Ehe mit seiner legitimen Frau in Frankreich nicht gebrochen, aber christliches Pathos eignet in Chateaubriands Verständnis sicher beiden Ehebruchszenarien, dem des vollzogenen Ehebruchs bei Françoise und dem des nur imaginierten bei François. Dantes ‚Keuschheit‘, die die Eingangsszene der Charlotte-Episode hervorhebt („un génie plus chaste et plus mâle“), wird im Génie speziell der Francesca-Passage attestiert („Quelle simplicité admirable dans le récit de Françoise, quelle délicatesse dans le trait qui le termine! Virgile n’est pas plus chaste dans le quatrième livre de l’Énéide […]“), 49 so dass es nicht abwegig scheint, sich in einer Reihe von Leseszenen, in der jedes lesende Paar selbst zum gelesenen wird, François und Charlotte über der Lektüre von Paolo und Francesca über der Lektüre der Kussszene zwischen Lancelot und Guenièvre vorzustellen. Dass der fünfte Gesang des Inferno auch als ganzer als Hypotext der Charlotte-Episode mit den darin explizit auftauchenden oder zu erschließenden Liebespaaren (Dido und Aeneas, Dido und Sychaeus, Tristan und Isolde, Paolo und Francesca) fungiert, ergibt sich wiederum deutlich, wenn man das Geschehen in Bungay und dessen Folgen als Allegorie der literarischen Initiation und des Eintritts in die Autorschaft liest, die, wie wir oben bereits sehen konnten, mit dem Verzicht auf ein Leben außerhalb der Literatur einhergehen. „[L]e donne antiche e’ cavalieri“ (Inf. V, 71), denen Vergil und Dante nach dem Eintritt in 47 Kapitel IV, 14 des zweiten Teils. 48 Zit. nach der Ausgabe des Génie in: Essai sur les révolutions [Anm. 10], hier S. 754. 49 Ebd. <?page no="104"?> 102 Olaf Müller den zweiten Höllenkreis begegnen, sind die Schatten der Wollüstigen, die ihre Liebesleidenschaft das Leben gekostet hat, die also, wie Chateaubriand es sich für den Fall seiner Existenz als Ehemann in der englischen Provinz ausmalt, „mort[s] de plaisir“ sind. Dante rechnet dazu Semiramis, Dido und Aeneas und Sychaeus, Helena und Achilles, Paris und, als letzten Liebenden der einleitenden Aufzählung, Tristan (Inf V, 56-67). Dante bittet Vergil dann, ihm zwei gemeinsam dahinflatternde Seelen vorzustellen, die sich daraufhin aus der Schar lösen, in der sich auch Dido befindet („cotali uscir de la schiera ov’ è Dido“). Auf Dantes Aufforderung hin berichtet Francesca, wie Paolo und sie - um deren beider Seelen handelt es sich - von den „dubbiosi disiri“ überwältigt worden seien, die schließlich zu ihrem Tod geführt hätten. Francescas berühmte Antwort, dass im Unglück die Erinnerung an die Zeit des Glücks besonders schmerzhaft sei (Inf V, 121-123: „Nessun maggior dolore / che ricordarsi del tempo felice / ne la miseria“), nimmt die für die Konstruktion der Mémoires d’outre-tombe konstitutive Figur der sich überlagernden und durchdringenden Zeitebenen der Erzählung vorweg, wie sie Chateaubriand vielfach variiert formuliert, besonders prominent in der „Préface testamentaire“: Les événements variés et les formes changeantes de ma vie entrent ainsi les uns dans les autres: il arrive que, dans les instants de mes prospérités, j’ai à parler du temps de mes misères, et que, dans mes jours de tribulations, je retrace mes jours de bonheur. 50 Die Parallelen im Personal der exemplarischen Liebenden, die in der Charlotte- Episode und im fünften Gesang des Inferno evoziert werden, und die strukturellen Übereinstimmungen in der jeweils ausdrücklich thematisierten, die Zeitebenen überblendenden Erzählweise sind zwar bereits auffällig genug, doch lassen sich noch grundlegendere Verbindungen aufzeigen, die den Eintritt in Dantes zweiten Höllenkreis zum Hypotext der Charlotte-Episode unter dem Aspekt des Eintritts in die Autorschaft und des damit einhergehenden Verzichts auf das Leben machen. Wir erinnern uns an die Inszenierung des im Inferno-Zitat („Poeta fui e cantai“) gipfelnden Widerstreits der Lebensentwürfe am Ende des Bungay- Kapitels, als der aus dem Pfarrhaus geflüchtete Emigrant sich fragt, ob sein Talent, wenn er solches denn besitze, das Opfer seines Lebens wert sei („Est-il certain que j’aie un talent et que ce talent ait valu la peine du sacrifice de ma vie? “). Die Schatten, denen Vergil und Dante am Anfang des zweiten Höllenkreises begegnen, werden von der „bufera infernal“, die dem Sturm ihrer Leidenschaften entspricht, unaufhörlich umhergetrieben, und Dante begreift den Grund für diese Strafe: „Intesi ch’a così fatto tormento / enno dannati i peccator carnali / che la ragion sommettono al talento“ (Inf. V, 37-39). „Talento“ ist hier im Sinne von ‚Begierde‘ zu verstehen, aber auch wenn der Exilant seinem spezifischen „talent“ sein Leben opfert, ist das als ein Fall von strafwürdiger Unter- 50 MOT Bd. 1, S. 1542. <?page no="105"?> Vergil, Dante, Tasso und der „doloroso ospizio“ der Literatur 103 ordnung der „ragione“ unter den „talento“ zu interpretieren. Noch wichtiger ist jedoch der Anfang des fünften Gesangs, der Vergil und Dante vor dem Höllenrichter Minos zeigt. Auf Minos’ Versuch, Dante vom Eintritt in den „doloroso ospizio“, wie der Höllenrichter die Unterwelt bezeichnet (Inf. V, 16), 51 abzuhalten, antwortet Vergil mit dem ebenfalls berühmten Hinweis auf das Fatum und den göttlichen Willen, die Dante diesen Weg beschreiten lassen: „Non impedir lo suo fatal andare: / vuolsi cosí colà dove si puote / ciò che si vuole, e più non dimandare“ (Inf. V, 22-24). Dem „doloroso ospizio“ entsprechen aber in den Mémoires das Hospiz oder das Hospital, die, wie das Exil, für den Ort desjenigen stehen, der in der und für die Literatur lebt. Kurz nach der Charlotte- Episode führt Chateaubriand das Bild erstmals in seiner Darstellung der französischen Emigrantenmilieus in London zur Zeit der Veröffentlichung des Essai historique ein. Über die Ankunft des comte de Montlosier, der sich im Londoner Exil journalistisch und schriftstellerisch betätigte, heißt es dort: „Montlosier […] passa en Angleterre et se réfugia dans les lettres, grand hôpital des émigrés où j’avais une paillasse auprès de la sienne“. 52 Der gottbestimmte Gang Dantes in den „doloroso ospizio“ des Inferno entspricht somit dem offensichtlich ebenso fatalen Eintritt des Exilanten Chateaubriand in die „lettres“, die das „grand hôpital des émigrés“ sind. Zu einer großen allegorischen Szene baut der Autor der Mémoires das Hospizbild im Tasso- Kapitel aus, in dem er, ausgehend vom Bild des im Hospital Sant’Anna in Ferrara eingesperrten Dichters, ein Netz von weltliterarischen Bezügen knüpft, in dem Exil, Gefängnis oder ein Strohlager in einem Hospital zu Attributen des Genies werden, über die hier zunächst Camões und Tasso miteinander in Verbindung treten: Camoëns terminait sa vie dans un hospice à Lisbonne; qui le consolait mourant sur un grabat? les vers du prisonnier de Ferrare. L’auteur captif de la Jérusalem, admirant l’auteur mendiant des Lusiades, disait à Vasco de Gama: ‚Réjouis-toi d’être chanté par le poète qui tant déploya son vol glorieux, que tes vaisseaux rapides n’allèrent pas aussi loin‘. Tant’oltre stende il glorioso volo / Che i tuoi spalmati legni andar men lunge. Ainsi retentissait la voix de l’Éridan au bord du Tage; ainsi, à travers les mers, se félicitaient d’un hôpital à l’autre, à la honte de l’espèce humaine, deux illustres patients de même génie et de même destinée. 53 51 Im Zusammenhang lautet die Stelle (V. 16-20): „‚O tu che vieni al doloroso ospizio‘, / disse Minòs a me quando mi vide, / lasciando l’atto di cotanto offizio, / ‚guarda com’entri e di cui tu ti fide; / non t’inganni l’ampiezza de l’intrare! ‘“. 52 MOT XI, 2, Bd. 1, S. 539-540. Für Montlosiers eigene Darstellung seines Verhältnisses zu Chateaubriand vgl. François-Dominique de Reynaud, comte de Montlosier: Souvenirs d’un émigré (1791-1798). […]. Paris: Hachette 1951, bes. S. 273-275 und 299-300. 53 MOT XL, 2, Bd. 2, S. 872. Das Tasso-Zitat stammt aus dem Sonett „Vasco, le cui felici, ardite antenne“, das vom Autor mit der Inhaltsangabe versehen ist: „Loda il signor Luigi Camoens, il quale ha scritto un poema in lingua spagnola de’ viaggi del Vasco“. In einer Ausgabe der Rimas von Camões von 1598 war das Sonett bereits enthalten, vgl. den <?page no="106"?> 104 Olaf Müller Ob auf einem „grabat“ oder einer „paillasse“, die Literaten sind „illustres patients“ eines Hospitals, in das sie von der verständnislosen Welt eingesperrt werden. Der Gegensatz zwischen dem Dichter und der „espèce humaine“ bezeichnet daher eine unüberbrückbare Trennung, das Genie ist ein Märtyrer oder geradezu ein Christus, der die Leiden, die ihm die Welt zufügt, zur Erlösung der Welt auf sich nimmt. Diesen unverhüllten „sacre de l’écrivain“ führt Chateaubriand in der Darstellung von Tassos Tod aus. Der geistig verwirrte und todkranke Dichter, der sich am 1. April 1595 zum Sterben in das Kloster Sant’Onofrio in Rom zurückzieht, stirbt dort in seiner Zelle am 25. desselben Monats. 54 Der ausführliche Bericht dieser letzten Wochen in Tassos Leben wird im Kapitel XL, 2 skandiert von letzten Aussprüchen des Dichters, deren allerletzter nicht zufällig mit „In manus tuas, Domine“ beginnt („Le reste du verset fut à peine entendu, comme prononcé par un voyageur qui s’éloigne“): Chateaubriand modelliert die Aufzählung von Tassos letzten Worten nach den sieben letzten Worten Jesu Christi am Kreuz, deren letztes bekanntlich genau jenes „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23,46) ist, das der sterbende Tasso noch zur Hälfte auszusprechen vermag. 55 Der letzte Satz des Tasso-Kapitels formuliert die hier noch implizite, wenn auch bereits deutlich erkennbare Parallele ganz ausdrücklich: „Le génie est un Christ; méconnu, persécuté, battu de verges, couronné d’épines, mis en croix pour et par les hommes, il meurt en leur laissant la lumière et ressuscite adoré“. 56 Der „doloroso ospizio“ ist in diesem Sinne auch deshalb eine Station auf dem „fatal andare“ des Dichters, weil er Teil von dessen gottgewoll- Kommentar in Torquato Tasso: Poesie. A cura di Francesco Flora. Milano / Napoli: Ricciardi 1964 (La Letteratura italiana. Storia e testi. Vol. 21), S. 898; Chateaubriand entnahm seine Kenntnisse zu Camões und Tasso vor allem den entsprechenden Artikeln der Biographie universelle, die beide der italienische Exilant Michele De Angelis in einem Ton verfasst hatte, der Chateaubriand unmittelbar ansprechen musste. So ist Tasso dort bereits im ersten Satz „le plus grand poète de l’Italie moderne“ und im zweiten schon im Exil, das mit der Trennung von der Mutter identisch ist: „Dans un âge où tout sourit à l’imagination d’un enfant, il fut obligé de se dérober aux caresses de sa famille pour rejoindre son père dans l’exil“, vgl. den Artikel in Bd. 45 der Biographie universelle (1826), S. 12-33, hier S. 12. Der Artikel zu Camões (Biographie universelle, Bd. 6 [1812], S. 618-621) zitiert auch die Schlussverse von Tassos Vasco da Gama-Sonett, die Chateaubriand übernimmt; vgl. dazu allgemein Fernand Letessier: Chateaubriand et la Biographie Michaud. In: Revue d’histoire littéraire de la France 50 (1950), S. 404-419. 54 Edoardo Costadura hat die Bedeutung von Tassos Rückzug nach Sant’Onofrio für Chateaubriands Selbststilisierung eindringlich interpretiert, vgl. ders.: Der Edelmann am Schreibpult. Zum Selbstverständnis aristokratischer Literaten zwischen Renaissance und Revolution. Tübingen: Niemeyer 2006 (mimesis. Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit. 46), S. 173-178. 55 Vgl. MOT XL, 2, S. 875-876; von den Worten, mit denen er die Mönche im Kloster begrüßt („Je viens mourir au milieu de vous“) bis zum „In manus tuas“ lassen sich insgesamt tatsächlich sieben letzte Sentenzen zählen. 56 MOT XL, 2, S. 880. <?page no="107"?> Vergil, Dante, Tasso und der „doloroso ospizio“ der Literatur 105 ter Passion ist. Der Eintritt in die Autorschaft, den das Charlotte-Kapitel über ein weitverzweigtes Netz von Referenzen allegorisiert, ist der Beginn einer christologisch aufgeladenen Leidensgeschichte, in der das Hospital oder das Kloster die letzte Bleibe des von der Gesellschaft exilierten Dichters sind: „Cloîtres hospitaliers, déserts de religion et de poésie, vous avez prêté votre solitude à Dante proscrit et au Tasse mourant! “ 57 Dem Ende des Tasso-Kapitels mit dem christusmäßigen „génie-martyr“ als letzter Steigerung präludiert der Anfang, der über die Exilmetaphorik den Sänger des befreiten Jerusalem bereits als Figur des Vicomte zu erkennen gibt. Das beiden gemeinsame Charakteristikum, „hommes de talent“ zu sein, verweist dabei erneut auf die oben analysierte Passage aus dem fünften Gesang des Inferno. Bereits die einschneidende Unglückserfahrung der ersten Trennung von der Mutter, die Chateaubriand in seinem eigenen Fall ausdrücklich als sein erstes Exil bezeichnet, 58 verbindet Tasso und den Vicomte. Nach der einleitenden Feststellung, dass den „hommes de talent“ wie Tasso das Glück verwehrt sei („S’il est une vie qui doive faire desespérer du bonheur pour les hommes de talent, c’est celle du Tasse. Le beau ciel que ses yeux regardaient en s’ouvrant au jour fut un ciel trompeur“), 59 paraphrasiert Chateaubriand Tassos autobiographische Canzone „O del grand’Apennino“ in einer Weise, die den Italiener zum Vorgänger im Exil macht: Mes adversités, dit-il, commencèrent avec ma vie. La cruelle fortune m’arracha des bras de ma mère. Je me souviens de ses baisers mouillés de larmes, de ses prières que les vents ont emportées. Je ne devais plus presser mon visage contre son visage. D’un pas mal assuré comme Ascagne ou la jeune Camille, je suivis mon père errant et proscrit. C’est dans la pauvreté et l’exil que j’ai grandi. 60 Die bei Tasso bereits deutlich angelegte Exilthematik verstärkt Chateaubriand noch, indem er aus dem „padre errante“ der V. 39-40 der Canzone („Lasso! e seguii con mal sicure piante, / qual Ascanio o Camilla, il padre errante“) einen 57 MOT XL, 2, S. 875. 58 Bei Chateaubriand findet sich die Stelle in der Erzählung seiner Kindheit in MOT I, 3 (Bd. 1, S. 128): „En sortant du sein de ma mère, je subis mon premier exil“. 59 MOT XL, 2, S. 867. 60 Ebd. Chateaubriand zieht in seiner Paraphrase die Verse 21-25, 31-36, 39-42 zusammen: „Ohimè! dal dì che pria / trassi l’aure vitali e i lumi apersi / in questa luce a me non mai serena, / fui de l’ingiusta e ria <sc. Fortuna, OM> / trastullo e segno, e di sua man soffersi / piaghe che lunga età risalda a pena. / […] / Me dal sen de la madre empia fortuna / pargoletto divelse. Ah! di quei baci / ch’ella bagnò di lagrime dolenti, / con sospir mi rimembra e de gli ardenti / preghi che se ’n portâr l’aure fugaci: / ch’io non dovea giunger più volto a volto / fra quelle braccia […] / e seguii con mal sicure piante, / qual Ascanio o Camilla, il padre errante. / In aspro essiglio e ’n dura / povertà crebbi in quei sì mesti errori“. <?page no="108"?> 106 Olaf Müller „père errant et proscrit“ macht und das Achtergewicht der V. 41-42 („In aspro essiglio e ’n dura / povertà crebbi“) umkehrt zu „dans la pauvreté et l’exil“. Die auf den ersten Blick unscheinbare Bemerkung über den Unterricht in italienischer Literatur, den der Emigrant Chateaubriand 1796 unter dem Pseudonym M. de Combourg der Pfarrerstochter Charlotte Ives erteilt haben will, erweist sich somit im Zusammenhang der Architektur der Mémoires d’Outre- Tombe als Hinweis auf eine allegorische Verbindung zwischen dem Schritt in die Autorschaft und der bewussten Annahme der Exilexistenz, die beide als ein „fatal andare“ erfahren werden. Schlägt man mit diesem Wissen den Anfang von Chateaubriands Erinnerungen noch einmal auf, sieht man, dass auch die Hospital-Symbolik, die in den Büchern X bis XI und XL der MOT Montlosier, Dante, Tasso und Camõens mit Chateaubriand verbindet, den gesamten Text durchzieht und bereits im ersten Kapitel des ersten Buchs eingeführt wird. Im Sinne der polyphonen Konstruktion der MOT offenbart eine ebenfalls unauffällig scheinende Formulierung, die sich mitten im genealogischen Eröffnungskapitel der Mémoires findet, ihre semantische Tiefe erst bei einer Relektüre dieser Stelle, wenn der Leser bereits die allegorischen Dimensionen des Wortes „hôpital“ in den Büchern kennengelernt hat, die Chateaubriands Eintritt in die Autorschaft im englischen Exil inszenieren. Nach einem kurzen Überblick über die literarischen Ambitionen, die einige seiner nächsten Verwandten gezeigt haben und die keinem von ihnen Glück im Leben beschert hätten, 61 fasst er sein eigenes Verhältnis zu den „lettres“ in eine Formel, die bei einer ersten Lektüre noch als Bescheidenheitstopos aufgefasst werden könnte: „les lettres ont causé mes joies et mes peines, et je ne désespère pas, Dieu aidant, de mourir à l’hôpital“. Wenn wir an die Bedeutung von Dantes „doloroso ospizio“ und von Tassos „hôpital“ in Chateaubriands allegorischem Verweissystem denken, dann wird ersichtlich, dass die vermeintliche Bescheidenheitsformel vor dem Hintergrund der Ausführungen über Exil und Autorschaft in den Büchern X, XI und XL alles andere als ein Ausdruck von Bescheidenheit ist und nicht weniger meint als den von Gott vorbestimmten Platz im Pantheon der Literatur, den zu erlangen Chateaubriand recht zuversichtlich ist. 61 „Voilà mes deux oncles, l’un érudit et l’autre poète; mon frère aîné faisait agréablement des vers; une de mes sœurs, madame de Farcy, avait un vrai talent pour la poésie; une autre de mes sœurs, la comtesse Lucile, chanoinesse, pourrait être connue par quelques pages admirables; moi, j’ai barbouillé force papier. Mon frère a péri sur l’échafaud, mes deux sœurs ont quitté une vie de douleur après avoir langui dans les prisons; mes deux oncles ne laissèrent pas de quoi payer les quatre planches de leur cercueil“ (MOT I, 1, S. 123-124). <?page no="109"?> I TALIEN : EXIL UND NATIONALE FRAGE <?page no="111"?> Adriana Vignazia Angelo Frignani: Ein carbonaro im Exil Vorliegender Beitrag befasst sich mit dem Leben und den Werken Angelo Frignanis, anhand derer der semiotisierende Prozess zur Konstruktion der italienischen Nationalidentität im 19. Jahrhundert beispielhaft veranschaulicht werden soll. Für Frignani bedeutete das Exil nicht ausschließlich Entbehrung und Identitätsverlust, sondern auch die Möglichkeit, seine Identität und seine politischen Ideen in der Auseinandersetzung mit dem Ausland und mit der Vielfalt politischer Gedankenströmungen der italienischen Exilanten zu vertiefen, literarisch zu verarbeiten und zu medialisieren. Angelo Frignani, 1802 in Ravenna in eine Familie mittleren Standes geboren, studierte in Bologna Jus und Literatur; als 16jähriger dürfte er der Carboneria beigetreten sein, und 1825 wurde er Vorsitzender von I figli della Speranza. In dieser Zeit teilte sich die Carboneria in der Romagna in drei Gruppen ein: la Protettrice, die die anderen beschützen sollte; la Speranza, die aus jungen Studenten gebildet war; la Turba, weil sie aus Menschen verschiedener gesellschaftlicher Herkunft, zumeist Arbeitern, bestand. 1 Letztere kennzeichnet die Veränderung innerhalb der Carboneria nach den Prozessen von 1821. Man erkannte die Wichtigkeit einer breiteren Basis für das Gelingen des Vorhabens und gewährte auch den niedrigeren Schichten Zutritt, anstatt wie bis dato nur Männer aus dem Adel, der Mittelschicht sowie ehemalige Soldaten und Offiziere der napoleonischen Armee zu rekrutieren. 2 Die Ereignisse, die Frignani ins Exil trieben, nahmen ihren Anfang im September 1826, als die Romagna die repressive Politik des 1823 neu gewählten Papstes erlebte. Papst Leo XII. beabsichtigte, den Unruhen, den Forderungen nach gesellschaftlichen Reformen und dem Geheimbund der Carboneria als deren Trägerin ein Ende zu setzen. Nach dem Scheitern der Untersuchungskommission des Kardinals Rivarola, der einem Mordanschlag entgangen war, setzte der Papst eine neue Kommission, mit Monsignor Invernizzi an der Spitze und etlichen Soldaten als Begleitung ein, mit der Aufgabe, die Schuldigen zu finden. Die Kommission nahm ihre Arbeit im September 1826 in Ravenna auf und versetzte die Region durch unzählige Verhaftungen in Aufruhr, bis sie per Zufall auf die richtige Spur kam und das Netz der Carboneria aufdeckte. 3 1 Primo Uccellini: Memorie di un vecchio carbonaro rovegnano, a cura di Tommaso Casini. Roma: Società editrice Dante Alighieri 1898, S. 6-7. 2 Felice Foresti: Ricordi di Felice Foresti. In: Atto Vannucci: I martiri della libertà italiana dal 1794 al 1848. Memorie raccolte. Firenze: Monnier 1860 3 , S. 605-639, hier S. 607. 3 Eines Tages wurden zwei Mitglieder der Turba wegen eines Duells verhaftet, beim Verhör verrieten sie ihre Mitgliedschaft und den Namen des damaligen Vorsitzenden von La Speranza, der verhaftet wurde und auch aussagte. Luigi Rava: Angelo Frignani e il suo <?page no="112"?> 110 Adriana Vignazia Frignani hielt sich in Bologna auf, als ihn der Ruf, nach Ravenna zur Hilfeleistung zu eilen, erreichte. Er ging trotz Abraten seiner Familie nach Ravenna und wurde auf der Straße verhaftet. Bei den ersten Verhören gelang es ihm, seine Zugehörigkeit zur Carboneria zu verleugnen, bis er in eine Falle geriet, die seine Gesinnung und Zugehörigkeit offen legten. Um, wie fünf seiner Verbündeten, der Todesstrafe zu entgehen, beschloss Frignani, sich als Verrückter auszugeben. Dank seiner Erfahrung als Student bei Professor Giacomo Tommasini, einem berühmten Arzt in Bologna, konnte er seine Verstellung konsequent und glaubwürdig aufbauen und Monate lang aufrecht erhalten, bis ihm durch den Beistand Doktor Paolo Anderlinis, Primar der Nervenheilanstalt in Faenza, die Freiheit unter Polizeiaufsicht als Rekonvaleszentem gewährt wurde, was ihm die Vorbereitung zur Flucht ermöglichte. Über die Toskana floh er nach Korsika und von dort nach Frankreich. Es war Heiligabend 1829, als er in Marseille landete. Wie für alle Exilanten, so sind auch für ihn die ersten Exilerfahrungen bittere Enttäuschungen: In der Toskana verweigerte ihm ein früherer carbonaro, dem er zur Flucht aus dem Gefängnis verholfen hatte, die erwartete Hilfe. 4 In Marseille weigerten sich andere, dem Hungernden Geld zu leihen bzw. zu geben. Gesellschaftliche Hemmungen 5 sowie die Unkenntnis des Französischen erschwerten ihm, den Lebensunterhalt zu verdienen. Er teilte Not und Freuden mit anderen jungen Exilanten aus dem Kirchenstaat, da die meisten keine Hilfe aus ihren Familien erwarten durften: ein Gesetz untersagte Brief- und Geldverkehr mit den Verbannten; es wurde 1831 aufgehoben. Seine Lage besserte sich, als er eine Arbeit als Gießer in der Werkstatt der Brüder Bourgarel in Aix-en- Provence trotz fehlender Fachkenntnisse annahm; die Herausforderung der Arbeit zusammen mit dem Erlernen der Fremdsprache erlaubten ihm, seine menschliche Würde und Selbstsicherheit wiederzuerlangen. Während Frignani um sein Überleben kämpfte, brachte die Julirevolution 1830 eine liberale Wende: in der Außenpolitik schlug Frankreich den politischen Kurs der Nicht-Intervention ein, gegen das Prinzip der Heiligen Allianz gerichtet, dass sich verbündete Staaten gegenseitige Hilfe bei innenpolitischen Unruhen und Gefährdung der legitimen Dynastien zu leisten haben; im Inneren wurde die Auszahlung einer Unterstützung für die politischen Flüchtlinge sowie libro „La mia pazzia nelle carceri“. Memorie autobiografiche di un patriotto romagnolo per la prima volta pubblicate in Italia. Bologna: Zanichelli 1899, S. 232 (Biblioteca di storia moderna e contemporanea, Roma). 4 Beim Eintritt in die Carboneria mussten die neuen Anwerber den Schwur zur gegenseitigen Hilfe leisten. 5 Frignani erzählt, wie er sich einerseits schämte, auf der Hauptstraße von Marseille beim Bürsten alter Kleiderstücke eines Trödlers gesehen zu werden, da er Kontakte mit italienischen Exilanten aristokratischer Herkunft pflegte; anderseits hielt ihn sein Stolz zurück, um Brot zu betteln. Angelo Frignani: La mia pazzia nelle carceri. Paris: Trichot 1839, S. 307-308 (Kap. 187). <?page no="113"?> Angelo Frignani: Ein carbonaro im Exil 111 die Erlaubnis für die Studenten, das unterbrochene Studium auf französischen Universitäten weiterzuführen, beschlossen. Als aber der konservative Flügel im Februar 1831 die Oberhand im Parlament gewann, wurde die Unterstützung der revolutionären Kräfte untersagt: eine Militärexpedition der Carboneria, die aus Savoyen in Piemont einzudringen versuchte, um eine Revolte beim piemontesischen Heer anzuzetteln, wurde mit Gewalt zurückgehalten; die Exilanten - u.a. Frignani -, die nach dem Ausbruch der Volkserhebungen in der Romagna in Februar 1831 in die Heimat zurückfahren wollten, wurden daran gehindert; 1832 zwang man sie, in verschiedenen dépôts in der französischen Provinz zu leben, um sie aus Paris fernzuhalten und potentiell gefährliche Menschen einer schärferen Kontrolle zu unterziehen. Unterstützung bekamen nur die ausgewiesenen politischen Flüchtlinge 6 und studieren durften nur diejenigen, die es sich leisten konnten. 7 Nur wenige Privilegierte aus höherer sozialer Schicht oder mit besonderen Verdiensten durften weiter in Paris leben. Da der Flüchtlingsstrom aus Polen, Deutschland, Italien und Spanien beträchtlich war, wurden die Sondergesetze von Jahr zu Jahr verlängert und verschärft, um die Spesen für deren Unterstützung zu reduzieren. Unter den Flüchtlingen genossen die Italiener keinen besonders guten Ruf, da sie als streitsüchtig und zu Gewalttaten bereit galten. 8 Nach Beendigung seiner Arbeit als Gießer wurde Frignani 1831 dem dépôt von Mâcon zugewiesen, wo sich circa 600 Exilanten aufhielten. 9 Hier hatten die Italiener eine accademia letteraria ins Leben gerufen, bei der Frignani den ersten Entwurf seiner Autobiographie vorlas und viel Sympathie erntete. In Mâcon lernte er zwei Juristen, Giuseppe Cannonieri 10 und Federico Pescantini 11 , letzterer Student in Bologna, kennen, und mit ihnen übersiedelte er nach Paris, um die literarische Monatszeitschrift L’Exilé / L’Esule zu gründen. Die Zeitschrift, welche von September 1832 bis Ende 1834 in vier Bänden herausgegeben wurde, übernahm ihren Titel aus einem Gedicht von Pietro Giannone 12 , einem ihrer bekanntesten Mitarbeiter, in dem von dem Exilanten Edmondo erzählt wird, der in seine Heimat zurückkehrt, um Rache zu nehmen. Edmondo trägt autobiographische Züge, will aber das italienische Volk symboli- 6 Gianfrancesco Borioni: L’Exilé, revue littéraire bilingue de l’émigration carbonare 1832- 1834 (thèse de doctorat, Université Paris VIII) 2000, S. 130-132. 7 Uccellini: Memorie [Anm. 1], S. 220. 8 Ebd., S. 209-210. 9 Rava: Angelo Frignani [Anm. 3], S. LXX. 10 Giuseppe Cannonieri (Modena 1795-Genua 1864): Jurist, 1831-1848 Exil in Frankreich; Arbeit für die Arbeitervereinigungen in Genua. Er war ein Jahr Mitredakteur des Esule. 11 Federico Pescantini (Lugo 1802-Nyon 1875): Jurist, Patriot. Ab 1831 Exil in Frankreich und in der Schweiz. 12 Pietro Giannone (Modena 1792-Florenz 1872): Dichter, Bibliothekar; 1825 Exil in England und Frankreich. <?page no="114"?> 112 Adriana Vignazia sieren. 13 Ziel der Zeitschrift war es, den Franzosen einen vollständigen Kurs über italienische Literatur anzubieten, mit Auszügen aus den jeweils besprochenen Werken, was in dieser Zeit eine Neuheit war. Die Redakteure waren sich ihrer kulturellen Vermittlerrolle bewusst und, wie es im Vorwort hieß, beabsichtigten sie, das französische Publikum, vor allem die ‚französische Jugend‘, anzusprechen , ihre Solidaritätsgefühle und Verständnis für die Unabhängigkeitsbestrebungen zu wecken und mit dem damals in Frankreich verbreiteten Bild der literarischen und kulturellen Dekadenz Italiens 14 aufzuräumen. Da das Publikum nicht aus Fachleuten bestand, wurden die Beiträge übersetzt, um breitere Kreise zu erreichen; bis zur Mitte des vierten Bandes wurde die Zeitschrift zweisprachig veröffentlicht. Die Entscheidung, eine politische Botschaft über eine literarische Zeitschrift zu verbreiten, erfolgte einerseits aus ökonomischen Gründen, weil für eine literarische Zeitschrift weniger Steuer zu zahlen war und somit der Verkaufspreis niedrig gehalten werden konnte, was ihren Verkauf unter den armen Exilanten erleichterte. 15 Aus den Subskriptionslisten geht hervor, dass zu den circa 500 Abonnenten, ein beachtlicher Erfolg für damalige Zeiten, viele Adelige zählten, wie auch der König und die Königin, sowie Angehörige der Pariser Bourgeoisie, und dass die Zeitschrift bis nach Belgien und in die Schweiz verschickt wurde. 16 Andererseits folgte die Gründung der literarischen Zeitschrift Madame de Staëls Überzeugung, die Literatur spiegle Geist und Charakter eines Volkes wider und sei am besten geeignet, eine fruchtbare Auseinandersetzung mit dem 13 Das Werk wurde 1825 in Osambrey (Frankreich) geschrieben und erst 1829 veröffentlicht. In Italien war es trotz Verbot in liberalen Kreisen gut bekannt. Im Vorwort der Garibaldi gewidmeten dritten Ausgabe von 1868 wird gesagt, dass der General und viele Italiener aus diesem Buch die Liebe zur Heimat lernten. 14 Sismondi hatte sich wenige Jahre vor der Gründung von L’esule ablehnend zur italienischen Literatur geäußert: ebenso wie Madame de Staël sah er in der Übermacht der katholischen Kirche, im Verlust der politischen Freiheit und in der Imitation der Antike die Gründe für die Dekadenz der italienischen Literatur. Ihm ist der vierte Band der Zeitschrift gewidmet, und im Schlusswort beteuert Pescantini, dass das Ziel der Zeitschrift der Beweis der kulturellen Lebendigkeit Italiens sei. Vgl. Sismondo Sismondi: De la littérature du Midi de l’Europe (1813). Zitiert nach Udo Schöning: L’Italie et la littérature chez Madame de Staël, Ginguené et Sismondi: l’historiographie littéraire et l’opposition politique. In: L’Italie dans l’imaginaire romantique. Actes du colloque de Copenhague 14-15 septembre 2007. Hg. von H.P. Lund in Zusammenarbeit mit M. Delon. Copenhagen: The Royal Danish Academy of Sciences and Letters 2008, S. 216. Kurz danach forderte Madame de Staël in einem Artikel über den Nutzen der Übersetzungen der italienischen Literaten, sich von hemmendem archäologischem Wissen und der Imitation der Antike zu befreien und sich nach den moderneren nordischen Literaturen zu richten. Vgl. Madame de Staël: Sulla maniera e l’utilità delle traduzioni. In: Biblioteca Italiana, Bd. 1. Milano: Fortunato Stella 1816, S. 9-18. 15 Vgl. Borioni: L’Exilé [Anm. 6], S. 336. 16 Ebd., S. 324. <?page no="115"?> Angelo Frignani: Ein carbonaro im Exil 113 ‚Anderen‘ und eine tiefere Selbstkenntnis herbeizuführen. Der Bezug auf Staëls Auffassung der Literatur ist deutlich: nach dem Vorwort ist ein Zitat aus Corinne ou l’Italie (Livre VII) zu lesen, das Absicht und Leitgedanke kundtut: „La littérature de chaque pays découvre à qui sait la connaître, une nouvelle sphère d’idées“ (I, 25). Eine Nationalliteratur unter fremden Völkern zu propagieren, trage zum besseren Verständnis unter den Völkern bei. In einem solchen Unternehmen eine „pratica consolatoria“ 17 zu sehen, wie Atto Vannucci es tut, würde ein Verkennen der identitätsstiftenden Funktion der Literatur im allgemeinen und des romantischen Literaturbegriffes im besonderen bedeuten. Die romantische Auffassung der Literatur beeinflusste auch die Wahl der Autoren und ihrer Werke insofern, als man versuchte, eine Einheit der Künste bzw. eine Entwicklungstendenz in der Literaturgeschichte zu finden, um trotz politischer Teilung das Bild einer kulturellen und nationalen Einheit erstehen zu lassen. Darüber hinaus bleibt L’Esule dem Anspruch, das Publikum zu erziehen und in der Auffassung der Literatur als Kultur und Bildung dem Literaturbegriff des 18. Jahrhunderts verpflichtet. Artikel über Recht genauso wie über klinische Fälle oder aktuelle Themen aus dem Kulturleben wurden neben literarischen Beiträgen veröffentlicht, das Publikum nahm durch Briefe an die Redaktion der Zeitschrift regen Anteil an den Diskussionen. Für einige der Beschäftigten, zu denen auch Angelo Frignani zählte, bedeutete die Zeitschrift eine finanzielle Absicherung, vor allem aber die Chance bekannt zu werden sowie Frankreich und die Franzosen besser kennenzulernen. 18 In L’Esule veröffentlichte Frignani vier Beiträge und eine Übersetzung, ansonsten wirkte er hauptsächlich als Redakteur, 19 zusammen mit Cannonieri unter Federico Pescantini, und als Chefredakteur. Frignanis Artikel konzentrieren sich auf die Anfänge der italienischen Literatur, haben historischen Charakter, betonen die didaktisch-erzieherische Aufgabe der Autoren sowie die einigende Rolle der Sprache und stehen daher im Geiste der italienischen Romantik. Das erste Essay trägt den Titel: Dalla decadenza della lingua latina, al nascimento della lingua italiana. Narrazione storico letteraria (I, 59-136). 20 Darin betont Frignani die Zentralität der Sprache, die als ein von Gebrauch und Bedürfnissen der Sprechenden bestimmter Organismus mit schöpferischer Kraft 17 „Quei generosi, aspettando il tempo in cui aver il destro di operare, scrivevano per conforto dell’animo, si rivolgevano agli studi come a santi penati della sventura e offrivano i loro scritti agli stranieri a mostrare la loro gratitudine per la cortese ospitalità ricevuta.“ Vannucci: I martiri [Anm. 2], S. 355-356. 18 Benjamin Crémieux: Notes sur la vie des Refugiés politiques italiens à Paris vers 1840. In: Bulletin Franco-Italien (juillet-octobre 1910). Grenoble: Typographie et Lithographie Allier Frères Éditeurs 1910, S. 49-56, hier S. 51. 19 Das ist zu entnehmen aus einem Brief von 1856 an einen Cousin: „andai a Parigi, ove diressi in gran parte e scrissi un’opera di letteratura italiana…“ In: Rava: Angelo Frignani [Anm. 3], S. LXXI. 20 Die römische Zahl bezieht sich auf den Band, die arabischen Zahlen auf die Seiten. <?page no="116"?> 114 Adriana Vignazia modern aufgefasst wird; unumgängliche Bedingung für die Entwicklung von Sprache und Kultur eines Volkes sei aber dessen Freiheit zur Selbstbestimmung, wie anhand des Überganges vom Lateinischen zum Italienischen zu beweisen versucht wird. Neben dem Eindringen ‚barbarischer‘ Volksstämme zählte Frignani u.a. als Ursache für die Schwächung und Korruption des Lateinischen die Sinnentleerung bzw. die Unterdrückung der politischen Auseinandersetzung, die zur Folge hatte, dass sich vor allem panegyrische Dichtung entwickelte, während die ‚Beredsamkeit verdorrte‘ („inaridirsi dell’eloquenza“) 21 . Dies fand im Übergang vom republikanischen zum kaiserlichen Regime sowie in der Verdrängung der antiken Zivilisation durch die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion statt. Noch deutlicher wird die Anspielung auf seine Epoche, als der Autor das Aufleben der Kultur in der ‚karolingischen Renaissance‘ mit der Gründung der Universität in Bologna und später mit der Entwicklung der Kommunen verband, um damit den Papst der Bekämpfung der Selbstständigkeitsbestrebungen der kommunalen Staaten und der Förderung der ‚barbarischen‘ Kreuzzüge zu beschuldigen. Bemerkenswert ist, dass Frignani die Sprache zum einheitsstiftenden Element der Literatur macht und sich damit gegen die bei Tiraboschi entwickelte Gliederung des italienischen Kulturraums in geographische Regionen mit lateinischen, griechischen oder etruskischen Wurzeln wendet. 22 Der Perspektivenwechsel fand allerdings schon in der Geschichte der italienischen Literatur von Ginguené-Salfi 23 statt, deren erstes Kapitel über die Lage der lateinischen und griechischen Literatur gegen Ende des römischen Reiches, unter dem Einfluss des Christentums und der ‚barbarischen‘ Volksstämme, Frignani inspiriert haben dürfte. Die Vorliebe für Italien in der Zeit der Stadtstaaten scheint auf ein föderalistisches Modell des zukünftigen Italien hinzudeuten, nimmt aber gleichzeitig einen Gedanken Foscolos 24 auf, der die Entwicklung der Sprache und der Kunst in Florenz im 12.-14. Jahrhundert mit der kommunalen Freiheit in Verbindung brachte, und ist im Kontext der Wiederaufwertung dieser Epoche zu sehen, wie 21 Der Gedanke von der Abhängigkeit der Literatur von der politischen Freiheit wurzelt u.a. in Aristoteles’ Rhetorik, die drei Gattungen der Parteirede vorsah: die judiziale, die deliberative und die epideiktische. Aus letzterer entwickle sich die schöne Literatur, obwohl die rhetorische Ausschmückung allen dreien gemeinsam sei. 22 Girolamo Tiraboschi: Storia della Letteratura italiana [zuerst 1772-1782]. Milano: Bettoni 1833, Bd. 1, S. 6. 23 P.L. Ginguené: Histoire littéraire d’Italie. Bd. I-IX (1811-1819), Salfi: Bd. X-XIV (1823-1835). Paris: Chez Michaud. Das Werk wurde 1826 in Florenz übersetzt und veröffentlicht. Pierre Louis Guinguené (Rennes 1748-Paris 1816): Musikologe und Literat. Francesco Salfi (Cosenza 1759-Paris 1832): Sprach- und Literaturwissenschaftler; Patriot. Er gehörte zur Gründungsgruppe des Esule. 24 Ugo Foscolo: Storia della letteratura italiana. Torino: Einaudi 1979, S. 27-28. <?page no="117"?> Angelo Frignani: Ein carbonaro im Exil 115 sie sich besonders in Sismondis Werk 25 über die italienischen Republiken ausdrückt. Der zweite Beitrag, eine „Vita di Dante“ (I, 220-259), schließt an frühere Dante-Biographien an, betont das zivile Engagement des Dichters und kennzeichnet ihn als romantisches Genie: ein tiefsinniger, schöpferischer Geist, der, über die historischen Bedingungen seiner Zeit hinausragend, die Wurzel seiner Inspiration in sich fand, und als Philosoph, Wissenschaftler und Jurist wirkte. In dieser Zeit wurde der Mythos Dantes, des ersten italienischen Exilanten, geschaffen, und mehrmals versucht, sein Werk ins Französische zu übersetzen. 26 Der politisch-erzieherische Charakter von Dantes Dichtung wird im Essay in der Wahl der besprochenen Werke hervorgehoben: die Kanzonen und die Divina Commedia wurden behandelt, während die Sonette des Dichters des Dolce stil novo keine Beachtung fanden. Aus den philosophischen Werken galt das De Monarchia als grundlegender Text, weil Dante darin die Konstantinische Schenkung und als deren Folge den päpstlichen Anspruch auf die weltliche Gewalt anzweifelte. Jedoch wurde Dantes Zustimmung für die kaiserliche Politik als gefährlich für die Selbstbestimmung der Stadtstaaten eingeschätzt. 27 Im dritten und vierten Artikel, an denen Frignani einmal als Übersetzer ins Italienische, einmal als Autor beteiligt war, werden die wichtigsten italienischen Rechtsschulen vor allem aus dem 18. Jahrhundert besprochen. Der erste Beitrag Dello stato del diritto in Italia nel XIX secolo (II, 312-333, 450-483) stammt von J. Navarro 28 und wurde von Frignani übersetzt; der zweite Introduzione agli studi legislativi (III, 101-110), ein Kommentar des ersteren, wurde von Frignani verfasst und von Navarro ins Französische übersetzt. Vom aristotelischen Grundgedanken ausgehend, dass eine Gesetzgebung sowie ein politisches Gefü- 25 Sismondo Sismondi (Genf 1773-1842): Histoire des Republiques Italiennes du moyen age (1807-1818). Ihm wurde 1834 der vierte Teil des Esule gewidmet. 26 Vgl. Terenzio Mamiani: Parigi or fa cinquant’anni. In: La nuova Antologia. Roma: Direzione della nuova Antologia 1881, Heft 24 (15. Dezember 1881), S. 609. 27 Das Interesse für Dante begleitete Frignani sein Leben lang: In einem Brief von Gavioli an Uccellini 1836 wird eine „Vita di Dante“ als Broschüre zitiert. In: Uccellini: Memorie [Anm. 1], S. 234. In einem (undatierten) Brief an seinen Übersetzer Nicolas in Dijon bedankt sich Frignani für die Gelegenheit, Dantes Dichtung dem anwesenden Publikum erklären zu dürfen (Konzeptschrift in Vol. 367, S. 59 beim Istituto di Storia per il Risorgimento, Roma), und im Brief an Bernardo Silo (20. Juli 1873) bekundet Frignani sein Vorhaben, einen Commento della Divina Commedia spiegata ad uso degli Stranieri zu Ende zu schreiben, der - schon zur Hälfte verfasst - wegen seiner Übersiedlung nach Lyon und der neuen Arbeitsaufgaben liegen geblieben war. In: Rava: Angelo Frignani [Anm. 3], S. 229. 28 Über diese Person waren keine biographischen Daten zu finden, außer einer kritischen Rezension im Journal de Saône et Loire vom 20. Juli 1836, S. 1-2, über sein Werk Etudes législatives, in der der Name J. Navarro als Pseudonym von M. Navarro angegeben wird. Als Mitredakteur des Werkes galt König Louis-Philippe (s. Katalog der BNF: Navarro). <?page no="118"?> 116 Adriana Vignazia ge als Aufgabe die Förderung des Individuums und seine Entwicklung zur Mündigkeit haben sollten, wurden die Theorien der italienischen Enzyklopädisten dargestellt und das Studium des Rechts - und der Wirtschaft - als unentbehrliche Bedingungen angesehen, einen Staat zu regieren, sowie als ein Mittel, die Wahrnehmung des Menschen für die Bedürfnisse der Nation zu schärfen. Dieses Ziel hätte das Studium der Rechte mit dem der Literatur gemeinsam, was die Digression in das Gebiet des Rechts rechtfertigen würde. Der letzte lange Beitrag von Frignani, Notizie storico letterarie dalla fine del XIV sino al XVI secolo (III, 336-400), stellt eine Auswahl von Prosaautoren vor, deren literarische Werke gemeinsame Züge, wie die Reinheit der Sprache, die politische Wirkung und eine erzieherische Absicht aufweisen. Als erste wird die Heilige Katherina von Siena vorgestellt, die durch ihre Briefe Könige und Päpste zum Handeln bewog und das Volk zu erziehen versuchte. Insbesondere wird die Sprache der asketischen Briefe gelobt, als eine der reinsten und elegantesten des Trecento. Die Ausgabe von 1707 mit einem Glossar der sienesischen Ausdrücke bot Frignani den Anlass zu einer Überlegung: Wie diese Ausdrücke zum gemeinsamen Gut der Nation wurden, so sollte man den egoistischen Lokalpatriotismus überwinden und zu einer gemeinsamen Sprache und in der weiteren Folge zu einem gemeinsamen Fühlen und einem gemeinsamen Vaterland gelangen. Es folgen Agnolo Pandolfini, Franco Sacchetti und Giovanni Fiorentino. Als Merkmal des 15. Jhs. wird das Mäzenatentum von Fürsten und Päpsten betrachtet, welche trotz Einschränkung der politischen Freiheit Literatur und Kunst förderten. Von den Schriftstellern werden die formale Vollkommenheit der Werke eines Lorenzo il Magnifico und die Originalität des Orfeo von Angelo Poliziano erwähnt, des ersten geschriebenen Theaterstücks mit profanem Inhalt. Die Bemühungen der humanistischen Gelehrten, antike Sprachen zu erlernen und Kodices zu sammeln, werden gelobt, ihre Entscheidung, Werke auf Latein zu verfassen, abgelehnt. Ende 1834 stellte die Zeitschrift ihre Publikation ein, mit der Erklärung, der Kurs in italienischer Literatur sei beendet. Ein Grund ihrer Schließung mag in der schwierigen wirtschaftlichen Situation gelegen sein, 29 die die fehlende Übersetzung der letzten Beiträge erklären würde; andererseits wird im Avviso am Ende der Zeitschrift der Wille zum Weitermachen kundgetan. Frignani kehrte aus familiären Gründen nach Mâcon zurück. Sein Einsatz für die italienische Causa nahm folgende Formen an: einerseits arbeitete er für das Comitato italiano di Parigi, welches mit der Verteilung der staatlichen und privaten Unterstützung an die italienischen Flüchtlinge betraut war, anderseits war er weiterhin literarisch tätig. Seine Schriften nahmen jetzt polemischen Charakter an und 29 Brief von Tommaseo an P. Vieusseux vom 23. Sept. 1834: „L’Esule stesso non so se andrà innanzi. Son mezzo rovinati“. In: Niccolò Tommaseo: Opere, a cura di Aldo Borlenghi. Milano-Napoli: Ricciardi 1958, S. 895. <?page no="119"?> Angelo Frignani: Ein carbonaro im Exil 117 erhoben Anklage gegen die politischen Missstände in Italien oder in Frankreich - im Hinblick auf die italienische Causa. Die erste veröffentlichte Broschüre nach seiner Rückkehr nach Mâcon ist ein Pamphlet zum Gedächtnis eines im Elend gestorbenen carbonaro aus der Romagna, für den er die Unterstützung dringendst gefordert hatte: 30 Elogio di Antonio Ghirardini, morto a Mende addì 16 di dicembre 1834 (Parigi: Pihan Delaforest 1835). Mit leidenschaftlichen Ausdrücken beschreibt der Autor das selbstlose Leben des Verstorbenen, eines Mannes von bescheidener sozialer Herkunft, doch immer bereit, für das Wohl seiner Heimat Gefängnis und Exil zu riskieren. Egoismus und Gleichgültigkeit, die repressive Politik des Papstes von 1821 bis 1831, das skrupellose Verhalten der päpstlichen Truppen im Dienste fremder Herren sowie die von der französischen Regierung reduzierte Unterstützung für einen nach zehn Jahren Gefängnis arbeitsunfähig gewordenen Mann, werden hier in den dunkelsten Farben angeprangert. Wortschatz und Argumentation stammen aus dem religiösen Bereich. Der Autor hebt hervor, dass der Papst nicht nur begangene Straftaten, sondern auch Gedanken und Absichten als Sünde mittels Spitzel und Soldaten zu verfolgen beabsichtigte und dass die Entsendung zweier Untersuchungskommissionen in die Romagna nichts anders als eine Einflüsterung des Teufels gewesen sei. Um das Pathos zu steigern, baut Frignani seinen Text auf der Polarisierung zwischen Ghirardini, nato di plebe, aber ehrlich und großzügig, und den macht- und herrschsüchtigen Würdenträgern des päpstlichen Staates auf; dazu verwendet er sehr häufig die rhetorischen Figuren der Personifikation: Italia, un altro tuo prode hai, lontan dal tuo seno e nelle miserie dell’esilio, perduto: un di coloro su quali oggimai la speranza del tuo risorgere è massimamente fondata (S. 3) und der direkten Anrede: Cardinale Rivarola, aspettati la giustizia di Dio: l’avrai quale la tua ferocia la meritò: principe bizzarro e perverso, giudice crudele, sacerdote omicida (S. 9). Im darauf folgenden Jahr wurde das kleine Buch Profezie sopra l’Italia (Dijon: Imprimerie Brugnot 1836) herausgegeben, eine etwas naive Publikation, in der die in L’Esule schon vertretene These, ein Teil der Italiener sei das neue heimatlose Volk Israel (I, 434), wieder aufgegriffen wurde. Basierend auf der prophetischen Tradition biblischer Texte, mit intertextuellen Bezügen auf Dante, Alfieri und Foscolo, fingiert der Autor, als Protagonist am Ufer der Seine über das Schicksal Italiens weinend, am Karsamstag 1836 eine göttliche Vision zu haben: Nachdem der Protagonist von Engeln an den Eingang des Petersdoms in Rom getragen wurde, lässt ihn der Apostel Petrus in einem Buch - „povero nella veste, ma le lettere splendevano come gemme“ (S. 5) - etliche Textpassagen 30 Borioni: L’Exilé [Anm. 6], S. 152 und Uccellini: Memorie [Anm. 1], S. 207 und S. 219. <?page no="120"?> 118 Adriana Vignazia lesen, damit er sie ins Italienische übersetze und unter dem Titel Profezie sull’Italia bekannt mache. Es folgt eine Auswahl von Texten aus den prophetischen Büchern, in denen Exil, Diaspora und Rückkehr der Verbannten thematisiert werden, aber mit kleinen wesentlichen Änderungen: z.B. liest man, den politischen Gegebenheiten der Zeit angepasst, anstelle von Israel ITALIEN oder ITALIENER, anstelle von Jerusalem ROM usw. Auch die Kapitelüberschriften sind leicht angepasst: z.B. An die Hirten (Ez 34) wird zu Ai principi (S. 20), die Kapitel 1 und 2 aus dem ersten Buch der Makkabäer bekommen den Titel Dio protegge le rivoluzioni necessarie e giuste (S. 57-67). Durch die Worte der Propheten werden die Italiener ermuntert, nur in Gott zu vertrauen, weil er allein ihnen die Rückkehr gewährt, z.B.: (Ez 11,17) IO, vi riunirò, vi raccoglierò dalle terre dove foste dispersi, e vi darò alla terra d’ITALIA (S. 45) (Ez 37,11) E dicevano: Figliolo dell’uomo, coteste ossa sono dell’Italiana Famiglia. (S. 47) (Jes 31,1) Guai a coloro che scendessero in FRANCIA per chiedere soccorso, sperando ne’cavalli di lei e ne’ carri, perché in gran numero (S. 14); wird ihnen die Bestrafung der Feinde verhießen: (Jes 33,1) Guai a voi, o TEDESCHI, che predate l’altrui (S. 15) (Ez 36,1und 5) E tu, figlio dell’uomo, profetizza sui monti d’ITALIA e di’ Monti d’ITALIA udite la parola di Jahve […] siccome io ho parlato nella forza della mia giustizia contro gli altri popoli, e contro gli abitanti dell’AUSTRIA, i quali con tutto il giubilo del cuore han presa a proprio retaggio questa mia terra… (S. 43); werden die ungerechten Fürsten und die Reichen gewarnt: (Ez 16, 1-3) Il Signore mi parlò ancora, e mi disse: Figlio dell’uomo, rendi note a ROMA CATTOLICA le sue abominazioni (S. 27) (Ez 34,18) …a voi pecore grasse, non vi bastava egli di nutrirvi a’ buoni pascoli, senza che calpestaste i vostri avanzi? Nè ber acqua purissima, senza che n’ intorbidaste il restante coi piedi? (S. 30); werden Empfehlungen über die politische Ordnung erteilt: Queste parole di Dio, vogliono essere rappresentate alla memoria degli italiani, quando, cacciati i barbari, e’brigassero di scegliersi un re 31 (S. 69). Das kleine Buch - Uccellini spricht etwas abschätzig von einem libercolo - fand einen gewissen Anklang unter den Lesern; Tommaseo vermerkt in seinen Tage- 31 Vgl. Frignanis Titel zu I Kön, Kap.VIII. Siehe auch S. 71 aus Ex 8,13-27. <?page no="121"?> Angelo Frignani: Ein carbonaro im Exil 119 büchern lapidar: „6. Nov. 1836, Il Frignani mi manda il suo libro: ne vendo“ 32 und der Übersetzer Nicolas spricht von einer Broschüre voller Feuer, die an Lamennais’ Paroles d’un Croyant erinnere. 33 Der Autor berichtet in einem Brief von 1856 von „onorevoli critiche“ 34 in ca. 40 Zeitungen aus verschiedenen Städten und von einer Übersetzung ins Französische. Die spätere Kritik stellte das Werk in den Kontext eines „romanticismo vissuto“, bei dem es sich um „un fenomeno di natura essenzialmente mistica“ handele, geprägt durch eine soziale, politische und religiöse Unruhe, aus der etliche Werke prophetischen Charakters von italienischen, französischen oder polnischen Autoren hervorgegangen seien. 35 Drei Jahre später erschien ein kurzer Text mit dem Titel Lettera di Angelo Frignani a Giuseppe Ricciardi, autore del libro: Gloria e sventura, Canti Repubblicani (Mâcon: Chassipollet 1839), 36 als Kritik auf das genannte Werk Ricciardis über die Misswirtschaft der in Italien herrschenden Dynastien. Darin hielt Frignani seine Verbundenheit zur italienischen Kulturgeschichte und seine Gedanken in Bezug auf Religion eindeutig fest. Auf der Basis des Evangeliums und anhand historischer Beispiele aus der italienischen Kulturgeschichte unterschied er zwischen der Religion und der Institution Kirche, um Ricciardi zu beweisen, dass Religion keine Schwäche, vielmehr ein natürliches, unausrottbares Bedürfnis des Menschen sei, und dass der Bezug auf Luther, um Kritik gegenüber der Kirche auszuüben, nicht notwendig sei, da die italienische Kultur kritische Geister wie z.B. Dante, Petrarca und Gerolamo Savonarola hervorgebracht habe. Im gleichen Jahr 1839 erschien in Paris das wichtigste Werk Frignanis: La mia pazzia nelle carceri, die autobiographische Erzählung seiner Verhaftung bis zur Flucht nach Frankreich und den ersten Erfahrungen im Exil. Seine Abfassung wurde vom allgemeinen Interesse an Memoiren 37 aus dem Kerker angeregt, wobei die Kritik dieser Zeit die unterschiedliche Haltung Pellicos und Frignanis gegenüber den Gefängnissen hervorzuheben pflegte. Frignani prangert in seinem Werk die Vertreter des Kirchenstaates, die Verräter unter den carbonari, Solda- 32 Niccolò Tommaseo: Diario intimo. A cura di Raffaele Ciampini. Torino: Einaudi 1946, S. 257. 33 Louis Léonidas Nicolas in: Angelo Frignani: Ma folie dans les prisons. Paris: Truchy 1840, S. 308. 34 Rava: Angelo Frignani [Anm. 3], S. LXXI. 35 Vittorio Cian: Le profezie di un esule italiano del 1836, il ravennate Angelo Frignani. In: Nuova Antologia. Roma: Bestetti e Tumminelli 1928, S. 3-12, hier S. 6-14 (Biblioteca di storia moderna e contemporanea, Rom). 36 Biblioteca di storia moderna e contemporanea, Rom. 37 1832 wurden Pellicos Le mie prigioni veröffentlicht und 1833 ins Französische übersetzt, 1837-1838 wurden Philippe Andryanes Memoires d’un prisonnier d’état au Spielberg in Paris bei Ladvocat herausgegeben. <?page no="122"?> 120 Adriana Vignazia ten und Gefängniswächtern an und nennt sie beim Namen, in Gegensatz zu Pellico, der z.B. ohne den geringsten offenen Vorwurf geduldig erzählt, wie beim Besuch in Schönbrunn vor der Rückreise nach Italien die polizeiliche Aufsicht ihn, Maroncelli und Tonelli bat, beim Erscheinen des Kaisers sich hinter den Bäumen zu verstecken, damit ihre von zehn Jahren schweren Kerkers gezeichneten „sparute persone“ 38 die kaiserliche Hoheit nicht betrübten. Diese sanftmütige Haltung veranlasste Maroncelli, der in den 1830er Jahren mit Frignani im Exil in Paris lebte und zu den Mitarbeitern von L’Esule gehörte, für die französische Ausgabe umfassende Addizioni alle mie prigioni zu schreiben, um der Nachwelt die verschwiegenen politischen Hintergründe sowie die grausame Behandlung im Gefängnis bekannt zu machen. Der Protagonist von La mia follia nelle carceri ist ein entschlossener junger Mann, der bereit ist, nach einigem Zögern den Narren zu spielen, um die Situation zu seinen Gunsten zu wenden, ohne andere Mitglieder zu verraten. 39 Als Narr hatte er aus alter Tradition das Recht, die Wahrheit zu sagen und da seine Ansprechpartner Geistliche waren, übernimmt er die Rolle des Propheten und baut seine Reden auf dem Evangelium auf, um ihr Verhalten bloßzustellen. Zahlreich sind die intertextuellen Bezüge: auf den ersten Seiten erinnert die Schilderung der Verhaftung an Manzonis Erzählung, als Renzo ebenso auf der Straße zwischen verängstigten Schergen in Richtung Gefängnis geführt wurde. Beide sprechen die herumstehende Menge an, Renzo um befreit zu werden, Frignani um die Menschen über die Verhaftung der carbonari zu informieren und womöglich aufzuwiegeln. Ein weiterer literarischer Bezug besteht zu Cellinis Autobiographie: und zwar als Frignani von einem misslungenen Vergiftungsversuch durch einen Gefängniswächter und als er vom Schmelzen der Metalle in der Werkstatt der Brüder Bougarel in Aix-en- Provence erzählt. Im Einklang mit dem tobenden Protagonist ist der Erzählstil durch Personifikation, durch direkten Appell an den Leser, an die Bewohner von Faenza, oder durch Ausrufe oft voller Pathos gekennzeichnet. Um dem Werk internationale Bekanntheit zu sichern, wurde es gleich 1840 auf Französisch verlegt: 40 Der Übersetzer ist Louis-Léonidas Nicolas, Vorstand der Assurances mutuelles gegen Feuer, der die Druckkosten übernommen haben dürfte. 41 Durch ein ausführliches Vorwort und historische Anmerkungen versuchte Nicolas den Text dem französischen Publikum annehmbar zu machen. Als Übersetzungsprinzip wählte er die Nähe zum Ausgangstext, um dessen Bil- 38 Silvio Pellico: Le mie prigioni. Novara: Istituto geografico de Agostini 1968, S. 278. 39 In der Grabrede für Evaristo Carpi erzählt Frignani, wie der Vorsitzende einer 1822 in Rubiera eingesetzten Untersuchungskommission gegen die carboneria den verhafteten carbonari Tollkirschensaft zu trinken gab, damit sie, ihrer Sinne nicht mehr mächtig, geständig wurden (vol. 367, S. 13, Autograph im Istituto di storia per il Risorgimento, Rom). 40 Frignani: Ma folie [Anm. 33]. 41 Uccellini: Memorie [Anm. 1], S. 227. <?page no="123"?> Angelo Frignani: Ein carbonaro im Exil 121 der und archaisierenden Stil beizubehalten, obwohl er deswegen oft in Konflikt mit den französischen Kollokationen geriet. 42 Den historischen Anmerkungen fügte der Übersetzer oft auch seinen Kommentar hinzu: z.B. über die Todesstrafe, die ihm als unwürdige und besonders verwerfliche Gewohnheit erscheint, wenn sie von Geistlichen verhängt wird. Oder über den Reichtum und seine Verteilung in der Gesellschaft, wobei er vielleicht aus Angst, als Sozialist eingestuft zu werden, präzisierte, dass er nicht das Privateigentum, sondern den daraus entstehenden Egoismus ablehne. Weiters thematisiert er die Not der Exilanten, um die staatliche Unterstützung zu rechtfertigen: sie seien nicht faul, sondern außerstande zu arbeiten, weil entweder des Französischen nicht mächtig oder durch die Verbannung enttäuscht und verwirrt. Die französischen Rezensionen des Werkes sind im allgemeinen positiv: 43 man hebt den starken Willen des Protagonisten hervor, entschuldigt seine Verstellung mit dem Lebenstrieb und der Unwürdigkeit des politischen Regimes und betont die Geringfügigkeit seines Vergehens. Er wird als „[j]eune exalté, entraîné par sa fougue dans la mêlée des partis“ oder als „jeune exalté plus étourdi que coupable“ 44 charakterisiert. In Le Journal de Paris wird die Kritik am päpstlichen Regime noch lauter, als der Rezensent vermerkt, dass die zum Tode Verurteilten keine Möglichkeit hatten, sich zu verteidigen. 45 Daher wurde die Verstellung zum einzigen Weg, sich zu retten. Auf der gleichen Linie liegt die im Feuilleton des schweizerischen Journal de Genève erschienene Rezension: 46 hier hebt F.P. (Federico Pescantini) neben dem für einen 24jährigen Mann sehr natürlichen Lebenswillen den Patrioten hervor, der die Narrenfreiheit für eine unzensiertes Anklage ausnutze. Der Rezensent lobt auch den Versuch des Protagonisten, die Bürger von Ravenna zu einer Revolte zur Befreiung aller Gefangenen zu bewegen und tadelt deren resignative Haltung. Kritisch, aber 42 Frignani: Ma folie [Anm. 33], S. 5. Seine Bewunderung wurde allerdings nicht generell geteilt; vgl. Rava: Angelo Frignani [Anm. 3], S. XC. Folgende Bemerkung Uccellinis unterstreicht das Gekünstelte in Frignanis Stil und weist uns auf die Problematik des zu dieser Zeit noch fehlenden gültigen Sprachmodells für die italienische Prosa hin: „Frignani ha pubblicato la sua pazzia nelle carceri […] io l’ho sott’occhio, è ben scritta se il ramassar parole scelte ed il passarle mille volte pel setaccio si chiama ben scrivere.“ Uccellini: Memorie [Anm. 1], S. 225. 43 Uccellini spricht hingegen von Indifferenz seitens des Publikums, weil die erzählten Begebenheiten ihm fern lagen. In: Uccellini: Memorie [Anm. 1], S. 225. 44 In: Revue critique des livres nouveaux 7 (juillet 1839), S. 201-205, hier S. 202 und S. 205. 45 In: Le Journal de Paris (19 octobre 1839), S. 4. 46 F.P.: La mia pazzia nelle carceri. Memorie di Angelo Frignani. In: Feuilleton. Correspondance Littéraire. Quatrième lettre. In: Journal de Genève, National, Politique et Littéraire (17 et20 juillet 1839). Genève 1839. <?page no="124"?> 122 Adriana Vignazia auch verständnisvoll äußern sich italienische Rezipienten in Briefen an Bekannte: Frignani […] est un assez brave homme, sans pourtant qu’il y ait quelque chose de bien remarquable dans son caractère. Son rôle dans les prisons a été bien joué, et il exige de la force; mais c’est pour se sauver […] je n’entende pas […] lui en faire un crime; mais elle perd de son mérite. 47 Stanotte […] ho fatto viaggio con Frignani, direttore dell’Esule, che mi raccontò la sua carcere e la sua fuga e i primi suoi passi nell’esilio, cosa ben più importante dell’Esule. 48 Die deutsche Übersetzung, Mein Wahnsinn im Kerker. Memoiren, wurde 1842 in Leipzig bei dem angesehenen liberalen Verlag F.A. Brockhaus veröffentlicht. Trotz der gemäßigt liberalen konstitutionellen Regierung des Königreichs Sachsen wurde der Name des Übersetzers verschwiegen und es fehlen jegliche Informationen über die Gründe der Textauswahl. Es ist aber bekannt, dass dieser Verlag im Jahr 1837 eine Filiale in Paris eröffnet hatte: Brockhaus & Avenarius mit der Aufgabe, die deutsche Literatur in Frankreich und die ausländische, insbesondere die französische, in Deutschland zu verbreiten; stark war aber auch das Interesse für die italienische Literatur und die politische Lage Italiens, wie aus dem Verlagskatalog hervorgeht. 49 Die deutsche Übersetzung folgt dem Originaltext ziemlich getreu: von den Paratexten fehlt das lateinische Zitat über den Wahnsinn Davids aus 1. Sam 21,14 50 auf dem Titelblatt unter der Widmung, im Text wurde eine vulgäre Beschimpfung 51 unterdrückt und nur eine erklärende Anmerkung im Kap. 48 hinzugefügt, die die Wendung donna Margherita, d.h. Galgen, erläutert. Im Vorwort wird der Sinn der Übersetzung als ein Solidaritätsakt gegenüber einem leidenden Volk kundgetan und es werden einige Motive aus der französischen Vorrede aufgegriffen, z.B. die Kritik an der Todesstrafe, für deren Abschaffung auch der deutsche Übersetzer eintritt, sowie die Gegenüberstellung Silvio Pellicos und Angelo Frignanis. Das Hauptthema dieses Vorwortes bildet aber der Versuch, die Entscheidung des Verfassers zu rechtfertigen, sich zu verstellen, um das eigene Leben zu retten. Der Übersetzer schließt sich der Argumentation Frignanis an, er habe sich auf biblische Beispiele gestützt, und schiebt die 47 Mazzini an Lisette Mandrot (25. April 1840). In: Giuseppe Mazzini: Scritti editi e inediti. (Epistolario IX). Imola: Cooperativa Tipografico-editrice P. Galeati 1914, S. 84. 48 Brief von Tommaseo an Gino Capponi vom 14.-16. Februar 1834. In: Tommaseo: Opere [Anm. 29], S. 854. 49 Zur Reihe der klassischen italienischen Autoren auf Deutsch gehört auch 1847 das Werk in zwei Bänden von Andrea Luigi Mazzini, Cousin von Giuseppe: De l’Italie. In: Die Firma F.A.Brockhaus 1805-1905. Leipzig: F.A. Brockhaus 1905, S. 96 und S. 129. 50 Falsch angegeben als 1. Kön, 21. 51 „becco fottuto, becco fottuto“ aus dem Kap. 47, S. 83, im Französischen verschönert mit „enragé farceur, satané farceur“, S. 93. <?page no="125"?> Angelo Frignani: Ein carbonaro im Exil 123 Schuld für die Verstellung auf die Todesstrafe selber: „Am wenigsten werden ihn die Vertheidiger der Abschaffung der Todesstrafe und der englischen Criminalgesetzgebung, die selbst vom Verbrecher nicht fordert, dass er sich anklage, tadeln können.“ 52 Wie schwer aber eine Lüge im protestantischen Milieu zu akzeptieren war, beweist die in den Blättern für literarische Unterhaltung veröffentlichte Rezension. 53 Der (anonyme) Autor schließt vom Verhalten auf die seiner Meinung nach unmoralischen Charaktereigenschaften Frignanis und stellt dessen Aussagen in Frage: Die vollkommenste Heuchelei, die ausgebildete Verstellungskunst, die berechnendste List, die Aufwendung oft sehr zweideutiger, roher und gewaltsamer Betrugsmittel zu einem an sich sehr natürlichen und entschuldbaren Zweck, das spitzfindigste Histrionentalent lassen uns, bei aller Bewunderung seiner geistigen und physischen Kraft, doch Frignani’s Charakter in einem sehr zweifelhaften Lichte erscheinen; man muß sich fragen, ob ein solcher Charakter, bis zum äußersten Grade verstellungsfähig und, …. fast herz- und gemütslos, dabei eitel, ruhmsüchtig und großsprecherisch, seiner Sache, auch wenn sie noch so rein war, wesentlich Nutzen gebracht haben würde, sobald sie triumphiert hätte. Wir glauben nicht, dass dieser Charakter ein rein republikanischer sei, wir glauben vielmehr, dass in Frignani eher die Elemente zu einem Nero und Tiberius als zu einem Brutus vorhanden waren oder noch sind. 54 Die harte Verurteilung geht in ein Nationalstereotyp über, wenn der Rezensent Frignani dann als typischen Italiener betrachtet: Frignani erscheint uns ganz so, wie wir einen echten Italiener, der, um uns hier eines plumpen, aber sehr nachdrücklichen und bezeichnenden vulgairen Ausdruck zu bedienen, mit allen Hunden gehetzt ist, uns vorzustellen pflegen. 55 […] doch wollen wir nicht aus dem Auge verlieren, dass er [Frignani] als listiger Italiener mit listigen, kleinlichen, engherzigen, ihn unaufhörlich peinigenden Landsleuten zu thun hatte, aus deren Munde das Todesurteil zu vernehmen wenig ehrenvoll erscheinen mochte. 56 Anerkennung wird ihm für den systematischen Aufbau seines inszenierten Wahnsinns, die Ausdauer, Geistesgegenwart und Selbstbeherrschung gezollt, die das Buch interessant und lesenswert machen. Eine Sympathiebekundung des Rezensenten für das italienische Volk spricht zum Schluss die Hoffnung aus, dass die „Halbinsel durch den Hauch der Freiheit belebt“ 57 werde, damit die Exilanten nach Hause zurückkehren mögen. 52 Angelo Frignani: Mein Wahnsinn im Kerker. Leipzig: Brockhaus 1842, S. XIV. 53 Mein Wahnsinn im Kerker. Memoiren von Angelo Frignani. In: Blätter für literarische Unterhaltung. Nr. 311 (7. Nov.) S. 1253-1255 und Nr. 312 (8. Nov.) S. 1257-1259. Leipzig: F.A. Brockhaus 1842. 54 Ebd., S. 1253. 55 Ebd., S. 1254. 56 Ebd., S. 1257. 57 Ebd., S. 1259. <?page no="126"?> 124 Adriana Vignazia Die englische Übersetzung 58 erschien in London erst 1859. Der Grund der verspäteten Veröffentlichung ist nicht bekannt, aber das Erscheinungsjahr ist kein Zufall: an der Seite Piemonts kämpfte Frankreich den zweiten Unabhängigkeitskrieg gegen Österreich, und die öffentliche Meinung in England sollte dem Interesse Italiens positiv gegenüberstehen. 59 Auf dem Titelblatt des übersetzten Werkes wird die öffentliche Anteilnahme und die Unterstützung für den Befreiungskampf kundgetan: der Verleger widmete es „without Permission“ dem Grafen Poerio, 60 der 1858 nach 10 Jahren schwerem Kerker auf dem Weg in die Deportation nach Amerika mit anderen politischen Gefangenen in Irland und von dort nach England geflüchtet war. In London fand Poerio 1859 feierliche Aufnahme in liberal denkenden Kreisen, die sein Entkommen aus den neapolitanischen Gefängnissen begrüßten. 61 Der Übersetzung wird keine Vorrede vorangestellt, sie weist aber einen freien Titel auf, wodurch das Werk einen symbolhaften Charakter erhält: Nil desperandum; or the narrative of an escape from italian dungeons. Translated from The memoirs of Angelo Frignani. Auf dem Titelblatt werden die Bibelverse über den vorgetäuschten Wahnsinn Davids (aus 1 Sam. 21,13) korrekt zitiert und begründen die Entscheidung des Autors. Nirgends wird der Name der Übersetzerin angegeben; man kennt ihn aus einem Brief Frignanis 62 an einen Cousin: es handelt sich um Elizabeth Fergus, eine Adlige, die 1839 den zwei Jahre zuvor aus Frankreich nach England ausgewanderten Carlo Pepoli 63 geheiratet hatte und wegen ihrer Sympathie für Italien bekannt war. Auch hier werden die Namen der (historischen) Personen korrekt wiedergegeben, lateinische und italienische Zitate beibehalten, der vulgäre Ausdruck weggelassen. Zwei historische Anmerkungen gibt es: Die eine betrifft 58 Angelo Frignani: Nil desperandum; or the narrative of an escape from italian dungeons. Translated from The memoirs of Angelo Frignani. London: T.C. Newby, 30. Welbeck Street 1859. 59 Mazzini schrieb am 27. November 1858 an Emilie Hawkes: „I believe in war next year, in the East and in Italy: and it is very important that opinion should rapidly form itself here“. In: Mazzini: Scritti [Anm. 47] (Epistolario Bd. XXXVII), S. 6. 60 Carlo Poerio (Neapel 1803-Florenz 1867): Rechtsanwalt, Minister im Königreich beider Sizilien und im Königreich Italiens, Patriot. 61 Poerios Leben und Gefangenschaft wurden 1851 in der englischen Öffentlichkeit durch zwei Briefe William Gladstones an den damaligen Außenminister Lord Aberdeen bekannt. Der englische Politiker klagte darin das menschenunwürdige neapolitanische Gefängnissystem und insbesonders Poerios unrechtmäßige Bestrafung an. 62 In seinem Brief vom 13. März 1856 an einen Cousin spricht Frignani von der englischen Übersetzung und zitiert dabei die Übersetzerin. In: Rava: Angelo Frignani [Anm. 3], S. LXXI. 63 Carlo Pepoli (Bologna 1796-1881) lebte 1831-1847 und 1848-1859 im Exil in Paris und in London; Senator und Librettoverfasser. Über seine Ehe siehe die wenig schmeichelhaften Worte Mazzinis, der diese „Vernunftehe“ als eine das Exil charakterisierende Handlung ablehnte. In: Mazzini: Scritti [Anm. 47] (Epistolario, Bd. VIII), S. 197-198. <?page no="127"?> Angelo Frignani: Ein carbonaro im Exil 125 „Donna Margherita“ (the galleys) und die andere Doktor Tommasini. 64 Die Kapitelunterteilung wird jedoch verändert und manche Kapitel werden zusammengeführt, im Text fallen kleine Veränderungen auf, wie z.B. das Verschweigen der militärischen Rolle Österreichs bei der Aufrechterhaltung des politischen status quo in Italien. 65 Die erste italienische Ausgabe in Italien erschien erst 1899, zwanzig Jahre nach dem Tod des Verfassers in Lyon. Sie fällt in die Zeit der Mythisierung des Risorgimento; durch einen sehr ausführlichen historischen Kommentar sowie biographische Anmerkungen des Herausgebers Luigi Rava wurde der Ursprung der carboneria zurückverfolgt, und somit der historische Gehalt des Werkes bestätigt. Das letzte im Katalog der Pariser National-Bibliothek Frignani zugeschriebene Werk ist in chronologischer Ordnung das kleine Bändchen Il profeta Daniele e il Regno temporale dei Papi. Studi di un secolare italiano (Parigi: Stamperia di W. Remquet e Comp. 1860). Das Buch weist keinen Autorennamen auf, bloß die Periphrase un secolare italiano. Den Anlass zu diesem Text bot der sich gerade zur Einheit konstituierende italienische Staat. Der Autor verfasste einen argumentativen Text in distanziertem Tonfall, in dem die Notwendigkeit eines päpstlichen Staates als Garantie für die Selbstständigkeit der Kirche hervorgehoben wird und seine Begründung in den Prophezeiungen Daniels gesehen werden. Machiavellis ironische Bemerkung, dass ein solcher Staat, ohne Verteidigungsapparat und Regierungserfahrung nach logischem Denken nicht existieren könne, wird ins Positive gewendet und liefert den Beweis, seine elf Jahrhunderte lange Existenz entspreche dem göttlichen Willen. Meines Erachtens ist die Zuschreibung dieses Textes an Frignani zumindest zweifelhaft: auf der einen Seite sprechen dafür die Verwendung der Fiktion der Prophezeiung und die Lehr- und Übersetzertätigkeit Frignanis für katholische Einrichtungen in Lyon nach seiner Übersiedlung 1840. Er lehrte in der Schule der Frères des Écoles chrétiennes und übersetzte die Annalen der œuvre catholique de la Propagation de la Foi ins Italienische. 66 Auf der anderen Seite sprechen der Inhalt, der Stil des Textes und die fehlende Angabe der Autorschaft dagegen, weil der Inhalt nicht nur dem widerspricht, was der Autor sowohl in dem Brief an Ricciardi 1839 behauptet hatte (s.o.), als auch dem, was er 1873 in einem Brief an Bernardo Silo während seiner Reise durch Italien berichten wird. 64 Frignani: Nil desperandum [Anm. 58], S. 69 und S. 46. 65 „[…] the principalities of Italy […] requiring to be propped up by foreign aid” (ebd., S. 1). 66 Rava: Angelo Frignani [Anm. 3], S. LXXI. Dieser Verein wurde nach 1819 von Marie Pauline Jaricot in Frankreich als Wiedergutmachung an der Kirche nach der französischen Revolution gegründet, 1822 wurde er offiziell und entwickelte sich zum internationalen Missionswerk. Die Annalen sind das offizielle Veröffentlichungsorgan des Missionswerkes. <?page no="128"?> 126 Adriana Vignazia Bei dieser Italienreise, der ersten und einzigen nach der Verbannung, besuchte Frignani mit seinem Enkel Angelo die Freunde aus dem Exil, die durch verschiedene Amnestien nach Italien zurückgekehrt waren und nun wichtige Ämter im neuen Staat bekleideten. Eingeladen, einigen Parlamentssitzungen beizuwohnen, hatte er Gelegenheit, der Rede des katholischen Abgeordneten Toscanelli zuzuhören, der sich mit dem Argument, die Kirche sei eine Stütze des Staatslebens, gegen den Gesetzentwurf über die Schließung der religiösen Orden aussprach. Frignanis Reaktion soll eine leidenschaftliche Parteinahme für die Laizität des Staates gewesen sein, wobei er Machiavelli auswendig zitierte und dabei die Meinung vertrat, der Klerikalismus verderbe den natürlichen religiösen Sinn des Menschen und sei immer das große Hindernis zur Einheit Italiens gewesen. 67 Darüber hinaus fehlen dem Stil dieser Prophezeiung auch die für Frignani charakteristischen Appelle an den Leser und der persönliche, leidenschaftliche Einsatz. Zu dem distanzierten Ton kommt eine wegen der allegorischen Deutung der Worte umständliche Argumentation, ohne praktische Bezüge, und die fehlende Angabe der Autorschaft. Frignani war eine eitle Persönlichkeit, warum sollte er seinen Namen hier verschweigen? Wurde er gedrängt, dieses Werk zu verfassen? Oder sind die Vorbehalte des deutschen Rezensenten gegenüber Frignanis Charakter zu teilen? Um die Exilerfahrung Frignanis bzw. der carbonari in den Bestrebungen des 19. Jhs. zur Bildung eines Nationalstaates genauer zu kontextualisieren, wird nun die Tätigkeit dieser Männer durch ein auf Foucault basierendes Interpretationsraster des semiotisierenden Prozesses zur Erfindung des Nationalstaates von Michael Metzeltin durchleuchtet. 68 Die chronologischen Etappen dieses Prozesses: Bewusstwerdung einer Elite, Territorialisierung, Historisierung, Standardisierung einer Nationalsprache, Textkanonisierung, Institutionalisierung, Medialisierung und Globalisierung finden sich z.T. in dieser Bewegung wieder, wobei die Betonung hier auf Textkanonisierung und Medialisierung liegt. Es steht außer Zweifel, dass die carboneria eine Elitegruppe war, die dank ihrem Einsatz für die Transformation Italiens in einen - oder mehrere - liberalere Staaten bewusstseinsbildend wirkte. Trotz der regionalen Unterschiede und der Vorstellungsvielfalt bezüglich der zukünftigen Staatsorganisation, waren die Mitglieder in der carboneria durch Geheimhaltung, Initiationsriten, Treueschwur und den gemeinsamen Feind eng verbunden und entwickelten ein starkes Zugehörigkeitsgefühl. Die für uns in Betracht kommende Zeit weist eine Lockerung bzw. eine Vereinfachung der Beitrittsprozeduren auf, die inzwischen für die Verbreitung der Organisation als hemmend empfunden wurden. 69 Aus der Autobiographie Frignanis geht die bewusstseinsbildende Funktion der carbone- 67 Ebd., S. 228. 68 Michael Metzeltin: Nationalstaatlichkeit und Identität. Ein Essay über die Erfindung von Nationalstaaten. Wien: Cindarella 2000, Bd. 4, S. 95-110. 69 Uccellini: Memorie [Anm. 1], S. 7-8. <?page no="129"?> Angelo Frignani: Ein carbonaro im Exil 127 ria in Richtung Nationalstaat klar hervor: die emotionale Teilnahme an den gescheiterten Aufständen in Neapel oder Piemont, die Verpflichtung, anderen Mitgliedern zu helfen, 70 bringen die carbonari untereinander über die jeweiligen Staatsgrenzen hinaus in Kontakt, aber erst im Exil knüpfen die Verbannten aus allen Regionen Italiens nähere Kontakte zueinander, trotz der Tendenz, mit den Leuten aus der eigenen Region zusammen zu bleiben, und trotz der unvermeidlichen Spannungen und Eifersüchteleien. 71 Die Änderung des politischen Kurses in Frankreich im Februar 1831 führte die carbonari aus der Romagna dazu, ihre ursprünglichen Pläne (Reformen nur für die Romagna, eventuell auch mit der Hilfe Österreichs oder gar unter den Schutzschirm Österreichs) zu verändern, um sich die Frage der Befreiung ganz Italiens, ohne die Hilfeleistung anderer Länder, zu stellen. Der Rückbezug auf die christliche Religion, durch den sich die carboneria von der Freimaurerei stark unterschied und der der italienischen Mentalität mehr entsprach, verstärkte das Pflichtgefühl und die Opferbereitschaft der Mitglieder der carboneria. Die Frage der Territorialität ist in dieser Zeit auf die Aufhebung der inneren Aufteilungen gerichtet; die Außengrenzen Italiens werden vage unter Sprachgrenzen subsumiert. Die Wahrnehmung der äußeren Grenzen setzt einen vereinigten Staat voraus und wird ein Thema des italienischen Nationalismus am Ende des 19. Jahrhunderts sein. Jedoch hatten die Italiener aus dem Mittelalter die vage und intermittente Vorstellung, dass die Alpen und das Meer die Grenzen zu den ‚Barbaren‘ und damit des eigenen Territoriums waren. 72 Das größte Verdienst der Exilerfahrung einiger carbonari besteht in ihrer bewussten Arbeit für die Historisierung und Textkanonisierung, denn während die handwerkliche Arbeit Frignani eine individuelle Emanzipation ermöglichte, gestattete ihm erst die Tätigkeit bei L’Esule eine Auseinandersetzung mit andern politischen Denkrichtungen und mit dem Ausland, was zu einer bewussten Konstruktion der eigenen - individuellen und nationalen - Identität führte. Die Zeitschrift wollte der Öffentlichkeit ein kulturelles Bild Italiens vermitteln, mit dem sich gegen Vorurteile, Indifferenz und den schlechten Ruf der Italiener zur Wehr gesetzt werden konnte. 73 Die Mythisierung des kommunalen Italiens als Epoche der politischen und wirtschaftlichen Freiheit und der sozialen Mobilität entsprach dem liberalen Denken der Zeit und war der Romantik verpflichtet. An der Textkanonisierung arbeiteten alle 18 Mitarbeiter der Zeitschrift. Der angebo- 70 Wie im Falle von Pietro Levêque. In: Rava: Angelo Frignani [Anm. 3], S. 333-337 (Kap. 208-210). 71 Vgl. Brief von Tommaseo an P. Vieusseux vom 23. Sept. 1834. In: Tommaseo: Opere [Anm. 29], S. 895-896 und Uccellini: Memorie [Anm. 1], S. 209. 72 Jacques Le Goff: L’Italia nello specchio del Medioevo. Torino: Einaudi 2000, S. 9-10. 73 In einem Brief an Gino Capponi vom 14.-16. Februar 1834 aus Lyon notiert Tommaseo mit Bitterkeit die Gleichgültigkeit der Franzosen für die italienischen Angelegenheiten: „Del resto è notabile la freddezza che qui tutti dimostrano per le cose italiane: freddezza che viene da un disprezzo profondo.“ In: Tommaseo: Opere [Anm. 29], S. 855. <?page no="130"?> 128 Adriana Vignazia tene Kurs in italienischer Literatur reichte bis Alfieri, aber auch zeitgenössische Autoren wie Pellico und Manzoni, Neuerscheinungen wie z.B. Reisebücher, Grammatiken und Theatertexte und -vorstellungen wurden besprochen. Obwohl in der Gruppe von L’Esule die Sprache als Einheit für Literatur und Kultur galt, so gab es kein einheitliches Sprachmodell und jeder hatte seinen persönlichen Stil. Frignani bevorzugte den volgare aus dem Trecento, wie er in der ersten Questione della lingua kodifiziert wurde und weckte damit etwas Widerstand. Die Wahl für eine rigide und schon im 16. Jahrhundert als gekünstelt empfundene Sprache erklärt sich einerseits aus seiner universitären Bildung, andererseits aus der Lage des Exilanten, der in einem fremdsprachigen Milieu lebt, ohne Kontakt zur lebendigen und sich verändernden Sprache, der mit den Freunden und zu Hause eine Regionalvariante spricht und für die Literatur einen hohen schriftlichen Sprachkode wählt. Eine rigide und kodifizierte Sprache gibt psychologische Sicherheit. Für Frignani persönlich bedeutete il bello scrivere eine Erziehung des Lesers, einen ästhetischen Genuss, der einen schwierigen Stoff annehmbar machen hätte können, oder ein Bekenntnis zur nationalen Identität: Anlässlich seiner Übersetzung der Annalen erkundigte er sich bei einem Cousin, wie seine Bemühungen um einen besseren Stil in Italien angenommen wurden, weil: „non solo perché desidero, che l’allettamento dello stile renda più accetta la materia, ma ancora perché i lettori […] ne colgono alcun frutto pure di lingua“, 74 und bei seiner Reise durch Italien 1873 lehnte er die französierende Sprache der Regierungsämter ab und warnte, dass die geschriebene Sprache „per più secoli fu il solo e unico segno di fratellevole unione, che non fosse bandito dalla mannaia. Mai non dovrebbe cancellarsi dal nostro pensiero, che lingua e nazione sono la stessa cosa“ 75 . Die Etappe der Institutionalisierung kann im Exil nur als Vorbereitung darauf erlebt werden: z.B. in den Diskussionen über die zukünftigen staatlichen Einrichtungen oder für die in Paris lebenden Exilanten im Besuchen und Kennenlernen der Einrichtungen des Gastlandes: Parlament, Universität, Schulen. Crémieux berichtet, wie die italienischen Exilanten oft den parlamentarischen Sitzungen beiwohnten, um einen tieferen Einblick in die Mechanismen eines demokratischen Systems zu erlangen. 76 Diese Erfahrung bereicherte das politische Verständnis derjenigen Freunde von Frignani, die mit den Amnestien zurück nach Italien gingen und sich nach 1860 an dem parlamentarischen Leben beteiligten, wie Terenzio Mamiani oder Carlo Pepoli. Andere unterrichteten an Universitäten oder an Schulen. Frignani nahm nicht mehr Teil an der Bildung 74 Brief an einen Cousin (Lyon, 13. März 1856). In: Rava: Angelo Frignani [Anm. 3], S. LXXII. 75 Ebd., S. 227. 76 Benjamin Crémieux: L’émigration politique italienne en France sous la monarchie de Juillet. In: Revue des études italiennes. Organ de l’Union intellectuelle franco-italienne. Paris: Librairie E. Droz 1936, Bd. 1, S. 249-260, hier S. 255. <?page no="131"?> Angelo Frignani: Ein carbonaro im Exil 129 der italienischen Institutionen, da er in Frankreich blieb, aber seine politische Meinung wurde gemäßigter und realistischer: 1859 verteidigte er gegenüber Ricciardi die Priorität der Einigung Italiens und daher der Notwendigkeit, für König Vittorio Emanuele II. einzutreten: „Costituiscasi la nazionalità e la potenza italiana: il rimanente è accessorio: ancorachè le libertà dello Statuto Sardo distese sull’Italia non siano da sdegnarsi.“ 77 Bei seiner Reise 1873 konnte er die Einrichtungen der konstitutionellen Monarchie, Parlament, Heer und Marine loben, wie auch andere Insignien mit sakralisiertem Charakter, z.B. die Denkmäler und die Erinnerungstafeln an Plätzen oder Häusern in den italienischen Städten. Die Erfahrung der carbonari bestätigt die Wichtigkeit der öffentlichen Meinung und der Medien: der Esule ist ein Beispiel der damals möglichen Medialisierung einer nationalen Identität; davon zeugen die gut vorbereitete Werbung für die Bücher, die vielen Rezensionen für die Memoiren, die Übersetzungen, die angeregt wurden, die Pamphlete, die als Anklage wirken sollten. 1873 zeigte sich Frignani einverstanden mit der Medialisierung des neuen Nationalstaates durch die Feierlichkeiten des Risorgimento, auch in Form der Mythisierung von Rom, das seit 1870 Hauptstadt Italiens war, als wieder auferstandenes Rom der Antike, dessen Pracht die Ausgrabungen ans Licht brachten. 77 Brief an G. Ricciardi vom 4. August 1859. In: Rava: Angelo Frignani [Anm. 3], S. LXXXVI. <?page no="133"?> Edoardo Costadura Wissensaustausch und literarische Trauerarbeit im Pariser Exil: die italienische Zeitschrift „L’Esule - L’Exilé“ (1832-1834) … a noi i quali perdemmo quanto ha di più beato e soave la vita, perdendo la patria, è parso che narrando agli ospiti nostri come fu gloriosa in ogni tempo, e come è bella, un qualche ristoro avremmo trovato nei nostri mali … (Federico Pescantini) Il cambio del sapere è uno scoglio a cui rompe ogni dispotismo. (Carlo Pepoli) „L’Exilé“ ist das wichtigste literarische ‚Organ‘ der italienischen ‚Diaspora‘ in Paris während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1 Eine italienische Zeitschrift ‚in der Fremde‘, italienisch verfasst, aber zweisprachig (italienisch / französisch) ediert: Ein Umstand, der „L’Exilé“ als Modellfall von Kulturbzw. Wissenstransfer („il cambio del sapere“) geradezu empfiehlt. Erstaunlicherweise hat jedoch die Transferforschung die Zeitschrift noch nicht für sich entdeckt, was nicht heißt, dass sie gänzlich unerforscht geblieben wäre. Zu nennen sind ein früher Aufsatz von Paul Hazard, 2 ferner ein Artikel von Jacques Misan 3 und schließlich und vor allem die (posthum erschienene) Monographie von Maria Luisa Belleli. 4 Mein Interesse an der Zeitschrift wurde durch einen Hinweis von Angeline H. Lograsso 5 geweckt: Die siebte livraison von „L’Exilé“ (1833) sei dem Vi- 1 L’Esule - L’Exilé. Giornale di Letteratura Italiana Anticha [sic] e Moderna. Paris: Imprimerie de Pihan, Deleforest (Morinval) 1832-1834. Alle Zitate aus dem „Exilé“ nehmen im Folgenden Bezug auf diese Angabe. 2 Paul Hazard: Dante et „l’Exilé“ (1832). In: Dante. Mélanges de critique et d’érudition françaises publiés à l’occasion du VI e Centenaire de la mort du Poète. Paris: Union Intellectuelle Franco-Italienne, Librairie française 1921, S. 157-164. 3 Jacques Misan: Une revue italienne à Paris. L’Exilé (1832-1834). In: Revue de littérature comparée XL,4 (1966), S. 585-598. 4 Maria Luisa Belleli: Voci italiane da Parigi: „L’Esule - L’Exilé“ (1832-1834). A cura e con un’introduzione di Cristina Trinchero. Torino: Tirrenia Stampatori 2002. Die thèse von Gianfrancesco Borioni (L’Exilé, revue littéraire bilingue de l’émigration carbonare 1832-1834 [thèse de doctorat, Université Paris VIII] 2000) ist immer noch nicht veröffentlicht und ist nur in der Bibliothek der Université Paris VIII Saint-Denis vorhanden. Ich konnte sie leider noch nicht einsehen. 5 Vgl. Angeline H. Lograsso: Piero Maroncelli. Con prefazione del Senatore Luigi Sturzo. Roma: Edizioni dell’Ateneo (Quaderni del Risorgimento, 11-12) 1958, S. 143. <?page no="134"?> 132 Edoardo Costadura comte de Chateaubriand gewidmet gewesen. Ein Umstand, der auf persönliche Kontakte zwischen dem vielleicht größten und sicherlich berühmtesten Schriftsteller der französischen Romantik und dem Kreis der italienischen fuoriusciti schließen ließ. Dadurch ließ sich übrigens auch erklären, wieso Chateaubriand frühzeitig (nämlich im Frühjahr 1833) Pellicos Memoiren aus dem Spielberg las: Piero Maroncelli (1795-1846), Pellicos Leidensgefährte in der berüchtigten Strafanstalt, zog nach seiner Freilassung 1831 nach Paris und begegnete bald (durch Vermittlung gemeinsamer Bekannter) Chateaubriands langjähriger Vertrauten Madame Récamier, die ihn finanziell unterstützt haben soll. 6 Und nicht zufällig gehörte Maroncelli zu den Mitarbeitern von „L’Exilé“. 7 Wie kamen solche Kontakte zwischen italienischen fuoriusciti und Kreisen der Pariser Intelligenzija zustande? Fügen sie sich in ein größeres Geflecht von Beziehungen - in eine Art ‚Netzwerk‘? Wie haben sich diese Kontakte auf das Denken und das literarische Werk der italienischen Verbannten ausgewirkt? Dies sind einige der Fragen, die ich mir während meiner Recherchen stellte und die bereits 1936 ein scharfsinniger Aufsatz von Benjamin Crémieux aufgeworfen hatte. 8 Der vorliegende Beitrag möchte sie nun zumindest näher umkreisen, als dies bislang der Fall gewesen ist. Ob er sie beantworten kann, muss der Leser beurteilen. 1 Vorgeschichte der Zeitschrift Die Geschichte des „Exilé“ fängt 1831 in Mâcon an, einem der dépôts, in denen die französische Verwaltung die italienischen fuoriusciti sammelte. 9 Dort fanden sich nach den Ereignissen des Frühjahrs 1831 im Fürstentum Modena (Aufstandsversuch Ciro Menottis) und in den Territorien des Kirchenstaats (ausgehend von Bologna) etwa 200 esuli ein. Zu ihnen zählten die zukünftigen Direktoren des „Exilé“, nämlich Federico Pescantini (1802-1875), Giuseppe Andrea Cannonieri (1795-1864) und Angelo Frignani (1802-1878). 10 Sie gründeten im Frühjahr 1832 eine „Accademia scientifica e letteraria degli esuli itali- 6 Vgl. Belleli [Anm. 4], S. 17. 7 Vgl. zu diesem ganzen Komplex meinen Aufsatz: Im Licht der Vergangenheit. Chateaubriands Umgang mit der italienischen Literatur seiner Zeit am Beispiel Pellicos. In: Michaela Peters / Christoph Strosetzki (Hg.): Interkultureller Austausch in der Romania im Zeichen der Romantik. Akten der Sektion 14 des Deutschen Romanistentages 2003 in Kiel. Bonn: Romanistischer Verlag 2004, S. 175-187. 8 Benjamin Crémieux: L’émigration politique italienne en France sous la Monarchie de Juillet. In: Revue des Études Italiennes 1 (1936), S. 249-259, hier S. 254-255. 9 Vgl. dazu Belleli [Anm. 4], S. 10-11 und S. 45. 10 Zu Frignani vgl. den Beitrag von Adriana Vignazia im vorliegenden Band. Ihr sei bereits an dieser Stelle für wertvolle weiterführende Hinweise gedankt. <?page no="135"?> Wissensaustausch und literarische Trauerarbeit im Pariser Exil: „L’Esule - L’Exilé“ 133 ani“, die als ‚Ur-Zelle‘ der Zeitschrift angesehen werden kann. Der Hauptverantwortliche der Zeitschrift Federico Pescantini gibt darüber Auskunft: Dopo i miserandi eventi dell’Italia centrale sul declinare del 1831, molti dei rifuggiti italiani si radunarono, per ordine del governo francese, nella città di Mâcon. Noi fummo fra quelli, e sovvenendoci, che lo studio, e le lettere sono sempre state l’unico ristoro nelle grandi sventure, istituimmo un’accademia letteraria, e scientifica, che nominammo degl’Esuli: indi, per desiderio di occupazione maggiore, rivolgemmo il pensiero all’opera a cui col presente fascicolo è posto fine in Parigi. 11 Einige Zeit später veröffentlichten Pescantini und Cannonieri einen „Manifesto“ bzw. einen prospectus, in dem die Gründung des „Exilé“ angekündigt und bereits die Bedingungen für das Abonnement genannt wurden. Die Genehmigung nach Paris zu übersiedeln, kam dem ‚Triumvirat‘ gelegen, denn nur in der französischen Hauptstadt, wo die Zeitschrift faktisch hergestellt und veröffentlicht wurde, konnte ein solches Projekt überhaupt verwirklicht werden. 2 Positionierung und Aufbau der Zeitschrift Eine einheitliche politische Linie des „Exilé“ ist nicht auszumachen. Niccolò Tommaseo, der freilich für seine scharfzüngigen Urteile bekannt und berüchtigt ist, 12 nennt „L’Exilé“ eine „strana assembraglia“. 13 Tatsächlich ist die Zusammenstellung der Mitarbeiter der Zeitschrift, und gerade hinsichtlich ihrer politischen Zugehörigkeit, sehr heterogen. Die Grafen Mamiani (1799-1885) und Pepoli (1796-1881) waren gemäßigte - und im übrigen prominente - Liberale. Der bereits erwähnte Pescantini und Pietro Giannone (1791-1872) waren mazziniani und Mitglieder der „Giovine Italia“, die genau in jenen Jahren (Ende 1831) gegründet worden war. Cannonieri und Giuseppe Gherardi (1794-1866) waren Sekretäre der „Giunta Centrale dei Veri Italiani“, die Anfang 1832 von Filippo Buonarroti gegründet worden war, 14 und brachten deshalb eine radikalere, demokratische Position ein. Alessandro Galante Garrone stuft die Zeitschrift als eine ‚ausschließlich literarische‘ ein. 15 Und in der Tat mussten sich Pescantini & Co. damit begnügen, mit rein literarischen Mitteln und Inhalten für die Sache Italiens ‚mobil zu machen‘. Die Überwachung der französischen Zensur, die mit Antritt der Regie- 11 Federico Pescantini: Conclusione dell’opera. In: L’Exilé, IV, 12 (1834), S. 447-448. 12 Zu Tommaseo vgl. den Beitrag von Renate Lunzer im vorliegenden Band. Tommaseo lebte in Frankreich (Paris, Nantes, Marseille) zwischen 1834 und 1839. 13 In einem Brief an Gino Capponi, zitiert von Cristina Trinchero, in Belleli [Anm. 4], S. 18. 14 Vgl. dazu Giorgio Candeloro: Storia dell’Italia moderna. Milano: Feltrinelli 1958, 1978, II: Dalla Restaurazione alla Rivoluzione nazionale, S. 227-228. 15 Alessandro Galante Garrone: Filippo Buonarroti e i rivoluzionari dell’Ottocento (1828- 1837). Torino: Einaudi 1951; Nuova edizione ampliata, ebd. [PBE] ²1972, S. 362. <?page no="136"?> 134 Edoardo Costadura rung Casimir Périer ab dem Frühjahr 1831 strenger geworden war, 16 und nicht zuletzt finanzielle Zwänge 17 verboten politische Stellungnahmen. Der Vorbringung allzu eindeutiger Stellungnahmen stand ohnehin das vielfältige politische Spektrum der Mitarbeiter und nicht zuletzt der Abonnenten 18 im Wege. So darf es nicht verwundern, dass sowohl Mazzini als auch Pellico eine Zusammenarbeit ablehnten - freilich aus diametral entgegengesetzten Gründen: Mazzini, weil „L’Exilé“ nicht genügend politisch, Pellico weil es zu politisch eingestellt zu sein schien. Etwas leichter fällt es, eine literarische Linie zu erkennen. „L’Exilé“ erscheint in dieser Hinsicht als eine moderate romantische Zeitschrift. Grundpfeiler der literarischen Ideologie der Zeitschrift ist denn auch die Autonomie und Originalität der einzelnen Völker und die enge Verschränkung von Literatur und ‚Volksseele‘, wie dies in der Eingangswidmung „Alla gioventù francese“ formuliert wird: […] l’arti belle sono misura del cuore e della mente ad un tempo: frutto più d’un sentire profondo, che di tutt’altra umana potenza, manifestano impetuosamente l’indole del popolo presso cui sono […]. 19 Bemerkenswert scheint mir dabei, dass die équipe des „Exilé“, zumindest in ihren programmatischen Forderungen, keineswegs in eine nationalistische Haltung verfällt. Das Studium und die illustrazione der Geschichte der italienischen Literatur gerät vielmehr zum Anschauungsobjekt einer allgemeinen Grundthese, die für alle Literaturen gilt. Nicht zufällig stammt das Motto des programmatischen Aufsatzes Pescantinis „Scopo e piano dell’opera“ aus Germaine de Staëls Corinne: „Il me semble que nous avons tous besoin les uns des autres. - La littérature de chaque pays découvre, à qui sait la connaître, une nouvelle sphère 16 Zur Einstellung der Regierung Périer zur Frage der italienischen fuoriusciti, vgl. Gianfrancesco Borioni: Le patriotisme nomade: les exilés des États pontificaux de 1820 à 1838. In: Revue d’histoire du XIX e siècle 28 (2004), Religion, politique et culture au XI- X e siècle, Online-Fassung verfügbar seit dem 7.4.2008, URL: http: / / rh19.revues.org/ document613.html, S. 11. 17 Eine literarische Zeitschrift mußte weniger Steuern zahlen als eine politische; vgl. dazu Borioni: L’Exilé, revue littéraire bilingue de l’émigration carbonare 1832-1834 [Anm. 4], S. 333 (Hinweis von Adriana Vignazia). 18 Unter ihnen italienische und französische Liberale wie der Marquis Arconati, Gino Capponi, der Graf Porro, Gianpietro Vieusseux, Chateaubriand, Chauvet, Delécluze, Lamartine, Sismondi, ferner der General La Fayette und Louis Bonaparte (der künftige Napoleon III), aber auch Minister und hohe Chargen des Staates wie der Duc de Broglie, Guizot und der Maréchal Soult, und zu guter letzt auch das französische und das belgische Königspaar. 19 Giuseppe Cannonieri / Angelo Frignani / Federico Pescantini: Alla Gioventù francese. In: L’Exilé I,1 (1832), S. 10. <?page no="137"?> Wissensaustausch und literarische Trauerarbeit im Pariser Exil: „L’Esule - L’Exilé“ 135 d’idées.“ 20 Man mag in dieser Hinsicht von ‚Internationalismus‘ sprechen bzw. von einer Verschränkung von ‚Internationalismus‘ und patriotischem (romantischem) Nationalismus: Alto sta in noi l’ossequio inverso al bello, che riverenti ammiriamo presso le altre nazioni, e se a questo universale amore non aspirassero i nostri cuori, se nostre non reputassimo le glorie di tutti, chi di noi non vorrebbe essere Inglese leggendo Shakespeare o Milton, e chi Francese quando si è profondamente commossi da Corneille, ed ammirati all’immensa sapienza e giustizia che Fénélon [sic] dispiega nel suo giovine Telemaco? Ah! non si creda in noi superbo disprezzo delle straniere grandezze, quando con religiosa ammirazione discuteremo delle nostre, quando le esalteremo. 21 Notwendig ist das Studium der Geschichte der Literatur, weil die Literatur die Geschichte zum Sprechen zu bringen vermag, wenn die Geschichtsschreibung schweigt. 22 Andererseits ist es für die Literatur notwendig und unerlässlich, ‚im Gleichschritt mit dem Jahrhundert zu schreiten‘ („camminare col secolo“). 23 Dieser Anspruch spiegelt sich einerseits im Aufbau der Zeitschrift: Jede Lieferung wird in der Regel von einem großen literarhistorischen oder historischen Aufsatz (meist in mehreren Folgen) eröffnet; es folgt ein weiterer Aufsatz monographischer Natur über einen Klassiker, sodann ein anthologischer Teil, der gemeinhin daran anschließt; ferner ein weiterer Aufsatz über einen zeitgenössischen Autor (z.B. Pellico oder Manzoni); schließlich die Rubrik „Variétés“, in der Verschiedenes, eventuell auch Politisches, aber meist Chronikhaftes verhandelt wird. Andererseits geht mit dieser romantischen Grundhaltung auch die Deutung der Geschichte der italienischen Literatur konform bzw. diese lässt sich aus der genannten Grundthese logisch ableiten. Die Position von „L’Exilé“ nimmt hierin eine der Grundthesen der Storia della letteratura italiana (1870- 1871) von Francesco De Sanctis vorweg. Der Gang der italienischen Literatur spiegelt gewissermaßen ‚organisch‘ den Gang der italienischen Geschichte (ihre frühe Größe im Mittelalter und ihre Dekadenz in der Renaissance und im Barock) wieder: […] ed esaminata l’Italiana letteratura nella sua culla, additar poi come crebbe e divenne gigante, ed indi in ciarliera cambiatasi e delirante, fu guasta e bastarda per lungo tempo, finché il secolo nostro, non solo la corresse e ricondusse all’antica purezza, ma la nutrì di maschi pensieri e di meditati concetti. 24 20 Pescantini: Piano e scopo dell’opera. In: L’Exilé I,1 (1832), S. 24 (Zitat aus Mme de Staël: Corinne, VII, 1). 21 Ebd., S. 28. 22 Dies ist bekanntlich eine Manzonianische Idee. 23 Cannonieri: Idee generali sullo stato presente della letteratura italiana. In: L’Exilé I,1 (1832), S. 144. 24 Pescantini [Anm. 20], S. 34. <?page no="138"?> 136 Edoardo Costadura Über diesen Umweg gelingt es dem „Exilé“, eine politische Position zu beziehen und vorzubringen. Wie Carlo Pepoli es in einem offenen Brief an die Direktoren der Zeitschrift formuliert, stellt der ‚Wissensaustausch‘ eine Waffe im Widerstand gegen den Despotismus dar: E voi cari amici fondatori dell’Esule seguitate la ben cominciata impresa. Imparate le cose forestiere: insegnate le nostre. Il cambio del sapere è uno scoglio a cui rompe ogni dispotismo. 25 Insofern geraten die Literatur und das Studium der italienischen Literaturgeschichte letztlich zum Ersatz bzw. zum Ersatzschauplatz politischen nationalen Engagements. Der historistische Duktus der Zeitschrift artikuliert sich stets mit zeitgeschichtlicher Diagnostik. Für einen aufmerksamen Leser konnte mithin jede Ausführung über den Gang der italienischen Literatur und ihre Klassiker die Deutung des aktuellen Zeitgeschehens untermalen. Dabei dienen als Leitfiguren Dante, Petrarca, Machiavelli, Galileo, Bruno, Campanella - lauter Musterbeispiele von Dichtern und Denkern, die (ganz nach dem Grundsatz Alfieris) 26 ihr dichterisches Schaffen als Widerstandsgestus gegen den Despotismus verstanden haben: „[…] letterati ed artisti […] che per l’altezza del loro sapere dando ombra ai prepotenti, riportarono persecuzioni, in mezzo alle quali li ammireremo ognora incrollabili.“ 27 Unter ihnen ragt Dante heraus, nicht nur als prominentester Zeuge und Garant für die Einheit und Kontinuität der italienischen Kultur, sondern eben auch als ‚berühmtester unter den Verbannten‘. 28 Dantes Konterfei schmückte denn auch den Frontispiz der einzelnen Hefte der Zeitschrift. 3 Exildiskurs und literarische Trauerarbeit: Foscolo, Menotti Dante ist mit anderen Worten der Odysseus der patrie lettere und das Emblem des „Exilé“ als Exilzeitschrift. Das Thema des Exils strukturiert von Anfang an den eigentümlich erzählerischen Duktus der Zeitschrift. Die Literaturgeschichtsschreibung gerät somit zur Erzählung und die Erzählung ihrerseits zum Medium einer Trauerarbeit über die verlorene Heimat und die verlorenen Weggefährten. Vermutlich handelt es sich hierbei um eine der Konstanten des Exildiskurses 25 Carlo Pepoli: Lettera alli SS. Direttori del Giornale […]. In: L’Exilé II,4 (1833), S. 148. 26 Zu Alfieri vgl. Pescantini: Alfieri. In: L’Exilé IV,10 (1834), S. 74-81 und Marie de G. [Marie de Gamond]: Tragédies d’Alfieri, ebd., S. 82-113. 27 Pescantini [Anm. 20], S. 36. Siehe auch ebd., S. 42: „D’ordinario gl’ingegni che volarono più alto di tutti gli altri furono gl’indipendenti, furono quelli che non piegarono mai innanzi né a potente né a prepotente veruno, e fiorirono per sola propria forza, solo ubbidendo all’impulso dal Cielo a loro comunicato, come stella che segue il suo corso né incontra cosa che la ritenga“. 28 Pescantini [Anm. 20], S. 24 („il più illustre degli Esuli, il Padre dell’Italiana letteratura“). <?page no="139"?> Wissensaustausch und literarische Trauerarbeit im Pariser Exil: „L’Esule - L’Exilé“ 137 schlechthin. Im Falle des „Exilé“ jedoch koppelt sich der ‚Familienroman‘ des trauernden fuoriuscito mit der Pflege des ‚Wissensaustausches‘. Die Beschwörung der vergangenen und wiederaufkeimenden Größe Italiens artikuliert sich mit einem Gestus der Dankbarkeit für die zuteilgekommene Gastfreundschaft, wobei das gebildete Lesepublikum und die politisch Verantwortlichen der Gastnation für das Unglück Italiens weiter sensibilisiert werden sollten. Nicht primär einem italienischen, sondern vornehmlich einem französischen (Pariser) Publikum galt die große kulturhistorische Erzählung der italienischen exilés: Ond’è che a noi i quali perdemmo quanto ha di più beato e soave la vita, perdendo la patria, è parso che narrando agli ospiti nostri come fu gloriosa in ogni tempo, e come è bella, un qualche ristoro avremmo trovato nei nostri mali […]. Ma perché la pietà inverso di noi medesimi non dee essere maggiore del sentimento di gratitudine a chi è dovuto, tutto sarà da noi posto in opera acciocché, se questi studj, santi penati nel nostro esilio, tornano a noi di conforto, vuoti non vadano d’utilità alla nazione Francese, la quale come grande ed illustre per infinite cose, non può essere gelosa dei fasti altrui e quindi tributerà lode ed ammirazione in queste carte ai capi lavoro dell’Italiano sapere, e con noi sclamerà: Essa è pur degna di miglior ventura quella terra gentile, in cui l’ingegno sprezzando sempre le catene e i patiboli, ornò di nuove grazie in ogni tempo le lettere, le scienze, e le bell’arti tutte. 29 Der Bewältigung der Trauerarbeit durch das Erzählen wird denn auch die Erinnerung an die gefallenen Mitstreiter unterzogen. Nicht nur ihre Namen, sondern auch ihre Worte werden in die Erzählung eingefügt bzw. eingeschrieben, wie Monumente oder Grabinschriften. So im Falle Ciro Menottis, dessen Gedicht La Tortorella zusammen mit drei kürzeren Texten von Pietro Giannone im „Exilé“ abgedruckt und kommentiert wird. 30 In diesem Zusammenhang wirkt Foscolos großes Gedicht Dei Sepolcri normierend. In seiner Besprechung der französischen Übersetzung von Pellicos Le mie prigioni, geht Pescantini kurz auf die vom Übersetzer selbst (Antoine de La Tour) verfasste biographische Notiz ein. Dabei hebt Pescantini zwei Stellen hervor: die Begegnung des jungen Pellico mit Vincenzo Monti und die von de La Tour ins Französische übersetzten Verse Foscolos über die Gräber von Santa Croce (Dei Sepolcri, 151-185). Diese Verse werden alsdann, typographisch von der Rezension getrennt, im italienischen Original und in der Übersetzung wiedergegeben. 31 Die Sepolcri, die Pescantini als einen „carme che Italia vanta fra’ 29 Pescantini [Anm. 20], S. 24-26. 30 Ciro Menotti: Vers d’un prisonnier. In: L’Exilé I,2 (1832) [Varietà], S. 452-469. Vgl. ebd. S. 452: „Oh Menotti! … una parola ancora, ancora una lagrima sopra di te! Il tuo nome è ora quello dell’infortunio, ma verrà giorno in cui sarà argomento agli inni delle vergini e della vittoria. Pace intanto alle neglette tue ceneri, e qualche tregua all’angoscia della desolata tua vedova, de’ figli tuoi, de’ congiunti, e di tutt’altri, a cui fosti, e sarai sempre sì onorato, e sì caro“. 31 L’Exilé II,5 (1833), S. 348-351. <?page no="140"?> 138 Edoardo Costadura più belli ed originali concepimenti della moderna letteratura“ 32 rühmt, werden somit im Kontext der patriotischen Memorialistik Pellicos und darüber hinaus im Kontext des kulturhistorischen Projekts des „Exilé“ reaktualisiert. Wie die Sepolcri, versteht „L’Exilé“ Literatur als Erinnerungsarbeit, als Pflege des nationalen Gedächtnisses in und durch das geschriebene (gedichtete) Wort. 33 Insofern kann man gerade die Lobpreisung von Florenz (v. 180-185) als Chiffre des editorischen Vorhabens des „Exilé“ verstehen: Ma più beata ché in un tempio accolte Serbi l’itale glorie, uniche forse Da che le mal vietate Alpi e l’alterna Onnipotenza delle umane sorti Armi e sostanze t’invadeano ed are E patria e, tranne la memoria, tutto. 34 4 Zwei emblematische Rezeptionsfälle: Pellico und Manzoni zwischen der französischen und der italienischen Leserschaft An der Rezeption Pellicos und Manzonis lässt sich ermessen, wie schwer, gerade aus der Perspektive des Exils, romantische Poetik, christliches Bekennertum und patriotisches Engagement miteinander in Deckung gebracht werden konnten. Die Divergenz zwischen den Lesarten Pellicos innerhalb der Redaktion des „Exilé“ und den Lesarten außerhalb derselben - in den Kreisen der mit den italienischen fuoriusciti sympathisierenden französischen Intellektuellen - gibt ferner Aufschluss über die unterschiedlichen Positionierungen der italienischen und französischen Literaten im Paris der 1830er Jahre und über die Tragweite und Tiefe des ‚Wissensaustausches‘. „L’Exilé“ veröffentlichte im März 1833 (Bd. 2, 4 e livraison) einen Vorabdruck einiger Kapitel aus Le mie prigioni in der Übersetzung von Antoine de La Tour (mit italienischem Original en regard). Die Wahl fiel auf die Episode der Zanze in den Piombi zu Venedig. In seiner Einleitung führt Pescantini die in den Kreisen der Patrioten und esuli verbreiteten Zweifel und Kritiken vor („le idee […] sono quelle che potranno giovare alla causa dell’italiana libertà? “) 35 , um dann eine etwas gezwungen wirkende politische Ehrenrettung zu versuchen. In den Augen Pescantinis hat Pellico resigniert, weil er keinen Funken Hoffnung 32 Ebd., S. 348. 33 Für eine andere Einschätzung dieses Foscolianischen centone, vgl. Belleli [Anm. 4], S. 92. 34 Ugo Foscolo: Le poesie. Introduzione, note e commenti di Marcello Turchi. Milano: Garzanti 1974, S. 60. 35 Pescantini: Articolo sul libro intitolato: Le mie prigioni, Memorie di Silvio Pellico. In: L’Exilé II,4 (1833), S. 56-75, hier S. 60. <?page no="141"?> Wissensaustausch und literarische Trauerarbeit im Pariser Exil: „L’Esule - L’Exilé“ 139 hatte, je aus seinem Kerker lebend herauszukommen. Insofern ist er kein Verräter, denn nur wer resigniert, obwohl er noch Hoffnung hegt, kann als solcher gebrandmarkt werden. In Pescantinis Einschätzung wird sich das Buch trotz der resignierten Haltung des Autors positiv für die Sache Italiens auswirken. Es wird Liebe für das zu Unrecht unterdrückte ‚Lamm‘ und Entsetzen über die Barbarei seiner Folterer auslösen. 36 Und die Lektüre wird sich kathartisch auf die italienische Volksseele auswirken und sie dazu animieren, die „causa santa della patria“ zu ergreifen. 37 Carlo Pepolis Urteil ist schonungsloser. In einem offenen Brief an Francesco Orioli über Mazzoni Tosellis Origine della lingua italiana (Bologna 1831), verleiht er seinen Zweifeln über die Zweckmäßigkeit von Pellicos Memoiren Ausdruck: Veramente quando penso a tanti caduti in olocausto alla patria, o martoriati, come e vidi io stesso, e me ne dà sigurtà quell’angelo dello Spielberg, io mi compungo sino al pianto, ma sull’occhio mi s’impietra la lacrima … palpito, vo in fiamma, poi sudo freddo freddo, rabbrividisco, e per allora, lo credereste? io non invidio a Silvio, al mio adorato Silvio Pellico, quella voce placida e santa che mi dà simiglianza d’un lamentar notturno d’arpa soave: ma invece io allora torrei [sic] d’avere il tuonare d’onnipotenza di Pietro l’Eremita, quando al suo grido seco strascinava diluvî di gente per francar terra santa. 38 Ganz anders die Lesart der ersten (begeisterten) französischen Leser. So Chateaubriand, der sofort die Tragweite von Pellicos Bekehrung und Abkehr von der Politik erkannte: „J’en suis ravi; je voudrais rendre compte de cet ouvrage, dont la sainteté empêchera le succès auprès de nos révolutionnaires libres à la façon de Fouché.“ 39 Zwei Monate früher, und unabhängig von Chateaubriands Lektüre, hatte sich Montalembert in ähnlicher Weise in einem Brief an seinen geistigen Ziehvater Lamennais geäußert: Le livre de Pellico, qui contient le récit des horreurs de sa captivité au Spielberg et de sa conversion miséricordieuse, me semble propre à faire au Catholicisme, dans l’ordre politique, le même bien que les Fiancés de Manzoni lui ont fait dans l’ordre social. Je ne connais pas une apologie plus éclatante de son influence bienfaisante et sans rivale dans un malheur que l’imagination peut à peine atteindre. 40 36 Ebd., S. 66. 37 Ebd., S. 72. 38 Pepoli: Lettera al chiarissimo prof. e Francesco Orioli sulla Origine della lingua italiana, opera di Ottavio Mazzoni Toselli. In: L’Exilé III,7 (1833), S. 42-66, hier S. 48-50; vgl. dazu auch Cristina Trinchero in: Belleli [Anm. 4], S. 32. 39 François-René de Chateaubriand: Lettres à Madame Récamier. Introduction, notes, index des noms de personnes par Maurice Levaillant avec le concours de E. Beau de Loménie. Paris: Flammarion 1951, ²1998, S. 375 (Brief vom 17. Mai 1833). 40 Félicité de Lamennais: Correspondance générale. Textes réunis, classés et annotés par Louis Le Guillou. V: Juillet 1831-décembre 1833. Paris: Colin 1974, Appendice, Nr. 777, de Montalembert [Paris, 6. März 1833], S. 702. <?page no="142"?> 140 Edoardo Costadura Wie Chateaubriand und Juliette Récamier, die (wie bereits erwähnt) in Kontakt mit Maroncelli und Pescantini standen, war Montalembert einem weiteren Leidensgenossen Pellicos begegnet, nämlich dem französischen carbonaro Alexandre Andryane (1797-1863). 41 Auch in diesem Falle, und aus ähnlichen Gründen wie bei Chateaubriand, wird die politisch-patriotische Dimension von Pellicos Erfahrung zugunsten der erbaulichen Komponente ausgeklammert. Ähnlich fällt das Urteil von Lamennais aus, dem Pellicos Haltung allerdings zu passiv vorkommt. 42 In Punkto Manzoni bezieht „L’Exilé“ eine noch kritischere Haltung als in Bezug auf Pellico. Pietro Giannone, dem eine umfangreiche monographische Abteilung zu Manzoni (mit anthologischem Anhang) anvertraut wird, lobt vor allem die Ode zu Napoleons Tod, Cinque Maggio, geht aber kritisch mit dem Roman I Promessi sposi ins Gericht - und zwar aus einem ähnlichen Impuls heraus wie Pepoli angesichts von Pellicos Resignation. Was Giannone an Manzonis Gestalten bemängelt ist denn auch die Passivität, vor allem die Passivität Renzos: Renzo che è? Un filatore di seta, onestissimo giovine per altro, e, come dice egli stesso, un buon figliolo; ma né distinto per altezza di sensi né per vigor di carattere né per altro che dia lustro e importanza. 43 Dabei verhält es sich doch so, dass „nelle circostanze e ne’ tempi che corrono, la virtù della rassegnazione non è quella che occorre alla nostra povera patria: la sua sventura può essere combattuta e vinta da una volontà forte e tenace tempra- 41 Die Begegnung hatte im Februar 1833 im Kreise von François de Corcelles (dem Schwiegersohn des Generals La Fayette) stattgefunden. Durch Andryanes Bericht erfährt Montalembert vom Schicksal Pellicos und von seinen Memoiren: „j’ai fait la connaissance de M. Andryane, ce jeune poète italien (ou plutôt français) dont vous a parlé M. de Gourgas: cet admirable jeune homme a été 14 ans détenu au Spielberg avec le malheureux comte Confalonieri, Maroncelli et Pellico. J’ai rarement dans ma vie éprouvé une émotion plus profonde, une indignation plus bouillante qu’au récit qu’il m’a fait des horreurs de sa captivité […]. Admirez la miséricorde de Dieu. Ils sont tous quatre entrés incrédules dans ce cachot, ils en sont sortis catholiques fervents. Pellico, l’auteur de Francesca da Rimini, vient de publier un livre intitulé: Mie Prigioni où il raconte leurs souffrances morales (obligé de se taire sur leurs maux physiques) et surtout leur conversion. C’est vraiment admirable. Le récit de l’amputation de Maroncelli […] est digne des antiques légendes. Je tâcherai de vous l’apporter.“ Lamennais [Anm. 40], Appendice, Nr. 771, de Montalembert (20. Februar 1833), S. 692. Andryane hat in der Folge ebenfalls seine Memoiren veröffentlicht: Alexandre Andryane: Mémoires d’un prisonnier d’État au Spielberg. Paris: Ladvocat 1837-1838. 42 Lamennais [Anm. 40], Nr. 2014, an Benoit d’Azy, 7. April 1833, S. 359-360: „Il y a un livre qu’il faut que tu lises. Ce sont Le Mie Prigioni de Pellico. Cela est ravissant de simplicité, de résignation, de douceur. Je trouve seulement ce christianisme trop passif“. 43 Pietro Giannone: Delle Opere di Alessandro Manzoni. In: L’Exilé I,2 (1832), S. 263-313, hier S. 272. <?page no="143"?> Wissensaustausch und literarische Trauerarbeit im Pariser Exil: „L’Esule - L’Exilé“ 141 ta dalla prudenza.“ 44 Überhaupt liege Manzonis Hauptfehler darin, dass er eine denkbar ungeeignete Epoche der italienischen Geschichte ausgewählt habe - nämlich das Seicento -, eine Zeit, die das traurige Schauspiel einer noch erniedrigenderen Fremdherrschaft biete - nämlich der spanischen - als es die der Habsburger je sein könne. Manzoni hätte, wie sein Schwiegersohn Massimo D’Azeglio, 45 einen Stoff aus dem italienischen Mittelalter wählen sollen, denn „[i]l medio evo offriva avvenimenti più splendidi e caratteri d’un’energia che spaventa […].“ 46 Nicht zufällig schließt sich Mazzini - in einem Brief an Giannone 47 - diesem Urteil an. Man mag insofern fragen, welche Poetik der Interpretation der italienischen Gegenwartsliteratur zugrunde liegt und folglich welches Bild der italienischen Literatur der französischen Leserschaft im „Exilé“ vermittelt wird. Diese Poetik würde ich als eine neoklassizistisch angehauchte Romantik bezeichnen, die die Literatur in den Dienst der nationalen Idee stellt. Daher einerseits die Rezeption Foscolos und das (leider nie verwirklichte) Vorhaben, die Sepolcri erstmals in einer vollständigen französischen Übersetzung (durch de La Tour) dem französischen Publikum vorzustellen. Daher andererseits die komplexe Rezeption Manzonis und Pellicos. Daher schließlich die ausgebliebene Rezeption Leopardis - ein Name, der im „Exilé“ völlig fehlt. 5 Ein italienisch-französisches Netzwerk? Cristina di Belgiojoso, Chateaubriand, Sismondi, Lamartine, Carrel Die vier Widmungen: an die französische Jugend (Bd. 1), an die Fürstin Cristina Trivulzio di Belgiojoso (Bd. 2), an Chateaubriand (Bd. 3) und an Sismonde de Sismondi (Bd. 4) können als Punkte eines italienischen und französischen bzw. schweizerischen Koordinatensystems angesehen werden. Der erste Band wird der französischen Jugend zugeeignet, als Dank für die Aufnahme der italienischen Verbannten und als Appell an die Träger der neuen romantischen Gesinnung (die Jugend ist einer der Gründungsmythen der europäischen Romantik). Der zweite Band ist Cristina di Belgiojoso gewidmet, als einer Dame, die sich in der Pflege der Litterae hervorgetan und ferner, als Patriotin und Verfolgte, den italienischen fuoriusciti Hilfe und Trost gespendet hat: 44 Ebd., S. 282-284. 45 D’Azeglios Roman Ettore Fieramosca wird im „Exilé“ positiv rezensiert - vgl. Charles Gosselin: Hector Fieramosca. In: L’Exilé II,6 (1833), S. 484-495 und III,9 (1833), S. 442-469 - und als ein Werk gerühmt, das inspiriert ist „più presto da intento di nobile patriottismo che da desiderio di piacere e di divertire“ (ebd., III,9 [1833], S. 468). 46 Giannone [Anm. 43], S. 274. 47 Zitiert von Trinchero, in: Belleli [Anm. 4], S. 38. <?page no="144"?> 142 Edoardo Costadura Nel mandare che ora facciamo alla luce, fascicolo per fascicolo, il secondo volume della presente opera, abbiamo avuto caro permetterci di ornarlo in fronte del vostro nome, e di farvene offerta; la quale, quantunque tenue per se, è nondimeno la maggiore che ne sia concessa in tanta difficoltà di tempi e di circostanze: e viviamo certissimi, che la bontà vostra benignamente l’accoglierà. Imperocché, seguitando voi il bell’esempio dei celebri antenati vostri, come essi coltivate i patrii studj; sicché delle lettere, e d’ogni gloria nostra siete istruitissima, e tenerissima. Oltre di ciò, ne move anche, all’offerirlo, dovere di riconoscenza verso di voi, la quale vi siete fatta, in questa terra, protettrice cortese d’ogni sventurato italiano; ond’è, che molti sentonsi per voi alleviare le pene dell’esilio. 48 Seit November 1830 in Paris, hatte sich Cristina di Belgiojoso frühzeitig und trotz eigener finanzieller Nöte (die habsburgische Verwaltung hatte ihr Vermögen konfisziert) für die Belange der italienischen fuoriusciti eingesetzt. Ihre Wohnung an der Place de la Madeleine und später (ab 1835, nachdem die Konfiszierung rückgängig gemacht worden war) ihr Haus an der rue d’Anjou wurden zur wichtigsten Anlaufstelle für italienische Patrioten in Paris, aber auch zu einem bevorzugten Treffpunkt für italienische und französische Intellektuelle. 49 Cristina wurde auch sehr früh im salon der Abbaye-aux-Bois empfangen, in dem italophile Intellektuelle wie beispielsweise Edgar Quinet verkehrten. In ihren Memoiren berichtet sie anschaulich von ihren Begegnungen mit Madame Récamier und Chateaubriand. 50 Man kann annehmen, dass sie den Kontakt zwischen Madame Récamier und Maroncelli herstellte, wodurch erst Chateaubriand mit dem Kreis des „Exilé“, namentlich mit Maroncelli, mit dem Typographen der Zeitschrift Niccolò Bettoni 51 und mit Federico Pescantini in Berührung kam. Es ist aber auch denkbar, dass Pauline Andryane (die Schwägerin des bereits erwähnten Alexandre Andryane) als Relais mit dem Kreis der Abbaye-aux-Bois diente. 52 Madame Récamier soll Maroncelli ihre finanzielle Unterstützung für die (schließlich nicht erfolgte) Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen zuge- 48 L’Exilé II,4 (1833), S. 8. 49 Vgl. A. Augustin Thierry: La Princesse Belgiojoso. Une héroïne romantique. Paris: Plon 1926, S. 25-27. In ihren Memoiren geht Cristina di Belgiojoso auf diese Zeit leider nur sporadisch ein. Vgl. Cristina di Belgiojoso: Souvenirs dans l’exil. In: Le National, 5. September und 12. Oktober 1850; Paris: Impr. Prost 1850; nun in: Ricordi nell’esilio. A cura di Maria Francesca Davì. Pisa: Edizioni Ets 2001 (es handelt sich hierbei um eine zweisprachige, leider notdürftig edierte und schlampig redigierte Ausgabe, die freilich den Vorzug hat, den französischen Originaltext wiederzugeben). Cristina erwähnt Victor Cousin und Heinrich Heine (S. 72-74 und passim), Fauriel, Mignet, Ballanche und Villemain (S. 126), Bellini (S. 158-162) und den General La Fayette (S. 268-276). 50 Vgl. Trivulzio di Belgiojoso [Anm. 49], S. 94-100. 51 Vgl. Niccolò Bettoni: Mémoires biographiques d’un typographe italien. Paris: Bettoni 1835. 52 Vgl. Anna Maria Mambelli: Piero Maroncelli. Una vita per la libertà e la giustizia. Ravenna: Longo 1991, S. 120-122. <?page no="145"?> Wissensaustausch und literarische Trauerarbeit im Pariser Exil: „L’Esule - L’Exilé“ 143 sagt haben. 53 Chateaubriand empfing seinerseits Pescantini und willigte ein, als dieser ihm die Widmung der dritten Folge von „L’Exilé“ (Hefte 7-9, 1833) antrug. Der Direktor des „Exilé“ berichtet von diesem Gespräch in seiner bereits zitierten Rezension der französischen Übersetzung von Pellicos Le mie prigioni. Im Nachwort hatte der Übersetzer Antoine de La Tour die Begegnung zwischen Pellico und Monti geschildert. Anlass genug für den Rezensenten, über die eigene Begegnung mit Chateaubriand in ähnlichem Ton zu berichten: Noi pure, sì, noi pure provammo, son pochi giorni passati, tutte queste emozioni venendo alla presenza d’uno de’ più grandi scrittori dell’età nostra, Chateaubriand. - Gradisca che noi qui gli rendiamo quelle grazie che non sapemmo allora, commossi dal suo aspetto e dall’amorevole condiscendenza che pose in accettare la dedica del terzo volume di questo nostro giornale. - Quel dì sará indelebile nella nostra memoria […]. 54 Damit steht der dritte Band der Zeitschrift gewissermaßen unter der Ägide eines unbeirrbaren légitimiste und ehemaligen Ministers und Botschafters der letzten Bourbonen, der jedoch von der unumgänglichen Notwendigkeit der republikanischen Freiheit überzeugt war. Der Autor des Génie du Christianisme, des Itinéraire de Paris à Jérusalem und der Mémoires d’outre-tombe 55 war zudem ein Garant für die literarische Pflege des Gedächtnisses. Atala, Les Natchez und Les aventures du dernier Abencérage attestierten ferner sein Mitempfinden für die Unterdrückten und die Verfolgten. In der Widmung wird Chateaubriand nicht zufällig als der „Dichter des Ruhmes und des Unglücks“ gewürdigt: „Nell’età più giovanile, […] voi peregrinando per amore di sapienza, avete l’una appresso l’altra visitate tutte le terre famose di sventura e di gloria“. 56 - Dies in genuin chateaubriandesker Manier 57 , aber auch mit einem impliziten Verweis auf Foscolos berühmtes Sonett A Zacinto, das wohl als Musterbeispiel dichterischer Verarbeitung des Exils gelten darf. Darin wird der heimkehrende Odysseus bekanntlich (v. 10) als „bello di fama e di sventura“ besungen. Insofern ist die 53 Vgl. dazu Trinchero in Belleli [Anm. 4], S. 17. Auf der Subskriptionsliste der geplanten Ausgabe der Memoiren Maroncellis aus dem Spielberg (Memorie Spielbergiche) findet man die Namen von Ampère und Villemain, zwei habitués der Abbaye-aux-Bois; vgl. Mambelli [Anm. 52], S. 122. 54 Pescantini [Anm. 35], S. 346-348. 55 Noch unveröffentlicht, wurden sie jedoch in jenen Jahren vom Autor einem ausgewählten Publikum in der Abbaye-aux-Bois vorgelesen. 56 Pescantini / Frignani: Al Signor Visconte di Chateaubriand. In: L’Exilé III,7 (1833), S. 6. 57 In den Mémoires d’outre-tombe verleiht Chateaubriand seiner Hoffnung Ausdruck, eines Tages im Kloster von Sant’Onofrio auf dem Gianicolo (wo Tasso gestorben und beerdigt ist) aufgenommen werden zu können, um dort Tassos Genie „des Ruhmes und des Unglücks“ anrufen zu können: „chaque matin, en me mettant à l’ouvrage, entre le lit de mort et la tombe du poète, j’invoquerai le génie de la gloire et du malheur“. Chateaubriand: Mémoires d’outre-tombe. Edition nouvelle établie d’après l’édition originale et les deux dernières copies du texte par Maurice Levaillant et Georges Moulinier. Paris: Gallimard (Pléiade) 1951, Bd. 2, XXXI, 13, S. 366. <?page no="146"?> 144 Edoardo Costadura Formel „sventura e gloria“ eine Signatur des Exildiskurses. So heißt es weiter: „i mali almeno che l’esilio trae seco, potranno raccomandarci alla nobilità del vostro animo, la quale ha sempre voluto proteggere e consolare l’infortunio.“ 58 Auch weiß Chateaubriand, wie Foscolo in seinen Sepolcri, die Asche der großen Geister der Vergangenheit und die Ruinen vergangener Größen zu befragen: „Voi vi siete tratto a contemplare ogni monumento, avete interrogate tutte le ruine, inchinate le ceneri d’ogni grande, e raccolte dovunque calde e generose inspirazioni.“ 59 Dies alles prädestiniert ihn dazu, Schirmherr der Sache Italiens zu werden: Questa singolare condizione del vostro Genio ci ha dato ardire di farci innanzi alla vostra cortesia. Perché, e quale terra fu mai più classica e più veneranda di quella di cui siamo figli? In qual parte d’Europa si rincontrano più frequenti le memorie della virtù antica? 60 Die vierte Widmung gilt Jean-Charles Léonard Simonde de Sismondi, dem Historiker der „littérature du midi de l’Europe“ (der arabischen, provenzalischen, italienischen, spanischen und portugiesischen Literaturen) und vor allem der „républiques italiennes du moyen âge“: „Il nome dello storico delle Repubbliche Italiane suona così altamente nel cuore di tutti gl’italiani che non si potrebbero trovare parole degne di gratitudine e d’onore.“ 61 Die Direktoren der Zeitschrift würdigen insbesondere den Beistand und den Trost, den Sismondi den italienischen Verbannten mit seinen Werken gespendet habe: Il nome vostro, o Signore, è poi più particolarmente e più caramente sacro a tutti coloro che vanno ramingando fuori d’Italia pel solo santo ma sventurato delitto d’averla amata. Voi liberale in tutta la più nobile significazione del termine, siete stato generoso con essi d’ogni genere di conforti e di gentilezza. Basta avervi inteso parlare una volta dell’Italia e degl’Italiani per dire che le vostre parole sono un beneficio. 62 Sie mögen dabei, unter anderem, an die letzten Seiten der Geschichte der italienischen Republiken gedacht haben, worin Sismondi die Italiener des 18. Jahrhunderts - mithin diejenigen des 19. Jahrhunderts, seine Zeitgenossen - gegen die Unterstellung in Schutz nimmt, sie hätten ihre gegenwärtige Dekadenz und Erniedrigung zu verantworten. Ganz im Gegenteil - so Sismondi - muss dies äußeren ‚übermächtigen‘ Umständen angelastet werden: 58 Pescantini / Frignani [Anm. 56], S. 8. 59 Ebd., S. 6. 60 Ebd. 61 Pescantini / Frignani: A Sismondo Sismondi. In: L’Exilé IV,10 (1834), S. 7. Vgl. Jean- Charles Léonard Simonde de Sismondi: Histoire des républiques italiennes du moyen âge. Zürich: H. Gesner 1807-1808; Paris: H. Nicolle, puis Treuttel et Würtz 1809-1818, 1826; Nouvelle édition, Paris: Furne et Cie 1840; sowie De la littérature du midi de l’Europe. Paris: Treuttel et Würtz 1813 (3 e éd. rev. et corr., 1829). 62 Pescantini / Frignani [Anm. 61], S. 6. <?page no="147"?> Wissensaustausch und literarische Trauerarbeit im Pariser Exil: „L’Esule - L’Exilé“ 145 Sans doute on ne trouve point dans l’Italien du XVIII e siècle, ou le représentant des Manlius et des Gracques, ou celui des Doria et des Albizzi. La vertu antique ne peut naître, ne peut fleurir dans une patrie asservie; […] le sentiment ne peut s’exalter vers l’héroïsme lorsqu’il est étouffé dans son germe. Mais sera-ce l’Italien lui-même que nous accuserons de l’état lamentable où il est tombé ? Lorsque nous voyons tant de causes si puissantes concourir à le dégrader, ne pleurerons-nous pas plutôt en lui l’avilissement de la dignité humaine, et ne sentirons-nous pas que le sort qui l’a atteint est le sort qui nous menace, qui menace toute société, toute nation, qui se laisserait charger des mêmes chaînes que lui? 63 Und Sismondi schließt mit Worten, die den italienischen esuli von 1834 wie eine Verheißung vorkommen mussten: Sans doute ces Italiens, auxquels nous avons consacré une si longue étude, sont aujourd’hui un peuple malheureux et dégradé; mais qu’on les remette dans des circonstances ordinaires, qu’on leur laisse courir les chances que courent toutes les autres nations, alors l’on verra qu’ils n’ont pas perdu le germe des grandes choses, et qu’ils sont dignes de se mesurer encore dans cette carrière qu’ils ont parcourue deux fois avec tant de gloire. 64 Andere französische Fürsprecher halten sich im Hintergrund. So etwa Lamartine, dessen ermutigende Worte im éditorial des ersten Heftes angeführt werden: Je n’y trouve rien […] qui ne soit de nature à vous donner tous les abonnés pour lesquels la littérature italienne a de l’intérêt, et qui seront heureux en même temps de concourir à une œuvre d’hospitalité. A ce double titre, je vous prie de m’inscrire au nombre de vos premiers abonnemens. 65 Einen weiteren Baustein im ‚Puzzle‘ des Netzwerks des „Exilé“ liefert der Hinweis auf einen Mémoire sur les moyens qui peuvent conduire à l’indépendance italienne, 1833 veröffentlicht d.h. herausgegeben von Armand Carrel ohne Nennung des Autors. 66 Die Schrift, die zweifelsohne dem General Guglielmo Pepe zugeschrieben werden kann, ist Teil einer Debatte innerhalb der mazziniani, namentlich zwischen Mazzini und Pepe über die Zweckmäßigkeit eines Aufstandes im Königreich Neapel im Jahre 1833. 67 Der Herausgeber Armand Carrel (1800-1836) ist eine der schillerndsten Figuren der Restauration und der Monarchie de Juillet: zuerst bonapartiste, dann Republikaner und carbonaro, Freiheitskämpfer im Spanien der Cortes gegen die (von Chateaubriand befohlene) 63 Sismondi: Histoire des républiques italiennes du moyen âge. Nouvelle édition, Paris: Furne et Cie 1840, Bd. 10, S. 399-400. 64 Ebd., S. 400-401. 65 L’Exilé I,1 (1832), S. 20. 66 L’Exilé III,9 (1833), S. 482. 67 Vgl. Salvo Mastellone: Mazzini e la „Giovine Italia“ (1831-1834). Pisa: „Domus Mazziniana“ 1960, II, S. 39-42. Mazzini bezweifelte, daß ein solcher Aufstand im Süden Erfolg haben könnte. Er wurde aber von Pepes Schrift - Gugliemo Pepe: Mémoire sur les moyens qui peuvent conduire à l’indépendance italienne (Memoria sui mezzi che menano all’indipendenza italiana). Publié par Armand Carrel. Paris: Paulin 1833 - umgestimmt. <?page no="148"?> 146 Edoardo Costadura französische Intervention, Historiker (einige Zeit Sekretär von Augustin Thierry) und begabter Journalist (ab August 1830 Chefredakteur des „National“). 68 Sein Scharfsinn und seine mutige Aufrichtigkeit imponierten auch Chateaubriand, der ihn zu seinen Freunden zählte und ihn in den Mémoires d’outre-tombe eindrücklich porträtierte. 69 In den Jahren unmittelbar nach der Julirevolution gehörte Carrel zum konservativen oder liberalen Flügel der Republikaner. Seine Positionen jedoch, die Bonapartismus, amerikanischen Liberalismus und Sozialismus zu vereinbaren versuchen, machten ihn für die Ideen der italienischen Mazzinianer empfänglich. 70 Mit Mazzini selbst stand er in freundschaftlichem Kontakt. 71 Im Juni 1833 fand gar ein Treffen in Marseille (im Hause von Demosthène Ollivier) statt, um Absprachen im Falle eines republikanischen Aufstandes in Italien zu treffen. 72 So erklärt sich die beifällige Notiz, die im „Exilé“ die Kurzrezension von Pepes Schrift begleitet: Se a noi non fosse noto il nome dell’autore rispettabile a quanti hanno senso di gentilezza, e di patriotismo, quello di Armand Carrel, che dell’operetta s’è fatto Editore, sarebbe già il più sicuro garante del merito, e del nobile scopo di essa, come il breve avvertimento che quest’ultimo vi ha posto in fronte, è un nuovo attestato dell’affezione che più volte ha dimostrato all’Italia. 73 6 Ein europäisches Netzwerk? Wie das Haus von Cristina di Belgiojoso, nimmt auch „L’Exilé“ einen (freilich bescheideneren) Platz im Geflecht des italienischen Exils im Frankreich der Julimonarchie ein. Man darf annehmen, dass seine Direktoren Pescantini und 68 Vgl. dazu Gilles Crochemore: Armand Carrel (1800-1836). Un républicain réaliste. Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2006. 69 Vgl. Chateaubriand [Anm. 57], XXXV, 9, Bd 2, S. 508-509: „M. Carrel appartient à une famille de Rouen pieuse et royaliste: la légitimité aveugle, et qui rarement distinguait le mérite, méconnut M. Carrel. Fier et sentant sa valeur, il se réfugia dans des opinions généreuses, où l’on trouve une compensation aux sacrifices qu’on s’impose: il lui est arrivé ce qui arrive à tous les caractères aptes aux grands mouvements. […] M. Carrel n’est pas heureux: rien de plus positif que ses idées, rien de plus romanesque que sa vie. Volontaire républicain en Espagne en 1823, pris sur le champ de bataille, condamné à mort par les autorités françaises, échappé à mille dangers, l’amour se trouve mêlé aux troubles de son existence privée, etc.“; vgl. auch ebd., XLIII, 4, S. 878-887 zum frühen Tod (im Duell) von Carrel. 70 Vgl. Crochemore [Anm. 68], S. 152-165. 71 Mazzini selbst erwähnt mehrfach die Kontakte mit Carrel; vgl. Mastellone [Anm. 67], I, S. 233, II, S. 33. So beherbergt der „National“ den ersten in Frankreich publizierten Zeitungsartikel Mazzinis (Une nuit de Rimini en 1831). 72 Cavaignac hätte in Lyon einen Aufstand herbeigeführt, den Carrel von Paris aus zu unterstützen versprach; vgl. Mastellone [Anm. 67], II, S. 53-54, 87. 73 L’Exilé III,9 (1833), S. 482. <?page no="149"?> Wissensaustausch und literarische Trauerarbeit im Pariser Exil: „L’Esule - L’Exilé“ 147 Frignani, ferner einige seiner profiliertesten Mitarbeiter wie Giannone, Mamiani, Maroncelli, Orioli und Pepoli in Kontakt mit anderen italienischen Exilierten in Frankreich und außerhalb Frankreichs standen. Ein (vermutlich fiktiver) Brief Pepolis „al Ch[iarissimo] Prof. Benedetti a Stuttgard “74 legt diese Vermutung nahe. In diesem denkwürdigen Text skizziert Pepoli das Organigramm des italienischen Exils in Frankreich und Westeuropa. Pepoli geht von den Italienern aus, die in Paris tätig sind, um seinen Blick zuerst auf Frankreich und dann auf ganz Europa auszuweiten. Dabei macht er keinen Unterschied zwischen politisch Verbannten und Ausgewanderten - im Bestreben, eine möglichst vollständige Bestandaufnahme der italienischen ‚Diaspora‘ wiederzugeben. So findet als erster „il professore Libri“ Erwähnung, d.h. Guglielmo Libri (1802-1869), „scientist, patriot, scholar, journalist and thief“ - um die Formel seiner Biographen Alessandra Maccioni Ruju und Marco Mostert zu übernehmen 75 -, ein toskanischer fuoriuscito, der neben seinen verschiedenen legalen und illegalen Tätigkeiten auch als Professor der Mathematik am Collège de France gewirkt hat. 76 Sodann ein weiterer Professor (der politischen Ökonomie) am Collège de France, nämlich Pellegrino Rossi (1787-1848), der 1815 an der Seite von Joaquim Murat gekämpft und nach der Flucht mehrere Jahre in der Schweiz gelebt und gelehrt hatte. Der Historiker Francesco Orioli (Kultusminister des Governo provvisorio delle Province Unite Italiane und als solcher einer der prominenten Verbannten des Jahres 1831) wird wegen seiner Vorlesungen in der Bibliothèque Royale sowie im Hause Belgiojoso erwähnt. 77 Neben Orioli wird ein weiterer Akteur des Bologneser Aufstandes von 1831 genannt, nämlich der Graf Terenzio Mamiani della Rovere, Philosoph und Politiker, in Paris ebenfalls als Professor (der Philosophie) tätig und im übrigen Mitarbeiter des „Exilé“. Es werden weitere, mehr oder minder bekannte (und heute meist in Vergessenheit geratene) Literaten erwähnt, die die italienische Kultur und Wissenschaft in Frankreich vertreten: der Physiker Macedonio Melloni (1798-1854), 78 der Literaturhistoriker Camillo Ugoni (1784-1855), 79 ferner die Philosophen Ottavi, Passerini und Bozzelli, die Linguisten Basti und Campi, etc. Am Ende dieses 74 Pepoli: Lettera al Ch[iarissimo] Prof. Benedetti a Stuttgard [sic]. In: L’Exilé IV,11 (1834), S. 212-229 (französische Übersetzung von Gosselin). 75 Vgl. P. Alessandra Maccioni Ruju / Marco Mostert: The Life and Times of Guglielmo Libri (1802-1869), scientist, patriot, scholar, journalist and thief. A nineteenth-century story. Hilversum: Verloren Publishers 1995. 76 Pepoli [Anm. 74], S. 212. 77 Ebd., S. 214. 78 Ebenfalls ein esule von 1831. 79 Camillo Ugoni ist als Autor eines Abrisses der italienischen Literatur des 18. Jahrhunderts (Della letteratura italiana della seconda metà del secolo XVIII. Brescia: 1822) und als Biograph von Giuseppe Pecchio (Vita e scritti di Giuseppe Pecchio. Paris: Baudry 1836) bekannt. <?page no="150"?> 148 Edoardo Costadura Abrisses der italienischen Emigration in Frankreich, holt Pepoli zu einem Ausblick über die gesamte Diaspora der italienischen Emigration in Europa aus: E se potessi condurvi col pensiero anche fuori della Francia, quanti esuli italiani sparsi per le contrade dell’Europa vi farei notare, li quali sudano intorno a buoni e svariati studî. Vagliono per molti, l’Aureli che ci dà le rime commentate del Campanella; il Pecchio, la storia della poesia inglese: il Panizzi in Londra, che pubblica ottimi lavori intorno a’ nostri sommi poeti: il professore Rossetti che illustra l’antica poesia, ed arricchisce leggiadramente la nuova. Il P e Radice che in Dublino vi si affatica del pari: mentre in Bruxelles il Chitti recita e stampa sapienti lezioni di economia sociale. - Mi vengono meno le notizie, ma non verrebbero meno le cose a notare. Così se mi fosse concesso di svelare alcuni segreti, mi piacerebbe di farvi vedere in varie stanze infiniti emigrati italiani, che tuttodì studiano disperatamente nelle arti della guerra 80 o nelle civili discipline d’ogni maniera, quasi a provare che gl’italiani anche in esilio cercano a consolarsi e durano sempre nell’amore della sapienza e della gloria patria, a malgrado che n’ebbero solo frutti di calamità. Qui l’anima mia si arresta sdegnosa ed afflitta, chè il nome del Cicognara sì celebre (spento non ha guari) 81 è [sic] già tanto perseguitato; ed il nome di Pietro Giordani (testè imprigionato) 82 bastano a farmi ripetere sospirando: e quando in Italia la sapienza non sarà più sinonimo d’infelicità? 83 7 Excursus: Pepolis späte Antwort auf Leopardi Carlo Pepoli (1796-1881) ist heute als Autor des Libretto der Puritani von Bellini (1835) und mehr noch als Adressat einer Epistel Leopardis - Al Conte Carlo Pepoli (1826) 84 - bekannt. In diesem Text geht Leopardi von der Frage aus: Wie kann man das Leben ertragen, wenn man in der (freilich paradox anmutenden) unglücklichen Lage ist, für das eigene Auskommen - für den eigenen Lebensunterhalt nicht sorgen zu müssen; wenn man also der Muße (ozio), d.h. der noia, wehrlos ausgeliefert ist: 80 Anspielung auf Gugliemo Pepes bereits zitierten Mémoire sur les moyens qui peuvent conduire à l’indépendance italienne. 81 Der Maler, Kunsttheoretiker und Dichter Francesco Leopoldo Cicognara (geb. 1767 in Ferrara) war 1834 verstorben. 82 Der Literat Pietro Giordani (1774-1848) war am 28. Februar 1834 wegen „moralischer Mittäterschaft“ am Mord eines Polizeibeamten in Parma verhaftet und eingekerkert worden. 83 Pepoli [Anm. 74], S. 222-226. 84 Geschrieben im März 1826 und vorgetragen am Abend des Ostermontags desselben Jahres (27. März) im „Casino“ der „Accademia dei Felsinei“ zu Bologna und bereits im selben Jahr in die Bologneser Ausgabe der Versi aufgenommen. Vgl. dazu Giacomo Leopardi: Canti. Introduzione di Franco Gavazzeni. Note di Franco Gavazzeni e Maria Maddalena Lombardi. Milano: Rizzoli [B.U.R.] 1998, S. 351. <?page no="151"?> Wissensaustausch und literarische Trauerarbeit im Pariser Exil: „L’Esule - L’Exilé“ 149 Questo affannoso e travagliato sonno Che noi vita nomiam, come sopporti, Pepoli mio? di che speranze il core Vai sostentando? in che pensieri, in quanto O gioconde o moleste opre dispensi L’ozio che ti lasciàr gli avi remoti, Grave retaggio e faticoso? […] 85 Wenn man davon ausgehen kann, dass jegliche Tätigkeit, die keinen „degno obietto“ zum Ziel hat oder diesen verfehlt, letztlich müßig ist; wenn also sogar die Feldarbeit nichts als Muße ist und einem schlafähnlichen Zustand gleichkommt, wie schrecklich muss erst der Zustand des müßigen Adligen sein. Denn der Tag des Landarbeiters ist zumindest von der Sorge bestimmt, das Leben „am Leben zu erhalten“ („campar la vita“), wohingegen der Tag des Adligen hoffnungslos leer ist. Auch die Vergnügen der Jugend spenden dem untätigen Aristokraten keinen Trost gegen die noia (v. 69-73). Pepoli mutet Leopardi insofern wie ein wunderlicher Sonderfall an, weil er sich in jugendlicher Begeisterung der Poesie widmet, ohne am Sinn dieser Tätigkeit zu zweifeln. Er hat es vermocht, sich die kindliche Fähigkeit des immaginare - „la caduca / virtù del caro immaginare“ (v. 111-112) - zu bewahren, die notwendig ist, um zu dichten, d.h. um die Welt zu verschönern und (letztlich) zu beschönigen. Der alte oder besser gesagt früh gealterte Leopardi 86 hat hingegen jede Fähigkeit zur Selbsttäuschung verloren. Als einziger Trost ist ihm die Rührung geblieben, die in ihm der Anblick der Natur auslöst. Wenn ihm dann einmal auch dieser Trost abhanden gekommen sein wird, wird Leopardi sich dem Studium des „acerbo vero“ widmen - den letzten Gründen des Lebens und des Universums (v. 140-148). Zwei Punkte verdienen in Hinblick auf Pepolis Wirken ab 1831 Aufmerksamkeit. Zum einen die ‚Referenzlosigkeit‘ des „degno obietto“ (9-10), dem das menschliche tätige Wirken gelten sollte: weder die Poesie noch die Freiheit des Vaterlandes sind in diesem Zusammenhang genannt; was kann ein „degno obietto“ sein? Eine mögliche Antwort liefert erst der Schluss der Epistel: es ist die Kenntnis der herben („acerbo“) Wahrheit. Zum anderen die Feststellung, dass die Jugend nur für denjenigen ein schönes Geschenk des Himmels ist, der eine Heimat hat (v. 101-104). Nun hatten zum Zeitpunkt der Entstehung des Gedichts sowohl Pepoli als auch Leopardi eine Heimat, ein Zuhause. Was ihnen beiden fehlte, jedoch vermutlich auf sehr unterschiedliche Weise fehlte, war Italien als Heimat, die „patria mia“ von Leopardis canzone All’Italia (1818) - Italien als Hypothese einer Heimat. 87 Hielt Leopardi seinen Bologneser Freund 85 Leopardi: Al Conte Carlo Pepoli, v. 1-7. 86 1796 geboren, war Pepoli im Jahre 1828 zweiunddreißig, mithin zwei Jahre älter als Leopardi. 87 Vgl. dazu Mariasilvia Tatti: Esilio e identità nazionale nell’esperienza francese di Tommaseo. In: Francesco Bruni (Hg.): Niccolò Tommaseo: popolo e nazioni. Italiani, corsi, <?page no="152"?> 150 Edoardo Costadura damals, in diesem Sinne, für heimatlos? Auch diese Frage erhält keine eindeutige Antwort; da allerdings Pepoli als glücklicher Mensch charakterisiert wird, darf man annehmen, dass Leopardi in ihm das Glück der Jugend und des Beheimatet-Seins vereint sah. Leopardi selbst, der in jenen Jahren eine völlig neue Konzeption der Poesie entwickelte - in Abkehr von der immaginazione der Alten und auch von der poesia civile seiner frühen canzoni - meint hier, für sich, eine ganz andere Form der Heimatlosigkeit - nämlich eine grundsätzliche Heimatlosigkeit. Auch musste sein radikaler Nihilismus ihm die Betrachtung des risorgimentalen Anspruchs der italienischen Literatur seiner Zeit als obsolet erscheinen lassen. Oder anders gesagt: der patriotische Affekt vieler seiner Zeitgenossen - und darunter auch Pepolis - wurde durch seinen Nihilismus genauso von vornherein ‚dekonstruiert‘ wie alles andere. Dies bestätigen die Paralipomeni alla Batracomiomachia (1834), in denen der Krieg zwischen liberalen Unabhängigkeitskämpfern und reaktionären Austriacanti parodistisch als Krieg zwischen den Mäusen und den Fröschen dargestellt wird. Vor diesem Hintergrund erscheint Pepolis bereits zitierte „Lettera al chiarissimo prof. e Francesco Orioli“, veröffentlicht im siebten Heft des „Exilé“ (1833), in einem besonderen Licht. Darin erinnert Pepoli an die Ereignisse der Jahre 1831-1832 und an die gemeinsame Verhaftung und Haft mit Orioli. Nun interpretiert Pepoli die Leiden des politischen Kampfes und vor allem der Haft und der Verfolgung als identitätsstiftende Erfahrungen - als Erfahrungen, die durch das Erleben und das Erinnern identitäts- und sinnstiftend werden: Molte forti e sdegnose memorie dell’a.[nno] 1832; moltissime tenere e meste rammemoranze della nostra prigionia mi siedono immobili nella mente. Sulle prime ho qui fermo star muto. Tra le seconde havvene di assai ch’io devoto mi arreco ad onore, e ne referisco e proclamo grazie ed obbligo all’inimico. Ricordo quando egli per li mari d’Ancona, dopo che ci agguatò, assaltò, ci ebbe noi tutti 98 a prigioni, mi diede modo ad assomigliarmi, almeno nella sciagura, ed affratellarmi ad uomini per virtù di pace, e di guerra degnissimi. 88 Das Engagement für die Sache des Vaterlandes wird hier zu einem Schlüsselerlebnis stilisiert, das zu einer Art ‚Konversion‘ führt. Denn kraft dieser leidvollen und gemeinschaftlichen Erfahrung befreit sich der adlige und müßige Pepoli endlich vom sinnlosen, schlafähnlichen Zustand, den sein Freund Leopardi als Grenzfall existentieller Sinnentleerung charakterisiert hatte. Pepolis Tätigkeit im Governo delle Province Unite Italiane, dann im „Exilé“, mutet insofern wie eine späte (und indirekte) Antwort auf Leopardis Epistel an. 89 Niccolò Tommaseo, Venezia 23-25 gennaio 2003. Padova: Antenore 2004, S. 95-114, hier S. 99. 88 Pepoli [Anm. 38], S. 42-44. Vgl. dazu auch Trinchero, in Belleli [Anm. 4], S. 27-28. 89 Zu Pepolis zwei verbürgten literarischen Antworten auf Leopardis Epistel (und zu ihrer wechselvollen editorischen Geschichte) vgl. Carlo Dionisotti: Leopardi e Bologna. In: Appunti sui moderni. Bologna: Il Mulino 1988, S. 129-155, hier S. 139-142. <?page no="153"?> Wissensaustausch und literarische Trauerarbeit im Pariser Exil: „L’Esule - L’Exilé“ 151 In diesem nicht zu überbrückenden Gegensatz liegt denn auch vermutlich der Grund für das Ausbleiben einer Leopardi-Rezeption im „Exilé“. Ein Ostrazismus, der übrigens ein fernes und befremdliches Echo in Pepolis Londoner Antrittsvorlesung In the language and literature of Italy (1838) finden wird, in der jeglicher Hinweis auf den 1837 verstorbenen Leopardi fehlt. 90 8 Schlussüberlegungen Im „Exilé“ verdichtet sich also sowohl die Kommunikation im engen Kreise der Pariser fuoriusciti als auch im weiteren Kreise der in Frankreich und (womöglich) in anderen europäischen Ländern zerstreuten italienischen Verbannten. Teil dieses Netzwerkes sind auch französische Intellektuelle, die auf unterschiedliche Weise ihre italienischen confrères unterstützt haben. An sie nicht weniger als an die italienische communauté ist die Zeitschrift gerichtet. Der Antrieb, dem viele der im „Exilé“ veröffentlichten Texte gehorchen, ist zweierlei Natur: Ein an die französischen Freunde gerichteter Hilferuf ist darin ebenso zu vernehmen wie auch der Versuch, durch das Erinnern und das Erzählen (durch erinnerndes Erzählen) den traumatischen Verlust der Heimat zu verarbeiten. Viele Ansätze wären noch zu vertiefen - zum Beispiel die Rolle der Fürstin Cristina di Belgiojoso. Offen bleibt auch, inwieweit „L’Exilé“ die Rezeption der italienischen Literatur in der französischen Romantik mit beeinflusst oder gar orientiert hat. Der Fall Pellico - mit der Ausbildung einer den Positionen des „Exilé“ entgegengesetzten Lesart bei Chateaubriand und Lamennais - zeigt, dass dieser Einfluss beschränkt blieb und womöglich von anderen Trägern italienischer Kultur durchkreuzt wurde. Das Geflecht des italienischen Exils in Paris zwischen 1830 und 1848 sowie der Kommunikationsformen zwischen italienischen fuoriusciti und französischer Intelligenzija in dieser Zeit ist noch lange nicht entworren. 91 90 Vgl. ebd., S. 142. 91 Eine von Roberto Balzani (Università di Bologna) und Francis Démier (Université Paris X) geleitete Forschungsgruppe hat sich zum Ziel gesetzt, diesen Forschungsbereich aus historischer Perspektive zu erschließen. <?page no="155"?> Grazia Dolores Folliero-Metz Literatur und ‚Exil‘ bei Vittorio Alfieri, Ugo Foscolo und Friedrich Schiller 1 1 Drei Autoren, eine (gemeinsame) Struktur? Wie sich historischen Berichten, literarischen Texten und geisteswissenschaftlichen Abhandlungen entnehmen lässt, gehört das Exil - neben Themen wie Leben, Tod, Liebe, Macht und Krieg - offensichtlich zu den Grunderfahrungen der conditio humana. Landläufig versteht man unter ‚Exil‘ den zwangsweise erlittenen Verlust eines dem Individuum oder der Gruppe zugedachten orthòs tópos (‚rechter Ort‘). Die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen erweitet jedoch das Bedeutungsfeld von ‚Exil‘, indem sie diesen Terminus nicht nur auf empirische Erfahrungen bezieht, sondern ihn auch als Metapher gebraucht. 2 Will man innerhalb dieses kritisch-thematischen Horizonts, den E. Bronfen entworfen hat, Aspekte für den vorliegenden Essay aufzeigen, so kann man daran erinnern, dass bereits die klassische Antike die Strafe der politischen Verbannung kannte; der Ostrakismus war in der attischen Polis durchaus üblich. Berühmte Asylanten der lateinischen Welt waren Ovid, auf dessen Exil im Pontus die Tristia zurückgehen, und Seneca, dessen Exil auf Korsika wir zumindest den Brief Ad Helviam Matrem einschließlich des berühmten stoischen Satzes „[...] dum animum ad cognatarum rerum conspectum tendentem in sublimi semper habeam, quantum refert mea, quid calcem? “ 3 verdanken. Im vorliegenden Zusammenhang sind allerdings die von der jüdisch-christlichen Überlieferung gelieferten Koordinaten zweckdienlicher. Michelangelo Picone hat detailliert die Polyvalenz und die Historizität des Begriffs ‚Exil‘ von seinen alttestamentarischen Anfängen bis Dante aufgezeigt. 4 1 Ich danke meinem Übersetzer, Richard Brütting, für die freundschaftliche und stets kompetente Hilfe. 2 Elisabeth Bronfen: Exil in der Literatur: Zwischen Metapher und Realität. In: Arcadia 28 (1993), S. 167-183. 3 Lucius Annaeus Seneca: Ad Helviam matrem de consolatione, 8,6. In: Ders.: Die kleinen Dialoge. Bd. 2. Lateinisch-deutsch. Hg., übers. und mit einer Einführung versehen von Gerhard Fink. München: Artemis 1992, S. 300 [‚solange ich meinen Geist, der in die Nähe von Verwandtem strebt, stets in der Höhe weiß, ist es mir gleichgültig, worauf ich den Fuß setze‘, ebd., S. 301]. Zu Ovids Tristia und Epistulae ex Ponto vgl. Glauco Cambon: Ugo Foscolo. Poet of Exile. Princeton: Princeton University Press 1980, insbesonders „Introduction: The Poetry of Exile“ (S. 5-6). 4 Michelangelo Picone: „Vita Nuova“ e Tradizione Romanza. Padova: Liviana 1979; vgl. Kap. „Peregrinus Amoris: la metafora finale“ (S. 129-192). <?page no="156"?> 154 Grazia Dolores Folliero-Metz Der Metapher der Peregrinatio schreibt Picone sogar „den Wert eines Leitsymbols der gesamten mittelalterlichen Kultur“ 5 zu. In seiner Studie liefert er nützliche Informationen für die verschiedenen Phasen und unterschiedlichen Bereiche der Ausweitung des Begriffs ‚Exil‘. Hier nun eine Zusammenfassung: 1. Die alttestamentarische Entstehung des Konzepts zeigt sich im Bericht der Genesis von der Vertreibung Adams und Evas aus dem Garten Eden und von ihrem späteren Exil auf Erden. Vertreibung und Exil laden sich mit symbolischer Wertigkeit auf und werden zu Paradigmen für unterschiedliche menschliche und kulturelle Erfahrungen. Die späteren Lesarten dieses Exils der Stammeltern durch die hebräische Kultur offenbaren beispielhaft entweder eine politisch-religiöse oder eine symbolische Sicht (das Volk Israel befindet sich in der babylonischen Verbannung und strebt nach einer Rückkehr in die verlorene, ursprüngliche Heimat). Für die christliche Kultur heißt dies: In ihrem Streben nach Wiedergewinnung der ursprünglichen Reinheit von Sünde befindet sich die Menschheit auf einer Wanderschaft, auf der Suche nach dem verlorenen himmlischen Jerusalem. In der Nähe des Begriffs Exil liegt demnach der Begriff ‚Wallfahrt‘, weswegen sich die mittelalterlichen Pilger ja freiwillig auf die Reise machten, auf die Suche sei es nach Reliquien oder nach Erfahrungen, die es ihnen zumindest teilweise erlauben sollten, die fortwährenden Bedingungen im ‚Exil‘ zu lindern. Für den Menschen des Mittelalters war die Erfahrung von Exil und Wallfahrt etwas Primäres bei der Interpretation seiner Existenz, was sich notwendigerweise auch in der Dichtung manifestierte: „L’atto conclusivo della carriera esistenziale dell’uomo medievale, il ritorno alle fonti sacre della propria cristianità, è inevitabile che diventi anche l’atto propiziatore dell’esperienza poetica, quest’altro grande strumento dell’avvicinamento umano al principio divino.“ 6 Zum Schluss möchte ich zwei Stellen erwähnen, die uns möglicherweise hilfreich sein können: Julia Bolton Halloway erinnert daran, dass Alfonso el Sabio bei seiner Paraphrase von Genesis 12,1 die Pilger als diejenigen definierte, die sich aus freien Stücken von Heimat, Familie und Haus lossagen, um Gott und den Heiligen zu dienen. 7 Dieses beharrliche semantische Schwanken zwischen den verschiedenen Bedeutungen des Terminus peregrinus - einmal als Rückverweis auf das Mittelalter, zum andern als Vorverweis in Richtung Neuzeit - wird von Dante in der Vita Nuova folgendermaßen angedeutet: „[…] ché peregrini si possono intendere in due modi, in uno largo e in uno stretto: in lar- 5 Ebd., S. 130. 6 Ebd., S. 131. 7 Brunetto Latini: Il Tesoretto, edited and translated by Julia Bolton Holloway. New York & London: Garland Publishing 1981 (1937), Introduction, S. XIII. <?page no="157"?> Literatur und ‚Exil‘ bei Vittorio Alfieri, Ugo Foscolo und Friedrich Schiller 155 go, in quanto è peregrino chiunque è fuori de la sua patria; in modo stretto non s’intende peregrino se non chi va verso la casa di sa’ Iacopo o riede.“ 8 2. In der weltlichen franko-romanischen Lyrik bildet sich - in Abhängigkeit von der religiösen Wertigkeit des semantischen Felds ‚Exil-Pilgerfahrt‘ wie auch als Antithese dazu - eine neue, und zwar eine erotische Wertigkeit dieses Begriffs heraus. Wie der Schluss des Roman de la Rose bezeugt, kommt der peregrinus amoris cortesis ac naturalis voll Glücksgefühl den Impulsen seiner ‚Pilgerschaft‘ nach, bis er auf die lange gesuchten ‚Reliquien‘ stößt und schließlich einen eigenen, äußerst profanen Kult feiern kann. 9 3. Teilweise in Zusammenhang mit der erotisch-amourösen Verwendung des erwähnten semantischen Felds ergibt sich eine weitere und zentrale Umgestaltung des Konzepts: Wenn Brunetto Latini von „Donna“ spricht, meint er jedoch „Fiorenza“ („Dunqua, s’io pene pato lungiamente, / no lo mi tegno a danno, / anzi mi sforzo ognora di servire / lo bianco fioreauliso, pome aulente / che nova ciascuno anno / la gran bieltate e lo gaio avenire“). 10 Latini gibt also auch aufgrund seiner persönlichen Erfahrung als politischer Exilant diesem Begriff einen primär politischen Gehalt, der bis in die Neuzeit fortdauert, bis hin zu zeitgenössischen Autoren. Durch ihn wird die italienische Literatur um einen neuen Schlüsselreim reicher, der die schmerzlich und bitter erfahrene Einsamkeit des Verbannten bezeichnet: „[in] cammino“ reimt seit Brunetto mit „a capo chino“! 11 Als Verbannter wird gerade Dante Alighieri, der berühmteste Schüler Brunettos, die traurigsten Stellen seines Lehrmeisters wieder aufnehmen und der Rolle und Existenz des Exul Immeritus eine abschließende menschliche und poetische Dichte geben: Bei einer Lektüre des Werks Dantes kann man auch heute weder das Motiv des Exils unterschlagen („,Tu lascerai ogni cosa diletta / più caramente; e questo è quello strale / che l’arco de lo essilio pria saetta. / Tu proverai sì come sa di sale / lo pane e altrui e come è duro calle / lo scendere e ’l 8 Dante Alighieri: Vita Nuova, XL, 6. Im folgenden zitiere ich aus: Le Opere di Dante, testo critico della Società Dantesca Italiana, a c. di Mario Barbi et alii. Firenze: Nella Sede della Società 1960, hier S. 47-48. 9 „Tout mon hernois, tel com j’aport, / Se porter le puis jusq’a port / Vorrai as reliques touchier, / Se je l’an puis tant aprouchier. / Lors ai tant fait et tant erré / Atout mon bourdon defferré / K’entre les II biaus pilerez, / Com vignereus et legerez, / M’agenoillai sanz demorer, / Car mout oi grant fain d’aorer / Le biau saintuaire honorable / De cueur devost et piteable […]“. Guillaume de Lorris et Jean de Meun: Le Roman de la Rose. Éd. d’après les manuscrits BN 12786 et BN 378 par Armand Strubel. Paris: Librairie Générale française 1992, Vv. 21.587-21.598, S. 1.234. 10 „L’oggetto del desiderio di Brunetto, alluso sotto il senhal ‚fioreauliso‘, altro non è che il giglio, l’emblema araldico della città di Firenze“. Das Zitat von Brunetto und der Kommentar dazu sind entnommen aus Michelangelo Picone: Esilio e Peregrinatio: dalla „Vita Nova“ alla Canzone Montanina. In: Italianistica XXXVI, 3 (2007), S. 11-24, hier S. 17. 11 Brunetto Latini: Il Tesoretto, Vv. 186-188 [Anm. 7], S. 12, „E io in tal corrocto / pensando a capo chino, / Perdei il gran cammino“. <?page no="158"?> 156 Grazia Dolores Folliero-Metz salir per l’altrui scale‘“, 12 noch von der Erfahrung des Schreibens im Exil und von der verzehrenden, immer fesselnden Erinnerung an den loco natio absehen: „Se mai continga che il poema sacro, / al quale ha posto mano e cielo e terra, / sì che m’ha fatto per più anni macro, / vinca la crudeltà che fuor mi serra, / del bello ovile ov’io dormi’ agnello, / nimico ai lupi che li danno guerra; / con altra voce omai, con altro vello / ritornerò poeta, ed in sul fonte / del mio battesmo prenderò ’l cappello.“ 13 Deswegen erscheinen mir die verwandten Begriffe Exilium - Viator - Peregrinus als ein semantisches Feld, das reich ist an unterschiedlichen Ausformungen - abhängig von der kulturellen Entwicklung der Epoche und der Entstehung des jeweiligen Texts sowie von der buchstabengetreuen bzw. metaphorischen Anwendung eben dieser Begriffe auf unterschiedliche Kontexte. Letztlich geht es um eine Antwort auf folgende Frage: Welcher Begriff von ‚Exil‘ findet sich bei Vittorio Alfieri (1749-1803), Ugo Foscolo (1778-1827) und Friedrich Schiller (1759-1805), drei kulturell in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verankerten Autoren, und wie ist dieser Begriff mit ihrer literarischen Produktion verbunden? Den erwähnten Autoren sind folgende, in sich gegliederte Elemente gemeinsam, die eine theoretische Struktur bilden: - Rousseau ist der gemeinsame Ausgangspunkt für die Entfaltung der eigenen Überlegungen; 14 - ‚Exil‘, verstanden in einem vielgestaltigen Sinn (politisch, literarisch und metaphorisch), ist eine fundamentale Erfahrung ihres Lebens und Voraussetzung für die nachfolgende literarische Praxis; - ihre Haupttätigkeit ist allerdings literarischer Art, zwar nahe und angeregt von der Politik, jedoch nie reine Politik. 12 Dante Alighieri: Divina Commedia, Paradiso, 17, Vv. 55-60 [Anm. 8], S. 739. 13 Ebd., Paradiso, 25, Vv. 1-9, S. 766. 14 Die Meinung ist darum unbrauchbar, man könne die präromantische bzw. romantische Epoche verstehen ohne eine Berücksichtigung des Werks Rousseaus, seiner harschen Kritik an der Aufklärung und ohne die aufkommende sensibilité des Einzelmenschen als konstitutives Element der neuen, auf dem Gefühl der Freiheit gegründeten Kultur, von der Literatur bis zum Gartenbau. Diese Rolle Rousseaus als Vordenker einer ganzen Epoche bleibt unangetastet von den zwischenmenschlichen Schwierigkeiten mit seinen ‚Literatur- Kollegen‘. Vgl. diesbezüglich Alfieri aus dem Jahre 1771 über Rousseau: „In questo mio secondo soggiorno in Parigi avrei facilmente potuto vedere ed anche trattare il celebre Gian Giacomo Rousseau, per mezzo d’un italiano mio conoscente […]. Quest’italiano mi ci volea assolutamente introdurre, entrandomi mallevadore che ci saremmo scambievolmente piaciuti l’uno l’altro, Rousseau ed io. Ancorché io avessi infinita stima del Rousseau più assai per il suo carattere puro ed intero e per la di lui sublime ed indipendente condotta, che non pe’ suoi libri, di cui que’ pochi che avea potuti pur leggere mi avevano piuttosto tediato come figli di affettazione e di stento […] con tutto ciò […] non mi volli piegar mai a quella dubbia presentazione ad un uomo superbo e bisbetico […].“ Vittorio Alfieri: Vita scritta da esso, edizione critica della stesura definitiva a c. di Luigi Fassó. Asti: Casa d’Alfieri 1951, S. 124. <?page no="159"?> Literatur und ‚Exil‘ bei Vittorio Alfieri, Ugo Foscolo und Friedrich Schiller 157 Ich werde nun darlegen: 1. was jeweils Alfieri, Foscolo und Schiller unter ‚Exil‘ verstehen; 2. wie sich ihre Gesellschaftskritik im Einzelnen artikuliert; 3. welche Aufgaben sie jeweils den Literaten im Besonderen und der Literatur im Allgemeinen zuerkannten. Im Schlussteil möchte ich zeigen, dass den drei Autoren offensichtlich eine Auffassung von Literatur gemeinsam ist: Für sie ist Literatur keine elitäre Tändelei oder individuelle hedonistische Evasion, sondern ein kraftvolles Engagement und ein Eingriff in die gesellschaftlichen Verhältnisse. 2 Drei unterschiedliche Erfahrungen von ‚Exil‘ 2.1 Alfieri Graf Vittorio Alfieri, der wirtschaftlich am besten situierte Autor der italienischen Literatur insgesamt, ist uns durch seine Autobiographie bekannt. In ihr vertraut er uns die präromantischen Kerngedanken eines menschlich und künstlerisch ungewöhnlichen Temperaments an. Ähnlich wie für andere Autoren seines Jahrhunderts ist das ‚Herz‘ für ihn die Quelle unmittelbarer Intuition und authentischer menschlicher Realität: Genügen soll Goethes Satz in der Iphigenie von der Empfänglichkeit für die Stimme der Wahrheit und Menschlichkeit: „Es hört sie jeder, / Geboren unter jedem Himmel, dem / Des Lebens Quelle durch den Busen rein / Und ungehindert fließt.“ 15 Bei Alfieri nimmt diese ‚innere Stimme des Herzens‘ allerdings eine eigene, unverwechselbare Gestalt an: Sie erhält den Namen und die Konnotationen der „[...] altezza d’animo che è sì necessaria al fortemente pensare, al fortemente sentire, ed al dir fortemente [...]“ 16 . In vollkommenem Kontrast zur Sehnsucht des Herzens stand das Ancien Régime, wie Alfieri es aus der empirischen Wirklichkeit kannte: es war der Feind nicht nur jeder politischen Freiheit, sondern auch jeden literarischen Versuchs, die Gewissen der Zeitgenossen in Richtung einer größeren Urteils- Spontaneität zu bewegen. Für den despotisch regierenden Souverän war jeder frei denkende Kopf eine Gefahr. Denn eine tiefere politische Veränderung kann ja nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel entstehen; vielmehr ist sie die Frucht der Vorbereitungen durch eine ganze Schicht von Intellektuellen, die bereit ist, autonom zu denken! Und wie wir aus den verschiedenen Abschnitten seiner Autobiographie ersehen können, gelang es Alfieri, sich fortschreitend von zahlreichen Arten von Zwängen zu befreien, zuerst von äußeren und dann von inne- 15 Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris, V, iii, vv. 1939-1942, in Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 5, Dramatische Dichtungen III, textkritisch durchgesehen von Lieselotte Blumenthal und Eberhard Haufe, S. 60. 16 Vittorio Alfieri: Del Principe e delle lettere, III, II. In: Opere di Vittorio Alfieri d’Asti, III, Scritti politici e morali, a c. di Pietro Cazzani. Asti: Casa d’Alfieri 1951, S. 201. <?page no="160"?> 158 Grazia Dolores Folliero-Metz ren: Insbesondere gelang ihm eine politische Befreiung, weswegen er sich ‚entpiemontesierte‘ (si spiemontizzò). Er verschaffte sich nämlich Sicherheit, indem er seine geerbten Güter an die Schwester abtrat, wofür er im Austausch eine für ein sorgenfreies Leben ausreichende Jahresrente erhielt. Somit konnte er dann für immer seinen, von einer absolutistischen, engstirnigen Monarchie regierten Geburtsstaat, das Piemont, verlassen, in dessen Schatten er nie eine Tätigkeit als freier Literat hätte ausüben können. 17 Nachdem er sich zunächst der äußeren wirtschaftlichen und politischen Zwänge entledigt hatte, machte Alfieri zahlreiche Reisen durch Italien und ganz Europa, wovon er uns mit schneller Hand verfasste Entwürfe hinterließ (bekannt sind die negativen Urteile über Friedrich II. von Preußen und Katharina die Große von Russland, positive dagegen über das Leben in Großbritannien). Diesem Temperament, das autonom zu einem italienischen Sturm und Drang strebte, gelang dann auch die Befreiung von verschiedenen inneren Banden: Berühmt sind seine Bemühungen, sich im reifen Alter wieder ans Studieren zu machen, nachdem er die Jugend im Müßiggang vergeudet hatte. So ließ sich Alfieri von seinem Diener an einen Stuhl binden, um sich zum Sitzen am Schreibtisch zu zwingen; petit à petit erwarb er ein Wissen von Gegenständen, das ihm dann bei seiner Theaterproduktion dienlich sein konnte. Die letzte Befreiung bestand darin, sich zu Gunsten einer würdigen Liebe, die ihn während der letzten literarisch produktiven Jahre begleiten sollte, von der so genannten unwürdigen Liebe (amore indegno) frei zu machen, die ihn in den Gewohnheiten eines Lebens voll Müßiggang festhielt. Fazit: Im Falle von Alfieri kann man nicht von einem zwangsweise erlittenen Exil sprechen, wie dies auf Brunetto Latini und Dante Alighieri zutraf, sondern von einem freiwilligen Sich-Verbannen weg vom heimischen Umfeld, um jene Freiheit von der Zensur zu erreichen, die zum unabhängigen Schreiben und Publizieren nötig ist. An zweiter Stelle machten ihn der Gewinn wirtschaftlicher und politischer Freiheit sowie seine geistige Reife zum Urbeispiel jenes europäischen Intellektuellen, den er zu etablieren wünschte: des Literaten mit einem sozio-politischen Wirkkreis, der, ausgestattet mit internationalem Prestige, die Gewissensbildung der unmittelbar auf ihn folgenden Generationen zu beeinflussen sucht. 18 Wie De Sanctis notierte, verstand Italien sogleich sein Anliegen: 17 „[…] chiarissima cosa è che, alto animo, libere circostanze, forte sentire, ed acuto ingegno sono i quattro ingredienti che compongono il sublime scrittore; ma non mai la mediocrità innestata su la protezione.“ Alfieri: Del Principe e delle lettere, III, II [Anm. 16], S. 202. 18 Vgl. ebd., S. 169-170: „Se dunque il letterato, […] osa pur concepire il sublime disegno di voler da sé solo persuadere gli uomini, rettificare i loro pensieri, illuminarli, difenderli, dilettarli, convincerli, […] chiara cosa è ch’egli dovrà aggiungere al molto ingegno naturale, […] non solamente la stima del proprio ingegno, ma […] della virtuosa e libera sua vita […] Che se egli non si reputa e conosce per tale, come ardirà lo scrittor insegnar la virtù che non ha praticata? “ <?page no="161"?> Literatur und ‚Exil‘ bei Vittorio Alfieri, Ugo Foscolo und Friedrich Schiller 159 Gli effetti della tragedia alfierana furono corrispondenti alle sue intenzioni. Essa infiammò il sentimento politico e patriottico, accellerò la formazione di una coscienza nazionale, ristabilì la serietà di un mondo interiore nella vita e nell’arte. I suoi epigrammi, le sue sentenze, i suoi motti, le sue tirate divennero proverbiali, fecero parte della pubblica educazione. 19 2.2 Foscolo Anders liegt der Fall bei Foscolo. Cambon nannte ihn zwar geradezu den „poeta dei tre esili“ bzw. den „Byron in reverse, starting his existential itinerary from the Greek island of Zante [...] to pursue it through a progression of exiles which was to end it with his death at Turnham Green near London in 1827“, 20 da er zunächst seine Heimat Griechenland, dann das vertraute Vaterland Venedig und schließlich Italien selbst verlor. Ich möchte jedoch die Aufmerksamkeit allein auf das letzte Exil richten, das gleich dem von Alfieri freiwillig und ebenso endgültig, ja lebenslang war. Die Entscheidung, keinen Treueid auf die österreichische Regierung zu schwören, um - im Unterschied zu Vincenzo Monti - menschliche Würde und literarische Freiheit zu bewahren, verurteilte ihn praktisch zu späterer Einsamkeit und Armut in England, wo er im Jahre 1827 in Turnham Green bei London starb. Nach Turnham Green war Foscolo freilich nur schrittweise gelangt: Ugo Foscolo wurde am 6. Februar 1778 als Sohn eines venezianischen Arztes und seiner griechischen Frau auf Zante, einem ionischen Inselchen, geboren. Sein Schulbesuch begann somit auf Zante, wo der Vater praktizierte, aber schon in seinen frühesten Jahren erfolgte sein erstes (und noch nicht bewusstes) Exil, als sein Vater nach Split, zu dieser Zeit eine venezianische Kolonie, versetzt wurde: „[His first exile] took place in 1784 when his father left Zante for Spalato.“ 21 Erst nach dem Tode des Vaters im Jahre 1792 kehrte Foscolo nach Venedig zurück. Von diesem Augenblick an ist sein Leben gekennzeichnet von einer intimen Verschmelzung persönlicher Ereignisse (vor allem von Liebesbeziehungen) mit politisch-militärischen Aktivitäten und mit Literatur, und zwar in der turbulenten napoleonischen Epoche und in einer Region (in Mittel- und Norditalien), die durch den dauernden Wechsel politischer Regime charakterisiert war. 22 Tief enttäuscht von Napoleon, verlässt Foscolo nach dem Frieden von Campo- 19 Francesco de Sanctis: Storia della letteratura italiana. In: Opere, a c. di Natalino Sapegno. Milano / Napoli 1961, S. 795/ 803. 20 Cambon: Ugo Foscolo [Anm. 3], S. 11-13. 21 Ebd. 22 Ich stimme Walter Binni: Ugo Foscolo, Storia e Poesia. Torino: Einaudi 1982, S. 20 zu, wenn er bemerkt: „[...] si rafforza l’esigenza di una interpretazione intera dell’opera foscoliana, ma nel suo sviluppo e nell’attrito con la storia mutevole e drammatica del suo tempo [...]. Tale interpretazione si potrà realizzare solo in una nuova monografia che intrecci continuamente le vicende personali, la storia, la problematica del politico, dell’intellettuale, dello scrittore, la sua poetica in movimento, nelle varie angolature dei suoi interventi storico-poetici.“ <?page no="162"?> 160 Grazia Dolores Folliero-Metz formio endgültig Venedig, um den Razzien Österreichs zu entgehen. Er bleibt aber als Berufssoldat im Dienste Napoleons, den er als das kleinere Übel für das damalige Italien ansieht: „His second exile left him to his own devices in Napoleon-dominated Lombardy, not a culturally foreign country, of course, but still a new land in every way.“ 23 Ein zweites Venedig findet Foscolo in Milano, zu jener Zeit eine napoleonische Hauptstadt, wo er sich seit 1802, dem Veröffentlichungsjahr der Ultime Lettere di Jacopo Ortis, eines wachsenden Ruhmes erfreut. Nach einer Periode beharrlicher poetisch-literarischer Tätigkeit, bei der die Abfassung politischer Pamphlete mit militärischen Missionen abwechselt, verlässt Foscolo 1812-1813 Mailand, um den Intrigen neidischer Literaten zu entgehen. Er genießt eine glückliche Schaffenspause in Florenz, wo er inmitten eines Kreises adeliger Freunde in der Villa Bellosguardo logiert. Nach seiner Rückkehr nach Mailand im Jahre 1815 macht er voller Hoffnung, zur Entstehung des ersehnten Regno indipendente d’Italia beitragen zu können, Propaganda gegen das napoleonische Regime. Aber auch dieser Gedanke erweist sich als Schimäre: Sobald die Österreicher nach Mailand zurückkommen (nach der Flucht Napoleons von der Insel Elba), flieht Foscolo nach England, anstatt die Lehre an der Universität Pavia wieder aufzunehmen. Hierbei wäre er ja durch einen Treueid an Österreich gebunden worden. Nach England, dem Ort seines dritten und endgültigen Exils, war er über die Schweiz gelangt, wo er seine letzte politische Schrift Discorsi della servitù dell’Italia (1815) publiziert hatte. 24 Cambon merkt zurecht an: „All of this helps us to appreciate what it must have meant for our Greco-Venetian refugee to face a third exile when the Empire fell in 1815 and once again he had to leave a whole world behind.“ 25 Le ultime lettere di Jacopo Ortis stellen jenes Werk dar, das Foscolo in einem weiten Bogen und in mehreren Entwürfen von Jugend an begleitet hatte. Aus diesem Grunde ist eine Hinwendung zu diesem Text erforderlich, um darin jenseits der Maske des Kunstwerks den Kern von Foscolos Lebensgefühl zu erfassen. 26 Genau dieses Vorgehen gestattet und unterstützt Foscolo übrigens 23 Cambon: Ugo Foscolo [Anm. 3], S. 12. Vgl. dazu aber auch Carlo Dionisotti: Appunti sui moderni. Foscolo, Leopardi, Manzoni e altri. Bologna: Il Mulino 1988, S. 52. 24 Vgl. Dionisotti: Appunti sui moderni, ebd., S. 55-77. 25 Cambon: Ugo Foscolo [Anm. 3], S. 12-13. 26 Der ersten Ausgabe von 1802 folgten die Zürcher Ausgabe von 1816 und die endgültige Ausgabe London 1817. Das Buch wuchs daher jahrelang und begleitete gewissermaßen seinen Autor. Franca Janowski (Italienische Literaturgeschichte. Hg. von Volker Kapp. Stuttgart: Metzler 1992, S. 254-255) bemerkt treffend: „Die Tatsache, daß der Dichter das Bedürfnis hatte, sich in verschiedenen Lebensphasen mit diesem Roman zu beschäftigen, bestätigt die Meinung des Literaten und Freundes von Foscolo, Melchiorre Cesarotti, daß der Ortis ‚ein Stück seiner Seele‘ darstelle. [...] ‚Über deinen Ortis möchte ich nicht sprechen. Er ruft in mir Mitleid, Bewunderung und Abscheu hervor. Dieses Werk ist […] von einer tödlichen Erhabenheit und einer verderblichen Vorzüglichkeit. Ich sehe leider, daß es das Werk deines Herzens ist‘“. Vgl. dazu Ugo Foscolo: Ultime Lettere di Jacopo Ortis, <?page no="163"?> Literatur und ‚Exil‘ bei Vittorio Alfieri, Ugo Foscolo und Friedrich Schiller 161 selbst in seinem Brief aus Mailand, betreffend die Personen des Ortis, an Jakob Salomon Bartholdy (29. September 1808), wenngleich die erwähnten Erinnerungen für den im Ausland lebenden Wissenschaftler überarbeitet sein können: Teresa, Odoardo, Isabellina, suo padre, Michele e mia madre erano caratteri vivi e destavano in me gli affetti assegnati al mio protagonista - alcune lettere d’amore sono stampate quale io le aveva scritte e inviate - le descrizioni campestri sono tratte dal vero; solo vi sono mutati i nomi delle persone e dei luoghi. Lauretta è carattere storico, ma fantasticamente alterato […]. 27 Schon vom Titel her ist Rousseau an erster Stelle präsent, da Jacopo ja die italienische Übersetzung des Vornamens von Rousseau sein soll: Gian Giacomo, oder eben Jacopo. Dann existiert Jacopo (auf rousseausche Weise) im Leben, in der Liebe und der Politik, indem er seinem sentiment du cœur folgt, nämlich dem ungeschriebenen Gesetz des Herzens, dem unfehlbaren Führer bei der Suche nach dem, was wahr und rein geblieben ist - ungeachtet der vielfältigen Verderbnisse und Mystifikationen der herrschenden Kultur. Diese Stimme des Herzens führt Foscolo (und Jacopo Ortis) entlang der Windungen und Tragödien der jeweiligen Existenz; sie diktiert die gesellschaftlichen Niederlagen, die paradoxerweise ebenso Siege im Reich der Ideen sind. 28 Und dies klingt, um noch Edizione Nazionale delle Opere, edizione critica a c. di Giovanni Gambarin, tomo IV. Firenze: Le Monnier 1970, S. 535. Der junge Foscolo hatte nämlich Cesarotti ein Exemplar des neugedruckten Buches mit den folgenden Worten zukommen lassen: „Posso dire di averlo scritto col mio sangue: ‚tu ergo ut mea viscera suscipe‘. Da quello conoscerai le mie opinioni, i miei casi, le mie virtù, le mie passioni, i miei vizi, e la mia fisionomia“ (ebd., S. XLI). 27 Vgl. Gambarin in Foscolo: Opere, IV, ebd., S. 14. Genauso wie Jacopo Ortis Teresa um ihr Porträt bittet, taucht das Thema des Porträts der Geliebten auch in Foscolos Privatkorrespondenz auf, z.B. zuerst in einem Brief von 1801 an Isabella Roncioni in Firenze: „Fammi avere in qualunque tempo, in qualunque luogo il tuo ritratto. Se un sentimento di amicizia e di compassione ti parlano per questo sventurato […] non mi negare il piacere che compenserebbe tutti i miei dolori.“ Ugo Foscolo: Opere, tomo II, Scritti Storico- Politici, Scritti Letterari, Lettere, a c. di Franco Gavazzeni. Milano / Napoli: Ricciardi 1981, S. 1953; weiterhin in einem Brief von 1802 an Antonietta Fagnani Arese, in dem geradzu von einem Austausch der Porträts die Rede ist (ebd., S. 1989). Grundlegend ist auch Foscolos Bekenntnis an Fagnani Arese: „Io ti ringrazio, celeste creatura delle sensazioni che tu mi fai provare; le raccolgo nel mio cuore come cose preziose; un giorno mi saranno compagne nella solitudine […] io scriveró con la fantasia tutta piena di questi giorni beati ch’io vivo con te; e tutte le mie idee e le mie parole avranno quella verità e quel calore che si cerca invano studiando, e che non si trova se non dopo aver sentite le passioni“ (ebd., S. 1966-1967). 28 Foscolos bewusste Position auf Seiten des rousseauschen Menschenbildes tritt schon im Vorwort des (fiktiven) Herausgebers der Briefe hervor: „E tu, o Lettore, […] darai, spero, la tua compassione al giovane infelice dal quale potrai forse trarre esempio e conforto“ (Foscolo: Ortis, Opere, IV [Anm. 26], S. 293). Denn Rousseau hatte schon im Vorwort zum II. Discours bemerkt, in der menschlichen Seele walte ein Ur-Prinzip, nämlich „une <?page no="164"?> 162 Grazia Dolores Folliero-Metz einmal Worte Goethes zu gebrauchen, folgendermaßen: „[...] dies Herz ist doch mein einziger Stolz, ist ganz allein die Quelle von allem, aller Kraft, aller Seligkeit und alles Elendes. Ach, was ich weiß, kann jeder wissen - mein Herz habe ich allein.“ 29 Fazit: Von den drei Exilen Foscolos ist das erste privater Natur und sozusagen zufällig; das zweite schon dramatischer, da die endgültige Abreise Foscolos aus Venedig im Untergang der Serenissima Repubblica di Venezia, die in den Händen Napoleons zu einer mit Österreich zu tauschenden Spielfigur wurde, begründet war. Am meisten soll uns hier aber das dritte und definitive Exil interessieren: Es fällt mit der reifen Entscheidung des Dichters zusammen, sich durch keinen Treueid einer politischen Regierung zu beugen, die er für den größten Feind der politischen Autonomie Italiens hielt, und demzufolge als Feind auch jener Autoren und jener Werke ansah, die ernsthaft die Sache der italienischen Freiheit verfolgten. An dieser Stelle möchte ich zusammen mit répugnance naturelle à voir périr ou souffrir tout être sensible, et principalement nos semblables.“ Jean Jacques Rousseau: Œuvres, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, t. I. Paris: Chez Thomine et Fortic 1823, S. 227. Für das Prinzip der inneren Bestimmung des Menschen zur Reinheit und Moralität ist Rousseaus erster Discours grundlegend: „‚Dieu tout-puissant, toi qui tiens dans tes mains les esprits, délivre-nous des lumières et des funestes arts des nos pères; et rends-nous l’ignorance, l’innocence et la pauvreté, les seuls biens qui puissent faire notre bonheur, et qui soient précieux devant toi‘ […]. O vertu, science sublime des âmes simples, faut-il donc tant de peines et d’appareil pour te connoître? Tes principes ne sont-ils pas gravés dans tous les cœurs? et ne suffit-il pas, pour apprendre tes lois, de rentrer en soi-même, et d’écouter la voix de sa conscience dans le silence des passions? “ Rousseau: Œuvres, Discours sur cette question Si le rétablissement des Sciences et des Arts a contribué à épurer les moeurs. In: ebd., t. I, S. 44-47. Zum Unterschied zwischen Herz und Verstand (cœur / raison), der sich wie ein roter Faden durch Rousseaus Werk zieht, möchte ich bemerken, dass seine Anwendung bis in die Sprache reicht: „A mesure que les besoins croissent, que les affaires s’embrouillent, que les lumières s’étendent, le langage change de caractère; il devient plus juste et moins passionné; il substitue aux sentiments les idées; il ne parle plus au cœur, mais à la raison. Par-là même l’accent s’éteint, l’articulation s’étend; la langue devient plus exacte, plus claire, mais plus traînante, plus sourde, et plus froide. Ce progrès me paraît tout-à-fait naturel.“ Rousseau: Œuvres, Essai sur l’origine des Langues, où il est parlé de la Melodie, et de l’Imitation musicale, t. XVI. Paris: Chez Thomine et Fortic 1823, S. 182. 29 Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther, II, 9. Mai 1772. In: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 6, Romane und Novellen I, textkritisch durchgesehen von Erich Trunz, S. 74. Das gesamte 18. Jahrhundert kannte die Stimme und die Gründe des Herzens: „The heart, Clary is what I want“ (Samuel Richardson: Clarissa, Or the History of a Young Lady, Letter 18, ed. by Angus Ross. London: Penguin Books 2004, S. 103), und sei es auch nur, um darüber zu witzeln; vgl. den Briefwechsel zwischen dem Viconte de Valmont und der Marquise de Merteuil in Les Liaisons dangereuses des Pierre Ambroise Choderlos de Laclos. <?page no="165"?> Literatur und ‚Exil‘ bei Vittorio Alfieri, Ugo Foscolo und Friedrich Schiller 163 Walter Binni an Carlo Cattaneo erinnern: „[E cosí Ugo Foscolo] diede all’Italia un’istituzione: l’esilio.“ 30 2.3 Schiller Noch einmal anders liegt der Fall bei Schiller: Sicher kann man nicht genug die Dramatik der jugendlichen Entscheidung Schillers betonen, der nach dem Erfolg der Räuber nächtens zu Pferd gemeinsam mit einem Freund aus dem heimatlichen Württemberg floh, das paternalistisch und zugleich despotisch von Herzog Carl Eugen von Württemberg regiert wurde. Trotz einer theatralischen Inszenierung mit nutzlosen, ungeladenen Pistolen war diese Entscheidung für Schiller unabwendbar geworden: Er befand sich nämlich in einer Zwangslage zwischen einerseits zunehmenden Verboten, einer Verhaftung und einem Schreiben, in dem der Herzog ihm persönlich auferlegte, sein künftiges Handeln auf die Pflichten eines Regimentsarztes zu beschränken (und den mit den Räubern eingeschlagenen Weg zu verlassen) - und andererseits dem drängenden Bedürfnis zu schreiben. Eine Spur dieses inneren Dilemmas enthält der Brief, den er am Tage nach seiner Flucht an Herzog Carl Eugen schrieb und dessen Entwurf in Marbach aufbewahrt ist: Durchlauchtigster Herzog, Gnädigster Herzog und Herr, Das Unglück eines Unterthanen und eines Sohns kann dem Fürsten und Vater niemals gleichgültig seyn. Ich habe einen schröcklichen Weg gefunden, das Herz meines gnädigsten Herrn zu rühren, da mir die natürlichen bei schwerer Ahndung untersagt worden sind. Höchstdieselbe haben mir auf das strengste verboten literarische Schriften herauszugeben, noch weniger mich mit Ausländern [sic! ] einzulaßen. Ich habe mir geschmeichelt E.H.D. Gründe von Gewicht dagegen vorbringen zu können, und die gnädigste Erlaubnis erbeten, Höchstdenenselben meine unterthänigste Bitte in einem Schreiben vortragen zu dörfen. Da mir diese Bitte bei Androhung des Arrests verwaigert ward, meine Umstände aber eine gnädigste Milderung des mir gemachten Verbots höchst nothwendig machten, so zwang mich die Verzweiflung, den izigen Weeg zu ergreifen. 31 30 Binni: Ugo Foscolo [Anm. 22], S. 228. 31 Friedrich Pfäfflin (in Zusammenarbeit mit Eva Dambacher): Schiller. Ständige Ausstellung des Schiller-Nationalmuseums und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar, Marbacher Kataloge Nr. 32. Stuttgart: Klett 1980, S. 64s. Vgl. auch ebd., S. 60: „Die Flucht des Regimentarztes Schiller aus Württemberg war eine Flucht ins literarische Leben. Das Aufgeben des Brotberufs zugunsten des ‚Dichterberufs‘ hatte sich seit langem vorbereitet. Die bereits erprobte und schließlich in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1782 endgültig vollzogene Entfernung von seinem Regiment erscheint als unausweichliche Konsequenz einer zunächst beiläufig und aus finanziellen Gründen geforderten, dann zunehmend entschiedener betriebenen literarischen Aktivität, die dem gerade 22jährigen ihre frühe Bestätigung mit dem völlig unerwarteten Erfolg der Räuber <?page no="166"?> 164 Grazia Dolores Folliero-Metz Den jahrelang unter einem wachsenden Schuldenberg leidenden Schiller verdammte diese Wahl dazu, durch ganz Deutschland zu reisen (von Mannheim über Thüringen nach Leipzig, Dresden, Jena, dann über Schwaben letztlich nach Weimar, wo er in relativem Wohlstand lebte) sowie seine Herkunfts-Familie für viele Jahre nicht zu sehen. Er war umhergetrieben von der Furcht vor der herzoglichen Polizei, der es nämlich 1777 mit Tücke gelang, den Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart, eine persona non grata in den Augen des Herzogs, jenseits der württembergischen Grenze festzunehmen. Selbst wenn man unterscheiden wollte zwischen den härteren Exilen der nicht nur ihrer Heimat, sondern auch ihrer Muttersprache beraubten Schriftsteller und dem leichteren Exil Schillers, der sich beständig im Umkreis der eigenen sprachlich-literarischen Kulturgemeinschaft bewegte, so sollte man vielleicht doch an den bitteren Ausspruch Lessings erinnern, dass „wir Deutsche noch keine Nation sind“, weswegen ein Sachse sich in Preußen im Exil fühle und umgekehrt. 32 auf der Mannheimer Bühne brachte. Auf Mannheim und die Unterstützung durch den dortigen Theaterintendanten von Dalberg richteten sich deshalb auch alle Hoffnungen, nachdem eine Denunziation wegen einer nebensächlichen Bemerkung in den Räubern zum offenen Konflikt mit dem Herzog geführt hatte. Das Graubündner Land war als das ‚Athen der heutigen Gauner‘ bezeichnet worden. Der dem Herzog hinterbrachte publizistische Protest eines Graubündners gegen den anonymen ‚auswärtigen Comödienschreiber‘ führte zum Schreibverbot und zur Arrestierung des Delinquenten zwischen dem 28. Juni und dem 11. Juli 1782 auf der Stuttgarter Wache. Schon vorher hatte der Herzog die Eröffnung einer privaten Praxis untersagt“. 32 Zu Lessing vgl. Hamburgische Dramaturgie, 101.-104. Stück. 19. April 1768. Zum Verlust der eigenen Sprache im Exil vgl. Alfieri im Jahre 1787: „Io mi sentiva veramente necessità di conversare su l’arte, di parlare italiano, e di cose italiane; tutte privazioni che da due anni mi si faceano sentire non poco; e ciò con assai grande mio scapito, nell’arte principalmente del verseggiare. E certo, se questi famosi uomini francesi, come Voltaire e Rousseau, avessero dovuto gran parte della loro vita andarsene erranti in diversi paesi in cui la loro lingua fosse stata ignota o negletta, e non avessero neppur trovato con chi parlarla, essi non avrebbero forse avuto la imperturbabilità e la tenace costanza di scrivere per semplice amore dell’arte e per mero sfogo, come faceva io, ed ho fatto poi per tanti anni consecutivi, costretto dalle circostanze di vivere e conversare sempre con barbari; che tale si può francamente denominare tutta l’Europa da noi, quanto alla letteratura italiana […].“ In: Alfieri: Vita [Anm. 14], S. 273s. Für Schiller (und seine Familie) führte die Desertion von 1782 aus dem herzoglichen Regiment zu einer Reihe von Problemen, die immer noch auf Herzog Carl Eugen zurückgingen [sic! ] und bis zu seinem Tode im Oktober 1793 andauerten: „Die Freie Reichsstadt Heilbronn, die außerhalb der herzoglich württembergischen Befehlsgewalt lag, wurde wegen der Unsicherheit über die Reaktion Carl Eugens gegen seinen desertierten Regimentsmedicus zum vorläufigen Aufenthalt genommen. Doch der Herzog ignorierte Schiller, und nach einem Monat ging die kleine Reisegesellschaft, erweitert durch Schillers Schwester Luise und durch Caroline und Ulrike von Beulwitz, nach Ludwigsburg, wo man sich bis Mitte März 1794 einquartierte“. In: Pfäfflin: Schiller [Anm. 31], S. 122. Vgl. auch ebd., S. 68, 71, 76, 116. <?page no="167"?> Literatur und ‚Exil‘ bei Vittorio Alfieri, Ugo Foscolo und Friedrich Schiller 165 Fazit: Wenngleich man bei Schiller nicht von einem Exil sprechen kann, das ihm von einer feindlichen Gruppierung auferlegt wurde, sondern nur von einer Art erzwungener Wahl infolge der erlittenen Inhaftierung und dem Handschreiben des Herzogs, so kann man doch nicht leugnen, dass die Betätigung als freier Literat aufs Engste mit dem freiwilligen Verlassen des Geburtslands verbunden war, was die späteren menschlichen und sozialen Schwierigkeiten wiederum als einen Verlust kennzeichnet. Unterschiedlich waren also die einzelnen biographischen Umstände Alfieris, Foscolos und Schillers, gemeinsam jedoch die eine Notwendigkeit, den Fängen der sowohl literarischen wie politischen Zensur der damaligen Zeit zu entfliehen! Aber Zensur, Politik und Literatur sind nicht, wie Naturkatastrophen, unausweichliche Gegebenheiten, sondern haben ihren Ursprung in Individuen, die sie hervorbringen, sie erstarren lassen und tolerieren. Wenn man also genau hinschaut, so lehnten sich unsere drei Autoren gegen historische Subjekte auf oder waren auf der Flucht vor sozialen Strukturen, die den Erhalt des status quo der Unfreiheit erlauben. Gegen wen richtete sich also ihre humane, soziale und kulturelle Kritik? 3 Drei unterschiedliche Gesellschaftskritiken Aus den überaus scharfen Invektiven Rousseaus gegen die verkommenen Sitten der Gesellschaft und die durch sie bedingten Verhaltensweisen, aus seinen Aufrufen zur Tugend sowie aus dem übrigen Werk des Genfer Autors ziehen alle drei Schriftsteller Anregungen für die eigene Kritik an gesellschaftlichen Elementen, die vom ‚wahren‘ Menschen als schmerzhaft erfahren werden. Die Zielsetzung Alfieris kann zusammengefasst werden in der Triade: Tyrannen als Herrscher, käufliche Literaten und entkräftetes Publikum. Im 1. Buch seiner Abhandlung Del Principe e delle Lettere, die parallel zu einer Schaffensperiode erhabenster Dichtung verfasst wurde, präsentiert uns Alfieri die absoluten Herrscher insgesamt und unausweichlich als Tyrannen (und einige europäische Monarchen dieser Epoche rechtfertigten wahrlich diese sprachliche Gleichsetzung und das grundlegende Vorwort dieser Abhandlung). Aus der ebenso unausweichlichen Bestimmung der Literatur, mit dem wahren Menschen zu kommunizieren und dessen freiheitliche Triebe wachzurütteln, ergibt sich (zweite Schlussfolgerung Alfieris), dass alle Tyrannen die wahre Literatur fürchten und sie deswegen hassen. Um aber den Schein zu wahren, umgäben sie sich mit bekannten Literaten, die, durch Titel und Ehrbezeigungen zum Schweigen gebracht, diejenigen lobten, die sie bloßstellen müssten, und die das Publikum mit einem Schwall köstlicher und berauschender dichterischer Melodien ruhig stellten. Die Kritik an der Gegenwart führt Alfieri zum Studium der Vergangenheit (er ist einer der ersten italienischen Vertreter einer nationalen Literaturgeschichte), zur Suche nach jenen Epochen und jenen Namen, welche <?page no="168"?> 166 Grazia Dolores Folliero-Metz eine ‚lebendige‘ Literatur verkörpern. Diese bestehe immer in unverdorbener Kommunikation mit den besten Trieben des Menschen (hieraus folgt seine Bewunderung für Dante und Homer sowie seine Verachtung für alle Arten von Hofliteratur). Als Gegenpol zum degenerierten Literaten und zu einem Publikum, das sich von unsinnigen Melodien verweichlichen lasse, situierten sich die wahren Literaten, denen es am Herzen liege, das Publikum wachzurütteln, um ihm leidenschaftlich durch wahre Kunstwerke alternative Wege aufzuzeigen: Se le lettere sono l’arte d’insegnar dilettando, e di commuovere, coltivare, e bene indirizzare gli umani affetti; […] lo sviluppare il cuore dell’uomo, […] il fargli conoscere i suoi sacri diritti, […] come mai potranno elle un tale effetto operare sotto gli auspicj di un principe? e come le incoraggirà a produrlo, il principe stesso? L’indole predominante nelle opere d’ingegno nate nel principato, dovrà dunque necessariamente essere assai più la eleganza del dire che non la sublimità e forza del pensare. 33 Bei Foscolo geht die soziale, kulturelle und politische Kritik in die gleiche Richtung wie bei Alfieri. Mit Le ultime lettere di Jacopo Ortis liefert uns der venezianische Autor einen realistischen Rahmen für die besonders unvorteilhaften Bedingungen, in denen sich der Intellektuelle aus der Mittelschicht im damaligen Italien befand. Foscolo baut seinen autobiographischen Roman auf dem tragischen und ungelösten Widerspruch zwischen dem Menschen, der wirklich und verantwortlich ‚fühlt‘ (er lebt genial und einsam in der Natur, befindet sich darum in der Minderheit), und seinem Gegensatz, dem Menschen, der nicht mehr fühlt, sondern nur noch berechnend an seinen eigenen Vorteil denkt (die Mehrheit in der Gesellschaft). Diese ursprüngliche und grundsätzlich ungelöste Opposition erzeugt alle nachfolgenden Oppositionen, die sich im Ortis entfalten: Der Mensch mit dem rechten Gefühl wird in der Liebe, in Gesellschaft, Politik und Kultur diametral anders handeln als ein Mensch, der nicht mehr ‚fühlt‘, sondern einseitig nur noch kalkuliert und räsoniert. In seinem Unvermögen, die Natur zu erfassen und das Schöne zu sehen, sowie abgestumpft in seinem Fühlen und unfähig zu wahrer Liebe, werde dieser im sozialen und politischen Bereich immerfort und ausschließlich an seinen Profit denken. Ebenso sei es sinnlos, von ihm eine gelebte Kultur zu erwarten: Er sei lediglich imstande, luxuriöse Folianten zu besitzen und in diesen zu blättern, freilich ohne in den Geist eindringen zu wollen, aus dem die Werke der Klassiker entstanden seien. Letzter Ausdruck der intimen Verderbnis einer Gesellschaft mit derart politisch und moralisch entarteten Mitgliedern sei schließlich, dass sie zu keiner menschlichen Großtat fähig sei, sondern seitens der Staatsmacht nur Ordnungshüter und Spitzel, seitens des Volks aber nur Gauner und Schufte hervorbringen könne. (Hieraus erwächst im Roman Le ultime lettere di Jacopo Ortis die tragische Entscheidung des jungen Jacopo, 33 Alfieri: Del Principe e delle lettere, I, III [Anm. 16], S. 120-121. <?page no="169"?> Literatur und ‚Exil‘ bei Vittorio Alfieri, Ugo Foscolo und Friedrich Schiller 167 sich weder mit Häschern noch mit Schuften gemein zu machen, sondern seinem Leben ein Ende zu setzen). 34 Bei Schiller sitzt die gesamte europäische Bevölkerung zumindest potentiell auf der Anklagebank. In seinen ersten Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) teilt er infolge der Erfahrung des Terrors die gesamte Menschheit seiner Zeit ein in ‚Wilde‘ und ‚Barbaren‘. Erstere können sich nach Schiller nicht in wirklich ‚sozialer‘ Weise verhalten, da sie niemals der Gesellschaft angehörten (Schiller denkt hier an die gröberen und ungebildeten Schich- 34 Die Darstellung des absoluten und unlösbaren Widerspruchs zwischen den zwei Lebensphilosophien erfolgt im Roman anhand des Gegensatzes zwischen Odoardo und dem instinktiven, genialen und gefühlswarmen, aber zur gesellschaftlichen Niederlage verurteilten Jacobo. Dessen Abneigung gegen Odoardo und seine „sola ragione fredda, calcolatrice“ (Ortis, 1 novembre 1797. In: Foscolo: Opere, IV [Anm. 26], S. 301) ist unvermittelt und gefühlsmäßig. Hinsichtlich der Gesellschaftskritik s. eine Tirade gegen die Bedingungen, welche die Genialität und das Herz ersticken: „Io non parlo di me; ma quand’io ripenso gli ostacoli che frappone la società al genio ed al cuore dell’uomo, e come ne’ governi licenziosi o tirannici tutto è briga, interesse e calunnia io m’inginocchio a ringraziar la Natura che dotandomi di questa indole nemica di ogni servitù, mi ha fatto vincere la fortuna e mi ha insegnato a innalzarmi sopra la mia educazione“ (Ortis, dicembre 1797; ebd., S. 322). Und noch kurz vor seinem Tod setzt sich Jacopo stolz von den Angsthasen ab: „Dio vi preservi dalle mie ‚pazzie‘; ed io lo prego con tutta l’espansione dell’anima mia perché mi preservi dalla vostra ‚saviezza‘“ (Ortis, 6 febbraio 1799; ebd., S. 420). Hinsichtlich des Paradigmas von freien und stürmischen Genies s. den Brief, in dem Jacopo die „severa filosofia“ und die „infeconda apatia“ der angeblichen Weisen kritisiert und ihr das neue Paradigma des Genialen und Göttlichen entgegensetzt: „Né Dio sta sempre nella sua maestosa tranquillità; ma si ravvolge fra gli aquiloni e passeggia con le procelle“ (Ortis, 22 novembre 1797; ebd., S. 314); sowie den späteren Brief Jacopos aus Padua: „Quello istinto ispirato dall’alto che costituisce il ‚Genio‘ non vive se non se nella indipendenza e nella solitudine, quando i tempi vietandogli d’operare, non gli lasciano che lo scrivere“ (Ortis, dicembre 1797; ebd. S. 325). Beim Thema der Bibliotheken fühlt sich Jacopo durch die Worte irritiert, mit denen Odoardo seine eigene „ricca e scelta biblioteca“ anpreist (Ortis, 1 novembre 1797; ebd., S. 302); dieser eitlen Zurschaustellung von Wissen setzt Jacopo seine freien Lektüren im stillen Kämmerchen entgegen. Und wiederum liest er wenige Stunden vor dem Tod im Plutarch und im Tacitus. Im gesamten Ortis ist die Präsenz eines literarischen Vaterlands spürbar, während ein politisches Vaterland fehlt. Kurz vor seinem Tod geht Jacopo nach Ravenna: „Sull’urna tua, Padre Dante! - […] io genuflesso, con la fronte appoggiata a’ tuoi marmi, meditava e l’alto animo tuo, e il tuo amore, e l’ingrata tua patria, e l’esilio, e la povertà, e la tua mente divina […]“ (Ortis, marzo 1799; ebd., S. 441). Vgl. die folgenden Überlegungen zum Thema ‚Selbstmord‘ als notwendige politische Lösung: „Così noi tutti Italiani siamo fuoriusciti e stranieri in Italia […]. Spogliati dagli uni, scherniti dagli altri, traditi sempre da tutti, abbandonati da’ nostri medesimi concittadini, i quali anziché compiangersi e soccorsi nella comune calamità, guardano come barbari tutti quegl’Italiani che non sono della loro provincia, e dalle cui membra non suonano le stesse catene dimmi, Lorenzo [...]. Per noi dunque quale asilo più resta, fuorché il deserto, e la tomba? e la viltà! ” (Ortis, 25 settembre 1798; ebd., S. 408). <?page no="170"?> 168 Grazia Dolores Folliero-Metz ten). Letztere seien so, weil sie durch gesellschaftliche Betäubung ihre tiefsten menschlichen Antriebe verloren haben: Der Mensch kann sich auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören. Hier Verwilderung, dort Erschlaffung: die zwei Äußersten des menschlichen Verfalls, und beide in einem Zeitraum vereinigt! […] Aus dem Natursohne wird, wenn er ausschweift ein Rasender; aus dem Zögling der Kunst ein Nichtswürdiger. 35 In gleicher Weise wie die beiden anderen Autoren beschränkt sich Schiller nicht nur darauf, einen mutmaßlichen und verlorenen paradiesischen Zustand der Menschheit zu beklagen, sondern strebt danach, mittels der Kunst eine höhere Totalität (d.h. Kultur) wieder zu erschaffen als diejenige, die von der Kultur bereits zerstört worden ist: „[…] so muß es bei uns stehen, diese Totalität in unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wieder herzustellen.“ 36 In einfacheren Worten gesagt: Wenn die ‚Gesellschaft‘ für immer die natürliche Unmittelbarkeit des Menschen zerstört hat, obgleich sie ihn in verschiedener Hinsicht veredelt hat, so ist es Aufgabe einer wahren und nicht trügerischen Kultur, die höchste Form der menschlichen Totalität wieder herzustellen, ausgehend entweder von der einfachen, natürlichen Unmittelbarkeit oder von dem gesellschaftlich bedingten Verfall. Dies findet seinen Ausdruck in literarischen Beispielen der Epoche: Lovelace in der Clarissa von Samuel Richardson sowie der Vicomte de Valmont und die Marquise de Merteuil in den Liaisons dangereuses von Laclos sind Beispiele einer degenerierten, durch moralische Laster entarteten Menschheit, selbst wenn sie den Anschein von Kultur und Gesittung bewahren. Alle die bescheidenen Protagonisten der Baruffe chiozzotte von Carlo Goldoni und viele der uns im Tom Jones von Henry Fielding vorgestellten Figuren sind dagegen Beispiele des spontanen Wesens des Volks mit seinen grotesken und karikaturalen Zügen, während Mr. Allworthy und Miss Sophia Western in Tom Jones Beispiele einer nicht ‚fiktiven‘, sondern substantiell gelebten Kultur sind. 4 Drei unterschiedliche literarische Perspektiven Angenommen, Alfieri sehe in der Dichtung eine Art Posaune des Jüngsten Gerichts mit der Fähigkeit, sogar die seit mehreren Jahrhunderten toten Seelen der Italiener zum Leben zu erwecken, so hatte doch der ‚konstruktive‘ Teil seines literarischen Unternehmens einen doppelten Aspekt: Als Dramaturg verwirk- 35 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Brief 4 und Brief 5. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd.V, Erzählungen, Theoretische Schriften. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. München: Hanser Verlag 1980, S. 579 und S. 580. 36 Ebd., Brief 6, S. 588. <?page no="171"?> Literatur und ‚Exil‘ bei Vittorio Alfieri, Ugo Foscolo und Friedrich Schiller 169 lichte er ein respektables dramatisches Opus auf europäischem Niveau: D.h. für die italienische Literatur schuf er tragische Werke mit einem von früheren italienischen Autoren noch nie erreichten Rang. Schließlich trug er ohne den geringsten Zweifel zu jener moralischen Wiedererweckung des eigenen Volks bei, die ihm als die notwendige Voraussetzung für jedwede freiheitliche Veränderung in der Politik erschien. 37 Mit der Schrift Del principe e delle lettere hat Alfieri auf theoretischem Gebiet in modernerer Terminologie als Dante oder Petrarca schließlich die seiner Meinung nach zutreffende Bestimmung des Literaten beleuchtet. Diese kann in dem heute gängigen Begriff ‚Intellektueller‘ zusammengefasst werden: Auch heute erscheint uns die These vernünftig, der Intellektuelle sei eine Art kritischen Gewissens der eigenen Epoche, dem es als ‚Beruf‘ zukomme, das zu sehen und aufzuzeigen, was die große Masse des Volks noch nicht erfassen und bewerten könne. Eine notwendige Begleiterscheinung dieser Rolle sei, dass der Literat (der Intellektuelle) in Verbindung mit der eigenen Epoche bleibe, aber ohne von ihr abhängig zu werden. Gegebenenfalls werde er darum das freiwillige Exil wählen. Offensichtlich sind Leben und Praxis bei Alfieri im Einklang. Die künftigen Dichter müssten sich also beim Verseschmieden an den ‚Klassikern‘ orientieren, ohne dabei auf deren Freundlichkeit zu achten, sondern eher auf die Wahrheit und Festigkeit ihrer Aussagen. Die politische Position von Alfieri bleibt zweifellos vage und abstrakt (sie windet sich zwischen dem Lob der Anti-Tyrannis und dem Abscheu vor den revolutionären Exzessen eines neuen, noch formlosen Tyrannen mit plebejischem Antlitz); somit liegt bei ihm eben kein konkretes politisches Programm vor. Alfieris Aufgabe war die Politisierung der Rolle des Schriftstellers mittels einer Rückwendung zu den freien Schriftstellern der freien italienischen Republiken oder sogar zur Geschichte des antiken Roms, die von ihm gemäß einem dem rousseauschen Discours gleichenden Entwicklungsschema interpretiert wurde. 38 Eine Alternative bestand in der Hinwendung nach vorne hin zu den durch Literatur erst noch zu formenden Schriftstellern der Zukunft. Darum denkt Alfieri über die Möglichkeit nach, eine Art Freier Republik der Literaten innerhalb des Fürstenstaats zu schaffen, vorausgesetzt, die klügsten Adeligen würden sich eine Lösung ähnlich der seinigen zu eigen machen und sich notfalls fern von Ämtern am Hofe dem Studium der wahren Literatur und der Verbreitung freiheitlicher Schriften widmen. 37 Gegen den Gemeinplatz von der exzessiven Härte Alfieris sollte man daran erinnern, was Friedrich Schiller in ähnlicher Weise zur Verteidigung von Kant schrieb. Vgl. Schiller: Über Anmut und Würde. In: Sämtliche Werke, Bd.V [Anm. 35], S. 466. 38 Alfieri: Del Principe e delle lettere, III, X, „Che da tali lettere nascerebbero a poco a poco dei nuovi popoli“ [Anm. 16], S. 244-245: „Roma, dall’aver cacciati i re, ricevea quell’impulso a virtù che per tanti anni la facea sempre poi crescere e così sterminatamente grande al fin la faceva. […] Dall’avere ella poi soggiogate molte nazioni, […] ne riceveva, […] le ricchezze, le morbidezze, i vizj tutti ed i guasti costumi“. <?page no="172"?> 170 Grazia Dolores Folliero-Metz Croce kritisierte die überaus geringen praktischen Möglichkeiten, eine solche politische Utopie zu verwirklichen. 39 Es darf aber nicht vergessen werden, dass auch Schiller am Ende seiner Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen zu einer Republik der schönen Seelen kam: Es hätte sich dabei um eine brüderliche Vereinigung weniger, durch das gleiche Ideal verbundener Seelen gehandelt. Ihre zahlenmäßige Geringfügigkeit hätte sie aber nicht gehindert, für die eigene Zeit und die eigene Gesellschaft eine Art Salz der Erde zu sein. Die zahlenmäßige Geringfügigkeit der von Schiller und Alfieri ersonnenen Gemeinschaften entwertet keineswegs die Möglichkeit oder Schlagkraft ihres Handelns. Im Gegenteil, in Italien gab die Zeit dem Einzelgänger Alfieri Recht; heute erkennt die Kritik den Einfluss Alfieris auf Santorre di Santarosa an, zudem auf die Autoren der Aufstände von 1821, auf die piemontesische Literatur von Botta, Gioberti, Balbo und D’Azeglio sowie schließlich auf die neapoletanischen Bewegungen von 1799, u.a. auf Francesco Lomonaco, Guglielmo Pepe und Francesco Ricciardi. Sogar De Sanctis und Croce kamen nicht umhin, die Schlagkraft seiner ‚politischen‘ Dichtung anzuerkennen. 40 Der einzige positive Ertrag des Ortis besteht in der Verschmelzung von Politik und Literatur, und zwar in einer Vision, die im Laufe des fiktiven Besuchs Jacopos bei der damaligen Lichtgestalt der italienischen Literatur, bei Giuseppe Parini - den Foscolo auch persönlich kannte -, zum Tragen kommt. Il Parini è il personaggio più dignitoso e più eloquente ch’io m’abbia mai conosciuto; e d’altronde un profondo, generoso, meditato dolore a chi non dà somma eloquenza? Mi parlò a lungo della sua patria e fremeva e per le antiche tirannidi e per la nuova licenza. Le lettere prostituite; tutte le passioni languenti e degenerate in una indolente vilissima corruzione; non più la sacra ospitalità, non la benevolenza, non più l’amore figliale [...]. 41 Parini erweckt im jungen Jacopo Zweifel an einer raschen politischen Lösung zur Beendigung der Fremdherrschaft in Italien, und dies mit Worten, die einem 39 Benedetto Croce: La letteratura italiana, per saggi storicamente disposti a c. di Mario Sansone. Bari: Laterza 1968, S. 397. Vgl. Alfieri: Del Principe e delle lettere, III,VIII, „Come e da chi possano essere coltivate le vere lettere nel principato“ [Anm. 16], S. 234: „Espatriati dunque e posti in sicuro quei pochissimi sommi e illibati che dal loro spontaneo e nobile esiglio tuonano verità, una picciola repubblica di altri letterati pensanti, leggenti e non iscriventi potrà rimanersi secura infra gli stessi artigli del principato, poiché la virtù sua e l’effetto che ne dee ridondare non saranno se non negativi. […] Questa republichetta nel principato, da principio modesta e discreta, legge, ragiona e pensa fra sé, rimota affatto dal volgo profano, ogniqualvolta fra essa nasce e si scuopre un vero uomo grandissimo, ella lo invia fuori del chiuso a predicar da lontano senza riguardo nessuno la schietta e divina verità, per mezzo di convincenti, energici ed eleganti scritti“. 40 Croce: La letteratura italiana [Anm. 39], S. 385. 41 Ortis, Milano, 4 dicembre. I. In: Foscolo: Opere, IV [Anm. 26], S. 413-414. <?page no="173"?> Literatur und ‚Exil‘ bei Vittorio Alfieri, Ugo Foscolo und Friedrich Schiller 171 Brief Foscolos aus dem Jahre 1815 an einen Freund sehr ähnlich sind. 42 Parini trennt sich von Jacopo, scheinbar, ohne ihm eine Antwort gegeben zu haben. In Wahrheit hat er eine wichtige maieutische Funktion ausgeübt; denn er überlässt es Jacopo selbst, seine Antwort für das Übel der Zeit zu finden. Jacopo beendet den Brief mit der Schilderung seines Besuchs bei Parini, indem er seine plötzliche Intuition mit Großbuchstaben wiedergibt: Io odo la mia patria che grida: ‚Scrivi ciò che vedesti. Manderò la mia voce dalle rovine, e ti detterò la mia storia. [...] Ma voi pochi sublimi animi che solitarj o perseguitati, su le antiche sciagure della nostra patria fremete, se i cieli vi contendono di lottare contro la forza, perché almeno non raccontate alla posterità i nostri mali? [...] Se avete le braccia in catene, perché inceppate da voi stessi anche il vostro intelletto di cui né i tiranni né la fortuna, arbitri d’ogni cosa, possono essere arbitri mai? Scrivete. 43 Hiermit ist man beim tiefsten Kern und beim Motiv der im Ortis so häufigen Verweise auf die italienische Literatur angekommen. Hierzu ist bemerkt worden: „In der letzten autorisierten Fassung des Ortis stehen insgesamt zwölf markierte, meist mit einer Quellenangabe versehene Verszitate aus literarischen Werken. Fünf von Dante, drei von Petrarca, vier von Alfieri. Sie stammen, wie man sieht, alle von italienischen Autoren.“ 44 Mir scheint diese Wahl Foscolos nicht zufällig zu sein. Bei seinem Roman kann man nämlich von folgender Beziehung zwischen der sonstigen europäischen und der italienischen Literatur sprechen: Erstere liefert ihr den literarischen Nährboden, das Grundwissen und die Ausgangsprobleme, die zweite jedoch bietet ihm die adäquaten Antworten auf seine spezifischen Probleme. Obwohl Foscolo als Mensch stets bemüht war, die Prinzipien des Herzens in der harten Wirklichkeit zu suchen, blieb es ihm häufig versagt, eine empirische Bestätigung zu finden. 45 Foscolo verleugnet jedoch weder die innere Stimme noch das, was er fühlt und in wenigen Werken und in der Lebensführung einzelner Autoren und edler Geister bestätigt findet. Gegen eine korrupte Gesellschaft, gegen fremde, waffenstarrende Herrscher ermahnt er das italienische Publikum, der eigenen Sprache treu zu bleiben; sie sei das einzige, was aus ihm noch eine Nation mache: „Italiani! [...] Ringraziate la fama de’ vostri padri benemeriti della rinata letteratura, se ancora vi rimane una lingua e per essa il titolo di nazione; ma nudo [...].“ 46 Weiterhin ruft er dazu auf, die Nähe zu jenen Wenigen zu pflegen, die jenes alto sentire in beispielhaf- 42 Foscolo: Opere, II [Anm. 27], S. 1195. 43 Ortis, Milano, 4 dicembre. In: Foscolo: Opere, IV [Anm. 26], S. 418. 44 Ulrike Kunkel: Intertextualität in der italienischen Frühromantik. Die Literaturbezüge in Ugo Foscolos „Ultime Lettere di Jacopo Ortis“. Tübingen: Narr 1994, S. 101. 45 Das zeigt sich bereits im Ortis von 1802 („I libri m’insegnavano ad amare gli uomini e la virtù; ma i libri, gli uomini e la virtù mi hanno tradito“), wie auch in der Notizia Bibliografica von 1816. Vgl. jeweils Foscolo: Opere, IV [Anm. 26], S. 252 und S. 531. 46 Foscolo: Discorsi ‚Della Servitù d’Italia‘, I,1. In: Opere, II [Anm. 27], S. 1218. <?page no="174"?> 172 Grazia Dolores Folliero-Metz ter Einsamkeit vorlebten. Dies ist auch m.E. der Grund, 47 weshalb Jacopo versucht, die lebenden Literaten Parini und Alfieri persönlich zu treffen und weshalb er das Gespräch mit jenen Großen der Vergangenheit pflegt, die noch etwas mitzuteilen haben: Petrarca über die Liebe und Dante über die Themen der Politik und des Exils. Ab 1816 bilden sogar zwei Dante-Zitate den inneren Rahmen des Ortis. 48 Bei der Beschäftigung mit Literatur sei jenes forte sentire zu pflegen, das sich nicht davor fürchte, die Tyrannei bloßzustellen, und deshalb von den despotischen Regierungen gefürchtet werde. Dieser Pfad wurde in Italien zuerst von Alfieri betreten, sodann beschritt ihn Foscolo. Kunkel bestätigt uns dessen Bedeutsamkeit: „die Unterlagen der österreichischen Zensurbehörde [lassen sich] über weite Strecken lesen wie eine Katalogisierung der Ortisschen Referenzautoren“ 49 . Später wurden auch Foscolos Petrarca-Aufsätze und sein Dante-Kommentar verboten. In Foscolos Inauguralvorlesung von 1808, die den Titel Dell’origine e dell’ufficio della letteratura trägt, wird das Wort als die Stimme des Herzens definiert; 50 die Literatur erhält demgemäß den Auftrag, moralische, politische und zivile Missstände zu kritisieren. In dieser Schrift unterstützt Foscolo die von Alfieri erwünschte Identität von Wort (sprich Literatur) und Wahrheit sowie deren Vorrangstellung gegenüber dem bloß Gefälligen. Die noch ungelöste Antithese des Ortis-Romans zwischen einer verfallenen Gesellschaftskultur und einer echten Einsamkeitskultur wird ihre bekannteste Lösung in der Schillerschen Republik der schönen Seelen finden. Als Literaturtheoretiker haben hierzu sowohl Alfieri als auch Foscolo beigetragen, indem beide der Literatur eine spezifische Funktion bei der geistigen Veränderung ihrer Zeit zuschrieben. Mit Schiller schließt sich der Kreis in Richtung Alfieri: Ausgehend von der Erfahrung der Exzesse der Französischen Revolution, die den Enthusiasmus so vieler zum Erliegen gebracht hatten, die an die Notwendigkeit einer revolutionären Veränderung des ansonsten unbeweglichen politischen und sozialen status quo geglaubt hatten, war es ihm aufgegeben, eine Lösung für die diametralen Gegensätze der Menschheit seiner Zeit zu suchen. Die der französischen Aristokratie und dem Klerus fehlende soziale Ausgewogenheit hatte zwar dazu gedrängt, gewaltsam nach gerechter Gleichheit zu suchen. Ihm bewiesen jedoch die von den Massen während des Terrorregimes (la Terreur) auch an unschuldigen Mitgliedern des Adels und des Klerus begangenen und durch das vergossene Blut noch erbarmungsloser erscheinenden Horrorakte, dass eine Geschichte gemäß der Gerechtigkeit nur dort bestehen kann, wo ein Substrat an Menschlichkeit mit der Befähigung zum ‚guten Handeln‘ vorhanden ist. 47 Vgl. Kunkel: Intertextualität [Anm. 44], S. 203-207. 48 Paradiso, XV, Vv. 118-120 und Purgatorio, I, Vv. 71-72. 49 Kunkel: Intertextualität [Anm. 44], S. 206. 50 Foscolo: Dell’origine e dell’ufficio della letteratura, § 4. In: Opere, II [Anm. 27], S. 1288. <?page no="175"?> Literatur und ‚Exil‘ bei Vittorio Alfieri, Ugo Foscolo und Friedrich Schiller 173 Deshalb überträgt er der Republik der schönen Seelen (Brief 27 Über die ästhetische Erziehung des Menschen), so als sei diese der tiefste und innerste Kern jeder Gesellschaft, die Aufgabe, die Gaben der Schönen Menschheit zu fördern. Diese würden sich in jeder Epoche letztlich nicht nur als passive Träger der bereits bestehenden, sondern als aktives Stimulans einer sich in actu erneuernden Kultur erweisen. Wenn die Republik der schönen Seelen weder eine Geheimbewegung ist noch sich als underground begreift, sondern dazu bestimmt ist, als ein ideales Zentrum der zeitgenössischen Gesellschaft zu wirken - ungeachtet der Erfordernis, der augenblicklich herrschenden Ideologie zu widerstehen -, so impliziert dies gelegentlich auch die Notwendigkeit, sich in einem freiwilligen Exil von der eigenen Zeit zu entfernen. Genau dies behauptet Schiller im 9. Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen: Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. Eine wohltätige Gottheit reiße den Säugling bei Zeiten von seiner Mutter Brust, nähme ihn mit der Milch eines bessern Alters und lasse ihn unter fernem griechischen Himmel zur Mündigkeit reifen. Wenn er dann Mann geworden ist, so kehre er, eine fremde Gestalt, in sein Jahrhundert zurück; aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern furchtbar wie Agamemnons Sohn, um es zu reinigen. 51 Die freiwillige Flucht des jugendlichen Schiller aus dem heimatlichen Württemberg beweist wiederum die intime Kohärenz zwischen Theorie und Praxis. 5 ‚Diletto‘ und ‚Concetto‘. Drei Schriftsteller - eine Poetik? Damit schließt sich der Kreis meiner Überlegungen. Ihr Ausgangspunkt war das vielgestaltige semantische Feld von Exilium und Peregrinatio. Wie die biblischen Quellen der Genesis meinen, bewirkte eine Erb-Sünde das nachfolgende Exilium und die Peregrinatio. Der Christ des Mittelalters belud sich spontan mit der Last dieser Erbsünde und zog aus freiem Willen (auch nur im metaphorischen Sinn) das Gewand eines Peregrinus an. Dies versetzte ihn in die Lage, das Himmlische Jerusalem wieder zu erblicken, um dorthin zurückzukehren und dort eine Wohnstatt zu finden. In diesem historisch-linguistischen Kontext kann 51 Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen [Anm. 35], Brief 9, S. 593. Die Nähe Schillers zu Alfieri zeigt sich in der Vorstellung Alfieris, dass die Reinigung der Moral einer Epoche unter dem fernen Himmel Griechenlands erfolgen sollte: „Voi dunque o Socrati, Platoni, Omeri, Demosteni, Ciceroni, Sofocli, Euripidi, Pindari, Alcei, e tanti altri incontaminati e liberi scrittori […] Se io ardisco pur supplicarvi di rimirarmi con benigno occhio e di scevrarmi dalla moderna turba dei letterati, una tale audacia in me nasce soltanto dalla mia propria coscienza: ché se il destino mi volle pur nato in queste moderne età, per quanto in mio potere è stato, io sono tuttavia sempre vissuto col desiderio e con la mente nelle età vostre, e fra voi.“ Alfieri: Del Principe e delle lettere, III, „Alle Ombre degli antichi liberi scrittori“ [Anm. 16], S. 198. <?page no="176"?> 174 Grazia Dolores Folliero-Metz man nur schwer eine klare Trennlinie zwischen Exul und Peregrinus ziehen, da ja jeder Peregrinus zugleich ein Exul ist und jeder Exul notwendigerweise zum Peregrinus wird. Dante hat offensichtlich recht, wenn er beide Termini unter der einheitlichen Bezeichnung peregrini vereinigt und erläuternd hinzufügt: im weiteren und im engeren ‚Sinn‘ (in ‚modo‘ largo e in ‚modo‘ stretto). Bei unseren modernen Autoren (Alfieri, Foscolo und Schiller) wird dieses semantisch verflochtene Feld dagegen von den Begriffen politisches Exil und literarisches Exil begrenzt; beide Möglichkeiten werden entweder erlitten oder sogar erstrebt. Angesichts der politischen und kulturellen Verarmung der eigenen Epoche erscheint allen drei Autoren ein politisches Exil in der Tat entweder notwendig oder wünschenswert. Die Verknüpfung der eigenen Person mit der eigenen Sprache und der eigenen literarischen Tradition macht jedoch den Verlust des Vaterlands, des heimatlichen Gefildes wett. Durch die Einfügung in die eigene Nationalliteratur besteht die Hoffnung, ins Vaterland heimkehren zu können - und zwar mittels der Sprache -, um dann dort zu wirksam zu handeln. Bei Alfieri und Schiller übersteigt das Feld der erhofften Republik der Schönen Seelen Italien und Deutschland, sodass man in ihrem Fall von einer universalen Mission des Literaten sprechen kann (selbst wenn dann die einzelne Literatur genau festgelegte geographische Grenzen hat; diese sind noch stärker als die Bindung der bildenden Künste an Sprachgrenzen). Der enge Begriff des Peregrinus verliert sich mit dem Untergang des Mittelalters. Offensichtlich kann dennoch die erwähnte Definition von König Alfonso el Sabio, wonach Pilger „sich aus freien Stücken von Heimat, Familie und Haus lossagen, um Gott und den Heiligen zu dienen“, mutatis mutandis angewandt oder zumindest ausgeweitet werden auf den Begriff des ‚freiwilligen Exils‘ unserer drei Schriftsteller, da sich das mittelalterliche ‚Dienen‘ in der Neuzeit auch auf die Tätigkeit der Intellektuellen erstreckt. Bezüglich des von ihm vermuteten permanenten Kampfes zwischen einer Poetik des bloßen literarischen Genusses und des literarischen Wahren greift Alfieri im Endeffekt nur auf die philosophische Unterscheidung der Antike zwischen doxa und aletheia, zwischen Meinung und Wahrheit zurück. Er verleiht so der Literatur im Allgemeinen (ungeachtet der eigenen literarischen Tradition Italiens im Besonderen) eine konstitutive, essentielle Ernsthaftigkeit, indem er ihr die beharrliche Funktion einer Wieder-Erweckung und Wieder-Erziehung der Zeitgenossen zum Wahren zuschreibt. Diese versänken in der ‚Höhle der Meinung‘ nämlich immer wieder in einen Tiefschlaf oder vergäßen unter dem Wohlklang berauschender Melodien, dass ihre wahre und unerlässliche Funktion darin besteht, das Wahre zu hüten und dafür zu kämpfen. Dieser Grundfunktion können unterschiedliche Zeiten zwar unterschiedliche Namen und Ausprägungen geben, sie bleibt aber auch heute noch die solideste Sinnstifterin für die sich ständig erneuernden Humanae Litterae. Auf diese Weise sind wir zu einer letzten Opposition gelangt, nämlich zur Opposition zwischen der Auffassung, Literatur sei Diletto, und derjenigen, die <?page no="177"?> Literatur und ‚Exil‘ bei Vittorio Alfieri, Ugo Foscolo und Friedrich Schiller 175 Literatur als Concetto ansieht. Im ersten Fall schafft der Schriftsteller sinnliches ästhetisches Vergnügen mittels einer Kreation schöner Bilder und schöner Klänge; im zweiten Fall schmeichelt der Schriftsteller nicht immer den Ohren der Zuhörer; vielmehr geißelt und warnt er sein Publikum. Im ersten Fall ist es einfach, zum Schoßkind des Publikum zu werden, im zweiten riskiert man, als ‚unbequem‘ zu gelten (vor kurzer Zeit hat uns der Fall der DDR gezeigt, wie unbequem ein einzelner, nicht linientreuer Intellektueller für ein ideologisiertes Polizeiregime sein kann). Nichtsdestoweniger wird der intellektuell integre Literat von Mal zu Mal das Lachen und das Weinen, die mittlere oder die hohe Tonlage wählen, allerdings immer auf der Suche nach jener künstlerischen Kreation, die das innerste künstlerische Bedürfnis seiner Zeit befriedigt. Dagegen wird das gelungene Kunstwerk, mag es auch im Exil eines Einzelnen geschaffen worden sein, in der Folgezeit seinerseits zum idealen Vaterland einer Vielzahl von Menschen. 52 Zum Schluss erinnere ich an unseren Ausgangspunkt: Die vorliegende Abhandlung hat ja mit der Übernahme der Überlegungen von Elisabeth Bronfen zur wörtlichen Bedeutung und zur metaphorischen Wertigkeit des Terminus ‚Exil‘ eingesetzt. 53 Die einzelnen Schritte erlauben uns also, in einer Kreisbewegung auf die Ausgangsüberlegungen von Bronfen zurückzukommen. Bestätigt wurde: das Schwanken dieses Terminus zwischen den erwähnten beiden Wertigkeiten, die Bedeutung dieses Terminus für die Bestimmung des Menschen, die Beteuerung seiner konstitutiven Funktion für die literarische Tätigkeit aller Zeiten und aller Sprachen (und der vorliegende Band ist wiederum ein Beweis dafür); denn allein derjenige, der einen Sitz in der Heimat hat, kann das Exil erleiden und kann das eigene Exil besingen: Poi che fu piacere de li cittadini de la bellissima e famosissima figlia di Roma, Fiorenza, di gittarmi fuori del suo dolce seno - nel quale nato e nutrito fui in fino al colmo de la vita mia, e nel quale, con buona pace di quella, desidero con tutto lo cuore di riposare l’animo stancato e 52 Foscolo: Dell’origine e dell’ufficio della letteratura, § X und § XII, Opere, II [Anm. 27], S. 1301 und S. 1307. 53 „Der Exilbegriff bezieht sich gleichsam auf eine verlängerte Abwesenheit von der Heimat aufgrund unerträglicher Verhältnisse, seien es wirtschaftliche, kulturelle, politische oder religiöse. Exil umfaßt sowohl die erzwungene wie auch die freiwillig gewählte Trennung eines Menschen von dem ihm vertrauten Ort, und d.h. von seiner Familie, seiner Vergangenheit, seinem Erbe, von seinem gesellschaftlichen Kontext und seiner kulturellen Sprache […] Auf diese Entwurzelung und Entortung, die zuerst eine Weltlosigkeit zur Folge hat, muß mit einem neuen Selbstentwurf reagiert werden, genauer mit dem Versuch, in narrativer Form das zerbrochene Leben wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen.“ Elisabeth Bronfen: Exil in der Literatur [Anm. 2], S. 167-183. <?page no="178"?> 176 Grazia Dolores Folliero-Metz terminare lo tempo che m’è dato -, per le parti quasi tutte a le quali questa lingua si stende, peregrino, quasi mendicando, sono andato, mostrando contro mia voglia la piaga de la fortuna, che suole ingiustamente al piagato molte volte essere imputata. Veramente io sono stata legno sanza velo e sanza governo, portato a diversi porti e foci e liti dal vento secco che vapora la dolorosa povertade; e sono apparito a li occhi a molti che forseché per alcuna fama in altra forma m’aveano imaginato, nel conspetto de’ quali non solamente mia persona invilio, ma di minor pregio si fece ogni opera, sì già fatta, come quella che fosse a fare. 54 54 Dante Alighieri: Convivio, I, III, 4-5. In: Ders.: Das Gastmahl. Erstes Buch. Übers. von Thomas Ricklin. […] Italienisch-Deutsch. Hamburg: Felix Meiner 1996, S. 14-16 [‚Da es den Bürgern der schönsten und berühmtesten Tochter Roms, Florenz, gefallen hat, mich aus ihrem süßen Schoß hinauszuwerfen - wo ich geboren und ernährt wurde bis zum Höhepunkt meines Lebens und in welchem ich, in gutem Frieden mit ihr, von ganzem Herzem wünsche, meine ermüdete Seele auszuruhen und die mir gegebene Zeit zu beenden -, bin ich durch beinahe alle Regionen, in die sich diese Sprache erstreckt, als Herumirrender, einem Bettler gleich, gegangen und ich habe hierbei gegen meinen Willen, die Wunde des Schicksals, die dem Verwundeten in vielen Fällen ungerechterweise zugefügt zu sein pflegt, vorgezeigt. Tatsächlich war ich ein Floß ohne Segel und ohne Steuer, vom trockenen Wind, der die schmerzhafte Armut ausdörrt, in verschiedene Häfen, an Flußmündungen und Strände getragen; und ich bin unter den Augen vieler, die sich mich vielleicht irgendeines Rufes wegen in anderer Form vorgestellt haben, erschienen. In ihrem Blickfeld wurde nicht nur meine Person herabgewürdigt, sondern auch jedes Werk, sei es bereits verfaßt oder sei es noch zu verfassen, entwertet.‘ Ebd., S. 15-17]. <?page no="179"?> Giuseppe Gazzola Dante, Foscolo, Mazzini und die Konstruktion einer falschen Genealogie Giuseppe Mazzini versprach seinen Korrespondenten mehrfach und über mehrere Jahre hinweg eine Biographie Ugo Foscolos. 1 Mazzini dachte ganz offensichtlich, dass die Geschichte dieses politisch aktiven Patrioten, der die mazzinianischen Ideale von ‚Gedanke und Tat‘ (pensiero e azione) verkörperte und schließlich im Exil starb, als ein inspirierendes Beispiel für viele Italiener dienen könnte, die, wie Foscolo und Mazzini selbst, von politischen oder ökonomischen Zwängen dazu getrieben worden waren, Zuflucht im Ausland zu suchen. Doch Mazzini hat nie eine ‚Vita di Ugo Foscolo‘ geschrieben. Als er in London angekommen war, nahm er Abstand von der Idee und beschloss stattdessen, mit Foscolos Manuskripten für die Ausgabe einer Divina Commedia, die Mazzini in London gefunden hatte, das zu produzieren, was eine der berühmtesten Fälschungen der italienischen Literaturgeschichte werden sollte: Er setzte sich an Foscolos Stelle, vollendete die kommentierte Ausgabe, die Foscolo nur bis zum Ende des Inferno gebracht hatte, und veröffentlichte die komplette Edition mit einem patriotischen Vorwort, das er als „Un Italiano“ zeichnete. Warum hat Mazzini sein Vorhaben, eine Foscolo-Biographie zu schreiben, aufgegeben und sich für ein philologisches Unternehmen entschieden, das von seinen eigenen Interessen weit entfernt lag, das er nicht als seine eigene gelehrte Arbeit zu erkennen geben wollte und das ihn kurz vor seinem Tod noch zu einem Geständnis zwingen sollte? Um auf diese Fragen zu antworten und gleichzeitig zu zeigen, wie das Risorgimento die italienische Geschichte neu zu schreiben suchte und dafür sogar Fälschungen in Kauf nahm (gewiss, eine unschuldige und gutgemeinte Fälschung, die der Autor selbst zwanzig Jahre später öffentlich eingestand, aber dennoch eine Fälschung) - um also auf diese Fragen zu antworten, muss man zunächst das tun, was Mazzini nicht tun wollte, nämlich Foscolos Biographie rekonstruieren, besonders die der letzten Lebensjahre, und dabei ein besonderes Augenmerk auf Foscolos Ansichten über die Möglichkeit einer poli- 1 Giuseppe Mazzini: Mazzini biografo e autobiografo. Collana della Cooperativa Culturale „Politecnico“ 1 (Catania: A. Marino, 1979), S. 58 und passim; eine ausführliche Darstellung von Mazzinis Aktivitäten als Foscolo-Biograph und Dante-Herausgeber im Londoner Exil, gestützt auf den Briefwechsel, findet sich bei Arturo Linaker: La vita e i tempi di Enrico Mayer. Con documenti inediti della storia della educazione e del risorgimento italiano (1802-1877). 2 Bde. Firenze: G. Barbèra 1898. <?page no="180"?> 178 Giuseppe Gazzola tischen Einigung Italiens richten. 2 Wir müssen hier nicht erklären, wieso der Autor des Ortis und der Sepolcri sowohl von den italienischen Nationalisten als auch von den Österreichern als glühender italienischer Patriot betrachtet wurde. Gerade weil er von den norditalienischen Revolutionären als ein Symbol des Widerstands gegen das napoleonische Empire gesehen wurde, bot ihm die österreichische Regierung, unmittelbar nach dem Wiener Kongress, die Möglichkeit, die Seiten zu wechseln und Herausgeber der zu gründenden, von den Österreichern kontrollierten Zeitschrift Biblioteca italiana zu werden. Für die Österreicher wäre es eine taktische Meisterleistung gewesen, hätten sie Foscolo für ihre Zeitschrift gewinnen können. Das war auch der Regierung in Wien klar, wie aus einem Brief des Chefs der Wiener Hofpolizei, Baron von Hager, an den Mailänder Polizeichef Graf Bellegarde hervorgeht: Il fatto che il redattore proposto, come risulta dal secondo allegato, sia sospetto per le sue precedenti opinioni politiche, non dovrebbe impedire di presceglierlo ugualmente, dacché, avendo egli avuto di che lamentarsi del precedente regime, l’attuale Governo può fare buon uso di così eccellente ingegno com’è il Foscolo, ed è sempre meglio guadagnare al servizio dello Stato, pur con le debite cautele, questo scrittore stimato da’ suoi concittadini procurandogli una conveniente occupazione, mostrandogli fiducia ed appoggiandolo, piuttosto che abbandonarlo, respingendolo da noi, in balia delle fazioni. 3 Trotz dieses politischen Drucks leitete Foscolo die Biblioteca italiana nie. Als die neue Regierung von allen Offizieren des untergegangenen Regno Italico einen Eid auf den Kaiser von Österreich verlangte, verweigerte Foscolo diesen Eid und ging ins Exil. Er hätte den Eid am 31. März 1815 ablegen sollen, entzog sich dem aber durch seine Flucht aus Italien in der Nacht davor. Am folgenden Tag schrieb er an seine Mutter: L’onore mio, e la mia coscienza, mi vietano di dare un giuramento che il presente governo domanda per obbligarmi a servire la milizia, dalla quale le mie occupazioni e l’età mia e i miei interessi m’hanno tolta ogni vocazione. Inoltre tradirei la nobiltà incontaminata fino ad ora del mio carattere col giurare cose che non potrei attendere, e con vendermi a qualunque governo. Io per me mi sono inteso di servire l’Italia, né come scrittore ho voluto essere partigiano di Francesi o Tedeschi, o di qualunque altra nazione; mio fratello fa il militare, e dovendo professar quel mestiere ha fatto bene a giurare; ma io professo letteratura, che è arte liberalissima e indipendente, e quando è venale non val più nulla; se dunque, mia cara madre, io m’esilio e m’avventuro come profugo alla Fortuna ed al Cielo, tu non puoi né devi né 2 Für eine ausführlichere Darstellung von Foscolos Exilperiode vgl. die Biographie in: Ugo Foscolo: Essays über Petrarca. Übersetzt, hg. und kommentiert von Giuseppe Gazzola und Olaf Müller. Tübingen: Stauffenburg 2005, bes. S. 225-246. 3 Brief aus Wien vom 3.4.1815. Der Text, der nur noch in der italienischen Übersetzung erhalten ist, findet sich abgedruckt bei Giovanni Gambarin: Foscolo e l’Austria. In: Ders.: Saggi foscoliani e altri studi. Con una presentazione di Mario Fubini. Roma: Bonacci 1978, S. 11-78, hier S. 40. <?page no="181"?> Dante, Foscolo, Mazzini und die Konstruktion einer falschen Genealogie 179 vorrai querelartene; perché tu stessa mi hai ispirati e radicati col latte questi generosi sentimenti, e mi hai più volte raccomandato di sostenerli, e li sosterrei con la morte. 4 Auch wenn es keine konkreten Beweise gibt, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Foscolo die Möglichkeit, ins Exil zu gehen, schon lange erwogen hatte. Er entschloss sich jedoch plötzlich und unerwartet zum Aufbruch und gab vor, auf Reisen gehen zu wollen. Er hatte kein Geld, keinen Pass und noch nicht einmal die Unterstützung der in Italien verbliebenen Freunde: Die Gräfin Albany beispielsweise, seine langjährige Gönnerin, verstand weder die Geste noch sah sie die Notwendigkeit, Mailand zu verlassen, und beschuldigte Foscolo des Egoismus. Von der Schweiz aus versuchte Foscolo später, sie zu besänftigen und ihr seine Lage zu schildern: […] ho pagato tutto quello che m’era stato dato molti anni innanzi meritatamente; ho rifiutato quel molto di più che mi sarebbe stato dato se avessi accettato di fare, o almeno dire a modo d’altri […]. Ho perduto insieme le affettuose consuetudini della vita, preparate fin dalla gioventù, e che all’età mia non si possono rifare, e molto meno in terra straniera: ho perduto la Toscana ch’era per me ed ospizio, e teatro, e scuola, e giardino: ho perduto di rivedere quasi tutti gli anni, appunto come oggi, per le feste e il nuovo anno, la mia famigliuola, e la madre mia che già sudò tanto, ed ora piange tanto per me: ho fin anche perduto la compagnia de’ miei libri, e non ho potuto condurre meco se non un Tacito, un Virgilio, e un Omero… 5 Die Schwierigkeiten und Einschränkungen von Foscolos Aufenthalt in der Schweiz sind gut dokumentiert: Ohne die ökonomische Unterstützung durch seinen jüngeren Bruder und durch Quirina Mocenni Magiotti, die „Donna gentile“, hätte Foscolo vermutlich nicht überleben können, besonders während des Winters, als sich seine Gesundheit rapide verschlechterte und er sich mehrmals in ein Sanatorium begeben musste. Auch die Aufmerksamkeit der österreichischen Regierung war Foscolo sicher, und mit einer leichten Verzögerung lieferten verschiedene Beamte eine Reihe von amtlichen Notizen, um dem Exilanten das Leben so schwierig wie möglich zu machen. Graf Strassoldo schrieb aus Mailand: Als die reformirten Officiere der aufgelösten italienischen Armee von S. Exzellenz dem Herrn Feldmarschall zur Eidesablegung angewiesen wurden, so flüchtete er sich und hält sich dermalen in Roveredo in Graubünden auf, nachdem er sich von Lugano durch die Beihilfe eines Gewissen Anton Quadri entfernte, weil er als ein ohne Pass Reisender von den dortigen Behörden verfolgt wurde. Wahrscheinlich ist er beschäftigt eine Flugschrift über die Zeitereignisse in seinem Geiste zu schreiben. Er hat ausgezeichnete Talente, eine schöne Schreibart, eine lebhafte Einbildungskraft und vorzügliches Gedächtnis, aber wenig Verstand und wird unter jeder Regierung ein gefährlicher Mensch ohne Religion, ohne Moralität und ohne Karakter bleiben. Über seine Flucht, da er sich bloss gegeben hat, darf man sich freuen, weil 4 Foscolo aus Mailand an seine Familie, 31.3.1815. In: Ugo Foscolo: Edizione nazionale delle opere. Epistolario. Bd. 5. Hg. von Plinio Carli. Firenze: Le Monnier 1956, S. 373 (im folgenden EN/ Epistolario mit Band- und Seitenzahl). 5 Foscolo an die Gräfin Albany, Hottingen, 21.12.1815. In: EN/ Epistolario Bd. 6, S. 157. <?page no="182"?> 180 Giuseppe Gazzola nunmehr nicht zu besorgen ist, dass seine einnehmende Art seine Fehler wird übersehen machen. 6 Mit diesem Bericht beginnt eine Reihe von offiziellen Dokumenten, in denen Foscolo als ein gefährlicher Revolutionär gezeichnet wird, und deren Inhalt bis zum Kaiser vordrang, der Foscolo Außenminister Metternich gegenüber erwähnte. Metternich schrieb darauf seinerseits an Schraut, den österreichischen Botschafter in der Schweiz: D’après les derniers rapports d’Italie il se confirme, que les révolutionnaires qui s’enfuient de l’Italie trouvent en Suisse un asile. Parmi eux on nomme entr’autres un certain Hugo Foscolo, connu par ses mauvaises principes […]. La Suisse, en accédant à l’alliance générale, a dans ce moment un intérêt égal au nôtre à prendre des mesures rigoureuses contre le danger, qui résulterait nécessairement d’une condescendance déplacée envers des émissaires d’un gouvernement ennemi et révolutionnaire. 7 Auch in Italien hielt man Foscolo zu dieser Zeit und in den folgenden Jahren noch für einen glühenden Patrioten und Anhänger des Projekts der nationalen Einheit, so unklar dessen Umrisse und Inhalte auch waren. Doch Foscolo hatte hinsichtlich der Möglichkeit einer politischen Emanzipation Italiens schon bald nach seiner Ankunft in England einen immer radikaleren Pessimismus entwickelt. Als dann nach den gescheiterten Revolutionsversuchen von 1821 eine weitere große Exilierungswelle einsetzte und zahlreiche italienische Revolutionäre nach London gelangten, bestanden bereits unüberbrückbare Differenzen zwischen deren Ansichten und Foscolos Einschätzung der Lage. In einem Brief an die „Donna gentile“ beschrieb Foscolo diese Differenzen in aller Deutlichkeit. Während seine neuen Mitexilanten noch glaubten, eine von Portugal und Spanien bis nach Italien reichende, liberale Revolution stehe unmittelbar bevor, erschienen ihm diese Hoffnungen angesichts der europaweiten militärischen Überlegenheit der restaurativen Kräfte als geradezu wahnsinnig: Fors’io m’inganno, ma questi Italiani che rifuggirono in Inghilterra, ed ora vanno e vengono dalla Spagna, mi hanno tutti chi più, chi meno, del pazzo. Sono fanatici senza ardire, e metafisici senza scienza, e deliranti per ottenere cose impossibili; e diffidenti, calunniatori, avventati contro chiunque, per carità della loro e dell’altrui quiete, si prova a persuaderli di rassegnarsi alle prepotenti vicende del mondo, e a non assordare i paesi forestieri con vanti, querele e minacce, le quali alla miseria dell’esilio aggiungeranno il ridicolo. E qui da prima mi venivano intorno perch’io scrivessi contro imperatori ed eserciti, e contro parlamenti e senati, perché gli uni congiurano ad opprimere, e gli altri non si sbracciano a liberare l’Italia: - come se il mondo non fosse oggimai sì stordito e smemorato dal troppo leggere libri e ascoltare ciarle politiche, le quali poco sempre, e a’ dì nostri meno che mai, riescono efficaci contro le arti- 6 Julius Graf Strassoldo aus Mailand an den Vizepräsidenten der Hofpolizei, Baron von Schiller, Beilage zum Brief vom 4.5.1815. In: Gambarin: Foscolo e l’Austria [Anm. 3], S. 49. 7 Metternich aus Wien am 31.5.1815 an Schraut. In: Gambarin: Foscolo e l’Austria [Anm. 3], S. 53. <?page no="183"?> Dante, Foscolo, Mazzini und die Konstruktion einer falschen Genealogie 181 glierie. Ora, da che ho sempre risposto, che uno può, anzi deve, nella sua terra scrivere e predicare, se sa, e fare, se può, quanto gli pare utile a’ suoi concittadini; ma che in paese d’altri s’ha da tacere come in casa d’altri, e portarsi da ospiti discreti e pacifici; da che io ho dato e ripetuto questa risposta, m’hanno bandito la croce addosso qui, come quei della setta contraria facevano contro di me in Italia. - Pur ci guadagno, dacché non mi vengono tanto dattorno, e mi lasciano riavere quello ch’io prima della loro venuta aveva ottenuto, di „dimenticarmi ed essere dimenticato dagli Italiani“. 8 Wie sehr sich in Italien noch immer das Bild eines revolutionsbegeisterten Foscolo erhalten hatte, zeigte die Tatsache, dass man eine anonyme patriotische Schrift, die in Italien unter großem Aufsehen zirkulierte, 9 ohne weiteres dem Autor des Ortis zuschrieb. Foscolo stellte im Brief an Mocenni Magiotti jedoch nicht nur klar, dass er nicht der Verfasser des anonymen Pamphlets sei, sondern dass es ihm als vollkommen zwecklos erscheine, den ‚Leichnam‘ Italien mit bloßer Publizistik zum Leben erwecken zu wollen: E quei pazzi, tanto in Piemonte quanto in Napoli, pubblicarono non so che dicerie (perch’io non le ho mai vedute) sotto il mio nome, senza rispetto alla mia poca fama come scrittore, né alla sicurezza degli amici. E perché altre volte me ne fu scritto da Firenze, vi affermo con giuramento („E questo fia suggel che ogni uomo sganni“) ch’io né scrissi mai né pensai di scrivere né per né contro la rivoluzione; - ch’io la lodo per l’intento, ma ne rido per l’evento in che riuscì, e per l’imbecillità di quelli che vi si ingerirono; - ch’io non ho cangiato mai, dacché ho potuto pensare, uno solo de’ miei principj politici, né, spero, li cangerò mai; - però mi sono volontariamente eletto l’esilio, e le fatiche e la vecchiaja e la sepoltura in terra straniera: ma che contentandomi oggimai di serbare le mie dottrine per me, mi crederei forsennatissimo se ambissi di applicarle all’Italia ch’io credo cadavere, e dove le mie opinioni, se fossero instillate in cervelli vulcanici, riescirebbero perniciose ad essi ed a molte famiglie, senza la minima pubblica utilità. E d’altra parte mi vergogno a crescere il numero dei tanti Italiani da Dante in qua, che non han saputo se non che gridare, gridare, gridare. 10 Die italienischen Patrioten, die diese und viele ähnliche Äußerungen Foscolos nicht kennen konnten, imaginierten den Mann, der die Jahre im englischen Exil bis zu seinem Tod 1827 krank und verbittert zugebracht hatte, weiter als den enthusiastischen Verfasser des Ortis und der Sepolcri und erschufen sich ihren eigenen Foscolo-Mythos. Während der wirkliche Foscolo, wie wir gesehen haben, spätestens seit 1821 nichts mehr mit ihnen und ihren politischen Projekten zu tun haben wollte, wurde der imaginierte Foscolo zu einem Märtyrer für die patriotische Sache. Die Revolutionäre, allen voran Mazzini selbst, lasen Foscolos Texte im Licht ihrer eigenen Überzeugungen, die unabhängig von dem wa- 8 Foscolo an Quirina Mocenni Magiotti, South Bank bei London, 6. August 1823. In: EN, Epistolario Bd. IX, S. 261-262; zu den europäischen Aktivitäten der italienischen Liberalen im Exil vgl. Maurizio Isabella: Italian Emigrés and the Liberal International in the Post-Napoleonic Era. Oxford / New York: Oxford University Press 2009. 9 Orazione d’un Italiano al Congresso d’Acquisgrana. 10 An Quirina Mocenni Magiotti [Anm. 8]. Bei dem Dante-Zitat, das Foscolo zur Bekräftigung seines Schwurs anführt, handelt es sich um Inferno, XIX, 21. <?page no="184"?> 182 Giuseppe Gazzola ren, was der Autor von den politischen Aktivitäten seiner Bewunderer dachte. Kurz gesagt, die Revolutionäre verehrten Foscolo, während er sie seinerseits bestenfalls als lästig, meistens aber als wahnsinnig betrachtete. Für diese Wahnsinnigen war Foscolo zu einem unvergänglichen Mythos geworden: ein Dichter und Kämpfer, der erste, der in der Gegenwart die ideale Einheit von Gedanken und Tat verkörperte. Er hatte für die Republik Venedig gegen die Österreicher gekämpft, er war Offizier der Armee der französischen Republik gewesen, er hatte Napoleon offen für seine despotischen Ambitionen kritisiert - wie hätte Mazzini sich einem solchen republikanischen Helden nicht verbunden fühlen sollen? Doch fast noch wichtiger für den nationalen Mythos war Foscolos Exil, wie eine rückblickende Formulierung Carlo Cattaneos von 1860 zeigt, in der der tiefere nationale Sinn von Foscolos trister Existenz in der Emigration formuliert wird - ein Sinn, der sich dem Betroffenen selbst freilich so nicht erschließen konnte. In einem langen Essay mit dem Titel „Ugo Foscolo e l’Italia“ schrieb Cattaneo: L’esilio pareva a Foscolo sventura senza compenso. Non presentiva che in seno a quei fortuiti e vaganti convegni, lungi dalla Italia vecchia, si faceva il primo ordito dell’Italia nuova. Che se quei deliberanti d’autorità propria non poterono apportare ai loro arbitrarj congressi il suffragio dei loro municipj, poterono infine attrarre a loro la coscienza della nazione. Era come un’anima nuova che si apprestasse a scendere entro un corpo nel quale si fosse estinta una prima vita. Foscolo, poco benigno estimatore degli uomini, giudicò quei compagni di sventura per quel che ciascuno sembravagli valere in sé e per sé; e li disprezzò; e preferse un esilio solitario e sconsolato, vendicando quasi sopra sé stesso le sciagure che l’invidia dei mediocri e la gelosia dei potenti gli avevano inflitto. E così parve disperare dell’Italia, e del progresso, e della ragione e della libertà. Ma le speranze a cui Foscolo sembrò farsi cieco, si rivelarono ad altri, che si erano nutriti di quelle eloquenti pagine ch’ei scriveva gemendo. E questi versarono prodigamente alle moltitudini ciò che Foscolo riputava gelosamente serbato agli eletti del gregge umano. 11 Foscolo hatte den italienischen Patrioten, wie Cattaneo im selben Text sagte, mit dem Exil eine ‚neue Institution‘ 12 gegeben. Dank der Kraft der Literatur und seines eigenen Beispiels habe Foscolo die Exilexistenz vom bloßen biographischen Unglück zu einem Gründungsmythos erhoben. Dank Foscolo und seiner Weigerung, 1815 in Mailand mit den Österreichern zu kollaborieren, konnten die italienischen Exilanten einen kraftvollen alten Mythos wiederbeleben, den nämlich des von der patria Verstoßenen, der seinen Protest gegen den Despotismus mit einer uneingeschränkten Hingabe an die Sache der Freiheit verbindet. Die Haltung, die die Revolutionäre mit Foscolo verbanden, war - mit ähnlich luftiger historischer Konsistenz - diejenige Dantes. Unter diesen jungen Revolu- 11 Carlo Cattaneo: Ugo Foscolo e l’Italia. In: Ders.: Scritti letterari. A cura di Piero Treves, Bd. 1. Firenze: Felice Le Monnier 1981, S. 496-555, hier S. 554-555. 12 So beschreibt Cattaneo die Auswirkungen von Foscolos Schritt vom März 1815 (ebd., S. 536): „E così Ugo Foscolo diede alla nuova Italia una nuova istituzione: l’esilio“. <?page no="185"?> Dante, Foscolo, Mazzini und die Konstruktion einer falschen Genealogie 183 tionären war der einflussreichste gewiss Giuseppe Mazzini. Wie viele junge Genuesen, die unter dem habsburgischen Joch der 1820er Jahre der Zeit der ligurischen Republik nachtrauerten - jener oligarchischen Republik also, die Foscolo mit der Waffe in der Hand verteidigt hatte und die den Rahmen für seine Ode an Luigia Pallavicini abgegeben hatte -, so war auch Mazzini ein eifriger Leser der Ultime lettere di Jacopo Ortis gewesen. In seinen Memoiren schreibt er dazu: Sui banchi dell’Università - v’era allora una Facoltà di Belle Lettere che precedeva di due anni i corsi legali e medici e ammetteva i più giovani - era cupo, assorto, come invecchiato anzi tempo. Mi diedi fanciullescamente a vestir sempre di nero: pareva di portare il lutto per la mia patria. L’Ortis che mi capitò allora fra le mani, mi infanatichì: lo imparai a memoria. La cosa andò tanto oltre che la mia povera madre temeva di un suicidio. 13 Die Nachfolge romantischer Verhaltensmuster stimulierte Mazzini zum politischen Handeln, das sich für ihn ableitete aus der über Foscolos Beispiel vermittelten Einsicht in den Zusammenhang zwischen der Unabhängigkeit des literarischen Geschmacks und der politischen und gesellschaftlichen Freiheit der italienischen Nation. Mazzini und seine Freunde und Anhänger (Francesco Domenico Guerazzi, Carlo Bini, die Brüder Giovanni und Jacopo Ruffini) betrachteten daher Foscolo als Autor, dem die Italiener zu Anerkennung verpflichtet seien, weil er die nationalpolitische Aufgabe des Literaten selbst vorgelebt und theoretisch reflektiert habe („tacendo degli altri meriti, gli italiani devono riverenza eterna [a Foscolo] per avere egli primo cogli atti e gli scritti rinvigorito a fini di Patria il ministero del Letterato“). 14 Mazzini begann deshalb, den explizit politischen Teil von Foscolos Werk neu zu edieren, um die patriotischen Aspekte der Mission des Literaten hervorzuheben. 1829 veröffentlichte er die zuerst 1799 erschienene Orazione a Bonaparte Liberatore und schrieb in seinem Einleitungstext: „L’Orazione […] starà gran tempo come documento delle nostre condizioni a quell’epoca: come testimonio della vera missione dello scrittore: come monumento di gloria alla memoria di Foscolo“. 15 Bereits hier ist ersichtlich, dass Mazzini selbst ein „monumento di gloria“ für Foscolo zu errichten begonnen hatte. Dieses Projekt sollte er um so energischer verfolgen, als er wenig später seinerseits ins Exil gehen musste und dabei Foscolos Spuren folgte. Mazzini kam 1837 in England an, nachdem er aus Frankreich und der Schweiz ausgewiesen worden war. Er musste sich dort eine neue Existenz aufbauen und für seinen Unterhalt sorgen, da er keine finanzielle Unterstützung von seiner Familie annehmen wollte; gleichzeitig musste er neue Allianzen für seine 13 Giuseppe Mazzini: Note autobiografiche. A cura di Roberto Pertici. Milano: Biblioteca universale Rizzoli 1986, S. 53. 14 Ebd., S. 61. 15 Hier zit. nach der Ausgabe Giuseppe Mazzini: Scritti editi ed inediti di Giuseppe Mazzini. Hg. von Mario Menghini. Imola: P. Galeati 1961, Bd. 1, S. 170. <?page no="186"?> 184 Giuseppe Gazzola Geheimorganisation Giovine Europa suchen. Es gelang ihm sehr schnell, Hilfe für sich selbst und für andere Exilanten zu finden, unter anderem durch regelmäßige Mitarbeit in englischen Zeitschriften, denen er relativ gut bezahlte Beiträge über die italienische Literatur lieferte. 16 Neben der Bezahlung bot diese Arbeit außerdem den Vorteil, dass Mazzini die politische Agitation für eine Revolution in Italien öffentlichkeitswirksam fortsetzen konnte. Er schrieb einen zweiten Essay über Dante, auf den ich weiter unten zurückkommen werde, und nutzte die publizistischen Gelegenheiten, die sich ihm boten, um in der Stadt, in der der Autor des Ortis gelebt hatte, weiter an einem „monumento di gloria“ für Foscolo zu arbeiten, wie er in seinen Note autobiografiche festgehalten hat: Il consorzio d’uomini letterati e lo scrivere intorno al moto intellettuale d’Italia ridestarono in me, in quei primi tempi di soggiorni in Inghilterra, il desiderio lungamente nudrito di crescere sempre più di fama a uno scrittore, al quale più che ad ogni altro, se si eccettui l’Alfieri, l’Italia deve quanto ha di virile la sua letteratura degli ultimi sessanta anni. Parlo d’Ugo Foscolo, negletto anch’oggi affettatamente dai professori di lettere, pur maestro di tutti noi, non nelle idee mutate dai tempi, ma nel sentire degnamente e altamente dell’arte, nell’indole ritemprata dello stile e nell’affetto a quel grande nome di patria dimenticato da quanti a’ suoi tempi scrivevano - ed erano i più - in nome di principi, d’accademie o di mecenati. 17 Der Zeitpunkt schien also denkbar günstig zu sein, um endlich die bereits seit langem angekündigte Foscolo-Biographie zu schreiben. Es lässt sich nicht mit Sicherheit belegen, aber sehr wahrscheinlich ist, dass Mazzini über den Kontakt mit anderen italienischen Exilanten in London - darunter vermutlich auch Camillo Ugoni, der für einige Zeit zur Untermiete bei Foscolo gewohnt und Foscolos Essays on Petrarch ins Italienische übersetzt hatte und den Foscolo in der Folge zu den politisch ‚Wahnsinnigen‘ rechnen sollte - auf die Spur von Foscolos umfangreichem handschriftlichen Nachlass geriet, den er schließlich bei Pickering, Foscolos letztem Verleger, ausfindig machte. Was genau enthielt der Nachlass? Mazzini selbst beschreibt seinen Fund: Io sapeva che, dei molti lavori intrapresi da lui nell’esilio, parecchi erano stati soltanto in parte compiti, altri erano, per la morte che lo colpì povero e abbandonato, andati dispersi. Mi diedi a rintracciar gli uni e gli altri. E dopo lunghe e infruttuose ricerche, trovai, oltre diverse lettere a Edgar Taylor - oggi contenute pressoché tutte nell’edizione, che io pure aiutai, di Lemonnier - quanto egli aveva compito del suo lavoro sul poema di Dante, e in foglietti di prove, due terzi a un dipresso della Lettera apologetica ignota allora intieramente all’Italia. Quest’ultima scoperta fu una vera gioia per me. Quelle pagine, senza titolo o nome d’autore, 16 Mazzini verdiente sein Geld also auf demselben Gebiet, auf dem Foscolo gescheitert war. Mazzinis Erfolg lag vor allem darin begründet, daß er bessere Konditionen aushandelte als Foscolo und für die einzelnen Beiträge weniger Energie aufwandte als sein Vorgänger. 17 Mazzini: Note autobiografiche [Anm. 13], S. 304. <?page no="187"?> Dante, Foscolo, Mazzini und die Konstruktion einer falschen Genealogie 185 stavano cacciate alla rinfusa con altri scritti laceri, e condannati visibilmente a perire, in un angolo d’una stanzuccia del libraio Pickering. 18 Mazzini fand also, um es zusammenzufassen, folgende Dokumente: Briefe von Foscolo an den Übersetzer Edgar Taylor, die zum Zeitpunkt der Niederschrift von Mazzinis Autobiographie bereits in der von Orlandini und Mayer veranstalteten Ausgabe der Opere edite e postume (Florenz: Lemonnier 1850) veröffentlicht worden waren, den Teil des Kommentars zur Divina Commedia, den Foscolo noch beendet hatte und auf den ich noch näher eingehen werde. Außerdem fand Mazzini die ebenfalls unvollendete Lettera apologetica, die von zentraler Bedeutung für das Verständnis von Foscolos letzten Lebensjahren ist und die Mazzini bereits 1844 in Lugano publiziert hatte, 19 sowie „altri scritti laceri“, von denen er nur sagt, dass sie mit Sicherheit vernichtet worden wären, hätte er sie nicht rechtzeitig gefunden. Diesem letzten Punkt der Liste schenkt Mazzinis Beschreibung nicht viel Beachtung, dabei wissen wir dank der letzten Bände der Nationalausgabe von Foscolos Korrespondenz, dass sich unter den „altri scritti laceri“ viele Briefe an italienische Empfänger fanden, u.a. an Niccolò Tommaseo 20 und an die ‚Donna gentile‘. Ich habe oben aus diesen Briefen zitiert um zu zeigen, dass Foscolo sich in den letzten Jahren seines Exils völlig von der Sache der italienischen Nationalisten abgewandt hatte und fast nur noch um seine prekäre finanzielle Situation und seine ebenso prekäre Gesundheit besorgt war. Mazzini hätte mit all diesem unpublizierten Material die Biographie schreiben können, die er 1836 noch mit Foscolos Bruder Giulio besprochen und die er der ‚Donna gentile‘ mehrfach brieflich zugesagt hatte. Er beschloss jedoch, nichts dergleichen zu tun. In seinen eigenen Briefen an verschiedene Korrespondenten und später in seiner Autobiographie behauptete er, er sei nicht dazu gekommen, weil er anderweitig zu beschäftigt und außerdem finanziell nicht gut genug gestellt gewesen sei, um die Publikationskosten auf sich nehmen zu können. 21 Mit Unterstützung der ‚Donna gentile‘ kaufte er dann aber den gesamten Packen Manuskripte vom Verleger Pickering: 18 Mazzini: Note autobiografiche [Anm. 13], S. 304-305. 19 Ugo Foscolo: Scritti politici inediti, raccolti a documentarne la vita e i tempi. Lugano: Tipografia della Svizzera italiana 1844. 20 Zu Tommaseos Schreiben im Exil vgl. den Beitrag von Renate Lunzer im vorliegenden Band. 21 So jedenfalls entschuldigt er sich gegenüber Quirina Mocenni Magiotti noch in einem Brief vom 14.11.1842, als der Druck des Dante-Kommentars bereits begonnen hatte: „Ho tante cose per le mani e sono così solo a condurle, che non so da che parte volgermi […] Non sono letterato che in via secondaria e per servire al fine. Or s’altri curasse un po’ più del fine, io mi curerei un po’ più di letteratura e forse avreste a quest’ora la Vita di Foscolo bella e finita“. Hier zit. nach Mazzini biografo e autobiografo [Anm. 1], S. 152. Und in den Note autobiografiche [Anm. 13], S. 307: „Manca una vita [sc. eine Biographie] ch’io m’era assunto di stendere e che purtroppo mi fu vietata dalla circostanze e da cure diverse. Unico avrebbe potuto - e dovuto - scriverla degnamente G. B. Niccolini; ed è morto, <?page no="188"?> 186 Giuseppe Gazzola Rinvenni io quelle carte […]. Ma il libraio, ignaro in sulle prime di quel che valessero e sprezzante, poi fatto ingordo dalla mia premura, ricusava di cederle s’io non comprava il lavoro sul testo dantesco - e ne chiedeva quattrocento lire sterline. Io era povero e non avrei potuto in quei giorni disporre di quattrocento soldi inglesi. Scrissi a Quirina Magiotti, rara donna e rarissima amica, perché m’aiutasse a riscattar le reliquie dell’uomo ch’essa aveva amato e stimato più ch’altri nel mondo; e lo fece; ma il libraio insisteva per cedere indivisi i due lavori o nessuno, ed essa non poteva dar tutto. 22 Um die noch fehlende Summe aufzutreiben, traf Mazzini mit dem in London niedergelassenen italienischen Verleger und Buchhändler Pietro Rolandi eine Vereinbarung, die vorsah, dass Rolandi Pickering bezahlte und dafür das Recht erhielt, die Divina Commedia mit Foscolos Kommentar zu publizieren, den Mazzini ihm zu liefern versprach. Mazzini hatte Rolandi nicht direkt belogen, aber verschwiegen, dass Foscolos Vorarbeiten nur für das Inferno vorlagen. Vermutlich hatte Mazzini zu diesem Zeitpunkt bereits beschlossen, den Kommentar und den Variantenapparat für Purgatorio und Paradiso alleine zu vollenden und unter Foscolos Namen zu publizieren. Er behauptete zwar nicht, ein Dantespezialist zu sein, doch gab er in dieser Zeit in der von ihm selbst gegründeten freien italienischen Schule Vorlesungen über Dante und schrieb einen Dante-Essay für die London and Westminster Review. Mazzinis Ansichten über Dante waren unverändert, der Dichter der Commedia war für ihn nach wie vor der Prophet der Nation. Mazzini richtete diesen Essay an die italienischen Emigranten in England, die sich, fern ihrer Heimat, zum großen Teil mit unqualifizierten Tätigkeiten durchschlagen mussten, und wollte diesen Landsleuten einen Anlass zum Nationalstolz bieten. Er präsentierte Dante deshalb als einen großen, unglücklichen Italiener, der ebenfalls ein Exilant gewesen sei und dennoch der erste Denker, der einen Entwurf für ein zukünftiges Italien vorzuweisen hatte. Mazzini schreibt in diesem Sinne am Anfang seines Essays: „Qual forza non aggiungerebbe alla vostra fede il sapere che il piu’ grande intelletto di tutta Italia, anzi di tutta Europa, era credente nella credenza che noi predichiamo, e tendeva allo scopo medesimo che noi oggi cerchiamo di raggiungere? “ 23 Die Behauptung einer gemeinsamen nationalen Identität, die die Leser dieses Essays mit dem biographischen Gegenstand verbinde, diente offenkundig dazu, die ersteren auf das moralische Niveau des letzteren zu heben und ihnen vermittels dieser Identifikation eine Perspektive zu eröffnen, die aus ihrer frustrierenden Gegenwart als Fremde in einem fremden Land in eine glorreiche Zukunft weisen sollte. Dante habe sein Exil mit Stolz und ohne seine Ideale aufzugeben ertragen, und das Exil aller nachfolgenden Italiener könne dem nicht nachstehen, ed aspetta tuttavia anch’egli la sua“. Gian Battista Niccolini war ein Jugendfreund Foscolos. 22 Mazzini biografo e autobiografo [Anm. 1], S. 151. Pickering versuchte offensichtlich, von Mazzini das Geld zurückzubekommen, das er Foscolo vorgeschossen hatte. 23 Ebd., S. 58. <?page no="189"?> Dante, Foscolo, Mazzini und die Konstruktion einer falschen Genealogie 187 da alle Italiener, von Dante an, auf dasselbe politische Ziel hingearbeitet hätten und noch hinarbeiteten. Mazzini wollte eine Genealogie erschaffen, und unter den Prämissen des Risorgimento ließen sich literarische und moralische Genealogie nicht voneinander trennen. Meine eingangs gestellte Frage ist nun nur noch eine rhetorische: Warum beschloss Mazzini, Geld, Zeit und Kraft in eine Arbeit zu stecken, deren Autorschaft er nicht einmal offen beanspruchen konnte, anstatt endlich die versprochene Foscolo-Biographie zu liefern? Die Antwort lautet, dass mit dem Material, das ihm vorlag, eine Biographie Foscolos bedeutet hätte, dass er dem Publikum den desillusionierten Foscolo der letzten englischen Jahre hätte vorführen müssen, der nicht mehr an die italienische Einheit glaubte. Foscolos Dante-Kommentar zu vollenden und den gesamten Text Foscolo zuzuschreiben, bot ihm hingegen die Möglichkeit, in einer einzigen, aufsehenerregenden Publikation zwei große Italiener zu feiern und sie zu Vorgängern seiner eigenen politischen Ideale zu machen. Mehr als zwanzig Jahre später gab Mazzini in seiner Autobiographie die Fälschung zu, versuchte aber, sie aus der Situation der 1840er Jahre heraus zu erklären: M’offersi come era debito mio verso il generoso editore, di dirigere tutto il lavoro e correggere le prove. Ora, strozzato dalla miseria e dalla malattia, Foscolo non aveva compito l’ufficio suo fuorché per tutta la prima cantica. Il Purgatorio e il Paradiso non consistevano che delle pagine della volgata, alle quali stavano appiccicate liste di carta preste a ricevere l’indicazione delle varianti, ma le varianti mancavano e mancava ogni indizio di scelta o di correzione del testo. Rimasi gran tempo in forse s’io non fossi in debito di dichiarare ogni cosa al Rolandi, ma Pickering era inesorabile a vendere tutto o nulla, e il libraio italiano non avrebbe probabilmente consentito a sborsare quella somma per una sola cantica. 24 Seine Arbeit sei deshalb aus einer ‚heiligen Pflicht‘ gegenüber den beiden großen italienischen Exilanten entstanden. Um Foscolos Andenken zu ehren, habe er sich ganz in Foscolos philologische ‚Methode‘ 25 versenkt: A me intanto sembrava obbligo sacro verso Foscolo e la letteratura dantesca di non lasciare che andasse perduta la parte di lavoro compita; e parevami di sentirmi capace di compirlo io stesso seguendo le norme additate dal Foscolo nella correzione della prima cantica e immedesimandomi col suo metodo, l’unico secondo me, che riscattando il poema delle servitù alle influenze di municipio (toscano o friulano non monta) renda ad essi il suo carattere profon- 24 Mazzini: Note autobiografiche [Anm. 13], S. 307. 25 Für scharfe Kritik an Foscolos dilettantischer philologischer Vorgehensweise vgl. Sebastiano Timpanaro (La filologia di Giacomo Lepopardi. Firenze: Le Monnier 1955, S. 201), der von den „insolenti sciocchezze“ gesprochen hat, die Foscolo begangen habe; vgl. außerdem die Foscolo gewidmeten Passagen in Roberto Tissoni: Il commento ai classici nel Sette e nell’Ottocento (Dante e Petrarca). Edizione riveduta. Padova: Editrice Antenore 1993. <?page no="190"?> 188 Giuseppe Gazzola damente italiano. Tacqui dunque e impresi io stesso la difficile scelta delle varianti, e la correzione ortografica del testo. 26 Mazzini scheint nicht bemerken zu wollen, dass er durch seine Vorgehensweise des „immedesimare“ (des ‚sich in Foscolo Hineinversetzens‘) Foscolo zu einem Vorläufer seiner eigenen Ideen gemacht hatte. Dasselbe Argument würde auch für den Dante gelten, den Mazzini in seiner Einleitung in die Dante-Ausgabe zeichnet. Im Sinne der Verunklarung der Autorschaft zeichnete Mazzini die Einleitung nicht mit seinem Namen, sondern nur mit „Un Italiano“: Dante è tal uomo i cui libri, studiati in un colla vita, sarebbero da tanto da ritemprare tutta una generazione e riscattarla dall’infiacchimento che tre secoli d’inezie o di servilità hanno generato e mantengono […]. Dante è una tremenda unità: individuo che racchiude, siccome in germe, l’unità e la individualità nazionale […]. La Patria s’è incarnata in Dante. La grande anima sua ha presentito, più di cinque secoli addietro e tra le zuffe impotenti dei Guelfi e dei Ghibellini, l’Italia: l’Italia iniziatrice perenne d’unità religiosa e sociale all’Europa, l’Italia, angiolo di civiltà alle nazioni, l’Italia come un giorno l’avremo. 27 Für Mazzini ist Dante somit ein Vorläufer eines geeinten Italien, wie Mazzini selbst es sich vorstellt. Mazzini gelangt zu seinem Dantebild jedoch über die kritische Vermittlung Foscolos, der als erster die politischen, ideologischen und menschlichen Aspekte des Dichters der Commedia in dieser Weise zusammengesehen hatte. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass der von Rolandi publizierte Dante-Kommentar die Namen Foscolos und Dantes unzertrennlich zusammenfügte. Mit dieser literarischen Operation trug Mazzini zur Schaffung eines nationalen Mythos bei, indem er die Autorität Dantes und Foscolos in wohlkalkulierter Weise benutzte, um die Vergangenheit so zu rekonstruieren, dass sie als Grundlage für die Zukunft dienen konnte, die er anstrebte. Warum ist diese Fälschung so interessant? Sicherlich nicht, weil sie Dante als den Vater der Väter der patria zu etablieren sucht - das hatten andere Autoren vor Mazzini bereits getan. Auch nicht, weil sie besonders bekannt geworden wäre, im Gegenteil: zu Anfang nahm man praktisch keine Notiz von der Ausgabe. Als Rolandi 1843 nach Italien zurückkehrte, um den Subskribenten das Werk zu präsentieren, stieß er in mehreren italienischen Staaten auf erhebliche Widerstände: in Neapel wurde die Auslieferung verboten, in Genua verlangte der Zensor, dass die Liste mit den Namen der Subskribenten der Polizei ausgehändigt werde, in Mailand wurden Rolandis Exemplare beschlagnahmt. Von einem rein philologischen Standpunkt aus hatte Mazzini, ungeachtet aller cura, die er im lateinischen Sinne des Wortes aufgewandt hatte, keine Leistung vollbracht, die aus der ‚Foscolo‘-Edition der Commedia einen bedeutenden Text 26 Mazzini: Note autobiografiche [Anm. 13], S. 307. 27 Zuerst 1842, hier zit. nach der anonym erschienenen Ausgabe der literarischen Schriften Mazzinis: Scritti letterari di un italiano vivente. Lugano: Tipografia della Svizzera italiana 1847, Bd. 2, S. 181-183. <?page no="191"?> Dante, Foscolo, Mazzini und die Konstruktion einer falschen Genealogie 189 gemacht hätte. 28 Vom literarischen Standpunkt aus gibt es auch keinen Skandal zu enthüllen, da Mazzini später selbst, wie wir gesehen haben, seinen Eingriff in den Text zugegeben hatte, ohne dass das ihn selbst oder sonst jemanden besonders gekümmert zu haben scheint. Die Fälschung ist vor allem als Fälschung von Interesse, weil sie deutlich zeigt, wie politisches Wunschdenken einen nationalen Kanon verändern kann. Der Dante-Kommentar ist also paradoxerweise gerade als Fälschung signifikant, indem er ganz augenfällig macht, wie Ideologie die Realität überformt. Wenn man glauben wollte, dass Dante der Vater der italienischen Nation sein konnte, oder dass eine einheitliche nationale Identität Dante, Foscolo und all die anderen italienischen Exilanten - trotz der offensichtlichen und tiefgreifenden individuellen Unterschiede - miteinander verband, dann zeigte das auch, wie eine sorgfältige Revision ‚nationaler‘ Geschichte die alltägliche Existenz von jedermann mit politischer Bedeutung aufladen konnte. Gleichzeitig ist der Dante-Kommentar ein Beispiel dafür, wie die politische Agenda nicht nur über Einschluss- und Ausschlusskriterien des Kanons bestimmt, sondern wie sie ganze Texte überhaupt erst im Blick auf einen nationalen Kanon entstehen lässt. (aus dem Englischen von Olaf Müller) 28 Vgl. auch dazu Tissoni: Il commento ai classici [Anm. 25]. <?page no="193"?> Renate Lunzer „Esule in casa mia, ma concittadino di più nazioni…“: Der Italokroate Niccolò Tommaseo Niccolò Tommaseo (1802-1874), Dichter, Linguist, Journalist und politischer Utopist, gehört neben Manzoni und Leopardi zu den bedeutendsten italienischen Autoren seiner Zeit. Man kennt ihn als Verfasser des monumentalen Dizionario della Lingua italiana oder des innovativen psychologischen Romans Fede e bellezza, an den Manzoni sein unvergesslich treffendes Urteil „Pasticcio von Faschingdienstag und Karfreitag“ geheftet hat. Weniger Raum hat die Forschung der vielschichtigen ‚Zwischenexistenz‘ dieses katholischen Intellektuellen gewidmet 1 . Sein freigewähltes Wanderleben und die höchst freimütige Autoreflexion, die seine enorme, heterogene literarische Produktion stets begleitete, stellen sich dem Blick des Kulturwissenschaftlers als Projektionsfläche dar, auf der sich heutige ‚Entortungs‘-Diskurse mutatis mutandis spiegeln können. Tommaseo, diese „Herme mit den vielen Gesichtern“ 2 , dieser grenzüberschreitende (kosmo-)politische Außenseiter des italienischen Risorgimento hat die poetics of displacement (James Clifford) antizipiert und entzieht sich - allen Vereinnahmungsversuchen zum Trotz - jeder einseitigen literaturkritischen oder nationalkulturellen Verortung. An seinen Ambivalenzen und Antinomien lassen sich auch innereuropäische Dominanzverhältnisse festmachen, die charakteristische Züge mit kolonialen Figurationen teilen. 1 Entillyrisierung Der Untertitel meines Beitrags ist gewissermaßen eine posthume Provokation; der Autor selbst hat sich niemals so bezeichnet, sondern als Dalmatiner; von den südslawischen Nationen privilegierte er die Serben, die damals ihr kleines Vojvodat tapfer kämpfend den Türken abgerungen hatten. Den Kroaten hingegen empfahl er: „Distedescate, o Croati, il linguaggio e l’anima“ 3 . Dennoch würden wir ihn nach heutigen Begriffen als Italokroaten definieren. 1 Die profundesten Untersuchungen zu diesem Aspekt kommen von (italo-)slawischer Seite. Das Standardwerk ist immer noch Jože Pirjevec: Niccolò Tommaseo tra Italia e Slavia. Venezia: Marsilio 1977. Ivan Katuši : Vje no progonstvo Nikole Tommasea [„N. Tommaseos ewiges Exil“]. Zagreb: Sveu ilišna zaklada Liber 1975, ist m.W. nur in kroatischer Sprache zugänglich. 2 Giovanni Papini: Sul Tommaseo scrittore. In: Edizione nazionale delle opere, I. Sul numero. Opera inedita preceduta da un saggio di G. Papini. Firenze: Sansoni 1954, S. X. 3 Niccolò Tommaseo: Ai popoli slavi. In: Scritti editi e inediti sulla Dalmazia e sui popoli slavi (a cura di Raffaele Ciampini). Firenze: Sansoni 1943, S. 89. <?page no="194"?> 192 Renate Lunzer Niccolò Tommaseo wurde als österreichischer Untertan in Šibenik Sebenico geboren, „einem miesen Loch in Dalmatien“ 4 , das der Hochbegabte so bald wie möglich gegen den Widerstand der unglücklichen Eltern zu verlassen suchte. Ich lasse hier alle genealogischen ‚Tommassich‘- und ‚Tommassovich‘- Konjekturen 5 beiseite und halte fest, dass er allenfalls zu einem Viertel als ethnischer Italiener gelten kann 6 ; er wuchs in einer bilingualen und bikulturellen italoslawischen Familie, inmitten einer Region mit hierarchisch organisierter Diglossie und Diethnizität auf. Von seiner analphabetischen Mutter Caterina Kevesi lernte er zwar bis zu einem gewissen Grad „Illyrisch“, wie das Serbokroatische damals bezeichnet wurde, verachtete es aber als ‚Küchensprache‘, denn in den Städten Istriens und Dalmatiens „dachte und sprach man seit Jahrhunderten italienisch und gehorchte auf slawisch“ 7 . Zurecht hat man Dalmatien mit einem Überschwemmungsgebiet verglichen, über das eine Eroberungswelle nach der anderen hinweggerollt war. Vom Anfang des 15. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts beherrschten die Venezianer die Region und hinterließen im Küstenstreifen den Stempel ihrer urbanen Elitenkultur, während der weitaus größte Teil der Bevölkerung (96,18% im Jahr 1846), die ‚indigenen‘ ruralen Slawen, infolge ihrer kulturellen Rückständigkeit vom öffentlichen Leben ausgeschlossen waren. Durchaus könnte man die Geschichte Dalmatiens aus der Perspektive der postcolonial studies als die einer innereuropäischen Kolonie betrachten 8 , ja der Dichter selbst spricht von einer „sventurata colonia“ 9 . Die endgültige Machtübernahme durch Österreich im Jahr 1814 änderte an den geschilderten Dichotomien nur wenig. Der Autor hat die prekäre Grenzidentität seiner Heimat in dem Gedicht „Alla Dalmazia“ (vor 1845 entstanden) mit dem drastischen Bild eines nur notdürftig am Körper baumelnden, halb abgehauenen Arms beschrieben: Siccome il braccio che, da corpo vivo, mezzo reciso, dolorosa noia, spenzola, in te così la vita altrui scarsa, o Dalmazia, e con dolor s’infonde. 4 Tommaseo, zit. nach Raffaele Ciampini: Vita di Niccolò Tommaseo. Firenze: Sansoni 1945, S. 3. 5 Vgl. ebd., S. 8-12. Vgl. auch Giacomo Debenedetti: Niccolò Tommaseo. Quaderni inediti. Milano: Garzanti 1973, S. 19-20. 6 Pirjevec: Niccolò Tommaseo [Anm. 1], S. 41. 7 Ebd., S. 24. 8 Für Sardinien geschieht dies bereits in einleuchtender Form, vgl. Birgit Wagner: Postcolonial Studies für den europäischen Raum. In: Christina Lutter / Lutz Musner (Hg.): Kulturstudien in Österreich. Wien: Löcker 2003, S. 85-100. 9 Tommaseo: Rami della famiglia italiana (manoscritto). Biblioteca Nazionale Firenze, Fondo Tommaseo, 47 [Ab jetzt: BNF]. <?page no="195"?> „Esule in casa mia, ma concittadino di più nazioni…”: Niccolò Tommaseo 193 […] Né ben d’altrui né tua ben fosti mai: patria viva non ha chi di te nacque. 10 Und daraus den Schluss gezogen: „ein lebendiges Vaterland hat keines deiner Kinder“. Tommaseo erhielt eine exzellente humanistische Ausbildung und tiefe katholische Prägung am Seminar in Split/ Spalato und studierte dann Jus in Padua, wo er mit dem reformkatholischen Philosophen Antonio Rosmini eine lebenslang dauernde, intellektuell äußerst fruchtbare Freundschaft schloss. Zu jener Zeit hatte die paradoxe Dialektik seiner „lebensweltlichen Ausgangsbedingungen“ 11 eine erste Klimax erreicht: die Heimat, das „barbarische“ Dalmatien mit seiner „trägen und bösartigen“ 12 Bevölkerung war dem unersättlich neugierigen, von der „wollüstigen Sehnsucht nach Italien“ 13 geplagten Studenten zum Exil geworden. „Ein Jahr der Verbannung und der tödlichen Qual“ 14 musste er nach Abschluss seines Studiums noch in Šibenik verbringen, bevor ihm der dramatische Absprung in ein freiwilliges Migrantendasein als homme de lettres - er selbst verwendet den augustinischen Begriff der „Pilgerschaft“ - gelang: […] ritornare in Dalmazia a far l’avvocato, io non avrei potuto senza un miracolo di virtù: Gli era mio destino oramai […] vivere per iscrivere; e scrivere talvolta per vivere: era mio destino non avere più né famiglia né patria né sede certa né domani sicuro; […] cercando alla mia vita uno scopo, al mio pellegrinaggio una missione come soave e severa necessità. 15 Aber die beabsichtigte totale „Entillyrisierung“, „disilliricar“, „italienisch werden bis in die letzten Nervenfasern“ 16 , glückte nicht vollkommen, zumal der aufbrausende Jungautor nicht überall Anerkennung fand und in der Beurteilung seiner Wahlheimat zwischen „Saturnia tellus“ und „Hurenitalien“ 17 zu schwanken anfing. Einerseits entwickelte er jenen kompensatorischen Überpatriotis- 10 Tommaseo: Opere. A cura di Mario Puppo. Firenze: Sansoni 1968, Bd. 1, S. 25-26. 11 Doris Bachmann-Medick: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M.: Fischer 1996, S. 40. 12 Niccolò Tommaseo-Antonio Rosmini: Carteggio edito e inedito. A cura di Vittorio Missori, Bd. 1 (1819-1826). Milano: Marzorati 1967, S. 99. 13 Tommaseo: Opere [Anm. 10], Bd. 2, S. 83 („voluttà dell’Italia“). 14 Tommaseo: Brief an Antonio Marinovi , 5. Sept. 1823. BNF, Tomm., 100, 27 („un’anno di esiglio, di tortura, di morte“). 15 Ebd. 16 Zitiert nach Ciampini: Vita [Anm. 4], S. 103. („Per poter vivere bene in Italia, far metamorfosi di sé medesimo, disilliricar e ridurre, italiani fino i nervi , le fibre, le ossa, e la pasta dell’anima tutta italiana […]“). 17 Tommaseo: Brief an A. Marinovi , 12. Juli 1824, BNF, Tomm., 100, 27 („Italia baldracca“). <?page no="196"?> 194 Renate Lunzer mus 18 , der für eine periphere, überwiegend linguistisch-literarisch verankerte Italianität der adriatischen Ostküste so typisch ist, andererseits forderte er als militanter Kulturkritiker und politischer Utopist sein jeweiliges italienisches Milieu durch ostentative Alterität heraus. Dazu gehört, dass er seine Beiträge in Vieusseuxs „Antologia“, zu deren festen Mitarbeitern er seit 1827 zählte, mit der Sigle KXY zeichnete, also drei Buchstaben, die das italienische Alphabet nicht kennt. Auf dem Gebiet der Linguistik leistete Tommaseo mit dem Dizionario dei Sinonimi (1830) bereits in jungen Jahren Bleibendes. Seine gesteigerte Sensibilität für den Wert der Signifikanten - Papini merkt an, dass sich der Dalmatiner mit dem Italienischen wie mit einer Fremdsprache beschäftigte 19 - ist ohne Zweifel aus seiner polyglotten Sozialisation abzuleiten: in einer liminalen Zone aufgewachsen und schon als Kind mit mehreren Sprachen (dalmatovenetischer Dialekt, Toskanisch, ‚Illyrisch‘, Latein) konfrontiert, brachte er seine komplexe Perspektive in kreative Übersetzungs- und Transformationsprozesse ein. Der Belgrader Italianist Nikša Stip evi hat die lebenslange komparatistische Spracharbeit Tommaseos folgendermaßen auf den Punkt gebracht: […] die Leidenschaft für die Sprache […] ist sein aufregendstes geistiges Abenteuer. Die Sprachenfrage zieht sich durch die ganze italienische Romantik, aber bei Tommaseo nimmt die Begeisterung für linguistische Phänomene die Züge sinnlicher Lust an. […] Tommaseo besaß die typische linguistische Sensibilität eines Mehrsprachigen, der den Wert einer Bedeutung in der klaren Abwägung von Divergenz und Identität wahrnimmt. 20 1833 wurde die progressistische „Antologia“ verboten. Tommaseo, der mit österreichkritischen Äußerungen dazu beigetragen hatte, geriet ins Visier des toskanischen und somit des österreichischen Polizei- und Spitzelapparats. Dies war einer der Gründe, warum er 1834, ohne eigentliche Bedrohung, die Flucht nach Frankreich, in das von ihm so genannte „primo esiglio“, antrat. Ausschlagge- 18 Als Cesare Cantù im Zusammenhang mit einem Projekt der „Geschichte von 100 italienischen Städten“ an Tommaseo die Frage nach seiner ethnischen Zugehörigkeit richtete, antwortete dieser postwendend: „Io sono italiano, perché nato da sudditi veneti, […] perché il padre di mia nonna è venuto in Dalmazia dalle valli di Bergamo. La Dalmazia, virtualmente, è più italiana di Bergamo, ed io, in fondo in fondo sono più italiano dell’Italia. […] La Dalmazia, ripeto, è terra italiana per lo meno quanto il Tirolo, certo più di Trieste, e più di Torino. La lingua che io parlai bambino è povera ma francesismi non ha: ed è meno bisbetica de’ più tra i dialetti d’Italia.“ Il primo esilio di N. Tommaseo (1834- 1839). Lettere di lui a Cesare Cantù, edite e illustrate da E. Verga. Milano: Tip. Gogliati 1904, S. 134. 19 Papini: Sul Tommaseo scrittore [Anm. 2], S. XVI. 20 Zitiert bei Snežana Milinkovi : N. Tommaseo nella critica e storiografia letteraria serba. In: N. Tommaseo a 200 anni dalla nascita. Atti del Convegno (Udine, 9 ott. 2002), a cura di Silvio Cattalini. Udine: Associazione Nazionale Venezia Giulia e Dalmazia 2003, S. 104. Ähnliche Aussage in Nikša Stipcevic: Tommaseo nella letteratura serba. In: Atti del Convegno Niccolò Tommaseo nel centenario della morte (Venezia, 30 maggio-1 giugno 1974), a cura di Vittore Branca e Giorgio Petrocchi. Firenze: Olschki 1977, S. 580. <?page no="197"?> „Esule in casa mia, ma concittadino di più nazioni…”: Niccolò Tommaseo 195 bend war der Wunsch des Schriftstellers, seinen großangelegten Entwurf einer politisch-religiösen Erneuerung Italiens, die fünf Bücher Dell’Italia, zu veröffentlichen, was in Italien selbst nicht möglich gewesen wäre 21 . Dieses gedanklich inhomogene, oft fragmentarische Manifest seines spezifischen sozialliberalen Katholizismus, klarer in der pars destruens (Bücher 1 und 2) als in der pars construens, zeigt sich unter anderem stark von den Thesen Lamennais’ und der Saint-Simonisten („Saint-Simon […] sottoposto al controllo della fede cristiana“ 22 ) sowie von Mickiewiczs polnischem Messianismus beeinflusst. Den Einsatz von Gewalt zur Erlangung der Freiheit lehnt Tommaseo ab und somit auch Mazzinis Konspirationen, die er hier und andernorts sarkastisch verurteilte, wie ihm auch dessen Ablehnung des katholischen Glaubens und die Volksferne seiner Giovine Italia mit italienischem Führungsanspruch zuwider war: „que’ quattro gatti che formano la Giovine Italia, Germania e le altre gioventù geografiche“ 23 . Politische Fragen sind für den Dalmatiner auf solche der Moral und der Religion zurückzuführen, die Freiheit erfordert einen langwierigen, leidvollen, breiten Erziehungsprozess der Völker 24 . Richtig verstandenes und gelebtes Christentum ist identisch mit Freiheit, aber das Christentum ist nach Tommaseo auch noch nicht annähernd zur Lösung sozialer Fragen herangezogen worden. Im Gegenteil, der Papst - es ist Gregor XVI., den der Autor mit einer Fülle wüster Anklagen überschüttet - und der Klerus sind vielleicht noch korrupter als die weltlichen Machtträger Italiens. Demgemäß nimmt die neu-welfische Politutopie Tommaseos andere Züge an als die etwas spätere Giobertis: es ist ein revolutionärer guelfismo auf föderativer und republikanischer Basis (Passerin d’Entrèves), der die Abschaffung der weltlichen Herrschaft des Heiligen Vaters postuliert und seine Hoffnungen auf einen demütigen Papst der universalen Liebe setzt. Bemerkenswert sind die sozio-ökonomischen Intuitionen des jungen Autors - man könnte durchaus von einer „andata al popolo“ sprechen - die ihn, mit aller Vorsicht gesprochen, als einen Vorläufer des modernen Sozialismus erscheinen lassen: 21 „[…] deliberato di lasciare l’Italia, per poterle più intimamente parlare de’ suoi dolori. Da quel punto annegai in cuor mio l’eredità paterna, il consorzio degli amici, la vista del cielo d’Italia, l’amplesso di mia madre, e abbracciai come donna mia la povertà, come madre l’Italia“ - so begründet Tommaseo seine Flucht in den Memorie politiche (Un affetto. Hg. von Michele Cataudella. Roma: Edizioni di storia e letteratura 1974, S. 53.) 22 Ciampini: Vita [Anm. 4], S. 203. 23 Tommaseo: Dell’Italia libri cinque (introduzione e note di Gustavo Balsamo Crivelli). Torino: UTET 1926, Bd. 2, S. 174. 24 Debenedetti: Niccolò Tommaseo [Anm. 5], S. 193, zum Gedicht „L’Italia“: „[…] è questo l’eterno, incorreggibile paradosso del Tommaseo politico che […] rimane un politico impolitico […]: paradosso di volere introvertire la politica. Erano le idee espresse nel libro Dell’Italia, dove appunto riduceva le questioni politiche a questioni esemplarmente morali e religiose“. <?page no="198"?> 196 Renate Lunzer […] finattanto che al povero operoso non saranno infallibilmente certi il lavoro ed il vitto, società non avremo. 25 Der prophetische Ton, der feierliche Rhythmus der Bücher Dell’Italia und nicht zuletzt die Überzeugung, dass künftige Erlösung nur durch gegenwärtiges Leiden zu erkaufen sei, verraten, ebenso wie explizite intertextuelle Referenzen, die tiefe Anteilnahme und Begeisterung, mit der Tommaseo die Bücher des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft Mickiewiczs gelesen hatte. Hier hatte der polnische vates die Leiden seiner Nation und die politische Ohnmacht der polnischen Emigration nach dem Aufstand von 1830-1831 zur notwendigen Voraussetzung für die Wiedergewinnung der Freiheit Polens und darüber hinaus umgedeutet. Die Wahlverwandtschaft zwischen den beiden unorthodoxen Katholiken, Tommaseo und dem polnischen Nationaldichter, ist unübersehbar: beide von der Allegorie des Daseins als Pilgerreise fasziniert und geleitet, beide vom Nutzen und der Notwendigkeit des Schmerzes durchdrungen, beide die Freiheit in der religiösen Erneuerung suchend, beide der institutionalisierten vatikanischen Hierarchie suspekt, landen sie folgerichtig - übrigens gemeinsam mit Lamennais - auf dem Index. Parallel zur freiwilligen „Exilierung aus Italien und von zu Hause“ 26 verlief die literarische Reflexion dieser dramatischen Metamorphose. Bereits auf den Stationen seiner Reise nach Paris entstehen Gedichte, in denen er einerseits eine persönliche Programmatik des Exils mit seiner reinigenden, formativen Schmerzerfahrung entwirft, die sich grundlegend von der agitatorischen Vaterlandslyrik des Risorgimento unterscheidet, und andererseits die eigenen Widersprüche und Schuldgefühle in eine schwindelerregende Philosophie der menschlichen Ambivalenz integriert. Der Dichter zeigt sich, wie Ivan Katuši sagte, als „veliki meštar dvozna nosti“ 27 , als großer Meister der Zweideutigkeit auch auf ästhetischer Ebene: die Gedichte weisen eine häufig bis zum Oxymoron zugespitzte antithetische Struktur auf und alles wird - einem „zweifach widersprüchlichen Verlangen“ („doppio discorde desio“, L’umanità, V. 43) gehorchend - auch sein Gegenteil. Häufig tauchen die Metaphern des psychophysischen ‚Irregehens‘ („Perché l’uom, dell’errar non mai lasso, / cade, e sorge, e ricade a ogni passo“, L’umanità, V. 40-42), der rast- und ruhelosen Lebensreise, der ständig wie Tag und Nacht sich wandelnden Formen auf und ein fester Schlussstein in all dem Schwanken kann nicht die Tugend („più non regge l’umana virtù“, L’umanità, V. 48), höchstens die Liebe sein, falls wir sie denn lernen („s’impara ad amar“, Il tempo, V. 73). 25 Tommaseo: Dell’Italia, II [Anm. 23], S. 213. 26 Zit. nach Ciampini: Vita [Anm. 4], S. 198 (aus: „Dichiarazione“ di Tommaseo allegata all’ed. 1870 Dell’Italia). 27 Ivan Katuši : Vje no progonstvo [Anm. 1], S. 117. <?page no="199"?> „Esule in casa mia, ma concittadino di più nazioni…”: Niccolò Tommaseo 197 In den ‚extrovertierten‘ Senaren des programmatischen Gedichts „Esilio volontario“, also auch auf prosodischer Ebene, entdeckt Giacomo Debenedetti die Antinomien des ‚introvertierten‘ Dichters. In seiner Tommaseo-Studie, einem Musterstück der critica psicologica , erinnert er uns daran, dass Mamelis Hymne im gleichen Metrum abgefasst ist, ohne, wie bei Tommaseo, zu einer ‚autobiographischen Elegie‘ zu retardieren, wie er überhaupt eine militante, exhortative, gegen den Oppressor gerichtete Literatur des risorgimentalen Exils von Tommaseos intimistischer Poesie unterscheidet, die eine mehr gesuchte als erlittene Expatriierung verarbeitet. Genauso wie Italien für Tommaseo ein „tremendo mistero“ („Esilio volontario“, V. 13) darstellt - der Begriff ist aus der Mystik geborgt -, so überlagert die in Jahrhunderten europäischer Kulturtradition hoch aufgeladene Metapher des ‚Exils‘ in seiner Dichtung häufig die historischbiographische Bedeutung. Weit über die - seit Dante geläufige - Dimension der moralischen Läuterung hinaus, die der heterodoxen Italianität Tommaseos Würde und Charisma im politischen Kampf verleihen konnte, wird ihm das Exil zum Gleichnis der Existenz überhaupt. Unmissverständlich fasst das Selbstgespräch in der ersten Strophe von „Esilio volontario“ die Grundbefindlichkeit des Dichters in tänzerisch bewegtem Rhythmus zusammen: Tua patria è l’esiglio, / tua sede il periglio, / tua legge l’amor. 28 Und wie in einem verdüsterten Echo bestätigt die letzte Strophe von „Il tempo“ (ebenfalls auf der Reise 1834 in Aix entstanden) diesen trinomischen Befund: Nell’ira vilana [sic], nel vile periglio, nell’esule patria, nel libero esiglio, ne’ dubbi, nel sangue, s’impara ad amar. 29 „[E]sule patria“ - die Exilheimat, und das Heimatexil: dies ist mehr als ein äußerstes sprachliches Wagnis. Ich kann hier nur andeuten, wie Tommaseo auf die traumatischen Seiten des französischen Exils reagierte: mit einer geradezu obsessiven Bewahrung seiner italienischen Sprachkompetenz - Angst, „geringer zu werden als er selbst“ 30 , quälte ihn -, mit einer manieriert übertreibenden Polemik gegen die laizistischrevolutionären Traditionen des ‚verderbten‘ Frankreich, die sich im übrigen auch durch den Roman Fede e Bellezza zieht, schließlich mit der ‚Exilierung zum Quadrat‘ in seine vier Wände: „[…] quando […] posso esiliarmi di Francia, 28 Tommaseo: Opere [Anm. 10], Bd. 1, S. 10-11. 29 Ebd., S. 59. 30 „[…] la tediosa necessità di tradurre le mie idee, conobbi allora quanto sia facile ad un uomo che vive in terra straniera diventare minor di se stesso. Se cosa mi scappava detto che fosse elegantemente francese, io ne arrossivo, e la ritraducevo in italiano“. „Memorie poetiche“. In: Ebd., Bd. 2, S. 316. <?page no="200"?> 198 Renate Lunzer mi sento felice“ 31 . Als exsul sui generis distanzierte sich Tommaseo im Sinne einer ethisch-politischen Profilierung von den Streitereien der italienischen Emigranten, lernte aber die brillantesten Köpfe der polnischen Emigration kennen, unter anderem den bewunderten Mickiewicz, der ihm in der „schmutzigen und wenig gastfreundlichen französischen Hauptstadt“ wie ein „Veilchen in Sibirien“ 32 anmutete. 2 Reillyrisierung Es kann nicht unerwähnt bleiben, dass der stets zwischen „Sakristei und Bordell“ hin und her gerissene Libertin Tommaseo sich in Frankreich mit dem mal francese ansteckte, was vermutlich die tragische Konsequenz der frühzeitigen Erblindung nach sich zog 33 . Auch der Krankheit wegen begab er sich nach Korsika, wo er in dem Konsul Adolf Palmedo einen Freund fand, der seinem weiteren Leben und seiner Kunst eine entscheidende Wendung gab 34 . Er machte ihn nämlich auf den bereits klassisch gewordenen Reisebericht des Abbate Fortis, Viaggio in Dalmazia, aus dem Jahr 1774 aufmerksam und auf die darin abgedruckte Ballade von der Hasanaginica, die das Interesse der europäischen Intelligenz für die ‚morlackische‘, das heißt, die serbokroatische Literatur eingeleitet und eine wahre Lawine von Übersetzungen durch die brillantesten Geister der Zeit ausgelöst hatte. Goethe übertrug den „Klaggesang von der edlen Frauen des Asan-Aga“ bereits 1775, allerdings nach einer anderen deutschen Übersetzung, für Herders „Volkslieder“. Es folgten bis 1841 Walter Scott, Charles Nodier, Prosper Mérimée, Gérard de Nerval, Alexander Puschkin, Adam Mickiewicz und viele andere. 1814 war in Wien die ebenfalls klassische Sammlung des Vaters der serbischen Schriftsprache, Vuk Stefanovi Karadži , Srpske Narodne Pesme erschienen, und um sie lesen zu können, lernten Jacob Grimm und Wilhelm von Humboldt während des Wiener Kongresses, an dem sie teilnahmen, Serbokroatisch. Noch 1827 hatte Mérimée mit seiner Mystifikation La Guzla. Choix de poésies illyriques recueillies dans la Dalmatie, la Croatie e l’Herzégovine die Welt genarrt, fast wie Macpherson mit seinem Ossian. Tommaseo hatte die romantische Begeisterungswelle für die südslawische Epik zwar registriert, aber - klassischer Fall von Verdrängung - kein wirkliches Interesse 31 Niccolo Tommaseo-Gino Capponi: Carteggio inedito dal 1833 al 1874, per cura di Isidoro del Lungo e Paolo Prunas. Bologna: Zanichelli 1911, Bd. 1, S. 113. 32 Ebd., S. 263. 33 In diesem Zusammenhang berührt uns die das Gedicht „Esilio volontario“ abschließende Bitte seltsam, als wäre sie mehr denn ein Reflex von Tommaseos „dolorismo“: „Se il cieco, o Signore, / travia dal suo corso, / un nuovo dolore / gli insegni il rimorso. / Un acre deliro, / o un dolce sospiro / mia vita sarà.“ Tommaseo: Opere [Anm. 10], Bd. 1, S. 12. 34 Vgl. Tommaseo: Adolfo Palmedo. In: Annuario dalmatico, a. II, Spalato, 1861, S. 104- 109. <?page no="201"?> „Esule in casa mia, ma concittadino di più nazioni…”: Niccolò Tommaseo 199 für jene Schätze entwickelt, die er seinerzeit in Sebenico vor der Haustüre gefunden hätte. Nun aber versetzte ihn die Palmedo verdankte Entdeckung der Hasanaginica in heftige Erregung 35 , wozu auch seine Gewissensqualen beitragen mochten: seine Mutter lag in Šibenik im Sterben, ohne den Sohn noch einmal wiedersehen zu können; es wäre nicht verwunderlich, wenn er das Schicksal der unglücklichen Heldin der Ballade - die Trennung von ihren Kindern bricht ihr das Herz - mit dem der eigenen Mutter in eins gesehen hätte. Am Tag, als Tommaseo die Nachricht vom Tod der Mutter erhielt, erließ Kaiser Ferdinand I. anlässlich seiner Krönung in Mailand eine politische Amnestie. So konnte der Dichter in seine Heimatstadt zurückkehren, wo ihm, man kann es nicht anders sagen, der Himmel einen weiteren, idealen Lehrer zur ‚Reillyrisierung‘ schickte. Schon anlässlich der offiziellen Begrüßung hatte Tommaseo die Absicht geäußert, seine Illyrischkenntnisse zu erneuern. Diesem Wollen des berühmten Heimkehrers kam der Publizist, Übersetzer und Volksbildner Spiridion Popovi , ein Angehöriger der serbisch-orthodoxen Minderheit in Dalmatien, entgegen. Popovi verfügte als wohlhabender Grundbesitzer über genügend Muße für diese Aufgabe, obendrein über eine umfassende Bildung auch in der südslawischen Literatur. Da er als Orthodoxer in geringerem Maß an die dominierende italienische Nationalität assimiliert war als slawische Aufsteiger katholischer Konfession, repräsentierte er ein Slawentum, das seine Lymphe aus der linguistischen Einheit des Serbokroatischen zog. Außerdem war er ein Anhänger des ‚Illyrismus‘, einer - ich verkürze aufs äußerste - von dem Kroaten Ljudevit Gaj 1835 gegründeten jugoslawistischen Kulturbewegung mit politischem Hintergrund, die sich in adeligen und bürgerlichen Schichten Kroatiens und Slawoniens schnell verbreitet hatte, weniger bei den Serben und den Slowenen. Tommaseo verfasste bereits nach acht Tagen eine Elegie in ikavischer Variante 36 auf den Tod seiner Mutter. Diese „heiligen Worte zu ihrer Erinnerung“ 37 beweisen einmal mehr seine enge Mutterbindung, eine wahre ‚Schmerzliebe‘, die sich häufig in seinen Träumen niederschlug 38 . Als Tommaseo im Winter nach Venedig zurückkehrte, wo er nun zu bleiben gedachte, war die Rekonstituierung seiner slawischen Identität weit fortgeschritten. Popovi war es gelungen, seinen ‚Schüler‘ in zahlreichen - von den österreichischen Spitzeln pünktlich beobachteten - Gesprächen so sehr für das nationale Erwachen der Slawen und im besonderen für die moralische Evolution 35 „Viene l’annoverese Palmedo. Si parla di cose che m’eccitano il pensiero“ notierte Tommaseo am 28. Okt. 1838 im Diario intimo (a cura di R. Ciampini). Torino: Einaudi 1939, S. 272. 36 „Scrissi anche in prosa illirica una cosetta a mia madre: con errori di grammatica, ma con sapore e calore slavi, perché l’intimo delle lingue al senso mio si rivela“ (8. Dez. 1839 an den Marchese Capponi, Carteggio Tommaseo-Capponi [Anm. 31], Bd. 2, S. 147-148). 37 Tommaseo: Opere [Anm. 10], Bd. 2, S. 43. 38 Vgl. Stefano Jacomuzzi: L’esperienza del sogno nel Tommaseo. In: Atti del Convegno Niccolò Tommaseo nel centenario della morte [Anm. 20], S. 231-253. <?page no="202"?> 200 Renate Lunzer der dalmatinischen Slawen zu begeistern, dass dieser den Plan fasste, in der Volkssprache etwas zu schreiben, „das meine verehrungsvolle Liebe zu diesem Volk und zur ganzen [slawischen] Nation zeigt“ 39 . Es waren dies die Iskrice („Funken“), 33 [! ] kurze, lyrische Prosatexte, in ihrer fast liturgischen Inbrunst mit Mickiewiczs Büchern der polnischen Pilgerschaft eng verwandt, geprägt von der Überzeugung, dass der Dichter nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine politische und zivile Sendung zu erfüllen habe. Unter anderem wagte er in dieser großartigen Vision seines reanimierten Slawentums für das multiethnische und multikulturelle Dalmatien die Funktion eines „goldenen Verbindungsringes zwischen den freien slawischen Schwesternationen“ 40 zu erhoffen. Die leidenschaftliche Beschwörung einer friedlichen, freiheitlichen Zukunft aller Slawen schließt mit dem Appell, die inneren Hegemoniegelüste zu unterdrücken (hier mag es Tommaseo schwer gefallen sein, seine tiefe Abneigung gegen die Russen zurückzuhalten 41 ) und die Zivilisation der schwächeren, unterentwickelten Kinder der großen slawischen Familie mit geduldiger christlicher Liebe zu befördern. Getrübt wird die Utopie dieser „fratellanza dei popoli“ freilich vom Bewusstsein des realen machtpolitischen Gefälles zwischen einzelnen slawischen Nationen und nicht zuletzt von den ethnisch-sozialen Gegensätzen in seiner engeren Heimat. Als Therapie gegen dieses beleidigende Ungleichgewicht („oltraggio“) empfiehlt er der italienischen / italianisierten Elite vor allem die Anerkennung der nationalen und kulturellen Werte der slawischen Bevölkerung: Al Dalmata cittadino appaia veneranda la forte semplicità del Morlacco ignudo; il Croato giornalista s’inchini dinanzi al berretto del Serbo libero […] 42 Auf einer „andata al popolo“, wenn auch mit anderen Vorzeichen, hatte Tommaseo schon in Dell’Italia insistiert; sie scheint im Hinblick auf die gefährliche Spannung zwischen der dominanten und der dominierten Ethnie im adriatischen Küstenland von großer politischer Weitsicht und wurde leider bis herauf ins 20. Jahrhundert nie umgesetzt. Nie entwickelte sich dort eine egalitäre italienischslawische Bikulturalität und die ‚tausendjährigen Lateiner‘ fuhren fort, die ‚Alloglotten‘ aus dem Umland der italienischen Stadtinseln Istriens und Dalmatiens zu missachten. Die letzte furchtbare Klimax dieser Koppelung von Klassen- und ‚Rassen‘-Feindschaft war die brutale Entnationalisierungspolitik der Faschisten, 39 Tommaseo, Opere [Anm. 10], Bd. 2, S. 43. 40 „Dalmazia, non avesti mai propria vita; da gran tempo dietro al carro d’altri popoli trascinata. Volentieri morrei…] se potessi sperare che tu diverrai aureo anello del vincolo che tutte insieme congiunga le libere slave sorelle“. Ebd., S. 45. 41 Den machtgierigen Russen rät er, mehr die Leiden der (von ihnen) Gedemütigten zu respektieren als deren Waffen („il Russo prepotente tema, più che i cannoni, il gemito del Polacco avvilito“. Ebd., S. 69). 42 Ebd. <?page no="203"?> „Esule in casa mia, ma concittadino di più nazioni…”: Niccolò Tommaseo 201 welche schließlich die Tragödie der foibe und den Exodus der oberadriatischen Italianität nach 1945 zur Folge hatte. An der Vollendung der Iskrice im Jahr 1840 war der treue Spiridion Popovi als linguistischer Ratgeber und Korrektor maßgeblich beteiligt. Wie sehr Tommaseos neuerwachtes Vertrauen in die zukunftsträchtigen Kraftquellen der einigen slawischen Völker von panslawischen Konzeptionen (Pavel Josef Šafa ik - Einheit der Slawen aus dem Geist der Liebe; Jan Kollár - Slawen als Retter der Welt) beeinflusst war, wird im einzelnen schwer festzustellen sein. Solche Gedanken waren im Umlauf und keineswegs zur Freude des österreichischen Zensors. So passierten auch die Iskrice die österreichische Zensur in Venedig nicht und erschienen erst 1844 in einer nicht von Tommaseo genehmigten Fassung in Zagreb, „dem ganzen jugoslawischen Volk“ gewidmet. Der Erfolg war enorm, sie wurden in mehrere Sprachen übersetzt und reihten den - wenn auch wegen des ‚Raubdrucks‘ wütenden - Dichter unter die slawischen vates ein. 43 Er ließ bald neben anderen, der Palingenese der Slawen gewidmeten Schriften die Sammlung und Übersetzung serbischer Volkslieder, Canti illirici, folgen. Sie waren mithilfe eines Guslaren aufgezeichnet worden, eines einfachen popolano aus Šibenik, Nikola Bla e, der für die eher bescheidene Summe von drei Florin alles diktierte, was er an Liedern kannte 44 . Im bemerkenswerten Vorwort betrachtet Tommaseo auf den Spuren Giambattista Vicos die Volksdichtung als historisches, an nützlichen Lehren reiches Dokument. Die Serben haben ihre Siege und Niederlagen bis herauf zum Triumph des Kara or e über die Türken bei Mišar (1806) in ihre, homerischen Geist atmende, Heldendichtung übertragen, und so empfiehlt er in Umkehrung des Stereotyps vom zivilisatorischen 43 In der folgenden Notiz aus dem Testamento letterario scheint uns vor allem die Überlegung interessant, daß der Erfolg der Iskrice unter Umständen aus Tommaseo einen serbokroatischen Schriftsteller hätte machen können: „Le Scintille che scrissi in illirico (altre dal libretto italiano) scrissi aiutato quanto alla correttezza grammaticale; hanno di mio la parsimonia del dire e il congegno de’ numeri, doti ignote agli scriventi in lingua slava; e però quel libercolo rimarrà. È venne accolto dagli Slavi con tanto amore, che s’io non avessi mirato ad altro che al rumor della fama e amata meno l’Italia, quello n’era stimolo, e non riprovevole, ad abbandonare le lettere italiane, e volgere la parola a nazione più giovane, meno ricca in opere e in ingegno, e non dirò più riconoscente, ma più indulgente all’umili mie fatiche. Lascio in questa lingua poche pagine inedite, e non posso senza rammarico pensare di nulla ormai potere per essa“. Tommaseo: Opere [Anm. 10], Bd. 2, S. 382. 44 Auch der blutjunge Graf Giovanni Buratti (er studierte später in Wien, wo er Vuk Karadži kennenlernte und eine Doktorarbeit über „Austria, stato slavo“ schrieb) sammelte für Tommaseo Volkslieder, vor allem in der Gegend um Drniš, wo er damals lebte. Vgl. Carteggio Tommaseo-Popovi , a cura di Mate Zori , I parte (1840-1841). In: Studia Romanica et Anglica Zagrabiensia 24 (dic. 1967), S. 203. <?page no="204"?> 202 Renate Lunzer Gefälle zwischen Westen und Osten (‚Balkan‘) den Freiheitskampf der Serben gegen die Türken als Modell für die italienische Unabhängigkeitsbewegung 45 . 3 Revolutionär wider Willen Es mag wohl sein, dass die Kondition des andauernden displacement 46 , in dem der Autor lebte, ihm einen ‚entfremdeten‘ und somit luzideren Blick bescherte als anderen Protagonisten des Risorgimento. Sicher ist, dass er versuchte, die Sache des Risorgimento im internationalen Kontext zu sehen und in den Jahren der Gärung vor dem Revolutionsjahr 1848 dazu riet, Verbindung mit den antiösterreichischen Kräften Deutschlands und mit den Slawen aufzunehmen 47 . Er fand jedoch wenig Gehör, da er mit keiner der Parteien im Spiel wirklich übereinstimmte, denn - wie Papini in seinem genialen Porträt des Italoslawen zusammenfasst - „er war Föderalist, liebte aber Cattaneo nicht, Liberaler, schätzte aber Cavour nicht, Katholik, wollte aber kein Neuwelfe sein“ 48 . Obwohl Republikaner, distanzierte er sich, wir sahen es bereits, auch von Mazzinis ‚jämmerlichen Komplotten‘, aussichtsreicher schienen ihm gesetzmäßige Revolutionen: „Mit dem Gesetzbuch in der Hand könnte man Österreich lehren, uns und sich selbst zu respektieren.“ 49 In diesem Sinne hielt er Ende 1847 seine berühmte Rede im Ateneo Veneto, in der er, ganz auf dem Boden des österreichischen Gesetzes von 1815, gegen die Zensur eintrat, die er hiemit an ihrer empfindlichsten Stelle traf. Natürlich war dies auch eine persönliche Abrechnung des Schriftstellers mit dieser Behörde („questa fiera senza capo né coda“) 50 , die ihn seit Anfang seiner Karriere verfolgt hatte. Im Jänner 1848 wurde Tommaseo verhaftet. Er ertrug den Arrest mit dem Gleichmut des miles Christianus und 45 In der Einleitung zu dem Lied „Corbi messaggeri“, in dem die blutbefleckten Vögel die Nachricht vom Sieg des Kara or e überbringen, seufzt Tommaseo folgendermaßen auf: „Oh, di questi corbi drammaturghi perché non ne vola dalle foreste di Serbia taluni alle scene nostre? “ Canti popolari illirici, a cura di Domenico Bulfaretti. Milano: Libreria ed. milanese 1913, S. 334. 46 Dafür findet sich bei Mariasilvia Tatti der treffende Neologismus dispatrio. Vgl. L’esperienza francese di Tommaseo. In: Niccolo Tommaseo. Popolo e nazione I, a cura di Francesco Bruni. Roma-Padova: Antenore 2004, S. 100. 47 In diesem Rahmen ist auch eine Intervention Tommaseos bei Papst Pius IX. im Jahr 1847 zu sehen. Er erhoffte sich eine Änderung der Haltung des Heiligen Stuhls gegenüber den orthodoxen Christen auf dem Balkan, die zu einer Annäherung der beiden Riten und zu einer Eindämmung des russischen Einflusses führen konnte. Die - nach Tommaseo - feige und phantasielose Metternichsche Politik hatte auf diesem Gebiet ihre historische Mission sträflich verabsäumt, doch stellte auch die Antwort des Papstes für den Dichter nichts als eine schwere Enttäuschung dar. 48 Papini: Sul Tommaseo scrittore [Anm. 2], S. XI. 49 Carteggio Tommaseo-Capponi [Anm. 31], Bd. 2, S. 585. 50 Un affetto [Anm. 21], S. 149. <?page no="205"?> „Esule in casa mia, ma concittadino di più nazioni…”: Niccolò Tommaseo 203 bewältigte dort ein enormes Arbeitspensum, u.a. übersetzte er die Evangelien aus dem Griechischen. Einer seiner häufigsten Besucher im Kerker war der deutsche Schriftsteller Heinrich Stieglitz, mit dem er später eine lange Adresse an die Frankfurter Paulskirche verfasste, die unter dem Titel Germania, Austria, Italia zweisprachig in Venedig erschien, in einigen hundert Exemplaren nach Deutschland gesandt wurde und durchgehend auf den Kontrast zwischen der „edlen deutschen Nation“ und den „österreichischen Unterdrückern“ 51 fokussiert. In den Sturm der Entrüstung, der in Italien und Dalmatien über Tommaseos Verhaftung losbrach, stimmte auch die kroatische Bürgerversammlung in Zagreb ein, die von Kaiser Ferdinand die Befreiung „unseres [! ] gefeierten Schriftstellers und berühmten Vaterlandssohnes“ 52 verlangte. Doch inzwischen hatte sich in Venedig schon die Nachricht von der Wiener Märzrevolution verbreitet und die Venezianer selbst Tommaseo und seinen Schicksalsgenossen Daniele Manin mit Gewalt aus dem Gefängnis befreit. So hatte die österreichische Bürokratie aus dem vor jedem gewaltsamen Umsturz zurückschreckenden Dichter einen Freiheitshelden gemacht, den Deuterogonisten der venezianischen Volkserhebung, die er nicht gewollt hatte, von deren Misserfolg er a priori überzeugt war und an der er kontradiktorisch mit republikanischem Extremismus und einer Opferbereitschaft teilnahm, die uns absurd erschiene, zögen wir nicht seine christliche, durch das Vorbild von Mickiewiczs polnischem Messianismus bestärkte Überzeugung in Betracht, dass man nur durch Leiden eine Verbesserung der Verhältnisse erzielen könne. Sie führte ihn, wie er selber bezeugt, an die Seite der Revolutionäre: […] non credendo l’Italia matura, io intend[evo] solamente destare gli animi con esempio di coraggio civile, farmi carcerare, e soffrendo, e incuorando altri a soffrire, preparare il merito di tempi migliori. 53 Ende März proklamierte Daniele Manin die „Republik von San Marco“. Tommaseo, der in ihr den Posten des Unterrichtsministers bekleidete, erkannte sofort die Implikationen des symbolträchtigen Namens für den adriatischen Raum und in der Tat betrachtete sowohl die italienische Partei in Dalmatien (sie plädierte für den Anschluss an die neu gegründete Republik Manins) als auch die slawische (sie strebte die Annexion an Kroatien an) den Minister hybrider Herkunft als natürlichen Vertreter ihrer Interessen. Seine konfliktuale Zugehörigkeit zu zwei Kulturräumen begann schwer auf ihm zu lasten. Eine Zeitlang hätte er wohl die Macht gehabt, eine pro-venezianische Revolte in seiner Heimat zu 51 Heinrich Stieglitz: Germania, Austria, Italia. Indirizzo al Parlamento Tedesco. Venezia: Tip. Cecchini 1848. 52 Sandor Pattuglia: Tommaseo e il movimento illirico. In: N. Tommaseo a 200 anni dalla nascita [Anm. 20], S. 27. 53 Tommaseo: Opere [Anm. 10], Bd. 2, S. 586-587 („Colloqui col Manzoni“). <?page no="206"?> 204 Renate Lunzer entfesseln, aber er tat es nicht. 54 Genauso wenig kam er den Wünschen der Kroaten nach, die ihn „bei der Muttermilch“ 55 beschworen, nach Zagreb sowie nach Prag zum Slawenkongress zu kommen. Tommaseo verfolgte vielmehr die Idee des gemeinsamen Widerstandes aller unter österreichischer Herrschaft stehenden Slawen und so verfasste er Anfang April seinen berühmten Appell An die Kroaten und an die slawischen Völker, der auf Flugzetteln unter den Soldaten des Feldmarschalls Radetzky verteilt wurde, aber mehr den politischen Führern dieser Völker galt. Die rote Linie der Politik Tommaseos, der die Proklamation des Savoyerkönigs Carlo Alberto „Italien schafft es allein“ für haltloses Geschwätz hielt, war und blieb eine Kooperation mit allen Feinden des schwankenden Habsburgerstaates. Diesem Zweck diente die schon erwähnte Adresse an die Frankfurter Nationalversammlung ebenso wie der (gescheiterte) Versuch, die polnische Legion Mickiewiczs für den venezianischen Aufstand zu gewinnen, und schließlich die Gründung der Gesellschaft und gleichnamigen Zeitschrift „Fratellanza dei popoli“, deren unmittelbares Ziel eine Koalition von Slawen, Ungarn und Italienern war. Die italienische Erhebung als Teil einer umfassenderen anzusehen, eine Neuordnung Europas auf der Grundlage freier Schwesternationen anzustreben, waren natürlich Ideen Mazzinis, die Tommaseo nun aber in die Praxis umzusetzen versuchte - allerdings ohne die Regierung Venedigs davon überzeugen zu können. Bei Ausbruch der Freiheitskämpfe des Jahres 1848 überall auf der Halbinsel hatte Tommaseo eine italienische Föderation mit weitgehender Autonomie der einzelnen Staaten im Auge gehabt. Er konnte es Manin und anderen Anführern der venezianischen Revolte daher nie verzeihen, dass sie sich noch im Frühjahr 1848 an die ihm verhasste Monarchie Savoyen-Piemont anschlossen. Aus diesem Grund wollte er nach der verheerenden Niederlage der Piemontesen gegen Österreich und der Rückkehr Venedigs zur republikanischen Unabhängigkeit kein Regierungsamt mehr bekleiden und ging als Botschafter nach Paris. Er 54 Klar dürfte er vorausgesehen haben, daß die italienische Position dort auf lange Sicht verloren war, und höchst bemerkenswert ist eine Notiz vom 3. April 1848, die sich in seinem Nachlaß fand (BNF, Tommaseo, 34/ III, 4): „I costumi delle città di Dalmazia sono italiani; e il contado rammenta con benedizione la Repubblica veneta: ma i costumi e la lingua del contado non sono italiani, né l’Italia ha tanta forza d’impero o d’affetto[! ] da poter governare provincie straniere come sovrana o abbracciarle come sorella. Però, lasciando anco stare le difficoltà della guerra e degli aiuti da mandare in denaro, il sollevare la Dalmazia in pro dell’Italia era un dilatare, non già sciogliere la questione.“ Vgl. Pirjevec: Niccolò Tommaseo [Anm. 1], S. 120. 55 Es war der Diplomat Andrija Torkvat Brli (1826-1868), als Zwanzigjähriger ein revolutionärer Kämpfer auf den Barrikaden von Wien, Prag und Budapest, der im Namen der jungen ‚Illyrer‘ Tommaseo beschwor: „[…] l’edifizio nostro liberiamo dalle austriache macerie, per edificare quella potenza slava, che il possente Re Serbo Dusciano, tra il Mar nero e l’Adriatico tentò stabilire. In tale nostra aspettazione, a voi ci rivolgiamo, e per il latte materno Vi scongiuriamo che venghiate a Zagabria e a Praga“. Zit. nach Pirjevec: Niccolò Tommaseo [Anm. 1], S. 122-123. <?page no="207"?> „Esule in casa mia, ma concittadino di più nazioni…”: Niccolò Tommaseo 205 geriet jedoch, je nachdem als „leidenschaftlicher Vertreter Italiens“ oder „durch und durch slawischer, aufgeblasener Wirrkopf“ eingeschätzt 56 , zwischen die Fronten der extrem labilen politischen Konfiguration im damaligen Europa und kehrte ohne Hilfe für die belagerte Stadt von seiner Mission zurück. 1849 schloss sich der Ring der österreichischen Truppen unter dem greisen Radetzky vollkommen um die Stadt. Tommaseo gehörte zu denjenigen, die bis zuletzt Widerstand leisten wollten - wer die Kapitulation unterzeichne, meinte er, verrate Christus, da er nicht den Mut habe, Hungers zu sterben oder sich unter Venedigs Trümmern begraben zu lassen 57 . In einem spezifischen Sinn war Venedig dem ruhelosen Dichter für kurze Zeit Heimat geworden: „Dovunque una voce fratello mi chiama, / dovunque si piange, è patria per me“. 58 Die österreichischen Sieger, beeindruckt vom Heroismus der ausgehungerten, von der Cholera dezimierten venezianischen Bevölkerung, zeigten sich relativ großmütig. Vierzig führenden Köpfen der Erhebung, unter ihnen Tommaseo, wurde die Verbannung freigestellt. Er ging nun in sein erstes wirkliches Exil nach Korfù, wo er bis 1854 verblieb. Dort endete zumindest die sexuelle Odyssee dieses mit ‚wilder Übermacht‘ von den Frauen angezogenen Mannes, der sich ihnen gegenüber „bald als Satyr, bald als Kavalier der höfischen Liebe, […] bald als Philosoph […] des ewig Weiblichen in seiner irdischen und himmlischen Form“ 59 erwies. Mit dürren Worten: er heiratete seine Zimmerwirtin Diamante Pavello, verwitwete Artale, die von ihm schwanger war. 4 Im ‚Dritten Raum‘ Von 1854 bis 1859 lebte er in Turin, wo er sich erst recht als Exilant fühlte. Den Piemontesen und ihrer Politik hatte er stets aufs äußerste misstraut, und so wies er jede Art von öffentlicher Verpflichtung zurück. Er zog die Wahrung seiner Gewissensfreiheit einem auskömmlichen Leben vor und weihte seine besten Kräfte ab 1857 trotz ständig abnehmender Sehkraft der Abfassung des Dizionario della Lingua italiana. Die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens verbrachte Tommaseo im geliebten Florenz, aber es waren zornige Jahre der inneren Emigration und der bitteren, nicht endenwollenden Unruhe, denn er lehnte die Wendung, die das italienische Risorgimento genommen hatte, dezidiert ab. Hauptziel der zahllosen Attacken des republikanischen Föderalisten und Autonomisten Tommaseo war die zentralistische ‚Besatzungsmacht‘ Piemont mit dem Grafen Cavour, der das Parlament stets nur als ‚Spielball‘ missbraucht hatte 60 . So mein- 56 Zit. nach Pirjevec: Niccolò Tommaseo [Anm. 1], S. 132. 57 Ciampini: Vita [Anm. 4], S. 396. 58 Tommaseo: Opere [Anm. 10], Bd. 1, S. 43 („L’esule“). 59 Papini: Sul Tommaseo scrittore [Anm. 2], S. XXI. 60 Lettera a Giovanni Lanza, 25 Jänner 1860, BNF, Tommaseo, 149,16. <?page no="208"?> 206 Renate Lunzer te der Dichter etwa, „wer es wagte, das Parlament für wenigstens ein Jahrzehnt abzuschaffen und statt dessen ernstzunehmende Provinzkörperschaften (consigli provinciali) einzurichten, der würde sich für die Freiheit und Moralität Italiens einsetzen“ 61 . So wie er die „territoriale Vergrößerung Piemonts zum Schaden Italiens“ bekämpfte, ließ er sich in den Jahren 1860-1861 auch auf eine intensive Kampagne gegen die unionistischen Ansprüche der Kroaten auf Dalmatien ein. Mit zunehmendem Alter wuchs Tommaseos Sehnsucht nach seiner physischen Heimat, in die er nicht zurückkehren konnte, immer stärker. Davon geben die zahlreichen Briefe an seine Schwester Marianna Zeugnis, die ihn nach 1860, als sich der - zeitweise unter abenteuerlichen Umständen 62 geführte - Briefwechsel mit dem jugoslawistischen Patrioten Spiridion Popovi immer mehr ausdünnte, mit ausführlichen Informationen versorgte. Als Verteidiger des Selbstbestimmungsrechtes der Völker und Regionen kämpfte er mit großem Respekt vor den lokalen Traditionen für die Autonomie Dalmatiens. Dabei konnte er jedoch in dem zwischen „Nationalen“ (Befürwortern der Annexion an Kroatien) und „Autonomisten“ (italienische Partei) zerrissenen Land der Anklage nicht entgehen, er habe sich „dem Geist und der Sprache nach“ nicht genug „als Slawe bekannt“ 63 . Tommaseo suchte diesen Vorwurf, der ihn empfindlich traf, in seinen Schriften wiederholt zu entkräften: zu diesem Zweck hätte er ins orthodoxe Serbien übersiedeln müssen, wo er doch immer ein Fremder geblieben wäre; weiters seien die Südslawen kulturell noch nicht weit genug fortgeschritten, so dass er ihnen von der Plattform der italienischen Sprache und Kultur aus besser dienen könne; schließlich erkannte er auch resigniert an, dass er sich der slawischen Sprache einfach zu spät wieder angenähert hatte 64 . Das nie wieder betretene Dalmatien musste allerdings in so vielen Jahren der Abwesenheit für Tommaseo längst ein imaginary homeland geworden sein. Zwischen 1865 und 1870 lebte Tommaseo in Florenz in direktem Kontakt mit der classe dirigeante des neuen Staates Italien, deren „Umtriebe, Skandale und Lügen“ er auf den Seiten der Cronichetta del 1865-66 verewigt hat. Die Institutionen dieses Staates strafte er mit Verachtung und wies der Reihe nach einen Lehrstuhl an der Universität Pisa, die Nominierung für die Camera und 1866 für den Senat entrüstet zurück. Für eine Ikone des Risorgimento, einen poeta italianissimo, als den ihn manche Literaturgeschichten proklamierten, zweifellos eine ungewöhnliche Haltung. Es liegt nahe, hier das insbesondere von dem postkolonialen Theoretiker Homi K. Bhabha elaborierte Konzept des ‚Dritten Raumes‘ ins Spiel zu bringen, natürlich nicht (nur) räumlich, sondern er- 61 Lettera a Giovanni Lanza, 26. Juni 1860, BNF, Tommaseo, 94,17. 62 Das Auge der österreichischen Zensur war stets wachsam und so erledigten häufig Schiffskapitäne oder andere vertrauenswürdige Italienreisende den Postweg zwischen Popovi und Tommaseo. 63 Vgl. Pirjevec: Niccolò Tommaseo [Anm. 1], S. 248. 64 Ebd. <?page no="209"?> „Esule in casa mia, ma concittadino di più nazioni…”: Niccolò Tommaseo 207 kenntnistheoretisch verstanden. Die grenzüberschreitende kosmopolitische Außenseiterposition, die komplizierte Subjektivität Tommaseos, oszillierend zwischen der Behauptung von Identität und ihrem Hinterfragen, gewährte ihm jene Bewegungsfreiheit im „in-between space“ 65 , jene double vision, die ebenso produktiv wie schmerzhaft ist und war. Die Verlegung der Hauptstadt Italiens nach Rom nach dem 20. September 1870 schien ihm aus kulturhistorischen Gründen ein unverzeihlicher Fehler, war also keine Haltungsänderung des liberalen Katholiken, der stets die weltliche Herrschaft der Kirche verdammt hatte. Die letzte Lebenszeit des blinden Patriarchen in der Selbstisolation hellten Besuche von Verehrern aus dem In-und Ausland auf, alte Freundschaften wie die mit dem Marchese Capponi und - bis zum Ende - die geistige Arbeit. Tommaseo starb am 1. Mai 1874 in Florenz. Von seinen Brüchen und Widersprüchen, von der multiplen Perspektive seiner ‚Zwischenexistenz‘ hat dieser große Meister der Introspektion mit bemerkenswerter Klarheit selbst Zeugnis abgelegt. Er war ein ‚geborener‘ Exilant, wenn das Exil, wie Edward Said ausführt, durch eine Art von Streit mit dem Ort bedingt ist, von dem man herkommt. 66 Aber lassen wir Tommaseo selbst sprechen. So kreiste er etwa im Testamento letterario seine Heimat-Nicht-Heimat, den „luogo di disagio identitario“ 67 , der am Anfang seiner Existenz stand, analytisch ein. Ohne Zögern gesteht er die subjektive neurotische Verdrängung der slawischen Komponente ein: Alla Dalmazia ove nacqui, e alle genti slave, dalle quali in parte ho l’origine, confesso di aver pensato col debito affetto assai tardi. […] io ebbi educazione tutta italiana […] e arrossivo in gioventù di chiamarmi dalmata, e per essere italiana la madre di mio padre, mi facevo italiano. 68 Doch ist in der Darstellung des Grenz- und Zwischenraums, der enfremdete Identitäten erzeugt, der befreiende Hinweis auf das transkulturelle Kreativpotential solch gefährlicher Heimatlosigkeit schon impliziert: L’essere nato in colonia italiana, governata un tempo da’ Veneti e già da’ Romani, in terra slava posta tra Oriente e Occidente, abitata da uomini di rito diverso e diverse costumanze, mi interdisse i diritti e le comodità e i conforti che vengono dall’avere una patria; mi fece esule in casa mia, ma concittadino di più nazioni […] 69 65 Vgl. Homi K. Bhabha: The Location of Culture. London / New York: Routledge 1994, S. 1. 66 Vgl. Iain Chambers: Migration, Kultur, Identität. Übers. von G. Schmidt und J. Freudl. Tübingen: Stauffenburg 1996, S. 2. 67 Giulio Angioni: Identità. In: G. Angioni / F. Bachis / B. Caltagirone (Hg.): Sardegna. Seminario sull’identità. Cagliari: Ed. Cagliaritana 2007, S. 17. 68 Tommaseo: Opere [Anm. 10], Bd. 2, S. 373-374. 69 Ebd., S. 374. <?page no="210"?> 208 Renate Lunzer Zersplitterung und Vervielfachung sind die beiden Seiten einer Medaille. Grenzüberschreiten bringt Verlust und Gewinn. Tommaseo wusste dies nur allzu genau und verspürte je nach Lebensumständen und psychischer Verfassung mehr das eine oder das andere. Besorgt über den fragmentarischen Charakter seines heterokliten Werkes, beunruhigt von seiner Unfähigkeit, literarische Entwürfe zu Ende zu bringen, klagte er in einer Schaffenskrise Mitte der vierziger Jahre dem Vertrauten Gino Capponi: „E pure mi pare […] che sarei nato per far cosa compiuta. Ma non farò: colpa mia, dell’aver sortito due patrie e due lingue“ 70 . An anderer Stelle bedauerte er, zu spät den Nutzen erkannt zu haben, den er als serbokroatischer Schriftsteller den Slawen hätte bringen können. Für die ‚herabgekommenen‘ Italiener zu schreiben, sei es wohl überhaupt zu spät, für die illyrischen Völker aber vielleicht noch zu früh: „Misero me, che ho smezzata la vita tra due nazioni, una in culla e l’altra in bara! “ 71 Und bald darauf trieb ihn der schleppende Fortgang eines großen philosophisch-philologischen Traktats Della sapienza riposta nelle radici della lingua illirica, den er in der Euphorie seines wiedererwachten Slawentums konzipiert hatte, zur Verzweiflung, aber noch viel mehr das Fehlen eines großen synthetischen Wurfs schlechthin: E mi dispiace di non avere, invece di tante minuzie sparpagliate, scritto […] sulle speranze del secolo, dove uscir dai confini di questa meschina Italia, la quale a ridivenir quel ch’ell’era e più grande, ha bisogno d’una nuova invasione o d’uomiini o d’idee che le vengano d’Oriente; uscire, dico, d’Italia, e comprendere con lo sguardo le nazioni tutte dall’alto […]. 72 Wir erinnern uns an das Trikolon, mit dem Tommaseo in dem programmatischen Gedicht Esiglio volontario das Wesen seiner anima umriss: Esiglio - periglio - amor. Periglio: das waren die Störungen der psycho-kulturellen Homogenität und die vielen anderen, in ausführlichem Selbstmitleid beklagten Schmerzen eines Fremden im Vaterland. Periglio: das war aber auch die enorme Lust, das Ich im dispatrio, in der Bewegung, im pellegrinaggio neu zu formen und zu bereichern. Periglio - pericolo - periculum bedeutet zuallererst „Versuch, Unternehmung, Probe“, dann erst „Risiko“ und „Gefahr“. Natürlich spielte der exzellente Latinist Tommaseo mit der vollen semantischen Bandbreite des Wortes periglio; sich der Alterität, dem Anderen aussetzen ist gefährlich, aber auch erotisch, denn der Eros ist, wie wir spätestens seit Plato wissen, nichts als ein großer Mittler. Dieser Eros, Amor, amor ist, wie der Dichter uns mitteilt, sein Gesetz, seine ultima ratio. In visionären Zeilen der Iskrice/ Scintille - und hier unterscheidet sich der katholische Christ Tommaseo von postkolonialen und postmodernen Subjekten - wird die erotische Spannung der grenzüberschreitenden Suche, die Lust an der Polyglossie ebenso deutlich wie ihr höherer und höchster Zweck: die erregende Vielfalt der sinnlichen Phänomene mündet ein in 70 Carteggio Tommaseo-Capponi [Anm. 31], Bd. 2, S. 266. 71 Ebd., S. 358. 72 Ebd., S. 327. <?page no="211"?> „Esule in casa mia, ma concittadino di più nazioni…”: Niccolò Tommaseo 209 die Bruderliebe und die Gottesliebe, in die Hoffnung auf eine Einheit in und über der Vielheit. Dort, in der „patria sovrana“, nach der alle sich sehnen, wäre das Exil endlich aufgehoben und der Migrant am Ziel: […] da terre lontane, da estere letterature, da lingue varie raccolgo sentimenti, parole, armonie, da sfogare, e ne’ fratelli trasfondere, quella fiamma d’affetto che in me sempre arde. La varietà ci aiuta a sentire l’unità, come la melodia di più cetere fa più compiuto e più schietto Concento. Le lingue umane son lire che insieme suonano e mandano al cielo le voci dei popoli desideranti alla patria sovrana. 73 73 Tommaseo: Opere [Anm. 10], Bd. 2, S. 44. <?page no="213"?> S PANIEN , L ATEINAMERIKA , K ARIBIK : S PIELARTEN ROMANTISCHER E XILDISKURSE <?page no="215"?> Stefan Schreckenberg Verbannung und Zuflucht - Spielarten des Exildiskurses im Drama der spanischen Romantik 1 Einleitung Das Wort Exil bedeutet, so findet man es in einschlägigen Wörterbüchern, „Verbannung, Ausweisung, Auswanderung, Flucht“. Es bezeichnet zum einen die Situation bzw. den Zustand desjenigen, der verbannt wird, zum anderen seine Bewegung im Raum. Darüber hinaus meint Exil aber auch den Ort der Verbannung. Das Gegenteil von Exil ist Heimat. Das Exil ist primär negativ bestimmt, es kann überall dort sein, wo nicht Heimat ist, es ist ein Nicht-Ort. Das Wort Asyl ist komplementär zum Wort Exil, es bezeichnet einen Ort, der ebenfalls nicht Heimat ist, der aber Zuflucht bietet. Damit das Exil zum Asyl werden kann - was nicht zwangsläufig der Fall ist − muss aus dem Nicht-Ort ein neuer, positiv bestimmter Ort werden. Die Literatur der Romantik ist reich an Verbannten und Heimatlosen. Ihre Protagonisten befinden sich auf unterschiedliche Weise im Exil: im eigentlichen oder im übertragenen Sinn, geographisch, sozial, emotional, metaphysisch. Gegenstand der folgenden Untersuchung ist der Entwurf von Exilsituationen im spanischen Drama der Romantik. In besonderer Weise interessiert dabei die räumliche Inszenierung des Exils. Wie gesehen, bezeichnet Exil ja unter anderem eine Handlung im Raum, eine Bewegung zwischen zwei Orten bzw. einen dieser Orte selbst. Die Inszenierung von Orten und die Konstitution von Räumen durch Handlungen ist eine der gattungsspezifischen Stärken des Dramas. 1 In den beiden Texten, die hier exemplarisch behandelt werden, nämlich Macías von Mariano José de Larra und Don Álvaro o la fuerza del sino des Duque de Rivas, ist explizit von „exilio“ und „destierro“ die Rede. Fast noch häufiger aber fallen Wörter wie „refugio“ und vor allem „asilo“. Die Figuren entwickeln je unterschiedliche, mehr oder weniger erfolgreiche Strategien, um den durch das Exil erfahrenen Verlust zu kompensieren. Die auf der Bühne entworfenen oder von den Protagonisten imaginierten Räume sind Wüsten, Einöden und Gefängnisse, die sich zuweilen jedoch in Orte des Trostes und der Zuflucht verwandeln können. 1 „Bühnenkunst ist Raumkunst“ stellt Max Herrmann, einer der Begründer der deutschen Theaterwissenschaft, programmatisch fest; Max Herrmann: „Das theatralische Raumerlebnis“. In: Jörg Dünne / Stefan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 501−513, hier S. 501. [Zuerst veröffentlicht in: Beilagenheft zur Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 25 (1931), S. 152−163]. <?page no="216"?> 214 Stefan Schreckenberg Der konkreten Textanalyse sollen zunächst einige grundsätzliche Überlegungen zum Zusammenhang von Exil und Romantik vorangestellt werden. 2 Exil und Heimatlosigkeit als spezifisch romantische Erfahrungen 2.1 Die Romantisierung des christlichen Exildiskurses bei Schlegel und Chateaubriand Am Anfang steht der christliche Exildiskurs. Er beruht auf einem der Gründungsmythen der europäischen Kultur: der Vertreibung aus dem Paradies nach dem Sündenfall. Der Christ lebt auf Erden im Exil und sehnt sich nach der Rückkehr in die himmlische Heimat. Aus dieser Jenseitsorientierung erwächst die besondere Affektstruktur des modernen, d.h. des romantischen Menschen. Auf ihr gründet sich auch der fundamentale Gegensatz zwischen christlicher und heidnischer Kultur, zwischen klassischer Kunst der Antike und romantischer Kunst der Moderne. So argumentieren François-René Chateaubriand im Génie du christianisme (1802) 2 und August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, die er 1808 in Wien gehalten hat und die in ganz Europa intensiv rezipiert wurden. 3 Der antike, vor allem der griechische Mensch lebt laut Schlegel ganz dem Diesseits zugewandt in einer heiteren Welt „veredelte[r] Sinnlichkeit“. 4 Für den Christen ist „das Leben […] zur Schattenwelt und zur Nacht geworden, und erst jenseits geht der ewige Tag des wesentlichen Daseins auf“. 5 Schwermut und Sehnsucht prägen das Denken, Fühlen und die Dichtung eines solchermaßen Verbannten: Und wenn nun die Seele, gleichsam unter den Trauerweiden der Verbannung ruhend, ihr Verlangen nach der fremd gewordenen Heimat ausatmet, was andres kann der Grundton ihrer Lieder sein als Schwermut? So ist es denn auch: die Poesie der Alten war die des Besitzes, die 2 François-René de Chateaubriand: Essai sur les révolutions. Génie du christianisme. Hg. von Maurice Regard, Paris: Gallimard 1978. 3 August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Erster und zweiter Teil (= Schlegel: Kritische Schriften und Briefe. Bde. V und VI). Hg. von Edgar Lohner. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1966-1967. In Spanien erscheint 1814 in der Zeitschrift Mercurio Gaditano eine von Nicolás Boehl de Faber verfasste Teilübersetzung der Vorlesungen Schlegels unter dem Titel „Reflexiones de Schlegel sobre el teatro, traducidas del Alemán“ (Mercurio Gaditano 121, 16.9.1814). Der Text löst eine Kontroverse zwischen Boehl und den spanischen Verfechtern des Neoklassizismus aus, die sich gegenüber den Romantikern noch in der Mehrheit befinden. Breitere Anerkennung finden die Thesen Schlegels in Spanien erst ab Ende der 1820er Jahre. 4 Schlegel: Vorlesungen [Anm. 3], S. 23. 5 Ebd., S. 25. <?page no="217"?> Spielarten des romantischen Exildiskurses im Drama der spanischen Romantik 215 unsrige ist die der Sehnsucht; jene steht fest auf dem Boden der Gegenwart, diese wiegt sich zwischen Erinnerung und Ahnung. 6 Schlegels Versuch, die Melancholie und Sehnsucht des Romantikers als typisch christliche Haltung zu interpretieren, ist problematisch. Die romantische Exilerfahrung geht über eine orthodox christliche, wie sie z.B. im Barock prägnant formuliert wird, hinaus und steht in gewisser Weise sogar im Widerspruch zu ihr. Für den gläubigen Christen besteht im irdischen Exil wenig Anlass zu Schwermut und Trauer. Vielmehr darf er der Rückkehr in die ewige Heimat freudig und hoffnungsvoll, allenfalls ungeduldig entgegensehen. Seine Bewährungszeit auf Erden soll er tätig nutzen, statt in Melancholie zu versinken. Diese Spannung zwischen Christentum und Romantik zeigt sich noch deutlicher als bei Schlegel bei Chateaubriand, der im zweiten Teil seines Génie du christianisme die - aus seiner Sicht - spezifisch christlichen Leidenschaften untersucht. Im letzten Kapitel gelangt er abschließend zu einem Affekt, den er als Le vague des passions, also eine Unbestimmtheit oder Ziellosigkeit der Leidenschaften bezeichnet und wie folgt beschreibt: On est détrompé sans avoir joui; il reste encore des désirs, et l’on n’a plus d’illusions. L’imagination est riche, abondante et merveilleuse; l’existence pauvre, sèche et désenchantée. On habite, avec un cœur plein, un monde vide; et, sans avoir usé de rien, on est désabusé de tout. 7 Laut Chateaubriand entsteht dieses Phänomen in fortgeschrittenen und säkularisierten Gesellschaften. Der reichen Imagination steht eine prosaische, leere Wirklichkeit gegenüber. In früheren Jahrhunderten blieb den Menschen, die von der Welt enttäuscht ihre Sehnsucht auf die himmlische Heimat richteten, noch die Zuflucht in den Klöstern, die im Zuge von Aufklärung und Revolution jedoch geschlossen werden. Der Christ ist nun gezwungen, in der Welt zu bleiben, ohne dort einen festen Platz zu finden. 8 Aus der klaren Ausrichtung auf ein festes Ziel im Jenseits, wird ein unbestimmtes Umherschweifen (vgl. die Bedeutung von frz. vaguer). Die Leidenschaften richten sich nicht mehr primär auf Gott, sondern werden selbstreflexiv: „ces passions, sans objet, se consument d’elles-mêmes dans un cœur solitaire“. 9 Dies erzeugt Melancholie und befördert die Imagination, die beide aus orthodox christlicher Sicht als problematische, wenn nicht gar sündige Zustände angesehen werden. Chateaubriand und August Wilhelm Schlegel gelten als Vertreter einer eher konservativen Romantik. Was sie als Sehnsucht nach der verlorenen himmlischen Heimat präsentieren, ist nicht zuletzt die Sehnsucht nach der alten Gesell- 6 Ebd., S. 25. 7 Chateaubriand: Génie [Anm. 2], S. 714. 8 Vgl. ebd., S. 716: „elles [les âmes ardentes] sont restées dans le monde, sans se livrer au monde“. 9 Ebd., S. 716. <?page no="218"?> 216 Stefan Schreckenberg schaftsordnung des Ancien Régime, die durch die Revolution massiv in Frage gestellt worden ist. 2.2 Das Exil der spanischen Liberalen Es ist in der hispanistischen Forschung umstritten, inwieweit die spanische Romantik überwiegend als konservative oder als liberale Bewegung anzusehen ist. 10 Die Schlegelsche Forderung nach einer Rückbesinnung auf die christlich geprägte Literatur des Mittelalters und des Siglo de Oro findet in Spanien zunächst vor allem auf konservativer Seite Anklang, etwa bei Agustín Durán in seinem einflussreichem Discurso von 1828, in dem er das spanische Barocktheater gegen die Kritik der Neoklassizisten verteidigt. 11 Allerdings findet man bei Durán kein echtes Exilbewusstsein, welches die Voraussetzung für die Ausbildung der typisch romantischen Sehnsucht und Melancholie wäre. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse (d.h. die Restauration des Absolutismus unter Ferdinand VII) werden durch ein Lob der Monarchie bejaht und auch mit Blick auf das Jenseits herrscht weitgehende Zuversicht, da Durán fester als Chateaubriand in der christlichen Dogmatik verankert ist. Anders als bei Durán ist für die spanischen Liberalen das Motiv des Exils von zentraler Bedeutung. Viele der liberalen Autoren, die nach dem Tod Ferdinands VII 1833 zur Blütezeit der spanischen Romantik beitragen werden, machen zuvor während Restaurationszeit die reale Erfahrung des politischen Exils. 12 Die Thesen Chateaubriands und Schlegels finden bei ihnen zunächst wenig Anklang, geht es ihnen doch nicht um die Rückgewinnung einer bedrohten oder gar verlorenen christlichen Ordnung, sondern im Gegenteil darum, die Modernisierung Spaniens gegen den hartnäckigen Widerstand von Absolutismus und Inquisition voranzutreiben. Infolgedessen bildet sich in den Texten der liberalen Romantiker eine eigene Variante des Exildiskurses aus. Die Vertreibung aus dem Paradies ist hier die Vertreibung aus der realen geographischen und kulturellen Heimat. In die Sehnsucht nach Rückkehr mischt sich die Utopie 10 Die Bedeutung der liberalen Romantik betonen z.B. Vicente Llorens: El romanticismo español: Ideas literarias, literatura e historia. Madrid: Castalia 2 1989 und Ricardo Navas Ruiz: El romanticismo español. Madrid: Cátedra 4 1990. Dagegen sieht Derek Flitter: Spanish Romantic Literary Theory and Criticism. Cambridge: University Press 1992, die Epoche als dominant konservative und traditionalistische an. 11 Agustín Durán: Discurso (sobre el influjo de la crítica en la decadencia del teatro español). Hg. von Donald L. Shaw. Málaga: Librería Ágora / Hybris 1994. 12 Die prominentesten von ihnen sind Francisco Martínez de la Rosa, der Duque de Rivas und José de Espronceda. Grundlegend zum romantischen Exil in Spanien Vicente Llorens: Liberales y románticos. Una emigración española en Inglaterra (1823-1834). Madrid: Castalia 3 1979. Vgl. auch die Überblicksdarstellung von Juan B. Vilar: La España del exilio. Las emigraciones políticas españolas en los siglos XIX y XX. Madrid: Síntesis 2006. <?page no="219"?> Spielarten des romantischen Exildiskurses im Drama der spanischen Romantik 217 eines liberalen, vom Tyrannen befreiten Spaniens, dessen alte Größe wiederhergestellt wird. Als Beispiel sei auf einen Text des Duque de Rivas verwiesen: das Gedicht „El desterrado“, das er nach eigenen Angaben 1824 noch während der Überfahrt von Gibraltar nach England verfasst haben will, nachdem er, zum Tode verurteilt, 1823 aus Spanien geflohen war. 13 Das lyrische Ich dieses Textes weist bereits einige der typischen Merkmale auf, die wir rund ein Jahrzehnt später bei den Helden der romantischen Dramen wiederfinden werden. Dazu gehören die Klage über ein grausames, willkürliches Schicksal, das Bild der ziellos umherschweifenden Wanderschaft und die teils drastischen Untergangsphantasien. Am Ende des Gedichtes entwirft das lyrische Ich seine Vision vom Glück und vom Ende des Exils. Als alter Mann will er heimkehren in das befreite Vaterland: „Llegue el suspirado día, / mírete yo venturosa [patria mía], / libre triunfante y gloriosa, / y contento moriré.“ 14 Hier ist nicht mehr von einer Erfüllung im Jenseits die Rede, die transzendente Dimension ist ganz ausgespart zugunsten eines utopischen Moments des Übergangs. Die Aufhebung der Verbannung wird im Augenblick des Todes erfahren. Im romantischen Drama wird diese Art der utopischen Überwindung des Exils im Motiv des Liebestods wiederkehren. 2.3 Das romantische Exil als radikale Ausprägung moderner Individualität Der liberale Exildiskurs im engeren politischen Sinn verliert in dem Maße seine unmittelbare Grundlage, wie sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch in Spanien gegen viele Widerstände eine mehr oder weniger liberale Gesellschaftsordnung durchsetzt. Die Verbannten kehren in den 1830er Jahren aus dem Exil zurück und werden als Bürger in der konstitutionellen Monarchie heimisch. Einige der ehemals radikalen Autoren wandeln sich zu moderados, wie z.B. der Duque de Rivas. Allerdings bleibt das Exil als Globalmetapher für eine allgemeine existenzielle Erfahrung auch losgelöst von direkten historischen Bezügen wirksam. 15 Das romantische Exil erweist sich in seiner liberalen wie in seiner christlich-konservativen Ausprägung (im Sinne Chateaubriands und Schlegels) als eine Etappe innerhalb eines umfassenderen historischen Prozesses, nämlich der Herausbildung moderner Individualität. Folgt man den Thesen von Niklas Luhmann, so findet in unseren modernen Gesellschaften Individualisierung vor allem durch Exklusion statt. Der Einzelne partizipiert an einer Vielzahl gesell- 13 Duque de Rivas: „El desterrado“. In: Rivas: Obras completas. Hg. von Enrique Ruiz de la Serna. Madrid: Aguilar 1956, S. 158-163. Zum ersten Mal wurde der Text 1824 in der Zeitschrift Ocios de los Españoles Emigrados in London veröffentlicht. 14 Rivas: „El desterrado“ [Anm. 13], S. 163. 15 Vgl. hierzu Michael Iarocci: El exilio romántico y el sujeto de la modernidad. In: Sandra Barriales-Bouche, (Hg.): España: ¿Laberinto de exilios? Newark: Juan de la Cuesta 2005, S. 73−84. <?page no="220"?> 218 Stefan Schreckenberg schaftlicher Teilsysteme, ohne in einem dieser Systeme ganz aufzugehen. Individuell, d.h. ungeteilt, ist der moderne Mensch nur, wo er sich außerhalb der Gesellschaft befindet: „Was immer das Individuum aus sich selbst macht und wie immer Gesellschaft dabei mitspielt: es hat seinen Standort in sich selbst und außerhalb der Gesellschaft“. 16 Der romantische Held in seinem Streben nach Einzigartigkeit ist ein extremes und deshalb besonders prägnantes Beispiel für diesen Exklusions- Mechanismus. 17 Der Preis für dieses Streben ist Heimatlosigkeit, der Gewinn besteht in der Freiheit und der intensiven Selbsterfahrung, die ihm im Asyl der eigenen Individualität zuteil werden. 3 Exilräume im romantischen Drama Die französische Theatersemiotikerin Anne Ubersfeld beschreibt in ihrer Untersuchung des Theaters von Victor Hugo 18 die allgemeine Raumstruktur der Texte mit einem binären Schema. Auf der einen Seite stehen die Räume der Macht. Sie sind geschlossen oder zumindest klar umgrenzt: Paläste, Fürstenhöfe. Ihnen zugeordnet sind Figuren eines eindeutigen sozialen Ranges. Auf der anderen Seite stehen Räume der Negation, die offen und unbestimmt sind: die Straße, Naturräume, Wirtshäuser. Die Figuren, die sich dort bewegen, sind sozial Ausgegrenzte, gekennzeichnet durch „tout ce qui se définit par une négation“. 19 Der romantische Held ist jemand, der aus dem Raum der Macht in den Raum der Negation vertrieben wurde und dabei seine alte Identität verliert: „le banni, l’exilé, le bâtard, celui qui n’est pas a sa place“. 20 Er ist das Produkt eines „mécanisme d’exclusion“, 21 und folglich, mit Luhmann gesprochen, auf dem Weg ein modernes Individuum zu werden. Ubersfelds einfaches, aber überzeugendes Schema lässt sich mit leichten Modifikationen auf viele der spanischen romantischen Dramen übertragen. Fast alle Helden sind Außenseiter, die sich nicht im Raum der Macht etablieren können. Ihre Identität ist oft ungeklärt oder problematisch. So ist Rugiero in La 16 Niklas Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Bd. 3. S. 149-258, hier S. 212. 17 Gleichwohl ist das romantische Individualitätskonzept, das auf dem Streben nach Einzigartigkeit beruht, eine bis heute höchst wirksame und verbreitete Vorstellung; vgl. Undine Eberlein: Einzigartigkeit. Das romantische Individualitätskonzept der Moderne, Frankfurt a.M.: Campus 2000. 18 Anne Ubersfeld: Le roi et le bouffon. Étude sur le théâtre de Victor Hugo de 1830 à 1839. Paris: Corti 1974. 19 Ebd., S. 409. 20 Ebd., S. 409. 21 Ebd., S. 411. <?page no="221"?> Spielarten des romantischen Exildiskurses im Drama der spanischen Romantik 219 conjuración de Venecia von Martínez de la Rosa ein Waisenkind, das seine Herkunft nicht kennt, ähnlich wie Manrique in García Gutiérrez’ El trovador, der als Säugling von einer Zigeunerin entführt wurde. Neben der Exklusion aufgrund problematischer Identität lässt sich in einigen Stücken noch eine andere Form der Exilierung beobachten: Protagonisten, die ursprünglich mehr oder weniger integriert sind, müssen den Raum der Macht verlassen, um eine ihnen gestellte Aufgabe zu erfüllen. Als Belohnung wird die Heirat mit der Geliebten in Aussicht gestellt, was die Integration besiegeln würde. Die rechtzeitige Heimkehr wird jedoch durch schicksalhafte Umstände oder Intrigen verzögert. Der Held kommt zu spät, die Geliebte hat inzwischen einen anderen geheiratet bzw. heiraten müssen. Dies ist der Fall in Los amantes de Teruel von Hartzenbusch und in Larras Drama Macías, das im Folgenden nun genauer untersucht werden soll. 4 Macías: Die Überwindung des Exils im utopischen Liebesasyl 4.1 Zum Autor und zum Inhalt des Stückes Mariano José de Larra (1809-1837) ist vor allem aufgrund seiner journalistischen Arbeiten als Verfasser satirischer und kostumbristischer Artikel bekannt. Daneben tritt er aber auch als Theaterkritiker, Übersetzer, Dramen- und Romanautor in Erscheinung. Einen Teil seiner Kindheit verbringt er im französischen Exil, da sein Vater, ein fortschrittlich denkender Arzt und afrancesado, nach der Niederlage Napoleons dort Zuflucht sucht (1813-1818). Macías ist Larras wichtigstes und bekanntestes dramatisches Werk. Die Uraufführung findet im September 1834 in Madrid statt. 22 Formal weist das Stück noch viele neoklassizistische Merkmale auf. Die Einheiten von Ort, Zeit und Handlung werden weitgehend eingehalten. Inhaltlich wird Macías jedoch meist als eines der ersten romantischen Dramen in Spanien eingestuft. Die Handlung spielt im Jahr 1406. Alle auf der Bühne dargestellten Räume gehören zum Palast von Don Enrique de Villena, Großmeister des Calatrava-Ordens, in der Stadt Andújar, also zum Raum der Macht. Der Troubadour Macías steht in Diensten Don Enriques. Er liebt Elvira, die seine Liebe erwidert. Bevor sie aber heiraten können, wird er von seinem Herrn mit verschiedenen militärischen Missionen betraut. Wenn er nicht innerhalb eines Jahres zurückkehrt, soll Elvira einen anderen Günstling Enriques heiraten, Fernán Pérez. Enrique gibt Macías immer neue, möglichst gefährliche Aufträge, um ihn an der Rückkehr zu hindern. Macías ist nämlich bei seinem Herrn in Ungnade gefallen, da er dessen Versuch, 22 Mit etwa dreißig Aufführungen bis Ende 1849 gehört Macías zu den erfolgreicheren Dramen der spanischen Romantik; vgl. Ermanno Caldera: El teatro español en la época romántica. Madrid: Castalia 2001, S. 10. <?page no="222"?> 220 Stefan Schreckenberg aus machtpolitischem Kalkül seine Ehe zu lösen, offen kritisiert hat. Als die Frist abläuft, bricht Macías seinen aktuellen Auftrag eigenmächtig ab und kehrt nach Andújar zurück. Er begibt sich aus dem Außenraum wieder in den Raum der Macht, aus dem er vertrieben wurde. Zunächst sucht er eine Lösung innerhalb dieser Ordnung, denn er fordert von seinem Herrn Gerechtigkeit, d.h. die Hand seiner Geliebten. Als er jedoch erfährt, dass die Trauung hinter seinem Rücken bereits vollzogen wurde, besteht er auf seinem Recht, sich mit seinem Rivalen duellieren zu dürfen. Zu Beginn des dritten Aktes dringt er in die Gemächer der Braut ein, die noch das Hochzeitskleid trägt, und will mit ihr fliehen. 4.2 Das utopische Liebesasyl Macías wirft Elvira zunächst Untreue vor, weil sie nicht auf ihn gewartet habe. Als Elivra aber andeutet, dass sie ihn immer noch liebt, will er sogleich mit ihr den Palast verlassen: Elvira: ¿Dónde me arrastras? Macías: Ven; a ser dichosa. ¿En qué parte del mundo ha de faltarnos un albergue, mi bien? Rompe, aniquila esos, que contrajiste, horribles lazos. Los amantes son solos los esposos Su lazo es el amor: ¿cuál hay más santo? Su templo es el universo: dondequiera el Dios los oye que los ha juntado. Si en las ciudades no, si entre los hombres ni fe, ni abrigo, ni esperanza hallamos, las fieras en los bosques una cueva cederán al amor. ¿Ellas acaso no aman también? Huyamos, ¿qué otro asilo pretendes más seguro que mis brazos? Los tuyos bastaránme, y si en la tierra asilo no encontramos, juntos ambos moriremos de amor. ¿Quién más dichoso que aquel que amando vive y muere amado? 23 Es wird deutlich, dass Macías hier keine Reintegration, keine Heimkehr in den Raum der Macht mehr anstrebt, von deren Vertretern er sich verraten fühlt. Stattdessen entwirft er eine Reihe von Gegenräumen, die ihm und der Geliebten 23 Mariano José de Larra: Macías. Hg. von Luis Lorenzo-Rivero und George P. Mansour, Madrid: Espasa-Calpe 1990, Akt III, Szene 2, Vers 1246-1263. Alle weiteren Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe und werden im laufenden Text nachgewiesen (Akt Szene, Vers). <?page no="223"?> Spielarten des romantischen Exildiskurses im Drama der spanischen Romantik 221 Zuflucht bieten sollen. Exemplarisch für den Bruch mit allen sozialen Konventionen steht die romantische Umdeutung und Individualisierung des Ehesakramentes. Die Liebenden allein sind die wahren Eheleute, die Liebe ist ein heiligeres Band als die kurz zuvor mit kirchlichem Segen besiegelte Verbindung zwischen Elvira und Fernán Pérez. Für die Liebenden bedarf es keines Kirchenraumes mehr, ihr Tempel ist das Universum. Der Gott, der sie zusammengeführt hat, ist nicht mehr der christliche, sondern trägt pantheistische Züge. Er ist überall zugegen und bedarf keiner institutionellen Vermittlung mehr. Gleichzeitig bedeutet die ungewöhnliche Verwendung des Artikels in „el Dios“ (in Kombination mit der Großschreibung) aber auch, dass es sich nicht mehr um einen universalen Gott handelt, sondern um den exklusiven Gott der Liebenden, dessen Aufgabe allein darin besteht, sie zusammenzuführen: „el Dios que los ha juntado“. Auf den ersten Blick gewinnen die romantischen Liebenden an Raum, wenn sie alle Brücken der Moral hinter sich abbrechen. Die ganze Welt scheint ihnen als Zuflucht offen zu stehen („¿en que parte del mundo ha de faltarnos un albergue? “). Allerdings zeigt sich schnell, dass auch dieses neue Universum vor allem negativ definiert ist: Jenseits der Städte und jenseits menschlicher Gesellschaft suchen sie Zuflucht bei den wilden Tieren. Aber auch die Natur, nämlich die Höhle im Wald, ist kein dauerhafter Aufenthaltsort für die Liebenden. Im nächsten Schritt ziehen sie sich dann ganz auf sich selbst zurück. Die Umarmung des anderen ist nun das Maß, die Spannweite des Asyls. Diese erneut radikal individuelle und exklusive Definition des Zufluchtsraumes - in der Umarmung kehren die Liebenden der ganzen Welt den Rücken - ist an keinen konkreten Ort mehr gebunden. In letzter Konsequenz kann kein realer Ort auf Erden die Ansprüche der Liebenden erfüllen: „en la tierra asilo no encontramos“. So wird der Tod zum letzten und endgültigen Asyl. Der Tod ist hier jedoch nicht als erlösender Übergang in einen neuen Raum zu verstehen, er bedeutet keine Rückkehr in die ewige Heimat im Sinne des christlichen Exildiskurses. Er ist vielmehr der Fluchtpunkt einer paradoxalen Bewegung. In der Liebe öffnet sich den romantischen Helden ein Raum unendlicher Weite - der Tempel der Liebenden ist das Universum −, der jedoch an keinem realen Ort dauerhaften Halt findet: nicht in der Gesellschaft, nicht in der Natur, nicht einmal in der Intersubjektivität der Liebenden. Denn diese ist, wie andere Passagen des Stückes zeigen, ständig von Missverständnissen und Eifersucht bedroht. Der Anspruch auf totale Transparenz, den die Liebenden aneinander stellen, erweist sich als Überforderung. 24 Das Liebesasyl als Moment vollkommener Übereinstimmung kann nur im gemeinsamen Liebestod auf Dauer gestellt werden und ist damit, im wahrsten Sinne des Wortes eine Utopie, ein Nicht-Ort. 24 Zu diesen Aspekten der romantischen Liebeskonzeption vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2 1993. <?page no="224"?> 222 Stefan Schreckenberg Was Macías an der hier zitierten Stelle programmatisch entwirft und was seine Geliebte, mit Rücksicht auf ihre Ehre als verheiratete Frau, zunächst noch zurückweist, wird im weiteren Verlauf des Stückes dann auch auf der Bühne anschaulich umgesetzt. Macías wird von seinem Rivalen gefangen genommen und in einen Kerker geworfen. Elvira kommt heimlich ins Gefängnis, um ihn zu befreien. Sie gibt Macías einen Dolch und nimmt ihm das Versprechen ab, sie zu töten, falls ihre Flucht scheitern sollte. Die Häscher des feigen Ehemanns stürmen den Kerker, Macías wird im Kampf tödlich verwundet, Elvira entreißt ihm den Dolch und ersticht sich. Den gemeinsamen Liebestod feiern sie als glückliche Vermählung: „Dichosa / muero contigo“ (IV 4, 1956-57) sagt Elvira und Macías ruft dem Rivalen triumphierend zu: „Es mía / para siempre…, sí…, arráncamela ahora, / tirano“ (IV 4, 1957-1959). Das Gefängnis als typischer Raum der Exklusion wird für die Liebenden zum Raum der utopischen Liebeserfüllung, wird Grab und Traualtar zugleich. Hier lösen sich Missverständnisse und Eifersucht, hier beschließen sie den gemeinsamen Liebestod. „La tumba será el ara donde pronta / la muerte nos despose“ (IV 4, 1955-56) sagt Elvira und ruft dann den Häschern zu: „Llegad… ahora…, llegad…, y que estas bodas / alumbren vuestras teas… funerales“ (IV 4, 1960-61). Das Liebesasyl in Macías ist in gewisser Weise als eine gelingende Form der Überwindung des Exils anzusehen. Die utopische Lösung des gemeinsamen Liebestods trägt bei Larra die Züge eines trotzigen Happy Ends. 25 5 Don Álvaro o la fuerza del sino: Die scheiternde Suche nach Asyl Ein Beispiel für eine unversöhnlichere Präsentation der Exilproblematik ist das Drama Don Álvaro o la fuerza del sino von Ángel de Saavedra, Duque de Rivas (1791-1864). Das im März 1835 in Madrid uraufgeführte Stück gilt bis heute, neben José Zorrillas Don Juan Tenorio, als eines der bekanntesten und wichtigsten Dramen der spanischen Romantik überhaupt. Auch einem europäischen Publikum dürfte der Stoff zumindest indirekt durch die Verdi-Oper La forza del destino vertraut sein, deren Libretto von Francesco Maria Piava auf der Vorlage Don Álvaro o la fuerza del sino beruht. 5.1 Zum Autor Der Duque de Rivas ist eine zentrale Figur sowohl der literarischen wie auch der politischen Romantik in Spanien. Geboren in Córdoba kämpft er als junger Offizier in den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Während des trienio liberal 25 In ähnlicher Weise sterben auch in Victor Hugos Hernani die Liebenden wirklich gemeinsam und nicht nur zum gleichen Zeitpunkt, wie dies in vielen anderen romantischen Dramen der Fall ist. <?page no="225"?> Spielarten des romantischen Exildiskurses im Drama der spanischen Romantik 223 (1820-1823) ist er für seine Heimatstadt Abgeordneter der Partei der exaltados in den Cortes. In Folge der Restauration von 1823 wird er zum Tode verurteilt und muss fliehen. Die Jahre des Exils verbringt er in London, auf Malta und in Frankreich. Im Januar 1834 kehrt er nach Spanien zurück, wo ihm die kulturelle und politische Reintegration gelingt. Da sein Vater und sein älterer Bruder inzwischen verstorben sind, fällt ihm der Herzog-Titel zu. Als Vertreter der Partei der Moderados bekleidet er verschiedene Minister- und Botschafterposten. 5.2 Zur Raumstruktur des Stückes: Die Vorläufigkeit aller Asyle In den 5 Akten von Don Álvaro werden 14 verschiedene Orte auf der Bühne dargestellt und die meisten davon in den Regieanweisungen auch detailliert beschrieben. Auch wenn die komplexe Raumstruktur von Don Álvaro mit dem einfachen binären Schema von Ubersfeld nicht vollständig beschrieben werden kann, so lassen sich auch hier Räume der sozialen Integration und Räume der Exklusion unterscheiden. Es fällt auf, dass die Räume der Integration nur selten explizit mit politischer Macht verknüpft sind. Zur Darstellung kommt dagegen mehrfach ein bürgerlich-kleinbürgerliches Milieu, in dem eine soziale Gemeinschaft vorgeführt wird, etwa in einer Straßenszene in Sevilla, in einem Gasthaus oder in einem Klostergarten. Die Exklusion des romantischen Helden äußert sich darin, dass er in keiner dieser Gemeinschaften dauerhaft Zuflucht finden kann, obwohl die meisten der auftretenden Figuren Sympathie für ihn empfinden. Dem Titelhelden sind Heimatlosigkeit und Exklusion schon in die Wiege gelegt worden: Álvaro ist der Sohn des spanischen Vizekönigs von Lima und der letzten Erbin des Inka-Imperiums, seine Eltern sitzen nach einer gescheiterten Rebellion gegen die spanische Krone seit seiner Geburt im Gefängnis. Aufgewachsen als Waisenkind in der Wildnis bei den Indios, ist er mit einer doppelten Schuld belastet, nämlich politisch und ‚rassisch‘, als Kind von Rebellen und als Mestize. Als junger Mann reist er nach Spanien. Alle seine Versuche, in der Heimat seiner Vorfahren Fuß zu fassen und seine soziale wie existenzielle Exilsituation zu überwinden, scheitern. Zunächst will er Leonor, seine Geliebte aus adeligem Hause, heimlich heiraten, da deren Vater die Verbindung mit einem Mann ungeklärter Herkunft strikt ablehnt. Der Plan wird entdeckt und aufgrund eines tragischen Zufalls − ein Schuss löst sich unbeabsichtigt − tötet Álvaro seinen Schwiegervater in spe. Er flieht und schließt sich unter neuem Namen den spanischen Truppen in Italien an. Dort findet er in einem anderen Offizier einen Herzensfreund. Für einen kurzen Moment scheint sich diese Freundschaft als Zufluchtsort anzubieten. Der Freund entpuppt sich aber als Bruder der Geliebten, der auf der Suche nach dem Mörder seines Vaters ist. Als die wahren Identitäten ans Licht kommen, fordert dieser Bruder Don Álvaro zum Duell. Álvaro ist gezwungen, den Freund zu töten, und flieht erneut. Er gelangt in ein Kloster, wo er, wieder unter falschem Namen, eine Existenz als Mönch beginnt. <?page no="226"?> 224 Stefan Schreckenberg Jahrelang lebt er dort unentdeckt und scheint endlich seinen Frieden gefunden zu haben. Aber auch an diesem Zufluchtsort holt ihn die Vergangenheit ein: Der zweite Bruder Leonors findet ihn nach langer Suche, provoziert ihn zum Duell, nicht zuletzt mit dem beleidigenden Hinweis auf sein unreines Blut. Das furiose Finale findet nicht mehr in den schützenden Mauern des Klosters, sondern in einer ebenso schrecklichen wie erhabenen Naturszenerie statt. Die Duellanten ziehen sich in eine unzugängliche Felslandschaft zurück, die Sonne geht unter, ein heftiges Gewitter zieht auf. Der Zufall bzw. das unerbittliche Schicksal will es, dass ganz in der Nähe, in einer Grotte, eine fromme Einsiedlerin lebt. Es ist keine andere als Leonor, die hier in völliger Zurückgezogenheit ganz unbemerkt ihr Asyl gefunden hat, wo sie ihre Mitschuld am Tod des Vaters sühnen und Frieden finden will. Schon vor Jahren hatte ihr Weg sie in diese Einöde geführt, die ihr damals als heiliger, rettender Ort erschienen war: Este refugio es sólo / el que puedo tener de polo a polo. / No me queda en la tierra / más asilo y resguardo / que los áridos riscos de esta sierra. / […] Dios de bondades, / con penitencia austera, / lejos del mundo en estas soledades, / el furor expiaré de mis pasiones. / […] ¿Qué me detengo, pues? … Corro al tranquilo…/ corro al sagrado asilo. 26 Die Liebenden finden sich hier nun wieder, nur um gleich darauf beide ihr Leben zu verlieren. Ganz anders als in Macías wird der Tod in Don Álvaro jedoch nicht als Zufluchtsort erfahren, an dem die Liebenden eine utopische, dauerhafte Vereinigung feiern können. Was in den letzten Szenen von Don Álvaro besonders nachdrücklich vorgeführt wird, ist vielmehr das gewaltsame Herausreißen aus dem Asyl, das nur vorläufige Zuflucht bieten konnte. Álvaro verwundet auch den zweiten Bruder tödlich und eilt dann zur Grotte des Einsiedlers, in der er einen Priester vermutet, damit der Sterbende seine Beichte ablegen kann. Damit bricht er das heilige Gesetz, wonach niemand den Frieden des Einsiedlers stören darf. Leonor ruft dem Eindringling entgegen: „¿Quién se atreve a llamar a esta puerta? Respetad este asilo“ (V 9, S. 187). Álvaro setzt sich über diese Warnung hinweg, zwingt die Einsiedlerin, ihren Schutzraum zu verlassen und das Unheil nimmt seinen Lauf. Nicht nur die Liebenden erkennen einander, sondern auch der sterbende Bruder die Schwester. Er glaubt, dass die beiden ihre frevlerische Beziehung unter dem Deckmantel des Mönchsgewands weitergeführt haben. Mit letzter Kraft ersticht er Leonor. Zurück bleibt Álvaro, fassungslos vor Schmerz. Noch ein letztes Mal wechselt er seine Identität und wird vom padre Rafael, wie er sich im Kloster genannt hat, zum Dämon: „Busca, imbécil, al padre Rafael… Yo soy un enviado del infierno, soy el demonio exterminador“ (V 11, S. 189) ruft er den herbeigeeilten Mönchen entgegen. Mit großer Geste 26 Duque de Rivas: Don Álvaro o la fuerza del sino. Hg. von Miguel Ángel Lama. Barcelona: Crítica 1994, Akt II, Szene 3, Verse 408−412; 441−444; 454−455. Alle weiteren Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe und werden im laufenden Text nachgewiesen (Akt Szene, Vers bzw. Seite für die Prosaszenen). <?page no="227"?> Spielarten des romantischen Exildiskurses im Drama der spanischen Romantik 225 und apokalyptischen Verwünschungen stürzt er sich in den Tod: „¡Infierno, abre tu boca y trágame! ¡Húndase el cielo, perezca la raza humana; exterminio, destrucción…! (Sube a lo más alto del monte y se precipita).“ (V 11, S. 189). Die Hölle scheint zum letzten Zufluchtsort des romantischen Helden zu werden. Anders als in den barocken Dramen, in denen die Höllenfahrt des Helden am Ende eine Wiederherstellung und Bestätigung der christlichen Ordnung bedeutet (etwa bei Tirso de Molina in El burlador de Sevilla oder El condenado por desconfiado), steht der Selbstmord Don Álvaros jedoch gerade für das Zerbrechen dieser Ordnung oder zumindest doch für deren fundamentale Infragestellung. Álvaro wird nicht vom Teufel geholt und für seine Vergehen bestraft, er geht freiwillig aus der Welt, mit einem Sprung ins Nichts verlässt er die Bühne. Diese radikalste Form der Exklusion lässt den Verdacht aufkeimen, dass die Verkettung von tragischen Umständen, die zu diesem Ende geführt hat, kein Schicksal, keine göttliche Vorsehung, kein diabolischer Plan, sondern bloße Kontingenz ist. Das Exil präsentiert sich nicht als zumindest utopisch überwindbarer Zustand, sondern als grundsätzliche, unentrinnbare Existenzform des modernen Menschen. 6 Schlussbemerkungen In Macías und Don Álvaro o la fuerza del sino präsentieren sich uns zwei Varianten des Umgangs romantischer Helden mit der Exilerfahrung. Der eine, Macías, wird Opfer einer machtpolitischen Intrige, kündigt dem ungerechten Herrscher daraufhin seine Treue auf und setzt sich fortan über alle sozialen und religiösen Konventionen hinweg. Unbeugsam fordert er sein Recht als Einzelner gegen die Willkürherrschaft der Mächtigen. Sein Aufbegehren hat eine politische Dimension im Sinne der liberalen Romantik. Allerdings streitet er, anders als z.B. die Helden bei Schiller, nicht in erster Linie für universale Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit, sondern für sein individuelles, privates Liebesglück. Sein Kampf wird am Ende − zumindest für einen Moment − von Erfolg gekrönt. Im gemeinsamen Tod scheint die romantische Utopie auf, wonach die menschliche Existenz allein in der Liebesbeziehung ihre Erfüllung und ihren Sinn, ihre Heimat findet. Ein verführerischer Gedanke, der seine Modernität bis heute noch nicht ganz eingebüßt hat. Auch Don Álvaro klagt ungerechte politisch-soziale Machtstrukturen an, denn es sind der Adelsdünkel und die traditionelle Vorstellung von der Reinheit des Blutes, die wesentlich zu seinem Unglück beitragen. Aber es kommen bei ihm weitere Faktoren hinzu: vielleicht Anteile eigener Schuld (seine ‚geerbten‘ heftigen Leidenschaften) und vor allem ein ominöses Schicksal, das keiner Instanz eindeutig zugeordnet werden kann. Anders als Macías suchen Álvaro und auch Leonor in ihrem Unglück Zuflucht in den traditionell christlichen Asylen: im Kloster und im Eremitendasein. Hier hoffen sie getrennt voneinander auf <?page no="228"?> 226 Stefan Schreckenberg eine wenn nicht glückliche, so doch zumindest friedliche, ‚exklusive‘ Existenz in einem Schutzraum jenseits der Gesellschaft. Der christliche Diskurs wird in Don Álvaro ausgiebig zitiert, dann aber umso wirkungsvoller in Frage gestellt. Am Ende sind alle Asyle zerstört, dem Helden bleibt nur die Selbstvernichtung ohne jede utopische Perspektive. Dieser romantische Vorgriff auf die Erfahrung des Absurden muss auf das zeitgenössische Publikum noch provozierender gewirkt haben als die individualistische Rebellion des liebenden Macías. Für eine auch im 19. Jahrhundert noch christlich geprägte Gesellschaft ist die Vorstellung eines unaufhebbaren, von keiner Heimkehr zu überwindenden Exils des modernen Menschen nur schwer erträglich. 27 Eine Antwort auf diese Provokation gibt einige Jahre später Zorrillas Don Juan Tenorio (1844). Dort kann sich der Held im Jenseits nicht nur mit der Geliebten vereinen, sondern auch mit Gott versöhnen. Diese doppelte Heimkehr ist in der Kritik teilweise als Allegorie der Verbürgerlichung des romantischen Helden gelesen worden und entschärft die moderne Sprengkraft des Exilmotivs. 27 Dies zeigt sich auch in der Opernversion: Verdi lässt nach den ersten Aufführungen eine zweite Fassung anfertigen, in welcher Álvaro nach dem Tod von Leonor Trost in der Religion findet und keinen Selbstmord begeht. In dieser versöhnlicheren Variante wird die Oper heute fast immer gespielt. <?page no="229"?> Gesine Müller Exil als Heimat - Heimat als Exil? Zur romantischen Inszenierung von Entwurzelung bei Literaten der karibischen Kolonien Frankreichs und Spaniens (1838-1844) „Il y a des heures où je vous envie, vous poète exilé sous le soleil, exil qu’Ovid eût aimé, dans cette Martinique que vous avez si admirablement peinte.“ 1 Diese Worte entstammen einem Brief Victor Hugos aus dem Jahre 1835 an seinen Schriftstellerkollegen Louis de Maynard de Queilhe, der kurz zuvor von Paris zu seiner Herkunftsinsel Martinique aufgebrochen war. „Mais, moi, abandonner ma patrie. […] Pourquoi existe-t-il une île appelée Martinique? pourquoi suis-je ici plutôt qu’autrepart? “ 2 So Marius, der Protagonist des Romans Outre-mer von Maynard de Queilhe, der wenige Jahre nach dem erwähnten Briefwechsel entstanden ist. Die Wahrnehmung einer fernen Karibikinsel als Exilort ist nicht nur auf der Ebene der Entlarvung gewisser Exotismen eine einseitige Zuordnung Victor Hugos. Aus karibischer Perspektive werden im Gegenzug nämlich des Öfteren auch die Metropolen der Mutterländer als Exilorte aufgefasst. Die Insel repräsentiert in kondensierter Form geschlossene und gleichzeitig offene Identität. Edouard Glissant bezeichnete dieses Phänomen bekanntlich als identité racine und identité-relation. 3 Damit steht „Insel“ immer für die „ambivalente Semantik […] als Isolation und Exil einerseits, und als Offenheit und Relationalität andererseits.“ 4 Ottmar Ette betont, dass Isolierung und Exil Grunderfahrungen der karibischen Literaturen sind, in deren Geschichte das freiwillige oder erzwungene Exil, aber auch das Spannungsverhältnis von a-islamiento und Deteritorrialisierung eine entscheidende Rolle spiele. Speziell die kubanische Nationalliteratur sei seit Beginn des 19. Jahrhunderts durch eine ständige Bewegung ihrer Protagonisten gekennzeichnet. 5 Die prominentesten Beispiele sind José María Heredia, der v.a. in Mexiko, aber auch in Venezuela und den USA im Exil war, und Cirilo Villaverde, der ebenfalls in den USA gelebt hat. Ähnliches ließe sich für andere Inseln nachweisen. In den folgenden Ausführungen sollen zwei Autorinnen und ein Autor in den Blick genommen werden, deren Texte verschiedene Varianten karibischer 1 Vgl. Roger Toumson: Bug-Jargal ou la révolution haïtienne. Fort-de-France: Désormeaux 1979, S. 69. 2 Louis Maynard de Queilhe: Outre-mer. Paris: Eugène Renduel 1838, Bd. 1, S. 43. 3 Edouard Glissant: Poétique de la Relation. Paris: Gallimard 1990. 4 Vgl. Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. (Über- Lebenswissen II). Berlin: Kadmos 2005, S. 143. 5 Ebd. <?page no="230"?> 228 Gesine Müller Fremdbzw. Exilerfahrung präsentieren: als Repräsentantin des spanischen Kolonialraums Gertrudis Gómez de Avellaneda, geboren auf Kuba und v.a. in Madrid lebend; für die französische Kolonialsphäre Louis Maynard de Queilhe, der aus Martinique stammt und lange Zeit in Paris gelebt hat, und schließlich die auf Kuba geborene Condesa de Merlín, die ebenfalls einen großen Teil ihres Lebens in der französischen Metropole verbracht hat. Alle drei haben folglich lange Phasen ihres Lebens in den Zentren der Mutterländer zugebracht, alle drei sind dem Ideal romantischen Schreibens verpflichtet. Ihre repräsentativen Werke wurden zwischen 1838 und 1844 veröffentlicht, innerhalb des für Lateinamerika und die Karibik veranschlagten Zeitraums der Romantik (1830-1870). In keinem der Fälle kann von einem erzwungenen, notwendigen politischen Exil die Rede sein, das ein Nicht-zurück-können impliziert. Dennoch verwenden die Autoren den Exilbegriff teilweise explizit, teilweise implizit zur Beschreibung ihrer Fremdheitserfahrung. Geboren auf Karibikinseln, gestaltet sich für sie zunächst der Neubeginn in den Metropolen der Mutterländer als Exil, nach langjährigem Aufenthalt dort wird hingegen die einstige Heimat als ein solches wahrgenommen. Überspitzt formuliert könnte man in allen drei Fällen von einem Exil im Exil sprechen. In ihren Werken beschäftigen sich die Autor/ innen mit der Identität ihrer Ursprungsländer, die als isolierte Enklaven in einer bereits politisch unabhängigen Umgebung nach wie vor den Status von Kolonien innehaben. Nachdem sie ihre Herkunftsinseln bereits sehr früh verlassen haben, widmen sie ihr literarisches Schaffen (oder einen Teil davon) der eigenen Heimat bzw. dem, was sie als ihre Heimat bezeichnen, nicht zuletzt unter dem Eindruck einer latenten Fremdheitserfahrung in den Mutter- und Gastländern Spanien bzw. Frankreich. Von außen, aus der (fragwürdigen) Distanz schreiben sie sich selbst und ihre Werke in die Kreation einer kulturellen (und teilweise auch politischen) Identität ihrer Inseln ein, wobei sie bei der Rückkehr in die Karibik jedoch ernüchtert feststellen müssen, dass sie sich auch hier nicht mehr wirklich zu Hause fühlen und von ihren Landsleuten inzwischen als Fremde wahrgenommen werden. Die Fremdheitserfahrung wird teilweise von den Autor/ innen selbst als Exilerfahrung bezeichnet. In dieser für viele Intellektuelle aus den Peripherien symptomatischen Erfahrung spiegelt sich eine Problematik, die alle drei Autor/ innen auf eine sehr unterschiedliche Weise antizipieren und reflektieren. Der Versuch, eine außereuropäische Identität zu begründen, schafft - wenn die Identitätskategorien, -modelle und -diskurse gerade aus den Zentren stammen, von denen man sich abzugrenzen sucht - notwendigerweise eine Spannung, die sich nicht immer leicht in einer dialektischen Synthese aufheben lässt. Wie wird dieser konzeptionelle Spagat von den drei Exil-Autor/ innen reflektiert? Inwiefern ist die Fremdheitsbzw. Exilerfahrung konstitutiv für das Schreiben? Wird sie explizit reflektiert? Steht sie im Zusammenhang mit politischen Haltungen zu den bestimmenden Themen des 19. Jahrhunderts in den Kolonien selbst, der Frage nach der Unabhängigkeit und nach der Abschaffung <?page no="231"?> Exil als Heimat - Heimat als Exil? 229 von Sklaverei? Gibt es einen Unterschied in den politischen Positionierungen zwischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern der französischen und ihren Kollegen aus der spanischen Kolonialsphäre? 6 1 Gertrudis Gómez de Avellaneda: Sab (1841) Gertrudis Gómez de Avellaneda (geboren 1814 in Camaguay, gestorben 1873 in Madrid) kam im Alter von 22 Jahren nach Spanien, wo sie sich sehr gut in die Madrider Literaturszene integrierte. Erst nach 23 Jahren auf der iberischen Halbinsel kehrte sie nach Kuba zurück. Dort entsponnen sich in den literarischen Kreisen heftige Diskussionen bezüglich des ‚Kubanisch‘- oder eben ‚Spanisch-Seins‘ der Autorin. So ist in einem Zeitungsartikel aus der Aurora del Yumurí vom 27. August 1867 zu lesen: El Areópago literario reunido en la Habana para escojer las composiciones dignas de figurar en el libro, ‚La Lira Cubana‘, ha determinado escluir a la poetisa Sra. D a Gertrudis Gómez de Avellaneda, por no considerarla cubana sino madrileña. En cambio, parece que los Sres. D. Saturnino Martínez y D. Antonio Enrique de Zafra serán mirados en lo adelante como escritores cubanos. 7 Wenige Monate später wird in der gleichen Zeitung eine völlig andere Meinung vertreten: Junta - La Sección de Literatura de nuestro Liceo celebró anoche, á petición de uno de sus miembros, para ocuparse de la cuestión Avellaneda. No pudimos asistir á esa reunión, pero nos informan que en ella quedó acordado que la Sección literaria considera á D a Gertrudis Gómez de Avellaneda como una de las glorias literarias de que puede Cuba enorgullecerse, y se convino igualmente estender una acta certificada de esa resolución para los fines oportunos. 8 6 Hier spielen die historischen Rahmenbedingungen der literarischen Produktion der Karibik im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle: In Martinique wurde die Sklaverei 1848 abgeschafft, doch gehört die Insel als Département d’outre mer (Gesetz von 1946) noch heute zu Frankreich. Kuba blieb bekanntlich bis 1898 spanische Kolonie. Zur definitiven Abolition kam es dort erst 1886. 7 Aurora de Yumurí, 27 de agosto de 1867. Zit. nach Gertrudis Gómez de Avellaneda: Cartas inéditas y documentos 1859 a 1864. Colección ilustrada por José Augusto Escoto. Matanzas: Imprenta La Pluma de Oro 1912, S. 62. 8 Aurora del Yumurí, 15 de enero de 1868. Zit. nach Gertrudis Gómez de Avellaneda: Cartas inéditas [Anm. 7], S. 62-63. Zu einem Briefwechsel von 1859 bemerkt die spanische Literaturkritikerin Bravo Villasante: „Su sitación en Cuba es grata e ingrata a la vez, al homenaje se une el reproche, y su doble aspecto de cubana y española es equívoco. Su llegada como consorte de un representante del Gobierno Central puede resultar molesto a los ojos de los revolucionarios, que intentan la independencia de Cuba, aunque sea prematura. Ella, inteligente, se da cuenta de todo, y se debate en las alternativas que se le pre- <?page no="232"?> 230 Gesine Müller Aus diesen resümierenden Zeilen lässt sich deutlich die Entwurzelungserfahrung der kubanischen Autorin erahnen. Für das genauere Verständnis des Zusammenhangs zwischen politischer Positionierung und Schreiben im Exil ist vor allem ihr Roman Sab (1841) aufschlussreich. Die inhaltlichen Grundzüge des komplexen Romans können an dieser Stelle nicht dargestellt werden. Für unsere Fragestellung bleibt festzuhalten, dass sich der Roman in den Kampf um Unabhängigkeit und um die Abschaffung der Sklaverei einschreibt. Das kommt treffend in folgendem Zitat zum Ausdruck, in dem der Protagonist und Mulatten-Sklave Sab zumindest die Möglichkeit eines Sklavenaufstandes in Erwägung zieht. He pensado también en armar contra nuestros opresores, los brazos encadenados de sus víctimas; arrojar en medio de ellos el terrible grito de libertad y venganza; bañarme en sangre de blancos; hollar con mis pies cadáveres y sus leyes y perecer yo mismo entre sus ruinas. 9 Die Liebe Sabs zu seiner Herrin Carlota wird nicht nur nicht erwidert; für Carlota ist die Liebe zu einem Sklaven schlicht undenkbar. Als sie an ihrem Hochzeitstag durch ihre zutiefst erschütterte Verwandte Teresa von Sabs Tod erfährt, weist sie die Vermutung ihres Bräutigams, dass Teresa Sab geliebt habe, mit den Worten zurück: ¡Amarle! ¡A él! ¡A un esclavo! […] sé que su corazón es noble, bueno, capaz de los más grandes sentimientos; pero el amor, Enrique, el amor es para los corazones tiernos, apasionados… como el tuyo, como el mío. 10 Die traditionellen romantischen Bilder des impulsiv handelnden ‚edlen Wilden‘ und ‚bon nègre‘ werden revolutioniert, wenn Sab in seinem Verzicht Carlota als Subjekt ernst nimmt, ohne dabei jedoch zu verkennen, wie sehr die Geliebte gerade in ihren Empfindungen von den gesellschaftlich dominanten Denkmustern beherrscht bleibt, durch die sie ihre eigene Objekthaftigkeit subjektiv interiorisiert. So vergleicht Sab seine Rolle als Sklave mit dem Los der Frau: ¡Oh! ¡las mujeres! ¡Pobres y ciegas víctimas! Como los esclavos, ellas arrastran pacientemente su cadena y bajan la cabeza bajo el yugo de las leyes humanas. Sin otra guía que su corazón ignorante y crédulo, eligen un dueño para toda la vida. 11 sentan. Políticamente ama al pueblo, y al mismo tiempo reverencia a su majestad; se siente hija de Cuba y de España a la vez y cuando intentan de dejarla fuera de una antología de poetas cubanos se siente ofendida, aunque no renuncia tampoco a su gloria de pertenecer a la literatura española.“ Zit. nach José Servera: „Introducción“. In: Gertrudis Gómez de Avellaneda: Sab [1841]. Hg. von José Servera. Madrid: Cátedra 1997, S. 38. 9 Gómez de Avellaneda: Sab [Anm. 8], S. 209. 10 Ebd., S. 251. 11 Ebd., S. 270. Man achte auf den Gebrauch des Aktiv: Die Frauen wählen, sie lassen sich von ihrem eigenen unwissenden und leichtgläubigen Herzen leiten oder, um es in der <?page no="233"?> Exil als Heimat - Heimat als Exil? 231 Sabs Dilemma liegt in der Situation selbst begründet: die Feinfühligkeit seiner Wahrnehmung, die Tiefe seiner Reflexion und Selbstreflexion über die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die er durchaus nicht als rein äußerliche Kraft versteht, sowie der unglaublich hohe moralische Anspruch an sich selbst treiben ihn in die eigene Selbstaufgabe. Er erkennt sehr wohl die Charakterschwäche von Carlotas Verlobtem Otway, der unter dem Einfluss seines geldgierigen Vaters die bereits geplante Hochzeit absagen will, als er erfährt, dass es um die materiellen Verhältnisse der Famille Carlotas schlechter bestellt ist als erwartet. Nach zermürbendem inneren Kampf steckt Sab Carlota, obwohl er für sie eine unglückliche Ehe voraussieht, seinen Lottogewinn zu und ermöglicht ihr so eine freie Entscheidung. Bezeichnenderweise entzieht sich Sab eindeutigen essentialistischen Zuschreibungen: obwohl er Mulatte ist, haben die Leute Schwierigkeiten, seine Hautfarbe eindeutig zu bestimmen; obwohl männlich, wird er mit durchaus femininen Zügen gezeichnet, vor allem aber wählt er freiwillig den Weg des Leidens, den er als Los der Frau in einer zu überwindenden patriarchalischen Gesellschaft ausmacht. Sab hat mit seinem emotionalen Appell (und dem Schock, den sein Selbstopfer beim Leser auslöst) eine große historische Wirkung gehabt. Immerhin ist der Roman nach 30-jährigem Verbot 1871 in Kuba in einer revolutionären Zeitschrift publiziert worden und damit unmittelbar in den Kampf um Unabhängigkeit und Abschaffung der Sklaverei eingegangen. Fragen des Exils spielen im Roman selbst keine explizite Rolle. Interessanterweise werden sie in einem weiteren Sinne jedoch in den Sklaven selbst transferiert: No tengo tampoco una patria que defender, porque los esclavos no tienen patria; no tengo deberes que cumplir, porque los deberes del esclavo son los deberes de la bestia de carga que anda mientras puede y se echa cuando ya no puede más. Si al menos los hombres blancos, que desechan de sus sociedades al que nació teñida la tez de un color diferente, le dejasen tranquilo en sus bosques, allá tendrán patria y amores. 12 Aufschlussreich für die Frage nach Artikulationsmöglichkeiten aus dem Exil ist auch, dass Avellaneda ihre Autorschaft in gewisser Weise zurücknimmt, wenn sie den Schreibprozess selbst in den Roman integriert und ihrem männlichen Protagonisten zuschreibt. Dadurch geschieht zweierlei: Einerseits wird dem ethnisch und sozial mehr oder weniger ausgegrenzten Romanhelden eine autoritative (auktoriale) Stimme verliehen, die ihn vom kolonialen Objekt nicht nur zum Subjekt der eigenen Geschichte, sondern auch zum Subjekt eines eigenen Diskurses erhebt, anderer- Sprache der Aufklärung auszudrücken: ihre Unmündigkeit ist durchaus selbst verschuldet. 12 Ebd., S. 36. <?page no="234"?> 232 Gesine Müller seits wird das erzählende Wort aus der Ferne (Madrid) in den Schauplatz des Romans verfrachtet, so dass sich die gefühlte Illegitimität einer Stellungnahme von außen (d.h. aus dem Land der Kolonisatoren) relativiert. Die gesamte Erzählung erweist sich gegen Ende des Romans als Abschiedsbrief des Sklaven und Titelhelden Sab. 2 Maynard de Queilhe: Outre-Mer (1838) Wir kommen nun zu einem Repräsentanten aus der französischen Kolonialsphäre, aus Martinique. Bezeichnenderweise sind über Maynard de Queilhe, genausowenig wie über die meisten anderen Autoren der französischen Antillen, kaum genaue biographische Daten bekannt. Sicher ist, dass er zeitweise in Paris gelebt, dort auch seinen Roman Outre-mer geschrieben hat und mit Victor Hugo befreundet war. Es gibt einige Andeutungen, die darauf hinweisen, dass seine Familie im Zuge der Französischen Revolution von 1789 nach Martinique ins Exil gegangen war. 13 Der Roman Outre-mer wurde 1838 geschrieben und publiziert. Wir befinden uns in einem Klima, in dem die Ideen der Julirevolution von 1830 nach und nach in die entlegenen Winkel des französischen Kolonialreiches gelangen. Mit den Ideen der Revolution bestimmen auch Fragen um die Abschaffung der Sklaverei intensiv die philosophischen und politischen Debatten in Paris. Gegner und Befürworter stehen sich im Club Massiac und der Société des amis des noirs gegenüber. Das Vorbild ist England, wo es bereits 1833 zur Abolition kam, in Frankreich werden Vorbereitungen für die Commission de Broglie (1840) getroffen, deren Gespräche dann 1848 in die definitive Abolition münden. Maynard de Queilhe ist ein Béké, d.h. ein Angehöriger der weißen kreolischen Oberschicht Martiniques, deren Hauptsorge um 1838 darin besteht, die alte Ordnung zu wahren. Ihr Reichtum basiert v.a. auf einem erfolgreichen Funktionieren der Plantagenwirtschaft dank Sklaverei. Revolutionäres Gedankengut aus Europa wird von den Békés als große Gefahr angesehen. Für sie scheint sich der Alptraum von 1789 nun zu wiederholen. Die Lektüre von Outre-mer vermittelt das Bild einer blockierten Gesellschaft, einer kreolischen Kaste, die getrieben ist von der Angst, die alten Privilegien zu verlieren. Die schreibende kreolische Oberschicht ist bestens in der Lage, ihre Exilerfahrung deutlich zuzuordnen. So schreibt Maynard de Queilhe im Vorwort: „Les colons ne se considèrent que comme des passagers sur une terre d’exil; ils ont toujours les ailes entrouvertes, pour regagner leur ancienne patrie.“ 14 13 Aufschlussreich ist das lange Vorwort seines Romans, das eine Art ethnographische Einführung beinhaltet. 14 Louis Maynard de Queilhe: Outre-mer. Paris: Eugène Renduel 1838, Bd. 1, S. 13. <?page no="235"?> Exil als Heimat - Heimat als Exil? 233 Zerrissenheit lässt sich höchstens hinsichtlich des Adressatenkreises ausmachen: „Il est ensuite beaucoup de choses de ce livre qui paraîtront étranges, tantôt aux personnes du pays où je suis, tantôt aux personnes du pays où vous êtes.“ 15 Fremdheit auf beiden Seiten des Atlantiks? Nicht wirklich, denn angesprochen ist jeweils die französische bzw. kreolische Oberschicht. Maynard de Queilhe lebt eine Exilerfahrung auf den Antillen, die von Sehnsucht nach dem Mutterland gekennzeichnet ist. Auf einer innerliterarischen Ebene ist für unsere Fragestellung interessant, dass Maynard de Queilhe in seinen Protagonisten, den Mulatten Marius, eine spezielle Art von Exilerfahrung transferiert, die symptomatisch ist für die neuen Konkurrenten der Béké: die Klasse der freien Mulatten, die erst 1830 sozial aufgestiegen sind und fast vergleichbare Rechte haben. Diese neue Klasse ist nach Maynard de Queilhe heimatlos bzw. hat sich nicht Frankreich, sondern England als „patrie“ erkoren. Mais, moi, abandonner ma patrie [Angleterre], non celle où j’ai reçu le jour [Martinique], jour affreux, que je maudis et que je suis prêt à rendre; mais celle de mon âme, où j’ai grandi, où j’ai été heureux et libre, où mon intelligence s’est enrichie et développée; pour ma damnation éternelle, je le reconnais à cette heure. Pourquoi existe-t-il une île appelée Martinique? pourquoi suis-je ici plutôt qu’autrepart? 16 Der Roman spielt im Jahr 1830 und im Zentrum steht die Leidenschaft des Mulatten Marius für eine weiße Kreolin, Julie de Longuefort. Diese Verbindung kann nach Maynard de Queilhe nur wider die Natur sein und einzig mit schlechter Erziehung erklärt werden. Marius ist erst kürzlich von Paris nach Martinique zurückgekommen. Die schlechte Erziehung hat er von seinem Adoptivvater, Sir William Blackchester, erhalten. Dieser ist Philanthrop und obendrein noch Engländer. 17 Das Spannungsdreieck England-Frankreich-Martinique durchzieht den gesamten Roman, wobei Marius ganz im Sinne des klassischen Helden des Bildungsromans einen Läuterungsprozess durchläuft. So äußert er bei seiner Ankunft: Angleterre […] c’est un noble et beau pays! l’homme y est le miroir de l’homme; on se respecte dans autrui. Sur mon honneur, je n’ai jamais traversé une rue de Londres sans porter orgueilleusement de ce qui m’attendait ici. Une misérable petite île! moins qu’une île, une espèce d’îlet; des fièvres, des serpens et des êtres qui se donnent des coups de fouet, parce 15 Ebd., S. 12. 16 Ebd., S. 43. 17 In den Augen der weißen Martinikaner waren die Engländer noch unbeliebter als die französischen Liberalen, da dort die Sklaverei bereits 1833 abgeschafft worden war. <?page no="236"?> 234 Gesine Müller qu’ils ne sont pas tous également jaunes, ou parce que les uns le sont trop et les autre pas assez; ou parce qu’il y en a qui ne le sont pas du tout. Misère! misères! 18 Die in England proklamierten philanthropischen Ideen motivieren den Protagonisten zunächst, revolutionäre Anliegen zu verbreiten. So lassen sich die Sklaven seiner Meinung nach zu viel gefallen: „Je n’y comprends rien. On les insulte, ils baissent la tête; on les bat, ils s’agenouillent; on les tue, ils remercient. Qu’est-ce que cela, bon Dieu? “ 19 Seine Worte nehmen fast spätere Positionen der Négritude vorweg, was schließlich so weit geht, dass er eine schwarze Frau kauft und befreit, um sie zu heiraten. Doch schnell wird er auf den Boden der Tatsachen zurückgeworfen und ihm wird klar, dass sie beide Welten trennen. Marius lernt, dass er nur eine ‚echte Frau‘ lieben kann: eine Weiße. Damit steht er im vollen Widerspruch zu seinen ursprünglichen politischen Überzeugungen. Die Erfahrungen nach seiner Rückkehr nach Martinique zwingen ihn dazu, sein Urteil über die Sklaverei zu revidieren. Mit der Zeit muss er feststellen, dass in Paris nur üble Vorurteile kursieren: Marius gerät in Verzückung, als er eine Habitation besichtigt, ein Plantagenmodell der alten Aristokratie. Hier zeigt sich, wie gut die Sklaven in Wirklichkeit behandelt werden. Nach dem Besuch verwirft Marius seine revolutionären Ideen aus Europa. On lui avait dit qu’on les exposait aux intempéries des saisons, sans défense, sans vêtements; et il apprenait que ces hommes recevaient par an deux casaques et deux caleçons, les femmes deux casaques et deux jupes: que si parfois on les voyait à moitié nus c’est que cela leur était plus agréable. […] A ces travaux ne se joignaient ni douleurs ni peines. Par intervalles certes le fouet retentissait, mais en l’air et non sur le dos de l’esclave et c’était uniquement pour exciter l’ardeur des endormis ou pour se faire entendre des plus éloignés. La terre n’était point arrosée de leurs sueurs mais peut-être du sirop qu’on ne leur refuse en aucun temps, et qu’ils ont l’habitude de boire délayé dans l’eau. […] On lui avait annoncé beaucoup de cris et de gémissements, et il ne les entendait que rire et jaser. 20 Die Plantage erscheint ihm nicht als Gegenentwurf zum Paradies, sondern als dessen Verlängerung, die Erntezeit als eine Phase fröhlicher Aktivität und lustiger Lieder. Die Mulatten sind die wahren Feinde der aristokratischen Ordnung. Dank ihrer neu erlangten Rechte haben sie die Möglichkeit, in Paris zu studieren, wo sie von revolutionärem Gedankengut infiziert werden. 21 Die revolutionären Ideen aus dem Zentrum erweisen sich in der Kolonie selbst als wirklichkeitsferne Konstrukte. Hier zeigt sich auf einer innerliterarischen Ebene, dass die „Übersetzung“ (translation) von Ideen und Theorien aus den Metropo- 18 Maynard de Queilhe: Outre-mer [Anm. 14], Bd. 1, S. 42. 19 Ebd., S. 41. 20 Ebd., S. 105 und S. 106. 21 Jack Corzani: La littérature des Antilles-Guyane Françaises (t. I-III). Fort de France: Desormeaux 1978, S. 341. <?page no="237"?> Exil als Heimat - Heimat als Exil? 235 len in die Kolonien selten 1: 1 vor sich geht, sondern entweder scheitert oder in der kolonialen Gemengelage einem Hybridisierungsprozess unterliegt. 22 3 María de las Mercedes Santa Cruz y Montalvo (Condesa de Merlín): La Havane (1844) Die Positionen von Maynard de Queilhe und Gómez de Avellaneda sind durchaus repräsentativ für die zeitgenössischen Literaten der jeweiligen Herkunftsinseln Kuba und Martinique. Gómez de Avellaneda gehörte zum Kreis von Del Monte, und Sab reiht sich ein in den conjunto abolitionistischer Romane, zu denen auch die Werke von Anselmo Suárez, Villaverde und Francisco Manzano gehören. Bezeichnenderweise gab es auf Martinique keinen vergleichbaren intellektuellen Zirkel. Die wenigen anderen Autoren aus der französischen Kolonialsphäre in der Karibik (abgesehen von dem seit 1804 unabhängigen Haiti) vertreten eine ähnliche Haltung wie Maynard de Queilhe und sprechen sich für eine Bewahrung der bestehenden Verhältnisse aus. Im untersuchten Zeitraum gilt das für Jules Levilloux, Poirié Saint-Aurèle und J.H.J. Coussin. Demgegenüber stellt das dritte Beispiel einer literarischen Exilerfahrung in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung dar. „Una cubana escritora no es siempre una escritora cubana“. 23 Diese einführenden Worte Gastón Baqueros zur Condesa de Merlín verweisen auf die zentrale Problematik, der jede Beschäftigung mit der 1789 auf Kuba geborenen und 1852 in Paris verstorbenen Schriftstellerin und Musikerin sich stellen muss. Bereits die Entscheidung für die Aussprache ihres Namens bereitet Schwierigkeiten: María de las Mercedes Santa Cruz y Montalvo ist besser bekannt als Condesa de Merlín oder aber Comtesse Merlin. 24 Sie schreibt auf Französisch, zudem ist sie eine Frau. Dies mag ihr Fehlen im offiziellen Literaturkanon der kubanischen Literatur des 19. Jahrhunderts erklären. Kurz nach ihrer Geburt emigrierte die Familie nach Madrid, während sie während der ersten zwölf Jahre ihres Lebens bei ihrer Großmutter auf Kuba aufwuchs. 22 María do Mar Castro Varela: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld: Transcript 2005, S. 89. 23 Roberto Ignacio Díaz: Merlin’s Foreign House: The Genres of La Havane. In: Cuban Studies 24 (1994), S. 57-82, hier S. 58. 24 Ebd. <?page no="238"?> 236 Gesine Müller Im Jahre 1802 25 , während der französischen Besetzung Madrids, verheiratete ihre vorausschauende Mutter die Tochter mit dem Grafen Antoine Christophe Merlin (1771-1839), einem General der Armee Bonapartes. 26 Als Franzosen waren die Merlins dann 1812 gezwungen, nach der Niederlage Bonapartes Spanien zu verlassen. Während der Zeit von 1813 bis 1839 wurde die Kreolin Santa Cruz y Montalvo zu einer der führenden Bellesdames des kulturellen Pariser Establishments. Ihr Salon in der Rue de Bondy No. 40 zog wichtige Musiker und Literaten der Zeit an. Nach 38 Jahren in Frankreich und genau ein Jahr nach dem Tod ihres Ehemannes kehrte sie 1840 für sieben Wochen nach Kuba zurück. Als Resultat dieser Reise erschien 1844 La Havane, ein Reisebericht (in drei Bänden und 1000 Seiten), der sich romantischen Idealen verschreibt. 27 Die Grenzen der Gattung werden jedoch ständig überschritten. Der Text besteht aus 36 Briefen, die zum größten Teil an die Tochter der Autorin, Madame Gentien de Dissay, adressiert sind, daneben aber auch an eine Reihe wichtiger europäischer Persönlichkeiten: Chateaubriand, Prinz Friedrich von Preußen, George Sand und den Baron Rothschild. Die ersten Stationen nach der Atlantiküberquerung sind New York und andere Städte der Ostküste der USA. Bezeichnend für die Ausführungen der Condesa de Merlín zu den USA ist ihre klare Selbstdarstellung als Fremde: die Nicht- Involvierheit in die Welt, die sie beschreibt, ist deutlich. Von dem Moment an, in dem sie in New York von Bord geht, beschreibt sie sich als „étrangère à tous ce qui m’entoure“ 28 . Ihre scheinbar neutrale Außenperspektive wird unterstrichen durch Äußerungen wie: „Il faut voir cette nation pour se faire une idée de ses mœurs“. 29 Diese Haltung ändert sich mit der Ankunft auf Kuba schlagartig: Nun möchte sie sich dem Leser als Kubanerin präsentieren, die ihr eigenes, vertrautes Land beschreibt. In ihrem Vorwort an den Capitán General schreibt sie: „Permettez, general. Que je place sous votre protectrice cette œuvre conçue par le sentiment patriotique d’une femme, le désir ardent de voir mon pays heureux, l’a seul inspirée“ 30 . Gewidmet ist das Buch: „À mes compatriotes“ 31 . Dieses fast penetrante Ringen um eine Anerkennung als Kubanerin durchzieht den Text wie ein roter Faden. Woran lässt sich dies festmachen? 25 Adriana Méndez Rodenas: A Journey to the (Literary) Source: The Invention of Origins in Merlin’s Viaje a La Habana. In: New Literary History, 21,3 (1990), S. 707-731, hier S. 708. 26 Ebd. 27 Vgl. Díaz: Merlin’s Foreign House [Anm. 23], S. 57. 28 María de las Mercedes Santa Cruz y Montalvo (Comtesse Merlin): La Havane. 3 Bde. Paris: Librairie d’Amyot 1844, Bd. 1, S. 65. 29 Ebd., S. 118. 30 Ebd., S. 5. 31 Ebd., S. 7. <?page no="239"?> Exil als Heimat - Heimat als Exil? 237 In den Beschreibungen der Insel ist die Orientierung der Autorin an den Crónicas de las Indias nicht nur unterschwellig omnipräsent. Sie erwähnt die Chronisten und in erster Linie Kolumbus recht häufig als direkte Quelle. 32 Bereits am Anfang paraphrasiert sie das Diario de a bordo des Entdeckers, der, wie sie selbst, bei seiner Ankunft auf Kuba glaubte, nun das schönste Land der Welt angetroffen zu haben. An mehreren Stellen greift sie seine loci amoeni auf. Diese Orientierung zeigt sich auch in ihrer Stilisierung der auf Kuba faktisch gar nicht mehr existierenden indigenen Bevölkerung, die eine sehr exaltierte Darstellung erfährt: 33 À quelque distance, et plus près de la côte, je découvre le village de Puerto Escondido; à ces chaumières de forme comique, couvertes jusqu’à terre de branches de palmiers; aux buissons touffus de bananiers qui, de leurs larges feuilles, protègent les maisons contre les ardeurs du soleil; à ces pirogues amarrées sur le rivage, et à la quiétude silencieuse de l’heure de midi, vous diriez que ces plages sont encore habitées par des Indiens. 34 Überhaupt sind Entdeckung und Eroberung zentrale Themen bei der Condesa de Merlín. Dies zeigt sich auch in ihren Naturbeschreibungen: Lorsque j’aperçois ces palmiers séculaires, qui courbent leur orgueilleux feuillage jusqu’au bord de la mer, je crois voir les ombres de ces grands guerriers, de ces hommes de résolution et de volonté, compagnons de Colomb et de Vélazquez; je les vis, fiers de leurs plus belles découvertes, s’incliner dans leurs reconnaissance devant l’Océan, pour le remercier d’un si magnifique présent. 35 Genauso wie die spanischen Eroberer sieht sie Kubas Größe und Schönheit als Naturgeschenk für die gerade angekommenen Europäer an. Natur ist für die Autorin ein literarisches Königreich, eine Quelle für exotistische Darstellungen. Was die kubanischen Städte betrifft, so betrachtet sie sie als Orte, deren Geschichtslosigkeit eben durch beeindruckende Naturwunder auf der Insel kompensiert wird: Nos édifices n’ont pas d’histoire ni de tradition: le Havanais est tout au présent et à l’avenir. Son imagination n’est frappée, son âme n’est émue, que par la vue de la nature qui l’environne; ses châteaux sont les nuages gigantesques traversés par le soleil couchant; ses arcs de triomphe, la voûte du ciel; au lieu d’obélisques, il a ses palmiers; pour girouettes 32 Zu ihrer kontinierlichen Orientierung an Quellen - in einem Fall sogar als Plagiat entlarvt - schreibt Silvia Molloy: „Rediscovery came from her less from what she saw on that trip than from what she read, remembered and imagined.“ Silvia Molloy: At Face Value: Autobiographical Writing in Spanish America. Cambridge: Cambridge University Press 1991, S. 93. Vgl. auch Raúl Ianes: La esfericidad del papel: Gertrudis Gómez de Avellaneda, la condesa de Merlín y la literatura de viajes. In: Revista Iberoamericana, LXI- II,178-179 (Enero-Junio 1997), S. 209-218, hier S. 214. 33 Vgl. Díaz: Merlin’s Foreign House [Anm. 23], S. 62. 34 Santa Cruz y Montalvo: La Havane [Anm. 27], Bd. 1, S. 276. 35 Ebd., S. 269; vgl. Díaz: Merlin’s Foreign House [Anm. 23], S. 64. <?page no="240"?> 238 Gesine Müller seigneuriales, le plumage éclatant du guacamayo; et en place d’un tableau de Murillo ou de Raphaël, il a les yeux noirs d’une jeune fille, éclairés par un rayon de la lune à travers la grille de sa fenêtre. 36 Problematisch ist der Umgang der Condesa de Merlín mit Possesivpronomina, die oft nur schwer zugeordnet werden können. Wer sind beispielsweise ‚unsere Dichter‘? Sind es Franzosen, Spanier oder Kubaner? Dies geht aus dem Text nicht klar hervor, denn „nos“ und „notre“ bezieht sich immer wieder auf beides: „nos plus riches hôtels de Paris“ 37 / „notre monde européen“ 38 / „nos élégants salons“ 39 , aber auch: „nos guajiros“. 40 Wenn die hartnäckige Selbstinszenierung als Kubanerin auf den ersten Blick auffällt, so schwingt an einigen Stellen jedoch auch eine brüchige Identitätserfahrung mit. 41 Wer bin ich? Jetzt, wo ich hier bin in den Tropen? Gräfin oder Kreolin? Santa Cruz y Montalvo oder Condesa de Merlín? 42 Diese Ambivalenz steht in engem Zusammenhang zu ihren politischen Überzeugungen: Sie sieht sich nicht als Ausländerin, sondern als Kolonisatorin, die aber in ihrer Verwurzelung mit der Insel eine besondere Legitimation zur Stellungnahme sieht. Die nationalen Projekte eines Heredia oder Villaverde lehnt sie rigoros ab. Was die politische Unabhängigkeit betrifft, ist ihre Loyalität Spanien gegenüber klar: „Quant à nous, je le repète, nous sommes profondément, exclusivement Espagnols. […] L’intérêt de l’Espagne est le nôtre; notre prosperité servirait la prospérité espagnole“. 43 Ähnlich radikal sind ihre Ansichten zu den aktuellen Debatten über die Abschaffung der Sklaverei. Sie lobt deren Ursprünge: 36 Santa Cruz y Montalvo: La Havane [Anm. 27], Bd. 2, S. 210-21; vgl. Dìaz [Anm. 22], S. 65. 37 Santa Cruz y Montalvo: La Havane [Anm. 27], Bd. 1, S. 74. 38 Ebd., Bd. 2, S. 49. 39 Ebd., Bd. 2, S. 54. 40 Ebd., Bd. 2, S. 51; vgl. Díaz: Merlin’s Foreign House [Anm. 23], S. 63. 41 Vgl. Méndez Rodenas: A Journey to the (Literary) Source [Anm. 25], S. 709. 42 Diese Zerrissenheit kommt auch besonders deutlich zum Ausdruck in ihren 1836 veröffentlichten Memoiren: „[…] j’ai deux moi, qui luttent constamment, mais c’est le fort, le superbe, que j’encourage toujours; ce n’est pas parce qu’il est le plus fort, que je lui donne la préférence, mais parce qu’il est le plus malheureux: il ne réussit à rien.“ In: Souvenirs et mémoires de Madame la Comtesse Merlin, publiés par elle-même. Paris: Charpentier 1836, Bd. 3, S. 246; vgl. auch Adriana Méndez Rodenas: Voyage to La Havane: The Countess of Merlín’s Preview of National Identity. In: Cuban Studies 16 (1986), S. 71-99, hier S. 80. 43 Santa Cruz y Montalvo: La Havane [Anm. 27], Bd. 2, S. 285. <?page no="241"?> Exil als Heimat - Heimat als Exil? 239 Lorsqu’une tribu faisait des prisonniers sur une tribu ennemie, si elle était anthropophage, elle mangait ces captifs; si elle ne l’était pas, elle les immolait à ses dieux. La naissance de la traite détermina un changement dans cette horrible coutume: les captifs furent vendus. 44 Unter Berücksichtigung dieser radikal konservativen Haltung in einem Klima, das von solch politisch liberalen Debatten wie dem Del-Monte-Kreis bestimmt war, nimmt es nicht wunder, dass die Condesa de Merlín viel zeitgenössische Kritik erfahren hat. Diese richtete sich allerdings nicht nur gegen ihre extrem konservativen Positionen. Bezeichnenderweise gründet die Hauptkritik auf ihrem Anspruch, als Kubanerin zu sprechen, wozu es ihr nach Meinung der einheimischen Schriftstellerkollegen jeder Grundlage entbehrte. Félix Tanco verfasste mehrere Artikel im Diario de la Habana, in denen er das Schreiben über Kuba aus europäischer Perspektive aufs Korn nahm. „La señora de Merlín, por decirlo una vez, ha visto la isla de Cuba con ojos parisienses y no ha querido comprender que La Habana no es París”. 45 Abschließend kann festgehalten werden, dass ein erstes close reading ihres Gesamtwerks diese Exterritorialität vermittelt, um den Terminus von George Steiner 46 zu verwenden. La Havane ist ein wichtiges Beispiel von „unhousedness“, das so charakteristisch ist für die kubanische Literatur. Der Text der Condesa de Merlín ist ein hybrides Gebilde, das auf einer Reihe von Gegensatzpaaren fußt: Kuba - Frankreich / spanisch - französisch / lokaler costumbrismo - europäischer Exotismus, Erinnerung - Gegenwart. Sieht man das Ringen um das ‚Kubanisch-Sein‘ im Kontext ihres kolonisatorischen Anliegens, so kann das eigentliche identitäre Selbstverständnis der Autorin nur gebrochen sein. Sie schreibt in einem in-between, einem Zwischen-Raum. 4 Fazit Die Protagonist/ innen der drei bereits hinsichtlich ihrer Gattungen so unterschiedlichen Inszenierungen sind typisch romantische Held/ innen, deren Heimatlosigkeit existentiellen Charakter hat. Alle drei Autor/ innen schreiben in den Zentren der Mutterländer über ihre Herkunftsinseln, die sie nach Jahrzehnten der Abwesenheit wieder besucht haben. Die Exilerfahrung, die sie dort machen, wird von allen auf unterschiedliche Weise problematisiert. Bei Maynard de Queilhe wird der Exilbegriff auf einer innerliterarischen Ebene direkt verwendet, in La Havane der Condesa de Merlín ist die Exilsituation unterschwellig das 44 Ebd., Bd. 2, S. 89-90, vgl. auch Díaz: Merlin’s Foreign House [Anm. 23], S. 68. Vgl. hierzu auch den Artikel der Comtesse Merlin: Les esclaves dans les colonies espagnoles. In: Revue des deux mondes 2 (1841), S. 380-405. 45 Méndez Rodenas: A Journey to the (Literary) Source [Anm. 25], S. 711. 46 Vgl. George Steiner: Exterritorial. Schriften zur Literatur und Sprachrevolution. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. <?page no="242"?> 240 Gesine Müller beherrschende Thema. Avellaneda setzt sich mit der Erfahrung in außerliterarischen Schriften auseinander. Während sich für Gómez de Avellaneda - wie für andere Autor/ innen der (ehemaligen) Kolonien Spaniens - die Exilsituation als ein komplexes und spannungsreiches Dazwischen gestaltet, wird dieses Dazwischen von Maynard de Queilhe und anderen frankophonen Autoren tendenziell gar nicht wahrgenommen, für sie scheint die Frage des Entweder-Oder bestimmend zu sein. Dies zeichnet sich tendenziell bereits in der Wahl der Titel der literarischen Werke ab, die jeweils auf die primären Rezipienten (im Mutterland) verweisen. Maynard de Queilhe reiht sich in die Gruppe seiner Kollegen aus den französischen Antillen ein, die meist schon in ihren Titeln eine Außenperspektive einnehmen: Neben Outre-mer sind erwähnenswert: Description de l’île de Martinique 47 oder Les créoles ou la vie aux Antilles 48 . Demgegenüber lautet der Titel eines weiteren Werkes von Avellaneda Al partir (1836). Das Zugehörigkeitsgefühl zum dominanten kolonialen Raum artikuliert sich in der politischen Positionierung: Gómez de Avellaneda schreibt ihren Roman ein in den Kampf um die Abschaffung von Sklaverei und für Unabhängigkeit. Maynard de Queilhe klammert sich (wie viele andere Autoren der frankophonen Karibik im 19. Jahrhundert) an das Bild des Ancien Régime, um den status quo zu verteidigen. Bei ihm laufen die Prozesse recht eindimensional ab. Die kulturlosen Antillen werden als Exil betrachtet und die eigene Zugehörigkeit zum Mutterland Frankreich nicht angezweifelt. Angezweifelt werden nur die Möglichkeiten eines Überlebens der bestehenden politischen Ordnung. Die Hauptgefahrenquelle, die neu aufstrebende Klasse der Mulatten, wird im Roman dem Exil der „petite île, où il n’y a rien“ ausgesetzt. Nur mühsam durchläuft der Mulatte Marius einen Prozess der Läuterung. Die Exilerfahrung wird nicht problematisiert, da sie von dem kolonisatorischen Anliegen überlagert wird. Die Eindimensionalität eines Maynard de Queilhe rührt natürlich auch daher, dass es einfacher war, von Paris aus den französischen Kolonialismus zu behaupten, als von Madrid aus den spanischen, zumal sich Spanien als Kolonialmacht im Vergleich zu Frankreich im Niedergang befand. Dies mag letztlich auch mit der im Vergleich zu Spanien weitaus erfolgreicheren ‚mission civilisatrice‘ Frankreichs zusammenhängen. Eine Ausnahme bildet die Condesa de Merlín als Kubanerin in Paris, was nicht unbedingt mit dieser spezifischen Verortung zusammenhängen mag. Ihr angestrengtes Bemühen um kubanische Identität kann im Zusammenhang mit ihrem Anliegen, den spanischen Kolonialismus zu zementieren, nur auf ein gebrochenes identitäres Selbstverständnis der Autorin verweisen. Anscheinend hat 47 Auguste Prévost de Sansac: Les amours de Zémedare et Carina et description de l’île de Martinique. Paris 1840. 48 Jules Levilloux: Les Créoles ou la vie aux Antilles [1841]. Morne-Rouge, Martinique: Editions des Horizons Caraïbes 1977. <?page no="243"?> Exil als Heimat - Heimat als Exil? 241 die Erfahrung des französischen Kolonialismus und seiner wirksameren Gravitationskraft sie dazu gebracht, kolonisatorisch aufzutreten - wenn auch nicht im Dienste von Paris, sondern im Sinne der Madre Patria España. Der Dienst an Frankreich kam insofern nicht zu kurz, als La Havane, gerichtet an ein französisches Publikum, durchaus exotische Erwartungshaltungen erfüllt haben dürfte. Letztlich gilt: Was auch immer die Motivation für ein Exil im Mutterland ist, und unabhängig davon, wie stark man sich mit der (ehemaligen) Kolonialmacht identifiziert, ein konzeptioneller Spagat wohnt aufgrund der diskursiven Herrschaft des Mutterlandes über die Kolonien jeder (post-)kolonialen Positions- und Selbstbestimmung inne. <?page no="245"?> Katja Carrillo Zeiter Die Funktion des Exils in der argentinischen Literaturgeschichtsschreibung 1 Einleitung In der Vorbemerkung zum dritten Band seiner umfangreichen Literaturgeschichte Historia de la literatura argentina von 1917 hält Ricardo Rojas fest: „Los autores aquí reunidos pudieron haberse agrupado bajo el nombre de los ‚patricios‘, definiendo así el móvil de sus vidas como ciudadanos y el tema de sus obras [...]“. 1 Rojas wählt zwar den Untertitel Los proscriptos für besagten Band, da dieser Terminus zu seiner Zeit bereits die gängige Bezeichnung für jene Gruppe von Intellektuellen war, deren Leben und Werk er im Folgenden untersuchen wird. Dennoch verweist die oben zitierte kurze Anmerkung auf die Perspektive, von der aus Rojas auf die im Folgenden genauer zu definierende Gruppe von Intellektuellen blickt. So gibt der Begriff los patricios dem Leser vor, wie er die weiteren Ausführungen von Rojas zu verstehen hat: Leben und Werk der von Rojas in Band III seiner Literaturgeschichte untersuchten Intellektuellen stehen ganz im Dienste der patria, auch wenn sie aus derselben emigrieren mussten. Rojas nimmt hier das Argument der ‚innigen‘ Beziehung des Exilierten zu seinem Heimatland auf, das sich immer wieder in der Forschung zum politischen Exil im allgemeinen, 2 aber auch in der Forschung zur Generación del 37 in Argentinien finden lässt. 3 Die nach wie vor bestehende enge Beziehung zum Heimatland steht dabei in Kontrast zu einem Gefühl der politischen Nutzlosigkeit, wie sie Esteban Echeverría beschreibt: „La emigración es la muerte; morimos para nuestros allegados, morimos para la 1 Ricardo Rojas: Historia de la literatura argentina. Buenos Aires: Imprenta y Casa Editora „Coni“ 1917-1920, hier Bd. 3, S. VI. 2 Siehe hierzu Yossi Shain: The Frontier of Loyalty: Political Exiles in the Age of the Nation State. Middletown, CT: Wesleyan University Press 1989. 3 In seiner 1964 erschienenen Arbeit Literatura argentina y realidad política beschreibt David Viñas eine der Gemeinsamkeiten der Generación del 37 folgendermaßen: „En segundo lugar, su inserción en las tensiones que provoca el momento rosista que los crispa, motiva y moviliza alejándolos del país y otorgándoles distancia para verlo en perspectiva y desearlo, interpretarlo, magnificándolo y descubriéndolo como condición sine qua non hasta poetizarlo en una permanente oscilación entre carencia y regreso.“ David Viñas: Literatura argentina y realidad política. Buenos Aires: Jorge Álvarez Editor 1964, S. 5-6. Viñas beschreibt hier die Situation der Exilierten zwischen Verlust und Rückkehr und ihre ständige Auseinandersetzung mit Argentinien, die Rojas im Begriff los patricios zusammenfasst. Zur Generación del 37 siehe William H. Katra: The Argentine Generation of 1837. Echeverría, Alberdi, Sarmiento, Mitre. Cranbury, NJ: Associated University Press 1996. <?page no="246"?> 244 Katja Carrillo Zeiter patria, puesto que nada podemos hacer por ella“. 4 Dass seine Generation zumindest posthum dem ‚Vaterland nützlich sein wird‘, möchte ich im Folgenden am Beispiel der Funktion, die ihr in den argentinischen Literaturgeschichten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zugewiesen wird, nachzeichnen. 2 Historischer Kontext der Generación del 37 Im Jahre 1835 5 kommt Juan Manuel de Rosas in Argentinien 6 an die Macht und etabliert in der Folge sein repressives Regime, das bis 1852 andauern wird. Er beendet damit die seit den Unabhängigkeitskämpfen bestehenden Konflikte und kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Föderalisten und Unitariern, die sich im Wesentlichen um die Machtverteilung zwischen den Provinzen des Landesinneren und Buenos Aires drehten und die politische Einheit des ehemaligen Vizekönigreichs Río de la Plata verhinderten. Gleichwohl wird Rosas’ Machtübernahme in der argentinischen Geschichtsschreibung und auch Literaturgeschichtsschreibung des auslaufenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts als vorläufiges Ende der Hoffnungen und Absichten der vorangegangenen Jahrzehnte dargestellt. Ein Bruch, der die zunächst voranschreitende Aufgabe der Nationengründung in Argentinien zum Erliegen gebracht habe. Auslöser für die Hoffnungen und Absichten der ersten Jahrzehnte war die politische Unabhängigkeit von Spanien 1816; diese verlief parallel zu der der übrigen spanischen Kolonialgebiete in Südamerika und war zunächst eine Reaktion auf Napoleons Invasion in Spanien. 1810 gründet sich in Buenos Aires im Verlauf des so genannten cabildo abierto die erste Regierungsjunta, die kommissarisch die Regierungsgeschäfte übernimmt, bis der spanische König wieder seinen Thron besteigen kann. Doch die Ereignisse überschlagen sich und an ihrem Ende stehen 1816 die unabhängigen Provinzen Río de la Plata. 4 Zitiert nach Gregorio A. Caro Figueroa: Exiliados y proscriptos en la historia argentina. In: Todo es historia 246 (1987), S. 6-39, hier S. 12. 5 Das Jahr 1835 markiert den Beginn der zweiten Amtszeit Rosas’, er hatte bereits von 1829-1832 regiert. Die zweite Amtszeit Rosas’ ist jedoch die in der Geschichtsschreibung und Literaturgeschichtsschreibung weitaus polemischer diskutierte. Vergleiche hierzu vor allem Noemí Goldman (Hg.): Revolución, República, Confederación. Buenos Aires: Editorial Sudamericana 1998 (Nueva historia argentina. Hg. von Juan Suriano. Bd. 3), hier S. 283-290. 6 Die Bezeichnung Argentinien ist nicht ganz korrekt, denn das Territorium des ehemaligen spanischen Vizekönigreichs Río de la Plata, um das es hier geht, erhält erst in den 1860er Jahren die Bezeichnung Argentinien. Bis dahin lautet die offizielle Bezeichnung Provincias Unidas del Río de la Plata und umfasst zeitweise große Teile des heutigen Argentinien und Uruguay. Die Begriffe Argentinien und argentinisch werden hier der Einfachheit halber verwendet. <?page no="247"?> Die Funktion des Exils in der argentinischen Literaturgeschichtsschreibung 245 In der Geschichtsschreibung und Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, aber auch im Selbstverständnis der zeitgenössischen argentinischen Intellektuellen gestaltet sich dieser Moment als nationaler Aufbruch, der alle Bereiche der argentinischen Gesellschaft umfasst. So wird die Unabhängigkeit im kulturellen Bereich zum Startschuss für eine Vielzahl von journalistischen Publikationsprojekten, für die Gründung von Bildungsinstitutionen und von kulturellen Einrichtungen wie Theatern, Museen usw. Im Bereich der Literatur kommt es zur Gründung von Sociedades literarias, die nach dem Vorbild ähnlicher literarischer Gesellschaften in Europa funktionieren. In der literarhistorischen Rückschau wird die Unabhängigkeit zur Bedingung für die literarische Produktion im ehemaligen Vizekönigreich Río de la Plata, so dass hier eine enge argumentative Verzahnung zwischen politischer Unabhängigkeit und Literatur erfolgt: Sólo cuando el espíritu guerrero caldeó los corazones argentinos, y el grito mágico de independencia hizo unir á todos los americanos en contra del poder español [...] se ven aparecer figuras en este suelo que, esgrimiendo la pluma como la más poderosa arma de combate, se lanzan á la pelea [...]. 7 Die nicht allein politische, sondern auch kulturelle Aufbruchsstimmung nach der Unabhängigkeit ist also das Charakteristikum, das von Literarhistorikern wie Felipe Martínez in den Mittelpunkt ihrer Darstellungen gestellt wird. Literarischen Ausdruck finde - so die Argumentation - diese Aufbruchs- oder Umbruchsstimmung dann mit einiger Verspätung in der Romantik, sie wird zum Symbol für den Übergang vom alten kolonialen Regime - repräsentiert im Neoklassizismus - zum jungen unabhängigen Staat. 3 Der Weg zur argentinischen Romantik Die argentinische Literaturgeschichtsschreibung findet mit dem Jahr 1830 einen genau zu datierenden Anfangspunkt für die Romantik: Es ist das Jahr, in dem Esteban Echeverría nach einem fünfjährigen Aufenthalt in Paris nach Buenos Aires zurückkehrt. Nimmt man dieses Datum als Beginn jener Literaturströmung, die von den Literarhistorikern als die literarische Verwirklichung der politischen Unabhängigkeit bezeichnet und konstruiert wird, so gilt es, die Lücke zwischen politischer und literarischer Unabhängigkeit zu füllen. Dies führt dazu, dass Autoren, die im ersten Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit publizieren, in den Genuss kommen, zumindest Vorläufer oder Bewunderer der Roman- 7 Felipe Martínez: La literatura argentina desde la conquista hasta nuestros días. Buenos Aires: Imprenta de M. Biedma e hijo 1905, S. 17-18. Orthographie und Akzentsetzung wie im Original. <?page no="248"?> 246 Katja Carrillo Zeiter tik zu sein, wie beispielsweise Juan Cruz Varela, über den Felipe Martínez in La literatura argentina desde la conquista hasta nuestros días schreibt: Aunque clásico, siempre se mostró benévolo con las primeras tentativas románticas; saludó entusiasmado la aparición de los Consuelos de Echeverría, y él mismo, aunque dentro de lo clásico, buscó nuevos rumbos líricos, arrojándose en la última y más bella de sus composiciones, en la inspirada y vehemente invectiva contra Rosas que tituló El 25 de Mayo de 1838 [...]. 8 Interessant ist, wie hier nicht nur auf Cruz Varelas literarische Qualitäten Bezug genommen wird, sondern wie er in die Nähe des großen Themas der argentinischen Romantik gerückt wird, nämlich ihrer Auseinandersetzung mit der Diktatur von Juan Manuel de Rosas. Cruz Varelas Schrift El 25 de Mayo de 1838 wird hier zum Höhepunkt seiner schriftstellerischen Arbeiten erklärt. 9 Noch deutlicher wird dies in einem Absatz der Historia de la literatura argentina von Enrique García Velloso, in dem er auf die tumultartigen Zustände in Buenos Aires um das Jahr 1820 eingeht: Los hombres como Varela eran los encargados de secundar la fecunda obra de Rodríguez y Rivadavia y de encarar virilmente, el problema del espíritu urbano ante las arremetidas gauchas que habían de ensangrentar la patria. Paz y La Madrid frente a Facundo, la Pampa contra las ciudades [...]. 10 Varela gehört hier jener Generation an, der es noch gelungen war, die Kräfte aufzuhalten, die fünfzehn Jahre später das zivilisatorische Projekt der jungen Nation vorerst beenden würden. In García Vellosos Liste der Dichotomien von „espíritu urbano“ auf der einen und „arremetidas gauchas“ auf der anderen Seite, Paz und La Madrid im Gegensatz zu Facundo und schließlich „la Pampa“ und „las ciudades“ fehlt eigentlich nur das inzwischen weitaus bekanntere Gegensatzpaar von civilización und barbarie. 11 Es steht folglich für García Velloso außer Frage, auf welcher Seite Juan Cruz Varela - und mit ihm noch andere - stehen. 8 Ebd., S. 29-30. 9 In diesem Gedicht ist Rosas der Zerstörer der Hoffnungen der so genannten Revolución de Mayo - Monat der Bildung des cabildo abierto. Zu Beginn des Gedichtes werden die Hoffnungen und das Erwachen Argentiniens besungen, um dann zur Darstellung der Brutalitäten von Rosas’ Regime zu wechseln. 10 Enrique García Velloso: Historia de la literatura argentina. Buenos Aires: Estrada 1914, S. 246. 11 Gemeint sind José María Paz, General während der Unabhängigkeitskämpfe und später in den Auseinandersetzungen mit den Führern der Provinzen, Gregorio Aráoz de La Madrid, ebenfalls General der Unabhängigkeitsarmee, und Juan Facundo Quiroga, ebenfalls Militär während der Unabhängigkeitskämpfe. Paz und La Madrid waren Vertreter der Unitarier, Facundo Quiroga hingegen der Föderalisten. In seinem Werk Facundo o Civilización y Barbarie von 1845 malt Domingo Faustino Sarmiento ein dunkles Bild von Facundo Quiroga und stellt ihn als brutalen Despoten dar. <?page no="249"?> Die Funktion des Exils in der argentinischen Literaturgeschichtsschreibung 247 In der Gesamtschau zur argentinischen Literaturgeschichte ist dies insofern von Bedeutung, als an dieser Stelle eine Beziehung hergestellt wird zwischen der Generación del 37 und den ‚Vätern‘ der argentinischen Unabhängigkeit. Die Unabhängigkeit ist dabei Dreh- und Angelpunkt und die mit ihr und durch sie verfochtenen Ideale einer freien Nation, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf dem Weg in den Kreis der zivilisierten Nationen war, so jedenfalls die allgemeine Annahme. Doch dieser Weg endet zunächst einmal im Jahre 1835. 4 Ein romantisches Exil In diesem Jahr geht Juan Manuel de Rosas als Sieger aus den Konfrontationen zwischen Unitariern und Föderalisten hervor, die die Jahre nach 1820 prägten. Als Unitarier bezeichneten sich die Vertreter eines zentralistisch auf Buenos Aires ausgerichteten Staates, wohingegen die Föderalisten für eine stärkere Gewichtung der föderalen Struktur waren, die ihre Macht in den Provinzen des Inneren gestärkt hätte. Ein solcher Föderalist war Juan Manuel de Rosas, allerdings hinderte ihn diese Bezeichnung nicht daran, Buenos Aires zum Zentrum seiner Macht zu machen. 12 Die Machtergreifung von Juan Manuel de Rosas fällt in die Zeit der gerade aufkeimenden Romantik in Argentinien. Wie bereits erwähnt, findet sich in den argentinischen Literaturgeschichten das Jahr 1830 als Datum für den Beginn der Romantik, da in diesem Jahr Esteban Echeverría nach Buenos Aires zurückkehrt. Echeverría wird damit zum ersten Romantiker auf argentinischem Boden. Er lebte von 1825 bis zu seiner Rückkehr fünf Jahre lang in Paris, wo er - wie es beschrieben wird - die französische Romantik eines Victor Hugo in sich aufnahm. Die Beziehung zu Leben und Werk Victor Hugos, die immer wieder an verschiedenen Stellen in den Literaturgeschichten betont wird, verweist auf eine politisch orientierte Romantik und macht deutlich, dass es sich bei den Idealen der Generación del 37 keineswegs um rein ästhetisch-literarische Aspekte handelt, sondern dass sich die Gruppe auch als Teil einer politischen Bewegung versteht. 13 So konzentriert sich die literarhistorische Darstellung von einigen Mitgliedern der Generación del 37 in erster Linie auf die politisch-ideologische Auseinandersetzung mit dem Regime von Juan Manuel de Rosas. 12 Die Tatsache, dass die Vereinten Provinzen des Río de la Plata ausgerechnet unter einem Föderalisten, denen man vorwarf, die Aufsplitterung des ehemaligen Vizekönigreichs zu betreiben, eine relativ lange Phase der politischen Stabilität erlebten, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, zeigt aber gleichzeitig die Absicht der Geschichtsschreiber. Zur Auseinandersetzung um die Person Juan Manuel de Rosas’ siehe Goldman: Revolución [Anm. 5], S. 283-291. 13 Vorbild für die Gruppe war die Giovine Italia von Giuseppe Mazzini. <?page no="250"?> 248 Katja Carrillo Zeiter Neben der Betonung der politischen Aspekte der Romantik findet sich in den argentinischen Literaturgeschichten bezüglich Echeverrías Stellung innerhalb der Bewegung die Hervorhebung der eigentlichen Besonderheit der argentinischen Romantik im Vergleich zu der Romantik im restlichen Südamerika: „El producto de esta gran revolución literaria, el romanticismo, fué importado de segunda mano por España en los demás países americanos; pero no ocurrió lo mismo en nuestra patria [...].“ 14 Und weiter führt Felipe Martínez in La literatura argentina desde la conquista hasta nuestros días aus: „[...] fué D. Esteban Echeverría, uno de los primeros líricos americanos y patriarca de la poesía romántica en nuestra literatura“. 15 Die weitere Biographie Echeverrías wird in den argentinischen Literaturgeschichten als geradezu typische Lebensgeschichte seiner Generation beschrieben: erste literarische Versuche - manche geglückter als andere -, Gründungsmitglied der Asociación de Mayo, Verfolgung durch die Geheimpolizei Rosas’ - die mazorca - und schließlich das Exil in Montevideo, wo weitere Texte gegen den Diktator entstehen. Andere Vertreter der Generation - alle zwischen 1805 und 1820 geboren - sind José Mármol, Bartolomé Mitre, Juan Alberdi und nicht zuletzt Domingo Faustino Sarmiento. 16 Diese Generation erhält in Ricardo Rojas’ Anfang des 20. Jahrhunderts erschienener Literaturgeschichte einen Namen, Los proscriptos (die des Landes Verwiesenen), der zugleich der Untertitel des dritten von vier Bänden ist. Ein interessantes Detail, tragen doch die übrigen drei Bände Titel, die entweder auf die historische Epoche verweisen, wie beispielsweise Band zwei mit dem Untertitel Los coloniales, oder auf die literarästhetische Strömung, wie Band eins mit dem Untertitel Los gauchescos. Der von Rojas gewählte Untertitel unterstreicht also die Bedeutung, die in der argentinischen Literaturgeschichtsschreibung der zunächst einmal biographischen Tatsache ‚auch im Exil gewesen zu sein‘ zugeschrieben wird, wenn von der Romantik die Rede ist. Es ist das vereinende Band der dann doch, zumindest was die Zeit nach ihrer Rückkehr nach Argentinien betrifft, recht unterschiedlichen Lebenswege. Doch auch die Darstellung der Exilsituation der einzelnen Schriftsteller weist markante Unterschiede auf, die mit der späteren Rolle des Exilierten in der argentinischen Geschichte zusammenhängen, so dass zumindest zwei Arten von Exil in den argentinischen Literaturgeschichten beschrieben werden. Das herausragende Beispiel für das ‚romantische Exil‘ ist dabei Esteban Echeverría, der darüber hinaus zum Wegbereiter einer neuen Entwicklung gemacht wird: „En la evolución del pensamiento argentino, Esteban Echeverría 14 Martínez: Literatura argentina [Anm. 7], S. 34. 15 Ebd., S. 35. 16 Mitre und Sarmiento waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts argentinische Staatspräsidenten, Alberdi ist der Wegbereiter der argentinischen Verfassung. Anhand dieser Biographien wird deutlich, wie eng in der Generación del 37 Politik und Literatur miteinander verflochten waren. <?page no="251"?> Die Funktion des Exils in der argentinischen Literaturgeschichtsschreibung 249 señala el comienzo de una nueva jornada.“ 17 Und weiter macht Rojas in seiner Historia de la literatura argentina deutlich, welcher Wechsel durch Esteban Echeverría eingeläutet wird: Cualquiera que sea el juicio definitivo sobre sus teorías y sus poemas, Echeverría se nos aparece como una figura prócer a partir de 1837, y tanto por su revisión del pasado como por su anticipación del porvenir, podemos asegurar que con él asume carácter y nombre el ciclo de ideas que siguió a los coloniales, o sea el ciclo de los proscriptos que aquí estudiamos. 18 Echeverría erscheint als Schnittstelle zwischen Kolonialzeit und einer vorweggenommenen Zukunft, zudem bezeichnet ihn Rojas als „figura prócer“ und spielt damit sicher nicht zufällig auf die in Lateinamerika bis heute gängige Bezeichnung für die Anführer der südamerikanischen Befreiungsarmeen an. Mit Echeverría beginne, so Rojas, der Zyklus der proscriptos. Echeverrías Rückkehr nach Buenos Aires fällt, wie gesagt, in jene Zwischenzeit zwischen Unabhängigkeit und Rosas-Diktatur, in der sich bereits - wie Rojas es beschreibt - „la ola negra de la demagogia“ 19 ankündigt. Rojas malt ausführlich aus, wie sehr sich die Stadt am Río de la Plata in Echeverrías Abwesenheit zum Negativen verändert hat; eine Veränderung, die - so zumindest Rojas - Echeverría bei seiner Rückkehr bemerkt und die in seinen ersten Texten Ausdruck findet. Unschwer ist zu erkennen, denn der Literarhistoriker verbirgt es nicht, dass die Beschreibung von Echeverrías Lebensweg auf das Exil hin ausgerichtet ist. Die Heimkehr wird nur von kurzer Dauer sein. Doch zunächst - und kein Literarhistoriker vergisst dies zu erwähnen - liegen die produktivsten Jahre vor Echeverría, es sind die Jahre von 1830-1840, in denen Texte wie La cautiva oder der Gedichtband Los consuelos entstehen, und schließlich gründet er mit anderen zusammen die Asociación de Mayo 20 . Ziel der Asociación war es, so Rojas: „[...] trabajar por la regeneración de la patria, la caída de la dictadura y la organización constitucional de la república“. 21 Die offene Ablehnung von Juan Manuel de Rosas durch die Mitglieder der verschiedenen Vereinigungen, die auf Initiative von Echeverría gegründet wurden, führte schließlich zum Exil von Alberdi, Mitre, Sarmiento u.a. Esteban Echeverría verlässt zunächst nur Buenos Aires und zieht sich auf das Landgut seines Bruders zurück, 1840 jedoch sieht er sich gezwungen, nach Uruguay zu emigrieren. 17 Rojas: Literatura [Anm. 1], S. 134. 18 Ebd., S. 134. 19 Ebd., S. 140. 20 Das genaue Gründungsdatum der Asociación ist schwer zu bestimmen. Nimmt man die Publikation von Echeverrías Dogma socialista de la Asociación de Mayo als Anhaltspunkt, so wäre es 1846, allerdings muss man festhalten, dass die Asociación de Mayo aus der Asociación de la Joven Generación Argentina hervorgeht, die bereits 1838 gegründet wurde. 21 Rojas: Literatura [Anm. 1], S. 144. <?page no="252"?> 250 Katja Carrillo Zeiter Bereits der Name Asociación de Mayo macht die beabsichtigte Beziehung deutlich, die auf eine angenommene Kontinuität verweist. Die Gründungsmitglieder der Asociación stellen derart eine Beziehung zur Revolución de Mayo her, also zu jener Bewegung der argentinischen Unabhängigkeit, die in der Folge des 22. Mai 1810 - Tag der Einberufung des ‚cabildo abierto‘ - für die Loslösung von Spanien und die Gründung einer unabhängigen, freien und demokratischen Nation kämpfte. Es ist also ein sprechender Name, den sich Echeverría und seine Freunde ausgesucht haben, denn sie verstehen sich in Zeiten der Diktatur als die Bewahrer jener Ideale. Und auch in der argentinischen Literaturgeschichtsschreibung werden sie als die einzigen Vertreter dieser Ideale während der ‚dunklen Epoche‘ der Rosas-Diktatur beschrieben. Eine solche Selbstwahrnehmung von Seiten der Intellektuellen wie Esteban Echeverría musste daher fast zwangsläufig bedeuten, dass das Exil als „[...] inutilizarse para la patria“ 22 wahrgenommen wurde. Dennoch zwingen die politischen Umstände ihn und andere, das Land zu verlassen, und die Literaturgeschichten verlassen quasi mit ihnen Buenos Aires, was zur Folge hat, dass von diesem Zeitpunkt an die in den Literaturgeschichten beschriebene argentinische Literatur eine Literatur ist, die - so scheint es zumindest - ausschließlich jenseits der territorialen Grenzen entsteht. In der Darstellung von Echeverrías Leben in Montevideo, wohin er über einen Umweg über Colonia - der Stadt am anderen Ufer des Río de la Plata - gelangt, überwiegt das Fremdheitsgefühl, dass auch seine Texte aus dieser Zeit charakterisiert, wie im folgenden Gedicht, das er für eine Dame aus Buenos Aires schrieb: Huérfanos de la patria, proscriptos caminamos, / Sin saber si mañana la luz veremos de hoy; / Si hallaremos almohada do reclinar la frente, / O si del Plata oiremos el májico rumor. / ¡Felices si encontramos en la penosa marcha / Quien nos haga una ofrenda de amistad ó de amor! / Quien cambie con nosotros simpática mirada, / O nos dé al despedirnos un generoso adiós! 23 Darüber hinaus verweisen die argentinischen Literarhistoriker auf seinen fortgesetzten intellektuellen Kampf gegen das Rosas-Regime. Das Besondere an Echeverrías Lebensweg - verglichen mit dem der anderen aus seiner Generation - ist, dass er niemals nach Buenos Aires zurückkehren wird, sondern 1851, noch vor Ende der Rosas-Diktatur, in Montevideo stirbt: „Extinguíase así, en la pobreza y en la emigración, el iniciador del romanticismo 22 Ebd., S. 145. 23 Esteban Echeverría: En el album de la Sra. D a ... al regresar á Buenos Aires, su patria. In: Ders.: Obras completas, Bd. 3. Buenos Aires: Imprenta y librería de Mayo 1871, S. 241. Orthographie und Akzentsetzung wie im Original. <?page no="253"?> Die Funktion des Exils in der argentinischen Literaturgeschichtsschreibung 251 literario y del liberalismo democrático. [...] Rosas seguía en el poder; el pueblo argentino, en su envilecimiento.“ 24 Echeverrías Tod bedeutet demnach keine Wende in der politischen Situation Argentiniens, und der durch ihn und andere intendierte Aufbruch trägt (noch) keine Früchte. Seine Biographie erlaubt es den Literarhistorikern folglich auch nicht, eine Kontinuität zwischen der Unabhängigkeitsepoche und der Zeit nach Rosas zu konstruieren, vielmehr vollzieht sich in seinem Ende die Tragik eines romantischen Helden, der für eine vergebliche Sache kämpft. 5 Das politische Exil Ganz anders jedoch liegt der Fall bei Autoren wie Domingo Faustino Sarmiento, Bartolomé Mitre oder Juan Alberdi, den anderen ‚Großen‘ des argentinischen 19. Jahrhunderts. Der auffälligste Unterschied zur Biographie Echeverrías ist ihre Rückkehr nach Buenos Aires, nachdem Rosas 1852 besiegt ist und nun seinerseits das Land verlassen muss. Bei Mitre und Sarmiento kommt hinzu, dass beide in den 1860er Jahren Präsidenten von Argentinien waren und wesentlich zur Herausbildung des Staates beigetragen und das argentinische Selbstverständnis geprägt haben. Die Debatte um die so genannte argentinidad beginnt, nachdem sich Argentinien als Nationalstaat konsolidiert hat, und findet sich auch in der Literaturgeschichtsschreibung. Vor allem Ricardo Rojas in seiner Historia de la literatura argentina konzentriert sich darauf, den Weg der argentinidad in der Entwicklung der argentinischen Geschichte nachzuzeichnen. Jede Phase der argentinischen Geschichte und Literaturgeschichte trägt in Rojas’ Konzept zur Herausbildung der argentinidad bei, weshalb gerade die Frage interessant ist, wie es ihm gelingt, die Epoche des dunklen Despotismus eines Juan Manuel de Rosas als Teil der argentinidad zu begreifen. Klar ist, dass es dabei nicht darum gehen kann, den Despotismus an sich als Element der argentinidad zu verstehen, da dies dem Bild eines modernen und zivilisierten Staates widersprechen würde. In der Historia de la literatura argentina beginnt die Auseinandersetzung mit der Zeit von 1830-1860 mit einer detaillierten Darstellung der Figur Juan Manuel de Rosas, wobei hier der von Sarmiento geprägte Antagonismus von civilización und barbarie dezidiert zurückgewiesen wird, um dann am Ende doch genau wieder hergestellt zu werden, auch wenn nicht mehr von Zivilisation/ Kultur und Barbarei die Rede ist. So findet sich im Unterschied zu anderen argentinischen Literarhistorikern in Ricardo Rojas’ Geschichte der argentinischen Literatur ein Kapitel, das aus- 24 Rojas: Literatura [Anm. 1], S. 148. <?page no="254"?> 252 Katja Carrillo Zeiter schließlich der Person Juan Manuel de Rosas gewidmet ist. Ricardo Rojas erscheint eine solche Herangehensweise notwendig, um die in der Zeit der Rosas- Diktatur entstandenen Texte richtig einordnen zu können, da für ihn außer Frage steht, dass die entscheidende Figur der argentinischen Geschichte und Literaturgeschichte in den Jahren von 1830-1860 Juan Manuel de Rosas ist: „En la literatura argentina que aquí estudiamos, Rosas asume una significación extraordinaria, tan grande como la que inviste en nuestra historia política.“ 25 Diese Bedeutung konstatierten bereits andere Literarhistoriker vor ihm, allerdings geschah dies eher implizit, indem sie sich in erster Linie auf jene Texte aus der Zeit konzentrierten, die die Rosas-Diktatur auf die eine oder andere Weise zum Thema haben, wie beispielsweise Amalia von José Mármol oder eben Facundo o civilización y barbarie von Sarmiento. Erst bei Ricardo Rojas finden wir die kausale Kette, die die Romantik, Rosas und das Exil miteinander verbindet. Noch deutlicher wird der Literarhistoriker in folgendem Satz: En la bibliografía argentina, él [gemeint ist Rosas] explica por qué se escribieron en tierra extranjera los libros de tantos argentinos ilustres: El peregrino, de Mármol; El ángel caído, de Echeverría; el Facundo, de Sarmiento [...]. 26 Fast ist man geneigt im Umkehrschluss zu sagen, dass es ohne Juan Manuel de Rosas und das Exil keine solch herausragenden Texte gegeben hätte. Allerdings macht hier Ricardo Rojas auf einen bemerkenswerten Umstand aufmerksam, dass nämlich die argentinische Romantik vor allem bzw. fast ausschließlich im Ausland stattfindet. Die von ihm genannten Texte sind entweder in Montevideo oder in Santiago de Chile geschrieben worden. Auf Echeverría und sein - wie es heißt - tragisches Ende bin ich bereits eingegangen, doch für Rojas ist Sarmiento der ‚wahre‘ Exilierte: En este volumen de Los proscriptos, ya no es posible prescindir de [Sarmiento], porque él es ‚el proscripto‘ por excelencia: pues en tierra extranjera escribió sus mejores libros y fué durante la emigración el más locuaz adversario de la tiranía. 27 Konzentrierte sich die literarhistorische Darstellung von Esteban Echeverría auf die Tragik seines Exils, die unter anderem durch die Betonung seiner Einsamkeit und seines Fremdheitsgefühls evoziert wurde, so fällt auf, dass diese Elemente in der Beschreibung von Sarmientos Biographie völlig fehlen. Im Gegenteil, im Kapitel La escuela cuyana en Chile konstruiert Rojas ein festes Band der Verbundenheit zwischen Chile und Argentinien, das aus der gemeinsamen Geschichte resultiere: 25 Ebd., S. 257. 26 Ebd., S. 258. 27 Ebd., S. 280. <?page no="255"?> Die Funktion des Exils in der argentinischen Literaturgeschichtsschreibung 253 Separadas [las provincias andinas argentinas] del Pacífico por el muro de la cordillera y del Atlántico por la travesía de la pampa, aquellos pueblos habían conservado muy pura la tradición española, y con ella el recuerdo de sus orígenes chilenos. 28 Für Sarmiento beispielsweise bedeute daher das chilenische Exil keinen Bruch mit seinen bisherigen Tätigkeiten. Und in der Tat findet Sarmiento in Chile ein neues Betätigungsfeld, er arbeitet für verschiedene Zeitungen und gründet auch selbst eine, wird von der chilenischen Regierung mit Bildungsfragen betraut und verfasst eben auch Facundo o civilización y barbarie, das vielen als eine mehr oder weniger versteckte Analyse von Juan Manuel de Rosas galt. In Rojas’ Historia de la literatura argentina wird die biographische Gemeinsamkeit der in Chile Exilierten wie folgt zusammengefasst: „[…] Sarmiento, Alberdi, Gutiérrez, López y Mitre, entonces jóvenes periodistas ‚chilenos‘, y después maestros de civilización en toda América“. 29 Vergleicht man die Beschreibung von Echeverrías Leben mit der von Sarmientos, dann fällt sofort auf, dass letzterer nicht zum romantischen Helden stilisiert wird, vielmehr werden sein ununterbrochener Kampf gegen das Rosas-Regime und seine Tätigkeiten für die chilenische Regierung und für die chilenische Kultur betont, so beispielsweise seine Nähe zum chilenischen Präsidenten Manuel Montt: Fué Montt quien le facilitó el viaje a Europa y los Estados Unidos, en misión oficial, para estudiar sistemas de educación. […] A ese viaje y a Montt debió el ser llevado, posteriormente, a la dirección de la Escuela normal. 30 Darüber hinaus erlaubt der Umstand, dass Sarmiento nach dem Fall Rosas’ nach Buenos Aires zurückkehrt, anhand seiner Figur eine Art von unterbrochener Kontinuität zu konstruieren. Wobei die Regierungszeit Rosas’ die Unterbrechung erklärt, aber das Exil in Chile eine Vorbereitung auf seine spätere Präsidentschaft sein wird. Ricardo Rojas fasst die Verbundenheit Sarmientos mit Argentinien in folgendem Satz zusammen: „Ponga el lector los ojos en las páginas de su Bibliografía, y verá que los 52 volúmenes se reducen a un solo tema: Él y la Patria, ligados por un ideal de cultura.“ 31 6 Zusammenfassung Die argentinische Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts steht ganz im Dienste des nationbuilding und versteht die Unabhängigkeit als den Beginn einer Entwicklung hin zur Zivilisation. Das Mitwirken an dem Aufbau dieser 28 Ebd., S. 264. 29 Ebd., S. 267. 30 Ebd., S. 270. 31 Ebd., S. 305. Hervorhebung im Original. <?page no="256"?> 254 Katja Carrillo Zeiter Zivilisation wird auch in den besprochenen Texten und Autoren gesucht - und meistens auch gefunden. Am konzeptuellen Anfang stehen also die Ereignisse um die Unabhängigkeit Argentiniens und die darin entworfenen Ideale. Und es sind genau diese Ideale, die mit der Machtergreifung Rosas in Gefahr sind, denn er symbolisiert in der Rückschau all jene Elemente, die einen Beitritt Argentiniens in den Kreis der zivilisierten Nationen unmöglich machen. Um den teleologischen Gedanken nicht aufgeben zu müssen, konzentrieren sich die argentinischen Literarhistoriker auf die Emigranten. Sie sind es, die mit der Gründung der Asociación de Mayo auf die Beziehung ihrer Generation zu den Idealen der Unabhängigkeit verweisen und die diese Ideale im Ausland am Leben erhalten, so jedenfalls das literarhistorische Bild. Ihre Rückkehr, also das Ende ihres Exils, wird in der argentinischen Literaturgeschichtsschreibung zu jenem Moment, der die Wiederaufnahme und Weiterführung des ideal de Mayo bedeutet, so dass erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts der Aufbau der argentinischen Nation weiter betrieben werden kann. Dass aber das Ende der Rosas-Diktatur keineswegs zum Ende der Rivalitäten zwischen Unitariern und Föderalisten führte, und dass dabei einzelne Vertreter der Generation des Exils auf verschiedenen Seiten standen, wird zwar erwähnt, aber nicht als ein Versagen der Ideale der Unabhängigkeit gedeutet, wie dies noch bei Rosas’ Sieg der Fall war. Für die Konstruktion der sich gleichsam stetig entwickelnden Geschichte hin zur argentinischen Nation ist das Exil der Romantiker geradezu ein Glücksfall, erlaubt es doch, Rosas als eine Ausnahme von der Regel darzustellen und die Akteure der eigentlichen Nationengründung wie Sarmiento sich frei entfalten zu lassen, allerdings außerhalb Argentiniens. Es verwundert daher wenig, dass lediglich in Ricardo Rojas Literaturgeschichte zumindest ein Autor erwähnt wird, der während der Rosas-Diktatur in Buenos Aires blieb. Allerdings handelt es sich dabei um einen Europäer, der zudem Juan Manuel de Rosas aktiv unterstützte. <?page no="257"?> Vera Lins Alles ist Exil: Das romantische Exilgedicht in der brasilianischen Literatur und seine Parodien Der Dichter der brasilianischen Romantik, Antonio Gonçalves Dias, verfasste im Juli 1843 das erste brasilianische Exillied. Es wurde 1846 im Band „Erste Gesänge“ („Primeiros Cantos“) veröffentlicht, als Gonçalves Dias in Coimbra studierte. Er war also weit weg von Brasilien, allerdings auf eigenen Wunsch. Der allererste brasilianische Dichter im Exil war schon der arkadische Dichter Tomás Antonio Gonzaga gewesen. Er hatte 1791, während des ersten, von der französischen Revolution angeregten Versuches, das Land zu befreien, ins Exil gehen müssen. Er war nach Afrika, genauer: nach Moçambique, verbannt worden, wo er jedoch kein Lied des Exils schrieb, sondern heiratete, reich wurde und unter dem Titel „A Conceiç-o“ ein episches Gedicht über einen Schiffbruch verfasste. Das „Lied der Verbannung“ aber, das jeder Brasilianer auswendig kennt, komponierte der romantische Student Gonçalves Dias, der insgesamt sechs Jahre in Portugal (1838-1845) verbrachte: Minha terra tem palmeiras, Onde canta o Sabiá; As aves que aqui gorjeiam, N-o gorjeiam como lá. Nosso céu tem mais estrelas, Nossas várzeas têm mais flores, Nossos bosques têm mais vida, Nossa vida mais amores. Em cismar sozinho, à noite, Mais prazer encontro eu lá; Minha terra tem palmeiras, Onde canta o Sabiá. Minha terra tem primores, Que tais n-o encontro eu cá Em cismar - sozinho, à noite - Mais prazer encontro eu lá; Minha terra tem palmeiras, Onde canta o Sabiá. N-o permita Deus que eu morra, Sem que eu volte para lá; Sem que desfrute os primores <?page no="258"?> 256 Vera Lins Que n-o encontro por cá; Sem qu’inda aviste as palmeiras, Onde canta o Sabiá. Dieses Lied wurde von Tom Jobim vertont und in der Moderne der 1920er Jahre von Oswald de Andrade und Murilo Mendes und anderen Zeitgenossen parodiert. Fast alle befanden sich auf Reisen, waren aber nicht im Exil im eigentlichen Sinn des Wortes. Das Exil gewinnt hier eine metaphorische Bedeutung, ist Nostalgie, es spricht mehr von der Isolierung des Dichters in der Welt, als von seiner Verbannung in einem fremden Land. In Wirklichkeit ist dieses fremde Land das Land, in dem der Dichter in Einsamkeit lebt; es kann sein Heimatland sein, wie in einigen Parodien der siebziger Jahre. Die Geschichte von Gonçalves Dias endet tragisch. Er stirbt, als er 1864 nach einem weiteren Aufenthalt im Ausland krank nach Brasilien zurückkehren will, bei einem Schiffsunglück. Schon wenige Jahre nach der Verfassung der „Canç-o do Exílio“ („Lied der Verbannung“) veröffentlichte ein romantischer Dichter der zweiten Generation, Casimiro de Abreu, der ebenfalls in Portugal studierte - er lebte von 1839 bis 1860 in Lissabon - in seinem Buch „Frühling“ („Primaveras“) das Gedicht „Mein Land“. Dieses schließt erkennbar in Form eines Dialogs an das Lied der Verbannung an. Mein geliebtes Vaterland Mit dem Umriss der Palmen In fröhlichen Stunden hoffe ich Eines Tages zurückzukehren. Vorher, 1855 und 1857, hatte er zwei ausladende, gefühlvolle „Canções de Exílio“ geschrieben. Das Gedicht „Canç-o de exílio“ hat ein Motto von Goethe, die berühmten Zeilen: „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen / Im Dunkeln die Gold- Orangen glühen? Kennst du es wohl? - Dahin, dahin! / Möcht ich… ziehn.“ Der Dichter sprach Deutsch und, abgesehen von den sechs Jahren in Portugal, lebte Gonçalves Dias weitere vier Jahre in anderen Ländern Europas im Auftrag der brasilianischen Regierung (1854-1858). Er übersetzte unter anderen Dichtern Heine und Schiller und veröffentlichte seine Gedichte 1857 in Leipzig, bei Brockhaus. Das Buch Cantos erlebte drei Auflagen, mit denen sich auch die deutsche Kritik befasste. Manuel Bandeira erwähnt einen Artikel von Booch- Arkossy, im Magazin für die Literatur des Auslandes vom 22. April 1858, in dem drei der Gedichte übersetzt waren: „Canç-o do Exílio“, „Seus olhos“, und „O canto do guerreiro“. Der Sabiá ist ein melodisch singender Vogel des brasilianischen Urwalds, wie der Übersetzer erklärt. Hier der deutsche Text von 1858: Lied aus der Verbannung Mein Land nur hat Palmenhaine, Wo hold singt der Sabiá <?page no="259"?> Das romantische Exilgedicht in der brasilianischen Literatur und seine Parodien 257 Sänger, die mich hier umflöten, Sind so lieblich nicht als da Unser Himmel zeigt mehr Sterne, Unsre Fluren schöner blühen; Unser Wald hat reich’res Leben, Heißer wir in Liebe glühen Einsam sinnend nachts und grübelnd Find’ich mehr Vergnügen da; Mein Land nur hat Palmenhaine Wo hold singt der Sabiá Mein Land bietet Schönheitsfülle, Wie ich hier sie nirgends sah; Einsam sinnend nachts und grübelnd Find’ ich mehr Vergnügen da Mein Land nur hat Palmenhaine Wo hold singt der Sabiá. Gott der Huld, lass mich nicht sterben Eh mein Land ich wiedersah Und sein Zauber mich belebte Wie noch nie mir hier geschah; Lass mich schau’n die Palmenhaine, Wo hold singt der Sabiá. Überliefert ist auch eine spätere Übersetzung, deren Verfasser mir leider nicht bekannt ist: Lied der Verbannung Palmen hat mein Heimatland Hell singt dort der Sabiá All die Vöglein, die hier zwitschern, Zwitschern niemals so wie da Unser Himmel hat mehr Sterne Unsere Au mehr Blütentriebe, Unsere Wälder viel mehr Leben, Unser Leben hat mehr Liebe. Wenn ich nachts allein so denke, Find ich viel mehr Freude da, Meine Heimat hat die Palmen Drinnen singt der Sabiá Meine Heimat hat viel Schönes, Was ich hier noch niemals sah Wenn ich nachts allein so denke, Find ich viel mehr Freude da <?page no="260"?> 258 Vera Lins Meine Heimat hat die Palmen Drinnen singt der Sabiá Lass mich, Herrgott, nur nicht sterben Eh ich einmal wieder da Eh ich nicht die Schönheit trinke Die ich hier noch niemals sah, Eh ich nicht die Palmen schaue Drinnen singt der Sabiá Das Loblied auf das Nationale war in der brasilianischen Romantik gang und gäbe, fällt sie doch mit der Befreiung des Landes von Portugal zusammen; daher kommt das paradiesische Bild des Landes, in dem sich der Dichter nicht aufhält. Die üppige Natur ist ein Motiv dieser nationalistischen Romantik, das von der Moderne wieder aufgegriffen wird. Romantik heißt in Brasilien Nationalismus, und bedeutet, verkürzt gesagt, den Indianer und seine natürliche Umwelt besingen. Aber nicht allein der Nationalismus verklärt das Land, das man verlassen hat und das somit zu einem verlorenen Paradies wird, auch die Reiseberichte von Europäern Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, wie zum Beispiel von Spitz und Martius, betonen die Vorstellung eines tropischen Paradieses. Diese üppige Natur ist eher Trugbild als Landschaft. Doch die Verschiebung brachte die Melancholie mit sich, die in der romantischen Tradition des verbannten Dichters, der sich gegen die Welt stellt, zum Gedicht führte. In dieser Tradition hat Gonçalves Dias ein weiteres Gedicht verfasst, „An einen verbannten Dichter“ („A um poeta exilado“), in dem er einem anderen Dichter vom gemeinsamen Los des Exils erzählt. Er schreibt: „Armer Orpheus, unglücklich geboren in diesen Zeiten, / wandernd mit der Leier / hinter einem von der Welt geträumten Glück - einem Glück, das dir die Menschen / nicht schenken können.“ Und das Gedicht „Gebrochene Leier“ („Lira quebrada“) spricht von einem Dichter, der in seinem Gram nicht mehr singen kann. Einige Gedichte und Prosagedichte von Baudelaire befassen sich mit dieser Exilsituation des Dichters, wie er allein steht in der Masse, dem Weltlauf widerstrebend, was ja ein Kennzeichen des Dichterbilds der Romantik und der Moderne darstellt. Vielleicht wenden sich diverse brasilianische Dichter deshalb diesem Thema des Exils zu und parodieren das Lied der Verbannung. Sie haben fast alle nur die Erfahrung der Reise und der Fremde gemacht, nicht aber die Erfahrung politischer Verbannung. Die Dichter der Moderne spielen ironisch mit dem romantischen Nationalismus. Oswald de Andrade schreibt in „Lóide brasileiro“, also an Bord eines Schiffes, einen Gesang der Rückkehr, der jetzt ein Lobgesang auf den mit der Verstädterung einhergehenden Fortschritt ist. Der Stadt S-o Paulo gilt jetzt das Heimweh, in einer fortschrittsgläubigen Euphorie, die wenig Kritik an den Folgen der Industrialisierung erlaubt: <?page no="261"?> Das romantische Exilgedicht in der brasilianischen Literatur und seine Parodien 259 Canto de regresso à pátria Minha terra tem palmares Onde gorgeia o mar Os passarinhos daqui N-o gorgeiam como os de lá Minha terra tem mais rosas E quase que mais amores Minha terra tem mais ouro Minha terra tem mais terra Ouro terra amor e rosas Eu quero tudo de lá N-o permita Deus que eu morra Sem que volte para lá N-o permita Deus que eu morra Sem que volte pra S-o Paulo Sem que veja a Rua 15 E o progresso de S-o Paulo Gesang der Heimkehr Palmenhaine hat mein Heimatland Wo das Meer zwitschert Die Vöglein hier Zwitschern nicht wie da Mein Land hat mehr Rosen Und mehr Liebe vielleicht Mein Land hat mehr Gold Mein Land hat mehr Land Gold Land Liebe und Rosen Alles von da will ich ja Lass mich Hergott nicht sterben Eh ich wieder da Lass mich Hergott nicht sterben Eh ich nach S-o Paulo heimkehr’ Eh ich die Strasse 15 wiedersehe Und den Fortschritt von S-o Paulo 1925 weist Murilo Mendes, eine dissonante Stimme, mit Ironie und surrealistischen Bildern auf das Schwierige hin, das sich mit den noch vorhandenen Zügen des Paradieses vermischt. Minha terra tem macieiras da Califórnia Onde cantam gaturamos de Veneza. Os poetas da minha terra <?page no="262"?> 260 Vera Lins S-o pretos que vivem em torres de ametista Os sargentos do exercito s-o monistas, cubistas, Os filósofos s-o polacos vendendo a prestações. A gente n-o pode dormir Com os oradores e os pernilongos. Os sururus em família têm por testemunha a Gioconda. Eu morro sufocado em terra estrangeira. Nossas flores s-o mais bonitas Nossas frutas mais gostosas Mas custam cem mil réis a dúzia. Ai quem me dera chupar uma carambola de verdade E ouvir um sabiá com certid-o de idade. Mein Heimatland hat Apfelbäume aus Kalifornien Wo die Gaturamos aus Venedig singen Die Dichter meines Heimatlandes Sind Schwarze in Amethystentürmen Die Feldwebel des Heeres sind Monisten, Kubisten, Die Philosophen sind Polen, die in Raten verkaufen Man kann nicht schlafen Wegen der Prediger und der Mücken Zeugen des Familienstreits ist die Gioconda Ich ersticke in einem fremden Land Unsere Blumen sind schöner Unsere Früchte schmecken besser Kosten aber teures Geld das Dutzend Ach könnte ich nur eine wirkliche Sternfrucht schmecken Und einen Sabiá mit Altersurkunde hören. Dichtung kann als Ort des Exils wahrgenommen werden, da sie ja gegen den Strom schwimmt. Das ist die Voraussetzung jeder Dichtung, wie sie schon im 12. Jahrhundert Arnaut Daniel bestimmt hat, als er von sich sagte, er schwimme gegen den Strom („nadi contra suberna“). Die Sprache des Gedichtes wäre somit der Ort des Exils in einer prosaischen Welt. Doch manchmal kann nicht einmal mehr die Sprache Zufluchtsort sein. Wie es ein Zeitgenosse des Modernismus, Dante Milano, in seinen reflexiven Versen ausdrückt, ist das Exil die condition humaine schlechthin: „Alles ist Exil“. Im Gedicht „Princípio da noite“, „Anfang der Nacht“ heißt es: Eu ia em mim pensando, em mim pensando A existência deserta. A rua escura. Eu sentia a tristeza dos felizes Vendo a estrela da tarde rir sozinha… <?page no="263"?> Das romantische Exilgedicht in der brasilianischen Literatur und seine Parodien 261 Em que altura ela estava! O resto era imenso. Tudo é exílio. Ich ging in Gedanken verloren Die Leere des Daseins. Die dunkle Straße. Ich fühlte die Traurigkeit der Glücklichen Als ich den Abendstern allein lachen sah Wie hoch er war! Der Rest war unermesslich. Alles ist Exil. Dies entspricht der Lage eines Zeitgenossen, Edward Said. Er bezieht sich auf ein Fragment aus Adornos Minima Moralia, wo es heißt, dass die Literatur „Wohnen“, ein bewohnbarer Ort sei. 1 Said geht einen Schritt weiter, indem er schreibt, dass man selbst dort ein Mindestmaß an vorübergehender Befriedigung findet, die allerdings sofort vom Zweifel, vom Bedürfnis wieder und neu zu schreiben, erfasst wird, was den Text unbewohnbar macht. Das ist eine radikale Bedeutung von Exil. Das Exil wird zunehmend zu einem Kennzeichen des modernen Menschen. Der Romantiker und der Zeitgenosse befinden sich beide in derselben Lage, in der die Bindungen der Dichter zur bestehenden Welt abreißen, was sie kritikfähig macht, ihnen die Möglichkeit gibt, Widerstand und Utopie zu formulieren. Nach Rancière (Malaise dans l’Esthétique, 2004) ist Kunst immer ein Versprechen, sie enthält eine utopische Möglichkeit in ihrer eigenen Gestaltung des Empfindens. Das romantische Lied der Verbannung wurde weiter parodiert. So 1973 von José Paulo Paes in „Lied der Verbannung leicht gemacht“, einem konkreten Gedicht, das mit äußerster formaler Verdichtung eine Kritik am tropischen Patriarchat skizziert. Durch die Wiederholung des Vokals a, die das romantische „Lied der Verbannung“ kennzeichnet, wird der Sabiá in einen patriarchalischen Zusammenhang gebracht: Papa, Manna, die von Gott in der Wüste gespendete Speise, und sinhá, die Frau des Großgrundbesitzers. Es handelt sich dabei um Ausdrücke, die allesamt das beschützte und bequeme Leben der Agraroligarchie anklingen lassen: 1 Vgl. Theodor W. Adorno: Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 20 1991, S. 108 („Hinter dem Spiegel“). <?page no="264"?> 262 Vera Lins lá? Da? ah! Ah! sabiá… Sabiá… papá… Papa… maná… Manna… sofá… Sofa sinhá… Sinhá cá? Hier? bah! Bah! Mit weniger Humor und in einer eher metaphysischen Dimension wird das Lied der Verbannung 1992 von Paes wieder aufgegriffen: Um dia segui viagem sem olhar sobre o meu ombro. N-o vi terras de passagem n-o vi glórias nem escombros. Guardei no fundo da mala um raminho de alecrim. Apaguei a luz da sala que ainda brilhava por mim. Fechei a porta da rua a chave joguei ao mar. Andei tanto nesta rua que já n-o sei mais voltar. Eines Tages reiste ich weiter Ohne nach hinten zu schauen Ich sah unterwegs kein Land Sah weder Pracht noch Trümmer Unten in meinem Koffer Hatte ich einen Zweig Rosmarin Das Licht des Wohnraums machte ich aus Das strahlte ja noch für mich Ich schloss die Haustür Den Schlüssel warf ich ins Meer <?page no="265"?> Das romantische Exilgedicht in der brasilianischen Literatur und seine Parodien 263 So oft ging ich diese Straße ab Dass ich den Rückweg nicht mehr kenne Es gibt allerdings unter lateinamerikanischen Schriffstellern eine zeitgenössische Tradition des Exils; hier wird das verlassene Land nicht immer als Paradies betrachtet. In den siebziger Jahren parodiert Torquato Neto das Lied von Gonçalves Dias in einem Gedicht, dessen Thema ebenfalls das Exil ist, in dem aber das Land eher als Hölle erscheint, weit entfernt von der romantischen Idealisierung. In „Marginalia II“ werden die Widersprüche bloßgelegt, wobei der Titel „Marginalia“ auf Portugiesisch mehrere Assoziationen hervorruft, nämlich außer der Marginalie, auch die Tropicalia (eine damalige kulturelle Oppositionsbewegung): Eu, brasileiro, confesso Minha culpa, meu pecado Meu sonho desesperado Meu bem guardado segredo Minha afliç-o Eu, brasileiro, confesso Meu bem guardado segredo Minha culpa, meu degredo P-o seco de cada dia Tropical melancolia Negra solid-o Aqui é o fim do mundo Ou lá Aqui o Terceiro Mundo Pede a benç-o e vai dormir Entre cascatas, palmeiras Araçás e bananeiras Ao canto do juriti Aqui meu pânico e glória Aqui meu laço e cadeia Conheço bem minha história Começa na lua cheia E termina antes do fim Minha terra tem palmeiras Onde sopra o vento forte Da fome, do medo e muito Principalmente da morte A bomba explode lá fora E agora o que vou temer? Yes, nós temos bananas Até pra dar e vender <?page no="266"?> 264 Vera Lins Ich, Brasilianer, gestehe ein: Meine Schuld, meine Sünde Meinen verzweifelten Traum Mein gut gehütetes Geheimnis Meinen Kummer Ich, Brasilianer, gestehe ein Meine Schuld, meine Verbannung Das tägliche trockene Brot Die tropische Melancholie Schwarze Einsamkeit Hier ist das Ende der Welt Hier oder da Hier bittet die Dritte Welt Um den Segen und legt sich schlafen Zwischen Sturzbächen, Palmen Araçás und Bananenstauden Während der Juritivogel singt Hier meine Panik, mein Glanz Hier meine Schlinge, meine Kette Ich kenne gut meine Geschichte Sie beginnt bei Vollmond Und endet bevor Ende ist Palmen hat mein Heimatland Und da weht der starke Wind Des Hungers, der Angst und vor allem des Todes Die Bombe explodiert draußen Und jetzt, was soll ich befürchten? Yes, wir haben Bananen Zu verschenken, zu verkaufen In Die Wurzeln Brasiliens, schreibt der Soziologe und Historiker Sergio Buarque de Holanda, die Brasilianer seien in die Tropen verbannte Europäer, da unsere Kultur aus der Alten Welt kommt, eine Behauptung, die wir auch bei Borges finden können. Diese Verbannung begleitet uns und wird hier verschärft durch die Gewalt der Militärdiktatur dieser Periode. Doch der Zeile „Hier ist das Ende der Welt“ folgt „hier oder da“, was die Frage erweitert: die moderne Welt ist die Hölle. Es gibt ein berühmtes brasilianisches Exilgedicht von Ferreira Gullar, das 1975 während der Militärdiktatur geschrieben wurde. Der Dichter befand sich tatsächlich im argentinischen Exil. Als ihn auch dort der militärische Staatsstreich einholt, spürt er die Bedrohung, die darin besteht, nirgendwohin mehr fliehen zu können. Ausgehend von einer Gefahrensituation, geht „Poema sujo“, „Schmutziges Gedicht“, auf die Kindheit in S-o Luis in Maranh-o zurück. Auch der Dichter Gonçalves Dias, der Verfasser des „Lieds der Verbannung“, ist in der Umgebung der Stadt S-o Luis geboren. Gullar schreibt aber nicht das Lob- <?page no="267"?> Das romantische Exilgedicht in der brasilianischen Literatur und seine Parodien 265 lied auf das Heimatland, er greift auf die Kindheit zurück in einem langen Gedicht, in dem vom Verfaulten, vom Kleinen, vom Körper die Rede ist. Doch das Zwiegespräch mit dem Lied der Verbannung ist entscheidend. Es zieht sich durch das ganze Gedicht und taucht explizit in einigen Versen auf, die auf Gonçalves Dias Bezug nehmen, nach dem jetzt ein Kulturzentrum der Stadt benannt wurde, sowie auf seine Indianergedichte, zum Beispiel auf „Y-Juca Pirama“, das bekannteste von ihnen. Wenn Gullar auf die Strände seiner Stadt eingeht, ruft er die Indianer ins Gedächtnis, die dort gelebt haben, und auch ihre Ausrottung und ihr Überleben. Sie kommen allein in den Schulbüchern der Kindheit, in den Indianergedichten von Gonçalves Dias vor. Curt Meyer-Clason hat „Poema sujo“ ins Deutsche übersetzt („Schmutziges Gedicht“, Suhrkamp, 1985): Mas desses índios timbiras nada resta, sen-o coisas contadas em livros e alguns poemas em que se tenta evocar a sombra dos guerreiros com seu arco ocultos entre as folhas (o que n-o impede que algum menino, tendo visto no palco da escola Y Juca Pirama saia a buscar pelos matos de Maioba ou da Jordoa - o coraç-o batendo forte - vestígios daqueles homens, mas n-o encontra mais que o rumor do vento nas árvores) Aber von diesen Timbira-Indios ist nichts geblieben, außer in Büchern erzählte Dinge und einige Gedichte in denen versucht wird den Schatten der Krieger zu beschwören mit ihrem Bogen verborgen im Blattwerk (was nicht hindert dass irgendein Junge der auf seiner Schülerbühne Y-Juca Pirama gesehen hat auszieht um in den Buschwäldern von Maioba oder von Jordoa - mit heftig pochendem Herzen - Spuren jener Männer zu suchen, aber nichts mehr findet als das Rauschen des Windes in den Bäumen) <?page no="268"?> 266 Vera Lins Otto Maria Carpeaux, der Österreicher, der zu einem der größten brasilianischen Literaturkritiker wurde, sieht das „Poema sujo“ als nationales Gedicht, da es die romantische Tradition über Brasilien zu sprechen wieder aufgreift. Das Werk endet mit einem Kontrapunkt: eine Stadt in der anderen, S-o Luis und Buenos Aires werden gleichzeitig erlebt. Edward Said schreibt, dass für den Exilierten die Lebens-, Ausdrucks- und Handlungsgewohnheiten in der neuen Umgebung unweigerlich vor dem Hintergrund der Erinnerung an diese selben Dinge in einer anderen Umgebung stehen. So sind beide Umgebungen lebendig, beide sind wirklich und werden wie im Kontrapunkt zusammengeführt. Dieses metaphorische oder wörtliche, nationalistisch gefärbte Exil wird zum Ausgangspunkt für ein ständiges Gespräch zwischen Dichtern, die während des ganzen zwanzigsten Jahrhunderts ihre Repliken auf das „Lied der Verbannung“ schreiben. Die romantische Überlieferung wird aktualisiert. In seinem Essay über „Die Wunde Heine“ schreibt Adorno, dass „die Heimatlosigkeit die aller geworden [ist]; alle sind in Wesen und Sprache so beschädigt, wie der Ausgestoßene es war. [...] es gibt keine Heimat mehr als eine Welt, in der keiner mehr ausgestoßen wäre, die der real befreiten Menschheit.“ 2 Von dieser Freiheit - Utopie und Versprechen - spricht der lange Dialog der brasilianischen Dichter mit dem romantischen Lied von Gonçalves Dias. 2 Theodor W. Adorno: „Die Wunde Heine“. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 95-100, hier S. 100. <?page no="269"?> Mechthild Albert Zur Poetik des Exils bei Angelina Muñiz Huberman Una gran parte de la literatura y del pensamiento más originales y de ruptura del siglo XX se ha forjado bajo las alas del exilio. […] Lo que en el pasado fue fenómeno aislado o minoritario (salvo algunas excepciones…), se convirtió en nuestro siglo en una constante pareja a los cambios sociales y políticos propios de la modernidad. Por lo tanto, lleva implícita la pregunta de si un hecho tan frecuente no habría de modificar las formas culturales y artísticas de quienes lo padecen. 1 Das Exil als Signatur der ästhetischen Moderne - so sieht dies Angelina Muñiz Huberman in ihrem Essayband El canto del peregrino. Hacia una poética del exilio aus dem Jahre 1999, der im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen soll. Das Werk dieser Autorin kreist um das Exil - als eigene Erfahrung, als historisches Phänomen, als conditio humana: El exilio es mi tema central. Se relaciona con toda mi obra: desde el exilio bíblico hasta el exilio de 1492 de los judíos de España, desde el mío proprio en 1939 y cualquier otra situación de exilio que siempre existe en todas las personas. (CP, 17) Angelina Muñiz Huberman, Tochter spanischer Republikaner - ihr Vater, Alfredo Muñiz, war Journalist und Literaturkritiker beim Heraldo de Madrid - wurde im Dezember 1936, knapp ein halbes Jahr nach Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs, im südfranzösischen Hyères geboren. Mit ihren Eltern emigrierte sie im März 1939 zunächst nach Kuba, drei Jahre später nach Mexiko, dem Zufluchtsort vieler Bürgerkriegsflüchtlinge. Angelina Muñiz wuchs isoliert von der mexikanischen Realität auf und besuchte eines der drei spanischen Gymnasien von Mexiko City, eine Sozialisation, die charakteristisch ist für die zweite Generation des Exils, die zwischen 1924 und 1937 geboren wurde. Als Kinder des Exils repräsentieren diese Autoren ein „exilio heredado“ oder „imaginario“ (CP, 112), eigentlich schon ein „postexilio“ (CP, 169), zumal nachdem der Tod Francos sie gewissermaßen aus dem Exil vertrieben hat. 2 Neben den starken Bezug zum Siglo de Oro, der für diese Generation charakteristisch ist, tritt bei Angelina Muñiz eine wachsende Affinität zur jüdischen Tradition, der sie von seiten ihrer Mutter verpflichtet ist, und wodurch sie auch zur jüdischen Diaspora in Lateinamerika und zu den fernen Ausläufern der Holocaust-Literatur zählt. Ersten Erfolg als Schriftstellerin hat sie - abgesehen von ihrer Lyrik - mit einer Trilogie historischer Romane 1 Angelina Muñiz Huberman: El canto del peregrino. Hacia una poética del exilio. Barcelona: Universidad Autónoma de Barcelona / UNAM 1999, S. 65; im Folgenden abgekürzt CP. 2 Vgl. José de la Colina: „digo que soy del exilio como se es de un país. Al morirse Franco, hasta del exilio me sentí exiliado“, zit. nach CP, S. 10-11. <?page no="270"?> 268 Mechthild Albert (Morada interior, 1972; Tierra adentro, 1977; La guerra del Unicornio, 1987), die in intertextueller Verflechtung mit historischen Modellen wie dem Ritterroman oder der Autobiographie der heiligen Teresa die Problematik des inneren und äußeren Exils in verschiedenen Momenten der spanischen Geschichte beleuchtet. Erst spät gelingt es ihr jedoch, das eigene Exil zu verbalisieren - besonders explizit in ihren 1987 verfassten und 1995 publizierten „Pseudomemorias“ Castillos en la tierra, Schlösser auf Erden. Ausgehend von El canto del peregrino sollen im folgenden die von Angelina Muñiz Huberman entworfenen Grundzüge einer Poetik des Exils referiert und zu den literaturwissenschaftlichen Überlegungen in Beziehung gesetzt werden, die Bettina Englmann zur deutschen Exilliteratur anstellt. Abschließend sollen Muñiz Hubermans „Pesudomemoiren“ als konkretes Beispiel dieser Poetik des Exils Berücksichtigung finden. Der Band El canto del peregrino enthält Aufsätze zu Emigranten wie María Zambrano oder Walter Benjamin sowie grundsätzliche Überlegungen zum Zusammenhang von Exil, Literatur und Kunst. In dem Beitrag „El exilio como estética de la modernidad“ erhebt die Autorin das Exil zur Grundverfasstheit der modernen Ästhetik überhaupt - der Literatur wie auch der Malerei oder der Musik - hier nennt sie Picasso, Klee, Kandinsky und Stravinsky. Alterität, Zerrissenheit, ein problematischer Realitätsbezug und die Suche nach dem Verlorenen Paradies kennzeichnen diese vom Exil geprägten Künste: „Manifestaciones, todas ellas, de realidades fracturadas“ (CP, 112). Dieser Befund gilt natürlich nicht nur für das 20. Jahrhundert, sondern müsste sich auf die gesamte Moderne seit dem von der Französischen Revolution markierten Epochenumbruch ausweiten lassen, wie die Beiträge in dem vorliegenden Band verdeutlichen. Dabei ist es entscheidend, das Exil nicht auf seine äußere historische - ideologische, politische, soziale - Bedingtheit zu reduzieren, wie Muñiz Huberman unterstreicht: „Historia, política, arte, ideologías, datos, cifras, palabras: nada lo explica. Sólo rozamos levemente la superficie para, entonces, sentirnos abrumados.” (CP, 181) Vielmehr ist das Exil darüber hinaus in seiner Manifestation als „Diskurs“ bzw. „Poetik“ zu begreifen und zu analysieren: Quisiera insistir en la claridad de juicio necesaria para que puedan ser separados los terrenos de la obra literaria en sí y el de las causas del destierro. Con frecuencia se confunden fronteras y se aplican criterios extraliterarios a la obra de arte, siendo ésta alabada o denigrada según el carácter de la expulsión del exiliado. (CP, 111-112) Diese Wendung vom Thematisch-‚Anekdotischen‘ zum Strukturell-Formalen, von der Historie und Ideologie zur Ästhetik formuliert auch Bettina Englmann als Desiderat der Exilforschung in ihrer Dissertation aus dem Jahre 2001, Poetik des Exils. Die Modernität der deutschsprachigen Exilliteratur: 3 3 Bettina Englmann: Poetik des Exils. Die Modernität der deutschsprachigen Exilliteratur. Tübingen: Niemeyer 2001. <?page no="271"?> Zur Poetik des Exils bei Angelina Muñiz Huberman 269 Die vielfach inhaltsorientierte Exilforschung muß durch eine stärkere Fokussierung von künstlerischen, formalen Verfahren ergänzt werden, sie muß sich auch literaturtheoretischer Kriterien bedienen, um einen notwendig abstrakten, arbeitsfähigen Begriff von Exilliteratur zu entwickeln. Eine Poetik des Exils zu beschreiben heißt, ein literaturwissenschaftliches Modell zu konstruieren, das ästhetische Strukturen von Texten ebenso einbezieht wie ihre literaturhistorische Verortung. 4 Ganz in diesem Sinne unterstreicht auch Angelina Muñiz Huberman, das Exil sei nicht nur eine lebensweltliche „forma histórica“, sondern es bringe auch eine entsprechende Form des Bewusstseins und der Erinnerung, des imaginaire und der Literatur hervor: El exilio es forma histórica vidente desde la antigüedad hasta nuestros días. El exilio es forma literaria, es forma imaginada y es forma de la memoria. Es evidente que parte de una realidad, pero de inmediato corta su relación con lo real y pasa a ser asunto de ficción. La única manera de sobrevivir para el exiliado es haciendo uso y práctica de los procesos mentales internos. (CP, 65-66) Unter Bezugnahme auf Michael Seidels Exile and the Narrative Imagination (1986) betont sie, das Exil bilde eine Struktur des Imaginären, die drei Bewusstseinsprozesse beinhalte, „el imaginativo, el recreativo y el memorativo“ 5 , so dass Fakt und Fiktion, Erinnerung und Imagination im Medium der Literatur ununterscheidbar werden. Aufgrund seiner poetischen Funktion gerät das Exil somit letztlich zur Metapher für (narrative) Literatur schlechthin: „el exilio no es sólo un tema literario sino una estructura imaginativa de orden primordial; pone a prueba la memoria y la capacidad literaria; es una metáfora propiciante para la narrativa en general“ (CP, 167). An dieser Stelle erhebt sich zum einen die Frage nach einem wie auch immer gearteten Nexus zwischen Exil und Gattungspoetik, z.B. nach eventuell privilegierten Gattungen der Exilliteratur oder danach, ob Exilliteratur zwangsläufig eine Hybridisierung von Gattungen impliziert. Zum anderen ergibt sich aus dem Exil als poetologischer Metapher für den Versuch, im Medium der Literatur, des Imaginierens und Schreibens, das „Verlorene Paradies“ zurückzugewinnen, 6 ein direkter Bezug zur Romantik. 7 Exilio y literatura forman un entretejido de metáforas que oscilan entre lo mimético y lo alegórico, lo presente y lo ausente, la nostalgia y la realidad, el olvido y la memoria, la ironía y la melancolía. Es, en suma, un compendio de concentraciones tamizado por una experiencia 4 Englmann: Poetik des Exils [Anm. 3], S. 12. 5 Die vollständige Textstelle lautet: „Tres procesos mentales: el imaginativo, el recreativo y el memorativo pasan a ser el sustrato indispensable a partir del cual se forja la calidad del exiliado“ (CP, 67). 6 „Buscar la palabra es el intento de recuperar el paraíso perdido“ (CP, 40). 7 Vgl. den Beitrag von Stefan Schreckenberg im vorliegenden Band. <?page no="272"?> 270 Mechthild Albert única de apartamiento y de pregunta sin respuesta. Es el silencio de la palabra escrita. (CP, 174) In ihrem Versuch, das Exil zu definieren - als Exklusion und Isolation, Diskontinuität und Verlust -, versammelt Muñiz Huberman zugleich wesentliche Aspekte einer Poetik des Exils: ¿Qué es el exilio? Un salto afuera. Un no pertenecer al espacio. Un acto temporal. Una búsqueda de márgenes, límites, una tierra nueva. […] Se enfrenta a un nuevo aprendizaje y, lo más grave, a una fragmentación de la identidad. Se empeña en afirmar el pasado en la continuidad y en el momento presente. Convierte el presente en una acumulación rememorativa de hechos y datos ya vividos. (CP, 174) Das Exil bedeutet vor allem eine „extraterritorialidad“ (173), eine Ortlosigkeit, die der Schriftsteller dank der Sprache überwindet, die ihm eine neue Heimat bietet, 8 dank der Imagination, die es ihm erlaubt, eine neue Identität zu stiften. Die „Extraterritorialität“ des Exils münzt Angelina Muñiz Huberman letztlich in einen künstlerischen Gewinn um, 9 als Freiheit zum literarischen Schaffen: […] la ex-centricidad fue la tabla de salvación. La liberación y el desnudamiento fueron naturales. Hallé la patria y la identidad en el cultivo de la lengua y en la creación artística. Donde no hay límites ni fronteras. (CP, 189) Auch die Germanistin Bettina Englmann erkennt die ‚Besonderheit der Exilliteratur‘ zunächst in einem Bruch, nämlich darin, dass „die Kommunikation zwischen Text und Wirklichkeit ebenso gestört wurde wie die Kommunikation zwischen Text und Leser“ 10 . Unter den Bedingungen des Exils stellt sich mit besonderer Radikalität die Frage „Was ist Realität? “, deren Facetten die „Poetizität der Exilliteratur aus[machen]“: Wie stellt sich der Literat im Exil zum Verhältnis von Realität und Fiktion? Welche spezifischen - auch ästhetischen - Möglichkeiten werden der Fiktionalität eingeräumt? […] Was ist Wirklichkeit und wie soll sie mit Literatur korrelieren? 11 Für Angelina Muñiz Huberman werden Wirklichkeit und Fiktion im Exil ununterscheidbar. Was wir sogleich am Beispiel ihrer „Pseudomemoiren“ Castillos en la tierra beobachten können, beschreibt sie in ihrer Poética del exilio als ein 8 Vgl. „Habiendo perdido la tierra propia, me aferré a la tierra de las palabras. Que se me convirtió en sagrada“ (CP, 17). 9 Vgl. „El desarrollo de la capacidad imaginativa es una compensación para las pérdidas del exilio, llena medidas temporales y espaciales que desembocan en una ganancia artística.“ (CP, 168) Vgl. Katja Carrillo, die in ihrem Beitrag vom Exil als einem „Glücksfall“ für die Literatur spricht. 10 Englmann: Poetik des Exils [Anm. 3], S. 12. 11 Ebd., S. 13. <?page no="273"?> Zur Poetik des Exils bei Angelina Muñiz Huberman 271 progressives Abgleiten vom Erinnern zum Erfinden im Verlauf des wiederholten, identitätsstiftenden Erzählens: „Quien relata, conserva. Quien relata, inventa. Llega un momento en que el exiliado inventa nada más.“ (CP, 66) Schließlich gerät das Exil zu einer ‚reinen Fiktion‘, die durch poetische Verfahren aufrechterhalten und als Wirklichkeit angenommen wird, 12 ja sie ersetzt: „Al final, la única realidad vivida es la realidad sobre el papel“ (CP, 16). Auf diese Weise löst sich das Erzählen von jeder objektivierbaren Wahrheit und splittert sich auf in eine Vielzahl von Versionen, was auch für Bettina Englmann ein weiteres Merkmal der Exilliteratur ist: Wenn Literatur also nicht Nachahmung einer objektiven Wirklichkeit sein will, was kann sie dann sein? Sie kann selbst Welten erzeugen, die ihre Vielfalt aus der Konstitution von vielschichtigen Beziehungen und Diskursen, von fremden Perspektiven und Blickwinkeln, von Konstruktionen und Erfindungen bezieht. Das Exil macht vielen Literaten die Unzulänglichkeit ihrer Wahrheitsmaßstäbe, ihres Verständnisses von der Welt und ihrer Erklärbarkeit deutlich. Die primäre Erkenntnisqualität ihrer Literatur besteht in der Distanz zu vorgefertigten Werten und Wissen. Indem sie deutlich macht, dass sie nur eine Version einer Welt unter vielen erzählt, zeigt sie, dass alles Wissen von der Welt nur vorläufig ist - bis zur nächsten Version. 13 In diesem Sinne betrachtet es Angelina Muñiz Huberman als Vorteil der zweiten Emigrantengeneration in Mexiko, dass diese sich vom ‚falschen Realismus‘ und von der trügerischen Testimonio-Literatur der Eltern dadurch zu distanzieren vermag, dass ihr die Erinnerung als Erzählung, durch Worte vermittelt wurde, also durch den „peculiar hecho de que la memoria que poseen ha sido fruto de un relato. Su exilio les fue dejado en herencia mediante la palabra“ (CP, 11). Die Generation des sog. „Postexils“ gewinnt dadurch an poetologischem Bewusstsein, sie entwickelt experimentelle Erzählverfahren und vervielfältigt ihre Sichtweisen: „dobles distancias dan dobles o múltiples visiones“ (CP, 169). Was Muñiz Huberman aus eigener Erfahrung beschreibt, benennt die Germanistin Englmann als konstitutiven Aspekt der Exil-Poetik, dass sie nämlich ein „Konzept von ‚Wahrheit‘ [besitzt], der man sich nur im Polyperspektivismus annähern kann“ 14 - gemäß dem Diktum Nietzsches, wonach „die Welt nicht erkennbar, sondern immer nur interpretierbar sei“ 15 . Die bisher genannten Merkmale von Exilliteratur haben eine deutliche „Tendenz zu Autoreflexivität und Metafiktion“ zur Folge: „Die heteroreferentielle Orientierung auf Wirklichkeiten außerhalb des Textes wird im Exil durch eine autoreferentielle Orientierung auf seine formale Poetik ersetzt“: 16 12 „mera ficción mantenida por recursos poéticos, que ha llegado a ser creída y aceptada como realidad“ (CP, 69). 13 Englmann: Poetik des Exils [Anm. 3], S. 48-49. 14 Ebd., S. 46. 15 Ebd., S. 47. 16 Ebd., S. 41. <?page no="274"?> 272 Mechthild Albert Anstatt bekannte Ordnungen und Ähnlichkeiten zur Strukturierung eines Textes einzusetzen, arbeiten Exilanten mit Verfahren der Auflösung von Ordnung, der sprachlichen Dekonstruktion, der Destrukturierung, der Diskontinuität. Diese Aspekte sollen im Text des Exils ästhetisch erfahrbar gemacht werden. 17 Neben der Dekonstruktion von Wahrheit bzw. objektivierbaren Referenten - „imagen, memoria y ficción como un todo inseparable“ (CP, 70) - zeigen sich diese Charakteristika im Werk von Angelina Muñiz Huberman in Form einer Hybridisierung von literarischen Gattungen - „Mis libros son encrucijadas de novela, cuento, poesía y ensayo.“ (CP, 188) - und in dem, was sie als „técnicas oblicuas y paradójicas“ bezeichnet, 18 d.h. in Intertextualität (die heilige Teresa und die libros de caballerías wurden bereits erwähnt) und im Oszillieren zwischen Referenzebenen. Werfen wir abschließend einen Blick auf Muñiz Hubermans Werk Castillos en la tierra, 19 das sich im Hinblick auf die soeben genannten Merkmale als konkretes Beispiel einer Poetik des Exils betrachten lässt. Der Untertitel „Pseudomemorias“ weist diesen Text eindeutig als Autofiktion aus, ein Genre, das in vielerlei Hinsicht der soeben skizzierten Poetik des Exils entspricht. Im Anschluss an Serge Doubrovsky 20 bezeichnet dieser Begriff bekanntermaßen ein autobiographisches Schreiben, das die Grenzen zwischen Autobiographie und Roman, Fakten und Fiktion verwischt und durch seine Hybridität die traditionellen Gattungskonventionen unterläuft. Die Autofiktion hat sich vom Glauben an eine objektivierbare persönliche Vergangenheit verabschiedet. Das Subjekt und seine Wirklichkeit sind narrative, textuelle, fiktionalisierte Konstrukte; herkömmliche Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriffe werden somit dekonstruiert. Die Grenzen zwischen Leben und Fiktion, Erinnern und Erfinden verwischen sich - in diesem Sinne ist „borrar las fronteras“ ein rekurrenter Schlüsselbegriff in Muñiz Hubermans „Pseudomemorias“, der auf die Poetik des Exils verweist. Eine auktoriale Erzählinstanz berichtet hier, die chronologische Ordnung weitgehend ignorierend, von der sechsjährigen Alberina, die mit ihren Eltern im Frühjahr 1939 vor dem Bürgerkrieg flüchtet und nach einem dreijährigen Aufenthalt in Kuba im März 1942, der Erzählgegenwart zu Beginn des Textes, in 17 Englmann: Poetik des Exils, S. 45. 18 „Mis técnicas oblicuas y paradójicas me llevaron a escribir de Santa Teresa como un yo moderno que hubiera estado en la guerra civil española y fuese atea. O a alegorizar la misma guerra como un relato medieval en el que pelean los Caballeros de Gules y los Caballeros de Sable. O a referirme al exilio de 1939 como a la salida de los judíos de España en 1492. O a convertir a Dulcinea en una niña de las que salieron a Rusia durante la guerra civil española y que, más tarde, al llegar a México, pierde la identidad, no reconoce a sus padres, enloquece y escribe novelas mentales que nunca pasarán al papel. En fin, eran las vueltas de tuerca del exilio“ (CP, 188-189). 19 Angelina Muñiz Huberman: Castillos en la tierra (Pseudomemorias). México: Ediciones del Equilibrista 1995; im Folgenden abgekürzt CT. 20 Vgl. Serge Doubrovsky: Le livre brisé. Paris 1989. <?page no="275"?> Zur Poetik des Exils bei Angelina Muñiz Huberman 273 Mexico City eine neue Heimat findet. Der Lernprozess des Kindes repräsentiert zugleich den interkulturellen Lernprozess des Emigranten. Das Exil schlechthin, so heißt es in El canto del peregrino, sei ein einziger Lernprozess, der letztlich eine eigene Poetik hervorbringe: „Palabra-escuela-de-eterno-aprendizaje que construye un arte poética.“ (CP, 181). Die Ambiguität einer Autofiktion, die zwischen Erinnern und Erfinden oszilliert, korrespondiert in besonderer Weise der zweiten hispanomexikanischen Emigrantengeneration, deren Exil, wie bereits gesagt, ein „ererbtes“, „imaginäres Exil“ darstellt (CP, 112), das im wesentlichen über die Erinnerungs- Erzählungen der Eltern vermittelt wird und das, da diesen keine (überprüfbare) Realität entspricht, die Tätigkeit der Phantasie auslöst: „Podría inventar, pero no recordar.“ (CP, 15). Das Zusammenspiel von Erinnern und Erfinden vollzieht sich für Alberina auf zwei Ebenen, als individuelle und kollektive Erinnerung: zum einen verfügt sie über eigene Erinnerungen - Erinnerungen an das Verlorene Paradies auf Kuba -, die sie in ihre eigene Lebensgeschichte integriert; zum anderen ist sie die Adressatin von vielerlei Erinnerungsberichten - ihrer Eltern, europäischer Emigranten, überlebender Kinder des Holocaust -, die sie sich aneignet und kraft ihrer Imagination zu polyphonen Erzählungen verarbeitet, welche sie in mündlicher und schriftlicher Form weitergibt. In dieser translatio memoriae erkennen wir die Grundzüge einer Poetik des Exils, die zugleich die Metapoetik der vorliegenden Autofiktion darstellt. Zuflucht in der „Exterritorialität“ des Exils bietet das neue Haus, das Alberinas Familie in der Straße Tamaulipas 185 findet: Erinnerungsort, Ort der Identitätsfindung und der Literatur. Die fundamentale Bedeutung des Hauses erschließt sich aus einer Passage in El canto del peregrino, die das Haus zur Metapher des Exils erhebt und das Verhältnis von Exil und Literatur umreißt: Cuando comprendí que el exilio era mi casa, abrí la puerta y me instalé. Me instalé cómodamente. [….] Me instalé y me puse a hacer historias: historias de mi exilio particular. Hija de refugiados españoles de la guerra civil de 1936, llegué a México y me vi envuelta en un mundo del cual no pude salir: pero en el cual fui labrando túneles, pasadizos, ventanales, escaleras, y grandes y poderosas puertas. Todo ello, umbrales del entrar y del salir. Del abrir y cerrar. Aperturas para volar, lanzarme al espacio o caminar a ciegas. (CP, 187) Das Haus Tamaulipas 185 ist demnach nicht irgendein Erinnerungsraum; es steht vielmehr metaphorisch für das Exil als solches, bzw. für die trotz und inmitten der Exterritorialität des Exils gefundene ‚Heimat‘ des eigenen Raums. Das Haus wird als Raum des Individuums mit biblischen Bildern überhöht zum „hortus conclusus“ und „versiegelten Brunnen“ - „huerto cerrado“, „fuente sellada“ (CT, 47-48). Am Ende des Textes offenbart es sich schließlich als das titelgebende „Schloss auf Erden“, unverbrüchliche Interiorität des Individuums in den Ungewissheiten des Exils. <?page no="276"?> 274 Mechthild Albert Innerhalb der Raumstruktur dieses metaphorischen Hauses kommen dem Innenhof und dem Bett besondere Bedeutung zu. Der Patio erweist sich als Projektionsraum der Phantasie unter dem Zeichen der Identitätsstiftung, denn dort erprobt die Protagonistin erstmals die Fähigkeit ihrer Vorstellungskraft, die Realität zu transzendieren, zu transfigurieren und aus dem ariden Exil des Patio das verlorene Paradies der Insel Kuba wiedererstehen zu lassen. Die Allmachtsphantasie des Kindes, die die Realität einer Serie ständiger Metamorphosen oder „transmutaciones“ unterwirft, entspricht der Vorstellungskraft des Emigranten. Das Bett als Raum der Intimität, der Imagination und des Onirischen ist der Ort, wo Alberina die Erinnerungen an Kuba wachruft und verarbeitet. Wie ein Kartenspiel versammelt sie hier die Kuba-Fotos und vergewissert sich spielerisch der Verfügbarkeit dieser Erinnerungen, die ihre Identität ausmachen, um den Verlust des Exils zu kompensieren. Am Paradigma der Reminiszenzen vom verlorenen Paradies (Kuba) illustriert Angelina Muñiz Huberman in Castillos en la tierra den Prozess, wie aus dem Rohmaterial der Erinnerungen durch die Intervention der Imagination wunderbare Geschichten entstehen, die von Alberina weitergegeben werden - zunächst mündlich, dann auch schriftlich, als kostbares Geschenk an eine geliebte Person. Nachdem es Alberina gelungen ist, eigene Verlusterfahrungen durch den Einsatz der Vorstellungskraft sowie narrativer Verfahren zu kompensieren - hier zeigt sich, wie wichtig „das ständige Erzählen einer eigenen Geschichte“ ist, „um ein kohärentes Selbstbild, eine Identität zu entwickeln“ 21 -, wird die schöpferische Imagination im Folgenden genährt durch die erinnernden Geschichten anderer. Da ist zunächst das mythenschöpferische Milieu der Kleinfamilie, in deren Mittelpunkt eine Truhe steht, die das Spielzeug und die blutbefleckte Kleidung von Alberinas verstorbenem Bruder enthält. Als identitätsstiftender Erinnerungsspeicher der Familiengeschichte repräsentiert die Holztruhe zugleich jene „cajas de Pandora“ (CT, 50), aus denen laut El canto del peregrino die Imagination des Emigranten schöpft: La imaginación es el arma más poderosa que posee. Tal vez la única. Exhibe, del derecho y del revés, cada uno de los recuerdos que ha ido acumulando. Provee múltiples exégesis y vuelve a contar las mismas historias con otras palabras. No pone fin a la creación. Abre y cierra cajas de Pandora […]. (CP, 179) Als einzig überlebendem Kind fällt Alberina die privilegierte Rolle zu, „la depositaria, la escucha, la guardiana“ (CT, 103), die Hüterin der familiären Memoria zu sein. Fungiert Alberina zunächst als lebendes Gedächtnis ihrer Familie, so 21 Vgl. Sophie Boldt: Die Autobiographie als Erinnerungsgattung und ihre kulturellen und identitätsstiftenden Funktionen. In: Claudia Jünke, Rainer Zaiser, Paul Geyer (Hg.): Romanistische Kulturwissenschaft? Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 317- 331. <?page no="277"?> Zur Poetik des Exils bei Angelina Muñiz Huberman 275 wird sie im Verlauf ihrer Sozialisation darüber hinaus immer umfangreichere Erinnerungslasten tragen: sie erfährt die Erlebnisse europäischer Emigranten im interkulturellen Milieu von Cuernavaca und die Bürgerkriegserinnerungen des Coronel Trucharte, „Held“ des republikanischen Heers und Ersatz-Großvater Alberinas. Die Beziehung zwischen beiden definiert sich über das Geschichtenerzählen: während er „un libro abierto de cuentos“ darstellt, wird sie zu einem „receptáculo de cuentos“ (CT, 133). In einem pathetischen Abschiedsbrief überträgt er ihr, die 1939 im Alter von drei Jahren Spanien bzw. Europa verlassen hat, das Vermächtnis des Bürgerkriegs und verpflichtet sie auf die Memoria des Exils: Habíamos perdido España, pero los recuerdos eran nuestros y ésos nadie nos los quitaría. Ojalá tú no olvides, aunque eres niña aún. […] Sólo te pido que me dejes un hueco en tus recuerdos y que nunca olvides la historia de los refugiados. […] Aquí llegué y aquí me quedaré, porque no veo cercano el regreso a España. ¡Cuántas esperanzas perdidas! […] y no te olvides de este viejo coronel de la guerra civil española, que te quiere como si fuera tu abuelo. (CT, 138-139) Als nach Ende des Zweiten Weltkriegs überlebende jüdische Kinder in ihre Schule kommen, assimiliert die kaum neunjährige Alberina auch noch das erzählte Echo dieses historischen Traumas (CT, 146). Der Terror der Geschichte wird in den Geschichten des Kindes immer im Modus einer phantastischspielerischen Weltaneignung umgesetzt - bis die Bilder vom Ausbruch des Vulkans Paricutín, eine Naturkatastrophe, die die existentielle Verunsicherung des Exils widerspiegelt, einen für das Subjekt nahezu selbstzerstörerischen Fluss akkumulierter Bilder auslöst. Die Explosion veranschaulicht das psychologisch Obsessive dieser permanenten, kaum kontrollierbaren, bildarchivierenden und bildschöpferischen Tätigkeit. Die Bilder von den amorphen Formen des Lavastroms steigern sich schließlich zu schreckenerregenden Albträumen, in denen sich die großen Brände der Weltgeschichte spiegeln: die Feuer der Inquisition und des Holocausts (CT, 178). In den letzten Kapiteln lösen sich die Pseudomemoiren immer mehr in fragmentarische Beobachtungen und Reflexionen auf, die zum Teil bereits als Bruchstücke einer Poetik des Exils zu betrachten sind. Die Welt im Kopf - „En lo inlocalizable: / Sin espacio: / Sin tiempo: De la mente.“ (CT, 213) - ist der Ersatz für den verlorenen Bezug zur Außenwelt, zur Wirklichkeit des Exillandes Mexiko. Die unermüdliche Tätigkeit der Phantasie ist eine Form des Überlebens. Um zu überleben, hat Alberina es sich zur Maxime gemacht, den realen Verlust durch die Vorstellungskraft zu kompensieren: „Lo que niega la razón, afirma la imaginación“ - so lautet die Überschrift von Kapitel 29 (CT, 215). Die Wirklichkeit verlagert sich ganz in eine neomystisch gefärbte Interiorität: „Ella no hace nada. Sólo piensa. Sólo juega en su morada interior“ (CT, 200). Im Haus des Exils sind es letztlich die „Dachkammern der Seele“, die teresianischen „buhardillas del alma“ (CT, 212), ist es der grenzenlose Innen- <?page no="278"?> 276 Mechthild Albert raum des Bewusstseins, der Phantasie und des Traums, der mit den titelgebenden „castillos en la tierra“ gemeint ist: El espacio interno deja de ser espacio al perder sus límites. No hay fronteras y no hay principio ni fin. En la mente de Alberina el orden se crea por los descubrimientos y las maravillas. Los castillos se construyen en la tierra. (CT, 101) <?page no="279"?> Register Abreu, Casimiro de 256 Adorno, Theodor W. 261, 266 Alberdi, Juan 248-249, 251 Alfieri, Vittorio 156-158, 165-166, 168- 170, 172, 174 Alfonso el Sabio 154, 174 Anderlini, Paolo 110 Andrade, Oswald de 256, 258 Andryane, Alexandre 140 Andryane, Pauline 142 Arnaut Daniel 260 Baldensperger, Fernand 26 Balzac, Honoré de 7, 71, 76-86 Bandeira, Manuel 256 Banville, Théodore de 5, 8 Bartholdy, Jakob Salomon 161 Baudelaire, Charles 8, 55, 258 Baudin, Nicolas 58 Belgiojoso, Cristina di 8, 141-142 Belleli, Maria Luisa 131 Bénichou, Paul 88 Berchet, Jean-Claude 89 Bettoni, Niccolò 142 Bhabha, Homi K. 206 Binni, Walter 162 Bla e, Nikola 201 Bolton Halloway, Julia 154 Bory de Saint-Vincent, Jean-Baptiste 57- 70 Bronfen, Elisabeth 10, 153, 175 Buarque de Holanda, Sergio 264 Buonarroti, Filippo 133 Cambon, Glauco 159-160 Camisso (= Louis Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt) 7 Cannonieri, Giuseppe 111, 113, 132-133 Capponi, Gino 208 Carpeaux, Otto Maria 266 Carrel, Armand 145-146 Cattaneo, Carlo 12, 162, 182 Cavallin, Jean-Christophe 89, 92 Chamisso (=Louis Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt) 6 Chateaubriand, François-René de 7-8, 36- 39, 42, 52, 55, 63, 71, 75, 87-106, 132, 139, 142-144, 146, 214-217, 236 Chénier, Marie-Joseph 30, 38-40 Clifford, James 191 Collot, Michel 36 Cotta, Johann Friedrich 62-63 Cousin, Victor 8 Crémieux, Benjamin 132 Croce, Benedetto 169-170 Cruz Varela, Juan 246 D’Azeglio, Massimo 141 Dante Alighieri 101-103, 115, 136, 154, 171, 173, 175, 186, 188 De Sanctis, Francesco 158, 170 Debenedetti, Giacomo 197 Dekin, Adrien 61 Delille, Jacques (Abbé) 30, 33, 38, 40, 43, 46, 51 Demogeot, Jacques 40 Di Santarosa, Santorre 170 Didier, Béatrice 44 Diesbach, Ghislain de 18, 20 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 10 Doubrovsky, Serge 272 Drapiez, Pierre Auguste Joseph 64 Durán, Agustín 216 Echeverría, Esteban 243, 245, 247-253 Englmann, Bettina 268, 270-271 Ette, Ottmar 227 Faujas de Saint-Fond, Barthélémy 61, 67- 69 Fergus, Elizabeth 124 Ferrière, Hervé 59 Fielding, Henry 168 Flaubert, Gustave 76 Florack, Ruth 20 Foscolo, Giulio 185 Foscolo, Ugo 13, 114, 137, 143, 156, 159- 162, 166, 170-173, 177-189 Frignani, Angelo 109-111, 113, 115-117, 119-122, 124-129, 132, 147 Gaj, Ljudevit 199 García Gutiérrez, Antonio 219 García Velloso, Enrique 246 Garrone, Alessandro Galante 133 Gautier, Théophile 55 Gherardi, Giuseppe 133 Giannone, Pietro 111, 133, 137, 140 <?page no="280"?> 278 Register Ginguené, Pierre Louis 114 Girardin, René Louis Marquis de 30 Glissant, Edouard 227 Goethe, Johann Wolfgang von 157, 162, 198, 256 Goldoni, Carlo 168 Gómez de Avellaneda, Gertrudis 13, 228- 232, 235, 240 Gonçalves Dias, Antonio 255-256, 258, 263-266 Gonzaga, Tomás Antonio 255 Gregor XVI. (Papst) 195 Grimm, Jakob 198 Guitton, Édouard 41 Gullar, Ferreira 264 Hartzenbusch, Juan Eugenio 219 Hazard, Paul 131 Heine, Heinrich 8 Heredia, José María 227 Héricart de Tury, Louis-Étienne-François 61 Hugo, Victor 8, 12, 29, 54, 72-74, 80, 218, 227, 232, 247 Humboldt, Wilhelm von 61, 198 Ives, Charlotte 87-90, 92, 106 Jobim, Tom 256 Karadži , Vuk Stefanovi 198 Katuši , Ivan 196 Kevesi , Caterina 192 Kollár, Jan 201 Kullmann, Dorothee 35, 39 Kunkel, Ulrike 172 La Tour, Antoine de 137-138, 143 Lacépède, Bernard de 58 Laclos, Pierre Choderlos de 168 Lamartine, Alphonse de 49, 54, 145 Lamennais, Félicité de 140, 195 Lanson, Gustave 39 Larra, Mariano José de 213, 219-222 Latini, Brunetto 155 Lemaire, Gauchois 59 Leo XII. (Papst) 109 Leopardi, Giacomo 148-150 Levilloux, Jules 235 Libri, Guglielmo 147 Lograsso, Angeline H. 131 Lomonaco, Francesco 170 Luhmann, Niklas 217 Maccioni Ruju, Alessandra 147 Maingueneau, Dominique 53 Mamiani, Terenzio 128 Manin, Daniele 203-204 Mann, Heinrich 29 Manzano, Francisco 235 Manzoni, Alessandro 140-141 Mariano José de Larra 225 Mármol, José 248, 252 Marmontel, Jean-François 38 Maroncelli, Piero 132, 142 Martínez de la Rosa, Francisco 219 Martínez, Felipe 245-246, 248 Maynard de Queilhe, Louis de 12, 227- 228, 232-235, 239-240 Mazzini, Giuseppe 134, 141, 146, 177, 181, 183-188, 195, 202 Melloni, Macedonio 147 Mendes, Murilo 256, 259 Menotti, Ciro 137 Mérimée, Prosper 198 Merlin, Antoine Christophe 236 Merlín, Condesa de (= María de las Mercedes Santa Cruz y Montalvo) 235- 240 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von (Graf) 180 Metzeltin, Michael 126 Meyer-Clason, Curt 265 Michaud, Joseph 12, 30-54 Mickiewicz, Adam 195-196, 198 Milano, Dante 260 Misan, Jacques 131 Mitre, Bartolomé 248-249, 251 Mocenni Magiotti, Quirina 179, 181 Montalembert, Charles Forbes René 139 Montet, Alexandrine Prévost de la Boutetière de Saint-Mars, baronne de Fisson du 18-19, 23-24 Monti, Vincenzo 159 Montt, Manuel 253 Morel, Jean-Marie 45 Mostert, Marco 147 Muñiz Huberman, Angelina 13, 267-276 Munsters, Wil 35 Nerval, Gérard de 75, 198 Neto, Torquato 263 Nicolas, Louis-Léonidas 120 Nietzsche, Friedrich 271 Nodier, Charles 32, 75, 198 Ollivier, Demosthène 146 Orioli, Francesco 147 <?page no="281"?> Register 279 Ovid (= Publius Ovidius Naso) 153 Paes, José Paulo 261-262 Pageaux, Daniel-Henri 20 Papini, Giovanni 194, 202 Parini, Giuseppe 170 Pavello, Diamante 205 Pellico, Silvio 119, 132, 134, 138-139 Pepe, Guglielmo 145, 170 Pepoli, Carlo 124, 128, 133, 136, 139, 147-150 Périer, Casimir 134 Pescantini, Federico 111, 113, 121, 132- 134, 137-138, 142-143, 146 Pichler, Caroline 23 Picone, Michelangelo 153-155 Poerio, Carlo 124 Popovi , Spiridion 199, 201, 206 Poujoulat, Jean-Joseph François 35 Puschkin, Alexander 198 Quinet, Edgar 142 Rancière, Jacques 261 Rava, Luigi 125 Récamier, Juliette 94, 96, 98, 132, 140, 142 Ricciardi, Francesco 170 Ricciardi, Giuseppe 119 Richardson, Samuel 168 Rivas, Duque de (= Ángel de Saavedra) 213, 217, 222-225 Robespierre, Maximilien de 31 Rojas, Ricardo 12, 243, 248-249, 251-254 Rolandi, Pietro 186, 188 Rosas, Juan Manuel de 244, 246-247, 249- 254 Rosmini, Antonio 193 Rossi, Pellegrino 147 Rousseau, Jean-Jacques 29, 31, 54, 98, 165 Rovere, Terenzio Mamiani della 147 Rubinstein, Nina 20, 26 Šafa ik, Pavel Josef 201 Said, Edward 6, 207, 261, 266 Saint-Lambert, Jean-François de 41-43, 45, 47, 50 Salfi, Francesco 114 Sarmiento, Domingo Faustino 248-249, 251-254 Saulx-Tavanes, Duchesse Aglaé de 18-19 Schiller, Friedrich 156, 163-164, 167-168, 170, 172-174, 225 Schlegel, August Wilhelm 214-217 Schubart, Christian Friedrich Daniel 164 Scott, Walter 198 Seidel, Michael 269 Sénac de Meilhan, Gabriel 12, 44 Seneca (= Lucius Annaeus Seneca) 153 Sismondi, Jean-Charles Léonard Simonde de 144-145 Staël, Anne Louise Germaine Necker, Baronne de Staël-Holstein 17-18, 21-27, 98, 112-113, 134 Steiner, George 239 Stendhal (= Henri Beyle) 7, 31, 77 Stieglitz, Heinrich 203 Stip evi , Nikša 194 Suárez, Anselmo 235 Tanco, Félix 239 Tasso, Torquato 94-95, 100, 103-105 Taylor, Edgar 185 Thomé, Horst 24 Thompson, James 45 Thouin, André 67 Thürheim, Gräfin Lulu 18-19, 22-23 Tirso de Molina 225 Tommaseo, Niccolò 13, 133, 185, 191- 208 Tommasini, Giacomo 110 Trigano, Shmuel 51 Trojanow, Ilja 6 Ubersfeld, Anne 218 Ugoni, Camillo 147 van Mons, Jean-Baptiste 64 van Tieghem, Paul 76 Vanderbourg, Charles 7 Vannucci, Atto 113 Vergil (= Publius Vergilius Maro) 91 Vigée-Lebrun, Marie Louise Elisabeth 18- 19 Vigny, Alfred de 32 Villaverde, Cirilo 227, 235 Villers, Charles de 7 Willdenow, Carl Ludwig 59 Württemberg, Carl Eugen von (Herzog) 163 Zorrilla y Moral, José 226 <?page no="282"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BESTELLEN! Andreas Linsenmann Musik als politischer Faktor Konzepte, Intentionen und Praxis französischer Umerziehungs- und Kulturpolitik in Deutschland 1945-1949/ 50 edition lendemains, Band 19 2010, 286 Seiten, €[D] 58,00/ SFr 81,90 ISBN 978-3-8233-6545-7 Angesichts der Frage, welche Faktoren den Nationalsozialismus ermöglicht haben, richtete sich der Blick der französischen Besatzungsmacht 1945 nicht nur auf politische Gesichtspunkte, sondern auch verstärkt auf Aspekte kultureller Prägung - und dabei insbesondere auf den Bereich Musik. Die Deutschen seien der Überzeugung, das „einzige wirklich musikalische Volk“ zu sein. Wenn man sie zu der Einsicht bringe, dass Musik kein „Monopol Deutschlands“ sei, würde, so die Überlegung, ein Eckstein der rassistischen Ideologie in sich zusammenstürzen. Diese Annahme wurde zum Ausgangspunkt eines Konzepts, das auf eine Umerziehung mit musikalischen Mitteln abzielte und bis 1950 mit bis zu 2.500 Konzerten umgesetzt wurde. Die Studie analysiert diese Anstrengungen erstmals und formuliert anhand dessen Funktionsmodelle französischer Umerziehungs- und Kulturpolitik insgesamt. Ausgezeichnet mit einem Förderpreis des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 108610 Auslieferung November 2010.indd 2 29.11.10 14: 10 <?page no="283"?> Hans Manfred Bock Topographie deutscher Kulturvertretung im Paris des 20. Jahrhunderts edition lendemains, Band 18 2010, 400 Seiten, €[D] 68,00/ SFr 96,90 ISBN 978-3-8233-6551-8 An welchen Orten und mit welchen Motiven, Absichten und Ergebnissen traten deutsche Kulturrepräsentanten im 20. Jahrhundert in Paris in die mehr als episodische, strukturierte Interaktion mit Vertretern der französischen Kultur und Gesellschaft ein? Bedingt durch die internationalen und bilateralen Machtkonstellationen entstanden symbolische Begegnungsorte, in deren Aktivitäten in der Regel außenkulturpolitischer Gestaltungswille und zivilgesellschaftliche Initiativen zusammenwirkten mit dem Ziel der Repräsentation, der Penetration oder der Mediation. Hans Manfred Bock, ausgewiesener Kenner der Materie, stellt erstmals in markanten Fallbeispielen die Entstehung, Entwicklung und Funktion deutsch-französischer Begegnungsorte in Paris vom Ende des Ersten Weltkrieges bis in die Gegenwart dar. Deren Spektrum reicht vom Carnegie-Haus und dem Sitz der Union pour la vérité bis zur Vertretung im Internationalen Institut für geistige Zusammenarbeit und dem Institut d’Etudes germaniques, vom Deutschen Haus in der Cité Universitaire und der Außenstelle des DAAD bis zu den Ursprüngen des DFJW in den Pariser Verständigungsorganisationen der Nachkriegsjahre und zur Gründung des Institut d’Allemand d’Asnières. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BESTELLEN! JE <?page no="284"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BESTELLEN! Thomas Stauder (éd.) L’identité féminine dans l’œuvre d’Elsa Triolet edition lendemains, Band 21 2010, 439 Seiten, 11 Abb., €[D] 68.00/ SFr 96.90 ISBN 978-3-8233-6563-1 Ce volume collectif, comprenant vingt et une contributions de six pays, analyse pour la première fois l’œuvre de l’écrivaine française Elsa Triolet (1896-1970) en partant de la perspective des études féministes. Bien qu’elle fût en 1945 la première femme à obtenir le prestigieux Prix Goncourt, dans la perception publique elle resta longtemps dans l’ombre de son mari Louis Aragon, qui la célébrait dans de nombreux et fameux poèmes d’amour, la réduisant ainsi à un rôle plutôt traditionnel d’idole féminine. Mais la vie et l’œuvre d’Elsa Triolet sont sans pareilles sous plusieurs aspects : non seulement pendant sa jeunesse à Moscou, mais aussi dans les années vingt à Paris, elle fut l’amie de quelques-uns des plus importants intellectuels et artistes de l’époque (elle entretint une relation très étroite avec le poète futuriste Maïakovski) ; ayant écrit ses premiers romans encore en russe, elle ne passa au français qu’au cours des années trente. 111810 Auslieferung Dezember 2010.indd 6 06.12.10 12: 27